Die unbedingte Forderung: Eine philosophisch-anthropologische Rekonstruktion sittlicher Imperative 9783495823842, 9783495491423


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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Von der Offenbarung zum Prinzip
1.2 Aufbau und Methode
1.3 Der Begriff der unbedingten Forderung bei Karl Jaspers
I. Theoretischer Teil
2 Autonomie, der Schlüssel zum moralischen Subjekt
3 Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen
3.1 Wert-Begriff und funktionale Zuordnung
3.2 Das Fühlen von Werten
3.3 Die formale Begründung des Wertes bei Immanuel Kant
3.3.1 Das höchste Gut
3.3.2 Die Würde vernünftiger Wesen
3.4 Der Wert als sittliche Kategorie wesensgemäßer Daseinsgestaltung
3.5 Von der Wertentscheidung zum Wirkwillen
4 Das principium executionis moralischer Handlungen
4.1 Sollen als Form der Pflicht
4.2 Gefühle und ihre Bedeutung in der moralischen Praxis
4.2.1 Ein besonderes Gefühl als Triebfeder moralischer Praxis.
4.2.2 Gefühle als »vernünftige« Bestimmungsgründe
5 Das principium diiudicationis moralischer Handlungen
5.1 Die existentielle Rationalität
5.2 Verantwortung
5.2.1 Selbst-Verantwortung
5.2.2 Bezüge der Verantwortung
5.2.3 Verantwortung und Freiheit
5.3 Moralische Gründe und Motive
5.3.1 Moral
5.3.2 Das Verhältnis von Gründen und Motiven
5.4 Der Wille im Lichte des Sollens
5.5 Das Selbst als Movens sittlicher Praxis
5.5.1 Das Selbst als Reflexion
5.5.2 Das Selbst und das Ich
5.5.3 Das Selbst als inneres Du
II. Fallstudien
6 Sokrates
6.1 Zur Quellenlage
6.2 Zur Biographie
6.3 Zur Charakterisierung und Bedeutung
6.4 Des Sokrates Verteidigung
6.4.1 Der Spruch von Delphi
6.4.2 Das Daimonion
6.4.3 Die unbedingte Forderung im Kontext der Apologie
6.4.4 Sokrates und die Pflicht zum Gehorsam
6.4.5 Sokrates im Angesicht des Todes
7 Mark Aurel
7.1 Zur Biographie
7.2 Der Philosophenkaiser und das Unbedingte
7.2.1 Die Vorstellung von Gut und Böse
7.2.2 Die Selbstbetrachtungen im Spiegel der Unbedingten Forderung
7.2.3 Die »relativistische« Lebensperspektive
7.2.4 Das Absolute und die Existenz
7.2.4.1 Der Vorrang der Natur
7.2.4.2 Die Vergänglichkeit der Existenz
7.2.5 Metaphysische Prämissen
8 Thomas Morus
8.1 Zur Biographie
8.1.1 Zwischen Klosterleben und politischer Karriere
8.1.2 Auf dem Weg zum Lordkanzler
8.1.3 Vom Widerstand bis zur Hinrichtung
8.2 Das Unbedingte in den Briefen
8.2.1 Die Evaluierung des Gewissens
8.2.2 Die Superiorität des Gewissens
8.2.3 Der Zusammenhang von Gewissen und Heilszustand
9 Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit
9.1 Zur Biographie
9.2 Der Beobachter des Welttheaters
9.3 Moralische Urteilsbildung
9.4 Sinn als Quelle für Orientierung
9.5 Der absolute Horizont
9.6 Das Verhältnis von Welt und Selbst
III. Schlussbetrachtungen
10 Die unbedingte Forderung als Funktion der autoeidetischen Struktur
10.1 Gemeinsame Merkmale und Beziehungen der untersuchten Figuren
10.1.1 Die Beschaffenheit der moralischen Urteile
10.1.2 Innere Urteilsinstanz
10.1.3 Ideelle Gemeinschaft
10.1.4 Güterordnung
10.2 Die autoeidetische Struktur und die Vernunft
10.2.1 Rationalität als existentielle Vernunft und ihr Bezug zur Existenz
10.3 Die autoeidetische Struktur und das Eigeninteresse
10.4 Umrisse der autoeidetischen Struktur
10.5 Die Gesamtstruktur der unbedingten Forderung
Literaturverzeichnis
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Die unbedingte Forderung: Eine philosophisch-anthropologische Rekonstruktion sittlicher Imperative
 9783495823842, 9783495491423

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P

EICHSTÄTTER philosophische Beiträge

5

Gregor Schmitt

Die unbedingte Forderung Eine philosophischanthropologische Rekonstruktion sittlicher Imperative

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823842

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VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Wie ist es philosophisch zu erklären, dass Menschen frei und selbstbestimmt Entscheidungen treffen, die durch das klassische Begründungsmuster der Eigennützlichkeit und Selbsterhaltung unverständlich bleiben? Der Autor rekonstruiert und erweitert mit seiner neuartigen Konzeption – der autoeidetischen Struktur – Möglichkeitsbedingungen der praktischen Vernunft. Im Mittelpunkt steht dabei die eigene Existenz. Das Streben nach Selbst-Treue bedingt das Wollen des Gesollten. Urteil und Praxis werden hierdurch nachvollziehbar zu Bedingungen gelingenden Lebens.

Der Autor: Gregor Schmitt, 1963 geboren, studierte zunächst Wirtschaftsingenieurwesen und arbeitete in den Branchen Immobilienwirtschaft und Erneuerbare Energien. 2018 wurde er an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit der vorliegenden Arbeit promoviert.

https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Gregor Schmitt Die unbedingte Forderung

https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

P

EICHSTÄTTER philosophische Beiträge

5

Herausgegeben von Walter Schweidler Markus Riedenauer

https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Gregor Schmitt

Die unbedingte Forderung Eine philosophischanthropologische Rekonstruktion sittlicher Imperative

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Für Christine

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49142-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82384-2

https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Inhaltsverzeichnis

1 1.1 1.2 1.3

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Offenbarung zum Prinzip . . . . . . . . . . . Aufbau und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der unbedingten Forderung bei Karl Jaspers

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I. Theoretischer Teil 2

Autonomie, der Schlüssel zum moralischen Subjekt

3

Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wert-Begriff und funktionale Zuordnung . . . . . . . Das Fühlen von Werten . . . . . . . . . . . . . . . . Die formale Begründung des Wertes bei Immanuel Kant 3.3.1 Das höchste Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Würde vernünftiger Wesen . . . . . . . . . Der Wert als sittliche Kategorie wesensgemäßer Daseinsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Wertentscheidung zum Wirkwillen . . . . . .

3.1 3.2 3.3

3.4 3.5

4 Das principium executionis moralischer Handlungen . . . 4.1 Sollen als Form der Pflicht . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gefühle und ihre Bedeutung in der moralischen Praxis 4.2.1 Ein besonderes Gefühl als Triebfeder moralischer Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Gefühle als »vernünftige« Bestimmungsgründe

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7 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Inhaltsverzeichnis

5 Das principium diiudicationis moralischer Handlungen 5.1 Die existentielle Rationalität . . . . . . . . . . . 5.2 Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Selbst-Verantwortung . . . . . . . . . . . 5.2.2 Bezüge der Verantwortung . . . . . . . . . 5.2.3 Verantwortung und Freiheit . . . . . . . . 5.3 Moralische Gründe und Motive . . . . . . . . . 5.3.1 Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Das Verhältnis von Gründen und Motiven . 5.4 Der Wille im Lichte des Sollens . . . . . . . . . 5.5 Das Selbst als Movens sittlicher Praxis . . . . . . 5.5.1 Das Selbst als Reflexion . . . . . . . . . . 5.5.2 Das Selbst und das Ich . . . . . . . . . . . 5.5.3 Das Selbst als inneres Du . . . . . . . . .

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Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Charakterisierung und Bedeutung . . . . . . . . . . Des Sokrates Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Der Spruch von Delphi . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Das Daimonion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Die unbedingte Forderung im Kontext der Apologie 6.4.4 Sokrates und die Pflicht zum Gehorsam . . . . . . 6.4.5 Sokrates im Angesicht des Todes . . . . . . . . . .

265 265 267 269 273 277 280 282 282 287

II. Fallstudien 6 6.1 6.2 6.3 6.4

7 Mark Aurel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Zur Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Der Philosophenkaiser und das Unbedingte . . 7.2.1 Die Vorstellung von Gut und Böse . . . 7.2.2 Die Selbstbetrachtungen im Spiegel der Unbedingten Forderung . . . . . . . . 7.2.3 Die »relativistische« Lebensperspektive

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8 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Inhaltsverzeichnis

7.2.4 Das Absolute und die Existenz . . . . . . . . . . . 7.2.5 Metaphysische Prämissen . . . . . . . . . . . . . 8 Thomas Morus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Zur Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Zwischen Klosterleben und politischer Karriere 8.1.2 Auf dem Weg zum Lordkanzler . . . . . . . . 8.1.3 Vom Widerstand bis zur Hinrichtung . . . . . 8.2 Das Unbedingte in den Briefen . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Die Evaluierung des Gewissens . . . . . . . . 8.2.2 Die Superiorität des Gewissens . . . . . . . . . 8.2.3 Der Zusammenhang von Gewissen und Heilszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit Zur Biographie . . . . . . . . . . Der Beobachter des Welttheaters . Moralische Urteilsbildung . . . . Sinn als Quelle für Orientierung . Der absolute Horizont . . . . . . Das Verhältnis von Welt und Selbst

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III. Schlussbetrachtungen 10

Die unbedingte Forderung als Funktion der autoeidetischen Struktur . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Gemeinsame Merkmale und Beziehungen der untersuchten Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Die Beschaffenheit der moralischen Urteile . 10.1.2 Innere Urteilsinstanz . . . . . . . . . . . . 10.1.3 Ideelle Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . 10.1.4 Güterordnung . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Die autoeidetische Struktur und die Vernunft . . . 10.2.1 Rationalität als existentielle Vernunft und ihr Bezug zur Existenz . . . . . . . . . . . . .

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376 377 381 385 387 390

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9 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Inhaltsverzeichnis

10.3 Die Autoeidetische Struktur und das Eigeninteresse . . 10.4 Umrisse der autoeidetischen Struktur . . . . . . . . . 10.5 Die Gesamtstruktur der unbedingten Forderung . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

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Einleitung

Aus dem richtigen Grund zu sterben, ist das Menschlichste, was wir tun können. (Blade Runner)

Der Mensch unterscheidet sich von allen anderen Wesen, die wir kennen, auch dadurch, dass er sich die praktische (moralische) Frage stellt. Losgelöst von Zwängen der Natur und bloßer Wahrnehmung seiner Umwelt entsteht in seinem Bewusstsein das, was wir als Freiheit bezeichnen. Eine Freiheit, die selbst gebunden ist, weil wir für unser Handeln, aber auch für unsere Überzeugungen und Gefühle Gründe anführen. Im Gewahrwerden von Möglichkeiten bezüglich seiner Urteile und Handlungen wird dem Menschen eine Wahl abverlangt und er fühlt sich dabei in Anspruch angenommen. Wir fallen in diesem Moment heraus aus dem Netz notwendiger Kausalbestimmungen und sehen uns durch einen Aufruf zur Stellungnahme genötigt. Denn zu handeln oder sittlich zu urteilen, bedeutet eben nicht nur dieses, sondern nötigt uns obendrein eine auf Gründen basierende Beziehung zu unserer sittlichen Praxis ab. Weil uns die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen hat (Kant), können wir nicht anders, als uns zu dieser freien Wahl persönlich ins Verhältnis zu setzen. Daraus entsteht eine Beziehung, ein Selbst-Verhältnis, das zu unserer grundlegenden Bedingung für das wird, was wir mit Glück, Sinn und gelingendem Leben bezeichnen. Grundlegend insofern, als kein noch so reichhaltiger Genuss, außergewöhnlicher Ruhm oder übergroße Macht uns von der Notwendigkeit dieser begründeten Bewertung entledigen könnte. Der Mensch bringt mit der Vernunft, die er besitzt, Werte in die Welt und wird damit in eine Beziehung zu ihr gestellt, die man im Sinne Plessners als exzentrisch bezeichnen könnte. Dieser objektivierende Blick auf sein Leben ist es, der ihm fortgesetzt eine wertende Stellungnahme abverlangt. Ohne einen abschließenden Zweck für diese besondere Weltbezie11 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Einleitung

hung voller Absichten und sittlicher (Selbst-)Urteile nennen zu können, spricht doch viel dafür, dass nur dadurch Begriffe wie Gerechtigkeit, Freiheit und Würde überhaupt denkbar geworden sind. Aus demselben Vermögen stellen wir uns die Frage, die zur Überschrift für die vorliegende Untersuchung geworden ist: Ist es möglich, und wenn ja, auf welche Weise, dass ein Mensch einem Aufruf Folge leistet, der ausdrücklich nicht durch vorliegende Wünsche hervorgerufen wird, die auf die primäre Lust- oder Nutzensteigerung der betreffenden Person gerichtet sind? Aber nicht nur diese Bedingung kennzeichnet den Hintergrund der Frage, sondern außerdem die mit dem Aufruf verbundene Möglichkeit einer Gefährdung des eigenen körperlichen Wohls bis hin zur Bedrohung unseres physischen Lebens überhaupt. Auf den ersten Blick würden wir einen Menschen dann für vernünftig halten, wenn er alles tun würde, um genau das zu vermeiden. Wir hätten also großes Verständnis für einen Menschen, der dem Imperativ der eigenen vitalen Erhaltung unbedingte und damit absolute Bedeutung beimessen würde. Genau dieser, prima facie selbstverständlichen, Einstufung des eigenen Lebenserhalts wird diese Untersuchung unter Aufweis der dafür ermöglichenden Bedingungen widersprechen. Nach Kants dualistischer Konzeption praktischer Normativität verfolgen wir einerseits unser Glück als Endzweck all unserer subjektiven Neigungen und andererseits objektiv die Selbstzweckhaftigkeit von Personen als höchsten und letzten Zweck der Vernunft. Die daraus potentiell entstehenden Widersprüche sind überaus greifbar und bedürfen einer genaueren handlungstheoretischen Betrachtung. Anhand einer existenzphilosophischen Rekonstruktion moralischer Praxis wird sich durch die vorliegende Untersuchung zeigen, dass unter bestimmten Bedingungen das Glück des Menschen nicht mehr länger von den prinzipiellen Ansprüchen der Vernunft zu trennen sein wird. In der Existenz begegnet sich der Mensch selbst, als Ganzes. Die Tiefe der daraus entstehenden Erfahrung überwindet die Trennung von subjektiver und objektiver Normierung und mündet in einer existentiellen »Geborgenheit«, die uns als selbstbewusste und dadurch freie Menschen grundsätzlich möglich ist. In gewisser Weise sind wir, mit Sartre gesprochen, zu dieser Freiheit verurteilt. Die Freiheit nötigt uns zu wählen und bedingt so eine Empfänglichkeit für Phänomene wie Gewissen, Pflicht und Verantwortung. Aus diesen Sphären können in besonderen Situationen emotional gestützte und rational begründete Situationen hervorgehen, in denen wir uns aus uns selbst heraus in Anspruch genom12 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Einleitung

men fühlen. Es ist dieses einzigartige Phänomen, das wir der Form nach als Imperativ erleben, das sich nur aus einer zuvor freiheitlich begründeten Bindung an Werte in unserem Bewusstsein zeigen kann. Sei es als nicht willentliche Intervention durch unser Gewissen, durch reflektive Deliberation oder durch den Prozess der Verantwortung. Zugleich finden wir im Umgang mit dieser Freiheit unser wahres Menschsein im Sinne einer vernünftigen Lebensführung aus der Achtung vor uns, den Mitmenschen und der Natur. Aus Sicht des Autors gibt es keinen überzeugenden Grund dafür, dass zwar einerseits moralischen Normen mit ihrem impliziten Anspruch der Selbstbeschränkung Geltung zukommen sollen, andererseits diese Verbindlichkeit an einem bestimmten Punkt der daraus entstehenden Konsequenzen für die verpflichtete Person prinzipiell eine Aufhebung dieser Geltung erfahren soll. Anders gefragt: Zwingt uns die Vernunft tatsächlich unter allen Umständen zur Relativierung noumenaler Einsichten gegenüber physikalischen Bedingungen der Selbsterhaltung, oder gibt es im Leben eines reflektierten Menschen Bedingungen, die im umgekehrten Sinn zur Relativierung letztgenannter Gründe gegenüber der geistigen Selbsterhaltung im Sinne einer identitätsgebundenen Selbst-Treue führen können. Letzteres beschreibt in kurzer Form den Begriff der unbedingten Forderung. Die vorliegende Untersuchung soll auch deshalb vor dem Hintergrund anthropologischer Verhältnisse in Bezug auf Bedeutungssetzung und damit vor allem im Blick auf Werte und Werturteile erfolgen. Menschen sind keine Wesen, die frei von derartigen Wertsetzungen ihr Leben gestalten. Selbst unter widrigsten Umständen – oder gerade dann – existiert der Mensch nie bloß im Faktischen. Menschen sorgen sich um etwas, sie lieben und bevorzugen. Spätestens seit Platon verstehen wir mit der eminent wichtigen Differenzierung zwischen Sein und Sollen philosophisch umzugehen. Moderne Glücksauffassungen, wie die von John Rawls, setzen diese Dichotomie zwischen Tatsachen und transzendenter Wertbezüge immer schon voraus. Einen Lebensplan, gestützt durch Ziele aus eigenen Kräften, zu verwirklichen, setzt doch schon vor seinem Entwurf eine zwar subjektiv konstituierte, aber jedenfalls allgemein notwendige Verbindung zu Idealen (immanenten Wertbestimmungen) voraus. Damit angesprochen ist die Frage nach den kognitiven und axiologischen individuellen und möglicherweise objektiven Voraussetzungen. Eine in moralischen Urteilen und Handlungen praktizierte Überschreitung des Faktischen kann notwendig nur unter der Voraussetzung eines 13 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Einleitung

Vorgestellten, einer dieses transzendierenden Entität gelingen. Platonisch gewendet: Schatten sowohl ontologisch als auch axiologisch nicht als letzte Wahrheit zu begreifen, setzt die kognitive Erweiterung des gewöhnlichen Wahrheitshorizontes um eine Lichtquelle voraus. Und seit Kant wissen wir, dass die Gültigkeit von Begriffen niemals durch Erfahrung zu erweisen sein kann, da diese die Möglichkeit von Erfahrung selbst bedingen. Damit wird der Mensch als ein Wesen aufzufassen sein, das über seine Erfahrung im Realen hinausstrebt (Transzendierung) und durch kontrafaktische Bezüge die Realität zu einem immer nur vorübergehenden, weil unvollkommenen, Zustand erklärt. Eben dieser Bezugspunkt, oder sollte man besser von einem Maßstab sprechen, ist es, der unter anderem bei den vorgelegten Fallstudien als näher zu differenzierendes Kriterium herangezogen wird. Die zentrale Aufgabe präskriptiver Ethiken besteht darin, Kriterien zu entwickeln, die eine moralische Beurteilung von Handlungen gegenüber anderen und vor uns selbst ermöglichen. Es kommt dabei darauf an, dass die aufgestellten Kriterien hinterfragbar, überprüfbar und vor allem begründbar sind. Eine durchaus übliche Unterscheidung teilt die so entwickelten Ethikansätze in formale (wie den kategorischen Imperativ bei Kant), materiale (wie etwa die Wertethik von Scheler) und die hauptsächlich in der Antike gelehrte und in neuaristotelischen Ansätzen modern interpretierte Tugendethik. Formale Normen beziehen ihren Geltungsanspruch aus der Bewertung von Vorstellungsbezügen in unserem Denken. So beansprucht der kategorische Imperativ seine Gültigkeit letztlich aus seiner Faktizität in der praktischen Vernunft. Eine vorgestellte gute Handlung muss demnach immer einer logisch universalisierbaren Maxime folgen und dabei alle betroffenen Menschen in ihrer Selbstzweckhaftigkeit berücksichtigen. Der besondere Reiz dieses Ansatzes besteht in seiner relativ stark ausgeprägten Immunität gegenüber bestimmten Anlässen zum moralischen Skeptizismus. Wenn die Richtigkeit einer Handlung hinreichend durch ihre rationalen Vorbedingungen auszuweisen ist, müssen wir keine weiteren moralischen Eigenschaften in der Welt oder im Bewusstsein postulieren. Wegen dieser Unabhängigkeit von moralischen Substanzen (Werte, Ideale, Glaubensinhalte), können wir im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ (KI) auch von einer »ideologischen Schutzfunktion« dieses formalen Ethikansatzes sprechen. Eine Handlung ist schlecht, wenn, allgemein gedacht, durch sie selbst die Bedingung ihrer Möglichkeit aufgehoben würde und 14 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Einleitung

nicht durch die Verletzung einer positiven Norm, deren Geltung z. B. auf wechselseitig anerkannten Vorstellungen vom guten und sittlichen Leben beruht. Es ist demnach einem vernunftbegabten Wesen schlicht unwürdig nach Bestimmungen zu leben, deren universalisierte Geltung vernünftig auszuschließen ist. Es ist vor allem der in Kants Ethik thematisierte kategorische Pflichtbegriff, der für den thematischen Schwerpunkt dieser Untersuchung – der unbedingten Forderung – eine hohe Relevanz aufweist. Weil der Mensch durch seinen Geist in der Lage ist, der Vielzahl hypothetischer Imperative, kategorische, also jeder innerweltlichen Lage der Sachverhalte entzogenen, Forderungen gegenüberzustellen, kann es eine unbedingte sittliche Forderung (der Möglichkeit nach) überhaupt geben. Wir werden in der vorliegenden Untersuchung aber auch darauf hinweisen, dass eine nur gesinnungsethisch fixierte Pflichtethik nicht in allen praktischen Lebenslagen hinreicht, um den material komplexen Handlungsumständen und den durch diese verursachten Folgen gerecht zu werden. Die von Max Weber angeführten Entlastungsinteressen des Gesinnungsethikers im Hinblick auf die Folgen seines Tuns einerseits, und die Anwendung objektiver Gesetzeszusammenhänge im Hinblick auf die Vermeidung subjektiver Normbehauptungen andererseits, mögen die Fraglichkeit rein formal konstituierter Pflichten andeuten. Insbesondere die Befassung mit dem Verantwortungsbegriff wird diese »Leerstelle« oder Schwäche kantischer Gesetzesethik konstruktiv aufnehmen und zeigen, wie der rational aufgefasste Zustand der Verantwortlichkeit durch selbstgebundene Wertvorstellungen und deren Streben nach Realisierung – durch der Struktur nach postkonventionelle Urteile – handlungswirksam wird. Am Beispiel Václav Havels wird dies besonders deutlich werden. Eine materiale Ethik, wie sie z. B. Max Scheler vertritt, behauptet, dass nicht die Form, sondern der Inhalt einer Handlung, also der darin verwirklichte Wert, über die Moralität entscheidet. Der Geltungsanspruch beruht dabei auf apriorisch gegebenen, evidenten Wertgestalten, die der Mensch durch Wertfühlen erfasst. Wir werden bei der Vorstellung dieses ethischen Konzeptes vor allem auf die Übereistimmung individueller und universeller materialer Bestimmungsgründe abheben. Mit Schelers realistischer Moralkonzeption können wir verstehen, wie es möglich sein kann, dass subjektive Gefühlszustände universelle Geltung beanspruchen können. Wir fühlen demnach Werte, weil es diese (apriorisch) gibt. Wenngleich der zur Anwendung kommende Wertbegriff dieser Untersuchung von Sche15 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Einleitung

lers Definitionsrahmen abweichen wird (Ablehnung eines moralischen Realismus), so sind es doch dieser Zusammenhang und die Betrachtung des Menschen als ein wertrealisierendes Wesen, die einen Einblick (Exkurs) in seine ethische Ausarbeitung rechtfertigen. Insbesondere in der Figur der dispositiv gestützten Rationalität eines Menschen wird die von Scheler ausgearbeitete Idee der universalisierbaren Gefühle analoge Entsprechungen finden. In Abgrenzung zu modernen Handlungsethiken fragt die griechische Tugendethik nach dem gelungenen Leben und stützt sich dabei auf das Urteil des in seiner Gemeinschaft vorbildlich lebenden Menschen. 1 Aristoteles vertritt das Prinzip des Glücks (eudaimonía) und sieht dies auf der Grundlage charakterlicher und intellektueller Tugenden verwirklichbar. 2 Als Inbegriff des Intrinsischen wird das Glück zum summum bonum und damit zum eigentlichen Ziel menschlicher Lebensführung. Der tugendhafte Mensch lenkt sein Urteil mittels der Vernunft und der Erfahrung der Erfahrensten auf eine sittliche Mitte hin. Aristoteles wählt also einen explizit empirischen Ansatz zur Ermittlung der richtigen Handlungsweise. Die Umstände einer Lebenslage sind maßgeblich für die angemessenste Möglichkeit, dem Ziel aller Ziele, der Glückseligkeit, näher zu kommen. Darum, so Aristoteles, »ist die Tugend ihrem Wesen und der Frage nach der Wesenheit nach eine Mitte, nach der Vorzüglichkeit und Richtigkeit aber das Höchste« 3. Vor allem im Abschnitt zur Rationalität (Kap. 5) und im Speziellen bei der Bestimmung existentieller Rationalität wird die aristotelische Auffassung von Klugheit fruchtbar gemacht. Anstatt, wie im heute üblichen Sprachgebrauch nicht selten vorkommend, die Klugheit mit Cleverness in Bezug auf materielle Zielstellungen zu verstehen, verfügt der Kluge (phronimos) bei Aristoteles zwar notwendig über ein Denken, das den Dingen in unserem Leben angemessen (sachgemäß) ist. Der wahrhaft Kluge nützt aber jenes Wissen für ein Nachdenken und Urteilen, das im Ergebnis das größte dem Menschen durch Handeln erreichbare Gut (eudaimonía) zu treffen vermag. 4 Es ist zweierlei, was uns aus dieser tugendethischen Auffassung für die Untersuchung der Möglichkeit radikaler sittlicher

Aristoteles (19951), Nikomachische Ethik, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 3, bearb. v. G. Bien, übers. v. E. Rolfes, Lizenzausgabe, Hamburg: Meiner. 2 Vgl. Höffe, O. (20061), Aristoteles, 3. Aufl., München: C. H. Beck, 189, 197. 3 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106 b f. 4 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140 a ff. 1

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Einleitung

Imperative helfen wird. Wie zur existentiellen Rationalität gehört zum Verständnis der Klugheit bei Platons Schüler Aristoteles der Blick auf das ultimativ Wichtigste im Leben eines Menschen. Jenseits rein instrumenteller oder herkömmlich prudentieller Rationalität besitzt das animal rationale mittels der Vernunft auch die Fähigkeit, aktuellen Versuchungen und scheinbaren Zielen durch den vorgestellten Bezug (Phantasie) auf überragende Werte zu widerstehen. Wir nennen dies später die Möglichkeit zu transzendieren und zu antizipieren. Zweitens betont Aristoteles das Element der Deliberation. Er spricht sich überaus deutlich für ein Handeln aus »richtigem Überlegen« aus. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass der Zusammenhang zwischen höchst herausfordernden sittlichen Imperativen und einem ausgeprägten reflexiven Habitus im philosophischen Sinne unauflöslich ist. Die strikte Abgrenzung von verblendeten, fundamentalistisch motivierten Taten mit radikalem Anschein zu frei und verantwortlich begründeten Handlungen in der Helle der Vernunft wird durch eben diese Praxis des vernünftigen und damit klärenden Nachdenkens besonders gut sichtbar. Die aristotelische Auffassung von gelingender Praxis ist auch für zwei weitere, sehr wichtige Begriffe in der Handlungstheorie von erhellender Bedeutung; und zwar für unsere Vorstellung von »Wille« und »Eigeninteresse«. Der in der Moderne so oft strapazierte Gegensatz zwischen Eigeninteresse und Rücksichtnahme, oder Eigeninteresse und altruistischem Handeln, kann mit Aristoteles aufgelöst werden. Eine der Folgen dieser falschen Entgegensetzungen ist z. B. die allzu leichtfertige Ablehnung utilitaristischer Handlungsnormen. Scheint es doch zu naiv und banal zu sein, den Menschen als einen Maximierer von Zufriedenheitszuständen zu sehen, bilanziert über eine zu definierende Gruppe von Menschen und über deren gesamte Lebensspanne hinweg. Ein Argument gegen diese – oft als krude Form einer anthropologischen Engführung verstandenen – Auffassung der vor allem angelsächsischen Moralphilosophie lautet, dass der Mensch doch offensichtlich entgegen seiner Zufriedenheitserwartung andere Ziele, die z. B. seiner Integrität oder seinen Wertüberzeugungen dienten, verfolge. Menschen opferten sich auf, handelten selbstlos und bewiesen so die Falschheit der normativen Glückssteigerung. Warum aber handeln denn dann die betreffenden Personen so, wie sie handeln? Die Antwort liest sich erstaunlich einfach: weil sie es wollen! Im Institut des Willens werden alle Impulse, Antriebe, Wünsche, aber auch Hemmungen und Kontrollfunktionen einer Per17 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

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son resultierend wirksam. Wenn Aristoteles darauf verweist, dass der Anständige das Gefühl der Scham erst gar nicht benötigen würde, weil er die diese Scham evozierende Handlung nicht anstreben würde, verweist er auf eine personale Substanz, die sich in die Willensbildung einzumischen vermag. Die durch Deliberation geklärte Zielstruktur eines Menschen bringt so eine Selbstbindung hervor, die auch im Stande ist, unverstandene und noch wichtiger: unbegründete Impulse und Affekte als solche zu erkennen (vernünftige Anfechtung) und eine – modern gesprochen – rational accordance sicherzustellen. Moralische Absichten, altruistische Ziele und das eigene kurzfristige Wohl gefährdende Handlungen können ebenso gewollt und emotional verlangt werden wie primitive Steigerungserfolge, ausgelöst durch akteursbezogene Befriedigungsinteressen. Der aristotelische Glücksbegriff ist genau deshalb einer, der weniger mit Verzückung und Ekstase, als mit der Übereinstimmung personaler Wertestandards und gewählter Lebenspraxis (Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend 5) zu tun hat. (Aufgeklärtes) Eigeninteresse ist das, was ein Mensch unter der Bedingung gelingender Lebensführung nach reiflicher Überlegung für richtig hält; und das lässt sich keineswegs prinzipiell gegen Interessen am Wohl anderer, ja sogar gegen die Bereitschaft, sein eigenes Wohl aufs Spiel zu setzen, in Stellung bringen (vgl. dazu auch den Begriff der existentiellen Rationalität). Luther hätte eben doch auch anders gekonnt – in possibilistischer Hinsicht –, aber er wollte es nicht! Die entscheidende Einsicht lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: Menschen verfügen über das Vermögen, ihre Praxis durch Werturteile und andere, das Selbst bindende Überzeugungen, vermittelt über den durch diese zu konstituierenden Willen und die diesen stützenden Emotionen, zu bestimmen. Die operationalen Mechanismen sind die gleichen wie die einer natural bestimmten Impulsbefriedigung. Der Unterschied liegt in der inhaltlichen Beschaffenheit der affizierenden Ausgangsstruktur. Wir können uns zu unseren als unvermittelt erlebten Wünschen ins Verhältnis setzen. Wir können wollen oder nicht wollen, was uns als Wille bewusstwird. Wir können sogar eine Überzeugung davon entwickeln, was wir wollen sollten (vgl. second-order volitions bei H. Frankfurt 6). Dieses Vermögen einer potentiellen Anfechtung Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098 a, 15. Vgl. Frankfurt, H. (1981), »Willensfreiheit und der Begriff der Person«, in: P. Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein: Beltz, 287–302.

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spontaner Impulse und Wünsche durch die Kraft deliberierter, freiheitlich erlangter Wertüberzeugungen und die damit verbundene Objektivierung subjektiver Zustände kann hinsichtlich der sittlichen Beschaffenheit und Ausnahmeposition des homo sapiens nicht überschätzt werden. Fassen wir die Frage nach der Möglichkeit der unbedingten Forderung für einen Moment so auf, dass sie in die Frage »Warum moralisch sein?« übersetzt wird, nähern wir uns damit auch den Unterschieden, die sich zwischen den vier Figuren unserer Fallstudien erkennen lassen. Schließlich ist die Unbedingtheit der Forderungen, um die es gehen soll, eine sittliche, also keinesfalls moralisch indifferent. »Unbedingtheit kann nur Unbedingtheit des Guten sein.« 7 Was aber ist das Gute? Keine andere Frage trifft den intellektuellen Kern der ersten untersuchten Figur – Sokrates – besser als diese. Unermüdlich und radikal vertrat er die Auffassung, dass das Gute am Ende zu verstehen sein müsse. Dieser intellektuelle Optimismus, der zugleich Auftrag war, sprengte alle Formen von Hörensagen, naivem Götterglauben und blinder Hörigkeit gegenüber selbsternannten Experten. Obwohl es Sokrates nie gelang, definitive Antworten auf seine drängenden Fragen zu finden, stand er wie ein Fels für alle diejenigen Einsichten ein, die ihm auf seinem Weg der Erkundung des Guten durch sein Gewissen und seinen scharfen Verstand für würdig erschienen. Stand bei Sokrates das individuelle Ringen mit den Mitteln der Vernunft im Zentrum seiner Existenz, verstand sich der Philosophenkaiser Marc Aurel als Anhänger der stoischen Denkschule, fest eingebunden in eine Gesetzesordnung, die alles Menschliche prinzipiell übersteigt. Die Beantwortung der Frage nach den Gründen für Sittlichkeit fand er in einer holistischen Metaphysik, wonach jedes Individuum seinen Daseinszweck in der Befolgung der gesetzlich aufgefassten Allnatur des lógos findet. Der überzeugte Christ Thomas Morus beantwortet die Frage nach den Gründen seiner Treue hingegen auf eine Weise, wie sie für gläubige Anhänger einer monotheistischen Religion typisch ist. Das Gute ist identisch mit den Geboten und dem Willen Gottes. Morus kämpft in den wohl schwierigsten Stunden seines Lebens, als er im Tower von London seiner sicheren Hinrichtungen entgegenblickt, um nichts mehr als die Gewissheit über den vermeintlichen Willen seines Jaspers, K. (1946), »Das Unbedingte des Guten und das Böse«, in: Ders./F. Ernst (Hgg.), Vom lebendigen Geist der Universität und vom Studieren: zwei Vorträge. Die Wandlung 1 (1945–46), Heidelberg: Schneider, 672–683, 677.

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Gottes in den für ihn schicksalhaften politischen Fragen. Der ehemalige Lordkanzler macht sein eigenes Seelenheil – als Inbegriff seiner Auffassung von Frömmigkeit – zu seinem absoluten Maßstab. Warum er so und nicht anders zu handeln hatte, war unauflöslich mit seinen eschatologischen Erwartungen verbunden. Warum der Bühnenautor und politische Aktivist Václav Havel um keinen Preis zu einem willfährigen Unterstützer des in seinen Augen verkommenen postkommunistischen Regimes seiner Zeit werden wollte, beantwortet er selbst meist in Verbindung mit dem für sein Leben zentralen Begriff der Verantwortung. Havel ist fest davon überzeugt, nur unter der Bedingung einer rechtfertigbaren Lebensweise existieren zu können. Adressat dieser Rechtfertigung ist dabei nicht Gott, sondern er selbst und die Gemeinschaft derer, die sich den Grundsätzen politischer Freiheit und demokratischer Rechtsstaatlichkeit verbunden fühlten. Diese moderne Grundlegung individueller Sittlichkeit verweist am deutlichsten auf das Verständnis, das im Laufe der Untersuchung in Form der Rekonstruktion von sittlicher Unbedingtheit entwickelt wird. Dabei wird sich zeigen, dass der Grund, weshalb Menschen zu sittlichen Ausnahmehandlungen in der Lage sind, nicht etwa in den Wirkungen metaphysisch fundierter Einschüchterung oder einer anderen Form von blinder Entsprechung zu finden ist. Gänzlich entgegengesetzt dazu werden wir nachweisen, dass Individuen unter der Bedingung bestimmter geistiger Entwicklungsanstrengungen, wie Selbstaufklärung und Deliberation, in der Lage sind, in Akten der existentiellen Selbst-Treue auf eine Weise zu handeln, die den Begriff der unbedingten Forderung neu beschreiben und ein modernes Verständnis von Radikalität im besten Sinne zu vermitteln in der Lage sind. Die übersetzte Ausgangsfrage »Warum moralisch sein?« wird eine Person mit einer ausgeprägten autoeidetischen Struktur nicht anders beantworten als mit dem emphatischen Hinweis auf ihr Bewusstsein von einer davon abhängigen Seinsweise und Seinsauffassung, ohne die sie nicht existieren möchte oder kann. Trotzdem spricht vieles dafür, dass große persönliche Risiken aus überzeugungsbedingten moralischen Handlungen in der Moderne vermieden oder doch zumindest strikt kalkuliert werden. Die unzureichende Begründung moralischen Handelns einerseits und die verfehlte, oft anstrengende Entfaltung ontogenetischer Bedingungen mag eine der ausschlaggebenden Ursachen dafür sein. Wird das Paradoxon, dass der Mensch durch Pflichten gebunden werden kann, die seine eigene natürliche Existenz gefährden können, bei Platon und 20 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

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später in religiösen Vorstellungen durch starke metaphysische Annahmen aufgelöst, so kann das Wagnis menschlicher Existenz mit modernen Weltanschauungen nur sehr bedingt durch eine metaphysische Erfolgsgarantie gestützt werden. Moderne präskriptive Ethiken erscheinen für die Begründung unbedingten moralischen Handelns defizitär. Sei es die Faktizität der praktischen Vernunft (vgl. Kant), der maximierte Nutzen (vgl. Utilitarismus), die gute Praxis, beurteilt durch einen drittpersönlichen »Blick von nirgendwo« (Thomas Nagel) oder eine Konzeption von Parteien, die unter bestimmten Bedingungen Regeln und Standards aushandeln (Habermas, Rawls, Tugendhat). Das jeweilige Resultat (Moral) soll uns wohlbegründet aufzeigen, wo die eigene Freiheit endet und die eines anderen beginnt und zu respektieren ist. Diese Maßstäbe bzw. letzten Gründe vermögen jedoch nicht abschließend darüber aufzuklären, weshalb dem Aufruf einer von Karl Jaspers geprägten unbedingten Forderung in der konkreten Lebenspraxis ohne Wenn und Aber und womöglich fehlender Jenseitsversprechungen zu folgen wäre. Diese spitzt sich dann zu, wenn die betreffende Person aus der Befolgung der ethischen Forderung nicht nur keinen offensichtlichen Nutzen ziehen würde, sondern Nachteile in Kauf zu nehmen hätte – im Extremfall gar den eigenen Tod. Gibt es ein derartiges Phänomen, das die betreffende Person in einer so absoluten Weise einer sittlichen Forderung gegenüberstellt, dass sie bereit wäre, selbst ihr Leben dafür hinzugeben? Karl Jaspers hat diese Frage mit der Annahme einer unbedingten Forderung affirmativ beantwortet und wir schließen uns dieser Auffassung an. Diese Position soll selbstverständlich nicht nur behauptet, sondern zum einen durch konkrete historische Figuren belegt, und zum anderen durch eine philosophische Konzeption, die der autoeidetischen Struktur 8, als mögliche vernünftige Erklärung für potentiell radikale sittliche Imperative erklärt werden. Die Stärke dieser Konzeption leitet sich aus der grundsätzlich notwendigen und darin schlüssig erläuterten Synthese von Vernunft, Motivation und Sinn ab. In der Rekonstruktion dieser spezifisch sittlichen Verfasstheit vernunftbegabter Wesen findet sich sowohl die konsisDer Begriff der autoeidetischen Struktur wurde von uns neu konstruiert und eingeführt und leitet sich aus der Bedeutung von eîdos als Gestalt, Form oder Idee ab. Findet sich der Ausdruck bereits in den platonischen Dialogen Kratyolos und Parmenides, spiegelt vor allem die Verwendungsweise bei Aristoteles als »inseiende Form« (to eidos to enon) die von uns gemeinte Bedeutung als sittlicher Personenkern in den verschiedenen Bezügen der Existenz und praktischen Vernunft wider.

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tente Überwindung einer exekutiv wirkungslosen Urteilsbildung und einer Willensbestimmung aus kontingenten Wünschen, als auch die Beantwortung der Frage, worin die rationale Veranlassung emotionaler Kräfte für eine unbedingte Praxis bestehen kann. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Hinsichten von Wahrheit, deren Inhalte (Erkenntnisse) unabhängig vom diese denkenden Subjekt gültig sind, wird sich mit Blick auf die autoeidetische Struktur zeigen, dass die darin wirksame Wahrheit vom Geltungssinn der jeweils denkenden Person abhängt. In dieser wesentlich existentiell geprägten Theorie autonomer Lebensführung wird dies besonders durch die Betonung der ontogenetischen Bedingungen sichtbar werden. 9 Kants Galgenbeispiel, in dem der eigene Tod als Folge einer pflichtgemäßen Handlung bzw. ihrer Unterlassung, begründet im moralischen Gesetz, als untergeordnete Konsequenz autonomen Handelns dargestellt wird, wirkt anachronistisch und inkompatibel mit modernen Vorstellungen der Lebensgestaltung und schwer vereinbar mit dem unbedingten Streben nach Erhalt und Verlängerung des Lebens und dessen paradigmatischen Kategorien von Lust- und Nutzenmaximierung. Hier stehen dem kategorischen die unendliche Vielzahl pragmatischer Imperative, einer formal konstituierten Pflicht empirische Kalküle gegenüber. Kant sieht in diesem kategorialen Unterschied die Erhabenheit des Sittengesetzes begründet. Die Benennung von Erhabenheit ist jedoch das eine, eine philosophisch stimmige Begründung für deren praktische Relevanz und letztlich durch diese bedingte konkrete Berücksichtigung in unserer Lebenspraxis das andere. Kant spannt eine Brücke von der Insel der vernünftigen Urteilsbildung zum Land der legitimen Praxis: mit dem besonderen, weil apriorisch angenommenen Gefühl der Achtung findet er das verbindende Glied und damit eine für unsere Untersuchung wichtige Unterstützung der These emotionaler Vorbedingungen radikaler Lebenspraxis. Obgleich die für Kants Konzeption unabdingbaren Bestimmungen der Achtung im Ganzen von uns nicht übernommen Jaspers verdeutlicht diesen Zusammenhang am Beispiel von Galilei und Giordano Bruno. Äußerlich in der gleichen Lage befindlich, da von beiden durch ein Inquisitionsgericht der Widerruf ihrer Lehre unter Androhung des Todes gefordert wurde. Bezüglich ihrer Wahrheit jedoch völlig verschieden: Galilei konnte seine Lehre widerrufen, ohne dass sich an der Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht, etwas änderte. Bruno dagegen, genau wie Sokrates, musste mit seiner Person für seine Wahrheit einstehen. Ihr Widerruf hätte den Gehalt ihrer Wahrheit zerstört. Vgl. Jaspers, K. (1948), Der philosophische Glaube, München: Piper, 10 ff.

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werden, ermöglicht seine transzendentale Bewertung der Achtung im Hinblick auf moralische Praxis in seiner Kritik der praktischen Vernunft eine besonders geeignete Hinführung zum Verständnis einer epistemisch begründeten Verursachung von Handlungen durch Gefühle. Im Mittelpunkt der aktuellen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von sittlicher Rechtfertigung und praktischer Veranlassung (Handlung) stehen sich zwei Positionen gegenüber: die des Internalismus und die des Externalismus. Behauptet die erste Denkrichtung, vernünftige Schlüsse müssten qua ihrer Geltung auch exekutive Motive (intern) mit sich führen, gehen die Anhänger der zweiten Position davon aus, dass Urteile als solche eine eigene, von Handlungsmotiven getrennte Kategorie seien. Wir werden in der vorliegenden Untersuchung die Auffassung vertreten, dass wir als Menschen nicht erst spezifische Wünsche, losgelöst von sittlichen Überlegungen, in uns vorzufinden haben, die dann mittels deskriptiver Umsetzungsüberzeugungen (Mittel-Zweck-Zusammenhängen, proattitude, belief-desire theory) zur Praxis werden. Dieser auf Hume zurückgehende Ansatz blendet die wechselwirksame Beziehung von Urteil und Gefühl gänzlich aus. Was auch dazu führt, dass die Vernunft nach seinem Verständnis auf die Form einer rein instrumentellen reduziert und die vorausgehende emotionale Bedingung als einzige Bestimmungsmöglichkeit vernünftiger Handlungen absolut gesetzt wird. Im Ergebnis führte dies zu einer begrifflichen Verarmung der Vernunft und würde die Tatsache negieren, dass der Mensch grundsätzlich nicht nur Gefühle und Wünsche hat, sondern sich zu diesen bewertend und urteilend ins Verhältnis setzen kann (rationale Anfechtung, reflective endorsement). Andererseits muss eine begriffliche Überbestimmung vernünftiger Urteilsbegründung hinsichtlich exekutiver Voraussetzungen unterbleiben. Der Hiatus zwischen moralischer Urteilsbegründung (principium diiudicationis) und kausaler Handlungsauslösung (principium executionis) besteht und stellt ein philosophisch anspruchsvolles Begründungsproblem hinsichtlich der praktischen Reichweite rationaler Bewusstseinsinhalte dar, weil es eben auch nicht selbstverständlich ist, dass sich Menschen in konkreten Lebenslagen ohne weiteres konsistent bezüglich ihrer höchsten moralischen Einsichten verhalten. Ausgehend von der externalistischen Position wird die Antwort im Umfang einer personalen, dispositiven Qualität zu finden und ohne diese als faktische Antezedenz aufzufassen zu sein, wird sich doch zeigen, dass diese dis23 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

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positive Abstützung vernünftiger Schlüsse die entscheidende Bedingung (nicht zeitlich) einer als autonom und potentiell radikal aufzufassenden Selbstbestimmung ist. Auf der Grundlage einer genaueren Betrachtung von Rationalität in ihren verschiedenen Bezügen werden wir vertreten, dass es dem Menschen nicht qua Vernunftbegabung alleine gelingen kann, sittlich zu handeln. Es bedarf einer durch Deliberation und emotionale Verankerung geprägten Gesamtstruktur, die durch die Besonderheit einer zweifachen Beziehung ausgezeichnet ist: die zu einem wohlbegründeten Handlungsanspruch einerseits und die diesen in einen konkreten Willen transformierende emotionale Disposition andererseits. Beide Vorbedingungen werden aber erst durch eine regulierende Instanz – unser Selbst – und die durch es bewirkten Emotionen der Selbst-Treue in Verbindung mit dem Streben nach existentieller Geborgenheit auf Grundlage internalisierter Werturteile hinreichend wirksam. Es ist dieser fundamental normative Funktionszusammenhang, der die autoeidetische Struktur einer Person kennzeichnet. Hinsichtlich des operationalen Modus dieser Struktur werden wir erklären, dass das Konzept der Homöostase, wie wir es in praktisch allen physiko-chemischen Prozessen der Natur vorfinden, eine wichtige Rolle spielt. Moralische Gefühle werden in diesem Zusammenhang sowohl funktionalistisch als auch indikativ verstanden. Wir handeln nicht nur auch vernünftig wegen dieser Kategorie von Gefühlen (Scham, Schuld, existentielle Bedrohung), sondern wir haben diese Gefühle potentiell, weil wir autoeidetische Urteile in uns tragen. Insofern erkennen wir uns selbst in gewisser Hinsicht auch an unseren Gefühlen, weil diese auf unser Selbst verweisen. Es ist diese zentrale Rolle, die dem Selbst zukommt, die eine genauere Untersuchung in ontologischer und phänomenologischer Hinsicht erforderlich macht. Das Unglück des Menschen rührt nicht selten von der geistigen Erfahrung der Verfehlung. Nicht das Erlebte per se und dessen hedonistischer Lebensbeitrag wird dabei zum Maßstab, sondern vielmehr die reflektierte Prüfung der Entsprechung von Lebenspraxis und persönlich vorgestellter und verinnerlichter Sinnvorstellung. Wobei der Ausdruck Sinn in diesem Zusammenhang alle existentiellen Rechtfertigungsansprüche an das eigene Leben umfasst. 10 Wir werden Dieses Verständnis von Sinn entspricht am ehesten dem, was bei Frankl den unterschiedlichen Sinnerfahrungen einzelner und konkreter Situationen übergeordnet ist. Ein Sinn, der in der Richtung eines Lebens liegt oder fehlen kann. Vgl. Fetz, R. L./

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nicht unglücklich, weil wir auf dem eindimensionalen Feld der Erfahrung etwa zu kurz kommen, oder glauben, dass dies der Fall sei, sondern weil wir im Spiegel der inneren Einkehr eine Person erkennen, die unseren höchstpersönlichen Ansprüchen an uns selbst nicht gerecht wird. Unglück und Verzweiflung in diesem Sinn sind immer von existentieller und ursprünglich geistiger Natur. Der Mensch beurteilt sein Leben – zumindest in der Rückschau – nicht nach Erlebnisdichte oder objektiven Erfahrungsinhalten, sondern setzt sich kritisch mit seinen als sinnvoll verstandenen Wertansprüchen und den diesbezüglich in der ihm geschenkten Zeit geglückten »Verwirklichungsleistungen« auseinander. Glück dieser Art ist das Resultat einer subjektiv erstellten Bilanz mittels für objektiv gültig gehaltener Wertpositionen. Vor allem das Leben und Wirken von Václav Havel erweist sich als ein sehr gutes Beispiel für diesen genuin philosophischen Weg der Selbstaufklärung durch Reflexion. Sein Anspruch an sich selbst, aus und in der Wahrheit leben zu wollen, wurde durch das zentrale Phänomen der Verantwortung sowohl als Methode der Reflexion als auch als normierendes Verfahren für seine moralischen Herausforderungen beispielhaft zum Mittelpunkt seines sittlichen Selbstverständnisses. Das Selbst ist aber nicht nur eine Instanz für Rechtfertigung in diesem Sinne, sondern zugleich die Bedingung für das Bewusstsein von Pflichten und sittlichen Imperativen sowie für die Möglichkeit, so etwas wie Identität und Integrität überhaupt denken zu können. 11 Die eingehende Untersuchung des Selbst-Begriffes, insbesondere anhand der theoretischen Vorlagen von Mead, Ricœur, Heidegger und Tugendhat, dient der schlüssigen Erklärung der Autorschaft präskriptiver Sollenskonzepte. Es wird diese personale Autorschaft sein, die in der Begriffsfindung der Autonomie und später der damit verbundenen Postkonventionalität die entscheidende Rolle spielt.

Graeßner, M. (2005), »Die wertpragmatische Methode«, in: D. Batthyány/O. Zsok, (Hgg.): Viktor Frankl und die Philosophie, Wien: Springer, 125–148, 133 f. Hinzu kommt ein weiterer inhaltlicher Aspekt: Sinn im existentiellen Sinne ist uns zugleich Objekt der Verantwortung (Grund) und Anspruch, also Bedingung künftiger Selbstverständigung. 11 Eben aus diesem Begründungszusammenhang resultiert die Vorrangigkeit moralischer Gründe.

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1.1 Von der Offenbarung zum Prinzip Der Wandel von naturrechtlich und theologisch verankerten Moralvorstellungen hin zu vernünftig prinzipiengeleiteten Moralbegründungen vollzog sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt dieser entscheidenden Umwandlung sittlicher Normenbegründung stand der Wechsel von autoritären Konzepten hin zu einer Auffassung, die, über Kant hinausgehend und die wechselseitige Gleichstellung menschlicher Glücks- und Sinnansprüche voraussetzend, in einer säkular begründeten Selbstgesetzgebung orientiert am unser aller Wollen (Tugendhat) mündete. Der Freispruch des Menschen von den Zwängen der Natur (Kant) konfrontiert den Menschen in neuartiger Weise mit der praktischen Frage. Vernünftig begründbare Zwecke treten an die Stelle geglaubter Pflichten. Das nicht festgestellte Tier (Nietzsche) wendet sich dabei instinktoffen an seine Vernunft und deren Vermögen, nach universalisierbaren Standards im Zusammenleben und sinnstiftenden Idealen für die eigene Existenz zu fragen. Bleibt das ultimative Ziel menschlichen Glückstrebens im Subjektiven, wird der Endzweck der Vernunft in der Selbstzweckhaftigkeit von Personen erkannt. Das Unverfügbare des Heiligen wird zur Unverfügbarkeit des Individuums. Spätestens durch die weithin einflussreiche Rekonstruktion universeller Chancen und Rechtsansprüche unter der Annahme potentieller Betroffenheit aller an der Konstituierung Beteiligter (Schleier des Nichtwissens) ist John Rawls Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein ganz und gar innerweltlich gebundenes Konzept universalisierbarer Normbegründung gelungen. Begründungen der Moral müssen fortan im Empirischen (Tugendhat) zu finden sein und das Nachdenken darüber (Ethik) orientiert sich am legitimen Freiheitsanspruch jeder Person und an der verfahrens- oder prinzipienorientierten Vermittlung und Ausbuchstabierung derselben. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass sowohl bei den Figuren mit einer eindeutig metaphysischen Weltanschauung als auch bei denjenigen mit einem tendenziell vernunftbasierten Weltverhältnis eine postkonventionelle Urteilsstruktur nachgewiesen werden kann. Erst in der grundsätzlich verschiedenen Begründungsstruktur post-konfessioneller Normativität zeigt sich ein wesentlicher Unterschied: die herausragende Rolle des durch die Vernunft konstituierten und darin letzte Gründe erfassenden Selbst als maßgebliche Instanz moralischer Imperative. Dabei ist nicht nur gemeint, 26 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Von der Offenbarung zum Prinzip

dass das Selbst quasi die Leerstelle einer äußeren Autorität ausfüllt und man somit von einem bloßen Wechsel derselben sprechen könnte. Also anstatt Eltern, Gesellschaft, Gott oder Natur dekretiert nun das Selbst, worin eine sittliche Lebensführung bestünde. Nur dieses angenommen, würde zu einem groben Missverständnis von Autonomie beitragen. Handelt es sich doch dabei nicht um ein bloß relationales Vermögen des Menschen, sondern außerdem und entscheidend um die Fähigkeit, vernünftige Gründe für eine persönliche Stellungnahme angeben zu können. An die Stelle autoritativ legitimierter Normen treten intelligible Standards als Ergebnis eigenständigen Denkens und Prüfens. Mit letzterem öffnet sich das weite philosophische Feld der Legitimierungsbedingungen vernünftiger praktischer Überzeugungen. Weil allein schon die Frage nach Gründen und Prinzipien die Anerkennung unserer vernünftigen Denkstruktur als Quelle der Antworten impliziert, muss die Beantwortung entlang logisch konsistenter, auf die reziproke Anerkennung unserer Lebensvorstellungen (Universalisierungsbedingung) gerichtet verlaufen. Ungeklärt bleibt dabei häufig der Umgang mit und die Bewertung von sittlichen Kategorien wie Werten, Idealen und Prinzipien. Wie lässt sich aus diesen ethischen Konzepten zwischen formaler und materialer einerseits und empirischer und transzendenter Grundlegung andererseits eine philosophisch überzeugende Begründung für die hier gegenständliche unbedingte Forderung entwickeln? Welche transzendentalen Faktoren dem potentiell radikalen Streben nach sittlichen Idealen bzw. einer daraus hervorgehenden und exekutiv wirksamen Selbstverpflichtung auch unter verschiedenen zeitgeschichtlichen Prämissen grundsätzlich vorangehen, beschreibt die zentrale Frage dieser Untersuchung. Im Ergebnis werden wir einerseits spezifische und gemeinsame Strukturmerkmale aus der Interpretation einschlägiger autobiographischer Texte offenlegen, und andererseits ein theoretisches Konzept, das der autoeidetischen Struktur, skizzieren, das die Schwierigkeiten innerhalb der aktuellen philosophischen Debatte hinsichtlich der Rekonstruktion moralischer Praxis durch die Integration einer existenzphilosophischen Dimension zu lösen versucht. Ausgelöst durch die Frage nach der Möglichkeit der unbedingten Forderung wird sich zeigen, dass dieses strukturgenetische Konzept in der Lage ist, die Plausibilität einer (radikal) autonomistischen Auffassung moralischer Praxis durch regulative Mechanismen der Existenzanpassung (autoeidetische Konvergenz) zu erhärten und damit auch die Ausgangsfrage zu beantworten. 27 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Einleitung

1.2 Aufbau und Methode Der erste Teil der Untersuchung wird sich mit den philosophischen Begriffen befassen, die als erforderliche »Werkzeuge« sowohl für die später folgenden Fallstudien als auch für die zu entwickelnde Theorie gesehen werden. In diesem Vorgang der Begriffsbildungen werden zunächst auch Positionen von Autoren referiert, deren Inhalte entweder in abgrenzender, also schärfender Hinsicht, oder aber in – zumindest teileweise – hinführender und erklärender Weise die letztlich formulierten Bestimmungen ermöglichen. Die Auswahl der Begriffe richtet sich zum einen nach der systematischen Vorstellung des Autors zur umfassenden philosophischen Beurteilung der gegenständlichen Themenstellung, aber zum anderen auch nach den inhaltlichen Befunden aus den Quellen der untersuchten Figuren, oder vom Autor interpretierten oder rekonstruierten Begründungen, die sich dort zum Zweck der philosophischen Rechtfertigung ihrer jeweiligen außergewöhnlichen moralischen Praxis finden. Nach einer kurzen Hinführung zum Begriff der unbedingten Forderung, gemäß dem Verständnis von Karl Jaspers, beginnen wir mit dem ethischen Zentralbegriff des Wertes. Aus der Ökonomie kommend und akzidentiell aufgefasst, erfuhr der Wert im 19. Jahrhundert eine ontologische »Verselbständigung« und eine damit verbundene Zuschreibung eines Eigenwertes. Aus Akzidenz wurde Substanz. Anhand von Max Scheler wird dieses Konzept exemplarisch vorgestellt und über Kants Auffassung als Gradmesser der Sittlichkeit bis hin zu einem relationalen und existentiell interpretierten Verständnis als kontextgebundene, plurale Konstruktion vom Guten kontrastiert. Darin wird deutlich, dass Werte sowohl als Gestaltungsprinzipien im politischen Raum als auch im Hinblick auf das Verstehen von uns selbst eine unverzichtbare Rolle spielen. Insbesondere die internalistische Auffassung von Reinhard Lauth und sein Konzept des wertimmanenten Sollens vermittelt uns den spezifischen Zusammenhang von Werten und Handlungen und die Rolle von Werten für das Verständnis der praktischen Vernunft. Im Anschluss werden mit Hilfe der von Kant eingeführten Zweiteilung zur Analyse moralischer Handlungen in principium executionis und principium diiudicationis 12 die sittlichen Begriffe und PhänoVgl. Kant, I. (2004), Vorlesung zur Moralphilosophie, hg. v. W. Stark, mit einer Einl. v. M. Kühn, Berlin: de Gruyter, 56.

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Aufbau und Methode

mene untersucht, die für eine philosophische Bewertung der unbedingten Forderung für relevant gehalten werden. Entlang der großen Meta-Begriffe Vernunft und Gefühl wird dabei sichtbar, wie spannungsreich und vielschichtig das Verhältnis von Deliberation, Urteilen und Begründen einerseits und den Kräften, die uns letztlich zu Handlungen veranlassen (Wollen, Interessen, Motivation), andererseits ist. Nur in dem Maße, in dem nachgewiesen werden kann, dass die Motivationskraft guter Gründe erstens existiert und zweitens durch diese selbst bedingt ist, und die Kraft der Vernunft uns damit der Macht anderer Motive zu entziehen vermag, erweist sich die Rede über die praktische Vernunft als sinnvoll. Diesem Zusammenfallen objektiver Gründe und subjektiver Motivation hat in handlungstheoretischer Hinsicht bei der Untersuchung der unbedingten Forderung einen besonderen Stellenwert. Wie Kant in seiner kritischen Betrachtung der Moralität treffend feststellt, besteht diese mitnichten aus der (veranlassten) Handlung, sondern in der »allgemeinen Form (die pur intellektual ist) des Verstandes« 13; also kann es sich bei der Beschreibung moralphilosophischer Maßstäbe immer nur um eine Säule der unbedingten Forderung handeln. Die Ergänzung um das subjektive Prinzip, das moralische Gefühl, ist somit notwendig. Ein besonderer Schwerpunkt wird auch auf die Implikationen der Vernunft und der menschlichen Gefühle in Hinblick auf kausale Erklärung und normative Rechtfertigung menschlicher Praxis gelegt. Wie lassen sich Geltung und Motivation philosophisch derart aufschlüsseln, dass es uns gelingen kann, die Beantwortung der praktischen Frage schlüssig abzuleiten? Wir unterscheiden dabei im Rückgriff auf Kants komplexe Motivationstheorie zwischen formalkognitivistischen, der sensualistischen bzw. naturalistischen Linie Hutchesons und in dessen Folge Humes und zuletzt den autonomistischen und existentiellen Dimensionen moralischer Motivation. Dabei wird sich zeigen, dass die internalistische Forderung – wonach uns gute Gründe sowohl die Rechtfertigung als auch den Vollzug der Handlung hinreichend beschreiben lassen – nicht ohne weiteres aufrecht zu erhalten ist. Sätze über Moral (Normen, Prinzipien oder auch Glaubensinhalte) implizieren nicht notwendig exekutive Qualitäten (Wille, Motivation). Umgekehrt fühlen wir uns zu Handlungen veranlasst, die uns bei genauer Betrachtung nicht rechtfertigbar erscheinen. Dieses Spannungsverhältnis wird ausführlich entlang der 13

Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, 68.

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Einleitung

Begriffe principium diiudicationis und principium executionis behandelt. Wir werden argumentieren, dass menschliches Handeln nicht vollständig durch naturale Bestimmungen festgelegt ist (naturalistische Unterbestimmtheit), sondern auch – und in entscheidenden Lebenslagen besonders – durch Gründe als Ausdruck autonomer Lebensführung entstehen kann. Die Fähigkeit, sich von Gründen affizieren zu lassen und diese in kohärenter Weise in die eigene Lebensführung zu integrieren, wird als eine bestimmte Form der Rationalität aufgefasst. Dabei werden zunächst die bekannten Aspekte der Rationalität dargestellt, um von dort aus zu einer besonderen Auffassung derselben zu gelangen – der existentiellen Rationalität. Die Besonderheit liegt zweifellos im Gegenstand, auf den sich jede Art von Rationalität im Sinne einer regulativen Qualität beruft. Zielt dabei die instrumentelle Form auf Effizienz, die prudentielle auf ein inhaltlich und zeitlich übergeordnetes Interesse (Klugheit), handelt es sich bei letzterer um unsere Existenz im Ganzen. Existenz soll dabei zunächst als das verstanden werden, was wir einerseits aufgrund unserer Selbstbezüglichkeit und unserer unauflösbaren Neigung, uns in der Welt als ein Gesolltes, also aus Gründen oder Glauben zum Gelingen aufgerufenes Wesen wahrzunehmen, andererseits als Quelle für Sinn auffassen. Die sich bis dorthin reichende Leerstelle zwischen Richtigkeit im Sinne einer Urteils- und Handlungseigenschaft, die auf die wechselseitige Ermöglichung der Menschenwürde verweist, und dem, was uns hinreichend zu handeln veranlassen kann, wird durch die autoeidetische Struktur von Personen gefüllt. Diese spezifisch menschliche Struktur verbindet die Dimension des Gesollten und die des Veranlassenden in einer Art kognitiv-emotionalen Einheit. Zentrales Merkmal dieser Struktur ist eine durch initiale Prägung und – im weiteren Aufstieg zu autonomen Urteilsstufen – vor allem durch Reflexion erweiterte und verstandene Handlungs- und Urteilsdisposition (reflective endorsement), die sich aus dem erlangten Selbst-Bewusstsein und dessen normativen Bestimmungen ableitet. Moralische Rechtfertigung und moralischer Vollzug (in Form dispositiver Abstützung) finden in der autoeidetischen Struktur zu ihrer Synthese und können so zu einer schlüssigen transzendental-pragmatischen Konzeption praktischer Vernunft und der Möglichkeit radikaler – weil vitale Imperative dominierende – Forderungen aus dieser beitragen. Für eine vollständige Rekonstruktion sittlicher Praxis ist ein weiteres, sowohl strukturell verfasstes als auch normativ vermittelndes 30 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Aufbau und Methode

Phänomen von größter Bedeutung: die Verantwortung. In ihr werden sowohl die Rückbewegung auf unser eigentliches Wertbewusstsein (Reflexion) als auch die Bezüge auf Gründe in sprachlicher Form eingeholt. In der Verantwortung holt sich der Mensch aus der Fraglichkeit vor sich selbst heraus und klärt in dieser Konfrontation seine Möglichkeiten zu sein als vor sich verantwortbare Weisen seiner Existenz. Verantwortung ist wesentlich ein Rechtfertigungsgeschehen vor anderen und vor allem vor sich selbst (soziomorphe Binnenstruktur). Das Selbst als ausgezeichnete Seins-Möglichkeit wird in der Selbst-Verantwortung zu dem Wovor der Verantwortung und damit auch zur Möglichkeitsbedingung einer wahrhaft integren Person. Die Unversehrtheit des Selbst (integritas) muss dabei als Faktum der Kongruenz von Anspruch und wirklicher Praxis aufgefasst werden. Das Verhältnis von Verantwortung und Integrität ist funktional betrachtet analog dem von einem Verfahren und dem durch dieses angestrebten Zielzustand. Die stattfindende Rechtfertigung ist dabei nicht schon das Ziel, sondern eine Bezeichnung für eine persönliche Stellungnahme mit dem eigentlichen Zweck der Angleichung (autoeidetische Konvergenz 14) von Anspruch und Sein. Verantwortung hat eine equilibrierende Funktion. Sie wird somit zu einem Geschehen, das die »Selbstverständlichkeit« des Daseins vorübergehend suspendiert und dadurch (unbedingten) Forderungen, der Möglichkeit nach, Gehör verschafft. Der Akt der Verantwortung hat eine wesentlich teleologische Dynamik insofern, als die sich verantwortende Person darin nach Vereinheitlichung strebt. Die ursprüngliche Trennung von Ich und Welt strebt in der Verantwortung nach Identität. Die ersehnte Kongruenz aus Ich und Existenz führt den Menschen in eine seelische Verfassung, die wir später als existentielle Geborgenheit bedingt durch Integrität bezeichnen werden. Wir werden in diesem Zusammenhang auch aufzeigen, dass der Prozess der Verantwortung, als Klärung und Selbstformung, alleine durch die dafür notwendigen, in ihrer Tendenz universellen Bezüge zu Gründen grundsätzlich post-

Dieser Ausdruck wird ausgehend von dem der autoeidetischen Struktur neu eingeführt. Darunter ist die Spezifik zu verstehen, dass der Mensch als wesentlich werdend aufgefasst wird. Unser Sollen als Existenz ist nicht als definitiv und abgeschlossen, sondern als ein dem Dasein prinzipiell vorausliegender Gehalt vorzustellen. Existenz ist per definitionem nie gegenständlich, sondern Verhältnis. Im selbstgemäßen Akt realisieren wir diesen und bewegen uns somit annähernd (konvergierend) auf uns selbst zu.

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Einleitung

konventionelle Urteilsstrukturen und die damit verbundene IchTranszendenz voraussetzt. Aus dieser Selbst-Bindung an Gründe schließlich entwickelt sich unser Begriff von Freiheit. Nach der von uns als unsinnig nachgewiesenen Frontstellung von Determinismus und Freiheit (kompatibilistische Position) und der zugleich behaupteten grundsätzlichen naturalistischen Unterbestimmtheit von Personen gelangen wir zu einem Verständnis der Freiheit, das seinerseits zwar bedingt, aber niemals durch bloße Natur determiniert ist. Dies freilich beschreibt zunächst eine Möglichkeit freiheitlicher Selbstbestimmung, die nicht ohne ontogenetische Anstrengungen zu denken ist. Der Freiheit geht sozusagen eine Befreiung (Emanzipation) voraus. Die der Befreiung wiederum notwendig vorauszusetzende Fesselung besteht in der Einflussnahme kontingenter, in uns schlicht vorgefundener Impulse und Wünsche, deren einzige Legitimation im Haben dieser Strebungen beruht. Vernunft ist per se zwar kein Gut im ethischen, also moralbegründenden Sinn, aber ohne jeden Zweifel das beste Vermögen des Menschen, um den Freiheits- und Schutzinteressen von als Personen gedachten Individuen in reziproker Weise gerecht werden zu können. Freiheit erwächst aus der Vernunft und ist die Bedingung der Autonomie – verstanden als Willensbestimmung durch die am besten vor uns selbst begründeten Schlüsse unserer Vernunft. Selbstverständlich gehören dabei Gefühle sowohl in zielhafter, als auch in ursächlicher Hinsicht zu einer wesentlichen Kategorie der relevantesten Vorsätze (Prämissen) für die zu ziehenden Schlüsse. Wer sich selbst zum (freien) Regisseur seines Lebens machen möchte, bekommt dies nicht von der Natur geschenkt. Hinter dieser banal klingenden Feststellung verbirgt sich der mühevolle Aufstieg aus der »Höhle« der heteronomen Bestimmtheit durch Gemeinschaft, Kultur oder Tradition, über die »Ebenen« der Selbsterkenntnis, hinaus in das Licht der freiheitlichen Selbstbestimmung. Der Ausdruck »Selbst« als bestimmender Bestandteil von Termini wie »Selbst-Achtung«, »Selbst-Bewusstsein«, »Selbst-Treue« oder »Selbst-Verfehlung« verweist unzweifelhaft auf die zentrale Bedeutung des Selbst für den Menschen in existentiellen – also sein ganzes Sein in den Blick nehmenden – Situationen. Es scheint, als ob ohne diesen Begriff eine sachgerechte Durchdringung mit tragfähigen Erklärungen für Phänomene der sittlichen Inanspruchnahme nicht zu gewinnen wäre. Der Grund hierfür liegt in der Struktur unseres Denkens; wir »erfassen das Sein als etwas, das uns als Gegenstand gegen32 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Aufbau und Methode

übersteht.« 15 Wenn wir uns selbst zum Gegenstand unseres Denkens machen, »werden wir selbst gleichsam zum anderen und sind immer zugleich als ein denkendes Ich wieder da, das dieses Denken seiner selbst vollzieht, aber doch selbst nicht angemessen als Objekt gedacht werden kann, weil es immer wieder die Voraussetzung jedes Objektgewordenseins ist.« 16 In dieser von Jaspers so treffend beschriebenen Subjekt-Objektspaltung unseres Denkens wird nicht weniger als die strukturelle Grundbedingung unseres selbstbezüglichen Redens formuliert. Die sittliche Relevanz hingegen und damit die Möglichkeit der Stellungnahme zur Welt aus uns selbst (inhaltliche Dimension) sind damit noch nicht greifbar. Beide Aspekte des Selbst (strukturell und material) werden auch anhand verschiedener Autoren (Thomas v. Aquin, Paul Ricœur, G. H. Mead und Martin Heidegger) freigelegt und kritisch bewertet. Im Ergebnis gelangen wir so zu einer Auffassung des Selbst, die ontologisch »befreit« nicht etwas ist, das wir haben, sondern zu dem wir uns verhalten, wenn es um die existentielle Dimension der Lebensführung, der Wahl unserer Möglichkeiten, besonders in Grenzsituationen geht. Im Sich-zu-sich-verhalten erlangt der Mensch die höchste Stufe sittlicher Kompetenz; aber nur dann, wenn sich das Selbst seinerseits aus der tiefst möglichen Grundlegung der in ihm gegenwärtig werdenden Seinsmöglichkeiten konstituiert. Im zweiten Teil wird zunächst historisch nach konkreten Beispielen aus vergangenen Epochen gesucht, anhand derer eine Lebensführung exemplarisch sichtbar gemacht werden kann, die, wie schon erwähnt, nicht nur klugen Kalkülen, nutzenmaximierenden Strategien und einer hedonistischen Steigerung folgt, sondern in konfligierenden Situationen zum Teil bis zur ultimativen Aufopferung des eigenen Lebens reicht. Dabei wird die Auswahl der Denker unmittelbar der Bedingung Rechnung tragen, dass eine bloß religiöse bzw. intuitive Begründung des jeweiligen sittlichen Imperatives für den systematischen Anspruch dieser Untersuchung nicht zureichend wäre. Dazu wird zum Teil mittels eines vergleichenden Verfahrens untersucht, welche gemeinsamen Strukturmerkmale in der Begründung ihres sittlichen Verhaltens aufzufinden sind, und die Faktizität der unbedingten Forderung überprüft. Zu diesem Zweck werden die plaJaspers, K. (1962), Einführung in die Philosophie: 12 Radiovorträge, Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 29. 16 Jaspers (1962), 30. 15

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Einleitung

tonische Schrift Die Verteidigung des Sokrates, die moralische Mahnschrift Selbstbetrachtungen des Mark Aurel, die Briefe des Thomas Morus sowie die Briefe an Olga von Václav Havel nach geeigneten Belegen untersucht. In allen vier Fallstudien wird sich zeigen, dass dieses moralische Phänomen im Leben der vier Personen eindeutig nachweisbar ist. Anhand der überlieferten Gedanken und biographischen Zeugnisse 17 wird ferner deutlich, dass trotz formaler Einheit des Phänomens eine näher zu analysierende Differenz in der Begründung besteht. Insbesondere im Fall von Thomas Morus wird erkennbar werden, dass die ansonsten eindeutig aufzufindenden Merkmale einer postkonventionellen Urteilsstruktur in Verbindung mit einsichtsbasierten autonomen Urteilsinstanzen nicht ohne weiteres konstatiert werden können. Zwar wird in Morus’ Briefen auf eindrückliche Weise deutlich, wie unabhängig der ehemalige Spitzenbeamte König Heinrichs VIII. von allen Erwartungen der ihn umgebenden politischen Gemeinschaft ist. Zugleich aber gewinnt er diese Unabhängigkeit aus einer Treue, die sich auf Gebote und Meinungen von externen Autoritäten richtet. Die Radikalität seiner Haltung gewinnt Morus nicht eindeutig aus Prinzipien und Einsichten, die für ihn im Laufe seiner Entwicklung absolute Bedeutung erlangt hätten, sondern vor allem aus seinem tiefen Glauben an die unbedingte Geltung offenbarter göttlicher Aussagen und seine Hoffnungen, die sich aus seiner Treue für ein Leben nach dem Tod ergeben. Der Unterschied zwischen universellen Präskriptionen, die mehr oder weniger auf autoritärer und personaler Autorenschaft beruhen (Morus), und Ableitungen, die sich aufgrund des Gebrauchs unserer Vernunftbegabung erweisen, darf dabei nicht unterschätzt werden. Gewinnt im ersten Fall das Gute seine Geltung durch das Prädikat des Göttlichen und ist meist mit einer Vorstellung von Heil oder Bestrafung in einer geglaubten nachweltlichen Existenz verbunden, bedarf die normative Legitimierung im zweiten Fall unserer ureigenen Einsicht. Einer Einsicht, die ihrerseits ohne Bezüge auf Sinn, Verantwortung und Würde keine Geltung erlangen könnte. Wenn heteronome Autoritäten wie Gott, Nation oder Tradition ihre vormals selbstverständliche Geltung einbüßen, bedarf es großer diskursiver Anstrengung, um zu neuen Der Untersuchung der jeweiligen Haupttexte geht bei jedem der drei Denker ein biographisches Kapitel voran. Dies geschieht zum einen, um die Besonderheiten der jeweiligen Epoche aufzuzeigen, und zum anderen, um die für die moralische Haltung relevanten Lebensverhältnisse erkennbar zu machen.

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Aufbau und Methode

normativen Vereinbarungen innerhalb der betreffenden moralischen Gemeinschaften zu finden. Es ist die Vernunft und ihre spezifische Weise, für uns als Menschen wirksam zu werden, die diesbezüglich zu befragen sein wird. Prinzipien wie das vom zureichenden Grunde, das der Universalisierung und das der Antizipation werden dabei untersucht und auf ihre Erklärungskraft hinsichtlich einer zu bestimmenden Wohlbegründetheit sittlicher Standards zu überprüfen sein. Exemplarisch für eine Figur, die dieser weltanschaulichen Orientierung und Grundlegung in besonderer Weise zugerechnet werden kann, werden die Briefe an Olga, in denen sich Václav Havel aus seiner Gefangenschaft während des kommunistischen Regimes in der damaligen Tschechoslowakei an seine Frau wendet, als Quelle und Zeugnis einer philosophisch zu analysierenden und zu interpretierenden Lebenspraxis herangezogen. Sämtliche gewählte Biographien, bzw. die diesbezüglich vorhandenen Belege, werden eine philosophisch außerordentlich aufschlussreiche und originär neue Weise der je individuell vorgefundenen Begründungspraxis von Sinn, Pflicht und Verantwortung vermitteln, die zwar anhand des Phänomens der unbedingten Forderung aufgeschlüsselt, aber durchaus über dieses hinaus weisend, Fragen der moralischen Urteilsbildung und vor allem auch der Voraussetzungen der moralischen Motivation dieser Figuren beleuchtet. Anhand der Untersuchung dieser konkreten Biographien einzelner Figuren der Geschichte wird sich zeigen, dass die unbedingte Forderung im Leben dieser Menschen nicht nur auftrat, sondern durch die Hinnahme höchster persönlicher Nachteile – bis hin zum Tod – ein existentielles Zeugnis erhielt. Im abschließenden dritten Teil der vorliegenden Untersuchung werden die vorangehende Begriffsarbeit (Teil I) und die analysierten Fallstudien (Teil II) in ein Ergebnis zusammengeführt, das sowohl die vorgefundenen gemeinsamen Strukturmerkmale der untersuchten Denker benennen wird als auch eine abschließende Beschreibung der autoeidetischen Struktur als personalen Kern zur Ermöglichung der unbedingten Forderung vermittelt. Dabei wird nochmals besonders auf die Eigenart der Vernunft als uns prägendes Vermögen zur Erlangung von belastbaren Begründungen und Rechtfertigungen einerseits und auf die damit verbundene zentrale Funktion als Möglichkeitsbedingung für intellektuelle Redlichkeit, Immunisierung unserer Selbstbeziehung und für die existentiell bedeutsame Hervorbringung eines Bewusstseins von Sinn andererseits verwiesen. Der Zusammenhang von Sinn und Wahrheit besteht dabei in der Vermei35 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Einleitung

dung der immanenten existentiellen Gefahr der Täuschung. Ist die Erkenntnis und die mit ihr einhergehende Orientierungsleistung für unsere Weltbeziehung einerseits ein überaus nützlicher und erwünschter Aspekt unserer Vernunft, kann diese theoretische Leistung andererseits auch Anlass für eine tiefe existentielle Verzweiflung und das Bewusstsein von Sinnlosigkeit sein. Der Grund hierfür besteht darin, dass unsere Vernunft wesentlich universell ist. Nicht nur Dinge und Sachverhalte werden zu ihrem Gegenstand, sondern auch und vor allem wir selbst. Die Exzentrizität des Menschen macht vor ihm selbst nicht Halt und nötigt ihn zur Stellungnahme. Die unbedingte Forderung wird ihrer Möglichkeit nach als Grenzsituation für einen zwar vernunftvermittelten, jedoch existentiell fundierten Aufruf an einen Menschen erkennbar, der mit seinem ganzen Herzen das einlöst, worum es ihm in seiner Existenz geht. Die Quelle der Unbedingtheit dieses Anspruchs ist das Bewusstsein der davon zureichend abhängigen transzendentalen Seinserhaltung. Ausgehend von der Frage »Wer bin ich?« über die existentielle Projektierung des eigenen Selbst (Zu-Sein) bis hin zur dispositiven Transformation aller motivationalen Kräfte zu einer individuell einzigartigen seelischen Stärke kann ein Mensch zum Adressaten einer unbedingten Forderung werden. Es wird deutlich werden, dass es die geglückte Identität aus primären Willensbestimmungen und sekundären Bedingungen der Selbstbejahung ist, die einem Menschen durch postkonventionelle Urteile aus einer wahrhaft autonomen Urteilsinstanz die erhabene Hinwegsetzung über primitive biologische und soziale Imperative ermöglicht. Doch zunächst wenden wir uns dem »Inspirator« des gewählten Themas dieser Untersuchung – Karl Jaspers – zu. Sein Verständnis der unbedingten Forderung bietet eine ausgezeichnete Hinführung und Öffnung zu den Fragen nach der Möglichkeit und den Bedingungen menschlicher Praxis, die sich durch Loslösung von natürlichen Neigungen und Interessen an Höherem und damit absolut Verbindlichem, das trotz der damit notwendig verbundenen Transzendenz zum Inhalt personaler Selbstbestimmung wird, orientiert.

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Der Begriff der unbedingten Forderung bei Karl Jaspers

1.3 Der Begriff der unbedingten Forderung bei Karl Jaspers Ausgehend von dem gleichnamigen Kapitel aus Karl Jaspers Einführung in die Philosophie 18, das in beeindruckender Weise auf die wichtigsten Wesenszüge unbedingter sittlicher Imperative verweist, wird die zu behandelnde Fragestellung entfaltet und zugleich auch eingegrenzt. Jaspers sieht diese Möglichkeit der Befolgung eines derartigen sittlichen Imperatives, der die Bedingtheit des eigenen Lebens auf unbedingte Weise einem absoluten Wert unterordnete, gegeben und durch das Leben von Sokrates, Thomas Morus und Giordano Bruno erwiesen. 19 Diese Menschen – so Jaspers – »bewahrten die Treue dort, wo Treulosigkeit alles zunichte mache« und der »Verrat des ewigen Seins das nun noch bleibende Dasein unselig werden ließe«. 20 Jaspers grenzt jede Handlung, die Nutzenüberlegungen folgt und den Akteur damit »abhängig von einem anderen, von Daseinszwecken oder von Autorität« 21 macht, von der unbedingten Forderung ab, die ihren Ursprung immer in ihm selbst hat. 22 Der Existenzphilosoph kommt auf Bedingungen der unbedingten Forderung zu sprechen, wenn er von transzendenten Entitäten meines Selbst spricht, die mich »innerlich tragen durch das, was in mir selbst nicht nur ich selbst ist«. 23 Durch das Gewahrwerden 24 dieser ontologischen Differenz in uns entsteht eine Gewissheit über den Seinssinn, die das physische Leben in Grenzsituationen zu einem davon Bedingten erscheinen lässt. »Ich werde meiner inne als dessen, was ich selbst bin, weil ich es sein soll.« 25 Das Unbedingte, niemals Zweckhafte, setzt alle Zwecke und ist nicht Sache der Erkenntnis, sondern des Glaubens. 26 Diesem geht ein Entschluss der Existenz voran, der durch Reflexion hindurchgegangen ist. Dieser aus »einer unVgl. Jaspers (1962), 53–63. Vgl. Jaspers (1962), 54 f. 20 Jaspers (1962), 54 f. 21 Jaspers (1962), 56. 22 Vgl. Jaspers (1962), 56. 23 Jaspers (1962), 56. 24 Jaspers macht hier deutlich, dass das Unbedingte nur im Glauben für die betreffende Person wirklich ist. Es kann nicht nachgewiesen, »nicht als Dasein in der Welt gezeigt werden«. Jaspers (1962), 58. 25 Jaspers (1962), 58. Vgl. dazu auch die Formulierung von W. Weischedel im Kapitel 5.2 zur begrifflichen Fassung des Was im Prozess der Grundselbstverantwortung: »[E]r wird im Verwirklichen der Möglichkeit so, wie er von sich aus ist, er selbst.« 26 Hier zu verstehen als in mir wirklich gewordene Wahrheit. 18 19

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Einleitung

begreiflichen Tiefe hellwerdende Entschluss« 27 bedeutet die Teilnahme am Ewigen. 28 Diese so in Freiheit gewonnene Unbedingtheit bestimmt das Gewicht unseres Lebens. Sie entscheidet über Verlorenheit im Bedingten oder Verwurzelung im transzendenten Grund eines überzeitlichen Seins. 29 Für Jaspers scheint in der Welt alles bedingt zu sein. Ohne transzendente Verwurzelung droht eine Beliebigkeit, die nur durch den Entschluss zum Guten überwunden werden kann. Das Unbedingte ist für Jaspers immer auch das Gute. »Unbedingtheit ist allein dem Menschen als Existenz möglich.« 30 Die reine Betrachtung des Seinkönnens im absoluten Bewusstsein ist aber noch nicht das Selbstsein im Unbedingten. Wie auch bei Heidegger bedarf die Eigentlichkeit neben der Klärung auch eines voluntativen Aktes: des Entschlusses. Was ich bin – so Jaspers – »das werde ich durch meine Entscheidungen« 31. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig Jaspers der Vollzug als Bedingung für eine gelingende Selbstwerdung ist. Besonders in den sogenannten Grenzsituationen kommt es für die betreffende Person darauf an, dem Ruf der Existenz in der Form der unbedingten Forderung zu folgen. Im existentiellen Entschluss entscheidet der Mensch nicht über irgendetwas in der Welt, sondern über sich selbst. Im Entschluss – so Jaspers – erfahre ich die Freiheit und die Trennung von Wahl und Ich wird hinfällig. Ich selbst werde diese Wahl. 32 Folglich definiert Jaspers Entschlossenheit als »die Unbedingtheit des Wesens, das sich in geschichtlicher Gestalt verwirklicht.« 33 Erst in der »Gefahr des sich Untreuwerdens« 34 wird uns die unbedingte Forderung offenbar. 35 Die Differenz aus Dasein und Existenz vermittelt sich in den für Jaspers zentralen Grenzsituationen des eigenen Lebens. 36 Steht der Mensch ständig in Situationen, gibt es besonders ausgezeichnete, in denen der Mensch sich selbst als Existierender bewusst wird und sich ihnen gegenüber Jaspers (1962), 57. Vgl. Jaspers (1962), 57. 29 Vgl. Jaspers (1962), 57 f. 30 Jaspers, (1946), 672. 31 Jaspers, K. (1984), Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München: Piper, 119. 32 Vgl. Jaspers, K. (1956), Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung, Berlin/Göttingen/ Heidelberg: Springer, 182. 33 Jaspers, K. (1947), Von der Wahrheit, München: Piper, 525. 34 Jaspers (1962), 59. 35 Vgl. Jaspers (1962), 59. 36 Dazu zählen Tod, Leiden, Kampf und Schuld. 27 28

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Der Begriff der unbedingten Forderung bei Karl Jaspers

existierend verhält. »Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe.« 37 Die besondere Rolle der Grenzsituationen liegt zum einen in der Bewusstwerdung und zum anderen im Vollzug der Existenz. Anders als im bloßen Dasein zeigt sich in der Grenzsituation eine Grenze und wir öffnen uns selbst gegenüber der Transzendenz und der Unbedingtheit. Dieser Prozess ereignet sich – so Jaspers – in drei Stufen 38: Zunächst wird der Mensch zum Beobachter seines Daseins, er blickt von einem neutralen Punkt aus auf seine Situation. Die Seinsart des In-der-Welt-seins wird vorübergehend aufgegeben und durch die des interessierten Beobachters ersetzt. In einer zweiten Stufe gibt er diese Distanz wieder auf und wird sich erhellt der existentiellen Möglichkeit bewusst. »Jetzt scheidet sich mir das Weltsein, das ich wissend verlassen kann als eine nur spezifische Dimension des Seins, von Existenz, aus der ich nicht, sie betrachtend, hinaus, sondern die ich nur sein oder nicht sein kann.« 39 Die dritte Stufe vom Dasein zur Existenz ist der Vollzug. Das erfasste mögliche Selbstsein wird durch die existentielle Verwirklichung zur Wirklichkeit des Selbstseins. Einerseits zeigt sich in der Grenzsituation die bedrohliche Kraft und Wucht des Daseins, andererseits offenbart sich uns darin die Möglichkeit zum Bekenntnis, zur Existenz. Die unbedingte Forderung erhält bei Jaspers eine für die vorliegende Untersuchung als programmatisch zu bezeichnende Bedeutung: Der Mensch begegnet sich in ihr selbst und überschreitet durch sie das bloße Dasein in Form einer Selbstschöpfung aus der Transzendenz. Im Unbedingten wird eine existenzielle Wahl getroffen zugunsten des Ewigen und gegen »das Leben, das im Bedingten bleibt« 40, ein Leben, das tierhaft der Hingabe an Neigungen und sinnlichen Antrieben folgt. 41 Jaspers macht deutlich, dass es am Ende einer intensiven Reflexion zur Klärung der eigenen Seinsfrage keine Kompromisse geben kann. Entweder folgt das uneingeschränkte Bekenntnis zur Jaspers (1956), II, 204. Vgl. Jaspers (1956), II, 204 ff. 39 Jaspers (1956), II, 205 f. 40 Jaspers (1962), 60. 41 Vgl. ebd. Hier zeigt sich eine moralphilosophische Nähe zu Kant: die Gegenposition der Neigung zum moralisch Gültigen (Pflicht). Das Glück im Dasein wird nicht verworfen, aber unter die Bedingung der Sittlichkeit gestellt. Im gleichen Kontext wird der Gehorsam aus dem Unbedingten nur unter Bedingungen der sinnlichen Glücksbedürfnisse, sozusagen abhängig von glücklichen Verhältnissen, von Jaspers als Scheingüte verurteilt. 37 38

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Einleitung

Liebe (hier gleichgesetzt mit dem Unbedingten), der Bejahung des Seins »aus dem Bezug auf Transzendenz« 42, oder aber der selbstische Rückzug aus jeder Transzendenzbeziehung hin zum Hass. 43 So behauptet Jaspers, dass das Leben aus der Liebe letztlich für das Bekenntnis zum Unbedingten hinreichend ist und erinnert an Augustinus: »Liebe und tue, was du willst.« 44 Jaspers hält grundsätzlich an der Unbedingtheit ethischer Forderungen fest. Da diese ihren Ursprung ausschließlich in der Existenz haben und somit identisch sind mit dem Selbstsein, entfallen alle Bedingtheiten des Daseins. Ethische Regeln und vernünftige Einsichten in sittliches Handeln besitzen nicht automatisch Unbedingtheit. Nicht die vernünftige Einsicht ist hinreichend, sondern der Ort, an dem sie uns gewahr werden, und das kann – so Jaspers – nur die Existenz als unser gesolltes Selbstsein sein. Damit tritt neben dem in modernen Ethiken übliche Anspruch auf universelle Gültigkeit ein weiteres Moment in das Bedingungsgefüge sittlicher Forderungen: die Zeitlichkeit und mit ihr die Geschichtlichkeit. Die ethische Existenz ist für Jaspers niemals ein zu subsummierender Fall eines Allgemeinen. Das Unbedingte kann nicht im Allgemeinen aufgehen, es hat seine eigene Wahrheit und diese ist immer geschichtlich und individuell gebunden. Dabei ist das Unbedingte grundsätzlich keine subjektive Willkür, sondern eine unbedingte Überzeugung, die im gelebten Selbstsein wirklich wird. Die unbedingte Forderung resultiert für Jaspers nicht aus Vernunftprinzipien oder begrifflichen Wahrheiten. Diese Wahrheiten sind für ihn relativ zu bestimmten methodologischen Gesichtspunkten. Darin sind diese zwar allgemeingültig und unter den entsprechenden Annahmen womöglich zwingend, aber nicht unbedingt. Jaspers hält Forderungen, die aus dieser Art von Denken entstehen, für »existentiell gleichgültig, weil endlich, partikular, objektiv zwingend, – für sie kann und darf kein Mensch sterben.« 45 Die unbedingte Forderung ergeht nicht aus Sät-

Jaspers (1962), 62. Vgl. Jaspers (1962), 62. 44 Splett, J. (1999), »Umbruch als Chance«, in: Lebendiges Zeugnis 54, 125–133, 133. 45 Jaspers (1984), 70. Diese grundsätzliche Unterscheidung von Allgemeingültigkeit und Unbedingtheit gilt für Jaspers auch bezüglich des kategorischen Imperativs. Dieser erlangt in seinen Augen zwar Richtigkeit. Um wahr zu werden, muss dieser jedoch durch den Gehalt unserer Existenz erfüllt werden. Vgl. dazu auch Jaspers (1956), I, 387. 42 43

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Der Begriff der unbedingten Forderung bei Karl Jaspers

zen, sondern aus mir heraus als eine Möglichkeit, der sein zu können, der ich gemäß meinem absoluten Bewusstsein sein kann und soll. Der Aufruf einer unbedingten Forderung gründet also niemals im Faktischen unter den Bedingungen der Endlichkeit. Er resultiert vielmehr aus einer Selbstdimension, die sich dem Sein gegenüberstellt. Auf dem Spiel steht immer eine dem Sein gegenüberstehende Wahrheit, ein Aufruf, der in einem (das Wirkliche transzendierenden) Konzept, seien es Wertordnungen, Ideen oder geglaubte Offenbarungen, wurzelt. Jaspers formuliert mit seiner Auffassung von der unbedingten Forderung eine postkonventionell geprägte und identitätsgebundene Weise einer personalistischen Sittlichkeitsauffassung. Trifft diese Grundstruktur unbedingten sittlichen Sollens zu, so müssten die Ergebnisse der im Teil II untersuchten Fallstudien diese stützen. Es müsste sich zeigen, dass Menschen nur dann der Gebundenheit durch Gemeinschaft, Tradition oder bestimmten externen Autoritäten zu widerstreben in der Lage sind, wenn sie sowohl über ein Bewusstsein von bestimmten transzendenten Sollensvorstellungen verfügen als auch eine innere Bindung in Form der genannten Entschlossenheit bzw. einer durch diese erwachsene emotionale Dispositionalität aufweisen. Jaspers vertritt hinsichtlich der subjektiven Veranlassung sittlicher Imperative eine Auffassung der Unbedingtheit, die sich auch im Laufe dieser Untersuchung nach und nach entwickeln und mit den autoeidetischen Gefühlen der existentiellen Geborgenheit als Folge einer wahrheitsgemäßen Existenzweise genauer explizieren lassen und bestätigen wird. Der Existenzphilosoph verweist auf die Notwendigkeit einer lebendigen Weltanschauung, deren materialer Gehalt in der Form allgemeiner Sätze steht. 46 Wir werden auch diese grundsätzliche Behauptung näher untersuchen und mittels der moralischen Vernunft und ihrer reflektiven Prozesse der Vergewisserung zum einen die formale und durch die Konstitution des Selbst als Quelle und Bedingung aller Sinnbezüge zum anderen die materiale Seite der Unbedingtheit nachweisen. Um es noch einmal deutlich herauszustellen: Die in der Existenzphilosophie meist emphatisch betonte Wahl des Selbst alleine genügt nicht, um das sittlich Gute als wohlbegründet zu verbürgen. Wenn Kierkegaard in seinem Hauptwerk schreibt: »[…] denn nur mich selbst kann ich absolut wählen, und diese absolute Wahl meiner selbst ist meine Freiheit, und allein 46

Vgl. Jaspers (1956), II, 331.

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Einleitung

indem ich mich selbst absolut gewählt habe, habe ich eine absolute Differenz gesetzt, die nämlich zwischen Gut und Böse« 47, und wir bei Jaspers lesen: »Böse ist der Wille, der sich gegen mögliche Existenz kehrt, […] so ist böse der Wille in der Umkehr gegen sich selbst; er will sich nicht als Sichselbstwollen« 48, so wird der Akt der Selbstverleugnung zwar zu Recht als eine fundamentale Verfehlung der ethischen Lebensweise betrachtet, aber zugleich auch überbeansprucht, um hinreichend das Gute nach moderner Auffassung zum Ausdruck zu bringen. Um sowohl Aspekte der moralischen Rechtfertigung, der subjektiven Veranlassung als auch der normativen Verankerung ausreichend zu würdigen, besteht eine wichtige Aufgabe der vorliegenden Untersuchung darin, das Zusammenwirken von Vernunft, Emotion und Existenz in plausibler Weise zu rekonstruieren. Im Anschluss werden zentrale Begriffe der Philosophie näher untersucht, die im augenscheinlichen Zusammenhang mit den Bedingungen stehen, die eine personale Verfasstheit dieser besonderen Art ermöglichen. Im Mittelpunkt stehen sowohl anthropologische Grundannahmen, als auch moralphilosophisch relevante Begriffe, die uns als systematische Bestandteile zur Rekonstruktion der gesuchten Möglichkeitsbedingungen dienen.

47 Kierkegaard, S. (2017), Entweder – Oder, Teil I und II, hg. v. H. Diem und W. Rest, 13. Aufl., München: dtv, 783. 48 Jaspers (1956), II, 171.

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I. Theoretischer Teil

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Autonomie, der Schlüssel zum moralischen Subjekt

Ohne den philosophischen Begriff der Selbstbestimmung wäre sowohl unser Verständnis von Person als auch von Würde und Freiheit nicht nur unvollständig, sondern brüchig und letztlich haltlos. 49 Es leuchtet ein, dass ein selbstbestimmter Mensch noch nicht dadurch, dass er sich selbst bestimmt, auch schon hinreichend über die für unseren Begriff vollumfänglichen Bestimmungsgründe verfügt. Vorausgesetzt, wir operieren mit einem Selbst-Begriff, der weder mystisch noch anderweitig transzendent aufgeladen ist, sondern lediglich den Ort der Aktionsbegründung in Absetzung zu heteronomen Einflüssen definiert, verhalten sich auch Tiere in ihrer natürlichen Umgebung selbstbestimmt 50. Mögen es Bedrohungen durch Artgenossen oder andere feindliche Spezies sein, Wettergeschehen oder der basale Überlebenstrieb (Nahrungssuche, Fortpflanzung etc.), die Veranlassung für das jeweilige Verhalten geht doch von dem betreffenden Wesen – also von ihm selbst 51 aus. Dieser Vergleich macht deutlich, dass autonome Handlungen mehr erfordern. Das zusätzliche Kriterium liegt in der Qualität der Gründe. Autonomie, wie wir sie begrifflich fassen, umfasst keine beliebigen emotionalen und affekthaften Der Ausdruck »Selbstbestimmung« geht auf das griechische Wort »αυτόνομος« zurück und obwohl er in der Zeit des fünften vorchristlichen Jahrhunderts hauptsächlich in einem politischen Zusammenhang verwendet wurde, hatte er auch schon eine ethische Bedeutung. Sophokles bezeichnet die innere Haltung seiner Antigone als Autonomie. Römische Schriftsteller übernahmen diesen Ausdruck nicht direkt, sondern umschrieben diesen wie z. B. bei Livius und Caesar mit »potestas vivendi suis legibus« oder »potestas utendi suis legibus«. Vgl. Ritter, J. (Hg.) (2007), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, Bd. 1, 701 f. 50 Die Instinktgebundenheit des Tieres ist für diesen Teil der Begriffsbestimmung irrelevant. Ob es sich nun um Wille, Neigung oder Verlangen handelt, es kommt hier ausschließlich auf die Verortung im betreffenden Wesen an. 51 Die Konnotation des hier verwendeten Terminus »selbst« ist rein numerisch. Ein – wie in der vorliegenden Untersuchung – noch zu entwickelndes existentialphilosophisches Verständnis ist davon grundlegend zu trennen. 49

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Autonomie, der Schlüssel zum moralischen Subjekt

Selbstveranlassungen. 52 Diese Impulse kommen zwar aus uns selbst, erfüllen aber damit nur den Aspekt der nicht von außen verursachten Letztveranlassung. Bereits hier wird deutlich, wo uns das hinführen würde. Eine Unterscheidung von selbst und nicht selbst ist auf diese Weise nicht sinnvoll zu treffen. Lassen sich doch für jede Außenveranlassung in der Konsequenz emotionale oder nutzenkalkulierende rationale Beweggründe für unser Verhalten finden, die wir phänomenal eindeutig in uns – also von uns selbst kommend – lokalisieren können. Der Vorgesetzte, der mich auffordert eine Straftat zu decken und mir mit Entlassung oder anderen Nachteilen droht, verursacht möglicherweise in mir – selbst – eine Angst oder eine Güterkalkulation. Es ist offensichtlich, dass dies mit dem Wort »selbst« in »Selbstbestimmung« nicht gemeint sein kann; eine begriffliche Unschärfe und Verwässerung wäre die Folge. Denn für jede beliebige Aktion eines Menschen, ganz gleich, wo diese ihre erste Veranlassung fände, würde sich ein der Aktion vorangehender Grund für diese in uns selbst benennen lassen. Auch eine Veranlassung, die ausschließlich aus uns selbst hervortritt, wird nicht in jedem Fall vom sinnvollen Geltungsumfang der Selbstbestimmung umfasst. Ein Mensch, der aus Eitelkeit und Ruhmsucht eine karitative Stiftung gründet, ohne sich einer zusätzlichen äußeren Veranlassung bewusst zu sein, handelt zwar in einem engeren Sinne selbst, jedoch erfüllt auch diese Handlungsmotivation nicht die Anforderung wahrer Selbstbestimmung. Es zeigt sich also, dass wir mit dem Lokus-Kriterium nur über ein stumpfes Schwert zum Zweck der Begriffsbestimmung verfügen. Kant löst diese Unschärfe auf, indem er die naturalen Ebenen der objekthaften Erkenntnis und der gefühlten Neigung als legitimen Bestimmungsgrund außer Kraft setzt. Der Ort und das Kriterium der Moralität und damit auch der Autonomie ist allein die Vernunft. Wahre Selbstbestimmung im Sinne von Autonomie erfordert neben der Selbstursprünglichkeit noch mehr. Der letzte Grund meines Urteils – und der Handlung selbst – muss aus einer durch unsere Vernunft selbstgewonnenen formalen Aktionsursache resultieren. 53 Dieser formale Ursprung kann sowohl als Gesetz als auch als Prinzip Mit Blick auf Denker wie z. B. Spinoza und Arthur Schopenhauer ist dies keineswegs selbstverständlich, für die hier vorliegende Untersuchung und die darin entwickelten Konzepte jedoch so definiert. 53 Zur klaren Trennung von Urteil und Motivation werden wir im weiteren Fortgang auch vom principium diiudicationis (Urteilsbegründung) und principium executionis (Handlungsmotivation) sprechen. 52

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bezeichnet werden. 54 Die Festlegung auf eine formale Kategorie der Gründe ergibt sich zwingend aus dem Anspruch, dass sämtliche konkrete und inhaltliche Sachverhalte als nachrangig, da nicht in uns gründend, einzustufen sind. Das Licht der Vernunft, das die Gründe unseres Handelns sichtbar macht, muss also durch uns selbst erzeugt worden sein. Der Bezug auf externe Autoritäten und deren hingenommene Maßgeblichkeit aufgrund der diesen unterstellten Einsichten erfüllt dieses Kriterium nicht. 55 Die Form wird damit zum objektiven Grund der Selbstbestimmung im Gegensatz zu subjektiven Bestimmungsgründen. Zwecke hingegen beinhalten neben dem objektiven Begriff auch den Grund der Wirklichkeit. 56 Es bleibt also festzuhalten, dass wir zunächst für die Untersuchung des Phänomens der unbedingten Forderung mit Blick auf die notwendige Eigengesetzlichkeit von einem Vorrang formaler Letztbegründungen ausgehen. Diese Position wird klassisch von Schelers materialer Wertethik bestritten. Wir werden jedoch darlegen, dass der zunächst offensichtliche Widerspruch durch eine noch genauer aufzuschlüsselnde Synthese beider Auffassungen aufgelöst werden kann. Als prominentester Vertreter der formalethischen Position gilt seit der frühen Aufklärung Immanuel Kant. Der von ihm begründete kategorische Imperativ ist seit seiner Veröffentlichung in der Kritik der reinen Vernunft das zentrale Prinzip jeglicher Moralität in der kantischen moralphilosophischen Konzeption. Das von ihm als Faktum der praktischen Vernunft bezeichnete und nicht weiter ableitbare Gesetz (im Wortsinn: gesetzt) stellt gemeinschaftliche Gelingenszusammenhänge unter Anwendung vernünftiger Geltungsansprüche und deren Universalisierungsmöglichkeit an die Spitze Ein durchaus triftiger Einwand gegen die genannten Bezeichnungen für formale Verursachungsgründe könnte darin bestehen, dass eine aus Ideen und Werten gewonnene Willensverursachung damit nicht umfasst wäre. Dem wird dadurch begegnet, dass diese zunächst noch materialen Quellen im Unterschied zu rein materialen in einem Aneignungsprozess gesetzt werden und sich aus ihrer moralischen Berücksichtigung im jeweiligen Akt immer auch prinzipienhafte oder gesetzförmige Imperative ergeben, die letztlich bestimmend sind. 55 Vgl. hierzu die Einschränkungen bezüglich der inneren Urteilsinstanz bei Thomas Morus in den Schlussbetrachtungen, Teil III. 56 Vgl. hierzu auch die Unterscheidung von Beweggründen und Triebfedern bei Kant, I. (19682), Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe Band 6, hg. v. der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: de Gruyter, 59 sowie die Bestimmung des Zwecks in Kant, I. (19743), Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band 10, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 89. 54

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jeder Sittlichkeit. Nur diejenigen Handlungsmaximen können Geltung beanspruchen, die von allen gewollt werden können. 57 Kant entpersonalisiert gewissermaßen den Autonomiebegriff, um jegliche Heteronomie – wie er sie definiert – auszuschließen und schafft eine Äquivalenz von Allgemeinheit, Form und Notwendigkeit. Damit der Mensch selbst es ist, der will, muss jede Weltneigung eliminiert und eine verallgemeinerungsfähige Basis durch Formbestimmtheit gefordert werden. Gesetzeskonforme Maximen alleine – so Kant – leisten diese universalisierbare Notwendigkeit von Bestimmungsgründen des Guten. Der Alleingeltungsanspruch dieser Bestimmungsnorm für Moralität und die unbedingte Bürgefunktion für den freien Willen werden hier nicht ohne weiteres übernommen. Der formale Charakter der Norm jedoch fügt sich stimmig in die von uns zunächst als Hypothese formulierten Möglichkeitsbedingung für wahre Selbstbestimmung. 58 Anders gesagt: Für den Fortgang dieser Untersuchung ist der Charakter der Eigengesetzlichkeit wichtiger als der durch sie geschöpfte »Gesetzestext«. Damit wollen wir ausdrücken, dass die Frage nach dem Maßstab für die Ermittlung moralischer Urteile nicht völlig offengelassen, aber keinesfalls auf den kategorischen Imperativ eingeschränkt werden soll. Der entscheidende Punkt ist ein anderer. Autonom ist der Wille, der in seiner Bildung grundsätzlich für moralische Einsichten und die damit verbundene Methode der Deliberation offen ist. Eine autonome Person ist in der Lage, ihren Willen zu rechtfertigen. Eine moralische Person ist demnach nicht automatisch eine autonome. Oder anders gesagt: Eine autonome Person bindet sich aus freien Stücken an die normative Rechtfertigungspraxis ihrer moralischen Gemeinschaft, nicht vorrangig an ihre Regeln und Erwartungen. Wer autonom handelt, übergibt die Bestimmung seines Willens der Vernunft und den aus ihr hervorgehenden Gründen. 59 Dabei ist unerheblich, welche epistemischen Vorbedingungen im jeDer Existenzquantor »alle« bezieht sich auf jedermann, der möglicherweise von der allgemeinen Befolgung einer strittigen Norm betroffen (d. h. in seinem Handlungsspielraum eingeschränkt) sein könnte. Das Prädikat »wollen« ist gemäß dem kantischen Begriff des autonomen Willens zu verstehen; es bedeutet so viel wie »aus Einsicht für mich als verbindlich akzeptieren«. Habermas, J. in: Edelstein, W./NunnerWinkler, G. (Hgg.) (1986), Zur Bestimmung der Moral: philosophische und sozialwissenschaftliche Beiträge zur Moralforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 295. 58 Vgl. dazu auch unten Kapitel 5.5.2. 59 An dieser Stelle sei ausdrücklich auf die Mittlerfunktion der Vernunft verwiesen. Wenn wir schreiben »aus der Vernunft« ist im Sinne eines schwächeren Vernunftbegriffes nicht gemeint, dass es um die Einsicht legitimer Gründe ginge, die sich in der 57

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weiligen Individuum gegeben sind. Autonomie impliziert keinen intellektuellen Leistungsgrad als konstitutive Mindestbedingung, sondern beschreibt die prinzipielle Anerkennung der Pflicht, eigenes Wollen der Bestimmung durch die Geltungsansprüche der jeweils besten Gründe unterzuordnen. Die Eigengesetzlichkeit ist der genuine Ursprung aller und zugleich die conditio sine qua non für die Ermöglichung der unbedingten Forderung: »Eigen«, weil nur dann eine persönliche Zurechnung 60 denkbar ist, und »Gesetzlichkeit«, weil konkrete Handlungsalternativen nie aus derselben Kategorie lebensumständlicher Gegebenheiten, sondern nur aus einer sie überschreitenden sittlich qualifizierbar sein können. Letzteres leuchtet sofort ein, wenn im Fall einer ästhetischen Beurteilung von generisch gleichen Gegenständen die Notwendigkeit eines entsprechenden Ideals als Analogon für ein zur Bewertung von sittlichen Handlungen notwendiges Gesetz oder Prinzip betrachtet wird. Beide, ästhetische Ideale und Gesetze, überragen das jeweils zu Bestimmende kategorial. Selbstgesetzlich kann also nicht bedeuten, dass wir uns auf irgendeine Weise selbst konstruierte Gesetze geben und diesen folgen. Das wäre dezisionistisch; Autonomie hat aber immer einen normativen Kern, der sie autoritativ bindet. Bei Karl Jaspers finden wir diesen Zusammenhang so: »Erst wo ich aus meinem nicht mehr gegenständlich Begründbaren lebe, lebe ich aus dem Unbedingten«. 61 Allein der Begriff des Unbedingten könnte Verwirrung stiften. Das Präfix »un-« darf nicht rigoros als jeder Bedingung enthoben oder beraubt interpretiert werden. Vielmehr ist hier die Negierung aller Bedingungen, die aus Umständen, Tatsachen, Vorlieben oder Abneigungen unseres In-der-Welt-seins resultieren, gemeint. Aus jenen wären höchstens generelle, aber niemals universelle Gültigkeiten zu gewinnen. Aktionsbegründungen dieser Art gelten als heteronom. Abgesehen von der Eigengesetzlichkeit der Aktionsbegründungen und der notwendig formalen Beschaffenheit derselben, bedarf wahre personale AutoVernunft als solcher finden ließen, sondern lediglich im Sinne von »mit Hilfe«. Vgl. auch Kapitel 10.2. 60 Hier sei darauf verwiesen, dass bei Kant genau betrachtet keine genuin personalistische Handlungsbegründung beschrieben wird. Es ist nicht die Person mit von ihr hervorgebrachten Wertüberzeugungen oder freiwillig eingegangenen Bindungen an materiale Prinzipien, sondern die Vernunft, auf die sich der kantische Autonomiebegriff bezieht. Vgl. dazu auch Tugendhat, E. (2010), Anthropologie statt Metaphysik, München: C. H. Beck, 129. 61 Jaspers (1962), 57.

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nomie zusätzlich der Selbstbewusstheit. Das der Willensbestimmung zugrundeliegende Bedingungsgeschehen, das unbedingte Aktionen kognitiver oder praktischer Art überhaupt erst ermöglicht, muss dem betreffenden Subjekt verfügbar sein. Schon aus Gründen der Abwehr von Manipulation 62 und zufälligen heteronomen Einflüssen ist diese Transparenz der Begründungs- und Bedingungszusammenhänge unerlässlich. Erst wer selbst auf den Grund seiner moralischen Verfasstheit zu sehen in der Lage ist, vermag in Momenten der Bedrohung seiner Authentizität dieser zu trotzen und die Treue zu sich selbst aufrechtzuerhalten. Der Sog und die Macht konventioneller, heteronomer Nutzenkalküle, aber auch bloß neigungsbedingter Gefühle können nur durch vernünftige, eigengesetzliche, für das Subjekt artikulierbare Gründe gebrochen werden. Erst mir selbst bewusste Bedingungen ermöglichen moralische Unbedingtheit. Dabei – so Tugendhat – konstituiert sich Autonomie nicht auf einer tabula rasa, sondern indem zunächst alles, was nicht wahrhaft autonom ist, aus den Bezügen der eigenen Urteilsbildung verworfen wird. 63 Autonomie ist ein Ausdruck für eine ganz bestimmte Art des Verhältnisses einer Person zu sich selbst. Eine autonome Person will nur unter der Bedingung des Verstehens wollen und tun, was sie will (volitionale Grundstruktur). Im Vordergrund steht nicht die Erfüllung einer Pflicht 64 per se (was soll ich tun?), sondern die Bestimmung der eigenen Existenz (wer will ich sein?). Mit Gerhardt: Das Individuum handelt nicht aus vernünftigen Gründen alleine, sondern es versteht sich aus diesen Gründen im Ganzen. 65 Autonomie beinhaltet somit einen Wahrheitsanspruch; den Anspruch, um jeden Preis eine Existenz in Wahrheit zu sein. Zuletzt sei noch ein weiterer wesentlicher Aspekt der Autonomie genannt: die Externalisierung 66 von Normen. Im Gegensatz zu heteManipulation wird hier als ein absichtliches Beeinflussungsgeschehen verstanden, das sowohl durch lebensweltliche Umstände oder Konsequenzen als auch durch persönliche Unzulänglichkeiten hervorgerufen werden kann. 63 Vgl. Tugendhat, E. (1997), Dialog in Leticia, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 40. 64 Der Fortgang der Untersuchung wird zeigen, dass diese deontologische Perspektive im Hinblick auf die Realisierung von sittlichen Imperativen zu unnötigen heuristischen Schwierigkeiten führt. Erst die existentielle Perspektive löst diesen Nachteil einer im Kern reduktionistischen Blickrichtung auf und macht beides verständlich: Geltung und Praxis. 65 Vgl. Gerhardt, V. (2007), Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart: Reclam, 273. 66 Mit diesem Ausdruck wird ausdrücklich nicht der Begriffsinhalt aus der Psycho62

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ronom bestimmten Menschen, deren moralische Urteilsbildung durch von außen übernommene und in Folge internalisierter Wertauffassungen und Gewohnheiten zustande kommt, verläuft der Richtungsvektor der normativen Angleichung in entgegengesetzter Richtung. Nicht die Gemeinschaft, ihre Traditionen und kollektiv vertretenen Moralauffassungen werden zur internalisierten Grundlage persönlicher Moralurteile (konventionelle, heteronome Urteilsbildung), sondern die hinreichend beschriebene individuelle, sittliche Tiefenstruktur bestehend aus Gesetzen, Prinzipien und den sich daraus ergebenden besten Gründen drängt den so verfassten Menschen zu deren Realisierung in der je gegebenen Lebenslage. 67 Es genügt also nicht, von der physischen Willensbestimmung zu einer – womöglich auch deliberierten – rationalen, also für wahr gehaltenen Urteilsbildung zu gelangen. Der Punkt ist die persönliche Einsicht in die moralischen Gründe selbst, nicht in irgendwelche Gründe der Konformität mit etwas (Gefühl, externe Autoritäten), sondern in die Gründe des Urteils, das den Willen und dessen Umsetzung zur bestmöglichen sittlichen Option werden lässt.

logie übernommen. Es geht nicht um Abspaltungs- oder Abwälzungsprozesse zum Zweck der autotherapeutischen Problembewältigung. Vielmehr verstehen wir darunter die vom moralischen Subjekt ausgehende, nach außen gerichtete Normanwendung. 67 Hier bietet sich an, auf die in Kapitel 5.1 verwendete Wirk- oder Assimilationsrichtung von Bewusstseinsinhalten zu verweisen. Anscombe nennt diese direction of fit. Diese kann sowohl mind to world oder umgekehrt world to mind sein. Eine autonome Person begreift Gründe niemals als Gegenstände der eigenen Anpassung, sondern als verstandene normative Zusammenhänge mit dem Streben der Weltanpassung. Vgl. Anscombe, G. E. M. (1957), Intention, Oxford: Blackwell, 56 sowie Kenny, A. (1975), Will, Freedom and Power, Oxford: Blackwell, 38.

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

Die philosophische Beschäftigung mit der Wert-Kategorie beginnt erst spät in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Abkömmling des klassischen agathón-Begriffes 68. Obwohl schon in der Stoa sehr weitreichend untersucht wurde, welche Dinge von Wert und welche von weniger oder keinem sind, thematisierte die antike Philosophie noch nicht umfassend die ethische Dimension des Wertbegriffes im Kontext begründungstheoretischer Fragestellungen. Die Werte als »Schätzung« und »Ehre« haben in der stoischen Lehre ihren Wert an sich, der sich aus einer natürlichen Wertordnung ergibt. Wir ziehen das Leben dem Tod vor, die Gesundheit der Krankheit und den Reichtum der Armut. 69 Tugendhaft und damit wertvoll war allein ein Leben gemäß der Weltvernunft (lógos) im Einklang mit der Natur (homologia), ein Leben, das gelebt wurde, um es in Einklang mit der göttlichen Wirklichkeit zu bringen. Außersittliche Güter waren im besten Fall der Gruppe der adiaphora zugeordnet und damit für den Menschen gleichgültig. Sittliche Güter wie Leidenschaftslosigkeit, Selbstgenügsamkeit und innere Unabhängigkeit dagegen hatten ihren Wert an sich und erhielten einen hohen sittlichen Rang. 70 Die moralische Grundlegung basiert zwar auch in modernen Zeiten auf dem Verständnis des Menschen als animal rationale et sociale, das heißt auf den moralischen Möglichkeiten des Menschen als Menschen und damit auf Moralität aus einer Art lex naturalis. Doch Der Ausdruck »agathón« spielt neben dem der »areté« (Tugend) eine zentrale Rolle in der Philosophie Platons. In dessen Dialogen geht es letztlich um die Frage nach dem wahrhaft Guten (agathón). Abgesehen von dieser antiken philosophischen Auseinandersetzung findet der Ausdruck »Wert« vorwiegend in ökonomischen Zusammenhängen im Sinne von Preis oder Kostbarkeit Anwendung. Vgl. dazu Kluge F./Seebold, E. (Hgg.) (2002), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl., Berlin, New York: de Gruyter, 985. 69 Vgl. Ritter (2007), Bd. 12, 554 ff. 70 Vgl. auch Kapitel 7. 68

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

besteht große Uneinigkeit darüber, wie Natur heute als ursprünglicher Zusammenhang und Inbegriff dessen, was ohne menschliches Zutun ist und passiert, Quelle praktischer Normen sein kann. Wie kann Natur als präskriptiver Begriff verstanden werden? Die Stoa gilt als die Schule der Antike, der es erstmals gelang, eine naturrechtsbasierte Ethik konsequent zu formulieren. Die Welt weist darin eine Ordnung strikt teleologischer Struktur auf, die sich dem Menschen mittels seiner Vernunft erschließt. Das Gute für den Menschen besteht darin, sich dieser Ordnung fühlend und strebend einzufügen. 71 Nicht geregelte Dialoge oder ein formales Gesetz, sondern die vernünftige Interpretation der natürlichen Neigungen bestimmt, was dem Menschen zukommt. Die Bestimmung des Wertvollen steht im übergeordneten Kontext der natürlichen Neigungen. Das Gute, als höchster Wertbegriff, ist für die Stoa die Realisierung dieser Tugend. Im Ausklang der Renaissance und im Gefolge des Humanismus, der Säkularisierung und der modernen Wissenschaft entsteht im 17. und 18. Jahrhundert ein neues, nicht mehr durch religiöse Überzeugungen dominiertes Weltbild. Diese Umwälzungen brachten nicht nur neue Wertordnungen, sondern außerdem ein evolutionär neuartiges Verhältnis des Menschen zu Werten hervor. Das neuzeitliche Verständnis von »Wert« betont in starker Abweichung zur stoischen Tugend-Auffassung, dass dessen Ursprung nicht in der Welt, sondern im Menschen liegt. Hier beginnen jedoch bereits die bislang ungelösten Probleme. Während z. B. der Neukantianismus der Badischen Schule (Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband) den Werten einen transzendenten Status zuschreiben und Max Scheler von einem Reich materialer Qualitäten jenseits des Seins spricht, 72 gehen WertTheoretiker 73 eines subjektiven Wertbegriffes davon aus, dass durch das Wert-Urteil subjektive Wertmaßstäbe in Beziehung zu objektiven Sachverhalten gesetzt werden. Als mittlere Position darf die Reinhard Lauths eingeordnet werden. Ausgehend von der idealistischen Phi71 Vgl. Forschner, M. (1998), Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt: WBG, 7 f. 72 Vgl. Scheler, M. (1913), Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle a. d. S.: Niemeyer, 12. 73 In dieser Reihe der Denker sei stellvertretend auch Jean Paget genannt, für ihn sind Werte Repräsentanten von Funktionen, der Inbegriff von Begehren. Freilich wäre hier selbst die subjektive Verbindlichkeitsvorstellung beeinflusst und die gerade Werten konstitutiv zugeordnete Stabilisierungsleistung unter der affektabhängigen Beliebigkeit in Gefahr. Vgl. Edelstein/Nunner-Winkler (1986), 116.

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

losophie Johann Gottlieb Fichtes stellt er fest, dass der Wert nicht als bewusstseins-transzendente und objekthafte Gegebenheit angesehen werden kann, »denn anders als im Begriff haben wir den Wert nie und können wir ihn auch nicht haben.« 74 Wir haben es jedoch beim Wert keinesfalls mit etwas, das nur individuell existiert, zu tun, so Lauth 75, sondern mit einem Allgemeinen, das sich in vielen individuellen Werthaltungen manifestiert. 76 Deutlich wird dieses Verständnis auch durch die neukantianische Differenzierung von Seinssphäre und Wertsphäre, wonach diese den Modus der Faktizität und jene den der Geltung hat. 77 Die Sprachphilosophie schließlich fragt in der Sprechakttheorie nach den funktionalen Aspekten von Wert-Aussagen. Beschreiben wir damit (deskriptive Funktion), bringen wir eine subjektive Bewertung zum Ausdruck (expressive Funktion), oder bewerten wir damit allgemeingültig (normative oder präskriptive 74 Lauth, R. (1969), Ethik in ihrer Grundlage aus Prinzipien entfaltet, Stuttgart, Köln, Mainz: Kohlhammer, 23. 75 Reinhard Lauth wurde 1919 in Oberhausen geboren, studierte von 1938 bis 1942 Philosophie und Medizin. Seit 1954 war er Professor für Philosophie in München. Reinhard Lauth war zusammen mit Aloys Wenzl Herausgeber der Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er verstarb am 23. August 2007 in München. 76 Lauth (1969), 22. Die Unabhängigkeit der Werte vom jeweiligen Träger bzw. Bewertenden wird bei einem weiteren sehr profilierten Denker in der Wertphilosophie deutlich. Bei Franz Brentano (1838–1917): »Wir erkennen nicht nur, daß wir den Schmerz hassen und berechtigt hassen, sondern daß er in sich ein ›Übel‹, ein ›Mißwert‹ ist. Was will dieser Ausdruck besagen? Lediglich, daß unmöglich jemals eine gemütliche Stellungnahme zu dem Schmerz an und für sich als richtig charakterisiert sein kann, die kein Mißfallen ist. Mutatis mutandis besagt, daß etwa die Lust ein Gut oder ein Wert sei, soviel wie, daß unmöglich eine Emotion, die sich auf den betreffenden Zustand bezieht – wenn man ihn an und für sich betrachtet – gerechtfertigt sein könnte, die keine liebende ist.« Brentano, F. (1934), Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, mit Unterstützung der Brentano-Ges., hg., eingel., mit Anm. und Reg. vers. v. O. Kraus, 3. Aufl., Leipzig: Meiner, 171. Weiter: »Wir haben soeben dargelegt, daß die Richtigkeit eines Satzes wie ›Lust ist ein Gut, Schmerz ist ein Übel‹ nicht voraussetzt, daß ein diese Zustände Bewertender tatsächlich existiert. Es ist aber zu beachten, daß die Wahrheit dieser Sätze auch nicht verlangt, daß dasjenige existiere, von dem man den Wert oder Unwert sprachlich aussagt.« A. a. O., 172. Dieser Auffassung folgt auch Viktor Frankl: »Werte sind zwar an sich etwas Allgemeines, sie sind ›Sinnuniversalien‹, wie Frankl sie nennt, aber die Wertsetzung selbst und die damit gesetzte Wertordnung sind etwas zutiefst Persönliches und damit Individuelles.« Fetz/Graeßner (2005), 140. 77 Noch vor der neukantianischen Explikation der ontologischen Unterscheidung von Fakten und Werten beschreibt Hermann Lotze 1843 in seiner Logik die Wirklichkeitsform der Vorstellungsinhalte, in Abgrenzung zu Sein und Geschehen, als Geltung.

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Wert-Begriff und funktionale Zuordnung

Funktion)? Im Kontext der unbedingten Forderung wird sich zeigen, dass dem Wertbegriff eine klärende Funktion zukommt. Abhängig davon, ob theologisch geprägte Weltbilder auch das sittliche Selbstverständnis eines Menschen bestimmen, oder ob es sich um eine Auffassung von der eigenen Existenz handelt, die wir hier als postkonfessionell bezeichnen, werden völlig unterschiedliche Wertordnungen und Wertbegründungen zutage treten. Die Frage, inwieweit das jeweilige Wertverständnis variiert, welche Wertbegründungen möglich sind und welche Funktion Werten in der Ermöglichung der unbedingten sittlichen Forderung zukommt, gilt es hier zunächst theoretisch und im Fortgang der Untersuchung anhand der ausgewählten Figuren konkret zu betrachten.

3.1 Wert-Begriff und funktionale Zuordnung Werte sind ihrer allgemeinsten Bestimmung nach materiale Bewusstseinsinhalte. Die inhaltliche Struktur dieser Qualia ist grundsätzlich von sinnlich vermittelten Erscheinungsinhalten zu unterscheiden. Während im einen Fall die Affizierung durch Objekte sinnlicher Wahrnehmung den kausalen Ursprung bildet, verursachen im anderen Fall bejahende Setzungen die Hervorbringung von qualitativen Bestimmungen. Zu unterscheiden ist weiterhin die Funktion der »Werterschaffung«. Dreht es sich dabei um eine Qualitätszuschreibung an ein Objekt oder eine Handlung (Prädizierung) einerseits oder um einen Inhalt unseres Bewusstseins, dessen besondere Bedeutung in der fassbaren Bestimmung von würdigen Sollenszuständen (ontologische Funktion) andererseits liegt? Der Wert einer Handlung, einer Sache oder sogar einer Haltung beschreibt Gründe seiner Bevorzugungswürdigkeit, Gründe seiner spezifischen Bejahung. Diese kann im Nutzen für etwas, also in der jeweiligen Zweckdienlichkeit für einen außer der Sache selbst liegenden Vorteil (Mittel-Zweck-Relation) liegen. 78 Diese dem ökonomischen Verwendungsumfeld ent»Man sollte zunächst bedenken, dass das Wort ›Wert‹ zwei voneinander abweichende Bedeutungen hat. Es drückt manchmal die Nützlichkeit einer Sache aus, manchmal die Fähigkeit, mit Hilfe eines solchen Gegenstandes andere Güter im Tausch zu erwerben, eine Fähigkeit, die sein Besitz verleiht. Den einen kann man ›Gebrauchswert‹, den anderen ›Tauschwert‹ nennen« Smith, A. (2001), Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, übers. v. H. Recktenwald, München: Beck, 27.

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

stammende Bedeutung wird hier nicht weiterverfolgt. Dagegen sind Werte wie Liebe, Freiheit oder Gerechtigkeit, also die hier als würdige Sollenszustände bezeichneten Konstrukte, von umso größerem Interesse. Wie kommen diese Werte in die Welt? Was könnte ein Maßstab für die Werthaftigkeit sein, sprich, was kennzeichnet das Wesen von Werten und könnten Werte überhaupt und wenn ja, wodurch zu einer sittlichen Unbedingtheit menschlicher Handlungen beitragen? Zunächst ist der Gedanke der Geltung in Absetzung zum Modus des Seins näher zu untersuchen. Das Ding verhält sich zum Sein wie der Wert zur Geltung. Dies erscheint plausibel, da sich Dinge in ihrer lebensweltlichen Relevanz auf ihr Existieren genauso beziehen wie es Werte auf ihre Geltung tun. Im Umkehrschluss sind Dinge, die es nicht gibt, ebenso irrelevant, wie es Werte sind, die keine Geltung besitzen. Wie verhält es sich mit der Vermittlung? Dinge werden uns durch unsere Sinne in Verbindung mit unserem Erkenntnisapparat vorgestellt. Wir schöpfen sie nicht, wir leiten sie nicht ab und wir postulieren sie nicht. Werte hingegen sind Gedankenkonstrukte, die dem Menschen als geistigem Wesen in seiner sittlichen Bestimmungsfähigkeit das sind, was ihm die Dinge in seiner sinnlichen Weltbezogenheit sein können. Während jedoch die Dinge – in ihrer ursprünglichen natürlichen Form – nicht vom Menschen hervorgebracht werden 79 und diese deshalb allenfalls von der allgemeinontologischen Frage nach dem Warum des Seienden überhaupt umfasst werden, stellt sich bei den Werten durchaus die speziellere Frage nach der Hervorbringungsbegründung durch den Menschen selbst. Mit der Art der Fragestellung wird freilich bereits eine Annahme getroffen, die kurz näher betrachtet werden muss. Die Annahme lautet: Der Mensch schöpft Werte aus seinem Geist. Er schöpft sie im Sinne einer Schaffung, nicht etwa einer Entdeckung. 80 Scheler postuliert in seiner Mit »hervorbringen« ist hier die erstursächliche Seinserzeugung gemeint und nicht etwa die nach Kant durch unsere Vernunft und ihre apriorischen erkenntniskonstitutiven Formen und Kategorien konstituierten Erscheinungen der Dinge an sich. 80 So meint auch Max Weber, »dass es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können. Was folgt aber aus diesem Satz? Keineswegs, dass Werturteile deshalb, weil sie in letzter Instanz auf bestimmten Idealen fußen und daher ›subjektiven‹ Ursprungs sind, der wissenschaftlichen Diskussion überhaupt entzogen seien.« Weber, M. (1922), »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Ders. (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: W. Fink, 149. Weber geht noch einen Schritt weiter und übersetzt die sub79

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Wert-Begriff und funktionale Zuordnung

Formalismus-Schrift mehr. Er spricht von der durch den Geist vermittelten Einsichtsfähigkeit in objektive Sach- und Wertstrukturen und von der Unabhängigkeit von Wertqualitäten gegenüber dem Sein der Dinge. 81 Demnach hätten Werte zwar – wie er an anderer Stelle betont – ihren Platz im Bewusstsein des Menschen 82, wären aber ontologisch eigenständig und Dingen vorausgehend. 83 Scheler distanziert sich aufs »Bestimmteste, dass es ›ideales Sein‹ gäbe als selbständige Seinsregion.« Er spricht stattdessen im Unterschied zu Hartmann von Gegenständen des Wissens und Erkennens in einem »Sosein«, also einem aktrelativem Sein. 84 Hartmann dagegen geht noch einen Schritt weiter und analogisiert das Wertsein mit dem Ideensein bei Platon. »Der Seinsweise nach sind Werte ›Platonische Ideen‹«. 85 jektive Geltung in eine notwendige objektive Vorstellung: »[G]erade jene innersten Elemente der Persönlichkeit, die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handelns bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas, objektiv Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen und so, im Kampfe gegen die Widerstände des Lebens, entwickelt werden.« A. a. O. 152. 81 Vgl. Scheler (1913), 12. 82 »Überhaupt muss ich einen von Wesen und völligem Vollzug lebendiger, geistiger Akte ganz ›unabhängig‹ bestehen sollenden Ideen- und Werthimmel – unabhängig nicht nur von Menschen und menschlichem Bewußtsein, sondern vom Wesen und Vollzug eines lebendigen Geistes überhaupt – prinzipiell schon von der Schwelle der Philosophie zurückweisen.« Scheler (1913), XIX. 83 »Alle Werte (auch die Werte ›gut‹ und ›böse‹) sind materiale Qualitäten, die eine bestimmte Ordnung nach ›hoch‹ und ›nieder‹ zu einander haben; und dies unabhängig von der Seinsform, in die sie eingehen.« Scheler (1913), 12. 84 Scheler, M. (1979), Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 2, Erkenntnislehre und Metaphysik, Bonn: Bouvier, 241. 85 Hartmann, N. (1936), Ethik, Leipzig, Berlin: de Gruyter, 136. Dem schließt sich Scheler nicht an. Ganz im Gegenteil, Scheler erkennt Gemeinsames von Hobbes, Nietzsche und Platon darin, dass sie sittliche Tatsachen schlichtweg ausschließen würden. Bei den einen, weil diese nur Deutungen des wollenden Menschen seien, bei Platon, weil »die gesamte Welt des Sittlichen in die Sphäre eines unanschaulichen Gedankenreiches verschoben« werden. Sittliche Worte und Sätze geben demnach keinen Tatbestand wieder und stehen auf diesen Tatbestand hin auch nicht in intentional kognitiver Funktion, »sondern es sind zunächst bloße Ausdrucksreaktionen von tatsächlich stattfindenden, aber dabei nicht in der inneren Wahrnehmung als psychische Tatsachen erfassten Gefühls- und Strebensvorgängen«. Scheler (1913), 167 f. Zur aktuelleren Diskussion der Unterscheidung von Tatsachen und Werten sei auf den sprachanalytischen Aufsatz von Elijah Millgram (1995), »Inhaltsreiche ethische Begriffe und die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten«, in: C. Fehige/ G. Meggle (Hgg.), Zum Moralischen Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 354– 388 hingewiesen.

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

Anders gesagt, gäbe es den Menschen nicht, hätte das zwar Einfluss auf die Einsichtsbedingungen, nicht aber auf die Existenz von Werten (Wertqualitäten) als solche. Die materiale Wertethik stellt die objektive Gegenständlichkeit der Werte nicht unter die Bedingung gegenständlicher Objektivität. Wertqualität wird als ein in sich stehendes Sein gefasst. 86 Werte sind echte Gegenstände, die nicht nur von den sinnlich vermittelten Objekten als Träger derselben verschieden sind, sondern auch nicht mit den Gefühlen, die sie uns anschaulich machen, zusammenfallen. 87 Werte sind Qualitäten, die sowohl den Dingen (Gütern) 88 als auch den Gefühlen vorausgehen. Am Beispiel der Gerechtigkeit zeigt sich dies insofern, als eine Gemeinschaft, die in gerechten Strukturen den Wert der Gerechtigkeit aufweist, nicht durch den Verlust derselben die Wesenheit der Gerechtigkeit auslöscht. Hartmann fasst es wie folgt: Materie und Wertcharakter decken sich nicht. Materie ist nur das inhaltliche Gebilde, das den Wertcharakter hat. 89

Und noch einmal sehr klar bei Scheler: Weder die Erfahrung des Wertes noch der Grad der Adäquation und die Evidenz […] erweist sich von der Erfahrung der Träger dieser Werte irgendwie abhängig. 90

Hier möchten wir darauf hinweisen, dass diese apriorische Ursprünglichkeit innerhalb der unterschiedlichen philosophischen Konzepte zur materialen Wertethik durchaus nicht unbestritten ist. Husserls Bestimmung des »Wertes« als »volle intentionale Korrelate des wertenden Aktes« bestimmt den Wert als unselbständig in der unterliegenden Noese (Gesamtheit der sogenannten noetischen Komponenten), also dasjenige, worin sich die Sinngebung vollzieht. Werte sind demnach sekundäre Gegenstände. Husserl, E. (1988), Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908–1914), Husserliana 28, hg. v. H. Breda, Den Haag: Kluwer, 310. 87 Vgl. Scheler (1913), 14. 88 Scheler stellt klar, dass Güter nicht mit Dingen verwechselt werden dürfen. Güter und Dinge sind zwar von gleicher Ursprünglichkeit der Gegebenheit, doch dürfen Güter nicht als bloße wertvolle Dinge betrachtet werden. Dies würde den Wert als bloß Akzidentielles anstatt das Ding in allem völlig Durchdringendes verstehen. Scheler (1913), 17. 89 Hartmann (1936), 133. 90 Scheler (1913), 13. Dazu Patzig: »Der Glaube an absolute Werte, wie er in der materialen Wertethik Hartmanns und Schelers zum Ausdruck kommt (zeitlose Gegenstände besonderer Art), die wir durch Wertfühlen unmittelbar und intuitiv erfassen, ist auch nur als ein Glaube in dem skizzierten Sinne anzusehen.« Patzig, G. (1971), Ethik ohne Metaphysik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 67. 86

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Das Fühlen von Werten

3.2 Das Fühlen von Werten Gegeben, dass es Werte nach dem Verständnis materialer, eigenständiger und sittlicher Qualitäten in der ausgeführten Weise gibt, wie werden uns diese vermittelt? Als Bürger zweier Welten, der realen Welt mit ihren unverbrüchlichen ontologischen Gesetzmäßigkeiten und der Wertewelt, für deren Sollensforderungen dieser hellhörig ist, bedarf es einer Vermittlungsinstanz, die Stegmüller in der Person sieht. 91 Zugleich gilt es, bei der Betrachtung des ontologischen Status von Werten zwischen der drittpersönlichen Perspektive eines beschreibenden Beobachters und dem selbstbewussten Erlebnis der betreffenden Person zu unterscheiden. Werte sind in der erstgenannten Hinsicht bloße Bewusstseinsinhalte und erst in der zweitgenannten erleben wir, was es heißt, diese als Mensch zu »haben«. Werte sind zwar mentale Fakten, doch nicht ausschließlich. Scheler fasst es zunächst negativ: Werte werden uns niemals durch Wahrnehmen und Denken erkennbar, ein darauf reduzierter Geist wäre absolut wertblind. 92 Es gibt eine Erfahrungsart, deren Gegenstände dem »Verstande« völlig verschlossen sind; für die dieser so blind ist wie Ohren und Hören für die Farbe, eine Erfahrungsart aber, die uns echte objektive Gegenstände und eine ewige Ordnung zwischen ihnen zuführt, eben die Werte; und eine Rangordnung zwischen ihnen. 93

Schelers erkennbare Bemühung, den Gesetzen der Denkakte, in denen Gegenstände und ihre Beziehungen erfasst werden, ein Analogon der Gefühle, insbesondere der Werterkennung, gegenüberzustellen, mündet in der Beschreibung einer Herzensordnung, des ordo amoris. Nicht der erkennende Verstand, aber auch nicht eine sinnlich vorgestellte aposteriorische Empfindung kann nach Scheler die besondere Qualität von Werten vermitteln. Neben den Apriorismus des Denkens und Urteilens tritt ein Apriorismus des Gefühls. Werte sind für Scheler Urphänomene fühlender Anschauung, die uns in dieser gegeben werden. 94 Im Wertfühlen ist uns der Wert als materiales Apriori gegeben. Als Wertapriori ist er ein »ideales Objekt«, das erst in den 91 Vgl. Stegmüller, W. (1960), Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie: eine kritische Einführung, Stuttgart: Kröner, 275. 92 Vgl. Scheler (1913), 64 f. 93 Scheler (1913), 262. 94 Vgl. Scheler (1913), 9.

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

Gütern wirklich wird. Es drängt sich hier die Analogie zu den Aktgesetzen und apriorischen Formen Kants auf, die uns Menschen erst transzendental Erkenntnis zu konstituieren ermöglicht. Es ist diese Vorstellung von der ermöglichenden menschlichen Organisation des Geistes, die Scheler auch für die Vermittlung von Werten ansetzt. Dies gelingt Scheler mit der notwendigen Erweiterung des apriorischen Bezugsrahmens der Vernunft (dieser war Kants letzter Horizont aller Erkenntnisbegründung) auf zusätzliche, vor jeder Erfahrung liegende Strukturen des Geistes. Wir finden bei Scheler eine – unseres Erachtens nach – sehr überzeugend begründete Trennung der transzendentalen Strukturen des Denkens und Fühlens. Er spricht von der grundlegenden Verschiedenheit von logischen Axiomen und Wertaxiomen. 95 Werte zu erfahren stellt demnach keine Spezialform der (praktischen) Vernunft dar, 96 sondern bedingt eigene, dem geistigen Gehalt der Werte adäquate, strukturelle Formen. Diese nennt Scheler im Anschluss an Blaise Pascal »Ordre du cœur« oder »logique du cœur«. 97 Bei Pascal finden wir dazu: Wir erkennen die Wahrheit nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Gerade auf diese letzte Art erkennen wir die ersten Vgl. Scheler (1913), 59 und 261. Scheler bezieht sich auch auf die von Pascal überlieferte inhaltliche Bestimmung des Ausdrucks: Dieser verstand darunter »eine ewige und absolute Gesetzmäßigkeit des Fühlens, Liebens und Hassens, die so absolut wie die der reinen Logik, die aber in keiner Weise auf intellektuelle Gesetzmäßigkeit reduzierbar sei.« Scheler (1913), 317. 96 Scheler spricht in diesem Zusammenhang von einer Irrung Kants. Eine Irrung, die darin besteht zu glauben, dass die Gesetze der Logik und der vernünftigen Erkenntnis auch die Erfahrung sittlichen Erkennens bedingten. Dieser apriorische Rationalismus sperrt sozusagen unzulässigerweise die alogisch-apriorische Seite des Geistes aus. Vgl. Scheler (1913), 59. Pascal wendet diese Bevorzugung des Rationalen und glaubt, belegen zu können, dass die Vernunft in ihrer Weise der logischen Begründung doch letztlich dann scheitern müsse, wenn es um den axiomatischen Anfang aller abgeleiteten Begriffe ginge. Diese seien nach den Gesetzen der Vernunft nicht mehr ableitbar. Pascal löst diese »Bodenlosigkeit« des Rationalen und nennt das, was der raison ihren Anfang zuspielt, cœur. Die Bewegung der Reflexion findet aus sich heraus niemals Ruhe. Es entstehen ständig neue Abgründe aus den vermeintlichen Fundamenten und Plausibilitäten. So muss sich der Geist einem anderen übergeben, der einen Anfang gibt. Diese fundierende Größe, die selbst nie beweisen will, nennt Pascal Herz. Vgl. Pascal, B. (2012), Gedanken, hg. u. komm. v. E. Zwierlein, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 249. Wir zitieren hier Pascal nach der von Eduard Zwierlein 2012 herausgegebenen Ausgabe, die ihrerseits der deutschen Fassung von Ulrich Kunzmann folgt, die 1978 im Reclam Verlag erschienen ist. Die Nummerierung folgt der Anordnung des Herausgebers. 97 Vgl. Scheler (1913), 261. 95

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Das Fühlen von Werten

Prinzipien, und vergebens trachtet die vernünftige Überlegung, die nicht daran beteiligt ist, jene zu bekämpfen. 98

Entscheidend ist, dass Scheler die von Pascal bereits angelegte Gleichrangigkeit 99 der beiden gesetzlichen (reinen) Strukturen, die der Vernunft und die des Herzens, in vollem Umfang übernimmt und im Rahmen seiner materialen Wertethik ausbuchstabiert. Werte werden als solche und in ihren hierarchischen Beziehungen durch diese reinen Strukturen der Werterfassung bestimmt und ermöglichen somit eine von der erfahrungsbedingten »psychophysischen Organisation« des Menschen unabhängige sittliche Erkenntnis und Urteilsbildung. 100 Mittels des sogenannten »intentionalen Fühlens« nehmen Personen Werte auf von der Vernunft unabhängige Weise wahr 101. Die Ordnung des Fühlens ermöglicht so eine phänomenologische Wesensschau, die wiederum erstere zu erschließen vermag. Scharf getrennt von subjektiven Gefühlszuständen einerseits und objektbezogenen Vorstellungs- und rationalen Erkenntnisakten andererseits erkennt der Mensch nach der Ordnung des Liebens und Hassens Werte als zielursächliche Aufforderung zur Realisierung in praxi. 102 Zu klären ist freilich auch, ob es sich bei der genannten Ordnung um vom Subjekt unabhängige Erfahrungsbedingungen handelt, oder ob wir gerade von individuellen, besser: an das Personsein »gebundene« Erfahrungsapriori auszugehen haben. Scheler, der – wie schon gesagt – an eine Idee von Pascal und Augustinus ausdrücklich anknüpft, bezieht sich zunächst ausführlicher auf Pascals Entwurf: Und die Ordnung und die Gesetze dieses Erfahrens sind so bestimmt, genau und einsichtig wie jene der Logik und Mathematik; d. h. es gibt evidente Zusammenhänge und Widerstreite zwischen den Werten und den Werthaltungen und den darauf sich aufbauenden Akten des Vorziehens usw., auf Grund deren eine wahre Begründung sittlicher Entscheidungen und Gesetze für solche möglich und notwendig ist. 103 Pascal (2012), 34. Hinsichtlich der ersten Gründe (Prinzipien) trägt Pascal sogar eine Überlegenheit des Herzens vor. 100 Vgl. Scheler (1913), 262. 101 Vgl. Scheler (1913), 266. 102 Vgl. Fetz/Graeßner (2005), 128. 103 Scheler (1913), 262. Vgl. auch 261: »Er [gemeint ist Pascal, GS] sagt: ›Le cœur a ses raisons‹. Er versteht darunter eine ewige und absolute Gesetzmäßigkeit des Fühlens, Liebens und Hassens, die so absolut wie die der reinen Logik, die aber in keiner Weise auf intellektuelle Gesetzmäßigkeit reduzierbar sei.« Außerdem: Scheler, M. (1933), 98 99

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

Aus dieser Beschreibung erhalten wir doch recht eindeutig einen Begriff von der Ordnung des Herzens, der transsubjektiv und von grundsätzlicher Natur zu sein scheint. Auch die Gesetze der Mathematik sind nicht durch die je individuellen geistigen Ausprägungen, sondern durch für alle Vernunftwesen gültige Zusammenhänge bestimmt, die freilich je individuell variierend verstanden und erkannt werden können. Und mit eben dieser objektiven Gültigkeit wird bei Pascal der ordo amoris verglichen. Schelers Anknüpfung wird diesen Aspekt der apriorischen Ordnung aufgreifen und weiter personalisieren. Doch bevor wir darauf näher eingehen, um damit auch die Relevanz dieser sittlichen Tiefenstruktur für die unbedingte Forderung deutlich zu machen, wird die Erfahrungsart, mittels derer Werte dem Bewusstsein überhaupt erst erfahrbar werden, näher betrachtet. Scheler spricht hier vom »intentionalen Fühlen« und scheidet dieses sehr präzise von Gefühlszuständen. Für diese gilt: Alle spezifisch sinnlichen Gefühle sind zuständlicher Natur. Sie mögen dabei durch einfache Inhalte des Empfindens, durch solche des Vorstellens oder des Wahrnehmens mit Objekten irgendwie ›verknüpft‹ sein, oder mehr oder weniger objektlos da sein. Immer ist diese Verknüpfung, wo sie stattfindet, eine solche, die mittelbarer Natur ist. Immer sind es erst dem Gegebensein des Gefühls nachträgliche Akte des Beziehens, durch die die Gefühle mit dem Gegenstand verknüpft werden. […] Es ist ihm [dem Gefühl, GS] selbst keinerlei ›Meinen‹ und kein Gerichtetsein immanent. […] Wir Scheiden also 1. Das Fühlen von Gefühlen im Sinne von Zuständen und seine Modi, z. B. leiden, genießen. 104

Wesentlich handelt es sich also beim intentionalen Fühlen nicht um anzeichenhaft oder assoziativ vermittelte Zustände, sondern um ursprünglich auf etwas, nämlich die Werte, gerichtete Erfahrungen. Diese besondere Art der Verknüpfung ist ebenso intentional wie die von Gegenstand und Vorstellung, und die damit einhergehende prinzipielle Verständlichkeit folgt aus der unmittelbaren Gegenstandsverknüpfung, hier mit dem Gegenstand als Wert. Im Wertfühlen »er»Ordo Amoris«, in: Ders. (Hg.), Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, Zur Ethik und Erkenntnislehre: Tod und Fortleben; Über Scham und Schamgefühl; Vorbilder und Führer; Ordo Amoris; Phänomenologie und Erkenntnistheorie, Lehre von den drei Tatsachen, Berlin: Neue-Geist-Verlag, 244: »Das Herz besitzt ein strenges Analogon der Logik in seinem eigenen Bereiche, die es gleichwohl nicht von der Logik des Verstandes borgt.« 104 Scheler (1913), 263 f.

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Das Fühlen von Werten

schließt sich uns vielmehr die Welt der Gegenstände selbst, nur eben von ihrer Wertseite her.« 105 Der bei einer Gegenstandserkenntnis erforderliche »objektivierende Akt« (vorstellen, urteilen etc.) und seine damit vermittelnde Funktion liegt gewissermaßen bereits im intentionalen Fühlen, dieser Akt ist bereits ein Aspekt des Fühlens selbst. 106 Wie mehrfach erwähnt, bedingen sowohl die emotionalen Akte (Lieben, Hassen) als auch die emotionalen Fühlfunktionen nach Scheler 107 apriorische Strukturen. Dieser sittliche Kern des Menschen ist objektiv, individuell verschieden und invariant und damit schicksalhaft. Scheler fasst es so: Er [derjenige, der den ordo amoris eines Menschen hat, GS] besitzt in einem geistigen Schema den Urquell, der alles heimlich speist, was von diesem Menschen ausgeht, ja noch mehr, das Urbestimmende dessen, was dauernd Miene macht, sich um ihn herumzustellen – im Raume seine moralische Umwelt, in der Zeit sein Schicksal –, das heißt der Inbegriff des Möglichen zu werden, das ihm passieren und nur ihm passieren kann. 108

So verstanden finden wir bei Scheler eine sehr treffend elaborierte Umschreibung einer sittlichen Bedingungsstruktur möglicher Handlungen. Der sittliche Aktionsspielraum eines Menschen findet in Bezug auf Welt ein »Scharnier«, das seine sittliche Person nicht im deterministischen – »[d]iese Annahme erst verdiente Fatalismus zu heißen« 109 – Sinne bestimmt, jedoch im umfassenden Sinne ermöglicht. Die ordre du cœur führt uns, aber zwingt uns nie. 110 Ein weiterer wesentlicher Aspekt des ordo amoris ist die Selbstliebe in klarer Absetzung zur Eigenliebe. Letztere kennzeichnet einen Zustand der egoistischen Verblendung. Wir betrachten, einschließlich uns selbst, durch das »eigene« Auge. Der Mensch der Eigenliebe Scheler (1913), 266. Scheler (1913), 266. 107 Vgl. Scheler (1913), 267. 108 Scheler (1933), 228 f. Die Unterscheidung des Schicksals von rein zufälligen Ereignissen, die im Laufe eines Lebens auf einen zukommen, einem womöglich widerfahren, erfolgt bei Scheler dadurch, dass die je einzelnen Ereignisse wohl zufällig erscheinen mögen, in ihrer Gesamtschau aber einen bestimmten, der Person entsprechenden Charakter aufweisen, der wiederum auf die Beschaffenheit des ordo amoris verweist. Vgl. Scheler (1933), 30. 109 Scheler (1913), 233. 110 Vgl. Scheler (1913), 236. 105 106

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

ist Gefangener seiner Selbstbezogenheit, ohne es zu merken, seine Mauern sind seine persönlichen Gemütszustände, die alle Wahrnehmung bestimmen, ohne selbst in ihrer einschränkenden Funktion wahrgenommen zu werden. Unsere sittlichen Entwicklungspotentiale werden durch Eitelkeit, Ehrgeiz und Stolz gehemmt. 111 Die Selbstliebe hingegen beschreibt Scheler als die »Liebe zum eigenen Heil« 112. Wir sehen uns mit dem »geistigen« Auge. Dieses Auge sieht nicht mit dem Blick eines Gefangenen, sondern vermag die betreffende Person zu objektivieren, ja sie in einen universellen Kontext zu stellen. 113 Der Gegenstand dieser Liebe ist nicht der ganze Umfang unseres aktuellen Seins, sondern vielmehr der Teil an uns, der bereits eine Schnittmenge mit dem als gottgefällig betrachteten Sein darstellt. Scheler lässt offen, wie genau wir aus der Begrenzung unserer immer nur partiell erkannten moralischen Ordnung zum materialen Gehalt der maßstäblichen Idealnorm gelangen. Er schreibt dazu: Es gibt kein positives, begrenztes Bild von ihr [der Gegebenheitsart, GS], noch weniger ein formulierbares Gesetz. Nur in dem immer wiederholten Spüren, wo und wann wir von ihr abweichen, wann und wo wir im Sinne Goethes ›falschen Tendenzen‹ nachgehen, und gleichsam in den Umgrenzungslinien dieser zu einem Ganzen, zu einer Gestalt der Person nachträglich verbundenen Spürpunkte hebt sich das Bild unserer Bestimmung heraus. 114

Hier ergibt sich ein logischer Widerspruch. Zwar ist vorstellbar, wie ein sukzessiver Prozess der Erfassung von Wertinhalten aus sich heraus angetrieben und zielgerichtet umfassendere Wertqualitäten ins Bewusstsein rücken kann. 115 Schicksal und Umweltstruktur bleiben während dieses Prozesses gebunden und begrenzt, so nach Scheler auch die freie Wahl. Wie aber parallel zur zeitlich gegebenen Begrenztheit von Werteinsicht aus einer universellen Perspektive, wie Scheler es nennt: »wie durch Gottes Auge selbst« 116, auf einen göttlichen Idealbestand an Wertinhalten geblickt werden kann, erschließt sich nicht. Scheler räumt diesen Mangel an positiver Gegebenheit der Vgl. Scheler (1913), 235. Scheler (1913), 235. 113 Vgl. Scheler (1913), 235. 114 Scheler (1933), 235. 115 Als Movens eines solchen Prozesses könnte eine Art Diffusionswirkung von als ideal erlebten sittlichen Qualitäten gegenüber als nützlich, angenehm oder konventionell entlarvten Antriebsmotiven angenommen werden. 116 Scheler (1933), 235. 111 112

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Das Fühlen von Werten

»ewigen Weisheit« 117 ein und behauptet doch eine vom individuellen Erkenntnisstand unabhängige, leise Intervention jener Stimme. 118 Wer aber spricht zu uns, wenn nicht der durch eigenes Denken, aus Erfahrungen gespeiste, mittels Reflexion gewonnene Bestand an evidierten Sollenszuständen? 119 Für Scheler übernimmt die Liebe eine ursprüngliche Funktion, die der des Erkennens und Wollens vorangeht. Liebe findet in einem Strebemodus, die eigene Person transzendierend und einen Gegenstand gemäß seiner eigenen Wesensmöglichkeiten erbauend, statt. So entsteht Wertwachstum durch gesetzlich bestimmte Liebesakte. 120 Was nun eine richtige oder falsche Ordnung angeht, bedarf es einer Urnorm, die Scheler in Gott verortet. Dieses Eine aber, das an allem also teilnimmt, ohne dessen Wollen nicht Reales real sein kann und durch das hindurch alle Dinge aneinander irgendwie (geistig) Teil haben und miteinander solidarisch sind; das Eine, das sie schuf und zu dem sie miteinander emporstreben, in den ihnen angemessenen und zugewiesenen Grenzen: dieses Eine ist als das alliebende, darum auch Allerkennende und -wollende, Gott – das Personzentrum der Welt als eines Kosmos und Ganzen. Die Ziele und Wesensideen aller Dinge sind ewig in ihm vorgeliebt, vorgedacht. 121 […] Also liegt der Gegenstand einer Idee Gottes […] schon um dieses Wesenscharakters aller Liebe willen dem Gedanken eines ordo amoris zugrunde. […] Gott und nur Gott kann die Spitze des stufenScheler (1913), 236. Bei dieser Beschreibung einer inneren, nur negativ intervenierenden Stimme muss aufgrund der funktional sehr ähnlichen, an die von Sokrates als Daimonion bezeichnete sittliche Instanz erinnert werden. Vgl. Platon (19731), »Des Sokrates Apologie«, in: G. Eigler (Hg.), Platon, Werke in acht Bänden: griechisch und deutsch, Band 2, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt: WBG, 31 d; 40 a-40 c. sowie die Ausführung im Kapitel 6. 119 Zur Problematik der Ursprünglichkeit sittlicher Normen sei auch auf die Untersuchungen von Marc D. Hauser (2006), Moral Minds: How Nature Designed Our Sense of Right and Wrong, New York: Ecco hingewiesen. Hauser glaubt ein neurobiologisch bestimmbares Areal im menschlichen Gehirn entdeckt zu haben (»a moral organ«), das darauf spezialisiert sei, moralisch relevante Konflikte zu erkennen. Hauser vergleicht diese besondere »moral faculty« mit dem von Noam Chomsky vertretenen Präformismus für grammatikalische Strukturen. Es bleibt aber Fakt, dass auch diese neurowissenschaftlichen Tatsachen keinerlei Hinweis auf apriorische sittliche Inhalte liefern. Der Unterschied zwischen Struktur und Inhalt besteht analog der Modalformen zwischen Möglichkeit und Factum. 120 Vgl. Scheler (1933), 237. 121 Scheler (1933), 238. 117 118

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

förmigen und pyramidenförmigen Aufbaus des Reiches der Liebenswürdigkeiten sein – Quelle und Ziel des Ganzen zugleich. 122

Scheler verbindet bei seiner Konzeption einer für das Werterkennen eigengesetzlichen Liebesordnung das Attribut der Strebung der Liebe, wie wir es bei Platons 123 Gastmahl finden, mit der teleologischen Auffassung Aristoteles’, wonach allen Dingen ein entelechialer (auf ein Ziel gerichteter) Zustand eigen ist. Scheler nennt diesen Zustand die eigentümliche Idealität und Vollkommenheit. 124 Da die Liebe ursprünglich vor allem als Erkennen und Wollen zu sehen ist und der ordo amoris über Form und damit auch mittelbar über Inhalt und den Rang unter diesen Werten jener Liebesakte herrscht, bezeichnet Scheler dieses Gesetz der Liebe in seiner göttlichen und damit umfassenden Form auch folgerichtig als »Kern der Weltordnung« 125. Unser Streben ist dabei nicht hinsichtlich des Fühlens von Werten per se, sondern »in unserer Organisation und deren Bedingungen für das Stattfinden und die Auslösung des Liebesaktes« 126 begrenzt. Für den inhaltlichen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung erweisen sich die Aspekte der Selbstliebe, verursacht durch ein Streben als liebende Annäherung an ein ideales Selbst, als äußerst fruchtbar. Die mit ihm konzeptionell verwandten Begriffe des Gewissens, der Selbstachtung und der Würde werden deshalb an geeigneter Stelle zwar eigenständig erläutert, sich aber erkennbar auf die von Scheler vorgetragene Idealperspektive stützen. Fassen wir zusammen: Der ordo amoris stellt eine von Max Scheler ausführlich charakterisierte sittliche Tiefenstruktur des Menschen dar. Er ist apriorisch, objektiv und zugleich individuell durch sukzessive, immer partielle Erkenntnis zu erfassen. Die Ordnung des Herzens bestimmt den Raum unserer sittlichen Wahl (lieben, hassen, vorziehen, nachsetzen) und verfügt über eigene, von der Vernunft Scheler (1933), 242. Wir wollen bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass Scheler sich hinsichtlich des Wertbegriffes selbst klar von Platon abwendet. Scheler sieht insbesondere die dort behauptete Unmöglichkeit einer besonderen sittlichen Erfahrung durch die Verschiebung des Sittlichen in ein unanschauliches Gedankenreich als falsch an. Das Erkennen von Werten durch intentionale kognitive Akte wäre hier nicht gegeben, weil doch »selbständige Werttatsachen überhaupt und sittliche Werttatsachen insbesondere« geleugnet würden. Vgl. Scheler (1913), 168. 124 Vgl. Scheler (1933), 241. 125 Scheler (1933), 241. 126 Scheler (1933), 240. 122 123

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Die formale Begründung des Wertes bei Immanuel Kant

unabhängige Gründe. Diese Ordnung ist zugleich die Ordnung des Liebens und verhindert, dass im Herzen ein »Chaos blinder Gefühlszustände« 127 herrscht. Sie bestimmt unser Schicksal durch die durch sie bedingte Eingrenzung der freien Wahl und ist doch auch selbst auf eine ideale Form hin bestimmt. Der ordo amoris wohnt den Liebesakten und -potenzen als Gesetz inne, gehört zum Personenkern, und diese sittliche Bedingung für das »Fühlen der Werte« kann geordnet oder verwirrt sein, sie erfordert damit eine regulative Ausrichtung auf göttliche Bestimmungen. Die von Scheler vertretene Position des moralischen Realismus, in der ein apriorischer Wertekosmos als notwendige Bedingung der normativen Geltung von Werten vertreten wird, lässt sich auf eine – wie wir finden – sehr tragfähige Weise in eine durch die Natur unseres Denkens selbst begründete Existenzweise von Werten als Zwecke überleiten. Diese existieren, weil wir selbst als Wesen für deren Leben, das Faktum der Werte, das Faktum schlechthin ist, existieren. 128

3.3 Die formale Begründung des Wertes bei Immanuel Kant Die Überwindung des ethischen Empirismus und Skeptizismus und damit die Beseitigung von historisch kontingenten, kulturell geprägten und gruppenspezifischen Bestimmungen der Sittlichkeit, dürfen als zwei der Hauptanliegen des Königsberger Philosophen und für den kritischen Entwurf seiner Ethik gelten. 129 Kant ging es um nicht weniger als die einheitliche Grundlegung moralischen Wollens und daraus abgeleitet einen universellen Maßstab sittlichen Handelns. Wer etwas vernünftig rechtfertigen will – so Kant – muss darin etwas

Scheler (1933), 244. »So there is something left of the fact/value distinction, although it isn’t much. The fact of value isn’t value itself – it is merely a fact. But it is a fact of life. In fact, it is the fact of life. It is the natural condition of living things to be values, and that is why value exists.« Korsgaard, C. (2013), The source of Normativity, 19. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press, 161. 129 »Wer die Begriffe der Tugend aus Erfahrung schöpfen wollte, wer das, was nur allenfalls als Beispiel zur unvollkommenen Erläuterung dienen kann, als Muster zum Erkenntnisquell machen wollte (wie wirklich viele getan haben), der würde aus der Tugend ein nach Zeit und Umständen wandelbares, zu keiner Regel brauchbares zweideutiges Unding machen.« Kant, I. (1984), Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe Band 3, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, B 371 f. 127 128

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

a priori erkennen. 130 Den Ausdruck »Wert« verwendet Kant nahezu ausschließlich zur Beurteilung des sittlichen Grades von Handlungen im Sinne der moralischen Qualität derselben. 131 Im Gegensatz zu Werten als materiale Inhalte von Sollenszuständen, die im Zweifel auch zur Rechtfertigung von Handlungen, die ihrer Erreichung dienen, herangezogen werden können, entzieht Kant das moralisch Gute allen empirischen und letztlich gefühlsbasierten Gründen, um ihm einen reinen, für alle vernünftigen Wesen gleichermaßen gültigen und verbindlichen Bestimmungsgrund zu geben. 132 Diese Grundlegung muss demnach auch vor aller Erfahrung und unabhängig von allen nur subjektiven und zufälligen Vorstellungen von Nützlichkeit 130 Kant, KrV, B IX. Das gilt insbesondere für das, was wir gut nennen sollen. Dazu Kant: »Was wir gut nennen sollen, muß in jedes vernünftigen Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den Augen von jedermann ein Gegenstand des Abscheues; mithin bedarf es, außer dem Sinne, zu dieser Beurteilung noch Vernunft. So ist es mit der Wahrhaftigkeit im Gegensatz mit der Lüge, so mit der Gerechtigkeit im Gegensatz der Gewalttätigkeit etc. bewandt.« Kant, I. (19742), Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe Band 7, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, A 107. 131 Als exemplarisch mag gelten: »Aber ich behaupte, daß in solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Wert habe, sondern mit andern Neigungen zu gleichen Paaren gehe […].« Kant, I. (19741), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Band 7, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, BA 11. Und auch: »Denn es hat nichts einen Wert, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt.« Kant, GMS, BA 79 f. Eine Ausnahme finden wir bei der Verwendung des Ausdrucks »Wert« als Eigenschaft von Dingen im zweiten Abschnitt der GMS: »Weil man in der frühen Jugend nicht weiß, welche Zwecke uns im Leben aufstoßen durften, so suchen Eltern vornehmlich ihre Kinder recht vielerlei lernen zu lassen, und sorgen für die Geschicklichkeit im Gebrauch der Mittel zu allerlei beliebigen Zwecken, von deren keinem sie bestimmen können, ob er nicht etwa wirklich künftig eine Absicht ihres Zöglings werden könne, wovon es indessen doch möglich ist, daß er sie einmal haben möchte, und diese Sorgfalt ist so groß, daß sie darüber gemeiniglich verabsäumen, ihnen das Urteil über den Wert der Dinge, die sie sich etwa zu Zwecken machen möchten, zu bilden und zu berichtigen.« Kant, GMS, BA 41. Kant qualifiziert den Wert von Dingen zu jederzeit als bedingten Wert, da dieser vom Vorhandensein der zugrundeliegenden Neigung und dem daraus folgenden Bedürfnis abhängt. Vgl. Kant, GMS, BA 65 f. 132 Vgl. hierzu auch die Einordnung von möglichen Gütern, die keine Vernunftwesen sind: »Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).« Kant, GMS, BA 65 f.

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Die formale Begründung des Wertes bei Immanuel Kant

und anderen sinnlich gegebenen Gründen des Vorziehens sein. Kant fordert, »daß es von der äußersten Notwendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre« 133. Dieser einzige wirkliche Wert haftet an der Person, ist ihr apriorisch durch die Vernunft gegeben und gilt absolut. Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. 134

Diese berühmte Zitat aus der Grundlegungsschrift macht unmissverständlich klar, dass es zwar durchaus wünschenswerte Eigenschaften wie einen guten Charakter oder Glücksgaben wie Reichtum oder Gesundheit geben mag, diese aber niemals das absolut Gute in sich tragen können, wie dies allein ein aus der reinen Vernunft geschöpfter Wille vermag. 135 Diese Relativierung der Sittlichkeit in allen sinnlich vermittelbaren Inhalten bedeutet indes keinesfalls die Negierung jeglicher Werthaftigkeit in denselben. Der philosophische Zweck dieser Abtrennung aller Beliebigkeit und zufälligen Vorzugswürdigkeit liegt auf der Hand. Wie könnten wir es uns erlauben, von einem absoluten Gut zu sprechen, wenn wir zum einen nicht in der Lage wären, dessen situative Unabhängigkeit nachzuweisen und zum anderen den Maßstab und Ursprung desselben nicht dort lokalisieren könnten, wo weder das Reich der Dinge und Interessen jedes feste Fundament entzieht, noch ein transzendentes Reich jenseits unserer Erkenntnisfähigkeit jedes Behaupten 136 ad absurdum führt. Dieser Ort, rein und doch vermögend zu erkennen, ist notwendig und ausschließlich Kant, GMS, BA VIII, IX. Kant, GMS, BA 1. 135 Vgl. Kant, GMS, BA 1. 136 Kant grenzt den Raum der begründeten Erkenntnis klar von aller dogmatischen Willkür ab. »Einen Gegenstand erkennen, dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugnis der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori durch Vernunft) beweisen könne. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiere oder nicht. Um einem solchen Begriffe aber objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert.« Kant, KrV, B XXVII. Vgl. hierzu auch Tugendhat (1997), 35 f. und seine Überlegungen zum attributiv verwendeten Guten als intersubjektiv zuerkannte Vorzugswürdigkeit. 133 134

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unsere Vernunft. 137 Kant fährt nach der Rechtfertigung des absolut Guten in der Analytik fort und untersucht in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft den höchsten Gegenstand, der dem der Form nach apriorisch bestimmten Willen vorgestellt werden kann – das höchste Gut.

3.3.1 Das höchste Gut Wie die Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch das Unbedingte und Vollkommenste sucht, so verhält es sich auch mit derselben im praktischen Gebrauch. Hier – so Kant – geht es allerdings nicht mehr um die Bestimmung des Willens selbst, diese hat notwendig allein aus dem moralischen Gesetz zu erfolgen, sondern um dessen Gegenstand. 138 Gegeben, dass die Totalität des höchsten Gegenstandes des sittlichen Willens a priori gegeben sei, muss es durch eine transzendentale Deduktion möglich sein, dessen Begriff zu bestimmen. Kant schließt dabei ein analytisches Verhältnis von beidem aus, da in diesem Fall allein durch das Vorhandensein des einen das andere gegeben 137 Kant belegt die Erfordernis der apriorischen Erkenntnisgründe des Sittlichen wie folgt: »Obgleich aber Vernunft allein vermögend ist, die Verknüpfung der Mittel mit ihren Absichten einzusehen (so daß man auch den Willen durch das Vermögen der Zwecke definieren könnte, indem sie jederzeit Bestimmungsgründe des Begehrungsvermögens nach Prinzipien sind), so würden doch die praktischen Maximen, die aus dem obigen Begriffe des Guten bloß als Mittel folgten, nie etwas für sich selbst –, sondern immer nur irgend wozu – Gutes zum Gegenstande des Willens enthalten: das Gute würde jederzeit bloß das Nützliche sein, und das, wozu es nutzt, mußte allemal außerhalb dem Willen in der Empfindung liegen.« Kant, KpV, A 102 ff. Die von Kant getroffene Unterscheidung des Vernünftigen vom je zufällig Gewollten wird durch die Trennung des Guten vom Wohl, bzw. des Bösen vom Übel gleichfalls gut verdeutlicht. »Die deutsche Sprache hat das Glück, die Ausdrücke zu besitzen, welche diese Verschiedenheit nicht übersehen lassen. Für das, was die Lateiner mit einem einzigen Worte bonum benennen, hat sie zwei sehr verschiedene Begriffe, und auch eben so verschiedene Ausdrucke. Für bonum das Gute und das Wohl, für malum das Böse und das Übel (oder Weh): so daß es zwei ganz verschiedene Beurteilungen sind, ob wir bei einer Handlung das Gute und Böse derselben, oder unser Wohl und Weh (Übel) in Betrachtung ziehen. Hieraus folgt schon, daß obiger psychologischer Satz wenigstens noch sehr ungewiß sei, wenn er so übersetzt wird: wir begehren nichts, als in Rücksicht auf unser Wohl oder Weh; dagegen er, wenn man ihn so gibt: wir wollen, nach Anweisung der Vernunft, nichts, als nur so fern wir es für gut oder böse halten, ungezweifelt gewiß und zugleich ganz klar ausgedrückt wird.« Kant, KpV, A 104 f. 138 Vgl. Kant, KpV, A 192 ff. sowie A 197.

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sein müsste und es doch offensichtlich zu sein scheint, dass es zwei gänzlich verschiedene Elemente des höchsten Guts sind. Also bleibt nur eine synthetische Verbindung von sittlicher Maxime und Glückseligkeit, die »als Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung gedacht werden; weil sie ein praktisches Gut, d. i. was durch Handlung möglich ist, betrifft.« 139 Vom Kausalverhältnis der beiden Elemente des höchsten Guts ausgehend, ist jenes von der Willensbestimmung durch das Streben nach Glückseligkeit hinfällig, da dies einer heteronomen und damit hinreichend unmoralischen Willensbestimmung gleichkäme, die niemals Tugend zur Folge haben könnte. 140 Die zweite Kausalbestimmung ist gleichfalls auszuschließen, da sich alle praktischen Verknüpfungen der Ursachen und Wirkungen in der Welt stets nach Naturgesetzen verhalten und eine aus der reinen Vernunft gesetzte Ursache zu keiner Zeit zwingend zu Wirkungen in der Sinnenwelt führen kann. 141 Also: Ein tugendhafter und damit gesetzeskonform bestimmter Wille aus der Sphäre der intelligiblen Selbstbestimmung kann nicht hinreichend für die Bewirkung der Glückseligkeit in der Welt der Sinne und ihrer Naturgesetze sein. Kant löst diese Antinomie durch die Analogisierung dieses Problems der praktischen Vernunft mit dem der Freiheit der Person in einer Welt der kausalen Bestimmungen in der theoretischen Vernunft. Da ich aber nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein intellektuellen Bestimmungsgrund meiner Kausalität (in der Sinnenwelt) habe, so ist es nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst eines intelligiblen Urhebers der Natur) und zwar notwendigen Kant, KpV, A 204. An dieser Stelle wird der diametrale Unterschied der kantischen Pflichtethik zur aristotelischen Strebensethik besonders deutlich. Von den drei Vermögen, die bei Aristoteles das Handeln bestimmen, bleibt bei Kant nur das Denken. Die sinnliche Wahrnehmung und das Streben können per definitionem keine moralischen Bestimmungsgrößen sein, da diese ausweislich zu den heteronomen Einflussfaktoren der Willensbestimmung zählen. Aristoteles kann das Denken alleine nicht als Quelle des sittlichen Wollens genügen, da dessen Funktion die Trennung des Wahren vom Falschen ist, dieses Vermögen aber nicht hinreicht, um das richtige Begehren zu bestimmen. Eine ausschließliche Begründung des sittlichen Handelns aus dem Vermögen der Vernunft wäre für Aristoteles deshalb nicht möglich. Erst die Übereinstimmung von Urteil und Begehren ist der Mensch. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139 b. 141 Vgl. Kant, KpV, A 204 f. 139 140

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Zusammenhang, als Ursache, mit der Glückseligkeit, als Wirkung in der Sinnenwelt habe, welche Verbindung in einer Natur, die bloß Objekt der Sinne ist, niemals anders als zufällig stattfinden, und zum höchsten Gute nicht zulangen kann. Also ist, unerachtet dieses scheinbaren Widerstreits einer praktischen Vernunft mit sich selbst, das höchste Gut, der notwendige höchste Zweck eines moralisch bestimmten Willens, ein wahres Objekt derselben; denn es ist praktisch möglich, und die Maximen des letzteren, die sich darauf ihrer Materie nach beziehen, haben objektive Realität, welche anfänglich durch jene Antinomie in Verbindung der Sittlichkeit mit Glückseligkeit nach einem allgemeinen Gesetze getroffen wurde, aber aus bloßem Mißverstande, weil man das Verhältnis zwischen Erscheinungen für ein Verhältnis der Dinge an sich selbst zu diesen Erscheinungen hielte. 142

Das höchste Gut vernünftiger, endlicher Wesen ist also für Kant eine dem apriorisch bestimmten Willen in Synthese mit dem materialsinnlichen Begehrungsvermögen als dessen ultimativen Zweck gedachte Glückseligkeit. Diese nun gefundene begriffliche Einheit in einer Person, die sich doch stets »ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein)« 143 befindet, bezieht sich doch auf eine mögliche Welt. Denn für Kant ist es befremdlich, dass das höchste Gut, »dieses durch die Vernunft allen vernünftigen Wesen ausgesteckten Ziels aller ihrer moralischen Wünsche« 144 bereits in diesem Leben für möglich gehalten wird, handelt es sich doch um eine Synthese mit einer intelligiblen Welt. Das für Glückseligkeit gehaltene Gefühl 145, das sich einstellt, wenn uns die moralischen Bestimmungsgründe unseres Willens in der Handlung bewusstwerden, stellt für Kant eine Täuschung unserer Natur dar. Dieses Gefühl der Lust und des Wohlgefallens, das wir in Übereinstimmung unserer Handlungen mit der TuKant, KpV, A206 ff. Kant, KpV, A 200. 144 Kant, KpV, A 208. 145 Zur Beschreibung dieses Gefühls der Freude und Befriedigung, das sich aus einer reflektierenden Betrachtung der eigenen moralischen Gesinnung einstellt, schreibt Kant: »Die moralische Gesinnung ist mit einem Bewußtsein der Bestimmung des Willens unmittelbar durchs Gesetz notwendig verbunden. Nun ist das Bewußtsein einer Bestimmung des Begehrungsvermögens immer der Grund eines Wohlgefallens an der Handlung, die dadurch hervorgebracht wird; aber diese Lust, dieses Wohlgefallen an sich selbst, ist nicht der Bestimmungsgrund der Handlung, sondern die Bestimmung des Willens unmittelbar, bloß durch die Vernunft, ist der Grund des Gefühls der Lust, und jene bleibt eine reine praktische nicht ästhetische Bestimmung des Begehrungsvermögens.« Kant, KpV, A 209 ff. 142 143

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gend empfinden, ist in Wirklichkeit das Gefühl der Selbstzufriedenheit. 146 Glückseligkeit bleibt bei Kant also entgegen aller ethischen Versprechen Epikurs und der Stoiker eine Möglichkeit, die sich in Proportion zur persönlich realisierten Sittlichkeit als Glückswürdigkeit nur in einer jenseitigen Welt erhoffen lässt. 147 Das Verständnis vom »Wert« bei Kant in Hinblick auf den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung wäre nicht vollständig, wenn wir uns nicht auch der besonderen Stellung des Zwecks an sich, also der Stellung aller vernünftigen Wesen als Grund des praktischen Gesetzes, zuwenden würden. Diese Würde des Menschen stützt sich unter anderem und im Besonderen auf die Tatsache, dass der Mensch ein Wesen ist, »das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt.« 148

3.3.2 Die Würde vernünftiger Wesen Der Wert in der Moralphilosophie Kants liegt nicht im Bestimmungsgrund möglicher Handlungen, sondern in der Möglichkeitsbedingung aller Willensbestimmung selbst. Dieser Urgrund der apriorischen Sittlichkeit und damit der Möglichkeit, ein Gesetz jenseits aller Gefühle, Antriebe und Neigungen in sich selbst auffinden zu können, ist die Vernunft. Als vernünftige Wesen sind wir gleichsam die Quelle sittlicher Zwecksetzung. Diese mögliche Urheberschaft des einzig wahren Guten verleiht allen vernünftigen Wesen einen beson146 »Hat man aber nicht ein Wort, welches nicht einen Genuß, wie das der Glückseligkeit, bezeichnete, aber doch ein Wohlgefallen an seiner Existenz, ein Analogon der Glückseligkeit, welche das Bewußtsein der Tugend notwendig begleiten muß, anzeigete? Ja! dieses Wort ist Selbstzufriedenheit, welches in seiner eigentlichen Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an seiner Existenz andeutet, in welchem man nichts zu bedürfen sich bewußt ist.« Kant, KpV, A 212. Nachfolgend wird diese »innere Zustimmung« noch von einem »besonderen Gefühl« geschieden und als eine letztlich intellektuell basierte Zufriedenheit eingeordnet. 147 Glückseligkeit kann nicht erkannt oder eingesehen werden, sondern ist lediglich Gegenstand der Denkbarkeit. Entscheidend ist, dass nicht ein Streben nach Glückseligkeit die Sittlichkeit, sondern zu jeder Zeit die sittliche Handlungsbestimmung (Tugend) die Denkbarkeit der Glückseligkeit im Sinne einer Würdigkeit konstituiert. So wird das höchste Gut zu einer denknotwendigen Voraussetzung als Anzustrebendes für die praktische Vernunft, »weil es ein Gebot derselben ist, zu dessen Hervorbringung alles Mögliche beizutragen.« Kant, KpV, A 215. 148 Kant, GMS, BA 77.

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deren Wert. Die Besonderheit dieses inneren Wertes beschreibt Kant so: Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde. 149

Der eigentliche Kern der Würde bleibt die Sittlichkeit, der Menschheit kommt sie »nur« gemäß dieser zu, nämlich nur »so fern sie derselben fähig ist« 150. Der heilige Wert selbst erhält seine unvergleichliche Stellung zu allen sonst nur relativen Werten – wie könnte es anders sein – durch seine Reinheit, die Möglichkeit der ausschließlichen Willensbestimmung aus einem Gesetz, das der Vernunft und sonst nichts bedarf. An anderer Stelle verleiht Kant gar dem Gesetz selbst den unbedingten Wert. Dem Menschen – wie schon erwähnt – kommt Würde nur als mögliches Glied im Reich der Zwecke zu, das selbst in der Lage ist mittels des Gesetzes zur Ursache neuer und autonomer Zwecksetzung zu werden. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur. 151

Die besondere Form der moralischen Forderung, die sich aus der gesetzestreuen Willensbestimmung ableitet, nennt Kant Pflicht – eine Gebundenheit der Person an die eine souveräne, frei von allen natürlichen Zufälligkeiten und Neigungen herrschende Weise, das Wollen des Menschen vernünftig und damit sittlich zu begründen. Würde, 149 150 151

Kant, GMS, BA 78. Kant, GMS, BA 78. Kant, KpV, BA 79.

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im Sinne unvergleichbarer und unbedingter Werthaftigkeit, hat der Mensch also, weil er durch seine Vernunft mit der Macht der autonomen Bewertung und Bestimmung von Maximen der Welt mit all ihren Bestimmungen als Gesetzgeber gegenübersteht und er damit zugleich in der Lage ist, sich selbst exemplarisch als Vertreter aller vernünftigen Wesen zu setzen. Ungeachtet der Kritik an der rationalistischen Exklusivbegründung aller Sittlichkeit durch die Vernunft, gibt es wohl keinen Zweifel daran, dass Kant mit seiner reinen Sittenlehre eine normative Begründungskonzeption jenseits aller lebensweltlichen Beliebigkeit geschaffen hat. Während dem Nutzen des Utilitarismus und der eudaimonía tugendethischer Ansätze die letzte allgemeine und absolute Begründung ihres Maßstabes mangeln musste, findet der kategorische Imperativ seine Legitimation in dem unser erkennendes Denken bestimmenden Vermögen selbst, in unserer Vernunft. Damit gewinnen wir zugleich die bis heute wirkmächtigste Begründung des heiligen Wertes der Würde. Das Prädikat der Würde ist dem Menschen qua Menschsein anhaftend und kann deshalb zwar angetastet werden, aber niemals verloren gehen. 152 Wo der Verlust der Würde niemals auf dem Spiel steht, kann doch gemäß oder ungemäß derselben gewollt und gehandelt werden. Hierin liegt der sittliche Spielraum menschlichen Verhaltens. Wir können uns würdelos, im Sinne nicht der Würde gemäß, verhalten oder wir können unsere moralische Praxis an der durch Freiheit ermöglichten Erhabenheit der Würde ausrichten. Letztere vermag den Menschen in seiner fortwährenden Existenz zu erinnern, 152 Diese Position wird u. a. auch von Spaemann vertreten. Würde kann uns demnach nicht geraubt werden – wir können sie nur selbst verlieren. Wer die Würde eines anderen nicht respektiert, nimmt sie ihm nicht, sondern verletzt seine eigene. Im Gegensatz dazu vertritt Peter Bieri zuletzt auch in seinem neuesten Buch Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde die Ansicht, Würde sei nicht nur verletzlich, sondern darüber hinaus sowohl durch eigene als auch fremde Handlungen verlierbar. Die dadurch aufgeworfenen Probleme im Hinblick auf die begriffliche Abgrenzung von haben, verletzen, verlieren, wiedererlangen etc. komplizieren sowohl die ethische Handhabung und herausragende Bedeutung des Würdebegriffes als auch das Verständnis der Unantastbarkeit. Würde ist mit Susan Neiman gesprochen keine Tatsache, sie stellt eine Forderung an die Welt dar. Vgl. Neiman, S. (2013), Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten, aus dem Engl. v. C. Goldmann, Neuausg., Hamburg: Hamburger Ed, 178. Als solche kann sie nicht verloren gehen. Als Anspruch besteht die Würde vor jeder menschlichen Praxis und ist auch allen Folgen derselben enthoben. Sehr wohl aber dient die Form des Anspruchs als Maßstab. Wir können uns dieser Forderung gemäß oder ihr zuwider verhalten.

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zu ermahnen und zu leiten. Wir werden als Teil der Natur geboren – schreibt Susan Neiman 153 –, wir verlassen die Welt auch als solcher, doch am lebendigsten fühlen wir uns, wenn wir über sie hinausgehen. Freiheit und Autonomie ermöglichen uns ein würdevolles Leben, das natürliche Verhältnisse zu transzendieren vermag. In der Transzendenz des Gewöhnlichen wird uns die Erhabenheit zuteil und dieses Bewusstsein der Würde ertüchtigt uns, sittlichen Imperativen in Freiheit zu folgen. Würde steht somit in einem besonderen Verhältnis zu Transzendenz und Erhabenheit. Im Begriff der Person findet diese grundlegende Freiheit des Menschen zu einem besonderen Ausdruck. Als Personen haben wir einen Körper, wir haben Natur, sind aber mehr als diese. Als Träger von Würde bedürfen Handlungen bezüglich ihrer Folgen für Personen der Rechtfertigung. Ontologisch gewendet leitet sich die Würde des Menschen aus der nur Personen zukommenden Seinsweise des Sich-zu-sich-verhaltens ab. Der Mensch ist weder ein instinktgebundenes und damit jeder Verantwortung unfähiges, noch ein lediglich durch Triebe und Neigungen in willkürlicher Weise bestimmtes Wesen. Als Person verstehen wir Würde in zweifacher Hinsicht: wesentlich 154 als etwas, das uns kennzeichnet und teleologisch 155 als etwas, dem wir durch unsere Existenz gerecht zu werden haben. Letzteres kann dem Menschen nur unter der Bedingung der Selbstbestimmung gelingen und so ist es nicht verwunderlich, dass Pico della Mirandola (1463–1494) den Wesensadel des Menschen gerade darin begründet sieht. Würde als Merkmal und Gestaltungsauftrag finden wir auch bei dem neuzeitlichen Naturrechtslehrer Samuel Pufendorf. Zwar hat der Mensch von Geburt an seine Wesenswürde, doch verpflichtet sie ihn zugleich zur gegenseitigen Achtung und gerechten Behandlung des anderen. Er spricht von der Pflicht aller gegen alle und fordert: »Dass jeder jeden anderen Menschen als jemanden, der ihm von Natur aus gleich ist und in

Vgl. Neiman (2013), 128. Das Verdienst, die Merkmale, wie sie Platon, Aristoteles und die Stoiker herausgearbeitet haben, erstmals mit Würde (dignitas) in Verbindung gebracht zu haben, kommt Cicero zu. 155 Vgl. dazu Origines, der schreibt, dass »der Mensch zwar die Würde des Bildes bei der ersten Schöpfung empfing, die Vollendung der Ähnlichkeit ihm aber für das Ende aufgespart ist.« Origines (1958), Vier Bücher von den Prinzipien, III, 6, 1, übers. v. H. Görgemanns und H. Karpp, Darmstadt: WBG, 643. 153 154

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gleicher Weise Mensch ist, ansieht und behandelt.« 156 Würde wird hier in ihrer strukturellen Funktion und normativen Bedeutung als etwas deutlich, das sich in dem zeigt, was den Menschen in seinem Verhältnis zu allen seinen Mitmenschen von allen nichtmitmenschlichen Wesen unterscheidet. 157Aus dem verpflichtenden Charakter der Würde schließlich erwächst überhaupt erst die Möglichkeit des heute noch immer nicht überall selbstverständlichen, aber doch nicht mehr wegzudenkenden Rechtsrahmens der Menschenrechte. Die Würde selbst ist nicht etwa ein Menschenrecht, sondern das, worauf diese beruhen – so Spaemann. 158 Sehr instruktiv ist der durch Spaemann gemachte Unterschied zwischen Selbstzweck für sich und Selbstzweck »an sich«. Gäbe es nur Ersteres für den Menschen, könnte nach einem Mord an ihm kein Wertverlust erkannt werden. Denn der Wertcharakter wäre in diesem Fall ja ausschließlich abhängig vom betreffenden Subjekt. Existenz – so Spaemann sehr treffend – ist keine Eigenschaft, durch deren Verlust man ärmer wird. So erfasst der Begriff der Würde eben diese Eigentümlichkeit eines Wesens, »das gerade nicht nur ›Selbstzweck für sich‹, sondern ›Selbstzweck schlechthin‹ ist.« 159 Würde ist uns somit sowohl qua Menschsein gegeben, insofern sie aus der Seinsbestimmung des Menschen resultiert, als auch als Individuum aufgegeben. Gegeben als Träger unveräußerlicher Rechte – als Person sowie als ein politisches Subjekt, das im ständigen Diskurs befindlich herauszufinden verpflichtet ist, wie die Beziehung von Individualität und Universalität zu interpretieren ist. 160 In der fortgesetzten Untersuchung wird sich zeigen, dass diesem in seiner Grundlegung metaphysischen Konzept menschlicher Sozialität ein besonderer Stellenwert bei der Ermöglichung unbedingter Selbstverpflichtungen zukommt. Insbesondere im Zusammenhang mit der unbedingten Pflicht zur Aufrechterhaltung der eigenen 156 Pufendorf, S. v. (1994), Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. und übers. v. K. Luig, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 78. 157 Vgl. Schweidler, W. (2008), Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik, München: Alber, 388. 158 Spaemann, R. (1987), »Über den Begriff der Menschenwürde«, in: E. W. Böckenförde/R. Spaemann (Hgg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart: Klett-Cotta, 297–306, 297. 159 Spaemann (1987), 298 f. 160 Vgl. Schweidler (2008), 369.

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Würde als personale Integrität wird sich dieser Begriff einer absoluten Wertbesonderheit als systematisch notwendig und fruchtbar erweisen.

3.4 Der Wert als sittliche Kategorie wesensgemäßer Daseinsgestaltung Husserl, Scheler und auch Hartmann 161 haben mit ihrer phänomenologischen Ethik eine plausible Fundierung des Wertes als eigenständige Erkenntniskategorie neben der des Rationalen erreicht. Werte sind demnach echte Gegenstände 162 (Scheler), Gemütsakte des Wertnehmens 163 (Husserl) bzw. Gebilde eines Reichs mit eigenen Strukturen (Hartmann) 164, die über apriorische, transzendentale »Bedeutungseinheiten und Sätze« 165 als Gemütsakte des Geistes erfasst werden. Für den Fortgang der vorliegenden Untersuchung wird die subtile Unterscheidung und Bewertung ontologischer und dabei teilweise metaphysischer Annahmen (Hartmann) 166 nicht als vorrangig betrachtet, um die sittliche Wirkmächtigkeit von Werten sicher161 Nicolai Hartmann lehnte sich zunächst an die Phänomenologie Husserls an, übernahm aber nicht dessen umfassenden epistemologischen Erklärungsanspruch durch dieselbe. Die Phänomenologie – so Hartmann – versucht ein »Maximum an Gegebenheit« zu erreichen. Dies kann ihr jedoch nie gänzlich gelingen, da der Mensch selbst nur ein Teil der Wirklichkeitsordnung und damit per se begrenzt in der Erkenntnis ihres wahren Wesens sei. Hartmann, N. (1921), Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin: Vereinigung wiss. Verleger, 43. 162 Vgl. Scheler (1913), 14. 163 »Die ursprünglichste Wertkonstitution vollzieht sich im Gemüt als jene vortheoretische […] Hingabe des fühlenden Ichsubjekts, für die ich den Ausdruck Wertnehmung […] verwendet habe. Der Ausdruck bezeichnet also ein der Gefühlssphäre zugehöriges Analogon der Wahrnehmung […].« Husserl, E. (1952), Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Buch 2, Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana 4, Dordrecht: Kluwer, 9. 164 Vgl. Hartmann (1936), 29. 165 Scheler (1913), 43. 166 Der Vollständigkeit halber sei noch auf die als »Argument der Absonderlichkeit« bekannt gewordene Kritik von John Mackie hingewiesen: »Gäbe es objektive Werte, dann müsste es sich dabei um Wesenheiten, Qualitäten oder Beziehungen von sehr seltsamer Art handeln, die von allen anderen Dingen in der Welt verschieden wären. Und entsprechend müsste gelten: Wenn wir uns ihrer vergewissern könnten, müssten wir ein besonderes moralisches Erkenntnis- und Einsichtsvermögen besitzen, das sich von allen anderen uns geläufigen Erkenntnisweisen unterschiede«. Vgl. Mackie, J. (1981), Ethik: auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, Stuttgart: Reclam, 39.

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zustellen oder hinreichend zu erklären. Eine wie auch immer begründete ontologische »Aufladung« der Seinsweise des Wertbegriffes über die mentale Dimension hinaus mag zwar resultierend aus dem Verlangen, Werte aus dem Reich subjektiver Beliebigkeit heraus und in eines der »Heiligkeit« bzw. universellen und apriorisch konstituierten Unabhängigkeit hinein zu heben, verständlich erscheinen. Für die Fundierung der unbedingten Forderung erscheint uns diese jedoch nachrangig. 167 Auch die Legitimierung der Geltung bedarf dieser – übrigens gleichfalls ex intellectus entstandenen – ontologischen »Aufwertung« nicht. Eine Schwierigkeit, die andernfalls gegeben wäre, bedarf so keiner Behandlung: Wie ist es zu erklären, dass das historische Verständnis von Werten wie Gleichheit, Freiheit oder Solidarität einem beträchtlichen Wandel unterliegt und voraussichtlich unterliegen wird? Ein Wandel übrigens, der nicht plausibel durch die abnehmende Partialität der betreffenden Werteinsicht (Hartmann) erklärt werden kann. Zwar würde eine sukzessive Ausdehnung von Geltungsbereichen, wie z. B. des Gleichheitsanspruchs, über die männlichen Mitglieder einer politischen Gemeinschaft auf die weiblichen derselben und also dann final auf alle Individuen unserer Gattung hierfür sprechen. Die in Teilen konträr definierten Auslegungen von Freiheitsidealen vs. Ehre und Solidarität individualistisch bzw. kollektivistisch geprägter Gesellschaften hingegen lassen sich mit einem sukzessiven Evidenzprozess in objektiv gegebene Wertentitäten weniger vereinbaren als mit ideologisch motivierten Gedankenwelten zur Durchsetzung politischer Zielvorstellungen oder eben durch tradierte Kulturprägungen, die entsprechende Wertordnungen (relativ) und Wertinhalte (semantisch) zu objektiven moralischen Sollenszuständen erklären. Eine andere Deutung des Wertbegriffes erscheint deshalb plausibel und kohärent: Werte sind übergeordnete normative Konstrukte des menschlichen Geistes, die dem jeweiligen Individuum als Möglichkeitsbedingungen einer für die betreffende 167 Zum sogenannten Wertproblem sei auch auf die vielfach diskutierten metaethischen Konzepte des Expressivismus und Externalismus hingewiesen. Im Kern geht es um die Frage, welche semantische Rechtfertigung zu ethischen Aussagen welchen Wahrheitswert aus den jeweils zu benennenden Gründen aufweist. Also z. B. ob durch eine naturalistische Reduktion sämtliche ethische Aussagen durch Prädikate wie nützlich, hilfreich etc. ersetzbar sind. Oder ob es sich bei Aussagen wie »X ist gut« lediglich um ein expressives Statement im Sinne von »bravo« handelt. Eine sehr gute Übersicht hierzu bietet Manfred Harth (2008) in seinem Buch Werte und Wahrheit, Paderborn: Mentis.

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menschliche Gemeinschaft wesensgemäßen Existenzweise erscheinen 168. Konstrukte, weil Wertbegriffe nie einfach, sondern immer komplex und individuell sind, weil die Einsicht in einen Wert grundsätzlich erfahrungsaffiziert ist. 169 Die Annahme, dass es der menschliche Lebenskontext und die daraus entstehenden Lebensformen sind, die dem Hervorbringen von Werten zugrunde liegen und aus denen diese Werte sich als eine nicht noch einmal vernünftig zu begründende Bejahung des Vernünftigseins herausstellen, ist nicht irrational, sondern steht für die konstitutive Rückbindung normativer Begriffe an die Natur des Menschen. 170 Am Beispiel der Gerechtigkeit sei dies kurz erläutert. Menschen erfahren durch die Verschiedenheit existentieller Ausgangsbedingungen und aus den Unterschieden, die aus Verteilungsvorgängen resultieren, oftmals großes Leid. Leid, das aus dem Streben nach der natürlichen Bevorzugung der eigenen Ressourcensicherung 171 resultiert. 168 Hinter dem Ausdruck »erscheinen« verbirgt sich ein Vertrauensprinzip. Waren es nach metaphysischer Weltanschauung Autoritäten, die dieses Vertrauen begründeten, sind es unter modernen Bedingungen der Glaube an die epistemische Zulänglichkeit der Vernunft. 169 Die Geltung von Werten kann durch einen wie auch immer gearteten Angleichungs- und Erweiterungsprozess vom Individuum auf eine Gruppe und theoretisch auf alle Menschen ausgedehnt werden. Rationale Diskurse, erfahrungsgestützte Empathieentfaltung oder Sensibilisierungsprozesse durch Bildung seinen nur beispielhaft angeführt. Praktische Grenzen für derartige Assimilierungsvorgänge entstehen meist durch die funktionalen Konflikte von Wertvorstellungen hinsichtlich ihres eigentlichen Zwecks, der Verwirklichung der jeweils für wesensgemäß gehaltenen Existenzbedingungen. Es ist nicht die Freiheit, die per se in Frage gestellt wird, sondern der Inhalt der durch diese zu ermöglichende Lebensform. Hier sei auch auf die bei Husserl und Scheler herausgestellte Bedeutung der dinglichen oder situativen also erfahrungsgestützten Bindung von Werten (Güter, Wertdinge) hingewiesen. Zwar spricht Scheler von einer kausal unabhängigen Werterfahrung, trotzdem bedarf es der Erfahrungsinhalte (Dinge, Sachverhalte), um Werte wie durch ein »Medium« zu erfahren. Vgl. Scheler (1913), 12 f. Bei Husserl wird dies besonders deutlich: Werte erschließen sich demnach als Werthaftes an Gegenständen oder Situationen und als zu diesen gehörig und wird an diesen erfühlt. »Wir sprechen von Werten, sofern Gegenstände sind, die Werte haben.« Husserl (1988), 255. Für Husserl sind sozusagen die axiologischen Prädikate in den logischen fundiert, weil ohne diese jene nicht zu erschließen sind. 170 Vgl. dazu Schweidler (2008), 389. Ergänzt sei, dass Schweidler diesen Rückbindungs- oder Uneinholbarkeitsaspekt nicht explizit auf Werte, sondern auf den Begriff des Respekts bezieht. 171 Unter Ressourcen werden hier neben materialen unmittelbaren Lebensbedingungen auch soziale Entfaltungsbedingungen wie Anerkennung und Sicherheit subsummiert.

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Der Wert als sittliche Kategorie wesensgemäßer Daseinsgestaltung

Dieses Leid wird, angetrieben durch entsprechende Vermeidungskräfte, mittels akzeptabler, also nachvollziehbarer und begründbarer Sollenszustände versucht zu reduzieren. Der angestrebte Erfolg ist von existentieller Bedeutung. Eine wesensgemäße Entfaltung wird durch die Reduzierung von Konflikten, die Erhöhung der Sicherheit und die Verbesserung von Kooperationsbedingungen grundlegend getragen. 172 Dies zu internalisieren bedeutet nicht weniger als die Schöpfung einer sittlichen Kategorie, die zwar subjektiv angeeignet wird, dadurch jedoch keineswegs ihre objektiven Geltungsansprüche einbüßt. 173 Der Wert wird somit zu einer Willensqualität, zum materialen Gehalt unserer Intentionen, also dessen, worum es uns als Person geht, worauf wir abzielen. 174 Werte haben somit eine konstitutive Funktion für moralische Gründe. 175 Werte erweisen sich sonach als 172 Zum Ursprung der Werte aus dem Interesse vgl. auch Fries, J. F. (1807), Neue Kritik der Vernunft, Bd. 3, Heidelberg: Mohr und Zimmer, § 184. »Dem Ganzen liegt zu Grunde, das Herz oder der Trieb des Menschen als ein Vermögen sich zu interessieren, oder den Dingen einen Werth zu geben, und nach der Regel dieses Werthes beurtheilt die Dinge ein Gefühl der Lust und Unlust.« Im Fortgang, § 188, werden drei Regeln der »Wertgesetzgebung« unterschieden: Das Ideal der Glückseligkeit bringt Werte des Genusses und Vergnügens, das der Vollkommenheit Werte des menschlichen Handelns und schließlich das Ideal der Sittlichkeit, das der Vernunft den absoluten Wert beimisst. Dem »Grundtrieb« des menschlichen Wesens »ist ursprüngliche Eigenschaft der Selbsttätigkeit meines Lebens selbst.« (§ 186) Der reine Trieb der Persönlichkeit gibt dabei der Vernunft ihren Wert schlechthin. Dieser fällt mit der Form der Erregbarkeit der erkennenden Vernunft zusammen und bringt so eine ursprüngliche materiale Bestimmung meiner formalen Apperzeption hervor. Vgl. ebd. Außerdem Bischof, N. (2012), Moral. Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten, 1. Aufl., Wien, Köln: Böhlau, 342. Er weist darauf hin, dass sich der Werthöhensinn einer Gruppe nicht verstehen lässt, »wenn man der menschlichen Natur dabei eine tragende Rolle verweigert.« Außerdem bei Korsgaard zu lesen: »So there is something left of the fact/value distinction, although it isn’t much. The fact of value isn’t value itself – it is merely a fact. But it is a fact of life. In fact, it is the fact of life. It is the natural condition of living things to be valuers, and that is why value exists.« Korsgaard (2013), 161. 173 Dass Werte dem Menschen zweckhaft sind, muss nicht automatisch bedeuten, dass sie aus dieser Zweckhaftigkeit hervorgingen. Es steht jedoch außer Frage, dass es die besondere Beschaffenheit lebensweltlicher Organisation im Allgemeinen und die soziokulturellen Verhältnisse im speziellen sind, die deren besondere Gestalt und ihre Priorität beeinflussen. Scheler spricht diesen Aspekt der bedingten Bewusstwerdung von Werten im Zusammenhang mit der »Symbolfunktion« von fühlbaren Werten für die wechselnde Befriedigungsart seiner Bedürfnisse und Interessen an. Vgl. Korsgaard (2013), 276. 174 Vgl. Lauth (1969). 175 Weitergedacht und mit der im Kapitel 5.2 formulierten Auffassung von Freiheit

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allgemeine, von der moralischen Gemeinschaft geteilte sittliche Zielzustände und damit als partikuläre Konzepte des guten (Zusammen-) Lebens. Außerdem sei noch auf das Adjektiv übergeordnet kurz eingegangen: Die so hervorgebrachten Sollenszustände sind ihrem Wesen nach stabil und persistieren über lange Zeit. Werte sind deshalb keine nützlichen 176 Regeln oder Zielzustände, die sich aus der gegenwärtigen Alltagsbewältigung und den Erfahrungen der Menschen allein ableiten ließen. Zur Einordnung sei an dieser Stelle auch auf die klassische Formalismus-Kritik von Scheler gegenüber Kant verwiesen. Scheler und Kant waren sich darin einig, dass ausschließlich empirisch grundgelegte Moralkonzepte »unsinnig« 177 seien. Während jedoch Kant nur der Vernunft – mit ihrer rationalistischen Wesensbestimmung – durch ihre erkenntniskonstitutiven Formen und Kategorien Apriorizität zusprach, erweitert Scheler dies auf den Bereich des Emotionalen. 178 Da es bedeuten würde, das Haupanliegen der vorliegenden Untersuchung zu sehr zu verlassen, wenn wir hier auf die Frontstellung von Scheler zu Kant in dieser speziellen Frage näher eingingen, wird diese nicht weiter vertieft. 179 Es sei aber darauf hingewiesen, dass der Wert-Begriff, wie er in dieser Untersuchung Anwendung findet, keineswegs auf die Behauptung der Erfahrungsunabhängigkeit angewiesen ist. Weder der Nachweis einer apriorials freimütige Bindung an selbst erkannte Gründe, führt uns dies zu einem Zitat von Viktor Frankl: »Verantwortlich ist der Mensch nun für die Erfüllung und Verwirklichung von Sinn und Werten, und hierin erblicken wir das objektive Korrelat aller Entscheidung und Freiheit: in einer objektiv geistigen Welt des Sinns und der Werte – im Logos.« Frankl, V. (2012), Der Wille zum Sinn, Bern: Hogrefe (vorm. Huber), 159 f. 176 Um nicht in die Nähe einer kruden utilitaristischen Auffassung von Werten zu geraten, sei mit Tugendhat darauf hingewiesen, dass sich die durch Werte geprägten sittlichen Zielzustände nicht auf eine intrinsische Motivation des einzelnen, sondern auf das gute (gesunde) Gemeinwesen insgesamt beziehen. Vgl. Tugendhat (1997), 132. Dieser transpersonale Aspekt von Werten erklärt übrigens auch nebenbei die Differenz zu Präferenzen. 177 Scheler (1913), 4. 178 Scheler sagt hierzu: »Es ist nämlich unser ganzes geistiges Leben […], das ›reine‹ – von der Tatsache der menschlichen Organisation ihrem Wesen und Gehalt nach unabhängige – Akte und Aktgesetze hat.« (2013), 59. Zum speziellen Aspekt des »reinen« Anschauens, Fühlens und Wollens vgl. a. a. O. 260 f. Hier wird die von Scheler an Kant kritisierte Begriffsbestimmung des Apriorischen überhaupt nicht weiter erläutert. Vgl. dazu a. a. O. 61 ff. 179 Die Verfolgung der Frage nach apriorischen geistigen Strukturen im menschlichen Geist erfolgt durchaus auch mit Bezugnahme auf und Absetzung von Kant.

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schen Materialität der Ethik, resp. von Werten, noch die Klärung des bis heute in einer unübersichtlichen Diskussion befindlichen ontologischen Status von Werten, sondern der faktisch den Menschen sittlich bindende Charakter, ihre basale Funktion, erscheint uns hier von besonderer Wichtigkeit. Zurück zur Frage der Ursprünglichkeit von Werten. Werte sind als würdig erkannte Sollenszustände zur Ermöglichung einer wesensgemäßen Existenz und ihrer Form nach Beziehungen. 180 In dieser Definition findet sich eine für die Wertekonstitution entscheidende Norm: Die Wesensgemäßheit des Menschen. Wie schon kurz erwähnt, mangelt es dieser Kategorie gänzlich an Absolutheitscharakter, wie wir ihn für den vorliegenden Gegenstand auch nicht für notwendig erachten. 181 Die augenscheinliche Nähe zur Kategorie der Naturgemäßheit der Stoa hingegen verweist auf eine systematische Ähnlichkeit. Der Mensch als selbstbewusstes Individuum reflektiert reale Bedingungen der Natur, erkennt sich als Teil dieser Realorganisation und setzt wertende Zielzustände, die er als Bedingungen eines mit der Natur harmonisierten Menschseins in seiner ganz bestimmten existentiellen Konfrontation erkannt hat. Führen wir hier einen weiteren, durchaus klassischen Terminus ein, den der inclinationes naturales. Im Einklang mit der Stoa beschreibt Thomas von Aquin den Gedanken, dass wertvoll ist, was naturwüchsig erstrebt wird. 182 Diese dem Menschen natürlich eingeprägte und damit bei Thomas auch teleologische Hinneigung zu einer wesensgemäßen Handlungsweise deutet auf die hier als legitimen Ursprung der Wertkonstitution 180 Vgl. dazu auch Korsgaard (2013), 138: »To talk about values and meanings is not to talk about entities, either mental or Platonic, but to talk in a shorthand way about relations we have with ourselves and one another.« 181 In diesem Zusammenhang sei auch auf die in den 1970er Jahren intensiv beforschten kulturrelativen Wertordnungen und deren universelle Strukturen von Rokeach und Schwartz hingewiesen, vgl. z. B. Rokeach, M. (1973), The Nature of Human Values, New York: Free Press sowie Schwartz, S. H./Bilsky, W. (1990), »Toward a theory of the universal content and structure of values: Extensions and cross-cultural replications«, in: Journal of Personality and Social Psychology 58 (5), 878–891. 182 Vgl. Thomas von Aquin (1954), Summe der Theologie, 3 Bände, hg. und übers. v. J. Bernhart, Stuttgart: Kröner, I-II, qu. 94, a. 2, resp. »Jede Tätigkeit der Vernunft oder des Willens leitet sich in uns von dem her, was der Natur entspricht […]: denn alles schlußfolgernde Denken leitet sich von natürlicherweise bekannten Prinzipien her, und alles Streben nach dem, was zum Ziel führt bzw. gehört, leitet sich her von einem natürlichen Verlangen nach dem äußersten Ziel. Und so ist es denn auch in Ordnung, wenn die grundlegende Ausrichtung unserer Handlungen auf das Ziel durch das natürliche Gesetz erfolgt.« A. a. O., qu. 91, a. 2, ad 2.

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vernunftbegabter Personen behauptete Wesensgemäßheit. Die Sorge um die eigene Selbsterhaltung, d. h. die inclinatio zur Erhaltung des eigenen naturgemäßen Daseins. 183 Die in den Werten materialisierte Güte wird also aus den natürlichen Daseins- und Entfaltungsbedingungen vernünftiger Individuen »geschöpft«. Der Prozess des »Schöpfens« oder »Gewinnens« bedeutet jedoch keineswegs, dass die daraus hervorgehenden besonderen Bewusstseinsinhalte bloße Aggregate natürlicher Wünschbarkeiten sind, sondern vielmehr, dass Kraft des menschlichen Geistes aus der existentiellen Konfrontation mit der Welt sittliche Zielinhalte konstituiert werden, die zwar mit jener in einem funktionalen Zusammenhang stehen, diese aber sowohl hinsichtlich ihrer Seinsweise als auch bezüglich ihrer Bedeutung für die Selbstbestimmung des Menschen grundsätzlich übersteigen. Der Imperativ der Klugheit hat rationale Autorität. Unser eigenes Wohlergehen muss mit Naturnotwendigkeit unser eigenes Ziel sein. Die Vernunft schreibt uns diese Notwendigkeit nicht vor, denn es ist kein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft. Dieses Wohlergehen anzustreben impliziert jedoch noch keinen Wert an sich. Bliebe es dabei, wären die so gefundenen Werte Ergebnis bloßer Neigung und hätten ihren Status als partielle Konstrukte des Guten eingebüßt. Deshalb muss unter »wesensgemäß« auch die verbindliche Erkenntnisleistung der Vernunft subsummiert werden. Mit der praktischen Vernunft erst haben wir Zugang zu einer Erkenntniskraft, die uns das Gute im Wohlergehen zu ermitteln ermöglicht. Vernünftig muss aber bedeuten, die Naturnotwendigkeit des Wohlergehens anzuerkennen und im Lichte ihrer Faktizität das Gute in ihr zu bestimmen. Nur dann verhalten wir uns im oben genannten Sinne wesensgemäß. Werte integrieren also sowohl die Anerkennung prudentieller Normen (Glück, Wohlergehen) als auch die durch rationale Bearbeitung dieser Interessen zu erkennenden moralischen Pflichten. Diese wiederum werden über die personale Instanz des Selbst und der durch diese ermöglichten Selbstbestimmung zu motivational übersetzbaren Bedingungen einer gelingenden Existenz. Es ist gerade die Besonderheit der Selbstbestimmung, die ohne eine wertende Konzeption von uns selbst ad absurdum geführt würde. Aus der spezifisch menschlichen Weise, das eine zu tun und das andere zu lassen, nämlich nicht bloß instinkthafter Bindung schuldend, sondern aus reflektierter Prüfung folgend, resultiert zwingend 183

Vgl. Forschner (1998), 26.

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etwas, das wir moralische Identität nennen können. Der Mensch, will er sich nicht verloren gehen, bedarf qua Menschsein dieser normativen Bezugnahme. Der Grund, weshalb wir uns aus Werten bestimmen, entspringt nicht den Wertvorstellungen selbst, sondern unserer Menschlichkeit. Geht dieser Zusammenhang verloren, öffnen wir die Türen für verblendende Ideologien, die unter Missachtung des prinzipiellen Freiheits- und Selbstbestimmungsanspruchs die Unverfügbarkeit des Individuums durch die Unverfügbarkeit irrationaler Autoritäten ersetzen. Dies kann – wie wir wissen – menschenverachtende Züge annehmen und den Sinn von Werten, eine sittliche Leitgröße für ein freiheitliches Zusammenleben von Menschen zu sein, pervertieren. Die Legitimität von Werten muss sich auf die durch sie zu realisierenden Bedingungen einer humanen Koexistenz stützen. Werte – und das gilt auch für die durch sie konstituierten Normen – dienen somit einer Lebensform, die die scheinbare Unvereinbarkeit von individuellem Glücksstreben und gesellschaftlicher Koexistenz aufzuheben im Stande ist. Ungeachtet der grundsätzlichen politischen Missbrauchsgefährdung, denen Werte ausgesetzt sind, bleibt es wahr: Wir Menschen können nicht anders, als uns im Spiegel unserer Wertansprüche an uns zu betrachten. Selbstwert und Selbstachtung sind Funktionen dieser humanen Besonderheit. Ein zentraler Aspekt dieses Transzendierens unseres Daseins ist somit der Modus der Geltung. Nichts in der Welt des So-Seins vermag uns allein dadurch ein Soll-Sein zu vermitteln. Dies wird auch dadurch deutlich, dass das eine die Sache der sinnlichen Wahrnehmung, das andere aber die der denkenden Bewertung aus Bezügen und Hinsichten ist. Geltung ist wesentlich ein Ausdruck, der für einen normativen Anspruch aus Werten gerichtet an Personen steht. Im Begriff der Geltung findet sich also auch der Aspekt der Aufforderung. Wenn für mich etwas Geltung hat, schließt dies ein, dass ich mich in den für diese Geltung relevanten Lebenslagen von dem betreffenden Wert aus seiner Geltung in Anspruch nehmen lassen muss. Subjektiv erlebe ich dies als einen innerlichen Aufruf, als Gewahrwerden eines Sollens. 184 Geltung ist der ontologische Modus von Werten. Was aber bedeutet Geltung? Zunächst erschließt sich daraus ein dreistelliges Beziehungsgefüge: Person – Wert – Realität. Es gilt stets ein bestimmter 184 Vgl. hierzu auch die Übersetzung der normativen Forderung in emotionale Sanktionierungen im Kapitel 4.2.2.

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Wertinhalt für eine bestimmte Person in Bezug auf eine bestimmte reale Situation. Nun könnte eingewendet werden, dass Werte durchaus universell und damit unabhängig vom einzelnen Individuum gelten können. Was wiederum bedeuten würde, dass die Dreistelligkeit möglicherweise hinfällig würde. Dem ist zu entgegnen, dass Werte – wie schon oben beschrieben – zwar universelle Geltung aufweisen können, diese aber immer nur im Bewusstsein eines vernünftigen Wesens in Erscheinung treten können. Im Falle der angenommenen Universalität würde die Person zwar ihre individuelle Wertsetzungsverantwortung verlieren, wäre aber als Adressat weiterhin notwendig, sodass sich an der behaupteten Struktur der Geltung nichts ändern würde. Außerdem muss der Geltungsbegriff inhaltlich bestimmt werden. Geltung ist der Form nach ein Urteil. So wie Nützlichkeit oder Schönheit. Ein Urteil, das aus der Beurteilung der sittlichen Relevanz in Bezug auf reale Situationen folgt. Sittliche Geltung und Wahrheit sind inkommensurable Kategorien, da es keine richtige und falsche Geltung im engeren Sinne geben kann. Während die Anerkennung von Tatsachenaussagen eine faktische Geltung konstituiert, kann dies für die sittliche Geltung nicht vollständig analogisiert werden. Geltung resultiert vielmehr aus der sittlich zutreffenden Begründung des wertimmanenten Sollens. Weil etwas aus guten Gründen sein soll, hat der dem Sollen zugrundeliegende Wert Geltung. Wenn aber kein Sachverhalt (propositionaler Gehalt) als Maßstab dienen kann, sondern ein begründetes Sollen, so stellt sich doch die Frage, worum es sich zum einen dabei handeln kann und zum anderen, wie dieses nach Kriterien fassbar gemacht werden könnte. Der seit der Einführung durch Hermann Lotze außerordentlich divers diskutierte Begriff der Geltung wird hier ausschließlich in seiner normativen Intension aufgefasst. Geltung findet sich nicht in der Sphäre der Sachverhalte, sie ist vielmehr in einer Beziehung. Der Bezogene wird sich der in der Geltung behaupteten Wertgehalte bewusst. Die Geltung ist nur in dem an ein vernünftiges Wesen gerichteten Anspruch und doch entzieht sie sich der subjektiven Geltungseinschränkung. Sie konstituiert sich sprachlich, mit Habermas: »nur durch eine Spannung zwischen Faktizität und Geltung« 185. Der Form nach ist sie eine Aussage, deren Gehalt eine normative Behauptung ist. Wird diese Behauptung von dem sie realisierenden Subjekt beHabermas, J. (1998), Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 53.

185

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Von der Wertentscheidung zum Wirkwillen

stätigt, entsteht Verbindlichkeit in Form der Gültigkeit. Mit diesem Prozess berühren wir freilich eines der Grundprobleme präskriptiver Ethiken überhaupt: der Legitimität von Geltungsansprüchen. Warum soll etwas, das nicht ist, auf eine bestimmte Weise sein. Also nicht, ob etwas so ist, wie jemand darüber aussagt, dass es ist (propositionaler Gehalt), ist Gegenstand sittlicher Geltungsfragen, sondern welche Kriterien bzw. andere, nicht rein rationale Gründe die Legitimitätsfrage präskriptiver Aussagen entscheiden. 186 Um der Antwort auf diese Frage näherzukommen, wird im Folgenden eine evidenzbasierte Wertsetzungstheorie referiert, die durchweg plausible Entstehungsund Wirkungszusammenhänge im Hinblick auf die Unbedingtheit sittlicher Ansprüche an die Willensbildung und die damit verbundenen Handlungsfolgen darlegt.

3.5 Von der Wertentscheidung zum Wirkwillen Zunächst gilt es, die Entstehung von Werten in unserem Bewusstsein zu klären. Werte können nicht rezipierend empfangen werden. Werte sind vielmehr das Resultat von Setzungen, sie werden durch doxische Akte gesetzt. 187 Reinhard Lauth nennt diese spezifische Weise der Evidenz, in der sowohl aktive als auch passive Elemente auftreten, Sazienz 188. Ein gleichzeitiges Ergreifen und Ergriffenwerden. Der 186 Im Rahmen seiner Beiträge zur Diskurstheorie hat Jürgen Habermas die Geltung moralischer Normen wie folgt definiert: »Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.« Habermas (1998), 138. Habermas folgt darin seinem Diktum, dass keine Theorie mit Rechtfertigungsabsicht dem normativen Sinn des Verständnisses von Demokratie widersprechen darf. Vgl. a. a. O., 358. Diese Bezugnahme dient lediglich der thematischen Abgrenzung. Begründungstheorien wie diese haben ihre Relevanz vor allem in der politischen Theorie und erweisen sich im Kontext einer höchst subjektiv erlebten sittlichen Aufforderung als wenig nützlich und erhellend. 187 Der doxische Akt besteht darin, dass der wertimmanente Wille den übrigen Geist (den Willen als formale Freiheit) affiziert. Der Geist affiziert sich so in der Wertsetzung selbst. Lauth spricht auch vom Treffen zweier Strahlen innerhalb des Gesamtwillens. Dadurch findet eine dynamische Hemmung (Einschränkung) der freien Willkür statt. Diese Einschränkung wiederum bewirkt eine Affektion, die wir in der Lage sind zu fühlen. Der Zustand des Geistes im Akt der Wertsetzung besteht somit zum einen aus den beiden Akten (Wertsetzung und Erhellung des Affiziertwerdens durch das Gefühl), zum anderen aus den beiden Anschauungen (des reinen Aktes und des Gefühls). Vgl. Lauth (1969), 31. 188 Von sacire, ergreifen. Die Einführung des neuen Terminus begründet Lauth mit

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Der Wert als anthropologische Bedingung moralischer Handlungen

Moment der geistigen Einschauung und die Entstehung des Willensaktes sind im Falle des sittlichen Wertes nicht voneinander zu trennen. Der Moment der Erkenntnis führt zugleich die Einsicht in seine unmittelbare Wahrheit, Selbstbegründung und sein Erfüllendsein mit sich. 189 Um nun vom sich selbst begründenden Wertwillen 190 zu einem handlungsleitenden Wirkwillen zu gelangen, geschieht etwas, das formal im Begriff des Sollens bereits notwendig mitgedacht werden muss. Sollen impliziert zum einen das Sich-richten an einen Willen und zum anderen die Möglichkeit der Übernahme oder aber Abweisung durch diesen. So führt das Sollen zu einem willentlichen Können (Willkür). Das Wesen der Wahrheitsbehauptung 191 besteht nun in der zwar notwendigen Bezugnahme auf ein Prinzip 192, das es aber nur in Freiheit annehmen oder verwerfen kann. Der sittliche Wert ist nun in der Weise auf diese Freiheit bezogen, dass er sich aus sich mit seinem Sollen auf diese formale Freiheit 193 bezieht. 194 Die Freiheit besteht nun in der Freiheit der Wertbejahung bzw. -verneinung. Die formale Freiheit entscheidet sich nur scheinbar mit Blick auf die jeweilige faktische Gegebenheit. Tatsächlich geht der faktischen Bevorzugung eine Wertentscheidung voran, die den betreffenden Menschen in der gegebenen, ihrer Natur nach wertfreien, faktischen Situation auf eine bestimmte Weise handeln lässt. Bejaht nun der notwendigen Unterscheidung von der theoretischen Evidenz. Im Gegensatz dazu sind Werte im Ergreifen und Ergriffenwerden unseres Geistes und nicht in spezifischen Gemütsbewegungen. Vgl. Lauth (1969), 31. 189 Lauth nennt diese Selbsthelligkeit, diese Offenbarkeit der Wahrheit Licht. Diese Lichtheit begründet wiederum, weshalb sich der sittliche Wert als das Absolute in der Erscheinung erweist. In Sazienz ist er wahre, absolute Selbstsetzung. Der Garant für seine Wahrheit ist die Liebe. Wer sie in ihrem Wesen erfasst, erkennt, dass sie nicht als Täuschung gewirkt sein kann. Vgl. Lauth (1969), 37. 190 Der Wertwille entspricht in etwa dem Pflichtsollen bei Scheler. Die wichtige Gemeinsamkeit ist der immanente Bezug auf den die Handlung realisierenden Willen. Scheler unterscheidet dabei drei verschiedene Forderungsarten: den echten Befehl, den pädagogischen Befehl und den Rat. Vgl. Scheler (1913), 206 ff. 191 Hier im Sinne einer Geltungsbehauptung gemeint. 192 Das Bewusstsein kann sich selbst nicht setzen, außer als formal frei. Deshalb wird der Bezug auf ein Prinzip notwendig. 193 Während die formale Freiheit des Bewusstseins durch die Setzung von Bewusstseinsinhalten als apodiktisch evident gilt, wird diese durch das an sie gerichtete Sollen des sittlichen Wertes genetisch evident. Weil die Freiheit sittlich sein soll, ist sie als wahr anzunehmen. Der gedachte Freiheitsbegriff schließt dabei jede Art von Determination durch Werte eo ipso aus. Vgl. Lauth (1969), 40 ff. 194 Vgl. Lauth (1969), 40.

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Von der Wertentscheidung zum Wirkwillen

der formal freie Wille den sich an ihn richtenden Wertwillen, geht die Freiheit dadurch keineswegs verloren. Es kommt vielmehr zu einer Einung. Der im Wert manifeste, überpersönliche Wille und die Freiheit werden zu einem Willen. Es entsteht eine Identität des guten Willens mit meinem Willen. 195 Da der Wert nicht durch die Freiheit, sondern durch den immanenten Willen geschaffen wird, wird dieser auch im Falle der Ablehnung durch die Willkürfreiheit weiterhin wirksam. Dies zeigt sich an der Stimme des Gewissens. Dabei ist zu beachten, dass aufgrund der Kategorizität 196 des sittlichen Wertwillens eine je situative Unterordnung desselben nicht ohne widerstreitende Intervention des Gewissens denkbar ist. Wird also der sittliche Wille nicht als der ranghöchste der eigenen Wertordnung gesetzt, so kann er überhaupt nicht in das gewählte Wertesystem eingehen. Er bleibt außerhalb und tritt, vermittelt durch die Stimme des Gewissens, in Opposition zur gesetzten Werthierarchie. 197 Die von Lauth sogenannte Einung, also der aus der Freiheit des faktisch wertfreien Willens und des überpersonalen Willens aus dem Wert resultierende Wirkwille, ist für unseren Zweck von zentraler Bedeutung. Was veranlasst uns, dieser »Empfehlung« des Wertwillens zu entsprechen? Sogenannte rationale Gründe des Nutzens oder der Strafvermeidung können nicht als moralisch relevante akzeptiert werden. Begriffe wie Pflicht, Sollen und Achtung könnten hingegen durchaus relevante Kategorien und damit erhellende Hinweise auf der Suche nach dieser Antwort sein.

Vgl. Lauth (1969), 42. Der im sittlichen Wert manifestierte Wille fordert absolut, unbedingt und duldet keine Vorrangstellung eines anderen Wertes innerhalb der gesetzten Wertordnung. 197 Vgl. Lauth (1969), 43. Hierzu ist auch die von Korsgaard mehrfach erwähnte Bedingung aller Sittlichkeit, nämlich eine Haltung, gemäß der sich die betreffende Person als vernünftig verstehen will, höchst stimmig und aufschlussreich. 195 196

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Das principium executionis moralischer Handlungen

Menschen setzen nicht ohne weiteres Für-richtig-gehaltenes in die Praxis um. Werte, Normen und Überzeugungen sind unbestreitbare Voraussetzungen einer Handlung mit moralischem Geltungsanspruch. Der Mensch als endliches und unvollkommenes Wesen, das in einem unauflöslichen Weltbezug steht, bedarf jedoch zusätzlich einer bestimmten Qualität des Wollens, die sich – wie schon ausgeführt – nicht in vernünftigen Kategorien alleine ausbuchstabieren lässt. Es ist der Eigenart des Menschen (conditio humana) geschuldet, dass rein rational gewonnene Einsichten alleine nicht genügen, um uns in den Momenten der Entscheidung hinreichend zu leiten. Wir können dies auch in der Frage fassen: Warum sollte ich mich mit der Vernunft und den durch diese gewonnenen Gründen identifizieren? Warum wollen, wozu sie verpflichten? Argumente allein besitzen keine motivierende Kraft. Kants Pflichtbegriff, der von einem »Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein)« 198 ausgeht, erscheint uns in Anbetracht empirischer Tatsachen nicht tragfähig zu sein. Kant, der dem Menschen neben der bloßen sinnlichen Rezeptivität auch die Selbsterkenntnis mittels Apperzeption »und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen« 199 zuweist, sieht in dem betreffenden Vermögen – der Vernunft – zugleich die praktische Bestimmungsmöglichkeit rein aus Gründen als Ursachen. Kant sieht in diesem nur dem Menschen eigenen Vermögen zugleich die einzige Ursache für das Sollen. »Die Vernunft hat Kausalität« und das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit in Verknüpfung mit Gründen aus, die »in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.« 200 Mit Tugendhat gesprochen tritt in der modernen Auffassung des Menschen die Anthropologie an die Stelle der kantischen Metaphysik. An die Stelle der 198 199 200

Kant, MdS, A 4. Kant, KrV, A 546. Kant, KrV, A 547.

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Das principium executionis moralischer Handlungen

erzwungenen Niederschlagung alles Fremden (Erkenntnisinhalte und der durch sie evozierten Neigungen) tritt ein neues, umfassenderes Verständnis vom Menschen als ein sowohl von noumenalen wie empirischen Einflüssen – die sich ihrerseits wiederum zu beeinflussen in der Lage sind – bestimmtes Wesen. Der folgende Abschnitt wird zeigen, dass das von Kants kritischer Moralphilosophie geforderte Willens-System, das sich im Wesentlichen auf das Achtungsgefühl stützt, 201 und damit eine Art sich selbstregulierendes apriorisches System der moralischen Motivation 202 allein aus dem Gesetz postuliert, nicht hinreichend für ein modernes Verständnis der menschlichen Motivationsbedingungen ist. 203 Menschen können sowohl regelkonform handeln, obwohl sie die objektive Begründbarkeit für ausgeschlossen halten, als auch objektiv begründete und eingesehene Regeln in ihrer Praxis unberücksichtigt lassen. In beiden Fällen müssVgl. dazu Kapitel 4.2.1. Womit der Anspruch Kants, wonach der kategorische Imperativ sowohl ein Dijudikations- als auch ein Exekutionsprinzip sei, deutlich Ausdruck verliehen wird. 203 In der Handlungstheorie wird diesbezüglich klassisch zwischen den Positionen der sogenannten Internalisten und denen der Externalisten unterschieden. Grundsätzlich wird in beiden Auffassungen zwischen Gründen (vgl. principium diiudicationis) und Motiven (vgl. principium executionis) strikt unterschieden. Davidson zufolge erfordern Handlungen (absichtsvolles Verhalten) sogenannte Pro-Einstellungen (pro-attitudes). Der Handelnde drückt durch diese Pro-Einstellungen aus, dass er dem Zweck der Handlung oder der Art und Weise ihrer Ausführung einen bestimmten positiven Wert zuschreibt. Um zu einer Handlung zu gelangen, ist außerdem eine der Pro-Einstellung entsprechende bzw. komplementär wirkende Auffassung erforderlich. Wir befürworten also einen bestimmten Zustand in der Welt und wir glauben an einen funktionalen Zusammenhang dessen, was wir mit diesem befürworteten Zustand zu tun beabsichtigen. Die eigentliche Veranlassung, etwas zu tun, liegt jedoch in ersterem, weshalb Pro-Einstellungen als Motive im eigentlichen Sinn zu bezeichnen sind und damit die kausale Dimension der Handlung darstellen. Die internalistische Position innerhalb der moraltheoretischen Debatte folgt der These: Eine moralische Überzeugung zu haben, ist notwendig mit einem Motiv verbunden, entsprechend zu handeln. Im Externalismus hingegen wird behauptet, dieser Zusammenhang sei kontingent. Es ist demnach durchaus vorstellbar, dass jemand eine bestimmte moralische Überzeugung hat, ohne sich allein dadurch schon veranlasst zu sehen, dieser gemäß zu handeln. Mehr noch: Nach Ansicht der Externalisten muss zum Zustand der Überzeugung (Gründe für das moralisch Richtige) noch ein »externes« Motiv hinzukommen. Sei es die Vermeidung einer Sanktion (diese kann sowohl extern als auch innerhalb der eigenen mentalen Zustände liegen), das Anstreben von Anerkennung oder Gefühle der Sympathie oder des Mitleides. Der Externalismus leugnet also den Zusammenhang zwischen dem Haben einer Überzeugung und deren praktischer Relevanz. Vgl. dazu Scarano, N. (2002), »Motivation«, in: M. Düwel (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart: Metzler, 432–437. 201 202

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Das principium executionis moralischer Handlungen

te etwas anderes als die eigene Überzeugung der Anlass für das jeweilige Verhalten sein. Diese – auch heuristisch – notwendige Trennung der kognitiven Komponenten einerseits und der tatsächlichen Handlungspraxis andererseits eröffnet das philosophisch äußerst interessante Feld der Unterscheidung von principium diiudicationis und des principium executionis. »Es kommt [also] darauf an zu bemerken, dass zwischen theoretischer Position und praktischem Verhalten kein zwingender Zusammenhang besteht.« 204 Wir können es als den Doppelaspekt der praktischen Verfasstheit des Menschen oder als die beiden Seiten einer Medaille auffassen, die wiederum in einem noch zu betrachtenden kausalen Verhältnis zueinander stehen, dass der Mensch, allem intellektualistischen (rationalistischen) Optimismus von Sokrates zum Trotz, durch Einsicht alleine nicht zureichend zur notwendigen Willensbildung gelangen kann. Es bedarf der zweiten Seite, der Emotion, um menschliches Verstehen in konkrete Praxis, um Dispositionen in Wirklichkeit umzusetzen. Außerdem wird die Bedeutung der sogenannten praktischen Vernunft in diesem Zusammenhang näher zu untersuchen sein. Gibt es sie? Kann uns die Vernunft allein über richtiges Handeln aufklären und wenn ja, kann sie dem als internalistische Forderung bekannten Anspruch gerecht werden, wonach es eine innere Verbindung zwischen Rechtfertigung (hier: aus der praktischen Vernunft) und Motivation geben muss? 205 Oder handelt es sich bei der Vernunft lediglich um ein Denken, das uns hilft, in uns vorgefundene Wünsche und Zwecke auf besonders effiziente Weise zu verfolgen, im Erfolgsfall also zu erreichen? Der Begriff der Rationalität bedarf somit einer genauen Betrachtung und wird zwischen den extremen Positionen der »sklavenhaften Instrumentfunktion« einerseits und dem universellen, für sittliche Praxis hinreichenden und damit äußerst wirkmächtigen Vermögen andererseits zu beleuchten sein. Praktische Gründe und moralische Motivation stehen in einem mehrschichtigen Verhältnis. Zu unterscheiden sind dabei die kognitiv formale, die empirisch-emotive sowie die autonomistische und existentialistische Dimension. 206 Vor allem letztgenannte wird versucht, für die in der

Patzig (1971), 78. Vgl. Gosepath, S. (Hg.) (1999), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt am Main: Fischer, 20. 206 Vgl. Klemme, H./Kühn, M./Schönecker, D. (Hgg.) (20062), Moralische Motivation: Kant und die Alternativen, Hamburg: Meiner, 114. 204 205

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Das principium executionis moralischer Handlungen

vorliegenden Untersuchung im Mittelpunkt stehende unbedingte Forderung fruchtbar zu machen. Handlungen erfolgen prinzipiell zur Erreichung von Zwecken. Als Handlung bezeichnen wir das absichtliche Verhalten einer Person. 207 Handlungen werden gewollt und unterscheiden sich klar von atmen, niesen, Reflexen oder Affektverhalten. Handlungen sind damit nach unserer Auffassung auch stets subjektiv rational. Eine weitere Differenzierung durch rationale Handlungen kann daher immer nur auf eine objektive Rationalität, also bestimmte objektive WissenMethode-Übereinstimmungen, Konsistenz- und Kohärenzbedingungen oder eine später auch noch näher zu beschreibende Wohlbegründetheit gerichtet sein. Die Handlung aus Sicht der betreffenden Person beinhaltet all diese Überlegungen bereits subjektiv, da ansonsten eine absichtlich verfehlte Kohärenz zwischen Wille, Zweck und Verhalten auf der Ebene des Handelnden unterstellt werden müsste und uns das sicher nicht weiterführen würde. Allerdings wird noch zu untersuchen sein, inwiefern die Absichten einer Person nicht an einem objektiven, sondern an einem durchaus ausschließlich die Person betreffenden Vergleichsmaßstab gemessen als verfehlt zu bezeichnen sein könnten. 208 Wenn dagegen Nunner-Winkler 209 behauptet, neben der Aussicht auf erwünschte Zwecke seien auch eine moralische Motivation um des Richtigen oder des anderen Willen möglich, wird etwas sehr Elementares der Handlung, wie wir sie auffassen, übersehen: Wem auch immer der angestrebte Handlungszweck dienen sollte, mir persönlich, einem anderen oder gar einer 207 Vgl. dazu Davidson, D. (1985), Handlung und Ereignis, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 57. Der Handlende »schreibt einem Sachverhalt (einem Zweck oder der eigenen Ausführung einer Handlung, die bestimmte Bedingungen erfüllt) positiven Wert zu«. Später wird der Handlungsbegriff noch enger zu fassen sein, nämlich hinsichtlich der Unterscheidung von Zwecken. Handlungszwecke, denen Erscheinungen, also Dingliches zugrunde liegen, werden wir Kant folgend als Naturhandlungen von Handlungen, die den Ausdruck des Sollens darstellen, weil deren Zwecke immer nur rein begrifflicher Art sind, unterscheiden. Vgl. Kant, KrV, A 547 f. 208 Zu den Zusammenhängen bei falschen Handlungen im Hinblick auf moralischen Zufall und den Implikationen des Kontrollprinzips bei Handlungen vgl. auch den Aufsatz von Schälike, J. (2013), »Moralischer Zufall, moralische Verantwortung und kausaler Determinismus«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 67 (3), 351–370. 209 Vgl. Nunner-Winkler, G. (2006), »Freiwillige Selbstbindung aus Einsicht – ein moderner Modus moralischer Motivation«, in: H. Klemme/M. Kühn/D. Schönecker (Hgg.), Moralische Motivation: Kant und die Alternativen, Hamburg: Meiner, 165– 191, 166.

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größeren politischen Gemeinschaft, ja auch wenn der Zweck das Wohl der gesamten Menschheit im Auge haben sollte, gilt: Ich, die handelnde Person, will es, und wenn ich etwas will, strebe ich Erwünschtes an. Womit die oben genannte Annahme sinnlos ist. Wann eine Handlung als moralisch zu betrachten ist, ist eine ganz andere Frage, die sich auf zusätzliche – von der Erwünschtheit des Handlungszweckes durch den Handelnden noch einmal verschiedene – Aspekte bezieht. Schopenhauer legt sich hier fest: Eine Handlung verdient dieses Prädikat nur dann, wenn sie »zum Nutzen und Frommen eines anderen« geschieht, »sein Wohl und Weh unmittelbar [als] Motivation« hat. 210 Das leuchtet auf Anhieb ein. Eine moralische Handlung zielt notwendig auf das Wohl oder das vermiedene Leid eines oder mehrerer Mitmenschen. Zur vollständigen begrifflichen Fassung gehört aber auch die Besonderheit, dass nicht alle Handlungen, die diesen Kriterien entsprechen, auch moralisch zu nennen sind. Denken wir an Handlungen, die insbesondere im Umfeld unbedingter Forderungen zu finden sind. Die bis heute als Inbegriff einer solchen Forderung geltende Selbsthingabe des Sokrates kann nicht – wollen wir präzise bleiben – bloß als moralische Handlung gelten. Moral hat immer auch etwas mit einer sozialen Erwartbarkeit zu tun. Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft dürfen aus guten Gründen die wechselseitige Befolgung der betreffenden Regeln voneinander erwarten. Das ist im Fall des Sokrates zweifellos nicht gegeben. Niemand würde es (aus guten Gründen) wagen, von einem Mitmenschen dessen Aufopferung ohne unmittelbare adäquate Bedrohung anderer einzufordern. Mit Recht benutzen wir für derartige Handlungen das aus der christlichen Theologie stammende Attribut supererogatorisch. Ein Zweites bedarf in Schopenhauers Definition der Präzisierung. Es ist der Ausdruck »Motivation«. Um im Fortgang terminologisch klar bleiben zu können, muss dieses Wort eindeutig von »Gründen«, »Zwecken« und anderen Rechtfertigungsinhalten unterschieden werden. Die Frage nach den Bedingungen einer »Nötigung des Willens« 211 impliziert unter anderem auch die entscheidende ethische Behauptung der personalen Autonomie. Nur wenn aufgezeigt werden 210 Schopenhauer, A. (1840/1968): »Preisschrift über die Grundlage der Moral. Nicht gekrönt von der Königlich Dänischen Sozietät der Wissenschaften zu Kopenhagen«, in: A. Schopenhauer (Hg.), Kleine Schriften, Darmstadt: WBG, 632–815, 740. 211 Kant, GMS, BA 45.

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kann, dass das Sollen einen entscheidenden Einfluss auf unser Wollen hat, lässt sich Autonomie verteidigen. Ja, die praktische Vernunft als solche steht damit auf dem Spiel. Sollte ein Vernunftgrund nicht subjektives Motiv und objektives Sollen bedingen, wäre dieser nicht praktisch. Schon daraus ergibt sich die Aufgabe, unter anderem den Willen als letztes handlungswirksames Begehren 212 näher zu betrachten. Analog dem Faktum, dass es kein Ereignis oder Geschehen ohne Ursache zu geben scheint, erfolgt keine Handlung (unter üblichen, von externen Zwängen freien Umständen), ohne sie zu wollen. Weil es nun mal möglich ist, Gründe in ihrem rationalen Gehalt zu bejahen, ohne sich praktisch gemäß dieser Einsicht zu verhalten, ist es unvermeidlich, eine weitere veranlassende Ursache für Handlungen anzunehmen. Diese muss jedoch keine kausale Alleinstellung besitzen, sondern muss schlicht gegeben sein, um den Unterschied zwischen rationaler Bejahung und praktischer Umsetzung verständlich machen zu können. Dabei handelt es sich um Bewusstseinsinhalte, die wir Motive oder Triebkräfte nennen. Die Unterscheidung zwischen dem principium diiudicationis und dem principium executionis trifft also den eigentlichen Kern altruistischer Handlungen insofern, als es bei derartigen Handlungen strikt die objektiv normative (Verpflichtung) von der subjektiv kausalen (Erklärung) zu unterscheiden gilt. 213 Um die Rolle der Gefühle, genauer Wünsche und Begehren, in eine ethische Betrachtung einbeziehen zu können, dürfen diese nicht als von jeder rationalen Kritik unerreichbare, quasi als eine Art psychologisches Tiefengeschehen, betrachtet werden. Es wird deshalb darauf ankommen, die Verknüpfung von Gefühlen und Gründen zum einen als nicht bloß kontingent darzulegen und zum anderen eine moralische Handlung nicht unter die Bedingung des von Gründen unbeeinflussten Vorhandenseins von Wünschen zu stellen. An dieser Stelle der Untersuchung wird sich der grundlegende Unterschied in der Veranlassung von Handlungen zwischen einem als fanatisch zu

212 Wir verwenden die Bezeichnung »Begehren«, weil darin sowohl ein auf rationales Erkennen als auch ein unspezifisches – in der Handlungstheorie häufig auch Bedürfnis genanntes – Antriebsempfinden umfasst ist. 213 Vgl. Gosepath, S. (2006), »Moralische Normativität und Motivation«, in: H. Klemme/M. Kühn/D. Schönecker (Hgg.), Moralische Motivation: Kant und die Alternativen, Hamburg: Meiner, 255–273, 259.

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bezeichnenden und einem als an Gründe gebundenen Menschen in Bezug auf die unbedingte Forderung erschließen. 214

4.1 Sollen als Form der Pflicht Wer etwas soll, wird dazu weder gezwungen, noch resultiert dieser Anspruch an einen Willen aus Klugheitsüberlegungen. Sollen ist der Satzkategorie nach eine Aufforderung. Die Besonderheit dieser sittlichen Aufforderung liegt in ihrer Beziehung zu einer von dem aufgeforderten Menschen und dessen freien Willen zu bejahenden Geltungsbedingung. 215 Wer soll, soll wollen und diesen Willen als Ruf seiner Selbst zu rechtfertigen in der Lage sein. Der Wille selbst – so Jaspers – »birgt in sich, was nicht gewollt werden kann, er bedarf in der Verwirklichung des in ihm selber Ungewollten. Ich kann den Willen nicht wollen.« 216 Dieses ungewollte Sollen, das seinerseits analytisch eine Geltung, und zwar eine wertimmanente Geltung impliziert, soll nun näher untersucht werden. In der transzendentalen Begründungsführung Kants für die Ableitung des mittels der praktischen Vernunft konstituierten guten Willens bedarf dieser das Sollen zu dessen Legitimierung der Pflicht. Nur ein aus der Pflicht geborener Wille kann überhaupt beanspruchen, was jeder Wille als notwendige Voraussetzung schon immer selbst beansprucht – seine reine 214 Jaspers weist im Zusammenhang mit Fanatismus darauf hin, dass der Fanatiker nicht erkennt, ein Deutender, also ein Mensch zu sein, der die Welt nach seiner Auffassung und der damit vermittelten Bedeutung beurteilt. Der Fanatiker glaubt, die ganze Wirklichkeit erfassen zu können und leitet daraus absolute und universelle Sollensansprüche ab. Ihm fehlt also das Bewusstsein der partialen Wirklichkeitsauffassung und der damit notwendig werdenden Öffnung gegenüber den Wirklichkeiten der anderen. 215 Anscombe bringt in ihrem programmatischen Aufsatz »Modern Morals Philosophy« zum Ausdruck, dass der Gebrauch des Wortes »soll« auf die überlieferte und besondere Autorität und Macht Gottes zurückgeht. Demnach ist die Rede von sittlichen Normen ein Relikt einer ethischen Konzeption, deren Geltung auf der Offenbarung einer göttlichen Autorität beruht. Da diese Begründung durch die Aufklärung hinfällig geworden ist – so Anscombe – müssen neue, von transzendenten Geboten unabhängige Maßstäbe wie Vernunft, Wissenschaft und Psychologie für Moral entwickelt werden. Vgl. Anscombe, G. E. M. (1958), »Modern Moral Philosophy«, in: Philosophy 33 (124), 1–19. Wir werden im weiteren Fortgang der Untersuchung zeigen, dass keinesfalls die Abschaffung des Ausdrucks, sondern dessen neue Begründung gefordert ist. 216 Jaspers (1948), 134.

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Sollen als Form der Pflicht

Gültigkeit. Wer will, der fordert andere auf, sich diesen Willen zu eigen zu machen und zwar aus guten Gründen. Die Verpflichtung dazu würde meine Freiheit einschränken und könnte nur durch etwas legitimiert werden, das jedem Willen notwendig zugrunde liegen muss, also von jedem praktischen Wollen und Handeln implizit vorausgesetzt wird. Kant hat diesen einzigen Legitimierungstatbestand eines jeden Willens wie folgt gefasst: Es kann niemand den anderen obligieren, als durch eine notwendige […] Einstimmung des Willens anderer mit dem seinen nach allgemeinen Regeln der Freiheit. 217

Daraus folgt, dass jedes Wollen, das immer schon den Anspruch auf Verpflichtung anderer mit sich führt, die Bedingung für diese universelle Wirksamkeit, nämlich die Gesetzeskonformität selbst, notwendig wollen muss. 218 Die Letztbegründung der betreffenden Norm wäre somit klassisch transzendental, also in den Bedingungen der Möglichkeit des Wollens selbst gelegen, erwiesen. Sollen ist die Form des Gewahrwerdens von Werten. 219 Warum dies notwendig so ist, lässt sich auch bei Kant nachlesen. Er vergleicht die unbedingte Notwendigkeit der Verstandesgrundsätze für die theoretisch betrachtende Vernunft mit der unbedingten Freiheit des Menschen in praktischer Hinsicht, 220 wobei diese Freiheit aus dem Bewusstsein des Kant, I. (1934), Reflexionen zur Moralphilosophie, Gesammelte Schriften Band 19, Abt. 3, Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 6, Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie, hg. v. der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: de Gruyter, 212 f. Kant stellt damit klar, dass zugunsten der Autonomie eines jeden vernünftigen Wesens ausschließlich der eigene Wille letztinstanzlich als Verpflichtungsgrund in Frage kommt. 218 Vgl. hierzu die Ausführungen von Wolfgang Kuhlmann (1985), Reflexive Letztbegründungen. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg, München: Alber. Kuhlmann verwendet für seine Deduktion der Letztbegründung sittlicher Verpflichtungsansprüche neben der transzendentalen Begründungsmethode Kants auch die Methode der Sprachanalyse, um mittels der dadurch aufgedeckten illokutionären Akte eine damit verbundene Selbstvergewisserung der bei moralischen Sätzen immer schon mitgedachten Inhalte zu ermöglichen. 219 Hier lohnt ein Hinweis auf Scheler. Wäre das Sollen, mithin der Imperativ, wesentlich für den Wert selbst, würde dies der Sittlichkeit von Handlungen Schaden zufügen. Zwang und Sittlichkeit stehen für Scheler in einem negativen Verwirklichungsverhältnis. Vgl. dazu auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 1. Das Sollen ist danach nicht im Wert selbst, sondern vielmehr in einer ganz bestimmten Weise der Gegebenheit der Wertinhalte zu verstehen. Vgl. Scheler (1913), 211. 220 Ein sehr aufschlussreicher ergänzender Vergleich stammt von der Neo-Kantianerin Christine Korsgaard. Sie vergleicht die Bedeutung von »Schmerz« mit der Bedeu217

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moralischen Gesetzes resultiert. Hätte nun unsere Vernunft ihren Grund ausschließlich in dieser Freiheit, wäre uns die Pflicht als Sein gegeben. Da wir vernünftige Wesen aber zugleich in der Natur verwurzelt sind, wird uns die Pflicht als Sollen gegenübergestellt. 221 Das Sollen hat also mit Kant nur einen Sinn für Wesen, die in konkrete Lebensbedingungen mit sinnlichen Präferenzen und Nützlichkeitsüberlegungen eingebunden sind. Kant weiter: Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens auszudrücken. 222

Die Pflicht selbst ist ein aus dem (reflexiven) Denken wahrgenommener Bewusstseinsinhalt, der uns durch die Natur der Vernunft nur so erscheinen kann. Korsgaard vergleicht diese Notwendigkeit mit der vermittelten Bedeutung von Worten, die wir hören, in einer Sprache, die wir kennen. Genauso wenig, wie es uns möglich ist, diese als bloße Geräusche zu interpretieren (private Bestimmung unseres Bewusstseins), ist es möglich, moralische Gründe – seien sie uns selbst gegenüber oder gegenüber anderen – als bloße Sätze oder Gegebenheiten zu verstehen. Wenn wir so z. B. erkennen, dass anderen Leid zugefügt wird, entspringt aus unserem Denken eine Pflicht: You would think that the other has a reason to stop, more, that he has an obligation to stop. And that obligation would spring from your own objection to what he does to you. You make yourself an end for others; you make yourself a law to them. But if you are a law to others in so far

tung von »Pflicht«. Dabei stellt sie fest, dass Schmerz nicht in der körperlichen Empfindung selbst aufgeht, sondern vor allem auf die Bedeutung der Bekämpfung des Zustandes zielt, der diese verursacht. »The painfulness of pain consists in the fact, that these are sensations which we are inclined to fight.« Korsgaard (2013), 147. Wir haben Schmerzen, um uns für unsere Gesundheit aktiv einzusetzen, und diese Aktivierung ist begrifflich implizit. Wäre das nicht so und Schmerz würde in der Charakteristik des Gefühls aufgehen, »our belief that physical pain has something in common with grief, rage and disappointment woud be ineplicable.« Ebd. 148. Schmerz ist demnach die Wahrnehmung eines Grundes, nicht der Grund selbst. Das Sollen ist analog die Weise, in der wir der Bedeutung von Pflicht gerecht werden. 221 Vgl. Kant, KdU, B 343. 222 Kant, GMS, B 40.

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Gefühle und ihre Bedeutung in der moralischen Praxis

as you are just human, just someone, then the humanity of others is also a law to you. 223

Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn es um die Explikation der selbstbezüglichen Verpflichtungen und den damit einhergehenden Handlungen im Kontext unbedingter Forderungen geht, wird diese zwingende Form wertgebundenen Denkens im Verhältnis zu unserer praktischen Identität näher erläutert. Wie wir aus der Empirie wissen, sind gute Gründe nicht mit ebenso guten Motiven gleichzusetzen. Es sind nach Hume die stärksten Wünsche, die uns zu Gründen werden. Ist das so? Fallen Wünsche und Gründe tatsächlich zusammen und wenn ja, liegt es daran, dass es sich um unsere (stärksten) Wünsche handelt, oder an zusätzlichen Anforderungen, die erfüllt sein müssen, bevor wir tatsächlich Wünsche und Gründe dem Inhalt nach gleichsetzen dürfen? Die allzu oft auftretende Dichotomie zwischen Vernunft und Begehren oder allgemein zwischen Sollen und Motiv gilt es, genauer zu betrachten, um eine deutliche begriffliche Trennung von Wunsch einerseits und moralischem Grund andererseits gewinnen zu können. Die nachfolgenden als motivationstheoretisch komplementär betrachteten Emotionen sind dabei nicht als eine Art losgelöste, womöglich archaisch in uns festgelegte Transferkomponente für eine zu realisierende gute Praxis zu verstehen. Ganz im Gegenteil werden wir aufzeigen, dass es sich um Gefühle handelt, die aus unserem Weltbezug und durch individuelle geistige Leistungen wie Reflexion und kritischem Denken sowie Erziehungs-, Entwicklungs- und Sozialisationspraktiken überhaupt erst möglich werden und damit als Exekutionsprinzip wirksam werden können.

4.2 Gefühle und ihre Bedeutung in der moralischen Praxis Gefühle zum Gegenstand philosophischer oder gar moralphilosophischer Betrachtungen zu machen, ist nicht selbstverständlich. Ausgehend von Platon wurden diese mehr oder weniger mit Bedeutungslosigkeit belegt und ihre Relevanz für vernunftbasierte Betrachtungen der Welt als irrelevant eingestuft. In seinem Timaios nennt er sie »mächtige und unabweisliche Leidenschaften«, die die Seele von 223

Korsgaard (2013), 143.

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Das principium executionis moralischer Handlungen

ihrem Weg nach der Suche der Wahrheit und Unsterblichkeit ablenken. 224 Als leibliche Wesen verlangen wir nach Nahrung, verspüren Schmerz. In der antiken Seelenlehre wird den Gefühlen ein niedriger Rang zugeordnet. Selbst in der Stoa, in der nach einhelliger Meinung der Forschung den Gefühlen eine besondere Beachtung zukam, gelten diese doch als etwas, das beherrscht oder getilgt werden müsse. Bei Diogenes Laertius lesen wir aus einer Wiedergabe der Lehre Zenons, dass der Affekt (páthos) eine »unvernünftige unnatürliche Seelenbewegung oder ein exzessiver Trieb sei« 225. Chrysippos nennt Affekte gar »Krankheiten der Seele« 226, die ausgerottet werden müssen. »Der Weise ist ohne Affekte« 227. Rationalistische sowie positivistische Auffassungen übernahmen diese Bewertung von Gefühlen als Hindernis für einen moralischen Charakter. Williams führt diese Mangelstellung der Emotionen im Kontext praktischer Vernunft auf die vereinfachte Reduzierung der Emotionen auf blinde Handlungsursachen, die vorwiegend legalistische Konzeption der Vernunft in Folge Kants und die damit einhergehende Festlegung der moralischen Sprache auf präskriptive Inhalte zurück. 228 Die zentrale Behauptung der Rationalisten ist: Emotionen seien prinzipiell nicht zugänglich für die Vernunft. Daraus ergeben sich konsequenterweise skeptische Auffassungen, die die Rolle von Emotionen in der moralischen Urteilsbildung und ihre Funktion innerhalb der praktischen Vernunft betreffen. Sowohl die den Emotionen abgesprochene Responsivität gegenüber der Vernunft als auch die Auffassung der Vernunft als völlig getrennt von Gefühlen wurden in den letzten Jahren zum Gegenstand intensiver philosophischer Auseinandersetzung. Dabei kamen insbesondere Aristoteles und

Platon (1972), »Timaios«, in: G. Eigler (Hg.), Platon, Werke in acht Bänden: griechisch und deutsch, Band 7, übers. v. F. Schleiermacher und H. Müller, Darmstadt: WBG, 69 d. 225 Platon, Timaios, 69 d. 226 Zenon, Stoicorum veterum fragmenta, Bd. I, 121, zit. nach Ritter (2007), Bd. 1, 91. 227 Zenon, Stoicorum veterum fragmenta, Bd. III, 448, zit. nach Ritter (2007), Bd. 1, 91. 228 Vgl. Williams, B. (1973), Problems of the Self, Cambridge: Cambridge University Press, 207 f. Vgl. zu kritischen Anmerkungen gegenüber der Bewertung von Emotionen in der Ethik durch positivistische Einflüsse auch Hepburn, R. W./Murdoch, I. (1956), »Symposium: Vision and Choice in Morality«, in: Aristotelian Society Supplementary 30 (1), 14–58, 34. 224

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Gefühle und ihre Bedeutung in der moralischen Praxis

Kant erneut in den Fokus zeitgenössischer Interpretationen. 229 Die Einbeziehung aristotelischer Philosophie führte dabei zu einer nicht zu überschätzenden Diskussion über die Rolle der Emotionen in praktischer Deliberation und in Hinblick auf Fragen der Charakterbildung und des moralischen Bewusstseins. So steht bei Aristoteles von je her die durch Einübung erlangte Charakterbildung in Verbindung mit Gefühlen (z. B. des Maßhaltens, der Tapferkeit) im Mittelpunkt gelingender Lebenspraxis. Moralische Erziehung besteht demnach in der Formung und Ausrichtung moralisch relevanter Gefühle am Guten. Aristoteles bildet damit den gedankengeschichtlichen Ursprung für die heute vielfach vertretene Auffassung, nach der es bei der Erlangung einer moralischen Haltung zentral auf die Ausbildung dispositiver Eigenschaften ankommt, die eine moralische Praxis im Einklang von Gefühlen und rationaler Urteilsbildung ermöglichen. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von notwendigen entgegenkommenden Lebensformen im Hinblick auf Sozialisations- und Erziehungspraktiken, auf die jede universalistische Moral angewiesen sei. 230 Die aktuelle Debatte vor dem Hintergrund kantischer Moralphilosophie ist vor allem von der Frage geprägt, ob es sich bei Emotionen tatsächlich nur um präkognitive, dem Willen unzugängliche pathologische Zustände ohne jede normative Relevanz handelt. Dem folgend müsste jede sinnvolle Diskussion der moralphilosophischen Bedeutung von Gefühlen mit einer Verabschiedung von Kant beginnen. 231 Kant selbst vertrat doch in seinen späteren Schriften die Auffassung, dass Emotionen wie die der Dankbarkeit und Sympathie nicht vollständig durch Passivität und willentlicher Unzugänglichkeit zu erklären wären. Kant vertrat in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass diese Art von Emotionen eingeübt werden kann und sollte, obwohl es sich dabei nicht um eine Pflicht handeln würde, diese zu besitzen. 232 Einige Autoren nehmen diese und andere für die praktische Vernunft von Kant als bedeutsam genannten Gefühle zum Anlass zu behaupten, dass Kant nicht davon ausging, der Mensch sei nur 229 Hier wären stellvertretend Martha Nussbaum (1986, 1990, 2003), Amélie O. Rorty (1980) und Christine Korsgaard (1996, 2009, 2013) zu nennen. 230 Vgl. dazu auch Habermas, J. (1991), Erläuterungen zur Diskursethik, 6. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 25. 231 Vgl. Rorty, A. (1980), Essays on Aristotle’s Ethics, Berkeley: University of California Press. 232 Vgl. Kant, MdS, A 35.

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passiv Gefühlen gegenüber und schließen daraus, dass auch Kant bestimmten Gefühlen eine wichtige Rolle für moralische Praxis zumessen würde. 233 Anlass dazu gibt zweifellos auch Kant selbst in seinen Vorlesungen: Das moralische Gefühl ist eine Fähigkeit durch ein moralisches Urtheil afficiert zu werden. Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilt habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, die Handlung zu thun, so ist das das moralische Gefühl. Das kann und wird auch keiner einsehen, daß der Verstand sollte eine bewegende Krafft zu urtheilen haben. Urtheilen kann der Verstand freylich, aber diesem Verstandes-Urtheil eine Krafft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen. 234

Im nachfolgenden Abschnitt werden wir genauer auf das Verhältnis von Gefühl und Moralität bei Kant eingehen und zeigen, dass Kant sehr wohl einen Begriff von Emotionen hatte, der nicht nur von unwillentlicher und präkognitiver Beschaffenheit ausging, sondern auch propositionale Inhalte und einen intentionalen Status mit einschloss. 235 Insbesondere die Rolle der Achtung, die Kant zur notwendigen Bedingung moralischer Praxis erklärte, weist auf den hohen Stellenwert der Gefühle, als zumindest exekutiv bedeutsamen Faktor, hin. Gefühle werden zur Ermöglichungsbedingung für die Erfüllung unserer Pflicht. Darüber hinaus kann Kants kritisch erlangtes Funktionsverständnis der Vernunft auf eine weitere Rolle der Gefühle hinweisen. In der Deliberation hat der Mensch die Aufgabe, seine mögliche Praxis auf die in Kants kategorischem Imperativ gefasste Universalisierbarkeit hin zu prüfen. Dabei ist zunächst unklar, nach welchen Kriterien Menschen bei dieser moralischen Überlegung genau vorgehen. Gemeint sind natürlich nicht die Kriterien der Gesetzesgemäßheit selbst, sondern wie es einem Menschen in der konkreten Situation gelingen kann zu entscheiden, welcher der Aspekte der möglichen Handlung wie zu gewichten sei. Besonders entscheidend 233 Exemplarisch hierzu sei Baron, M. (1995), Kantian Ethics Almost without Apology, New York: Cornell University Press und Anderson, E. (2007), »Emotions in Kant’s Later Moral Philosophy: Honour and the phenomenology of moral value«, in: M. Betzler (Ed.) Kant’s Ethics of Virtues, Berlin: de Gruyter, 123–145 genannt. 234 Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, 68 f. 235 Vertiefend hierzu sei auf Borges, M. (2004), »What Can Kant Teach Us about Emotions?«, in: The Journal of Philosophy 101 (3), 140–158 hingewiesen.

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Gefühle und ihre Bedeutung in der moralischen Praxis

ist dieses durch Prüfung erlangte Ergebnis unserer Bewertung, wenn es neben der Prinzipienanwendung auch darum geht, wer wir sein wollen, also um unser Selbst. Hier kommt es neben der Berücksichtigung der kognitiven (Gesetzes-)Konformität immer auch zu einer uns eigenen Gewichtung von Werten, die uns ausschließlich durch Gefühle vermittelbar ist. Gefühle leisten hier eine Art Anpassung rationaler Überlegungsergebnisse an uns selbst. 236 Wir passen nicht uns dem zugrundeliegenden Prinzip an, sondern bemühen uns, in der vorangehenden Deliberation zu einem Ergebnis zu kommen, das beides berücksichtig, unser kognitives Urteil bezüglich eines anzuwendenden rationalen Maßstabs und das, was wir als Person in der Welt sein wollen, unser Selbst. Was gewinnen wir durch die (weitergeführte) Anwendung von Kants Handlungstheorie? Es wird deutlich, dass die Sensibilität für moralisch relevante Gefühle notwendig ist (komplementäre Beziehung), um als Menschen mit Vernunfturteilen adäquat umgehen zu können. Wir kommen somit zu einem Verständnis, dass moralische Deliberation und die darin erwiesenen vernünftigen Gründe notwendig einer Übersetzung durch Gefühle bedürfen. 237 Die Vorstellung, wonach Gefühle als prinzipiell irrationale Kräfte zu betrachten wären, die unsere vernünftigen Absichten durchkreuzen, oder rein körperlichen Empfindungen wie Schmerz oder Lust gleichzusetzen wären, könnte damit als überwunden betrachtet werden. Gefühle werden im Kontext neuer philosophischer Ansätze auch als »rational« oder »moralisch« bezeichnet. 238 Dies darf jedoch unserer Auffassung nach nicht dazu führen, Gefühle als Gründe zu betrachten. Gefühle welcher Art auch immer bleiben in dieser Hinsicht von Überlegungen, Prinzipien und vernünftigen Einsichten kategorial verschieden. 239 Der Unterschied wird in unserer Rede über Gefühle sehr deutlich. Wir sagen nicht: »Das Gefühl x kann ich vertreten, weil y der Fall ist« oder: »Die Handlung x war angemessen wegen meines Vgl. dazu auch Tugendhat, E. (1993), Vorlesungen über Ethik, 8. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 60 f. 237 Vgl. auch Damasio, A. (2000), Ich fühle, also bin ich, München: List, 55. 238 Vgl. Hartmann, M. (2010), Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Campus, 15 f.; Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, 68. 239 Ein Affekt »besitzt keine repräsentative Eigenschaft, durch die er als Abbild eines anderen Etwas […] charakterisiert würde. Hume, D. (19782), Ein Traktat über die menschliche Natur, Band II, Über die Affekte, übers., mit Anm. und Reg. vers. v. T. Lipps, mit neuer Einf. hg. v. R. Brandt, unveränd. Nachdr. der 1. Aufl. von 1906, Hamburg: Meiner, 153. 236

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Gefühls y«. Die in der neueren Forschung allenthalben stattgefundene Ausdifferenzierung unserer Gefühle ist zwar philosophisch außerordentlich fruchtbar zu machen, darf aber nicht dazu führen, die grundsätzliche Eigenheit unseres vernünftigen Denkens, Redens und Urteilens, nämlich deren durch Propositionalität unter Einschluss normativer Wertungen und Sprache ermöglichte Aufklärungsleistung, einzuebnen. Eine unterlassene Hilfeleistung kann durch Berufung auf vorrangige Handlungen potentiell allen Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft vermittelt werden. Mit der Benennung bestimmter Gefühle ist dies ausgeschlossen. Die Vernunft als universelle Begründungsinstanz darf durch den Versuch, Gefühle zu rationalisieren, nicht hintergangen werden. Gefühle im Allgemeinen 240 haben wesentlich keine inhärenten normativen Qualitäten. Sie können, und das ist zweifellos die sinnvolle Interpretation der Klassifikation »rational«, durch rationale Urteile hervorgerufen oder zumindest verstärkt werden, jedoch niemals die Rationalität des Urteils verbürgen. Das gleiche Gefühl kann bei der einen Person durch ein vernünftiges Urteil, bei der anderen durch eine völlig irrationale Annahme evoziert werden. Gefühle sind nicht kritikfähig. Wären sie es, würde es sich nicht mehr um Gefühle handeln. Gefühle bleiben somit ihrem Wesen nach in dem Maße arationale Phänomene 241, wie sie ausschließlich körperlichen Empfindungen parallelisiert werden. Tatsächlich sind Emotionen dennoch rational zugängliche Zustände unseres Bewusstseins. Die semantische Einordnung von Gefühlen changiert zwischen kognitiven (intentionalen), phänomenalen, voluntativen und physiologischen Elementen. Wenn eine wichtige Figur des Kognitivismus, Robert Solomon, allerdings ausführt, Gefühle seien identisch mit Urteilen 242, erscheint uns das nicht plausibel. Wut, Trauer und mein Leiden sind demnach Urteile, nämlich Urteile über geschehenes Unrecht oder einen mehr oder weniger erlittenen Verlust. »Ein Gefühl ist ein evaluatives (oder normatives) Urteil, ein Urteil über meine Situation, und über mich und/oder andere Leute.« 243 Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die Wut ist nicht das 240 Moralische Gefühle im engeren Sinne werden jedoch durchaus als eine besondere Kategorie rational (im Sinne eines reflektierten Verständnisses vom Wohl der Mitmenschen) durchdrungener Bewusstseinszustände betrachtet. Vgl. Kapitel 4.2.2. 241 Vgl. Hartmann (2010), 18. 242 Vgl. Solomon, R. C. (1993), The Passions, Emotions and the Meaning of Life, Cambridge: Hackett, 125 f. 243 Solomon (1993), 125 f.

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Gefühle und ihre Bedeutung in der moralischen Praxis

Urteil, sondern stellt die für einen Menschen mit dem entsprechenden Temperament und dessen Vorstellung von gerecht und ungerecht die adäquate emotionale Reaktion dar. Aus der Wut selbst lässt sich nichts über das zugrundeliegende Urteil aussagen. Die Wut kann das Resultat eines misslungenen Vorhabens oder aber die Missachtung wichtiger Gerechtigkeitsregeln durch Mitmenschen sein. 244 Der Rauch ist nicht das Feuer, auch wenn er durch dieses womöglich verursacht wurde und in gewisser Weise auch bestimmte Qualitäten des Feuers durch seine spezifische Erscheinungsform erkennbar macht. Sollte man versuchen, den Urteilsbegriff derart zu erweitern, dass darunter auch nichtbewusste Bewertungsmuster und dispositive Konditionierungen fallen, würde das zwar der Schlüssigkeit Solomons Thesen, nicht jedoch einer sinnvollen Begriffsbestimmung von Urteil dienen. Was wir unter einem Urteil wesentlich verstehen sollten, zeigt sich am deutlichsten an den im Sprachgebrauch üblichen Kategorien: generelle Urteile, juristische Urteile, charakterliche Urteile, selbst bei der Kategorie der ästhetischen Urteile (Geschmacksurteile); es wird erkennbar, dass es sich um explizierbare Kognitionen handelt, deren Wesen eine Abgrenzung oder Bewertung und damit eine intersubjektiv vermittelbare Aussage mit orientierender Funktion ist. Deutlich davon zu unterscheiden sind Begriffe wie Impuls, Verlangen, Trieb und Neigung. Wer ein Urteil fällt, kann auf dieses sprachlich Bezug nehmen. Er oder sie kann es z. B. erklären, erläutern oder begründen. Wenn Solomon diese Eigenschaften übersieht, verzichtet er zugleich auf eine in vielerlei Hinsicht bedeutungsvolle semantische Differenz. Außerdem lässt Solomon offen, wodurch ein Urteil besonders wichtig oder vorrangig wird. Die bloße Urteilsform scheint dazu nicht ausreichend. Solomon selbst hat dies später eingeräumt und erweiterte daraufhin seinen Gefühlsbegriff, in dem er neben dem Urteil auch dem Wunsch eine konstitutive Rolle zugestand. 245 In diesem Zusammenhang müssen auch die Arbeiten 244 Einen wichtigen Hinweis zur Funktion von Gefühlen im Kontext der moralischen Praxis gibt uns Nida-Rümelin, wenn er darauf hinweist, dass, trotz der transzendentalen Bedeutung der Vernunft für eine autonome Lebensführung, Gefühle als subjektive Faktoren der Gewichtung und Auslösung unserem Leben eine individuelle Struktur zu geben vermögen. »Auch eine objektivistische Interpretation guter Gründe muss Spielräume für Dezisionen haben für existentielle Entscheidungen.« Vgl. Nida-Rümelin, J. (2011), Verantwortung, Stuttgart: Reclam, 184. 245 Vgl. Solomon, R. C. (1980), »Emotions and Choice«, in: A. Rorty (Ed.), Explaining Emotions, Los Angeles: University of California Press, 251–281, 276, nach Hartmann

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von Robert Zajonc und dessen Schüler John Bargh kurz erwähnt werden. 246 Beide unterstützen die These, dass entgegen der klassischen kognitiven Bewertungstheorie Emotionen die Basis von Bewertungen und Urteilen bilden. In sogenannten Priming-Experimenten wurde festgestellt, dass Menschen aufgrund bewusster aber auch unbewusster (subliminaler) Emotionen Ereignissen andere Gründe (Urteile) zuordnen. Dies verweist also auf die Möglichkeit, Emotionen nicht nur als Ergebnis individueller Erwartungen, Bewertungen (Urteile) zu betrachten, sondern (auch) umgekehrt Emotionen als Ursache für diese kognitiven Leistungen in Betracht zu ziehen. Eine Identität von Urteil und Gefühl ist offensichtlich nicht sinnvoll zu behaupten. Abgesehen von dieser zu weit gehenden Position ist es aber philosophisch außerordentlich nützlich, eine genauere Betrachtung auf diejenigen Gefühle zu richten, die mit moralischen Urteilen, also Standpunkten, Auffassungen und Überzeugungen korrelieren bzw. interagieren. Einen sehr überzeugenden Beitrag zur vorläufigen Auflösung der prinzipiell widerstreitenden Positionen der Rationalisten, Kognitivisten und Sentimentalisten 247 leistet Carla Bagnoli. Ausgehend von der strukturellen Beziehung von Achtung und Gesetz bei Kant vertritt sie die Auffassung, dass moralische Gründe ihre Autorität durch ihre subjektive Erfahrung in Gestalt der Achtung erhalten. Dieser Ansatz vermeidet die Schwierigkeiten der rationalistischen Auffassung von der unbedingten Moralität, die oftmals evident keinen Einfluss auf unser Handeln ausübt und der Position der Sentimentalisten, wonach moralische Gründe keine normative Autorität besäßen. Beide Positionen – so Bagnoli – erliegen einer falschen Vorstellung über das Verhältnis von Emotion und Vernunft. Beide sind weder getrennt voneinander, noch treten Emotio(2010), 66. Zur Unterscheidung von Wunsch und Gefühl sei darauf hingewiesen, dass Wünsche zwar häufig auf für attraktiv gehaltenen Gefühlen beruhen, sich umgekehrt aus den Gefühlen doch nur in Ausnahmefällen konkrete Wunschstrukturen ableiten lassen. Wünschen kommt somit eine bedingungsbildende Funktion für erwünschte Zustände zu. Im Gegensatz zu Gefühlen weisen Wünsche einen konkreten Weltbezug mit den darin verbundenen Realisierungsvorstellungen auf. Vgl. Steinfath, H. (2001), Orientierung am Guten. Praktisches Überlegen und die Konstitution von Personen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 189 ff., nach Hartmann (2010), 22. 246 Vgl. Zajonic, R. et al. (1988), Emotion, Cognition, and Behavior, Cambridge University Press sowie Bargh, J. (2007), Social psychology and the unconscious: the automaticity of higher mental processes, New York: Psychology Press. 247 Diese Position wird in Kapitel 4.2.2 im Abschnitt »Gefühle als vernünftige Bestimmungsgründe« ausführlich dargestellt.

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nen kontingent zu moralischen Urteilen auf. Im Gegensatz dazu behauptet Kant eine strukturelle Beziehung: Um moralisch handeln zu können, bedarf es neben der vernünftigen Prüfung von Maximen und Prinzipien in der Form von Gesetzen auch des Ausdrucks einer moralischen Sensibilität in Form der Achtung. 248 Dieser Ansatz erscheint uns äußerst fruchtbar. Im Kapitel 5.2 werden wir darauf zurückkommen und anhand des Wahrheitsstrebens des Menschen, als ein Verlangen ohne Selbstverleugnung zu existieren, diese strukturelle Beziehung nachzeichnen. Zum besseren Verständnis werden wir im anschließenden Abschnitt auf das nun mehrfach referierte Triebfeder-Konzept von Kant anhand seiner Schriften näher eingehen. Doch bevor wir dazu übergehen, hier nun eine für die vorliegende Untersuchung notwendige terminologische Klarstellung: Moralische Gefühle sind ein aktualer, bewusster 249 Zustand mit einem spezifischen Affekt, bedingt durch einen rationalen Kern, der auf Urteilen (evaluativen Zuschreibungen) über die Welt in Bezug auf das Verhalten von mir selbst und anderen Menschen sowie der Abstützung durch dispositive Voraussetzungen beruht. Empfindungen dagegen sind nicht gerichtet, also intentionalitätsfrei. Empfindungen kennzeichnen den bloßen körperlichen Zustand, der auf nichts anderes verweist als auf sich selbst. Zu den Elementen, die bei der Definition von Gefühlen eine wichtige Rolle spielen, gehören – wie eben schon angesprochen – kognitive (Überzeugungen, Urteile), voluntative 250 248 Vgl. dazu Bagnoli, C. (2007), Respect and Membership in the Moral Community, Ethical Theory and Moral Practice 10 (2), 113–128. 249 Auch Freud verweist auf die prinzipielle Bewusstheit von Gefühlen. Vgl. Freud, S. (1975), Psychologie des Unbewussten, Studienausgabe Bd. III, hg. v. A. Mitscherlich, Frankfurt am Main: Fischer, 136. 250 In der Literatur findet sich auch eine Unterscheidung von Emotion und Gefühl, die vor allem den intentionalen Charakter als relevante Differenz darstellt. Damasio beschreibt die Objekte einer derartigen Intentionalität genauer und spricht von der Besonderheit der Emotionen, die darin läge, wie sie »mit den komplexen Ideen, Werten, Prinzipien und Urteilen verknüpft sind.« Damasio (2000), 49. Demnach seien Emotionen – wie es sich schon vom Ausdruck ableiten lässt – durch deren Gerichtetheit auf bestimmte Sachverhalte in der Welt ausgezeichnet. Wir folgen dieser Unterscheidung nicht, da sie für unsere Zwecke nicht stichhaltig und ausreichend prägend erscheint. Im Sprachgebrauch lässt sich diese Unterscheidung auch nicht konsequent wiederfinden. Wenn wir von einem Gefühl der Wut, Verzweiflung, Freude oder Eifersucht sprechen, so erkennen wir durchaus auch einen gewissen voluntativen Anteil in dieser Beschreibung unseres Gemütszustandes. Klar unterschieden werden sollen jedoch Empfindungen und Stimmungen. Deren eindeutig passiver Charakter und ihre Selbstbezogenheit rechtfertigen eine begriffliche Trennung. Denker des 17. und

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(Wünsche) und physiologische Reaktionen. Gefühle, wie wir sie auffassen, sind also z. B. nicht mit der Beschreibung von W. James in Deckung zu bringen, wonach diese identisch seien mit dem Bewusstsein physiologischer Veränderungen. Diesem Ansatz folgen wir unter anderem nicht, da das Spektrum physiologischer Veränderungen unseres Erachtens nicht nur ein Zittern oder die Wahrnehmung von Tränen, sondern auch Phänomene der neueren neuro-biologischen Forschung, z. B. neuronale Repräsentationen in Form von elektrochemischen Veränderungen bestimmter Hirnareale, mit einschließen müsste und die Forderung der Bewusstheit von Williams dann auch als reine Reaktion auf Hirnprozesse erweitert werden müsste, was wiederum das Problem der unterschiedlichen Wahrnehmungsfähigkeit 251 (Pulsschlag, Tränen, zerebrale Aktivitäten) aufwerfen würde. Außerdem wird in diesem Ansatz die kognitive Dimension ausgeblendet. Ein Schuldgefühl stellt sich nicht, zumindest nicht völlig, unabhängig von moralischen Urteilen und somit von nicht-physiologischen Zuständen ein. Abschließend kann wohl zu Recht festgestellt werden, dass in der einschlägigen Literatur eine abschließende Fest18. Jahrhunderts. sahen diese Selbstbezüglichkeit auch bei Gefühlen. Die »internal sensations« bei J. Locke sind seelische Empfindungen ohne jeden Weltbezug. Die Motivation war seit der Antike dem überlegenen vernünftigen Seelenteil vorbehalten. Autoren wie Hobbes und Hume dagegen machten die Vernunft zu einem bloßen Instrument der Affekte und Gefühle: »Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.« Hume (19782), 153. Gefühle besitzen keine eigene Rationalität, ob sie nun als äußerliche, von der Vernunft getrennte Phänomene oder als deren motivationale Kraft betrachtet werden. Vgl. Hartmann (2010), 19. Die eigentliche philosophische Domestizierung der Gefühle fand im letzten Jahrhundert mit dem sogenannten Kognitivismus statt. Die in diesem Theorieansatz behauptete konstitutive Verbindung von Gefühlen und Urteilen, Wertungen und Überzeugungen richtete sich dabei besonders auf Gefühle wie Mitleid, Empathie, Scham oder Schuld. Autoren wie Martha Nussbaum oder Ernst Tugendhat vertreten die Position, wonach Gefühle die Bedingung für eine kontextsensible Anwendung von Prinzipien und die Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer moralischen Gemeinschaft überhaupt darstellen (Tugendhat). Vgl. Tugendhat (1993), 60. Zur Trennung von Gefühl und Emotion siehe auch Helm, B. W. (2001), Emotional reason. Deliberation, motivation, and the nature of value, Cambridge: Cambridge University Press, 81: »This is not to deny that in feeling an emotion we may also feel certain bodily sensations that both acompany it and contribute to our overall phenominal experience.« 251 Wenn Williams von Bewusstsein spricht und dieser Ausdruck nicht zu weit gefasst wird, was zu erneuten Unschärfen führen würde, können wir hier auch von »Wahrnehmung« sprechen, um damit die mit seiner Grundthese aufkommende Schwierigkeit der Erkennung von im Text bezeichneten Körperzuständen deutlicher zu machen.

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stellung des Begriffsumfangs für das »Gefühl« bislang noch nicht umfassend gelungen ist und diese aufgrund des explikatorischen Definitionscharakters wohl auch schwer zu finden sein wird. Unzweifelhaft ist die Zuordnung von Phänomenen wie Schuld, Scham, Eifersucht, Wut, Hass, Neid, Stolz, Ekel, Ärger, Furcht und Trauer. Nicht mehr so klar wird es bei Neugier, Überraschung oder gar Liebe. Diese werden von vielen Autoren eher als eine Konfiguration des Willens bezeichnet. Etliche Autoren stellen deshalb auch zu Recht die Frage, ob Gefühle überhaupt eine eigene natürliche Art (natural kind) bilden, also ob es sich um Objekte handelt, die in theoretisch relevanten Hinsichten gemeinsame Eigenschaften haben. Die sogenannte defining-propositions-methodology, mit der versucht wird, bestimmte Propositionen auszubuchstabieren, erscheint deshalb als der vorläufig am besten geeignete Ansatz. 252 Im Anschluss an Kants Motivationstheorie werden wir versuchen, überzeugend darzulegen, dass es eine aus dieser Auffassung weiterentwickelte existenzphilosophische Dimension ist, die eine Person aus freiem Willen zu sittlichen Handlungen unter durchaus erheblichen oder gar maximalen Einschränkungen der »üblichen« 253 persönlichen Interessen (unbedingte Forderungen) veranlassen kann. Zunächst aber wollen wir auf eine der interessantesten Konzeptionen der Berücksichtigung von Gefühlen im Zustandekommen moralischer Praxis überhaupt eingehen. Die Besonderheit ergibt sich in diesem Konzept Kants dadurch, dass er Gefühle einerseits als pathologische Zustände 254, als sinnlich und damit subjektiv einstuft und andererseits das Projekt einer reinen, also ausschließlich objektiv begründeten moralischen Praxis nicht nur aufrechterhalten will, sondern das für ihn entstehende Neigungshindernis mit dem Nachweis eines rein vernunftinduzierten, apriorischen Gefühls zu überwinden versucht.

Vgl. Hartmann (2010), 24. Der Ausdruck »üblich« soll an dieser Stelle helfen, den später noch aufzulösenden Widerspruch »sittliche Handlung vs. personale Interessen« zunächst also solchen festzuhalten. Wir werden später zeigen, dass dieser Widerspruch nur unter der Prämisse eines sehr eingeschränkten Willensbegriffes aufrechtzuerhalten wäre. 254 Der späte Kant relativiert diese pejorative Klassifikation erheblich. Vgl. Kant, I. (19681), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akademie-Textausgabe Band 6, hg. v. der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: de Gruyter, 57. 252 253

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4.2.1 Ein besonderes Gefühl als Triebfeder moralischer Praxis. Als Bürge einer wahrhaft sittlichen Handlung kann weder die Wirkung einer Handlung noch die Neigung zum Objektbereich der Achtung gehören. Allein das spezifische Menschsein, die Person, ist der Gegenstand der Achtung. Mit Kant: Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen. Die letztere können Neigung, und, wenn es Tiere sind (z. B. Pferde, Hunde etc.), sogar Liebe, oder auch Furcht, wie das Meer, ein Vulkan, ein Raubtier, niemals aber Achtung in uns erwecken. Etwas, was diesem Gefühl schon näher tritt, ist Bewunderung, und diese, als Affekt, das Erstaunen, kann auch auf Sachen gehen, z. B. himmelhohe Berge, die Größe, Menge und Weite der Weltkörper, die Stärke und Geschwindigkeit mancher Tiere, u. s. w. Aber alles dieses ist nicht Achtung. 255

Mit der Eingrenzung des Objektbereiches ist freilich noch immer nicht expliziert, worin das moralische Gefühl der Achtung denn selbst begründet sein sollte. Das Gefühl der Bewunderung z. B. eines Naturschauspieles setzt doch zweifellos eine ästhetische Urteilsstruktur voraus. Bewundernswert ist etwas für mich, weil es gemäß meiner der Bewunderung vorangehenden Werturteile, und seien diese tatsächlich nur ästhetischer Natur, eine sinnlich vermittelte Höhe, einen Grad aufweist, der diese Werturteile in einer für gut gehaltenen Weise überragt. Wann verdient dagegen etwas meine Achtung? Kant verweist in seiner ersten Kritik auf die Schwierigkeit, dass wir das uns Menschen eigentümliche Aufschwingen von der Welt des Physischen hin »zu der architektonischen Verknüpfung derselben nach Zwecken, d. i. nach Ideen« 256 deshalb nicht ohne weiteres als achtenswerten Verdienst erkennen, weil wir diese Hinwendung zum Idealen aus der Welt der gebundenen Sinnlichkeit und deren Prinzipien bewerten. Wir neigen sozusagen dazu, den Wert des Intelligiblen mit den Währungen des Phänomenalen zu beurteilen. Der Gegenstand der Achtung ist somit die Wertschätzung des Vermögens, die Natur zu übersteigen und uns mittels unserer Vernunft in Freiheit auf reine Begriffe (Ideen) zu beziehen. Bei Kant finden wir zur inhaltlichen Bestimmung der Achtung Folgendes: Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werte, der meiner Selbstliebe Abbruch tut. Also ist es etwas, was weder als Gegenstand 255 256

Kant, KpV, A 136. Kant, KrV, B 376.

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der Neigung, noch der Furcht betrachtet wird, obgleich es mit beiden zugleich etwas Analogisches hat. Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich notwendig auferlegen. […] Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt. Weil wir Erweiterung unserer Talente auch als Pflicht ansehen, so stellen wir uns an einer Person von Talenten auch gleichsam das Beispiel eines Gesetzes vor (ihr durch Übung hierin ähnlich zu werden), und das macht unsere Achtung aus. Alles moralische so genannte Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz. 257

Gerade weil uns dieses Gefühl an das Moralgesetz bindet, interpretiert Kant es als eine Wirkung des Gesetzes auf das Subjekt. Im Gefühl der Achtung zeigt sich, dass Menschen sich nicht aus der Perspektive dessen allein betrachten, aus der sie überhaupt Urheber ihres eigenen Wollens sein können, nämlich aus der Perspektive der reinen Vernunft. Das Gefühl der Achtung bezeichnet ein Interesse, das alle Menschen am Moralgesetz nehmen. Denn die Kognition des Moralgesetzes ist für uns Menschen nicht vom Gefühl der Achtung zu trennen. »Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung.« 258 Die von uns vorgenommene Definition der Achtung als Wertschätzung anstelle der Vorstellung eines Wertes liegt in der stärkeren Konnotation des Emotionalen. Außerdem glauben wir, dass es nicht das Gesetz – oder irgendein rationales Prinzip – per se ist, das in uns das moralische Gefühl der Achtung evoziert, sondern vielmehr das Vermögen, das uns dadurch zuwächst. Der Kern des hier gemeinten Vermögens besteht darin, Imperative der Neigungen, wenn sie denn Hindernis für eine sittliche Handlung darstellen würden, theoretisch überwinden zu können. Theoretisch deshalb, weil es erst die Achtung als Ergebnis der wertgeschätzten Möglichkeit selbstgesetzlicher Willensbestimmung ist, die als principium executionis die entscheidende Motivation im Sinne abschließender Willensausbildung hervorbringt. 259 Wir können, was wir sollen, wenn wir fühlend verstehen (uns fühlend bewusst wird), wer wir sind bzw. was uns ausmacht. Kant, GMS, Anm. BA 17. Kant, GMS, Anm. BA 17. 259 Wir werden später zeigen, dass es sich um spezifische, durch unsere Existenz geprägte Gefühle handelt, deren konstitutive Bedingung im Wesentlichen in der Hervorbringung einer wahren und wahrhaftigen Existenz beruht. 257 258

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Dieser nun gefundene Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen als performative Bedingungen in besonderer Hinsicht ist zugleich Programm und Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. Diese Forderung für eine sittliche Praxis beschreibt einen Bedingungszusammenhang, der die Frage aufwirft, wie es möglich sein kann, dass die Vernunft ein (apriorisches) Gefühl ohne klaren ausgearbeiteten Übergang hervorbringt: 260 eine sinnliche Empfindung, die Kant Achtung nennt wird, ausschließlich vernunftgewirkt und als dem Gesetz nachgeordnet vorgestellt. Die Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe (der empirischen und rationalen) wird durch diese Widerstrebung einer praktisch-gesetzgebenden Vernunft, wider alle sich einmengende Neigung, durch eine eigentümliche Art von Empfindung, welche aber nicht vor der Gesetzgebung der praktischen Vernunft vorhergeht, sondern vielmehr durch dieselbe allein und zwar als ein Zwang gewirkt wird, nämlich durch das Gefühl einer Achtung […]. 261

Berücksichtigen wir Kants Gefühls-Begriff aus seiner ersten Kritik, wird deutlich, wie schwer er sich mit dieser Kopplung von reiner Erkenntnis und reiner emotionaler Veranlassung moralischer Handlungen tun muss. Die Schwierigkeit zeigt sich, wenn Kant zwar einerseits Gefühle zur tatsächlichen Triebfeder für »alles Praktische« erklärt, andererseits aber eben auch die Erkenntnisquelle aller Gefühle eindeutig dem Empirischen zuordnet. 262 Und wenn er darauf hinweist,

260 Zu diesem grundlegenden begrifflichen Problem sei hier stellvertretend auf die Rezension der Kritik der praktischen Vernunft von August Wilhelm Rehberg verwiesen, die im August 1788 in der Allgemeinen Literaturzeitung veröffentlicht wurde. Im Kern geht es darum, dass Rehberg bezweifelt, dass die reine praktische Vernunft auch unmittelbar praktisch sein kann. Dies ist es, was Kant mit seinem durch die Vernunft gewirkten Gefühl der Achtung behauptet. Rehberg sieht hier ungelöste ontologische Widersprüche hinsichtlich der Art des Übergangs von der Vernunft in die Sinnlichkeit. Für Rehberg würde sich Kants Theorie sowohl der theoretischen als auch der praktischen Vernunft in Widersprüche verwickeln, würde man ihnen Wirklichkeitsgehalt zusprechen. »Es muß also jener Übergang durch etwas mit dem Sinnlichen gleichartiges geschehen, wodurch die reine Vernunft der Zeitbestimmung unterworfen wird, ohne sinnlich zu werden.« August Wilhelm Rehberg, »Rezension der Kritik der praktischen Vernunft«, in: ALZ 188a u. 188b, zitiert nach Stolz, V./Ahlers, R. (Hgg.) (2012), Wille, Willkür, Freiheit: Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Berlin: de Gruyter, 206. 261 Kant, KpV, A 165. 262 Vgl. Kant, KrV, B 29.

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dass Gefühle gar außerhalb des Gegenstandes seiner Transzendentalphilosophie stünden: Alle praktischen Begriffe gehen auf Gegenstände; des Wohlgefallens, oder Mißfallens, d. i. der Lust und Unlust, mithin, wenigstens indirekt, auf Gegenstände unseres Gefühls. Da dieses aber keine Vorstellungskraft der Dinge ist, sondern außer der gesamten Erkenntniskraft liegt, so gehören die Elemente unserer Urteile, so fern sie sich auf Lust oder Unlust beziehen, mithin der praktischen, nicht in den Inbegriff der Transzendentalphilosophie, welche lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat. 263

Der Widerspruch entsteht also aus der Konstitutionsbehauptung der Gefühle durch die Sinne einerseits und dem Anspruch des apriorischen Achtungsgefühls, rein aus der Vernunft gewirkt zu sein, andererseits. Oder anders: Ein Gefühl ist sinnlich und kann so eo ipso nicht apriorisch sein. Da es jedoch das Anliegen der vorliegenden Untersuchung nicht erfordert, diese begrifflichen Schwierigkeiten Kants aus der Aufrechterhaltung der Einheit der reinen Bestimmungs- und Exekutionsgründe sittlicher Handlungen aufzuklären, wenden wir uns wieder stärker der Beschaffenheit der Triebfeder, also des Gefühls, das uns tun lässt, was getan werden soll, zu. Der späte Kant ist sich der Undurchsichtigkeit der eigenen Antriebe sehr bewusst und entzieht deshalb die Ausformung der konkreten Handlung der gesetzlichen Konformitätsprüfung. Die Grenzen der rationalen Introspektion liegen ihm zufolge in einer Art Verborgenheit und Uneinholbarkeit der eigenen Motivbeurteilung. Die größte moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht (daß das Gesetz nicht bloß die Regel sondern auch die Triebfeder der Handlungen sei). – Nun scheint dieses zwar beim ersten Anblick eine enge Verbindlichkeit zu sein und das Pflichtprinzip zu jeder Handlung nicht bloß die Legalität, sondern auch die Moralität, d. i. Gesinnung, mit der Pünktlichkeit und Strenge eines Gesetzes zu gebiete; aber in der Tat gebietet das Gesetz auch hier nur, die Maxime der Handlung, nämlich den Grund der Verpflichtung nicht in den sinnlichen Antrieben (Vorteile und Nachteil), sondern ganz und gar im Gesetz zu suchen – mithin nicht die Handlung selbst. – Denn es ist dem Menschen nicht möglich, so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, daß er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung

263

Kant, KrV, Anm. B 830.

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völlig gewiß sein könnte; wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist. 264

Fassen wir kurz zusammen: Der Mensch vermag mittels seiner Vernunft eine hinreichende Begründung von sittlichen Normen (principium diiudicationis); es bedarf aber aufgrund seiner Unvollkommenheit mehr als nur der intellektuellen Leistung seines Verstandes, um das Eingesehene – material gesprochen das Gesollte und Pflichtgemäße – auch in die Tat umzusetzen (principium executionis). Dieses fehlende X muss aufgrund der humanen Ausgangsbedingungen für eine moralische Praxis ein Gefühl sein und zwar eines, das uns motiviert, mithin eine Emotion. Zur Bestimmung dieses X gehört auch notwendig die Rückbezüglichkeit auf die immer vorangegangene Einsicht in ein Prinzip. Ohne diese Bindung der Emotion an die Kognition würde diese haltlos dem Raum der Beliebigkeit übertragen und damit ihre Gewährsfunktion für Moralität verlieren. Um der Bestimmung dieses Gefühls noch näher zu kommen, baut Kant selbst die Brücke: Die Achtung ist ohne Zweifel das Erste, weil ohne Sie auch keine wahre Liebe Statt findet; ob man gleich ohne Liebe doch große Achtung gegen Jemand hegen kann. Aber wenn es nicht bloß auf Pflichtvorstellung, sondern auch auf Pflichtbefolgung ankommt, wenn man nach dem subjektiven Grunde der Handlungen fragt, aus welchem, wenn man ihn voraussetzen darf, am ersten zu erwarten ist, was der Mensch thun werde, nicht bloß nach dem objectiven, was er thun soll: so ist doch die Liebe, als freie Aufnahme des Willens [Hervorhebung durch GS] eines Anderen unter seine Maximen, ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur (zu dem was das Gesetz vorschreibt, genöthigt werden zu müssen): denn was Einer nicht gern thut, das thut er so kärglich, auch wohl mit sophistischen Ausflüchten vom Gebot der Pflicht, daß auf diese als Triebfeder ohne den Beitritt jener nicht sehr viel zu rechnen sein möchte. 265

Ausgehend von dieser deutlich bedeutungsreicheren Emotion der Liebe erscheint uns eine schlüssige Begründung für die Exekution erkannter Sittlichkeit in Sicht. Im Unterschied zur bloßen Achtung 266 Kant, MdS, A 25 f. Kant, I. (19683), Das Ende aller Dinge, Akademie-Textausgabe Band 8, Abhandlungen nach 1781, hg. v. der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: de Gruyter, 337 f. 266 Achtung resultiert bei Kant zum einen aus der Negierung der Neigungen und zum anderen aus der Schätzung der ausschließlich durch das Gesetz bedingten Kausalität 264 265

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einer Norm oder eines Wertes, der mutmaßlich erhebliche Defizite bezüglich einer hinreichenden Lenkung der Willkür anhaften, schließt der Begriff der Liebe nicht erst seit Sokrates’ Gastmahl ein explizit strebendes Element mit ein. Bei Kants kritischen Schriften zählt die Liebe noch zu den neigungsbedingten und damit pathologischen Gefühlen des Menschen. Zunächst benennt er die Selbstliebe 267 als pathologisch und ordnet dieser die Rolle des Antagonisten im Prozess der sittlichen Selbstbestimmung zu. Denn der Achtung als moralischem Gefühl gelingt die veranlassende Willensbestimmung nur, indem sie der Selbstliebe »alle Ansprüche abschlägt« 268. Es ist die Achtung, die disziplinierend einwirkt und »die es nicht unserer eitlen Selbstliebe überlässt, mit pathologischen Antrieben […] zu tändeln.« 269 Selbstliebe wird bei Kant zum arroganten Objekt der freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz. 270 Aus dieser Engführung gelangt Kant nur zum Teil, wenn er in Kommentierung des christlichen Gebotes zur Liebe Gottes (und seiner Gesetze), in Absetzung von der pathologischen die praktische Liebe einführt. Es ist eine Liebe ohne Neigung, die uns nicht aus Pflicht geboten, sondern nur aufgegeben 271 sein kann. Weil Kant aber diese Pflichteignung deshalb ausschließt, weil »ein Gebot, dass man etwas gern tun soll, […] in sich widersprechend« 272 sei, führt er doch wieder die (unerlässliche) Neigung in den zuvor vom Neigungsbedingten abgegrenzten pathologischen Begriff ein; wie sonst könnte denn »gern tun« sinnvoll verstanden werden, wenn nicht mit unserer Neigung verbunden? Es ist die programmatische Festlegung Kants, die eine neigungsbedingte Komsittlicher Handlungen. Diese »Doppel-Emotion« gilt für Kant wie ausgeführt als hinreichendes subjektives Ausführungsprinzip. Vgl. KpV, A 133. Bereits bei Schiller finden wir die aus unserer Sicht notwendige Ergänzung derart, dass er dem bloßen Achtungsgefühl das der Hochachtung überordnet. In ihm – so Schiller – finden wir ein »freieres Gefühl«, in dem die »Ingredienz der Liebe« enthalten sei. Schiller, F. Über Anmut und Würde. Zitiert aus Ritter (2007), Bd. 1, 75, 379. 267 In Kapitel 10.3 folgen wir Schelers Unterscheidung von Selbst- und Eigenliebe, um das Gefühl der existentiellen Geborgenheit als entscheidenden Affekt, der sich aus ersterer ableiten lässt, darzustellen. 268 Kant, KpV, A 136. Wir werden später dafür plädieren, dass es gerade die aufgeklärte Selbstliebe im Sinne einer für unerlässlich gehaltenen Treue im konkreten Vollzug des Lebens ist, die wesentlich zur Ermöglichung der unbedingten Forderung beiträgt. 269 Kant, KpV, A 153. 270 Vgl. Kant, KpV, A 143, A 153. 271 Vgl. Kant, KpV, A 148 f. 272 Kant, KpV, A 149.

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ponente strikt ausschließen muss, um eine reine »moralische Nötigung« von einer »bereitwillige[n] Ergebenheit« 273 kategorisch abgrenzen zu können. Kant gesteht diese Problematik in seiner 1785 der Kritik der praktischen Vernunft vorangehenden Grundlegung ein, wenn er schreibt: Wie nun aber reine Vernunft ohne andere Triebfedern, die irgend woher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Prinzip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze (welches freilich die Form einer reinen praktischen Vernunft sein würde) ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken, oder mit anderen Worten, wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hiervon Erklärung zu suchen, ist verloren. 274

Kant vergleicht diese Schwierigkeit der Überwindung des Hiatus zwischen apriorischer Gesetzlichkeit einerseits und den von einem Interesse abhängigen Handlungsbedingungen andererseits mit der Unmöglichkeit, die sich beim Versuch der Ergründung der Freiheit als Kausalität des Willens zeigt. 275 Die nachgewiesene notwendige Verbindung von Emotion und Ratio als Bedingung für die Aktualisierung einer Norm im Sinne einer Handlungsinitiative stellt eine für die vorliegende Untersuchung wichtige Ausgangssituation für weitere Betrachtungen dar. Der Versuch Kants zu zeigen, dass Ethik allein auf praktischer Vernunft beruhe und sowohl Urteilsbildung als auch Verhalten bedingt, bedarf einer kritischen Erweiterung. Folglich wird es im Anschluss um eine Deintellektualisierung der motivationalen Dimension des Gefühls gehen. Nur so kann das spezifisch emotionale Element der Motivation als principium executionis moralischer Handlungen adäquat bestimmt werden.

273 274 275

Kant, KpV, A 150. Kant, GMS, BA 124 f. Vgl. Kant, GMS, BA 125.

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4.2.2 Gefühle als »vernünftige« Bestimmungsgründe Im ausdrücklichen Gegensatz zu einer rationalistischen Moralbegründung stehen die Werke der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in London erschienen Autoren Lord Shaftesbury, Frances Hutcheson und David Hume. Übereinstimmend wird die Auffassung vertreten, dass die Moral, die unser Handeln leiten soll, keine begriffslogische Grundlage haben kann. Die Natur der Moral müsse vielmehr auf verifizierbaren, in der Natur erkennbaren (empirischen) Grundlagen beruhen. Die gegenteilige Annahme einer rationalistischen Normenbegründung führt Hume z. B. auf eine Art Selbsttäuschung durch deduktives Denken zurück. 276 Die Bedeutung der Vernunft wird erheblich reduziert, nämlich auf das Vermögen der empirischen Erkenntnis und die Möglichkeit, uns in der Welt bei der Verfolgung unserer Interessen in der Wahl der Mittel (instrumentell) zu dienen. Anders als bei Wolff und Leibniz vermag die Vernunft uns keine Motivation für eine moralische Handlung verleihen; die Vernunft kann uns keine Zwecke vermitteln. Sowohl Gründe als auch Motive erlangen Menschen ausschließlich durch ihre Gefühle und Affekte. Diese internalistische Auffassung bestreitet somit jede normative Tauglichkeit der Vernunft und integriert die Bedeutung von gut und schlecht in den empirischen Kontext der Leidenschaften und Gefühle. Die Differenzierung in rechtfertigende (justifying reasons) und bewegende (exciting reasons) Gründe nahm bereits Hutcheson vor. Im Gegensatz etwa zu Kant spielt dabei für beide Dimensionen moralischer Handlungen die Vernunft keine Rolle. Wie jetzt klar wird, haben wir hier den größtmöglichen Gegensatz einer Moralbegründung vor uns, denn Kant argumentiert gleichfalls internalistisch. Die Vernunft bedarf als Rechtfertigungsinstanz der moralischen Deliberation keiner unabhängig von ihr bewirkten Einflussgröße. Die Achtung ist zwar eine zusätzlich notwendige, aber doch durch die Vernunft und der daraus notwendig folgenden Einsicht in die Gültigkeit des Gesetzes bewirkte Komponente sittlicher Praxis. Hume geht den entgegengesetzten Weg. Ihm folgend hat »man die Ewigkeit, Unwandelbarkeit und den göttlichen Ursprung der Vernunft im hellsten 276 Hier gilt es, kritisch (aus der Perspektive vernunftbasierter Moralbegründung) anzumerken, dass das Primat der Vernunft tatsächlich nur unter der bereits angenommenen Voraussetzung desselben als Bestandteil der eigenen sittlichen Haltung logisch legitimierbar ist.

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Lichte erscheinen lassen« und zugleich die »Blindheit, Veränderlichkeit und das Irreführende der Affekte hervorgehoben«. 277 Hume stellt in seinem Traktat über die menschliche Natur sogleich die Unzulänglichkeit der Vernunft bzw. deren metaphysische Aufladung fest und versucht, die Eigenständigkeit von Gefühlen und deren prinzipielle Bestimmungsfunktion für die Beurteilung der Sittlichkeit zu begründen. Die Vernunft wird auf die Plätze verwiesen, indem er ihre Bedeutung strikt auf die instrumentelle und epistemologische Funktion einschränkt. 278 An deren Stelle tritt der moralische Sinn (moral sense). Diese Möglichkeit innerer Wahrnehmung ermöglicht dem Menschen, die mit der jeweiligen Handlung verbundenen Gefühle moralisch zu billigen oder zu missbilligen. Bemühte sich Kant um ein reines principium executionis, verfolgten Hume und Hutcheson eine Ethik der Gefühle und stützten sich dabei auf die evidente Dichotomie von Erkenntnis und Motivation. Beide – Rationalisten wie Empiristen – besitzen eine Vorstellung vom Guten, nämlich die Erkenntnis im einen und das Wohl im anderen Falle. Gründe und Motivation fallen für die beiden Empiristen in Gefühlen zusammen. Vernunft, so Hume, »ist die Erkenntnis von Wahrheit und Irrtum. Wahrheit und Irrtum aber besteht in der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung entweder mit den wirklichen Beziehungen der Vorstellungen oder mit dem wirklichen Dasein und den Tatsachen. Was also einer solchen Übereinstimmung überhaupt nicht fähig ist – das Gute – kann weder wahr noch falsch und demnach niemals Gegenstand unserer Vernunft sein.« 279 Unsere »Affekte, Wollungen und Handlungen sind einer solchen Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung nicht fähig; sie sind ursprüngliche Tatsachen und Wirklichkeiten, in sich selbst vollendet, ohne Hinweis. […] Man kann also unmöglich von ihnen sagen, daß sie richtig oder falsch sind, der Vernunft entsprechen oder ihr widerstreiten.« 280 Handlungen können für Hume nur lobenswert oder tadelnswert, aber niemals vernünftig oder unvernünftig sein. Die Vernunft versagt, wo uns das Gefühl über die Hume, D. (1973), Ein Traktat über die menschliche Natur, in drei Bänden, Bd. II, hg. v. H. Brand, übers. v. T. Lipps, Hamburg: Meiner, 151. 278 Den Kern dieser Einschränkung der sittlichen Bedeutung von Vernunft greifen wir in Kapitel 10.2 auf und vertreten einen schwachen Vernunftbegriff ohne eigensittliche Substanz im Sinne einer bedingungslosen Deduktionsmöglichkeit des Guten. 279 Hume (1973), 198; vgl. Hume, D. (1984), Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, übers. u. hg. v. G. Streminger, Stuttgart: Reclam, 90. 280 Hume (1973), 198 f. 277

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Hässlichkeit des Lasters und die Schönheit der Tugend in die Lage versetzt, »das Ziel aller moralischen Überlegungen« 281 zu erreichen: uns zu lehren, was unsere Pflicht ist. Die Vernunft ist also für die Praxis des Menschen in sittlicher Hinsicht nicht zuständig, da eine erkenntnisprüfende Funktion in Anbetracht der faktischen Geschlossenheit von Gefühlen sinnlos wäre. Während das Bewusstsein des Wertes oder Unwertes von Handlungen in der Lage ist, unsere Neigungen im Zaum zu halten, ist dies der Vernunft versagt. Sie ist passiv und damit kausal irrelevant für unsere absichtsvollen praktischen Entscheidungen. Die Vernunft »kann darum niemals die Quelle eines so aktiven Prinzips sein wie es das Gewissen oder das Sittlichkeitsbewusstsein ist.« 282 Die Vorrangigkeit der Gefühle zeigt sich für Hume deutlich darin, dass uns die Vernunft allein zu keiner Zeit trotz Folgerungen und Schlüssen zu motivieren vermag. Erst in Verbindung mit Gefühlen des Verlangens oder der Abneigung entsteht der »Einfluss auf unser Benehmen und Verhalten« 283. Hume führt uns damit einen zentralen Aspekt seiner Ethik vor Augen. Anders als bei rationalistischer Begründung des Richtigen durch die Vernunft auf eine serielle, schließende Weise erfolgt die Billigung in seiner Erklärung der Sittlichkeit durch ein »unmittelbares Gefühl und einen feineren inneren Sinn« 284. Hume bewegt sich damit normativ im Bereich hypothetischer Imperative, also im Verständnis der sittlichen Bestimmung aus naturalen Gegebenheiten bzw. Bedingungen und bezweifelt die praktische Vernunft und ihr präskriptives Potential. 285 Während Hume also zum einen durch die mangelnde motivationale Komponente der Vernunft und zum anderen wegen deren NichtHume (1984), 90. Hume (1973), 199. 283 Hume (1984), 90. 284 Hume (1984), 88. 285 So sehr Hume mit seiner Einordnung der Vernunft als den Sklaven der Affekte überzieht und die konstitutive Bezogenheit von Vernunft und Gefühl unterschätzt, so sehr ist die tiefe Verachtung rationalistischer Autoren gegenüber Hume zu hinterfragen. Wir können nicht einen Mechanismus der Art und Weise, wie wir Menschen Handlungen auslösen, per se verachten und stattdessen behaupten, ein anderes Prinzip, das der Vernunft im Sinne einer allseits rechtfertigbaren Denkweise, wäre das vorzuziehende. Hier liegt ein Kategorienfehler vor. Genauso wenig wie wir das Vermögen des Denkens per se zum Gegenstand moralischer Bewertung machen, sondern die Überzeugungen, Absichten und Urteile, die sich daraus ergeben mögen, können wir das motivierte Fühlen, unsere Wünsche, zum Gegenstand einer solchen Verurteilung machen. 281 282

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Zuständigkeit aufgrund der (behaupteten) fehlenden Relationalität der eigentlichen Motivationskräfte, der Gefühle, zu dem Schluss kommt, eine Art Kategorienfehler nachgewiesen zu haben, wenn wir diese zur Fundierung von Handlungsmotiven heranziehen, stellt Hutcheson ergänzend fest, dass die Vernunft (reason) zwar ihre Bedeutung als Beweggrund zur Wahl oder auch als Eigenschaft zur Billigung bestimmter Handlungen haben möge, aber keinesfalls in der Hinsicht, nach der die Vernunft die Übereinstimmung von Aussage und Gegenstand – nennen wir sie Wahrheitsfunktion – darstellt. Denn diese »Art der Übereinstimmung kann uns niemals veranlassen, eine Handlung eher als ihr Gegenteil zu wählen oder zu billigen, denn sie wird gleichermaßen bei allen Handlungen angetroffen.« 286 Grausamkeit und Selbstlosigkeit einer Handlung können gelichermaßen die Bedingungen einer reinen Kongruenzforderung der Vernunft erfüllen. Durch diese evidente Indifferenz kann also auch diese Funktion der Vernunft nicht der Beweggrund freier Handlungen sein. Selbsthass, Eigenliebe, Bosheit oder auch Wohlwollen gegenüber anderen dagegen schließt sämtliche Neigungen ein und es kann keinen Beweggrund vor diesen Neigungen geben. 287 Hutcheson moniert zu Recht die rationalistische Vergessenheit der prinzipiellen Differenz von sensus (Leidenschaft des Verstandes) und den appetitus sensitivus (Leidenschaft des Willens). 288 Hume bezieht sich in ähnlicher Absicht auf die klassische Unterscheidung der Philosophie in spekulative und praktische, »und die Sittlichkeit wird dabei immer dieser letzteren zugerechnet.« Darin – so Hume weiter – »liegt die Voraussetzung, daß sie unsere Affekte und Handlungen beeinflusst, und über die ruhigen und gleichgültigen [passiven, GS] Urteile unseres Verstandes hinausgeht.« 289 Diese wesentliche Vernachlässigung führte schließlich dazu, dem Verstand nicht nur theoretische Vermögen zuzuschreiben, sondern eben auch das des Strebens, der Absicht und der Liebe. 290 Hutcheson antwortet auf den Vorhalt eines Rationalisten, das Urteil über Gut oder Böse sei unmöglich durch ein Gefühl zu entscheiden, weil wir auch unsere Gefühle zum Gegenstand der Beurteilung von Gut oder Böse machten. Dieses Argument ist eine Vari286 Hutcheson, F. (1984), Erläuterungen zum moralischen Sinn, aus d. Engl. übers. und hg. v. J. Buhl, Stuttgart: Reclam, 11. 287 Vgl. Hutcheson (1984), 14. 288 Vgl. Hutcheson (1984), 14 f. 289 Hume (1973), 197. 290 Hier sei auf die kantische Konstruktion der Achtung in Abschnitt 4.2.1 verwiesen.

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ante des theologisch-voluntaristischen Arguments: Wenn Gott bestimmt, was gut und böse ist, können wir nicht sagen, Gott sei gut. Hutchesons Erwiderung lautet: A sense approving benevolence would disapprove that temper which a sense approving malice would delight in. The former would judge of the latter by his own sense, so would the latter of the former. Each one would at first view think the sense of the other perverted. But, then, is there no difference? Are both senses equally good? No, certainly, any man who observed them would think the sense of the former more desirable than of the latter; bat this is because the moral sense of every man is constituted in the former manner. But were there any nature with no moral sense at all observing these two persons, would he not think the state of the former preferable to that of the latter? Yes, he might, but not from any perception of moral goodness in the one sense more than in the other. Any rational nature observing two men thus constituted with opposite senses might by reasoning see, not moral goodness in one sense more than in the contrary, but a tendency to the happiness of the person himself, who had the former sense in the one constitution, and a contrary tendency in the opposite constitution. 291

Halten wir also fest: Die Vernunft wird bei den Empiristen Hutcheson und Hume strikt eingehegt. Ihre Funktion ist vorrangig wissenschaftlichen Aufgaben zugewiesen (epistemologische Funktion). Auf dem Gebiet der Moral wird diese Funktion in einer Art Klärungsfunktion tätig. Wie verhält es sich mit dem tatsächlichen, einer möglichen Handlung zugrundeliegenden Sachverhalt? Ist mein moralisches Gefühl der Sache angemessen oder nicht? Die zweite Rolle der Vernunft besteht in der Analyse und Bewertung der Zweck-Mittel-Relation (instrumentelle Funktion). Wie erreiche ich das durch mein Gefühl motivierte Ziel am besten? 292 Nach dieser Prüfung der emotionalen Adäquatheit folgt also eine Prüfung der natürlichen Gelingensbedingungen und die daraus resultierende Meinungsbildung. Die Sittlichkeit als eine Disposition des Menschen »erregt Affekte und erzeugt oder verhindert Handlungen. Die Vernunft allein aber ist hierzu ganz 291 Hutcheson, F. (1971), Illustrations on the Moral Sense, ed. by B. Peach, Cambridge: Harvard University Press, 133. 292 Welche spezifischen Kriterien sich hinter dem Ausdruck »am besten« verbergen mögen, hängt zweifellos von dem jeweils gegebenen sachlichen Kontext ab. Mag es sich um die Reduzierung der Risiken, des erforderlichen Aufwandes oder Steigerung der angenehmen, resp. Verringerung der unangenehmen Gefühle oder einem je daraus zu bestimmenden Optimum handeln.

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machtlos; die Sittenregeln sind folglich keine Ergebnisse unserer Vernunft« 293. Vernünftig im Zusammenhang mit sittlichen Handlungen bedeutete schon für Hutcheson, dass der Handelnde die in seiner Macht stehenden Handlungsalternativen in Betracht zieht, sich wahre Meinungen über ihre gewöhnlichen Auswirkungen bildet und sich dann entscheidet, wozu ihn seine natürlichen Instinkte 294 antreiben, und im geringsten Maß die Dinge verwirklicht, die ihm aufgrund seiner natürlichen Neigungen zuwider sind. Genauer: Die Beweggründe eines Wesens, das nur eigennützige Neigungen besitzt, sind die Wahrheiten, die zeigen, welches Ziel oder Ereignis ihm das meiste Vergnügen bringen würde. Sie würden es dazu bewegen, danach zu streben. 295 Die Gefühle sind demnach der Dreh- und Angelpunkt unserer sittlichen Praxis. Die Vernunft ihr dienender Begleiter. Der die Willkür verhindernde Maßstab ist die Menge des Allgemeinwohls. Bislang noch unverständlich ist der in jeder Ethik notwendige und zur Beurteilung der präskriptiven Angemessenheit einer jeden Handlung im moralischen Kontext benötigte Maßstab der Sittlichkeit. Hutcheson, der die Lehre vom moralischen Sinn von Shaftesbury aufgreift, verdeutlicht dieses Gefühl als einen Teil des internal sense, eine Art Instinkt der Billigung oder Missbilligung. Ausgehend vom Begriff der Angemessenheit führt uns Hutchesons sittliche Fundierung einer Handlung auf frappierende, weil nahezu unmittelbare Weise zu den modernen Grundgedanken einer auf Verständigung und reziproker Wertschätzung und dadurch begründeter Erwartung basierenden Moralphilosophie. Befassen wir uns aber zunächst noch näher mit dem Begriff des moral sense. Mit der Prämisse, dass es nur Gefühle sein können, die eine Handlung motivieren, wäre eine durch die Vernunft gelenkte Handlung womöglich als frei im Sinne nicht durch Neigung und Instinkt bestimmt zu bezeichnen. Eine Handlung aus »bloßer Wahl« wie dem beiläufigen Bewegen eines Fingers gleich. Würde diese Handlung, sei sie von größtem Nutzen oder Schaden für die betreffende menschliche Gemeinschaft, allein aufgrund ihrer Unmotiviertheit durch Gefühle als verdienstvoll oder schätzenswert zu Hume (1973), 197 f. Hutcheson verteidigt die Verwendung des Wortes »instinct« im Zusammenhang mit seiner emotional fundierten Moral gegen das reduzierte Verständnis davon als »Antriebe des Willens, oder für körperliche Kräfte, die uns bestimmen, ohne daß wir von irgendeinem Zweck wissen oder einen solchen mit Absicht verfolgen.« Solche Instinkte können nicht die Triebfeder der Tugend sein. Hutcheson (1984), 74. 295 Vgl. Hutcheson (1984), 20. 293 294

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bezeichnen sein? 296 Mit dieser Infragestellung der peorisierenden Bewertung von Gefühlen als unvernünftige Beweggründe, die notwendig und damit nicht aus freier Entscheidung in uns wirksam werden, beleuchtet Hutcheson die Fragwürdigkeit der exklusiven Moralität sogenannter freier Handlungen. Hutcheson macht deutlich, dass die Vernunft ohne Zwecksetzungen nicht bewegen kann und Zwecke prinzipiell Instinkte oder Neigungen voraussetzen. Freiheit in diesem Zusammenhang bedeutet eben, nicht unbedingt zu handeln, sondern aus bewussten und bejahten Gründen, die im Fall moralischer Verpflichtungszusammenhänge zusätzlich einer Wohlbegründetheit bedürfen. Hier halten wir den von Hutcheson verwendeten Begriff der Angemessenheit für nahezu äquivalent. Nicht der Erfolg einer Handlung alleine, auch nicht die zugrundeliegende Meinung und deren Wahrheitswert und auch nicht die bloße Gesinnung sind der Maßstab für eine gute Handlung. Eine Handlung ist gut, wird deshalb auch gebilligt und als verdienstvoll bezeichnet, wenn diese angemessen ist. Angemessenheit ist, was den sittlichen Endzwecken gemäß gewählt wird. Endzwecke und die diesen Zwecken dienenden Handlungen sind angemessen, wenn sie von allen vernünftig handelnden Wesen gebilligt, also als angemessen wahrgenommen werden. 297 In den Begriffen von »angemessen« und »Wahrnehmung« könnten exakt die Motive liegen, die Kant und viele Rationalisten mit ihm dazu veranlassten, nach einer unbestechlichen, für den menschlichen Geist eindeutig fassbaren Richtgröße zu suchen. Gefühlen scheint wegen ihres phänomenalen Charakters diese objektive Bestimmungsqualität wesentlich zu fehlen. Hinzu kommt, dass die Tatsache, eigenen Gefühlen entsprechend zu handeln, in deren Augen weniger erstrebenswert, ja sogar die Sittlichkeit aufhebende Folgen mit sich führt. Beide Annahmen führten zu dem mehrfach genannten emotionsaversiven 298 Denken rationalistischer Moralphilosophen. Auf beide Motive möchten wir kurz eingehen. Worin liegt der Sinn von »eindeutiger Richtgröße«? Darin, dass wir unabhängig von subjektiven Befindlichkeiten oder Anlagen in bestimmten Situationen immer zum selben sittlichen Urteil finden?

Vgl. Hutcheson (1984), 76. Vgl. Hutcheson (1984), 44. 298 Höchst interessant ist der in diesem Adjektiv enthaltene Widerspruch. Es waren unserer Meinung nach Gefühle, die z. B. Kant dazu veranlassten, einen von diesen Geisteszuständen unabhängigen Richter für Moralität zu suchen. 296 297

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Oder auch darin, dass wir über diese sittliche Entscheidung – womöglich wegen ihrer wesenhaft auf Mitmenschen gerichteten Bedeutung – präzise zu sprechen in der Lage sein müssten? Ersteres greift Hutcheson damit auf, dass er zwischen Handlungen aus bloßer Leidenschaft und solchen aus ruhigem, vernunftbegleitetem Verlangen unterscheidet. Und er zieht letztere vor, wenn er schreibt: »Und es muss zugegeben werden, daß die vollkommenste Tugend eher in dem ruhigen, leidenschaftslosen Wohlwollen als in bestimmten Neigungen besteht.« 299 Gegeben, dass wir unserem moralischen Gefühl die Eile und Hitze einer Affekthandlung entziehen und ihr unser Vermögen zu prüfen und zu überlegen an die Seite stellen, ist dieses Gefühl der Billigung oder Missbilligung so verlässlich wie die Schlüsse eines modus ponens. Zugegeben, es bedarf einer anthropologischen Annahme, um die Richtigkeit dieser Aussage zu begründen, nämlich der Annahme, dass der Mensch als zōon politikón ein soziales Wohlwollen in der Beschaffenheit seines Geistes mit sich führt. Dies als zu voraussetzungsvoll zu bezeichnen, würde zur dann berechtigten analogen Infragestellung der sittlichen Adäquatheit von gesetzesmäßigen Vorstellungen für das Wohl der Menschen auf dieser Erde führen. Gesetze dieser Art sind doch ihrerseits abstrakte sprachliche Konkretisierungen, die nicht (zumindest nicht ausschließlich) etwa auf ein humanes Wohl gleicher – also rationaler – Natur zielen, sondern sich in letzter Begründung immer auch auf Gefühlszustände der politisch relevanten Menschen beziehen. Folterung ist nicht unsittlich, weil sie zu einer rationalen Verletzung führt, sondern weil sie den Anspruch auf körperliche Unversehrtheit einer Person verletzt und diese ist uns erst seit kurzem und noch immer nicht überall »heilig«, weil wir um die Gefühle der Machtlosigkeit, der damit verbundenen grenzenlosen Verzweiflung und schließlich der absichtlich zugefügten grausamen körperlichen Schmerzen durch die freie Verfügung von Mitmenschen als mitfühlende Wesen wissen. Im Falle der Egalisierung der Rechte von Frauen und Sklaven verhält es sich nicht anders. Die Erweiterung der Sensibilität (der sinnlichen Wahrnehmung) für fühlende Mitmenschen auf Frauen und Sklaven als gleich fühlende Wesen führte zur juristischen Gleichstellung und Beseitigung von traditionsbegründeten oder religiös überlieferten Ordnungen. Überall sind es Gefühle in ihren verschiedenen Hinsichten; nennen wir es Glück oder Wohl der Menschen, die uns die entscheidende normative Inspiration 299

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sind. Die Vernunft liest gewissermaßen in uns, sie greift auf und verdeutlicht. Die Vernunft (die Sprache und die durch sie symbolisierte Geltung) vermittelt nur, sie ist nicht selbst der Grund. Ein Leben in der Vernunft enthält zwingend die Maßgeblichkeit von Gefühlen. Die Frage also könnte lauten, ob Aussagen und Urteile als Vorstellungen der Vernunft nicht (nur) als Werkzeuge für die Verständigung (den Diskurs) über das Wohl von uns Menschen betrachtet werden sollten. Das Gefühl ist doch mehr. Es ist auch eine Funktion unserer vernünftigen Vorstellungen. 300 Es ist wohl nicht zu bestreiten, dass sowohl unsere Vorstellung als auch die damit verbundenen Gefühle vom Begriff des Wohlwollens in vielerlei Hinsichten von der aktuellen Bewertung der in der Welt vorfindlichen Sachverhalte abhängen. Und weiter: Diese Bewertung unterliegt auch unserem Wissen. Beratungen wären sinnlos, wenn das beim Beratenen hinzugekommene Wissen über den Menschen betreffende Sachverhalte nicht zu einem neuen Begriff von »Wohl« beitragen könnte und mein moralisches Gefühl aber auch das Gefühl der Selbstsorge dadurch neue oder zumindest veränderte Verursachungsbedingungen erhielte. Der zentrale philosophische Konflikt zwischen Vernunft und Gefühl beruht auf der Verkennung ihrer Verbundenheit. Der Versuch Kants, den begrifflichen »Untergang« für die Lüge durch die Vorstellung einer diese vorschreibenden Universalisierung (Maximen einer öffentlichen Ordnung) nachzuweisen, basiert tatsächlich auf dem Faktum der Vernunft. 301 Wie aber soll aus dieser objektiven und reinen Form eines Gesetzes in positiver Form die Sittlichkeit in ihrer vielschichtigen Erscheinung menschlicher Praxis ausbuchstabiert werden? Eine sittlich schlechte Handlung muss nach Kants radikal apriorischem Verständnis allgemein gedacht die Bedingung ihrer Möglichkeit aufheben. Weil wir vernunftbegabte Wesen sind, dies also in der Lage sind zu denken, sind wir verpflichtet, gemäß dem Sittengesetz zu 300 Dazu werden wir im Zusammenhang mit Nagels Auffassung moralischer Motivation und der Diskussion um internalistische und externalistische Konzepte noch genauer eingehen. 301 Dazu Kant: »Es ist aber auch nicht eine Vorschrift, nach welcher eine Handlung geschehen soll, dadurch eine begehrte Wirkung möglich ist (denn da wäre die Regel immer physisch bedingt), sondern eine Regel, die bloß den Willen, in Ansehung der Form seiner Maximen, a priori bestimmt, und da ist ein Gesetz, welches bloß zum Behuf der subjektiven Form der Grundsätze dient, als Bestimmungsgrund durch die objektive Form eines Gesetzes überhaupt, wenigstens zu denken, nicht unmöglich. Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, […]«. Kant, KpV, A 55.

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handeln. Durch die Tatsache, dass der kategorische Imperativ auf keinerlei »empirischen Anschauungen gegründet ist« 302, vermag er das menschliche Verständnis von Sittlichkeit als die Eigenschaft einer Handlung, die das Wohl der moralischen Gemeinschaft fördert, nicht abzudecken. 303 Um es deutlich zu zeigen: Wenn Menschen bereit sind, ungeachtet persönlicher Nachteile Werte oder Prinzipien in konkreten Situationen zur Geltung zu bringen und diese gegen alle Widerstände zu verwirklichen versuchen, lässt sich das nur sehr bedingt mit der begriffslogischen formalen Struktur des kategorischen Imperatives begründen. Der Mensch wird im Zweifel gerade aus Zusammenhängen des Naturreiches, jenseits des Reiches der Zwecke, durch Triebfedern sittlicher Gefühle gestützt, zu Handlungen in der Lage sein, die wir als heldenhaft und erhaben wertschätzen würden. Die darin enthaltene Moralität kann nicht durch Kants Diktum von der absoluten Bindung derselben an das Verhältnis der Handlung zum allgemeinen Sittengesetz 304 verstanden werden. 305 Das, was uns Kant, KpV, A 57. Kants Theorie der sittlichen Handlung basiert auf der Vermeidung formaler, strikt nicht empirischer Widersprüche. Wie könnte damit vorgestellt werden, dass Werte, die per definitionem aus den jeweiligen Lebenskontexten und den damit verbundenen übergeordneten Nutzenüberlegungen überhaupt erst entstehen, ihrer Realisierung würdig werden. Wie kann der Kampf um Freiheit von Mitbürgern aus dem KI abgeleitet werden? Zu prüfen wäre, ob die Negation, also die Unfreiheit, als Gestaltungsprinzip eines Gemeinwesens einen hier relevanten formalen Widerspruch hervorbringen würde. Wer Menschen unfrei macht oder diese Verhältnisse nicht ändert, beseitigt damit aber noch lange nicht die Bedingung der Möglichkeit des Freiheitsbegriffes. Ganz im Gegenteil: Das erlebte Leid von Menschen lässt auf zynische Weise den tragischen Mangel an wünschenswerten Verhältnissen erst richtig hell erleuchten. Die Verallgemeinerung von Unfreiheit – hier im politischen Sinn – schließt ihr Gegenteil, die Freiheit, begrifflich niemals aus. Das liegt daran, dass das von Kant (bewusst) gewählte Beispiel der Lüge ein rein rationales Definiens besitzt. Die (politische) Freiheit besitzt aber einen explanatorischen Vorstellungsinhalt. Der KI wurde von Kant also in der Tragfähigkeit seines Ansatzes überschätzt. Vgl. dazu auch Patzig (1971), 58 sowie bei Korsgaard: »the Kantian approach leaves it unclear what the scope of universal laws must be, and makes the partly unKantian suggestion that this must be settled by considering an agent’s practical identity.« Korsgaard (2013), xiv. 304 Vgl. Kant, GMS, BA 85 f. 305 Zur Funktion moralischer Prinzipien äußert sich Frankfurt sehr treffend: »Es scheint mir, daß die wesentliche Leistung der Prinzipien der Moral darin besteht, die universellen und kategorischen Notwendigkeiten auszuführen und zu erhellen, die den menschlichen Willen einschränken. Sie entfalten eine Vision, die unsere Liebe inspiriert. In unseren moralischen Idealen sind gewisse Lebensbedingungen und -qualitäten, denen unsere liebende Hingabe gilt. Der Sinn der Moralgesetze liegt in der Kodifizierung der rationalen Ordnung der persönlichen und sozialen Beziehungen 302 303

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Handlungen dieser und anderer Art im moralischen Kontext billigen und schätzen lässt, ist auch nach Hutcheson das darin enthaltene Gefühl. Jeder sollte sein Innerstes befragen, ob einerseits eine Handlung bloßer Wahl ohne Neigung, Mitleid, Liebe oder »aus dem Verlangen nach allgemeinem Glück, auch nicht aus einer Abneigung gegen die Leiden anderer, sondern auf Grund einer solch gefühllosen Entscheidung« 306 verdienstvoll ist und ob andererseits »in einem weichen, mitfühlenden Herzen kein Verdienst liegen soll, das bei jedem Schmerz seiner Mitmenschen zusammenzuckt und über ihr Glück Freude empfindet und sich mit wohlwollenden Neigungen und starkem Verlangen um das allgemeine Wohl bemüht.« 307 An dieser Stelle wird der fundamentale Unterschied zwischen tugend- und pflichtethischer Auffassung von Sittlichkeit deutlich. Tugend ist nicht die sittliche Gesinnung für gesetzeskonforme Handlungen aus Pflicht 308, sondern die Form eines emotional abgestützten Charakters, die Verfassung einer Person, die allgemein nützliche Handlungen in einem absichtlichen Verhalten (Freiheitsbedingung) aus Einsicht in die zugrundeliegenden Gründe dispositiv vollzieht. Hierzu Kant: Die sittliche Stufe, worauf der Mensch (aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftige Geschöpf) steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener von selbst gern unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens. 309

Es kann nicht deutlicher gefasst werden, wie wenig Kant von der prinzipiellen Bedeutung der Gefühle und Neigungen für sittliche Handlungen ausgeht. Es ist die in seiner Formulierung »Gesinnung im Kampfe« ausgedrückte Vorstellung, wonach moralische Praxis das Gütesiegel einer rein vernunftbegründeten Motivation bedürfe. Dabei verkannte der neuzeitliche Aufklärer, dass selbst die Befolgung von Menschen, die nicht anders können, als sich um die für das Leben aller rationalen Wesen grundlegendsten Endzwecke zu sorgen.« Frankfurt, H. (2016), Sich selbst ernst nehmen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 65. 306 Hutcheson (1984), 75. 307 Hutcheson (1984), 75. 308 »Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht«. Kant, GMS, BA 87. 309 Kant, KpV, A 151.

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vernünftiger Imperative einer adäquaten, emotionalen Veranlassung bedürfen. 310 Wenn Damasio Emotionen als musterbildende Reaktionen beschreibt, die letztlich eine regulatorische Funktion haben und zur Entstehung von Umständen führen, die für den Organismus vorteilhaft seien, 311 können wir das auch auf moralische Emotionen übertragen. 312 Das Bewusstsein macht hier sozusagen keinen Unterschied, ob es sich um eine körperliche oder in unserem Fall eine psycho-eidetische Homöostase 313 handelt, die regulatorisch angestrebt wird. Der Ausdruck »psycho-eidetisch« soll für eine bestimmte Form von Bewusstsein stehen, auf die wir zu einem späteren Zeitpunkt im Zusammenhang mit dem Ausdruck autoeidetische Struktur noch genauer eingehen werden. Nur so viel an dieser Stelle: Ein Zustand der psychologischen Homöostase beschreibt eine Art von Gleichgewicht, das sich auf bestimmte innere Antriebs- und Hemmungskräfte meines Bewusstseins bezieht. Speziell dann, wenn diese Kräfte durch Objekte komplexer Ideale, Prinzipien oder anderer sittlicher Urteile bedingt

310 Spätestens, wenn wir aufgrund neuester neurophysiologischer Erkenntnisse erfahren, dass es sich selbst bei Bewusstsein, also einschließlich dem, was wir vernünftige Einsichten nennen würden, um Gefühle handelt, die uns aus Strukturen vermittelt werden, die »mit dem nicht sprachlichen Vokabular der Gefühle« (Damasio (2000), 375) arbeiten, wird deutlich, wie unsinnig und hinfällig die teilweise auch von Kant und vielen anderen Autoren radikal gedachte Trennlinie zwischen Gefühlen und rationalen Kognitionen ist. Emotionen sind ein integraler Bestandteil von Denkund Entscheidungsprozessen. Vgl. Damasio (2000), 55 f. 311 Vgl. Damasio (2000), 68. 312 Selbst wenn eine gegebene böse Neigung (Emotion) besiegt und damit der Wert der Handlung aufgrund der überwundenen entgegengesetzten Antriebe von anderen Menschen höher geschätzt würde, leuchtet nicht ein, dass das so sein muss. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein vernünftiger Mensch mit ausgeprägten, wohlwollenden, emotionalen Dispositionen aufgrund des geringeren zu erwartenden Widerstreits bei seiner moralischen Willensbildung ab initio weniger tugendhaft sein könnte. Hier wird klar, dass die Bedingungen der durchaus komplex beeinflussten Willensbildung einer sittlichen Bewertung des Handelnden entzogen werden müssen. Es ist nicht plausibel, den Überwindungserfolg von schlechten Neigungen als Steigerung der Sittlichkeit gegenüber einem durch und durch wohlwollenden Menschen zu betrachten. 313 Der Begriff der Homöostase spielt in der vorliegenden Untersuchung eine zentrale Rolle. Zunächst für physiologische Reaktionen verwendet, die weitestgehend automatisch koordiniert und erforderlich sind, um in einem lebenden Organismus stabile innere Zustände hervorzurufen, findet er in dieser Untersuchung eine Erweiterung auf psychologische Prozesse, die mittels Emotionen ihre regulatorische Funktion aufrechterhalten.

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werden, sprechen wir von psycho-eidetischen 314 Prozessen. Es sind diese Vorgänge in unserem Bewusstsein, die auch im Umfeld einer radikal risikobehafteten, sittlichen Handlung (unbedingte Forderung) eine zentrale Rolle spielen und im Dienste einer geistigen Lebensregulation durch Emotionen die menschliche Praxis nicht nur im moralischen Kontext weitestgehend bestimmen. Gefühle sind somit nicht nur integraler Bestandteil rationaler Einsichten durch deren Bewusstsein, sondern sind auf das engste mit den fundamentalen moralischen Kategorien von Gut und Böse verbunden. Bei Hutcheson und Hume wird dies über drittpersönliche Billigung bzw. zugesprochenem Verdienst oder Missbilligung, bei Damasio und einer Vielzahl von anderen zeitgenössischen Autoren über die neurostrukturell nachgewiesene Verbindung der Emotionen mit Belohnung oder Bestrafung, Lust oder Schmerz, persönlichem Vorteil oder Nachteil ersichtlich. 315 Gefühle sind nicht sittlich blind. Ganz im Gegenteil, Gefühle bilden im Ergebnis die normative Grundlage für eine rational beeinflusste, jedoch zu keiner Zeit exklusiv hervorzubringende sittliche Praxis. Wenn wir eine Lebensführung entlang lebenserhaltender, zuträglicher und gemeinschaftsbildender Handlungen für vernünftig halten, kommen wir nicht umhin, unsere dieses Leben begleitenden Gefühle als letzte Begründung für normative Prinzipien und damit auch als höchst rational zu bezeichnen. Die Frage, woraus Gefühle normative Gültigkeit beanspruchen, lässt sich wie folgt beantworten: Moralisch relevante Gefühle sind keine freischwebenden Stimmungen oder Launen. Der intentionale Kern dieser Gattung von Gefühlen ist nicht etwas, womit ein vorhandenes Gefühl quasi zusätzlich befrachtet wird, sondern als Kern ist er konstitutiv für das Gefühl selbst. Sich für das Wohl anderer Menschen einzusetzen wird durch ein Gefühl des Wohlwollens gestützt, das ohne den intentionalen Gehalt des altruistischen Wohles nicht existieren würde. Die wei314 Abgeleitet aus dem griechischen Wort eîdos für Gestalt, Form oder Idee. In der vorliegenden Untersuchung wird eîdos als eine geistige Ordnungseinheit verstanden, die im aristotelischen Sinn als ein wirkmächtiges Seiendes unseres Bewusstseins verstanden wird. Als ein Gestaltungsprinzip unseres Bewusstseins, das vor allem in Bezug auf unser Selbst sowohl dynamische (Dynamis: Potential) als auch veranlassende Funktionen im fortlaufenden Prozess unserer Selbstbestimmung und -werdung übernimmt. 315 Vgl. Damasio (2000), 72. Die Verbindung von wohlwollender Neigung als Ursache und allgemeiner Nützlichkeit als Ergebnis ermöglicht uns Glück. Damit wäre – so auch Hutcheson (1984), 80 – die logische Verbindung von Emotion und Moralität geschaffen.

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Das principium executionis moralischer Handlungen

tere kausale Betrachtung bezüglich der Wirksamkeit derartiger Absichten, die zunächst auch nur Vorstellungen einer möglichen Hilfeleistung ohne jede persönliche Gebundenheit und veranlassende Kraft sein könnten, rührt aus der schon erwähnten autoeidetischen Struktur des betreffenden Menschen. Weil der Mensch nicht nur als Wesen existiert, das seine materialen Voraussetzungen und Bedingtheiten in den Blick nimmt, sondern sich als geistiges Wesen immer auch im sittlichen Verhältnis zu seinen Mitmenschen versteht und auch gar nicht anders kann, entsteht dieser homöostatische Druck und die daraus hervorgehende Relevanz für seine Praxis. Es ist letztlich die Idee der Moral, der Sittlichkeit, die uns als Kategorie unseres Denkens diese zusätzliche existenzielle Bedingtheit zuweist. Wie uns der Durst aus den vegetativen Verhältnissen unseres Körpers als bewusstes Phänomen vermittelt wird, nötigt uns unser Geist – vermittelt über unsere autoeidetische Struktur – wertend Stellung zu uns selbst zu beziehen. Wenn Hutcheson und Shaftesbury vom Vergnügen 316 und der Faszination 317 der schönen Erscheinungsform der Tugend sprechen, wissen wir jetzt, wo diese herrührt. Die rationalistisch herbeigeredete Bedrohung praktischer Freiheit durch die Befolgung von Neigungen führte zu lange zu einer philosophischen Missachtung von Gefühlen und einer unterschätzten Rolle derselben für ein umfassendes Verständnis von Moralität. Die Synthese aus den beiden defizienten Positionen der Rationalisten und Emotivisten könnte also lauten: Einsichten, Erkenntnisse und Urteile sind geistige Phänomene, die unsere exekutiven Prinzipien, Gefühle, zu beeinflussen vermögen; wie es umgekehrt unsere Emotionen sind, die uns überhaupt erst antreiben, diese geistige Welt für uns zu erschließen. Der Geist formt, das moralische Gefühl ist das material Geformte. Oder in metaphorischer Form: Die Vernunft erhellt den Weg des ihr vorausgehenden Gefühls, das selbst nicht weiter begründbar ist. Im Unterschied zum Menschen stehen einfacheren Tiergattungen lediglich exekutive Kräfte gegebenenfalls unter Determinanten der fördernden oder hemmenden Erfahrung zur Verfügung. Der Mensch aber besitzt exklusiv eine zusätzliche, akzidentiell determinierende Vorstellung für seine Handlungen. Diese Vorstellung entsteht aus seiner vernunftevozierten Notwendigkeit, Stellung beVgl. Shaftesbury, A. (1905), Untersuchung über die Tugend, übers. und eingel. v. P. Ziertmann, Leipzig: Meiner, Teil 1. 317 Hutcheson (1984), 85. 316

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ziehen zu wollen und zu müssen (autoeidetischer Druck). Der Horizont dieser Stellungnahme ist dabei unser Selbst. Wir denken uns als Wesen, die sich genötigt fühlen, sich in eine bewertend wahrgenommene Weltsituation verantwortlich einbeziehen lassen zu müssen. Der Mensch – mit Helmut Plessner – ist sich nie ganz instinktsicher, er reflektiert und zweifelt aufgrund seiner exzentrischen Positionalität. Als grenzrealisierende Wesen übersteigen wir diese in unserer sittlichen Praxis und beziehen uns als Akteure in die kontinuierlich in Veränderung befindliche Gleichung unserer vernünftigen Weltauffassung mit ein. Der vernünftige Mensch wird sich selbst immer auch objekthaft im Weltkontext bewusst und damit zu einem Parameter seiner Weltbetrachtung und Weltbewertung. Die Sittlichkeit nimmt am Wohl der Menschen ihr Maß und wird durch ein dem Menschen eigenes Sensorium (moral sense) erfasst sowie über dessen motivationales Vermögen in der moralischen Praxis realisiert. Diese besondere Gattung der Gefühle (autoeidetische Gefühle) ist vernünftig, weil sie sich einem rationalen Begründungsgeschehen, vermittelt durch unsere autoeidetische Struktur, verdankt. Es handelt sich dabei um eine Vernunft, die nicht im Humeschen Sinne bei der instrumentellen und epistemologischen Funktion stehen bleibt, sondern das Wohl unserer Mitmenschen – nicht nur die Effizienz einer Zweck-Mittel-Kalkulation oder die Prüfung von Vorstellungsverhältnissen – zum Gegenstand hat. Dieses Vermögen der Vernunft unterscheidet sich von den beiden anderen Aspekten wesentlich dadurch, dass es ohne eine Wertvorstellung und deren impliziten Verwirklichungswürdigkeit nicht auskommt. »Vernünftig« steht hier also nicht für eine rationalistische Begabung zur Gesetzeserkenntnis (Kant), sondern für die Befähigung, das Wohl der Menschen in den bedeutendsten Hinsichten relativ zu den fraglichen Handlungen beurteilen zu können. Wie wir im letzten Abschnitt sehen konnten, handelt es sich bei dem Ausdruck »Rationalität« um einen außerordentlich vielschichtigen Begriff. Da dieser sowohl als Gegenbegriff zu Neigungen und Gefühlen und den damit verbundenen normativen Begründungsansprüchen als auch als Bezeichnung für Überlegungen verwendet wird, die sich im Begriffsumfeld der Nützlichkeit und Effizienz bewegen, soll im nachfolgenden Abschnitt eine Präzisierung vorgenommen werden, die auch noch einmal zeigen wird, dass das scheinbare Spannungsverhältnis zwischen Gefühl und Rationalität in eine koprinzipielle Beziehung überführt werden kann. 131 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

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Ursprünglich vom griechischen nous abgeleitet, erfuhr der Begriff der Vernunft eine gewisse Wandlung. Für Platon noch das Wahrnehmen und Begreifen in einer intellektuellen Anschauung, mittels der der Mensch den Aufstieg zur Ideenschau bewältigen kann, verändert sich mit dem Ausdruck »lógos« als eine Art objektiver Kosmos-Vernunft der Sinn und beschreibt eher ein Weltprinzip (Protagoras), das auch bei Aristoteles als dasjenige bezeichnet werden kann, das als Prinzip (archē) selbst nicht in Mitleidenschaft gezogen werden kann und unvermischt ist. 318 Der Zusammenhang von Natur und Vernunft erhält vor allem zur Zeit der römischen Stoa im Begriff der ratio eine wichtige Bedeutung. Seneca bezeichnete mit ratio die spezifisch menschliche Denkleistung, die ihrerseits an die Natur zurückgebunden aufzufassen wäre. Natur und Vernunft bilden nach diesem stoischen Begriff ausdrücklich keinen Widerspruch. In seinen Gesprächen in Tusculum fragt Cicero: »Ist irgendetwas naturgemäß, was gegen die Vernunft (ratio) geschieht?« 319 Und Chrysipp identifiziert das gemeinsame Gesetz (ὁ νόμὸσ ὁ κοινός) mit der rechten Vernunft (ὁ ὀρυὸς λόγος). 320 Vernunft bedeutet für ihn nicht nur formale Fähigkeiten und Normen, sondern vor allem etwas, das alles durchdringt und die Wirklichkeit verwaltet; sie manifestiert sich also in natürlichen Kräften, Tendenzen, Gesetzen und Ordnungsstrukturen. Die aus menschlicher Sicht betrachtet nichtsprachliche Wirklichkeit ist ihrerseits ein geordnetes Sinngebilde. Der Mensch verfügt in einer Vgl. Aristoteles (19953), Physik. Vorlesung über Natur, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 6, übers. v. G. Zekl. Lizenzausgabe, Hamburg: Meiner, Buch VIII, Kap. 5, 256 b. 319 Cicero (1998), Gespräche in Tusculum. Tusculanae disputationes, mit ausführlichen Anm. neu hg. v. O. Gigon, Düsseldorf: Artemis & Winkler, 4. Buch, 79 f. 320 Vgl. Diogenes Laertius (1967), Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch I–X, übers. v. O. Apelt, unter Mitarb. v. G. Zekl neu hg. sowie mit Vorw., Einl. u. neuen Anm. zu Text u. Übers. vers. v. K. Reich, Hamburg: Meiner, VII, 87 f. 318

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zweiten Bedeutung der Vernunft über diese als Fähigkeit, mittels der er sich auf dieses Sinngebilde beziehen kann. Mit der Vernunft vermag der Mensch sich sonach durch Urteile, Urteilszusammenhänge und Sprache im Allgemeinen über die Welt, wie sie ist und wie sie sein sollte, auszudrücken. Die Natur also in ihrem νόμὸσ κοινός gebietet den Menschen auch in sittlicher Hinsicht über Gut und Böse. Der Mensch als ein auf eine politische Gemeinschaft ausgerichtetes Lebewesen erkennt in ihm und damit durch die Vernunft, was er zu tun und was zu unterlassen hat. Damit wird die normative Funktion und kanonische Geltung des Naturgesetzes überaus deutlich. Die Vernunft ist also in der gesamten Natur am Werk und kommt im Vernunftwesen des Menschen zu sich. 321 Während im Mittelalter Vernunft als Vermögen übersinnlicher Erkenntnis (intellectus) vom diskursiven, schlussfolgernden Denken (ratio) unterschieden wurde und nach der Übersetzungstradition von Eckhart und Luther die Vernunft als ratio einem untergeordneten, begriffsbildenden Erkenntnisvermögen gleichgesetzt wurde, klärt Kant den philosophischen Gebrauch der »Vernunft« endgültig. Die Vernunft (ratio) – so Kant – ist als das »Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien« dem diskursiven Verstand überzuordnen. Der Verstand stellt demnach das Vermögen zur Einheitsbildung von Erscheinungen unter Regeln (Kategorien) dar, und die Vernunft ist es, die wiederum die Einheitsbildung dieser Verstandesregeln unter Prinzipien ermöglicht. Wobei ein Prinzip eine Art abstrahierte Einsicht in Gestalt von Begriffen, die ihrerseits das Besondere im Allgemeinen erkennen lassen, darstellt. Der Vernunftschluss ist somit »die Ableitung einer Erkenntnis aus einem Prinzip.« 322 Der Gegenstand der Vernunft sind also nicht unsere Anschauungen, sondern Begriffe und Urteile. 323 Damit entzieht sich die Einheit der Vernunft der Einheit der Erfahrung und wird dem Gegenstand möglicher Erfahrung, deren Erkenntnis jederzeit bedingt ist, zugeordnet. Diese Unbedingtheit der vernünftigen Einheitsbildung ist es, die der Vernunft ihre Apriorizität verleiht und im Gegensatz zur sinnlich vermittelten Erkenntnisleistung aus den apriorischen Kategorien des Verstandes ein (reines) Denken in Prinzipien ermöglicht. 324 Diese 321 322 323 324

Vgl. Forschner (1998), 13 ff. Kant, KrV, B 357. Vgl. Kant, KrV, B 364. Kant erläutert dies näher: »Vernunftbegriffe dienen zum Begreifen, wie Verstan-

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transzendentale Funktion der theoretischen Vernunft bietet sich nun als Brücke zu der im vorliegenden Kontext deutlich wichtigeren praktischen Vernunft an. Diese teilt mit der theoretischen Vernunft im kantischen Verständnis ihr spezifisches Vermögen apriorischer Erkenntnisermöglichung. Ist diese Erkenntnis im Fall der theoretischen Vernunft eine schließende, also innerhalb des Denkens und seiner formalen Bedingungen verbleibende, so behält zwar auch die praktische Vernunft ihren Ursprung im apriorischen Denken, hat aber in der Bestimmung des (sittlichen) Willens einen Gegenstand, der sich auf die Handlung prinzipiell frei gedachter, vernunftbegabter Menschen (Personen) bezieht. Allgemein also meint Vernunft das Vermögen, den Bereich der Sinne, der Natur zu übersteigen. Im einen Fall (theoretischer Gebrauch) ist es das Übersteigen der Sinne beim Erkennen, im anderen (praktischer Gebrauch) das beim Handeln. Die praktische Vernunft als ein Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, heißt bei Kant auch Wille, sodass die praktische Vernunft für ihn nichts anderes als das Vermögen zu wollen ist. 325 Die praktische Vernunft verdankt ihre besondere Stellung dem Vermögen, über das empirisch Weltgegebene hinauszugehen, und ermöglicht dem Menschen die Vorstellung des Gesollten. Sittliche Imperative, die die bloße Erfüllung der wechselseitigen Erwartungen einer moralischen Gemeinschaft übertreffen, wären ohne »das Vermögen der Ideen« 326, wie Kant später in seiner Kritik der Urteilskraft die Vernunft bezeichnet, als präskriptive Bestimmungsgründe unseres Willens nicht denkbar. Wir sind verpflichtet, so weit wie möglich desbegriffe zum Verstehen (der Wahrnehmungen). Wenn sie das Unbedingte enthalten, so betreffen sie etwas, worunter alle Erfahrung gehört, welches selbst aber niemals ein Gegenstand der Erfahrung ist: etwas, worauf die Vernunft in ihren Schlüssen aus der Erfahrung führt, und wonach sie den Grad ihres empirischen Gebrauchs schätzet und abmisset, niemals aber ein Glied der empirischen Sythesis ausmacht.« Kant, KrV, B 367 f. 325 Vgl. Kant, GMS, BA 37 sowie Höffe, O. (2007), Immanuel Kant, 7. Aufl., München: C. H. Beck, 178. Hinzuzufügen wäre, dass Kant in dieser begrifflichen Fassung eigentlich nur den reinen Willen, also den durch apriorische Gründe bestimmten Willen, meint. An anderer Stelle wird der Wille freilich durchaus auch mit seinen neigungsrelevanten Bestimmungsgründen verhandelt (vgl. BA 1, 2; BA 14) und dadurch klargestellt, dass der Wille keineswegs notwendig, objektiv durch das Gesetz bestimmt wird, sondern auch das Vermögen einschließt, nach anderen Bestimmungsgründen zu handeln. Wenngleich jedoch – mit Höffe gesprochen – zutrifft, dass Kant mit dem Ausdruck »Wille« in den meisten Fällen den reinen, guten oder apriorisch bestimmten Willen meint. Vgl. Höffe (2007), 179. 326 Kant, KdU, B 112.

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für die Wahrheit einzutreten, doch nur eine klare Unterscheidung zwischen dem, was wahr ist, und dem, was ideal oder mit einem Sollen verbunden ist, wird uns ermöglichen, beides einander anzunähern. Aber nichts an dem, was war, muss festlegen, was sein könnte oder sollte – solange das, was war, erklärbar ist. Kants Idealismus betont die Ähnlichkeiten zwischen den Wissenschaften und der Moral. Für beide gilt, dass sie von Vernunftideen abhängen, die nicht selbst objektiv sind – da sie ja nicht in der Erfahrung gegeben sind und mithin nicht gewusst werden können. 327 Auf eben diesen Aspekt der geschichtlichen Ungebundenheit rationaler Begründungsinhalte verweist Tugendhat und erweitert diese Autonomie der Rationalität, wenn er schreibt: Es scheint mir aber, daß, wenn man die praktische Frage, wie sie Sokrates verstanden hat, überhaupt stellt, sie diesen rationalen Sinn hat, indem sie alle Begründungen durch Autoritäten und Traditionen ausschließt, und daß sie es ist, die zu der Idee einer Anthropologie führt, in der man sie nicht nur in einem Gegensatz zur Metaphysik sehen muß, sondern ebenso im Gegensatz zu Orientierungen am Geschichtlichen. 328

Dabei bedeutet Vernunft nicht zwingend das Ende von Glauben. Nicht Glaube selbst steht im Widerspruch zur Vernunft, sondern die möglichen Implikationen dieses Glaubens. Beinhalten diese eine prinzipielle Nachrangigkeit oder gar Hinfälligkeit der Vernunft und fordern im Gegenzug die dekretierte Autorität einer offenbarten Wahrheit, wäre dieser Widerspruch in philosophischer Hinsicht unausweichlich, aber nur dann. Die Vernunft impliziert ihrerseits einen Drang, über das Faktische hinauszutreten. Wir wollen von der Welt nicht nur bestimmt werden, uns passiv zu ihr verhalten, sondern wir wollen sie auch bestimmen. Wir fühlen uns am lebendigsten, wenn wir uns nicht nur als Teil der Natur verstehen, sondern mittels der Vernunft über sie hinausgehen. Diese Anlage zur Transzendenz der Dinge ermöglicht dem Menschen ein Bedürfnis nach Würde. »Bedeutung […] gewinnt menschliches Leben erst im Gegensatz zur Erfahrung.« 329 Die Möglichkeit des Menschen, sich über die Welt der Fakten zu erheben und sich damit vom »Faden der Natur und des 327 328 329

Vgl. Neiman (2013), 174. Tugendhat (2010), 53 f. Neiman (2013), 128.

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Schicksals« 330 zu lösen und das Verlangen, sie in moralischen Kategorien zu betrachten, sind ein Strukturmerkmal der Vernunft. 331 So das Mögliche in Anbetracht des Gegebenen zu denken, stellt die Bedingung für das Bewusstsein vom Sollen im Reich der Tatsachen dar. Ein weiterer wichtiger Prüfstein für die Kennzeichnung der normativen Eigenschaften der Vernunft ist das, was wir eine fundamentalistische Weltsicht nennen und im Umfeld der unbedingten Forderung durchaus – zumindest assoziative – Relevanz hat. Handlungen aus Vernunft unterliegen einem besonderen Verhältnis zur Kritik. Der letzte Bezug auf rational einsehbare Gründe und die selbstverständliche Akzeptanz der intersubjektiven Bereitschaft zur Kritik derselben unterscheidet eine vernünftige sittliche Fundierung vom Fundamentalismus. Wo der Fundamentalist sich mit totaler Gleichgesinnung und persönlicher Anerkennung zufrieden zeigt, fordert der Mensch mit einer rationalen sittlichen Verankerung die Richtigkeit und Angemessenheit seiner Handlung und den Prozess der Auseinandersetzung und Stellungnahme, der diese verbürgt. Moral aus Überlegung bildet den Kern einer vernünftigen Normenbegründung. Jenseits dieser geschichtlichen und systematischen Einordnung der Vernunft weist der Begriff der Rationalität im zeitgenössischen philosophischen Diskurs eine semantische Vieldeutigkeit auf, die eine weitere Präzisierung erforderlich macht. Der Gegenstand der theoretischen Vernunft sind Meinungen und deren Angemessenheit bezüglich einer zugrunde gelegten Realitätsvorstellung; die praktische Vernunft bezieht sich auf Normen und Handlungen sowie Wünsche und Ziele. Praktische Rationalität ist ihrem Sinn nach immer relativ zu Gründen und damit an substantielle Rechtfertigungsinhalte gebunden. Wenn wir nach Gründen fragen, fragen wir, was für diese oder jene Handlung spricht. Wir kritisieren Handlungen in einem Rechtfertigungsvorgang danach, ob diese gut oder schlecht, effizient oder ineffizient, richtig oder falsch sind. Dabei gilt es, zu erkennen, dass normative Ansprüche aus sittlichen Erwartungen jenseits voluntativer Konzepte ihrerseits begründungswürdig sind. Obviously if we are going to raise the question whether we can endorse our moral nature, we must appeal to some standard, in terms of which we may judge morality to be good or bad. Morality must be endorsed

330 331

Kant, KrV, B 491. Vgl. Neiman (2013), 14.

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or rejected from a point of view which itself makes claims on us and so which is itself at least potentially normative. 332

Wir behandelten diesen Aspekt der notwendigen Rückbindung ethischer Kategorien bereits bei der Begriffsfindung der Werte. Wenn wir uns jenseits metaphysischer Annahmen und Ableitungen bewegen, muss es vernünftige Gründe für die Autorität normativer Behauptungen geben. Dabei kann die Vernunft selbst jedoch immer nur die Rolle der Hüterin korrekten Denkens übernehmen. Selbst die von Kant behauptete Faktizität alleine genügt nicht, um das Geflecht von wechselseitigen Erwartungen (Moral) einer Gesellschaft grundzulegen. Zwar leitet sich daraus der Prüfstein der Universalisierbarkeit ab. Dieser ist aber nur transzendental maßgeblich, im Sinne der Aufrechterhaltung der Möglichkeitsbedingung der fraglichen Praxis. Wahrhaft grundlegend können nur Antworten anthropologischer Natur sein. Also Antworten, die sich auf ein umfassendes Verständnis wünschenswerter und humaner Lebensweise im Einklang mit unserer Natur 333 beziehen. Oder wie Seneca die Frage formulierte: »Quid est autem quod ab illo ratio haec exigat?« (Was aber ist es, was diese Vernunft von jenem fordert?) und schließlich auch beantwortete: »rem facillimam, secundum naturam suam vivere.« (Die einfachste Sache; gemäß der Natur zu leben.) 334 Offensichtlich wird diese Forderung einer anthropologischen Normfundierung dann, wenn wir uns vorstellen, es gäbe eine planetarische Judikative außerhalb der menschlichen Spezies und diese würde in der Festlegung moralischer Regeln zwar die transzendentale Forderung des kategorischen Imperativs einhalten, aber ansonsten in der Findung ihrer sittlichen Standards auf die Lebensbedingungen des homo sapiens keinerlei Rücksicht nehmen. Dieser wäre nur eine Art unter vielen und würde trotz der zuerkannten Vernunftbegabung keinerlei Merkmale aufweisen, die ihn gegenüber den restlichen Lebewesen in irgendeiner Weise privilegieren würde. Dieses Gedankenexperiment zeigt sehr schnell, dass die aus menschlicher Perspektive

Korsgaard (2013), 54. In dieser Formulierung ist der traditionelle Naturbegriff gemeint, der das Wesen menschlichen Seins im Ganzen umschließt und nicht wie später im modernen Verständnis, wo spezifisch alles objekthaft unter Gesetzen Determinierte darunter verstanden wird. 334 Seneca (2007), Epistulae Morales Ad Lucilium, Bd. 1, hg. und übers. v. G. Fink und R. Nickel, Düsseldorf: Artemis & Winkler, Ep. 41, 220. 332 333

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notwendige Subsistenz durch die bloße Einhaltung des kategorischen Imperatives innerhalb der überlegenen Spezies in größte Gefahr geraten würde. Der Mensch könnte Gegenstand von Zucht, Jagd, Ausrottung oder schlicht ignoriert werden, ähnlich wie wir es mit dem ein oder anderen Insekt halten. Ein möglicher Einwand könnte mit Kant lauten, dass die Selbstzweckhaftigkeit vernünftiger Wesen sowohl subjektiv als auch objektiv sei und deshalb für alle vernünftigen Wesen, also auch für die fiktiven Wesen des Gedankenexperiments, gelten würde. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass dieser Anspruch durch die unterstellte überlegene Vernunftausstattung der dominierenden Spezies zweifellos ähnlichen Graduierungsüberlegungen unterworfen werden würde, wie wir Menschen das mit unseren nächsten Verwandten mit beachtlichen anthropozentrischen Abgrenzungsinhalten und -argumentationen seit jeher tun. Normen, wie wir sie auffassen, sind deshalb implizit immer am Wohl (Gefühle, Nutzen, Überleben) des individuellen Menschen und im besten Fall an der ganzen Spezies orientiert. Inwieweit Imperative aus dem Überlebensinteresse der Spezies vom Individuum im konkreten Fall als gerechtfertigt zu betrachten sind, ist ständiger Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und wird nicht selten im Kontext sogenannter Haltungsfragen besprochen. Halten wir also fest: Eine normative Fundierung guter Praxis alleine aus der Vernunft kann nicht gelingen. Der nomative point of view erhält seinen Blickwinkel durch Interessen. Interessen, die keineswegs nur der Eigenliebe im engeren Sinne entspringen, sondern die auch durch vernünftige Deliberation gewonnene Wertüberzeugungen und das Wohl anderer einzuschließen vermögen. 335 Innerhalb der praktischen Vernunft finden wir eine Form der Rationalität, die sich ausschließlich auf den Mittel-Zweck-Zusammenhang bezieht. 336 Dabei unterscheiden wir im engeren Sinne die Vernunft, die sich ausschließlich auf den zweckadäquatesten Einsatz von Mitteln beschränkt – die instrumentelle Vernunft – von der zweckVgl. die Ausführungen zum Eigeninteresse in Kapitel 10.3. Vgl. hierzu auch bei Kant den Imperativ der Geschicklichkeit in seiner Grundlegung, BA 42. Kant macht den Mangel an normativer Gebundenheit deutlich, wenn er schreibt: »Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur was man tun müsse, um ihn zu erreichen.« Kant, GMS, BA 41. Vgl. auch die Unterscheidung von Wert- und Zweckrationalität bei Weber, M. (1980), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen: Mohr, 13. 335 336

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rationalen oder prudentiellen Vernunft, die außerdem auch die Abwägung der Ziele einschließt und somit die umfassendere Form formaler Rationalität darstellt. 337 Die wohl radikalste Reduzierung der Vernunft auf den instrumentellen Aspekt finden wir bei Hume. 338 Der schottische Moralphilosoph degradiert die Vernunft zum Sklaven 337 Ein Problem der prudentiellen Rationalität ist die Frage, ob nur gegenwärtige oder auch künftige Wünsche, von denen man nach allgemeiner Erfahrung vermuten kann, dass man sie später haben wird, berücksichtigt werden sollen. Entweder verstehen wir diese als nicht rational, dann wäre eine Person, die künftiges Übel oder künftige Vorteile absolut kalt lassen, rational. Das widerspricht unserer Auffassung von rational. Oder zukünftige Wünsche gelten als rationale Gründe, dann entsteht die Frage, ob die Berücksichtigung dieser künftigen Wünsche eine Beleg dafür sein könnte, dass Überlegungen bezüglich der Zukunft mein jetziges Handeln beeinflussen können, ohne jetzt schon ein (motivierender) Wunsch zu sein (vgl. Gosepath (1999), 30), oder ob die motivierende Wirkung aus dem Blick in die eigene Zukunft ihrerseits auf einen darauf beruhenden aktualen Wunsch, nämlich den der Sicherstellung künftigen Wohls, zurückzuführen sein könnte. Eine Methode könnte darin bestehen, dass zwischen dem aktuell gegebenen Wunsch und dem auch künftig nach allgemeiner Erfahrung gegebenen Wünschen interpoliert wird und somit eine zeitliche Ausdehnung des Gegenwartswunsches auf die Zukunft erfolgt. Mit Bezug auf diesen latenten Wunsch ist es dann (prudentiell) rational, vorzusorgen bzw. die Implikationen künftiger Wünsche im Hier und Jetzt als eine Art zeitlich übertragenen Wunsch wirksam werden zu lassen. Dies ist im Übrigen als Grund zu nennen, weshalb A. Sens Kritik an ausschließlich konsequentialistischen Motiven ins Leere läuft. Auch die Wertschätzung, die Bindung an Werturteile, übersetzt unsere Psyche in potentielle Wohl- und Leid-Konsequenzen. Sodass es sich bei der Annahme konsequentialistischer Motivationsbedingungen keineswegs zwingend auch um »rationale Trottel« (Sen, A. (1999), »Rationale Trottel – Eine Kritik der behavioristischen Grundlagen der Wirtschaftstheorie«, in: S. Gosepath (Hg.), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt am Main: Fischer, 76–102) handeln muss. Der Präferenzbegriff muss deshalb unseres Erachtens erweitert werden. Moralische Pflichten, künftige Präferenzen und Wünsche aus der Bindung an ethische Urteile müssen als Verursacher rationaler Gründe in Verbindung mit den entsprechenden Emotionen (Motiven) bewertet werden. Derek Parfit befasst sich eingehend mit den Kriterien einer konsistenten Position, die behauptet, die radikale Verwirklichung meiner Eigeninteressen (Position S) zum einen oder die Berücksichtigung ausschließlich gegenwärtiger Wünsche (Position P) zum anderen sei maßgeblich für die motivationale Gewichtung meiner aktuellen Handlungen (Parfit, D. (1984), Reasons and Persons, Oxford: Clarendon Press, Kapitel 8). Wir werden im Fortgang die Auffassung vertreten, dass es eben dieser Zusammenhang von vorgestellter, künftiger Selbstauffassung und Selbstbeziehung sein kann, der uns Menschen bei gegenwärtigen praktischen Fragen bis hin zur unbedingten Forderung in der Lage ist zu bestimmen. Vgl. hierzu auch im Kapitel 5.3.2 den Versuch Nagels, aus dieser Berücksichtigung künftiger Wunschzustände eine hinreichende rationale Möglichkeit motivationaler Bewusstseinszustände abzuleiten. 338 Vgl. Kap. 4.2.

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einer jedweden Zielsetzung 339. Vernunft hat für Hume – wie schon ausgeführt – keinerlei sittliche Autorität. »Sittliche Unterscheidungen sind daher keine Erzeugnisse der Vernunft« 340. Selbst die prudentielle Form der Rationalität lässt sich bei Hume nicht ausdrücklich finden. Die Vernunft folgt bei Hume, aber nicht nur bei ihm, ausschließlich einem hypothetischen Imperativ (vorausliegende Wünsche), wird also ausschließlich durch naturale Gegebenheiten und deren Realisierungsbedingungen bestimmt. Während es sich sowohl bei der instrumentellen als auch bei der prudentiellen Rationalität um eine Eigenschaft von Handlungen handelt, bezeichnen wir in unserer Alltagssprache Menschen als rational, wenn sie rationale Wünsche und Ziele haben und außerdem in Bezug auf diese rational handeln. Rationalität bezüglich Personen ist somit ein Dispositionsprädikat. 341 Rational im ersten Sinne meint dabei eine Entsprechung mit den in einer bestimmten Gemeinschaft geteilten Vorstellungen gelingender Lebensführung; rational im zweiten Sinne entspricht der bereits erläuterten Form instrumenteller Geschicklichkeit bezogen auf diese Zwecke. »Rational« ist demnach sowohl ein deskriptiver als auch ein präskriptiver Ausdruck. Jener in der Beschreibung seiner Berücksichtigung, dieser als Anspruch und Norm in Bezug auf eine bestimmte Handlung oder Zielsetzung. Sehen wir von der Humeschen Einengung auf die instrumentelle Funktion einmal ab, können wir uns fragen, worin denn der normative Kern der Rationalität bestehen könnte. Worin also besteht der Maßstab zur Beurteilung des rationalen Gehalts? Im Humeschen Verständnis wäre dies das stimmige Mittel-Zweck-Verhältnis. Was wiederum bedeuteten würde, eine Handlung nach ihrer Effizienz und nur nach dieser zu kritisieren. Effizienz beinhaltet dem Sinn nach jedoch keine materiale Gebundenheit und ist deshalb als eine formale Beschreibung einzustufen. Für unsere Frage nach dem normativen Kern der Rationalität hilft uns dieses Verständnis also nicht weiter, weshalb wir dieses reduzierte Verständnis von Rationalität überwinden müssen. Das präskriptive Gewicht der Vernunft lässt sich nur hinterfragen, wenn wir dem formalen Verständnis ein substanzielles hinzufügen. Gemeint ist eine ethische Substanz, die uns anstatt über eine technische Beschaffenheit über die Gründe der richtigen Lebensweise, also über 339 340 341

Vgl. Hume (19782), 153. Hume (19782), 199. Vgl. Gosepath (1999), 8.

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praktische Gründe, aufzuklären in der Lage ist. Eine Handlung oder ein angestrebtes Ziel gelten in diesem Sinne als rational, wenn diese in einem bestimmten kausalen Verhältnis zu Werten stehen. Bejahen wir den Wert der Selbsterhaltung, werden wir Motive, die dazu dienen, unsere Existenz, aber auch unsere soziale Stellung und unseren Einfluss in der Gesellschaft zu fördern, befürworten. Eine altruistische Handlung kann als rational oder auch irrational beurteilt werden. Entscheidend sind die konkreten Verhältnisse im Hinblick auf die Einschätzung des Beurteilenden bezüglich Bedürftigkeit, Angemessenheit, Vorrangigkeit etc. einer derartigen Handlung. In all diesen Fällen handelt es sich um eine sozial fundierte Rechtfertigung von Praxis und Absicht. Rational gilt demnach als ein Prädikat der Wohlbegründetheit. 342 Der Horizont der substanziellen Normbegründung – jenseits metaphysischer Autorisierung – als rational ist damit aufgemacht und lässt sich als diskursiv, also auf der Basis von einem durch regelmäßige Argumentation errungenen Interessenkonsens der beteiligten moralischen Subjekte, beschreiben. Der Ausdruck »rational« steht damit in enger Verbindung zu dem, was wir im Kapitel 5.3.2 als »moralisch« bezeichnen. Die begriffliche Überschneidung besteht in der sozial vermittelten und ständig verhandelten Vorstellung von jenen Handlungen und Wünschen, die sowohl individueller Realisierung von Glück als auch der adäquaten Berücksichtigung der selbstzweckhaften Personen meiner 342 Zu beachten ist hierbei, dass die Begründung wiederum einer normativen Fundierung bedarf. Das intersubjektiv vermittelte Einverständnis als Ausweis von Rationalität hängt seinerseits in der Luft, wenn zum Verfahren nicht ein substantieller Gehalt hinzutritt. Dieser wäre Voraussetzung für die Begründung von moralischen Behauptungen in einem diskursiven Verfahren. Habermas spricht vom Schauplatz der Rationalität, in dem nichts weiter herrscht als der zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche. Letzte Geltungsbegründungen folgen demnach aus einer sprachlich gebundenen (Sprechakte) und geregelten Verfahrensweise, die einen Konsens hinsichtlich der Konsequenzen aus der Befolgung der für richtig gefundenen Normen auf die jeweiligen Interessen der Teilnehmer ergibt. Vgl. Habermas (1991), 12–14. Als vernünftig gilt die intersubjektiv von allen Teilnehmern einer Gemeinschaft anerkannte Wahrheit. Wenn Tugendhat meint, dass sich Rationalität auf die Fähigkeit von Personen bezieht, Verfahren des Rechtfertigens oder Begründens zu entwickeln, ihnen folgen und über sie verfügen zu können (vgl. Tugendhat, E. (1976), Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 107), verweist er zunächst auf eben diese verfahrensethische Kompetenz (argumentieren, deduktive Schlüsse ziehen). Rationalität wird in dieser Untersuchung gemäß dieser Auffassung von diskursiver Wahrheitsfindung als Wohlbegründetheit zu verstehen sein.

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sittlichen Gemeinschaft dienen. Eine Handlung, die ausschließlich Ersterem dienen und den eudaimonistischen Ansprüchen anderer nennenswert schaden würde, wäre offensichtlich unmoralisch, aber eben aufgrund der intersubjektiven Gelingensbedingungen persönlicher Lebensgestaltung auch irrational. Beide Begriffe sind an die Idee der konsensualen Zustimmungsfähigkeit der betreffenden Anderen gebunden. Trotzdem hat der Ausdruck »rational« einen deutlich größeren begrifflichen Schwerpunkt in der primären Berücksichtigung der Interessen des Akteurs. Während eine Handlung, die ausschließlich anderen nützt, zwar moralisch genannt werden kann, wird diese nicht ohne weiteres als rational zu bezeichnen sein. Eine rationale Lebensführung ist immer auch an das Eigeninteresse der handelnden Person gebunden, moralische Handlungen sind das – zumindest prima facie – nicht. Während also das Humesche Modell lediglich eine Kohärenz von Wunsch, Meinung und Handlung fordert, kommen bei der hier vertretenen substanziellen Rationalität Gründe im Sinne von normativen Inhalten einer möglichen Rechtfertigung hinzu. Vernünftigkeit darf weder als Prinzip rein technischer Wunschverwirklichungsmethoden, noch als Synonym für sittliche Handlungen gesehen werden. Beides findet sich in ihr, aber keines erklärt sie hinreichend. Wir müssen uns davon verabschieden, dass Rationalität ausschließlich im Umfeld des unmittelbaren, oftmals physischen Eigeninteresses sinnvoll begrifflich zu fassen ist. Zu unterscheiden gilt vielmehr: egoistisches Eigeninteresse 343 von altruistischem Eigeninteresse sowie sinnlich begründetes Interesse von geistigem Verwirklichungsinteresse. Rationales Handeln umfasst somit alle folgenden Handlungen: Schmackhafte Nahrung zu sich nehmen, das günstigste Angebot wählen, gesunde Lebensweise vorziehen, Hilfe leisten (Übel von anderen abwenden) unter Gefährdung des eigenen Wohls, falsches Zeugnis verweigern mit dem Preis der eigenen Verurteilung oder gar Tötung 344. Was als irrational zu bezeichnen wäre, ist, wenn der betreffende Akteur eine Handlung aus Zur genaueren Explikation des Eigeninteresses in dem hier verwendeten umfassenderen Sinn sei auch auf das einschlägige Kapitel 10.3 verwiesen. 344 Diese Handlungsoption als rational zu bezeichnen, dürfte nicht unmittelbar einleuchten oder gar kontraintuitiv erscheinen. Nicht zuletzt aufgrund des hohen Gewichts dieser Behauptung für den Kern der vorliegenden Untersuchung wird dieser Zusammenhang entlang dessen näher zu erläutern sein, was hier als autoeidetische Struktur zu bezeichnen sein wird. Deutlich geworden ist jetzt schon, dass die überwundene Dichotomie von Präferenzen, Interessen und Neigungen einerseits und 343

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Motiven vollzieht, die ihren Grund ausschließlich in emotionalen Regungen, Impulsen und Trieben haben, ohne außerdem im Interesse eines anhaltenden physischen Wohlergehens oder der Realisierung von tiefen Wertüberzeugungen zu liegen. 345 Irrationale Handlungen entsprechen somit nicht der Logik der allgemeinen Eigeninteressen, da diese die notwendige Dimension des überwiegenden Nutzens ignorieren. Zugunsten eines berauschenden Gefühls (emotionaler Impuls) eine gefährliche Klippe wegen des dadurch erhofften Nervenkitzels herunterzuspringen und dabei den wahrscheinlichen Tod in Kauf zu nehmen, ist irrational. Schwere Drogen wegen ersehnter veränderter Bewusstseinszustände einzunehmen, unter Inkaufnahme des Verlustes seiner sozialen und wirtschaftlichen Existenz und der Zerstörung der Gesundheit, ist unter normalen Umständen irrational. Ohne Nutzen jedoch, sei es der Rausch, die Befriedigung einer Neigung oder der Verwirklichung von Werten und Selbstkonzepten, gibt es kein Motiv und damit zwingend keinen Willen, eine Handlung auszuführen. Durch diese Naturalisierung der moralisch-exekutiven Dimension menschlicher Praxis wird keineswegs eine Gleichstellung von bloß sinnlicher Vorzugswürdigkeit und sittlicher Pflicht oder Tugend angestrebt. 346 Es ist jedoch ein Plädoyer für eine einheitliche, durch identische biologische Mechanismen von Hemmung und Stimulierung bewirkte Praxis des zōon logon echon. Die tiefe Verachtung, mit der Hume wegen seiner Betonung der Affekte begegnet wird, gilt es zu hinterfragen. Wir können nicht einen Mechanismus, die Art und Weise, wie wir Menschen Handlungen auslösen, per se verachten und stattdessen behaupten, ein anderes Prinzip, das der Vernunft im Sinne einer allseits rechtfertigbaren Denkweise, wäre das vorzuziehende. Hier liegt ein Kategorienfehler vor. Genauso wenig wie wir das Vermögen des Denkens per se zum Gegenstand moraethische (rationale) Prinzipien, Ideale und Werturteile andererseits den Weg zu einer überzeugenden Begründung dieser These ebnen können. 345 Hiernach würde dann auch das bereits als entscheidend definierte Kriterium der Wohlbegründung entfallen und ein Bewusstseinszustand vorliegen, der mit Tugendhat eher mit einer uns dunkel bestimmenden Gefühlsmacht zu beschreiben wäre. 346 Selbst bei Kant finden wir diese Verbindung von sittlicher Praxis und emotionaler Subposition, wenn er schreibt: »Auf diese [Achtung, GS], wenn sie wohl gegründet ist, wenn der Mensch nichts stärker scheuet, als sich in der inneren Selbstprüfung in seinen eigenen Augen geringschätzig und verwerflich zu finden, kann nun jede gute sittliche Gesinnung gepfropft werden; weil dieses der beste, ja der einzige Wächter ist, das Eindringen unedler und verderbender Antriebe vom Gemüte abzuhalten.« Kant, KpV, A 288.

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lischer Bewertung machen, sondern die Überzeugungen, Absichten und Urteile, die sich daraus ergeben mögen, können wir das motivierte Fühlen, unsere Wünsche, zum Gegenstand einer solchen Verurteilung machen. Handlungen aus Gier oder Nächstenliebe werden moralisch nicht egalisiert, wenn wir annehmen, dass deren zugrundeliegender kausaler Mechanismus, bestehend aus neuronalen und mentalen Mustern 347 sowie bestimmten dispositiven Subpositionen, per se der gleiche ist. Die Forderung – so Gosepath –, die bei einer rationalen Handlung (zusätzlich) erfüllt zu sein hat, ist, dass die Person bestimmte Gründe als rechtfertigende Gründe für die Handlung in ihrer praktischen Deliberation (an-)erkennt. 348 Dies sagt selbstverständlich noch nichts über die Überzeugungskraft oder Angemessenheit dieser Gründe aus. Gerade, weil Menschen glücklich sein können, obwohl sie gegen moralische Pflichten verstoßen, kann man sie nach Kant nicht pauschal irrational nennen. Der Bösewicht handelt rational und hat gewissermaßen »gute Gründe« für sein Wollen und Handeln. Er handelt durchaus rational, wenn auch nicht moralisch. 349 Die normative Kraft und Relevanz der Vernunft hängen also unauflösbar an der sprachlich vermittelten Begründungsmöglichkeit betreffender Haltungen oder Handlungen. Begründungen müssen ihrerseits auf zwei kategorial verschiedene Voraussetzungen aufsetzen. Zum einen auf die Wahrheit (epistemologische Bedingung). Nur wenn wir Sachverhalte innerhalb unserer Begründungen anführen, die so auch zutreffen und im Umfang eines geteilten Erkenntnisvermögens überprüfbar erscheinen, können wir von validen Begründungen sprechen. Zum anderen bedarf eine jede sittliche Begründung der Rückbindung an geteilte Werte innerhalb der betreffenden moralischen Gemeinschaft (axiologische Bedingung). 350 Ein assertorischer 347 Damasio spricht von mentalen Mustern im Zusammenhang mit Vorstellungen im Gegensatz zu den ontologisch tiefer liegenden Aktivitäten unseres Gehirns, die er als neuronale Muster bezeichnet. Vgl. Damasio (2000). 348 Vgl. Gosepath, S. (1992), Aufgeklärtes Eigeninteresse. Eine Theorie theoretischer und praktischer Rationalität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, Kap. 5. 349 Vgl. Klemme, H. (20061), »Praktische Gründe und moralische Motivation«, in: H. Klemme/M. Kühn/D. Schönecker (Hgg.), Moralische Motivation: Kant und die Alternativen, Hamburg: Meiner, 113–153, 139. 350 Eine Ausnahme dazu bilden rein formalistische Begründungsansätze. Da z. B. der kantische Imperativ lediglich der Rückbindung der Rechtfertigungspraxis an die Vernunft bedarf und diese mit jeder Art der argumentativen Kommunikation schon als gültiges Kriterium anerkannt zu gelten hat, würde die axiologische Bedingung nicht notwendig erfüllt sein müssen. Wie wir jedoch bereits erläutert haben, kann der KI

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Satz, der die Gleichheit der Chancen für alle Mitglieder behauptet, verliert seine Relevanz in dem Moment, wo der Wert der gleichen Würde aller vernünftigen Wesen und die darin begründete Freiheit nicht (dispositiv-emotional) geteilt würde. Die Sklaverei ließ sich schließlich nicht nur auf dem neuen Kontinent bis ins 19. Jahrhundert vor vielen Gerichten und selbst religiösen Institutionen trotz vernünftigem Selbstverständnis vertreten, sondern auch in der griechischen Antike, der Geburtsstätte der westlichen Kultur, der vernünftigen Begründung unseres Lebens, galten viele Privilegien innerhalb der Polis nicht für Frauen, Metöken und Sklaven. Auch in unserer Zeit zählen Menschen und ihre politischen Systeme, in denen im Namen – oder doch zumindest unter Inanspruchnahme – der Vernunft schreiendes Unrecht Rechtfertigung erfährt, zur Mehrheit unter uns »vernunftbegabten« Wesen. Die sittliche Autorität der Vernunft beruht also auf Wahrheit und Werten. Erstere liegt auch auf der Linie von Hume, letztere bedürfen zwar der Evaluierung durch das moralische Gefühl, liegen diesem jedoch zwingend zugrunde. Tugend wird nicht gut, weil sie sich richtig anfühlt, sondern umgekehrt. Die Frage, ob allein durch Vernunft eine zivilisatorische Errungenschaft wie die Deklaration der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 hinreichend hätte bewirkt werden können, kann negiert werden. Der Grund dafür liegt in dem definitorischen Defizit der Vernunft, dem Gefühl. Ohne eine durch die Menschheitsgeschichte hindurch erfolgte Steigerung der Sensibilität für anderes Leben wären Sklaverei, sexistische Rechtsordnungen, die Verachtung Andersgläubiger und selbst unser modernes Verständnis von Tierschutz nicht denkbar. Vernunft eo ipso fühlt nicht und vermag auf dem Weg reiner Dialektik zu keiner hinreichenden Wertekonstitution, wie wir sie heute verstehen, zu gelangen. Aber: Die Vernunft gewinnt eine wertkonstitutive Funktion in uns Menschen, wenn die Vernünftigkeit zu einem normativen Bestandteil unseres Selbstverständnisses geworden ist. Dann und nur dann, können konventionelle Autoritäten und bloße kontingente Prägungen und Traditionen überschritten und durch die bereits genannten Prozesse einer rechtfertigenden Interaktion (in mir selbst oder mit den Mitgliedern der betreffenden Gefür eine Vielzahl von kontextgebundenen Auffassungen richtigen Handelns keine umfassende normative Orientierung bieten. Aus dieser bedingten moralischen Relevanz ergibt sich auch ein eingeschränkter Widerspruch gegen die genannte Auffassung.

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meinschaft) ersetzt bzw. neu (vernünftig) fundiert werden. Nachfolgend soll erläutert werden, wie eine derartige Selbst-Konzeption aufgefasst werden könnte. Es ist entscheidend, diese normative »Autorität« zum einen mittels einer Fähigkeit zu verstehen, die wir aufgrund ihrer begrifflichen Ähnlichkeit als eine besondere Form der Vernunft zu beschreiben haben. Dieser formalen Beschreibung muss aber zum anderen auch eine inhaltliche hinzutreten. Denn, wie schon ausführlich erläutert, liegt es in der Natur der Vernunft, wie wir sie verstehen, gleich auf welche Form der Vernunft wir uns auch beziehen mögen, dass diese ohne weiteres keine exekutive Funktion mit sich führt. Rationalität als Wohlbegründetheit impliziert eine diskursive Tauglichkeit der Gründe. Selbstbestimmung in diesem Sinne muss demnach notwendig eine rationale Form haben, deren Inhalt durch unsere Auffassung von uns als existierende Menschen im Kontext sozialer Beziehungen festgelegt wird. 351 Wir bezeichnen diesen Typus der Rationalität deshalb als existentielle Rationalität.

5.1 Die existentielle Rationalität Bisher kamen wir zu dem Ergebnis, Rationalität als Wohlbegründetheit im Sinne einer sprachlich ermöglichten und intersubjektiv vermittelten Eigenschaft von Wünschen und Handlungen zu definieren. Es bedarf demnach zunächst einmal einer bestimmten, geteilten Vorstellung von Richtigkeit. Ohne diese wären Gründe begrifflich nicht zu fassen. Im Falle der instrumentellen Rationalität hat das Wort »Richtigkeit« den Sinn einer erfüllten technischen Geltungsbedingung. Handlungen gelten demnach dann als rational, wenn sie ihrer Wahl der Mittel nach in Bezug auf diese technischen Geltungsbedingungen (Kosten, Zeit, Risiko) zieladäquat erfolgen. Im Fall der prudentiellen Rationalität geht es bereits um mehr: Welche Zwecke oder Ziele sollten verfolgt bzw. im konfligierenden Fall bevorzugt werden? Nicht das »Wie«, sondern das »Wozu« oder »Was« rücken in den Mittelpunkt der Rationalitätsbeurteilung. Die Gründe, also Geltungsbedingungen der Richtigkeit, müssen auch hier notwendig über das zu Begründende hinausreichen. Weil anders als im Fall der Erkenntnisgründe, bei denen es sich um die logische Voraussetzung des betreffenden Gegenstandes, also Urteile oder Überzeugungen, 351

Vgl. dazu Kapitel 5.5.2 zum Sich-zu-sich-verhalten.

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dreht, 352 zielt die Richtigkeit der prudentiellen Rationalität auf etwas durch den Wunsch oder das Ziel Bezwecktes. Also vergleichbar mit der causa finalis des Aristoteles. Richtig ist demnach z. B. der Wunsch, der meinen Interessen, als übergeordnetem Geltungshorizont, am besten dient oder entgegenkommt. Der jeweils dualen Beziehung von Mittel und Zweck (instrumentell) folgt die von Wunsch und Interesse. Wünsche werden zu sekundären Werkzeugen einer potentiellen Interessenlage. Die deutsche Übersetzung dieser Form der Rationalität als Klugheit insinuiert schon, dass die Richtigkeit der betreffenden Wunschpräferenz in den meisten Fällen durch einen übergeordneten Begriff des subjektiven Nutzens beurteilt wird. Um an dieser Stelle diese semantisch in der Umgangssprache schwer zu trennenden Ausdrücke in eine eindeutige Reihenfolge zu bringen, bietet sich in Anlehnung an R. Lauth die Würdigkeit der unterschiedlichen Geltungsbezüge an. 353 Menschen verfügen über eine Stimme im Sinne einer Gemütsbewegung, die uns unmittelbar anzeigt, welches Maß an Würdigkeit dem in Frage stehenden Horizont meiner Begründungen zukommt. Wir können näherungsweise von einer Art eudaimonistischen Intuition sprechen, die uns verrät, welche Bedeutung den verschiedenen Sphären der Richtigkeit im Hinblick auf mein Leben zukommt. Betrachten wir also die Reihe: Mittel, Wunsch und übergeordneter Nutzen, so erschließt sich fast wie von selbst die letzte noch ungenannte Sphäre – die meiner Existenz im Ganzen. Korsgaard weist zu Recht darauf hin, dass der Mensch als soziales »Tier« weit über die Neigung zu Freundschaften oder den Drang nach Gruppenformen des Zusammenlebens hinausreicht. Wir sind durch unser sprachliches Bewusstsein und damit durch den Raum, in dem Gründe und Bedeutungen entstehen, zutiefst dialogisch strukturiert und teilen diesen Raum immer mit anderen. 354 Diese prinzipielle Bezüglichkeit unseres Selbstbewusstseins impliziert dabei auch unsere Beziehung zu uns selbst. Nicht insofern, dass wir immer wüssten, was in uns vorgeht oder sicher sein könnten, was wir fühlen oder wollen, sondern, dass wir im Gegensatz zu einfachen Tieren nicht nur in bewussten Aktivitäten verwickelt sind, sondern uns dessen auch bewusst sind. Wir vermögen in Distanz zu uns zu treten. Diese Fähigkeit, uns unserer Wahrnehmungen und Wünsche bewusst zu 352 353 354

Gleiches gilt natürlich für kausale Gründe physikalischer Ereignisse. Vgl. Kapitel 3.5. Vgl. Korsgaard (2013), 145.

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sein, ermöglicht uns, über diese nachzudenken. Diese Form des Nachdenkens nötigt uns zu normativen Überlegungen. Neiman spricht in diesem Zusammenhang vom fundamentalsten und zugleich erstaunlichsten Bedürfnis des Menschen, die Welt mit moralischen Kategorien betrachten zu wollen. Das Leben als eine Geschichte mit Bedeutung zu sehen, die aus der Beziehung von Werturteilen und Welt resultiert, ist durch die Struktur der Vernunft selbst bedingt. Ein Zwang oder Drang zur Transzendenz; ein Streben nicht nur Teil der Dinge zu sein, sondern über ihnen zu stehen, sie zu verstehen, sie zu bestimmen. 355 Der Mensch hat Natur, er ist sie nicht nur und kann deshalb auf seine spezifische (vernünftige) Weise damit umgehen. 356 Wir werden als Teil der Natur geboren, fühlen uns aber am lebendigsten, wenn wir über sie hinausgehen. Wer die Zwangsläufigkeit einfachen tierischen Lebens, in dem Wahrnehmungen zum Glauben und Bedürfnisse zum Willen werden, durch diese besondere Art des Denkens zu überwinden vermag, sieht sich vor einem neuen Zwang – dem Zwang der begründeten Bevorzugung. Weder Gott noch Könige werden länger als Quelle des Guten gebilligt. Moral wird zu etwas Unausweichlichem in uns selbst und zur Bedingung selbstbejahender Lebensführung unter den Augen eines inneren Richters. Dieser Zwang war es, der auch Kant motivierte, eine sittliche Autorität zu bestimmen, die jenseits aller heteronomen Quellen (Wunsch, Tradition, Gott oder Staat) ihre Gültigkeit aus uns selbst als Wesen, die zu einer bewertenden Reflexion im Stande sind, bezieht. Aus dieser Beziehung erwächst eine Rationalität im Sinne eines zielgebundenen Denkens, deren Gegenstand nicht das Verhältnis von Mittel und Zweck oder Wunsch und übergeordnetem Nutzen, sondern die Beziehung zwischen meinem deliberativen Ich und meinem Entwurf von mir als Existenz ist. Aufgabe der Vernunft ist es eben auch zu verneinen, dass die Behauptungen der Vernunft das letzte Wort haben. Menschsein bedeutet deshalb auch, das Gegebene als gegeben hinzunehmen. 357 Wie wir die Weise der medizinischen Behandlung eines Menschen zu dessen angestrebter Gesundheit ins Verhältnis setzen, diese als richtig oder falsch beurteilen, wird der reflektierte Mensch notwendig durch sein Denken aufgerufen, Stellung zu sich selbst zu Vgl. Neiman (2013), 14. Vgl. Schweidler, W. (2004), Der gute Staat. Philosophische Ethik von Platon bis zur Gegenwart, Stuttgart: Reclam, 49. 357 Vgl. Neiman (2013), 172, 128. 355 356

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beziehen. Der Kern dieser Stellungnahme sind Ideen jenseits der Erfahrung; Ideen, die ihrerseits aus Werturteilen bezüglich der Welt und meiner Person im Verhältnis zu dieser hervorgehen. Was im einen Fall die Gesundheit ist, ist im anderen die geglückte Selbstbehauptung, die eigenmächtige Realisierung unseres existentiellen Selbst-Ideals. Tugendhat meint dazu: »Wer sich rational verhält, verhalte sich verantwortlich zu seinen Meinungen« 358. Verantwortlich verhalten bedeutet Stellung zu nehmen. Und wie könnten wir zu faktischen Verhältnissen Stellung nehmen, wenn wir nicht über Maßstäbe jenseits dieser Erfahrung verfügten? Die hier zu bestimmende existentielle Rationalität bezieht sich dabei nicht auf Anschein und Wirklichkeit, sondern auf Anspruch und Praxis. Es gilt nicht, die Meinung an der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit an unseren Idealen zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. 359 Goldie spricht in diesem Zusammenhang auch von einer mind-to-world direction of fit. 360 Wir versuchen nicht, mittels unseres Verstandes unsere Weltauffassung den faktischen Data anTugendhat (2010), 106. Dabei sei angemerkt, dass nach Kant sowohl die Moral als auch die Wissenschaft von Vernunftideen abhängen, die nicht selbst objektiv sind, da sie nicht in der Erfahrung gegeben sind und mithin nicht gewusst werden können. Den die Erkenntnis ermöglichenden Kategorien und dem Prinzip des zureichenden Grundes steht das die Moral begründende Gesetz gegenüber. Den wesentlichen Unterschied von Moral und Wissenschaft finden wir im epistemischen Bezug der Wissenschaft zum Explanandum (vgl. deduktiv-nomologisches Modell). Sucht die Wissenschaft nach erklärenden Sätzen (Gesetzen) und deren Bedingungen (Antezedensaussagen), um auftretende Phänomene zu erklären (deskriptive Schlüssigkeit), handelt es sich bei der Moral um einen präskriptiven Anspruch, dessen Gültigkeit sich nicht an die unmittelbaren vorgefundenen Fakten, sondern an die mittels der Vernunft gewonnenen Imperativen der Freiheit und Würde der Person bindet. Die Kategorien Kants sind also transzendental im Bezug auf die Erklärung der Welt, die Vernunftideale der Moral übernehmen eine transzendentale Funktion für die präskriptive Beurteilung derselben. 360 Vgl. Goldie, P. (2009), »Getting Feelings into Emotional Experience in the Right Way«, in: Emotion Review 1 (3), 232–239, 234. Eine anschauliche Erklärung findet sich auch in Platts, M. (1997), Ways of Meaning: an introduction to philosophy of language, Cambridge: MIT Press, 257: »The distinction is in terms of the direction of fit of mental states to the world. Beliefs aim at being true, and their being true is their fitting the world; falsity is a decisive failing in a belief, and false beliefs should be discarded; beliefs should be changed to fit with the world, not vice versa. Desires aim at realization, and their realization is the world fitting with them; the fact that the indicative content of a desire is not realised in the world is not yet a failing in the desire, and not yet any reason to discard the desire; the world, crudely, should be changed to fit with our desires, not vice versa.« 358 359

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zugleichen (wahre Erkenntnis), sondern legen die Bedeutung unserer Existenz in die Angleichung der Welt an unsere normativen Urteile (autonome Praxis). Wir verhalten uns existentiell rational, weil wir uns selbst auf die würdigste Weise in Anspruch genommen fühlen und wir dabei ahnen, dass dieser Selbst-Anspruch alle anderen normativen Berufungen überlagert und dabei unsere Zustimmung zu uns und unsere Rechenschaftsfähigkeit 361 vor uns selbst auf dem Spiel steht. Die existentielle Rationalität stellt der Wahrheit ihrer theoretischen, der Effizienz ihrer instrumentellen und der Klugheit der prudentiellen Form nach die Authentizität und Integrität in ihrer existentiellen Form gegenüber. Wenn man bedenkt, wie lange das die jeweilige Neigung zweckhaft anstrebende Erlebnis (Befriedigung) dauert und wie lange im Gegensatz dazu die identifikatorische Auseinandersetzung durch Erinnerung anhält, und wir ergänzend annehmen wollen, dass die Dauer von Befindlichkeiten eine relevante Größe für rationales Ermessen darstellt, müssen wir als wahre (aufgeklärte) »rationale Maximierer« erkennen, dass nicht die Befriedigung, sondern die notwendige Identifikationsanstrengung über die wahre Motivation zur Handlung entscheiden muss. Wer nachdenkt, was er sich nach der Befriedigung in personaler Hinsicht auferlegt, kommt zu existentiell rationalen Entscheidungen jenseits triebdiktierter Notwendigkeiten, die der anthropologischen Tatsache Rechnung tragen, dass wir letztlich vor uns bestehen, ja uns als liebenswert beurteilen möchten und mit Kant nichts stärker scheuen, als in der inneren Selbstprüfung in unseren eigenen Augen geringschätzig und verwerflich zu sein. 362 Nutzen-Interessen werden so um Verwirklichungsinteressen und Selbst-Treue ergänzt. Stehen letztere auf dem Spiel, verlieren erstere ihre drängende Kraft und weichen dem Interesse an einer Art Selbst-Homöostase, einem Verlangen nach Authentizität. Dieses Verlangen ist aufgrund dispositiver Voraussetzungen emotional gestützt. Ohne Vernunft, also das

Normative Antworten (Rechtfertigungen) müssen dabei prinzipiell auf den Geltungsanspruch der verwendeten Gründe verweisen. An die Rechtfertigungspraxis werden keine kontextfremden oder externen Kriterien herangetragen, sondern nur die, die im Anspruch, zum Handeln berechtigt zu sein, selbst enthalten sind. Vgl. Forst, R. (1999), »Praktische Vernunft und rechtfertigende Gründe. Zur Begründung der Moral«, in: S. Gosepath (Hg.), Motive, Gründe Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt am Main: Fischer, 168–205, 175. 362 Vgl. Kant, KpV, A 288. 361

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Vermögen, wahre Zusammenhänge zu verstehen, wäre dieses undenkbar. Es ist der Kern einer aufgeklärten Moral zu verstehen, worin der Sinn mitfühlenden Handelns gegenüber fühlenden Mitmenschen gleicher Würde besteht. Wem sich dieser Sinn nicht erschließt, dem entzieht sich die Möglichkeit der selbsthaften Orientierung in seiner Existenz und damit der von Platon als Harmonie der Seele bezeichnete Zustand tiefster innerer Harmonie aus wertgebundenen Ansprüchen und realisierter Lebenspraxis. Warum also existentiell rational leben? Weil es in hohem Maße irrational wäre, durch unsere verantwortliche Praxis die würdigsten Wertüberzeugungen in unserer Selbstauffassung zu verletzen. 363 Diese Tatsache setzt bei dispositiv vernünftigen 364 Menschen unmittelbare motivationale Kräfte frei. Je relevanter die im Bewusstsein vollzogene Wertung für die Person, desto beherrschender die Motivation in Situationen der Gefährdung. Der wohl an der Spitze der motivationalen Relevanz stehende (Meta-)Wert ist der der SelbstKongruenz. 365 Wir erkennen intuitiv und nicht immer bewusst, dass mit unserem vorgestellten Selbst-Wert quasi der gesamte Sinn unserer Existenz auf dem Spiel steht. Anders herum: Nichts im Leben einer reflektierten Person kann mehr Sinn und Freude stiften, nichts kann eine reflektierte Person stärker binden.

363 Hier drängt sich der Gewissensbegriff förmlich auf. Das Gewissen wäre nach dieser konkreten Lesart die Bewusstwerdung einer identifikatorischen oder existentiell rationalen Gefährdung, bzw. im Fall der bereits vollzogenen Wahl ihrer Verletzung. Drohen bei der instrumentellen und prudentiellen Form der Rationalität im Fall ihrer Verletzung normalerweise materiale Konsequenzen, sind es bei der existentiellen Irrationalität ausschließlich geistige, genauer durch wertendes Denken und verfehlter Kongruenzerwartung erzeugte Sanktionen, die auf dem Spiel stehen. Diese Sanktionen (Gewissensbisse) sind Gefühle einer besonders bedrängenden und beherrschenden Art. Wir fühlen die (drohende) Verfehlung unseres existentiellen Anspruches an uns selbst. Aus der – im Fall reflektierter Lebenspraxis freiwillig gewählten – Bindung an für würdig beurteilte Weltzustände (Werte) werden emotionale Zustände, die wiederum motivationale Kraft entfalten. 364 Wir kommen später noch auf diese Bedingung zu sprechen, die im Kern aussagt, dass Menschen nur bedingt rational motivierbar sind, bedingt nämlich durch die Disposition zu einer rationalen Selbstauffassung. Nur die Rationalität selbst kann Gründe überhaupt legitimieren. Wer sich außerhalb ihrer bewegt, verlässt die Grundlage der Begründung selbst. 365 Vergleichbare Ausdrücke mit leicht veränderter Konnotation wären: Integrität, Selbstgemäßheit, Authentizität oder Selbst-Treue.

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Wohin jemand sich selbst stellt, in der Meinung es sei da am besten, […] da muß er, wie mich dünkt, jede Gefahr aushalten und weder den Tod, noch sonst irgend etwas in Anschlag bringen gegen die Schande. 366

Die Vernunft als nur berechnend und instrumentell aufzufassen, kommt einer begrifflichen Reduktion gleich, die unser universellstes und ausgewiesenstes Merkmal als Menschen zur Vergeblichkeit verurteilen würde. Es sei denn, wir subsummieren unter den Begriff der zweckhaften Objekte der Vernunft auch Vorstellungen von Sinn und glückender Lebenspraxis. Es trifft natürlich zu, dass uns die Vernunft niemals substantielle Antworten auf existentielle praktische Fragen geben kann. Aber sie ermöglicht uns zu universalisieren, uns von heteronomen Autoritäten zu emanzipieren und uns in der unumgänglichen Bewertung unserer Praxis und der Verhältnisse in der Welt auf den Standard guter Gründe zu verständigen. 367 Ohne das Vermögen der Vernunft könnten wir uns nicht fragen, warum etwas so ist oder wie es besser sein könnte. 368 Was Seneca schon vor 2000 Jahren für das menschlichste an uns auszeichnete: »Lauda in illo quod nec eripi potest nec dari, quod proprium hominis est. […] animus et ratio in animo perfecta« 369 (Lobe in ihm, was man weder entreißen noch geben kann, was das Wesenhafte eines Menschen ist. Die Seele und die Vernunft in der Seele vollendet), konkretisiert Dan Gilbert, wenn er feststellt, dass die Vorwegnahme von Erfahrungen und die Fähigkeit, Möglichkeiten zu denken, die das Faktische überschreiten, zu den größten Errungenschaften des menschlichen Gehirns gehören. Für normative Antworten freilich braucht es mehr. Die formale Kraft der Vernunft bedarf als Sozius der bindenden Kraft von Werten und Idealen. Die von Adorno beschriebene totalitäre Tendenz der Vernunft durch die Aufklärung wird vor diesem Hintergrund verständlich und vermeidbar. Wenn Piere Bayle Ende des 17. Jahrhunderts die Platon, Apologie, 28 d. Nikolas Rescher beschreibt das daraus resultierende Dilemma: Die Frage, warum man den besten Gründen folgen soll, sei unsinnig, weil man außerhalb der Rationalität nicht mit Gründen operieren könne, und innerhalb seien diese schon alle gegeben. Wobei entscheidend ist, dass die Vernunft uns nur die besterkennbaren und nicht die tatsächlich besten Gründe vorstellt. Nichts verpflichtet uns, rational zu sein, außer die Rationalität selbst. Vgl. Rescher, N. (1999), »Die Begründung der Rationalität: Warum der Vernunft folgen?«, in: S. Gosepath (Hg.), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt am Main: Fischer, 246–263, 247. 368 Vgl. Neiman (2013), 223. 369 Seneca, Epistulae Morales Ad Lucilium, Brief 41. 366 367

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Vernunft mit einem ätzenden Pulver vergleicht, das zunächst nur das entzündete Fleisch einer Wunde angreift, doch sich dann auch in das lebendige Fleisch und die Knochen frisst, 370 wird deutlich, wo die Gefahren lauern, wenn wir die Vernunft lediglich in der beschriebenen reduzierten Weise auffassen. Um an dieser Stelle klar zu bleiben: Die Vernunft ist nicht Effizienz, sie ist nicht Klugheit und ganz sicher auch nicht das, was wir unter Werten, Ideen oder allgemein Vorstellungen von Gut und Böse verstehen. Die Vernunft aber ist dasjenige zur Antizipation fähige Vermögen, das diese Weise zu denken zu erschließen vermag. Ohne dieses Vermögen wären wir bloß Natur ohne die Möglichkeit, uns zu ihr ins Verhältnis setzen zu können. Es hängt alles an der Eigenschaft der Transzendierung des Gegebenen. Sowohl in zeitlicher, als auch in wertender Hinsicht. Unter diesem Aspekt betrachtet wäre Vernunft das Vermögen, zum einen die Gebundenheit der Natur 371 zu übersteigen, und zum anderen eine autonom bestimmte Bindung einzugehen, die, wenn wir den internalistischen Anspruch nicht völlig aufgeben wollen, auch in der Lage ist, unter gewissen Bedingungen maßgeblich auf unsere Praxis einzuwirken. Die Vernunft wird so selbst zu einer Möglichkeitsbedingung als ein Vermögen, das nicht selbst normative Autorität in sich trägt, sondern diese zu denken ermöglicht. Ähnlich dem Verhältnis der Grammatik zur Sprache vermittelt die Vernunft eine Bedeutung, die nicht in ihrer formalen Struktur selbst aufgeht, sondern in den durch sie geleiteten Werten und Ideen. Die Leitung geschieht durch den wertenden Akt, der in dieser sichtbaren und vertretbaren Weise nur durch Vernunft möglich ist. Warum ist das so? Nur die Vernunft als antizipierendes und universalisierendes Vermögen ist in der Lage, unseren aktuellen Neigungen etwas entgegenzusetzen, das seine Rechtfertigung aus dem jeder Person eigenen Streben nach Sinn und Bedeutung ableitet. Ohne dieses besondere Streben von Personen gibt es keine belastbare Begründung für Hemmung und Verzicht bezüglich Vgl. Neiman (2013), 210. Hier fordert der Ausdruck »Natur« unmittelbar nach einer begrifflichen Bestimmung, die es ermöglicht, eine derartige Entgegensetzung in analytischer Hinsicht zu legitimieren. Natur (Physis) wird in der vorliegenden Untersuchung in klassischer Weise als Gegenbegriff zu Logos bzw. Nomos verwendet. Die Dinge, die außerhalb des Bewusstseins des Menschen existieren und nach eigenen (vom Menschen unabhängigen) innewohnenden Kräften sich gestalten und entwickeln, sind Teil der Natur. Vgl. Wiesen, B. (2003), »Natur«, in: W. Rehfus (Hg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 476–477. 370 371

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egoistischer, hedonistischer oder utilitaristischer Maximierung. Nur weil uns Sinn und Bedeutung als Kategorien unserer Vernunft, als Inhalte unseres bewussten Denkens fragend in Anspruch nehmen, sind wertgebundene Imperative jenseits der ausführlich dargelegten einfacheren Autoritäten menschlichen Handelns denkbar. Das Streben nach Sinn als Ergebnis einer reflektierten Existenzweise verlangt nach einer »Klammer« für uns im Ganzen. Ebenso wie uns der Satz vom auszuschließenden Widerspruch oder der modus ponens als Prinzip der theoretischen Rationalität im Denken bestimmt, und ein überzeugter Instrumentalist einräumen muss, dass der normative Status der M-Z-Rationalität nicht weiter begründbar und somit als Prinzip anzusetzen ist, 372 so verlangt die vernünftige Betrachtung unserer Existenz nach einer wohlbegründbaren Wertaussage über uns selbst. Wenn wir uns der Vernunft stellen, können wir nicht anders, als uns selbst diesen zwingenden Fragen zu stellen. Wer vernünftig ist, will sich begründet binden, um den Bereich möglicher Antworten auf diese Fragen überhaupt erst betreten zu können. Die Frage wäre, ob nicht neben dem kategorischen Imperativ kantischer Auffassung, also ein KI, der einzig durch das Gesetz, welches wiederum durch die Beschaffenheit der Vernunft begründet ist, ein weiterer kategorischer Imperativ aus der geglaubten unbedingten Gültigkeit von bestimmten Werten resultieren könnte. Eine Art klare und wahre Einsicht in ein Wertkonstrukt im Sinne einer quasi unbegrenzten Bejahung (Liebe, Verlangen, Begehren). Der Unterschied zum klassischen KI bestünde freilich darin, dass dieser existentielle KI seine Gültigkeit nicht aus den Gesetzen des schlüssigen und unparteiischen Denkens bezöge, sondern aus einer unbedingten persönlichen Gebundenheit. Der Einwand dagegen könnte lauten, dass eine subjektive Geltungsbegründung niemals kategorischer Art sein könne. Dies würde ein Verständnis von Kategorizität voraussetzen, das ausschließlich dem Kants folgte und damit exklusiv formale, also auf Strukturen des Denkens bezogene Gründe für sittliche Imperative zulässt. Verwiesen sei hier auf die Unmöglichkeit der Begründung des Rationalismus: Die Vernunft kann nicht durch sich selbst gerechtfertigt werden. Die rationalistische Einstellung (Akzeptanz der Bedeutung von Argumenten und Gründen) lässt sich selbst nicht begründen. Lediglich pragmatische oder dezisionistische Begründungen

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Vgl. Gosepath (1999), 29.

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Die existentielle Rationalität

wären denkbar. 373 Ein guter Grund, weshalb wir trotzdem von kategorischer Verpflichtung reden werden, besteht darin, dass nicht die von Kant antagonistisch aufgebauten kontingenten Neigungen eines Menschen und schon gar nicht die in Relation dazu gegebenen Verhältnisse (z. B. Verwirklichungskontext) normativ relevant wären, sondern einzig und allein die durch eigenes Denken oder Fühlen begründete Bindung an einen Wert – einen Zustand von Verhältnissen oder Gefühlen 374, der seine Geltung aus den Verwirklichungsbedingungen des guten Lebens bezieht. 375 Deutlich erkennbar bleibt dabei der »subjektive Makel«. Dieser löst sich jedoch dann auf, wenn die Universalisierbarkeit von Handlungs- und kantisch: Willensbestimmungen nicht als notwendige, begriffliche Bedingung eines kategorischen Imperativs unserer Prägung verstanden wird. Zielt jener auf die Reinheit der Vernunft aller vernunftbegabten Wesen, hat dieser immer die Existenz von einzelnen Personen als wertrealisierendes Dasein im Blick. Als wertbezogene existentielle oder besser autoeidetische Rationalität wäre dies systematisch eine Unterform der substantiellen Rationalität. Im Mittelpunkt stehen jedoch nicht nur Normen und Werte im allgemeinen, sondern Wertbeschreibungen meines höchstpersönlichen existentiellen Seinsentwurfes. Wer bin ich, will ich sein und welche Handlungen sind demnach vorzuziehen? Die Besonderheit ist also die zusätzliche persönliche Verknüpfung der Werte mit der eigenen Existenz. Richtig ist, was mir selbst gemäß vor mir zu rechtfertigen ist. Sowohl die Bedingung rationaler Handlungen, wonach diese auf Gründe bezogen sein müssen, als auch die u. E. nicht notwendige Eigenschaft, dass der Grund selbst rational im Sinne der Wohlbegründetheit zu sein hat, sind im Begriff der autoeidetischen Rationalität gewährleistet. Der in diesem Sinne rational handelnde Mensch kann sehr wohl Gründe angeben als auch diese Vgl. Gosepath (1999), 45 f. Vgl. Gerechtigkeit als guter Zustand der Seele. 375 In diesem Zusammenhang kann nur immer wieder darauf hingewiesen werden, dass es letztlich keine andere Grundlegung für Werte außerhalb heteronomer Autoritäten (Tradition, Gott, Nation etc.) geben kann. Die zentrale Frage Senecas: »Quid est autem quod ab illo ratio haec exigat?« (Was aber ist es, was diese Vernunft von jenem fordert?) findet in der kurzen Formel »rem facillimam, secundum naturam suam vivere« (Die einfachste Sache; gemäß der Natur zu leben) ihre einzig wahre Beantwortung. Wer würde in der Lage sein, mittels der Vernunft in Argumenten eine schlüssige Fundierung ihrer Zwecke jenseits von Universalisierung und Antizipierung im Dienste eines menschengerechten und damit auch naturgemäßen Lebens vorlegen zu können? 373 374

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Das principium diiudicationis moralischer Handlungen

Gründe 376 rechtfertigen. Letzteres erfolgt durch die anthropologische, genauer: vernünftige, Struktur unseres Denkens. Überall wird eine Person durch Nutzung ihrer Vernunftbegabung auf die Weise reflektierter Welt-Ich-Betrachtungen zur Bestimmung dieser (existentiellen) Gründe aufgefordert. Gelingt deren Beantwortung 377 nicht, kommt es zu identitären Krisen. Sind wir dagegen erfolgreich, fordert uns die gewonnene Moralität heraus. Es handelt sich bei diesem höchstpersönlichen Prozess der Beantwortung um eine universelle Erfolgsbedingung einer humanen Lebensweise. 378 Diese sittliche Selbst-Bindung ist es, die uns Aufschluss darüber geben kann, warum wir in besonderen praktischen Situationen erkennen, »that sometimes doing the wrong thing is as bad or worse than death.« 379 Und die einzige Sache, die ebenso schlimm oder schlimmer als der Tod sein kann, ist »not beeing our selves any more.« 380 Das – wenn man so will biologische – Paradoxon besteht darin, dass durch die vernunftbegründete und damit die naturdeterminierten Zusammenhänge übersteigende moralische Selbst-Bindung die vormals beherrschende Befolgung des biologischen Imperativs 381 zur Selbsterhaltung 382 der 376 Dabei kann nur immer wieder betont werden, dass die dadurch autonom bestimmten Prinzipien oder Werturteile nicht von der Berufung auf arbiträre Standards (Wünsche, Traditionen, Kirche oder Staat) abhängen. Autonomie wird dabei durch die moralische Natur unserer Vernunft verbürgt. Wir gelangen jenseits unserer konventionellen Vorgaben und Erwartungen unter anderem mittels der Universalisierung bzw. der Dritte-Person-Perspektive von Handlungsalternativen zu dieser Art selbstgesetzlicher Prinzipien. Vgl. dazu auch Korsgaard (2013), Kapitel 2. 377 Dieser Prozess wird bei verschiedenen einschlägigen Autoren als »Reflective Endorsement« bezeichnet, z. B. bei Korsgaard (2013), lecture 2. Insbesondere bei Harry Frankfurts »second-order volitions« rückt diese selbst-begründende Erkundung des wahren Willens in den Mittelpunkt seiner Theorie. 378 Vgl. dazu auch Kierkegaard (2017), 822 sowie das Konzept der humanitas bei Jaspers. 379 Korsgaard (2013), 17. 380 Korsgaard (2013), 18. 381 Wir dürfen – an dieser Stufe der Erklärung von Rationalität im existentiellen Sinne – nicht vergessen, dass die in der Internalismus/Externalismus-Debatte zentral diskutierte Frage der motivationalen Verursachung normativer Sätze damit noch nicht abschließend geklärt ist. Es wird jedoch für diese Untersuchung weiter davon ausgegangen, dass für eine schlüssige Vorstellung der praktischen Vernunft neben dem Bekenntnis zu wohlbegründeten Normen und Ideen immer auch ein emotionaler Modus (vgl. hier auch die vielfach diskutierten Ansätze sittlicher Gefühle wie: Scham, Empörung, Schuld und Sorge um zeitlich überdauernde Richtigkeit der Interessen) im Sinne eines Übersetzungspotentiales als gegeben vorausgesetzt werden muss. Die Aussage, normative Sätze hätten per se noch keine exekutiven Eigenschaften, stimmt.

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Verantwortung

autonomen Verfügung eines Menschen überstellt wird. Die vollkommenste Form menschlicher Selbstaufklärung und Selbstbestimmung führt so zu einer potentiell vernünftig begründeten Aufgabe seiner natürlichen Grundbedingung schlechthin – seines Lebens.

5.2 Verantwortung Wir wollen uns diesem besonderen Begriff des menschlichen Selbstverhältnisses zunächst über eine kurze semantische Betrachtung nähern. Die Vorsilbe »Ver« bedeutet, etwas zu machen, zu erzeugen. Mit Korsgaard: »Sofern der Skeptizismus gegenüber der reinen praktischen Vernunft auf der Forderung beruht, dass Gründe uns motivieren müssen, ist die richtige Erwiderung, dass es lediglich die Grenzen unserer Rationalität zeigt, wenn jemand erkennbare Gründe entdeckt, die relevant für unser Handeln sind und dennoch nicht motivieren. […] Das Ausmaß zu bestimmen, in dem Menschen durch rationale Überlegungen tatsächlich veranlasst werden, etwas zu tun oder zu glauben, überschreitet den Rahmen des Geltungsbereiches der Philosophie. Philosophie kann uns höchstens sagen, wie es sein würde, rational zu sein.« Korsgaard, C. (1999), »Skeptizismus bezüglich praktischer Vernunft«, in: S. Gosepath (Hg.), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt am Main: Fischer, 121–145, 145. Rationalität als Vermögen besteht aus Dijudikation und Exekution! Wir handeln rational, wenn wir uns als rationale Person auffassen und damit aus der bloßen Bejahung der normativen Richtigkeit eine Bindung an unsere mögliche Praxis etablieren. Die Rationalität fungiert – wie schon ausgeführt – in klassisch platonischem Verständnis als orientierende Kraft für den Willen. Die Kraft resultiert aus der Beschaffenheit unseres Denkens hinsichtlich des Prinzips des zureichenden Grundes einerseits und der Unhintergehbarkeit universalisierender Ansprüche unser Moralvorstellungen andererseits. Das Prinzip der praktischen Vernunft – so Rescher – besagt, dass normative Antworten auf praktische Fragen auf genau diese Weise zu rechtfertigen sind, auf die ihr Geltungsanspruch verweist. (Vgl. Rescher (1999), 175) Dabei kommt es zu einer wechselseitigen Verstärkung. Je mehr sich der Nebel aus unreflektierter und unvernünftiger Willensbestimmung lichtet, umso mehr leuchtet neben den erkannten Normen das Verlangen, uns mit ihnen zu identifizieren. In der durch Reflexion gewonnenen Klarheit, so Jaspers, gewinnen wir schließlich die Teilnahme am Ewigen, am Sein. (Vgl. Jaspers (1962), 57) Im Umkehrschluss bedeutet dies durchaus auch, dass Personen in »nebulösen« sittlichen Begründungsverhältnissen weniger Selbst-Bindung im genannten Sinne etablieren und somit hinter ihrem möglichen Maß an Selbstbestimmung und Identität zurückbleiben. Im Mittelpunkt stehen demnach nicht nur Normen und Werte im Allgemeinen, sondern Wertbeschreibungen meines höchstpersönlichen existentiellen Seinsentwurfes. Wer bin ich, will ich sein und welche Handlungen sind demnach vorzuziehen. Die Besonderheit ist also die zusätzliche persönliche Verknüpfung der Werte mit der eigenen Existenz. Richtig ist, was ich selbst gemäß vor mir (wohlbegründet) zu rechtfertigen in der Lage bin. 382 Hier ist »Selbst« freilich im Sinne des materialen Individuums zu verstehen.

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Wenn wir z. B. jemanden vergöttern, machen wir ihn in unserer Vorstellung zu einem Gott, wenn wir einen Gegenstand verformen, geben (im Sinne von erzeugen) wir diesem eine neue Form. Ein Holz, das verbrennt, geht in das Brennen hinein und erfährt dabei nicht nur eine Veränderung, sondern einen vollständigen Verlust seiner bisherigen Gestalt und Eigenschaften. Hier wird auch die Bedeutung »weg von« sichtbar. Etwas (das Holz) verlässt seine bisherige Gestalt und Eigenschaften und wird etwas Anderes. Wer vertreibt, treibt etwas weg von etwas. 383 Der Wortteil »antworten« dürfte per se unverstellt und offensichtlich sein. Ein in Worten Bewegen, ein gegen (anti) eine Frage gerichtetes Sprechen. Im Terminus »Verantwortung« findet demnach ein Prozess seine Benennung, der den Antwortenden in gewisser – noch näher zu untersuchender – Weise vollständig verändert, ihn dabei von der Fraglichkeit weg- und in das Antworten hineinnimmt. Der Verantwortende holt sich selbst durch Zurückwendung (Reflexion) aus der Fraglichkeit und erzeugt – im Sinne des poetischen Aspektes »machen, tun« – durch eine Form der Widerrede Gewissheit. Die Form der Widerrede ist ein Offenbarmachen. Der Verantwortende öffnet sich gegenüber der Frage und offenbart nicht irgendeinen Inhalt seines Denkens, sondern Gründe. Gründe, die geeignet sind, die gegebene Fraglichkeit aufzuheben und vom Adressaten der Antwort – dem Verantwortenden selbst oder anderen – als gültig eingestuft werden. Jede Beantwortung erfordert begriffslogisch einen Fragenden, womit der dialogische Charakter jeder Verantwortung festgestellt wäre. 384 Als Fragender, also das Wovor der Verantwortung, kommen sowohl die Gesellschaft (politische Verantwortung), eine bestimmte Person oder ein Personenkreis 385 (soziale Verantwortung) als auch ich selbst (Selbstverantwortung) in Frage. Verantwortung ist kein empirischer Begriff: Wir finden sie nicht einfach objektiv vor. Verantwortung ist vielmehr ein Begriff der geistigen 383 Vgl. Weischedel, W. (19721), Das Wesen der Verantwortung: Ein Versuch, Frankfurt am Main: Klostermann, 16. 384 Wer als Antwortender in diese Interaktion tritt, verantwortet sich durch Sprachhandlungen, die den konventionellen Regeln einer etablierten Begründungspraxis folgen. Vgl. dazu Nida-Rümelin (2011), 94. 385 Der Fragende muss dabei nicht explizit oder tatsächlich die betreffende Fraglichkeit auslösen. Wie Tugendhat zu Recht erklärt, genügt es schon an einen imaginären Dialogpartner zu denken, um die entsprechende Rechtfertigungshandlung in Gang zu setzen. Vgl. Tugendhat (2010), 108.

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Verantwortung

(noumenalen) Sprachsphäre und steht notwendig in Verbindung mit demjenigen, in dem sich dieses Phänomen zeigt. Ohne ein Verstehen des Selbst bliebe uns auch das Verständnis von Verantwortung vorenthalten. Die Fraglichkeit der Verantwortung vermag nur durch geteilte Erwartungen und normative Wertüberzeugungen (Gründe) aufgehoben zu werden. Verantwortung ist somit ein Mittleres zwischen Fraglichkeit und geteilten Gründen, ein Geschehen des Sichverantwortens, in dessen Mittelpunkt die bekennende Berufung auf Gründe steht. Verantwortung ist nicht selbst ein Grund, sondern macht diese sichtbar. Wo keine Gründe sind, gibt es keine Verantwortung. Die Fraglichkeit wäre ein bloßer Ausdruck normativer Orientierungslosigkeit, ohne Aussicht auf Vergewisserung und Verständigung. Mit Verantwortlichkeit bezeichnen wir die Haltung einer Person, sich diesem Begründungsgeschehen zu stellen. Im Akt der Berufung auf Gründe geht die betreffende Person ausdrücklich über die bloße Benennung von rein kausalen Zusammenhängen wie »ich hatte in diesem Moment eben das Verlangen, dies oder jenes zu tun« hinaus. Stattdessen bekennt sich die verantwortende Person auf eine bestimmte Weise zu diesen Motiven. Sie erkennt diese Motive durch logisch verfasste Zusammenhänge an, von denen sie annimmt, dass diese allgemein akzeptabel sind. Der verantwortende Mensch – wenn wir so wollen – gibt sich durch seine Antworten zu erkennen, indem er objektiv beschreibbare Motive (Wille, Neigung etc.) persönlich anerkennt. Wer sich verantwortet, macht sich gegenüber dem, dem er sich verantwortet, sichtbar, weil sich sein Selbst immer auch aus diesen Gründen versteht. 386 Zugleich geht mit jeder Verantwortung ein implizites Streben nach Wahrheit einher. Der sich Verantwortende öffnet sich mit dem zu Verantwortenden der Wahrheit der Gründe. Es handelt sich dabei um einen Akt der epistemischen Öffnung, der zum einen der Vergewisserung und zum anderen der dadurch bewirkten Erschließung des Selbst mit all seinen existentiellen Konsequenzen (Eigentlichkeit, moralische Ermächtigung) führt. Der Aspekt der Selbsterkennung und Selbst-Konstitution ist es, der eine wichtige, weil notwendig vorausgehende Bedingung für ein philoso386 Nida-Rümelin weist in diesem Zusammenhang der Selbstoffenbarung ergänzend darauf hin, dass sich der verantwortende Mensch immer auch festlegt, in vergleichbaren Situationen ebenso zu handeln. Dieser Kontinuierungsanspruch ist vor allem im Hinblick auf den Identitätsbegriff von Bedeutung. Vgl. Nida-Rümelin (2011), 29.

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phisches Verstehen der unbedingten Forderung darstellt. Wer sich natürlichen Imperativen (Selbsterhaltung, Luststeigerung und Unlustvermeidung) entziehen können soll, benötigt zum einen ein Bewusstsein von den Gründen, die dieses Entziehen ermöglichen, und zum anderen ein Bewusstsein von der autokonstitutiven Bedeutung dieser Gründe für das, worum es der betreffenden Person im Leben als Ganzes geht, ihr Selbst. Verantwortung löst somit ein, was wir zuvor durch Reflexion und Deliberation, also durch unsere Vernunft, erkannt haben. In der Verantwortung stellen wir uns unserem Selbst gegenüber. Mit Wilhelm Weischedel: »Ich hole mich – meine Existenz im Ganzen – aus meinem zwiespältigen Sein […] vor in mein Selbst-sein-können als mein Von-mir-aus-sein-können.« 387 Die Verantwortung konfrontiert uns also mit uns als frei gewählter Möglichkeit, der wir aufgrund ihrer existentiellen Bedeutung zur Treue verpflichtet sind. Die in der Untersuchung der unbedingten Forderung typischerweise betrachteten radikalen Ausgangsbedingungen stellen für den sich Verantwortenden demnach (weitere) Gründe 388 dar, die es im Modus der Deliberation zu erschließen und im Modus der eigentlichen Verantwortung sichtbar zu machen und zu berücksichtigen gilt. Mit diesem prozessualen Verständnis gelingt es uns jedoch noch nicht, den gesamten semantischen Gehalt der Verantwortung zu fassen. Wenn jemand Verantwortung übernimmt, meint dies oftmals noch nicht die bereits beschriebene Bezugnahme auf Gründe, sondern das Übernehmen einer Pflicht. In dieser Pflicht stehend verspricht die Person, ihr Urteilen und Handeln an den Werten und Gründen derjenigen zu orientieren, die dieser Übertragung von Verantwortung – oft nur implizit – zugestimmt haben. 389 Die Verantwortung gegenüber einer Situation zeigt sich im Versprechen, das in dieser Situation, gegenüber dieser Situation und gegenüber den an ihr Beteiligten abgegeben wird. 390 Der bewussten Verantwortungsübernahme geht also ein Urteil voran: Ich, als freier Mensch, binde mein Denken und Weischedel (19721), 86. Dies gilt nur dann nicht, wenn die betreffende Person faktisch keine Wahl hat, den Widerständen sozusagen ausgeliefert ist. In diesem Fall kann diese Person nicht verantwortlich handeln. 389 Als Übertragende kommen sowohl andere Personen, Institutionen als auch Gesetze, die der betreffenden Person aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle, ihrer Stellung zur Gemeinschaft, Verantwortung zuschreiben, in Frage. 390 Vgl. Sedmak, C. (2005), »Die Sinnfrage als Movens philosophischer Reflexion«, 387 388

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Verantwortung

Handeln an bestimmte Gründe. 391 Dabei unterliegen diese Gründe dem Anspruch normativer Richtigkeit. Die verantwortungsvolle Entsprechung gegenüber den präskriptiven Inhalten der gewählten und im Fall sozialer Verantwortung zusätzlich auch versprochenen Gründe erfordert Deliberation. In der theoretischen Verantwortung erklärt sich die betreffende Person zur Rechenschaft über die erlangte Auffassung und schöpft diese aus der theoretischen Deliberation. 392 Im Unterschied zur Verantwortung selbst handelt es sich dabei um einen Überlegungsvorgang, der die angemessene Urteilsfindung (prohaíresis) 393 zum Zweck hat. Das Abwägen von Gründen ist dabei das Wesentliche und bedingt zugleich die notwendige Voraussetzung für Verantwortung. 394 Wenn wir zuvor festgestellt haben, dass es im abstrakten Sinne ohne Gründe keine Verantwortung geben kann, so ist es die Deliberation als personales Vermögen, die der Verantwortung vorangehen muss. Die sinnvolle (legitime) Zuschreibung (Askription) von Verantwortung fordert also das Vermögen der Abwägung als einen der späteren Berufung auf Gründe vorangehenden Vorgang. Traditionell wird der Verantwortungsbegriff in praktischer Hinsicht

in: D. Batthyány/O. Zsok (Hgg.), Viktor Frankl und die Philosophie, Wien: Springer, 41–56, 55. 391 Analog verhält es sich für den Fall, dass Verantwortung einer Person von außen zugeschrieben wird (askripitiver Akt). Dies entspricht im Übrigen der vorherrschenden Bedeutung des Terminus »Verantwortung« in der christlichen Philosophie des Mittelalters, der imputatio. 392 Vgl. dazu Husserls Auffassung der Verantwortung als ein philosophisches Ethos. Diesem Ethos wohnt die Bereitschaft zur Rechenschaft über die Wahrheit der jeweiligen Auffassung inne. Das Pathos, mit dem Husserl diese Auffassung vertritt, wird deutlich, wenn er meint, die Philosophie sei »ein Leben aus universaler und absoluter Selbstverantwortung«. Husserl, E. (1962), Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana 6, 2. Aufl., Dordrecht: Kluwer, 197 f. 393 Der Begriff wird vor allem durch die Verwendung in der Nikomachischen Ethik geprägt. Wörtlich übersetzt als Wahl, Entscheidung, steht er in dessen Strebensethik auch in enger Verbindung zur Praxis, im Sinne einer vernünftigen Fundierung derselben im sittlichen Vorsatz. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 4–5. 394 Nida-Rümelin weist zurecht darauf hin, dass es trotz oder gerade wegen einer eingehenden Deliberation keinesfalls das beste Kriterium für die Bestimmung der Gründe geben kann. Vgl. Nida-Rümelin (2011), 91. Die Aneignung von Gründen ist ein grundlegend individueller Vorgang, der epistemisch zwar verteidigbar zu sein beansprucht, aber in der bloßen Erkenntnisleistung nicht völlig aufgehen kann. Dies liegt in der bestimmenden Rolle unserer prä-epistemischen, personalen Bedingungen (Vorurteile, emotionale Prägungen und Erfahrungen etc.).

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verstanden. Das zu Verantwortende wären dem gemäß Handlungen bzw. deren Unterlassung. Wir wollen einen weiteren Begriff anwenden, der auch Urteile und Einstellungen umfasst. So wie wir durch Deliberation zu der angemessenen Wahl von Gründen kommen, bilden wir uns durch die angemessene Bewertung von Fakten Urteile. Beidem, der praktischen und der theoretischen Deliberation, folgt eine Entscheidung im Sinne einer Stellungnahme oder Festlegung. Steht im einen Fall die falsche Handlung auf dem Spiel, ist es im anderen die falsche Meinung. Da der Kern der Verantwortung nicht nur in der Nennung von Gründen selbst, sondern auch in der Nennung von Gründen für die je gewählten Gründe besteht, ergibt sich logischerweise eine Begrenzung der Verantwortung durch das, was uns ermöglicht, diese Wahl zu treffen – die Deliberation. Damit haben wir sowohl den Bezug auf Gründe als auch die angemessene Beurteilung von Gründen (Deliberation) zu den Grenzen und Bedingungen der Verantwortung erklärt. Wir können und müssen uns nun weiter fragen, was sich in uns als Bedingung für diese Bedingungen zeigt. Wir erkennen dabei ohne großen Ableitungsaufwand, dass den Begriffen Freiheit, Urteilskraft und Wissen eine wichtige Rolle zukommt. Wer über das erforderliche Wissen nicht verfügt oder den Umgang mit diesem Wissen nicht beherrscht (Besonnenheit, Objektivität), wer die erforderliche Urteilskraft im Sinne einer handlungsleitenden oder meinungsbildenden Subsumtion von Einsichten nicht besitzt oder wer sich seiner Freiheit als ein Vermögen der selbstgemäßen Wahl und Bindung an Werturteile nicht bewusst ist, vermag in genau dem Maße, in dem dies zutrifft, keine Verantwortung zu übernehmen, weder als Pflicht noch als aktualisierten Prozess. Eine interessante Frage ergibt sich im Hinblick auf die einer Person zuzuschreibende Verantwortung in Verbindung mit den Merkmalen einer Person, die wir klassisch auch mit »Persönlichkeit« oder »Einstellung« fassen. Genauer gesagt, die Disposition einer Person, sich von Gründen überhaupt affizieren zu lassen. Wenn wir von der »Persönlichkeit« eines Menschen sprechen, beziehen wir uns dabei weniger auf dessen Meinungen und Überzeugungen als auf seine Haltung. Was aber ist damit gemeint? Die Haltung oder Einstellung eines Menschen hat sowohl etwas mit dessen Empfindungen, Neigungen und Wünschen als auch mit Gründen und Vernunft zu tun. Die Haltung eines Menschen gibt uns Aufschluss darüber, wie dieser mit diesen Strebungen (Aristoteles) üblicherweise umzugehen pflegt. Im Gegensatz zu einfachen Tieren haben wir bekanntlich nicht nur 162 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

Verantwortung

unsere Strebungen 395, sondern können uns dazu verhalten. Den Impulsen der Lust und Unlust (Affekte) kann der Mensch präskriptive Vorstellungen der Vernunft, der gelingenden Lebensführung, der Klugheit etc. gegenüberstellen. Das je individuelle Ergebnis dieser »Begegnung« kennzeichnet – verkürzt gesagt – unsere Einstellung. Während Aristoteles unter seinem Begriff der charakterlichen Disposition (hexis) eher eine tugendgemäß transformierte Affektentstehung versteht, 396 wollen wir uns stärker an eine Art interventionistisches Konzept der Willensbildung (vgl. Kant) halten. Wir finden demnach Determinanten unserer Willensbildung (Affekte, Neigungen) in uns vor. Nicht weil wir sie erkennend oder schließend denken, sondern weil wir sie schlicht haben. Zugleich verfügen wir über ein Vermögen, das uns ermöglicht, zu diesen natürlichen Zuständen in ein bewertendes Verhältnis zu treten (synkatathesis). Wir nehmen als Menschen Stellung zu vorfindlichen Tatsachen, zu denen sowohl uns selbst transzendierende Gegebenheiten als auch in uns erlebte Zustände und Empfindungen zählen. Wir haben demnach Determinanten der Willensbestimmung, die wir schlicht vorfinden, und welche, die wir durch Deliberation und Identifikation selbst (durch Denken) verursachen. Menschen werden auf längere Sicht Wünsche nicht durch Urteile neutralisieren können. Ein Charakter wird nicht durch Urteile und bezwungene Wünsche gegründet. Wir werden zu einer Person, die kohärent und stabil Stellung gegenüber der Welt (synkatathesis) bezieht, indem wir vollständig werden, was wir sollen. Das beinhaltet, neben einer epistemischen Grundlegung, die 395 Aristoteles verwendet den Ausdruck »Strebungen« nicht eindeutig. Es werden sowohl sinnliche Begierden (wie Hunger), Wünsche (höherstufige Strebungen, die Zielvorstellungen enthalten) als auch Affekte (wie Furcht und Zorn) darunter gefasst. Das tertium comparationis aller Strebungen ist der Bezug auf Lust und Unlust. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1104 b f. 396 Aristoteles verbindet mit der richtigen Einstellung (hexis) nicht nur den Vollzug (die Beschaffenheit) der richtigen (tapferen, mäßigen etc.) Handlung. Der Handelnde handelt tugendhaft, »wenn er erstens wissentlich, wenn er zweitens mit Vorsatz, und zwar mit einem einzig auf dies sittliche Handlung gerichteten Vorsatz, und wenn er drittens fest und ohne Schwanken handelt«. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1105a. Hinzu kommt aber noch etwas ganz Entscheidendes, was uns veranlasst, von einer »transformatorischen« Auffassung der Einstellung bei Aristoteles zu sprechen. Wenn er klarstellt: »Als ein Zeichen des Habitus muß man die mit den Handlungen verbundene Lust oder Unlust betrachten. Wer sich sinnlicher Genüsse enthält und eben hierin Freude hat, ist mäßig, wer aber hierüber Unlust empfindet, ist zuchtlos.« A. a. O., 1104 b 5.

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stützende emotionale Formung unseres Willens. In der vollentwickelten Stufe des autoeidetischen Selbst wünschen wir, was wir sollen. 397 Es ist nicht so – wie Nida-Rümelin meint –, dass unsere Wünsche grundsätzlich durch das Purgatorium der Stellungnahme zu gehen hätten, sondern, obgleich es zutrifft, dass hormai und synkatathesis etwas kategorial Verschiedenes sind, dass diese Bewusstseinsinhalte über unseren Leib doch in einer wechselseitigen Verbindung stehen. Deliberation kann deshalb in einem autoeidetisch entwickelten Menschen unmittelbar emotional übersetzt werden. Der Wunsch wird zum Ausdruck des Urteils, weil die normative Grundlage des Urteils zu meinem autoeidetischen Selbst gehört. Ich bin auch das, was das Urteil hervorbringt. Der Akt der Selbstbehauptung wird so zu einem zwei- oder dreistufigen Geschehen. Wir realisieren einen Wunsch, eine Neigung (diese erste Stufe kann auch fehlen), wir klären durch die Anwendung unserer Urteilskraft das Was der Stellungnahme und verwirklichen es in der Willensbestimmung durch die uns affizierenden autoeidetischen Emotionen. Theoretische Gründe können in uns praktische Gründe (Motive) hervorbringen, wenn die praktische Entsprechung epistemischer Urteilsbegründung autoeidetischen Rang besitzt. Das Ergebnis der antiken Aufforderung: gnō´thi seautón muss in diesem Fall auch beinhalten, ein Mensch zu sein, der seine Vernunft nicht als begleitendes Epiphänomen körperlicher Prozesse betrachtet. Vielmehr versteht sich dieser Mensch als ein Wesen, das aus der Übereinstimmung von Wohlbegründung und Praxis, aus Deliberation und Handlung heraus existiert. Spinoza erklärt dazu, dass »das Höchste, worauf sich unsere Hoffnung richten kann«, die »acquiescentia in se ipso«, also die (aufgeklärte) Selbstzufriedenheit sei. 398 Darunter versteht Spinoza das Einverständnis mit dem eigenen Selbst. 399 Das Selbst wird zum Aufruf an das Ich, ihm zu entsprechen. Die ideale Vorstellung der homöostatischen Lebensverwirklichung von Wert und Praxis wird zur konstitutiven Bedingung für Gefühle des Glücks und der Befriedung seiner Seele. Die Verantwortung ist das spezifische Geschehen, um die Ergebnisse dieser Stellungnahme sichtbar zu machen. Einstellung kennzeichnet demnach dasjenige, demgemäß wir in Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1119 b, 15 f. Spinoza (1977), Die Ethik, Lateinisch und Deutsch, Revidierte Übersetzung von Jakob Stern, Teil IV, Lehrsart 52, Stuttgart: Reclam. 399 Vgl. Frankfurt (2016), 32. 397 398

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der Lage sind, rational und damit wohl begründet auf natürliche Affekte der Lust und Unlust im letztendlichen Vollzug, also der Handlung oder deren Unterlassung, zu reagieren. Im Unterschied zur Position Aristoteles’ bildet sich zwar auch bei unserer Auffassung der Wille als letzte kausale Resultante aller einwirkenden Faktoren, jedoch nicht aufgrund von Erziehung und Gewöhnung angepasster Lust- oder Unlust, sondern von existenziellen Seins-Ansprüchen, deren zuvor anerkannter Geltung wir gerecht werden wollen. Die dabei entstehenden Gefühle sind weit komplexer als die bei Aristoteles genannten Affekte. 400 Kommen wir zurück zur Verantwortung, stellt sich nun die Frage, ob wir neben den bereits erläuterten Urteilen und Handlungen auch für diese eben skizzierte Haltung oder Einstellung verantwortlich sind. Die Antwort lautet ja, wir sind unter denselben kognitiven und epistemischen Bedingungen des begründeten Denkens für unsere Einstellung verantwortlich. Hindern uns ursprüngliche Gefühle, rationale Urteilen zu fällen oder Handlungen zu vollziehen, stehen wir unter der Verantwortung, diese durch Gefühle, die aus dem Verlangen nach Integrität erwachsen, zu überwinden. Wenn wir einem Kollegen unsere Hilfe bei einer schwierigen Aufgabe versprechen, zum Zeitpunkt der Einlösung aber lieber mit einem Freund das schöne Wetter für einen Ausflug nutzen möchten, »begegnen« sich nicht nur zwei propositionale Vorstellungen, sondern auch zwei je mit diesen Vorstellungen verknüpfte Gefühle. Im Fall des möglichen Ausfluges dürfte es sich um die Vorfreude und die lustvolle Erwartung eines angenehmen Erlebnisses in der Natur in Verbindung mit einem erfreulichen Gemeinschaftserlebnis handeln. Womöglich auch um die entlastende Aussicht, eine in letzter Zeit vernachlässigte aber gewünschte Beziehung festigen zu können. Im Fall des (nicht) einzulösenden Versprechens handelt es sich um eine grundlegend andere Kategorie von Gefühlen. Es sind Gefühle, die nicht an natürliche Dispositionen zur Lust gebunden sind. Gefühle, die aus der Verfassung unseres Selbst hervorgehen. Es kann sich dabei im Falle eines nur konventionell gegründeten Selbst um eine Art Angst (im Fall der vorgestellten Nichteinlösung des Versprechens) handeln, die aus der Vorstellung der äußeren Konsequenzen aus unserer moralischen Verfehlung entsteht. Seien es die Enttäuschung unseres Kollegen oder gar die Gefährdung der künftigen Zusammenarbeit mit ihm und der damit verbundenen Nachteile oder die Beschä400

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1105 b 20 ff.

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digung unseres Rufs im Unternehmen. Dieses Gefühl bezieht sich also auf die Art und Weise, wie wir wegen unseres Verhaltens als Person von anderen gesehen und deshalb möglicherweise künftig behandelt werden. Handelt es sich dagegen um ein durch eigene Werturteile und Prinzipien gegründetes Selbst (postkonventionelle Urteilsstruktur), erleben wir Gefühle, die aus unserer inneren InAnspruchnahme herrühren. Es ist ein dumpfes, drückendes Empfinden, das an Gefühle aus Verlusterfahrungen und Enttäuschungen erinnert. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass wir eine motivationale Auswirkung aus der Verfassung unseres Selbst erleben und damit ein mögliches Korrektiv zu den in diesem Kontext als natürlich bezeichneten Verwirklichungs- oder Vermeidungsimpulsen der Lust erfahren. Die von außen als kontingent wahrgenommene Ausprägung dieser interventionalen Selbstkontrolle nennen wir Einstellung. Es liegt in unserer Verantwortung, diese personale Eigenschaft derart zu konstituieren, dass wir uns auf sie verantwortlich, also mit Gründen, beziehen können. So verstanden haben wir neben der möglichen Verantwortung für Handlungen und Urteile auch die Verantwortung für die Handlungen und Ursachen bewirkende Einstellung. Konkret bedeutet dies, dass wir als rationale Menschen die Pflicht haben, uns durch angemessene Deliberation der relevanten moralischen (künftigen) Fragen in die Lage zu versetzen, potentiell richtig (auf die besten Gründe bezugnehmend und ihnen folgend) durch unsere Urteilsbildung oder Handlung zu reagieren. 401 Ein Bürger kann sich also dann, wenn er eine politisch radikale und wesentlich menschenverachtende Partei wählt, nicht auf sein Unwissen bezüglich derartiger Tatsachen berufen, wenn diese durch ein vertretbares Maß an Anstrengung zu erlangen gewesen und seine Einstellung zu ihr damit hinreichend verändert worden wäre. Auch hier wird deutlich, dass eben die Nennung von kausalen Vorstellungen und den damit verbundenen Gefühlen für die Verantwortbarkeit per se nicht ausreichen, sondern 401 Nida-Rümelin verweist auf ein Beispiel, in dem es sich um eine Gefühlsdisposition (Einstellung) handelt, die dazu führt, eine Person wegen ihrer sexuellen Orientierung abzulehnen. Vgl. Nida-Rümelin (2011), 49. Sollten wir feststellen, dass dies bei uns der Fall wäre, hätten wir die Pflicht, der sich durch Deliberation zweifellos als schlecht begründet erweisenden Haltung durch den eigenen Anspruch der Rationalität zu begegnen. Dies hieße, den eigenen Gefühlshaushalt den besseren Gründen anzupassen. Menschen sind dazu grundsätzlich in der Lage. Vgl. dazu auch die Erläuterungen zur Affektregulierung und Mentalisierung in: Fonagy, P. (2015), Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart: Klett-Cotta, 12, 18, 22 f.

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bestimmte epistemische Bedingungen hinzutreten (müssen). Dabei tritt der autopoietische Aspekt der Verantwortung hervor. In der Verantwortung holt uns die Autorität der Gründe ein. Durch die Stellungnahme (synkatathesis) dringt die Geltung der Gründe in unser Selbst ein. Der epistemische Vorgang der Stellungnahme verändert den, der Stellung nimmt. Verantwortung ist somit auch ein Prozess der Klärung und Selbstformung. Dieser Prozess erklärt übrigens auch die Möglichkeit der Bildung einer Einstellung bzw. eines Charakters jenseits von heterogenen Faktoren, seien es pädagogische oder andere Formen der Anerkennung und Zustimmung. Die Formung des Selbst hat sowohl eine epistemische wie auch prohairetische Dimension. 402 Das Selbst wird um die Einsicht in die den gewählten Gründen zugrundeliegenden Wertinhalte erweitert, es wächst gewissermaßen. Außerdem folgt in einem zweiten Schritt die freiwillige Bindung an diesen Wertgehalt. 403 Das Selbst-Bewusstsein, also das Vermögen, sich inhaltlich und im Fall der Verantwortung auch sprachlich auf objektiv vermittelbare Gründe berufen zu können, wird größer. 404

Vgl. dazu Ricœur, P. (1974), Die Interpretation: Ein Versuch über Freud, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 59 f. 403 Der prohairetische Aspekt muss in diesem Zusammenhang zugleich als ein Akt der Selbstbindung aufgefasst werden. Wir erkennen (epistemischer Prozess) einen Grund und machen uns diesen potentiell zu eigen (Prohairesis). Erst diese Aneignung von Gründen verändert uns im Sinne eines veränderten Bewusstseins von uns. Kierkegaard führte diesen Akt der unbedingten Selbstwahl als Bedingung einer personalen Autopoiesis im Rahmen seiner existentialistischen Auffassung vom Guten besonders eindrucksvoll aus: »Wer dagegen sich selbst ethisch wählt, der wählt sich konkret als dieses konkrete Individuum, […]. Das Individuum wird sich also seiner bewußt als dieses bestimmte Individuum, mit diesen Fähigkeiten, diesen Neigungen, […] der als dieses bestimmte Produkt einer bestimmten Umwelt. Indem der Mensch aber solchermaßen sich seiner bewußt wird, übernimmt er es alles unter seine Verantwortung. […] [E]r wählt sich selbst als Produkt, und diese Wahl ist die Wahl der Freiheit, dergestalt, daß man, indem er sich selbst als Produkt wählt, ebenso gut von ihm sagen kann, er produziere sich selbst. […] [I]n der Freiheit wählt er selbst seinen Platz […], in der Wahl macht er sich selbst zu einem bestimmten [Hervorhebung durch GS] Individuum. […] [D]a es sie [die Konkretion seiner selbst, GS] aus Freiheit wählt, so kann man auch sagen […], sie sei seine Aufgabe.« Kierkegaard (2017), 816 f. 404 Die Verantwortung kann sonach als Katalysator einer sowohl ontologischen, epistemischen als auch ethischen stufentheoretischen Entwicklung betrachtet werden. Wer sich verantwortet, bewirkt durch die notwendig aufscheinende Fraglichkeit des »Was« der Verantwortung sowohl eine Klärung und Prüfung in normativer als auch eine Vergewisserung bzw. Neuorientierung in prohairetischer Hinsicht. Martha Nussbaum verwendet in dieser Hinsicht den Begriff des »examined life«. Vgl. Nuss402

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5.2.1 Selbst-Verantwortung Die Selbstverantwortung ist nicht bloß eine Form unter anderen, sondern jede andere Form der Verantwortung greift über in diese. Wenn ich mich vor Gericht, einem Freund oder Gott verantworte, ist das sich verantwortende Subjekt immer ich selbst. Das Ich bezieht sich dabei auf für es bestimmende und in dem konkreten Fall anzuwendende Gründe. Dieses Bekenntnis zu Gründen wiederum verweist auf unser Selbst. 405 Während in der sozialen oder politischen Verantwortung ein anderes »Wovor« der Verantwortung gemeint ist, fallen in der Selbstverantwortung das »Wodurch« und das »Wovor« zusammen. Frankl bezeichnet dieses Grundgeschehen der menschlichen Existenz auch als »Wesensgrund des Menschen« 406. In seiner Existenzanalyse geht es ihm ausdrücklich darum, diese Grundstruktur menschlichen Lebens dem Menschen zum Bewusstsein zu bringen. Denn nur in der (Selbst-)Verantwortung – Frankl spricht auch von der Daseinsverantwortung – erfährt der Mensch den Sinn seiner Existenz. »Das Verantwortlichsein ist der Sinn des menschlichen Seins.« 407 Negativ gewendet weiß der Mensch um das bedrückende, ja erdrückende Gefühl des Scheiterns, sollten wir unserer durch Gründe getragenen Selbstverantwortung nicht gerecht werden. Es sind diese antizipierten Zustände unseres Denkens, die uns als Motive antreiben, uns selbst treu zu bleiben. In der Figur Václav Havels werden wir später einen Zeugen aufrufen, dem es gelang, diese Weise der Selbstbindung unter Berufung auf die eigene Verantwortung auf beeindruckende Weise durch seine eigene Lebenspraxis einzulösen. Wie aber kann ein Klärungsvorgang zur Beseitigung von moralischer Fraglichkeit mit dem Sinnanspruch des Menschen zusammengehen? Die Antwort liegt in der durch die Verantwortung vollzogenen (Selbst-)Bindung an Gründe. Was sich einfach anhört, ist für die baum, M. (2003), Cultivating Humanity: a classical defense of reform in liberal education, Cambridge: Harvard University Press. 405 In diesem Zusammenhang kann das Selbst als die umfassende Beschreibung meiner emotionalen, kognitiven und wertenden Eigenheiten betrachtet werden. Mein Selbst kontinuiert dabei diese, mein Wesen und mein Sein in der Welt bestimmenden Bewusstseinsinhalte. 406 Frankl, V. (2005), Ärztliche Seelsorge: Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse; zehn Thesen über die Person, 11. Aufl., Wien: dtv, 66. 407 Frankl (2012), 87.

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betreffende Person von großer Tragweite. Die durch die von Plessner als Exzentrizität bezeichnete bedingte Fraglichkeit unserer Lebensvollzüge hat grundsätzlich zwei Seiten. Die eine ist im Fall der misslingenden Verantwortung der existentielle »Bewusstseinsmodus« der Verzweiflung. Ohne dass uns der prohairetische Akt der Selbstbindung und damit die Aufhebung der Fraglichkeit gelingt, bleiben wir im Zweifel gefangen. Ein Zustand, der dem zur Freiheit verurteilten Menschen, also einem Wesen – so Sartre –, das der Freiheit selbst nicht freiheitlich entsagen kann, zur schweren Lebenslast gereichen kann. Im gelingenden Fall der Verantwortung findet der Mensch die ihn bindende und erlösende Antwort auf die ihn in Anspruch nehmende Fraglichkeit. Dieser Akt der Selbstbestimmung verhindert nicht nur Verzweiflung, sondern schenkt der betreffenden Person das Gefühl 408 und die sprachlich fassbare Dimension von Sinn. 409 Sinn in seiner axiologischen und teleologischen Form. 410 Verantwortung – 408 Der Verweis auf ein Gefühl ist von großer Wichtigkeit. Wie bereits in den einschlägigen Kapiteln der vorliegenden Untersuchung herausgestellt wird, darf sowohl die exekutive als auch die teleologische Bedeutung von Gefühlen keinesfalls unterschätzt werden. Um in der sehr unübersichtlichen Unterscheidung und Kategorisierung von Gefühlen eine ganz spezielle Gattung greifbar und philosophisch nutzbar zu machen, werden wir künftig bei allen Gefühlen, die wir in Verbindung mit Sinn, Selbstbestimmung und, im weitesten Sinne, im Zusammenhang mit das eigene Leben übergreifenden und im Ganzen betreffenden Gelingensbedingungen (Wahrheit, Glaube, Treue) erleben, logopsychische Gefühle nennen. 409 Bei Kierkegaard finden wir dazu eine stilistisch sehr ansprechende Paraphrase dieser tröstenden Funktion der Selbstverantwortung: Der Mensch, der ethisch lebt, weiß, »dass überall ein Tanzplatz ist, daß selbst der geringste Mensch den seinigen hat, daß sein Tanz, wenn er selbst will, ebenso schön, ebenso graziös […] sein kann, wie der jener, denen ein Platz in der Geschichte zugewiesen ward. […] Wer ethisch lebt, hat stets einen Ausweg; wenn alles ihm mißglückt, wenn das Gewitterdunkel derart auf ihm liegt, daß sein Nachbar ihn nicht mehr sehen kann, ist er dennoch nicht untergegangen, es gibt doch immer noch einen Punkt, den er festhält, und das ist – er selbst.« Kierkegaard (2017), 818. 410 Sedmak unterscheidet in seinem sehr gelungenen Aufsatz über »Die Sinnfrage als Movens philosophischer Reflexion« (Sedmak (2005), 41–56) sechs verschiedene Bedeutungsstränge von Sinn. Die für den hier behandelten Kontext der Selbstbestimmung relevanten Bedeutungslinien sind die axiologische und teleologische. Axiologisch meint dabei z. B. die Verwendung im Ausdruck »eine sinnvolle Handlung«. Also eine Handlung, die in sich oder durch sich einen wertrealisierenden Beitrag leistet. Die teleologische Bedeutung ist relevant, weil sie den Aspekt der Zielgerichtetheit von Sinn vermittelt. Die auf die Anfrage des Lebens selbst gewonnenen Antworten vermitteln neben der Antwort auf die enthaltene Teilfrage nach dem Warum (axiologischer Aspekt) auch eine Antwort auf die Teilfrage nach dem Wozu (teleologischer Aspekt). In der Verantwortung finden wir damit eine zweifache Sinndimension: den

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so Fetz/Graeßner – ist so betrachtet nichts anderes »als die Aktivierung des Schelerschen ordo amoris.« 411 Verantwortung im Allgemeinen und Selbst-Verantwortung im Besonderen sind damit ein Prozess der Klärung, Aktualisierung und auch der möglichen Korrektur von Wertentscheidungen. Ausgehend von der Auffassung des Menschen als Sein-können, ja eines ausgezeichneten Sein-könnens, wird in der Selbstverantwortung eine Möglichkeit meiner Existenz fraglich. Das Was der Selbstverantwortung ist die Möglichkeit des Menschen (Heidegger). Ich verantworte mich als Seinkönnender vor mir selbst. Der sich selbst Verantwortende stellt sein Dasein als Form der Möglichkeit vor sein ausgezeichnetes, weil durch das Selbst bestimmte, Sein-können. Er holt sich selbst hervor, um im Lichte seiner idealen Existenz durch deren Geltung die Fraglichkeit der Möglichkeiten zu überwinden. Selbst-sein, als Wie des Existierens, zeigt sich so als Selbst-sein-können. Mit Wilhelm Weischedel gesprochen, besagt der Modus des Selbst-seins nichts anderes als das Ich im Charakter des Von-miraus-seins. 412 Die Selbstverantwortung wird so zum Katalysator eines Werdens, vom faktisch meist heteronomen, uneigentlichen Dasein zu dem, das ich von mir aus sein kann. Eine selbstbestimmte Existenz ist das Ergebnis der mittels der von mir aus Geltung beanspruchenden Seinsweise verantworteten Möglichkeit meines Handelns und Urteilens. Der Gegenstand, der oben schon erwähnten Klärung, wird somit die Evaluierung der Differenz aus meinem durch mich bestimmten Vor-Bild und der konkreten, fraglichen Möglichkeit. Selbstverantwortung ist somit ein Mittel zur Selbstaufklärung und Selbstbehauptung in der Bestimmung der Möglichkeiten, die sie von-sich-aus schon ist. In der Bestimmung des Ethischen bei Kierkegaard finden wir exakt diesen autotransformatorischen Aspekt, wenn er schreibt, dass es sich dabei um genau jenes handele, »wodurch ein in der betreffenden Lebenslage konkret geforderten und angemessenen Wertbezug und eine Vorstellung von einem durch die Antwort ermöglichten Weg, einem Weg, dessen Ende, als Endstufe einer Entwicklung, es sinnvoll erscheinen lässt, ihn zu gehen. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass Frankl die Verantwortung als formalen Wert an sich behandelt und unter Hinweis und Hinführung auf diesen (im therapeutischen Verhältnis) das Dilemma von Notwendigkeit einer Wertung und Unmöglichkeit eines Oktrois aufhebt. Vgl. Fetz/Graeßner (2005), 141. 411 Fetz/Graeßner (2005), 142. 412 Vgl. Weischedel (19721), 56 ff. Nicht zu übersehen ist hier auch der Anklang an die Eigentlichkeit bei Heidegger.

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Mensch wird, was er wird.« 413 Der Mensch aktualisiert in der Selbstverantwortung seine Selbst-Treue. In den Worten von Weischedel: Der Mensch wird »im Verwirklichen der Möglichkeit so, wie er von sich aus ist, er selbst.« 414 Selbstverantwortlichkeit gründet demnach in der Haltung, dass das Vor-Bild als Richtschnur des Existierens – und im Fall der unbedingten Forderung in besonders radikaler Weise – bestimmend ist. Handelt es sich um eine Geltung, die in der Tragweite meiner gesamten Existenz an mich herantritt, geschieht diese in der Form der unbedingten Forderung. Das unmittelbar Fordernde in dieser unbedingten Form ist die autoeidetische Struktur einer Person. Als autoeidetische Struktur wollen wir fassen, was sich uns zeigt, wenn wir uns selbst fragwürdig werden. Es ist der ethische Kern einer Person, der durch das Ich im Prozess der Selbstverantwortung freizulegen ist. »Kern« bedeutet in diesem Kontext vor allem, dass es sich um eine Struktur handelt, die selbst nicht mehr selbstverantwortet werden kann. Die autoeidetische Struktur resultiert aus einer ursprünglichen Setzung, die dadurch zum Grund unser Selbstwerdung, zur »Substanz« unseres Von-sich-aus-sein-könnens wird. Sie ist, was der Mensch im Grunde ist – sein ursprüngliches Sein-können. Die Freilegung dieser Struktur findet ihre stärkste Form in der unbedingten Forderung. Wenn die Existenz im Ganzen fraglich wird, zeigt sich, was uns im Tiefsten trägt. Nicht im natürlichen Dahinleben, sondern in diesen Grenzsituationen 415 unseres Lebens gelingt uns der unverstellte Blick auf uns selbst. Es ist aber nicht nur die Evidenz als Folge der »Freilegung«, die sich in diesen besonderen Situationen der Verantwortung zeigt, sondern zugleich die eigene Schuldhaftigkeit gegenüber dieser ursprünglichen Bestimmung unserer selbst. Die vorangehende Ungegründetheit – so Weischedel – enthüllt sich dem Selbst als Versäumnis. 416 Aus der schuldhaften Wahr-Nehmung Kierkegaard (2017), 819. Weischedel (19721), 62. 415 Äußerst fruchtbar wird dieser Ausdruck durch Karl Jaspers 1919 in seiner Psychologie der Weltanschauungen eingeführt. Er kennzeichnet darin Situationen des Menschen, in denen er endgültig, unausweichlich und unüberschaubar an die Grenzen seines Seins stößt. Es sind Situationen (Leid, Schuld, Schicksal, Tod), in denen Existenz sich unmittelbar verwirklicht. Vgl. dazu auch das entsprechende Kapitel in Störig, H. J. (1996), Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt am Main: Kohlhammer. In Jaspers Einführung in die Philosophie lesen wir: »Auf Grenzsituationen reagieren wir […] durch Verzweiflung und durch Wiederherstellung: wir werden wir selbst in einer Verwandlung unseres Seinsbewusstseins«. Jaspers (1962), 22. 416 Vgl. Weischedel (19721), 69. 413 414

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unserer autoeidetischen Struktur entsteht das Streben, durch sie zu werden, was wir sind. Wir schulden uns uns selbst. Selbstverantwortung ist also – formal betrachtet – ein durch Fraglichkeit, Klärung, Wahrhaftigkeit und Entsprechung wirksames Mittel zur Selbstwerdung, das im besonderen Fall des existenziellen Ranges der fraglichen Möglichkeit der Ursprung einer unbedingten Forderung werden kann. Der Mensch – so Weischedel – macht sich in der Selbstverantwortung auf den Weg zu seiner ursprünglichen Zukunft. 417 Der prinzipiellen Ohnmacht des Seins 418 wird in der Verantwortung die Leitung durch Gründe gegenübergestellt. 419 Die unbedingte Forderung kann demzufolge als eine existentielle Begegnung aufgefasst werden. Der Mensch begegnet seinem Von-sich-aus-sein-können im Sich-zusich-verhalten schuldhaft, weil er sich diesem autoeidetischen Kern, seinem Selbst, schuldet. Wer sich selbst verantwortet, holt sich – seine Existenz im Ganzen – aus seinem fraglich gewordenen Sein im schuldhaften Gewesensein hervor in sein Selbst-sein-können als sein Von-sich-aus-sein-können. Selbstverantwortung beansprucht uns durch unsere ursprüngliche Zukunft. 420 Es zeigt sich hier, dass Selbstverantwortung eine besondere Form der Reflexion ist. 421 Der von Max Weber aufgemachte Unterschied zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik greift unserem Verständnis von Verantwortung nach erkennbar zu kurz. Die in dieser Auffassung vorausgesetzte Annahme, wonach eine verantwortungsethische Position im Kern in der Beurteilung und Verantwortbarkeit allein der Handlungsfolgen und die gesinnungsethische Position ihr Maß in der Übereinstimmung von Werturteil und Handlungsabsicht findet, übersieht zum einen die prinzipielle Neutralität der Verantwortung Vgl. Weischedel (19721), 80. Vgl. Weischedel (19721), 80. 419 Wir stehen hier vor dem Grundgeschehen der praktischen Vernunft überhaupt. Wie kann es uns gelingen, zum einen die Gültigkeit von Gründen per se zu erkennen und zum anderen deren Anspruch an uns zur Richtschnur unserer Existenz werden zu lassen? Ohne die Einführung einer religiösen Dimension oder Existenz wird es dem Menschen aus sich, resp. aus seinem Denken nicht gelingen, die ultimative Gültigkeit von Gründen zu erweisen. In der Endlichkeit gibt es keine Ursprünglichkeit. Es bleibt – und das muss nicht notwendig als verzichtsvolles Ereignis aufgefasst werden – die deduktive Schlussfolgerung des Guten aus den Bedingungen einer humanen Existenz, die freilich im Prozess der Verantwortung stets geprüft und vergewissert zu werden hat. 420 Vgl. Weischedel (19721), 86. 421 Vgl. dazu auch Kapitel 5.5. 417 418

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gegenüber den Konsequenzen und Absichten von Handlungen, zum anderen auch den wechselbezüglichen Zusammenhang von Folgen und Absichten. Im ersten Fall muss klargestellt werden, dass sowohl Absichten als auch Konsequenzen von Urteilen und Handlungen Gegenstand der Verantwortung sein können. So kann sowohl die Leugnung einer religiösen Überzeugung zum Zweck des Schutzes meiner Angehörigen als auch die rigorose Einhaltung eines Versprechens unter Inkaufnahme der Verletzung Unschuldiger Anlass und Gegenstand normativer Selbstvergewisserung im dialogischen Prozess der Verantwortung sein. Im zweiten Fall vernachlässigt Weber die grundsätzliche »Rezeptivität« 422 von Interessen und Absichten gegenüber dem Ergebnis deliberativer Prozesse. Absichten sind nicht etwa genetisch, kulturell determiniert und resistent gegenüber der Kraft vernünftiger Begründungen. Genau das aber müsste angenommen werden, um den Gegensatz von Folgen und Absichten über die Zeit behaupten zu können. Wie wir schon gezeigt haben, bestehen vernunftbegabte Wesen nicht aus zwei getrennten Ichs, deren eines nur prägungsbedingt will und das andere in der Lage sei – womöglich epiphänomenal –, schlüssig zu denken und zu kalkulieren. Tatsächlich ist der Mensch in der Lage – zumindest bis zu einem gewissen Grad – sein Wollen und Streben durch seine selbst erlangten Einsichten zu formen. Es ist ein Vermögen, das uns erlaubt, psychologische Gegebenheiten in logopsychische 423 Antriebe zu transformieren. Die Rationalität eines Menschen bedarf immer beidem, dem Vermögen über kausale, axiologische und teleologische Zusammenhänge nachdenken zu können und außerdem der Disposition, die für am besten erachteten Ergebnisse dieser kognitiven Vorgänge auch durch triebkräftige Emotionen wollen zu können. Schließlich ist die Achtung bei Kant im Kern nichts anderes als die emotionale Übersetzung der vernünftigen Einsicht in das Gesetz. Verantwortung überspannt also Absichten und Handlungsfolgen und bindet beide durch die Vergegenwärtigung des Selbst an Gründe. Verantwortung ist das Licht auf unser Selbst in der Fraglichkeit konkreter Möglichkeiten unserer Existenz und der freiheitlichen Bestimmung von Gründen. Gelingt

422 Gemeint ist natürlich nicht im wörtlichen Sinne die Empfänglichkeit der Emotion, sondern die mittelbare Veränderbarkeit der Entstehungsbedingungen von Emotionen durch vorangehende Einsichten. 423 Damit bezeichnen wir psychologische Phänomene, Impulse, Gefühle und Strebungen, die den Sinn unserer Existenz betreffen.

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in der Aktualisierung des Selbst in Bezug auf die zu verantwortende Handlung die gesollte Übereinstimmung von An-Spruch und EntSprechung, so können wir auch von einer gelungenen Integritätsbehauptung sprechen. Selbstverantwortung steht somit analog zur Konventionalität und Gesetzesmäßigkeit der sozialen Verantwortung unter der Erwartung der Integritätsbehauptung.

5.2.2 Bezüge der Verantwortung Über diese phänomenologischen und prozeduralen (formalen) Aspekte hinaus liegt in der Selbstverantwortung immer auch ein ganz bestimmter Anspruch hinsichtlich der Inhalte der zu gebenden Antworten. Wer sich verantwortet, kann nicht ohne weiteres auf Anweisungen, ungerechte Gesetze, die Üblichkeit, das der Handlung vorausgehende Gefühl oder einen spontanen Einfall verweisen. Verantwortung schließt sowohl den Prozess der Beantwortung als auch den normativen Bezug auf mit dem Fragenden geteilte Gründe ein. Der Sich-Verantwortende erkennt Bezüge des Rechts oder des Guten an. Verantwortung ist demnach keine Sache der Natur, sondern eine fait social. Damit Verantwortung gelingt, bedarf es neben dem genannten Prozess (Fraglichkeit und Beantwortung) und dem normativen Bezug noch einer dritten Komponente: der Wahrhaftigkeit. Der sprachlich verfasste Bezug muss durch eine tatsächliche Bezogenheit der betreffenden Person verbürgt sein. Tugendhat spricht in diesem und weitergehenden Kontext auch von der intellektuellen Redlichkeit. Einer Verfasstheit des betreffenden Akteurs, die in den entscheidenden Momenten des Lebens eine Rechenschaft abzulegen – Rede und Antwort (logon dounai kai dexasthai) stehen zu können – ermöglicht. Dabei genügt es weder, reine Wissenschaft zu referieren (Phaidon, 96), noch über technisches Wissen zu verfügen (Apologie, 22). 424 Der intellektuell redliche Mensch vertritt und schätzt seine Meinung (hier: die Gründe für seine Handlung, Einstellung und sein Urteil) nicht, weil es seine ist, sondern weil sie seiner Meinung nach der Wahrheit entspricht. Um auch an dieser Stelle die grundlegende Unterscheidung zwischen exekutivem und urteilendem Prinzip beizubehalten und fruchtbar zu machen, benötigt der 424

Vgl. Tugendhat (2010), 89.

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wahrhafte Mensch zum einen eine Einsicht, zum anderen ein diese Einsicht stützendes Gefühl. Ersteres findet der Mensch in seiner Vernunft. Es ist innerhalb unserer Weltgebundenheit schlicht nicht anders zu denken (also die Vernunft überhaupt in actu zu versetzen), als den Schlüssen unseres Denkens Wahrheit zuordnen zu wollen. Das wahrhaft Gute soll sein, das Böse und das scheinbare Gute sollen nicht sein. Nun stellt ein Wunsch noch keine Einsicht dar. Die Einsicht beruht auf der Tatsache, dass ein Werkzeug ohne berechtigte Aussicht auf eine Wirkung sinnlos wäre. Die Vernunft erschließt uns Kraft ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit die Sinnlosigkeit falscher Meinungen. Sie vermittelt uns intuitiv ihre notwendige Selbstaufgabe unter der Hypothese ihres systematischen epistemischen Versagens. Wer durch etwas nicht erreichen kann, was diesem Etwas grundlegend und wesentlich eingeschrieben ist und zugleich sich selbst nur aus diesem Etwas verstehen kann, erleidet einen Zustand, der am treffendsten mit Wahn oder Verzweiflung zu beschreiben ist. Die Einsicht in das drohende Absurde wird so gestützt von der Furcht davor, den existentiellen Boden unter den Füßen zu verlieren. Oder mit Tugendhat positiv gewendet: Wir schätzen es, dass das, was wir meinen – und dazu gehören auch und vor allem unsere für wahr gehaltenen Gründe –, zu dieser Welt adäquat ist. 425 An diesem Punkt wird überaus deutlich, welche Relevanz das durch und durch normativ verankerte Phänomen der Verantwortung für den thematischen Zusammenhang der unbedingten Forderung hat. Aus dem vollendeten Bewusstsein der Wahrheit moralischer Prinzipien kann schon aus Gründen der Vermeidung der vorgestellten Folgen bedingter Handlungsweisen eine als unbedingt erlebte Forderung an uns selbst erwachsen. Ein Leben in Unwahrheit zerreißt ein Wesen, das qua rationalem Denken nach dem Gegenteil zu streben »verurteilt« ist. Die Aussage »Ja du hast Recht, diese Handlung wäre richtig, aber das kümmert mich nicht« steht schlicht im Widerspruch zur Verfasstheit unseres Geistes, ganz gleich, wer mit dem »du« adressiert wird. 426 Als Vgl. Tugendhat (2010), 110. Das »wertimmanente Sollen« bei Lauth kann auf das Gesagte hin besser verstanden werden – wenn auch über den Umweg einer Analogisierung. Wie der Mensch eine theoretische Wahrheit nach deren Einsehen nicht dauerhaft und ohne die Folge der Selbstverleugnung übergehen kann, so kann er auch eine axiologische Einsicht nicht ignorieren. Zu fühlen (Scheler), dass ein bestimmter Wert gilt, nimmt uns die Möglichkeit in einer Art Nichtung derselben, dieses Bewusstsein zu ignorieren. Es realisiert sich ein Sollen, das ursprünglich emotional vermittelt ist. 425 426

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Mensch erlebe ich mich als dem für wahr Gehaltenen unausweichlich verpflichtet. 427 Dadurch gewährt der Verantwortende trotz aller zunächst aufgebotenen Standfestigkeit seine prinzipielle Offenheit, genauer, eine Offenheit gegenüber der Wahrheit seiner Gründe. Die Verantwortung ist per se nicht normativ, sie bezieht sich jedoch immer auf einen normativen Gegenstand und kann im Fall der Imputation 428 die den Gegenständen entsprechenden Handlungen und Urteile präskriptiv einfordern. 429 Wer sich bereitwillig verantwortet, also die entsprechende Haltung hat (Verantwortlichkeit), öffnet sich selbst für das, was wir Gründe nennen. Er relativiert dabei nicht sein Selbst, sondern bindet dessen inhaltliche Substanz an Prozesse und Schlüsse der Vernunft. Wie aber steht es um die normativen Bezüge der Verantwortung im Verhältnis zu dem, was Kohlberg konventionelle oder postkonventionelle Urteile nennt? Es liegt auf der Hand, dass sich die Differenz beider Urteilsstrukturen aus dem Wovor der Verantwortung ableiten lassen müsste. Nehmen wir den in beiden Begriffen vorkommenden Ausdruck »Konvenienz« wörtlich, scheint der konventionell urteilende Mensch die Grundlegung seiner Sittlichkeit aus einer Entsprechung, einem »Mitgehen« zu beziehen. Etwas ist gut oder

427 Der differenzierende Hinweis des Ausdrucks direction of fit, in diesem Fall der Welt an meine Werturteile, bekommt zu dem Richtungsvektor eine Komponente des Strebens, die am besten durch das Konzept der Homöostase von Damasio verstanden werden kann. Das Bewusstsein davon, dass das, was wir sind, nicht im Einklang steht mit dem, wer wir sind bzw. sein sollen und wollen, bedingt eine Kraft in uns, die wir auch als moralische Imperative auffassen können. Ein Imperativ, der aus der Disharmonie unseres Wertebewusstseins mit der Welt entsteht. Wobei mit Welt immer auch unsere eigene Praxis gemeint ist. 428 Der Begriff der Imputation wird hier als eine »Zumutung« gefasst. Diese entsteht aus einem Urteil über eine (potentielle) Handlung oder ein (potentielles) Urteil in Bezug auf die betreffende Person. Gemäß diesem Urteil werden diese einer Person zugeschrieben. Im Fall der Zuschreibung von Verantwortung verstehen wir unter Imputation einen Aufruf zur (potentiellen) Stellungnahme zu einer Person, die wir als frei und dem Gegenstand der Verantwortung nach geeignet auffassen. Nach Kant lässt sich eine Tat einer Person nur zurechnen, wenn sie den Anfang einer neuen Ursachenkette bildet, selbst aber nicht verursacht ist. Vgl. Kant, KrV, B 476. Verantwortung tragen bedeutet dagegen, sich selbst als eine Person zu betrachten, die (potentiell) sich oder anderen die Benennung von Gründen (Rechenschaft) schuldet. 429 Kant unterscheidet in seinen Vorlesungen zwischen der Zuschreibung und der Zurechnung. Ist im ersten Fall bloß die Handlung selbst einer Person zuzuordnen, ist im zweiten zusätzlich die freie Handlung gemäß dem Gesetz vorauszusetzen. Vgl. Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, 87.

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schlecht, weil es einer für gültig gehaltenen Praxis oder Handlungserwartung anderer entspricht. Die Geltung resultiert also aus der faktischen Praxis oder Erwartung anderer und nicht, wie hier umfassend ausgeführt, aus eigener Deliberation und der damit verbundenen rationalen Prüfung von Für und Wider. Da sich im Fall der Konventionalität der moralische Schwerpunkt einer Person außerhalb ihrer selbst befindet, wäre es sinnlos, in diesem Zusammenhang von Selbstverantwortung zu sprechen. Der selbstverantwortliche Mensch ist somit gerade nicht der Konventionalität seiner Urteile verpflichtet, sondern einem – nämlich seinem – Entwurf seiner selbst. Mit Nietzsche könnten wir auch von einer selbstermächtigten Person sprechen. 430 Bei Platon wäre es der Mensch, der nach seiner Befreiung vom Trügerischen und einem nachfolgenden mühevollen Aufstieg Gründen ansichtig geworden ist, die nur er selbst durch eigenständiges Denken und Urteilen zu erkennen in der Lage sein kann. Der nicht sehr präzise – weil relativ geformte – Terminus der »Postkonventionalität« erhält seine spezifische Bedeutung also durch die Auffassung, wonach der darin urteilende Mensch nicht mit anderen geht, sondern mit sich selbst. Der selbstverantwortliche Mensch urteilt auto-konventionell. Dabei ist für ihn das uneingeschränkte Bekenntnis zu kritischer Reflexion und Deliberation konstitutiv. 431 Zusammenfassend können wir also festhalten, dass es sich bei Verantwortung zum einen um einen dialogisch geprägten Prozess der normativen Stellungnahme (synkatathesis) vor uns selbst oder vor anderen durch uns selbst handelt, ohne dabei selbst substantiell normativ zu sein. Verantwortung zeigt sich dabei als eine Art Schlüsselbegriff moralischer Praxis insofern, als durch diesen die Begriffe der Deliberation und damit der Selbsterkenntnis, der (Selbst-) Offenbarung und der Selbst-werdung durch Selbsttranszendenz in einen klar definierten Bezug zueinander gesetzt werden können und dadurch ein Verständnis von geteilter rationaler Praxis einerseits und von Individualität und Selbstbestimmung andererseits vermittelt wird. Zum anderen beschreibt Verantwortung eine Pflicht: »Handle und urteile so, dass du jederzeit in der Lage bist unter Bezugnahme 430 Vgl. Nietzsche, F. (1954), Zur Genealogie der Moral, Band 6, hg. v. K. Schlechta, München: Hanser, 136 f. 431 Der Fundamentalist – nach modernem Verständnis – hat diese Offenheit nie gehabt oder er hat sie verloren. Die Rückbindung an ein rational verfasstes und deliberativ verbürgtes Gut fehlt ihm. Aus einem prinzipiell rational vermittelbareren Blick auf Gründe wird in seinem Fall losgelöste Verblendung.

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auf geteilte Gründe die Folgen daraus vor der dir zugehörigen moralischen Gemeinschaft rechtfertigen zu können.« 432 Wir verwenden in diesem Bedeutungszusammenhang meist das Wort »tragen«. Wer Verantwortung trägt, steht in der Pflicht, sein Denken und Handeln bezüglich des Gegenstandes der Verantwortung gemäß den seiner moralischen Gemeinschaft eigenen normativen Erwartungen auszurichten. Wer sich verantwortet, bewirkt durch die sprachliche Vermittlung von Antworten in Form von geteilten Begründungsmustern (soziale Verantwortung) und durch Bezugnahme auf eigene Wertbindungen zum einen eine Aktualisierung seiner autoeidetischen Struktur 433, zum anderen ein Sichtbarwerden dieser für sich und andere. Es ist dieser Aktualisierungs- und Offenbarungsaspekt, der Verantwortung zugleich zu einer konstitutionellen Bedingung für eine humane Struktur des Zusammenlebens macht. Sich verantwortende Personen treten mit ihren Mitmenschen in einen normativen Dialog, der dazu beiträgt, eigene Glücksvorstellungen mit den Realisierungsbedingungen der Vorstellungen vom guten Leben anderer in Einklang zu bringen. 434 Spätestens jetzt zeigt sich die spezifisch menschliche Besonderheit der Verantwortung. Ohne das Verstehenkönnen (epistemische oder dijudikative Voraussetzung) von Gründen und die Disposition, sich von diesen Geltungszusammenhängen affizieren lassen zu können (dispositive oder exekutive Voraussetzung), gibt es keine (Selbst-) Verantwortung und beides ist nach unserem bisherigen Wissen nur dem Menschen gegeben. Verantwortung ist damit sowohl funktional als auch normativ betrachtet ein personales Phänomen und dabei unserem Gewissen überlegen. Während das Gewissen genealogisch nicht erst seit Nietzsche und Arendt zumindest fraglich geworden ist, 432 Nida-Rümelin bespricht diesen Aspekt, indem er darauf hinweist, dass z. B. die Person, die etwas verspricht, mit diesem Versprechen Teil des Begründungsspieles einer bestimmten normativen Gemeinschaft wird. Der hier aufleuchtende konventionelle Bezug bezieht sich unserer Auffassung nach jedoch nicht auf die Werturteile selbst, sondern auf die rationale Verfasstheit der Begründung. Vgl. Nida-Rümelin (2011), 174. 433 An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der autoeidetischen Struktur um einen Begriff mit zweifacher Bedeutung handelt. Zum einen ist diese besondere Struktur des Menschen offen für strukturierende Einflüsse (Deliberation, Reflexion), ein dynamischer Raum; zum anderen ist sie im Moment der moralischen Herausforderung eine verbindliche Quelle zur konkreten Stellungnahme. 434 Vgl. Nida-Rümelin (2011), 178.

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unterwirft sich der Verantwortende radikal der Vernunft und den aus ihr hervorgehenden und ihrerseits jederzeit fragwürdigen Gründen. Nicht zu unterschätzen jedoch ist der initiale Ruf des Gewissens. Im Phänomen der Inanspruchnahme durch unser Gewissen entsteht meist – besonders im Fall der Selbstverantwortung – überhaupt erst die Fraglichkeit, die den Prozess der Verantwortung in Gang setzt. Ein weiteres Moment, das unser Gewissen mit unserem Begriff der Selbstverantwortung verbindet, ist die durch das Gewissen – oftmals als Gewissensbiss benannte – mitgeteilte Furcht vor dem Scheitern dessen, was Selbstverantwortung immer auch mit sich führt: die gelingende Rechtfertigung.

5.2.3 Verantwortung und Freiheit Menschliches Leben ist genuin dadurch gekennzeichnet, dass es nicht vollständig in einem kausalen Geflecht natürlicher Ursachen aufgeht. 435 Neben den notwendig bedingten Prozessen der Natur verfügt der Mensch über ein Bewusstsein von Gründen, von vernünftig erschließbaren Zuständen und Beziehungen, die potentiell als Rechtfertigungsinhalte und selbst als Ursachen natürlicher Erscheinungen betrachtet werden können. Es ist die von Kant ausführlich abgeleitete Doppelnatürlichkeit des Menschen, die ihn seinem gattungsmäßigen Vermögen nach, sowohl theoretisch als auch praktisch, nicht nur als »Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung« 436 erkennbar werden lässt. Neben den vielschichtigen Erscheinungen unserer Sinne ist der Mensch das Wesen, das drüber hinaus über Ursachen verfügt, die selbst keine Erscheinungen sind. Kant nennt diesen Charakter intelligibel. Der Mensch ist demnach das Wesen, von dem Kant sagt: daß es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt; und dieses würde gültig sein, ohne daß die Wirkungen in der Sinnenwelt darum von selbst anfangen dürfen, weil sie in derselben jederzeit durch empirische Bedingungen in der vorigen Zeit, aber doch nur vermittelst des empirischen Charakters (der bloß die Erscheinung des intelligibelen ist), vorher bestimmt,

435 Dies bedeutet jedoch nicht auch, dass nicht andere als in diesem Zusammenhang als natürlich betrachtete Ursachenzusammenhänge bestehen können. 436 Kant, KrV, B 567.

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und nur als eine Fortsetzung der Reihe der Naturursachen möglich sind. 437

Willensfreiheit könnte sonach auch als eine Art naturalistische Unterbestimmtheit des Menschen verstanden werden. 438 Der Mensch kann auch bloß naturbestimmt handeln. Es können aber durch spezifische ontogenetische Entwicklungsprozesse Bedingungen hinzukommen (die durchaus artgebunden sind), die darüber hinausgehen. Die Unterbestimmtheit ist damit prinzipiell möglich, nicht notwendig. Eben diese transnaturalen Handlungs- und Urteilsbedingungen stehen nicht erst seit den Errungenschaften der modernen Neurophysiologie im Zentrum einer breiten philosophischen Debatte. Die Position des eliminativen Materialismus 439 kennzeichnet dabei das eine, die des strikten Dualismus das andere Ende dieses Diskurses. Was dabei auf dem Spiel steht, liegt auf der Hand: Wenn neurophysiologische Erklärungsmuster tatsächlich ausreichend wären, um unser Bewusstsein und damit auch unsere Präferenzen, unsere Ideale und Prinzipien zu erklären, dann wären auch deren Gesetze auf diesen Bereich menschlichen Daseins anzuwenden und als ein Geschehen einer geschlossenen Kausalkette anzusehen. Der sich ergebende radikale Determinismus stünde in einem kontradiktorischen Verhältnis zu einer Freiheitsbehauptung, die zugleich Voraussetzung für unser Verständnis von Schuld, Verantwortung und den Sinn von Ethik überhaupt ist. Wenn geschieht, was geschieht, weil wir in der konkreten zeitlichen und räumlichen Handlungssituation durch den unmittelbar vorangehenden, determinierenden Impuls des jeweiligen Gliedes der umfassenden Kausalkette gar nicht anders können, hätten wir als Personen keine Spielräume und die Vorstellung der Freiheit wäre eine Art Epiphänomen vor- und unterbewusst ablaufender neuKant, KrV, B 569. Vgl. Nida-Rümelin (2011), 53. 439 Als klassische Vertreter dieser Denkschule können Patricia und Paul Churchland genannt werden. Im Kern gehen die eliminativen Materialisten davon aus, dass Bewusstseinszustände wie die des Glaubens oder Empfindens inkohärent seien. Diese seien demnach grundsätzlich durch eine neurowissenschaftliche Terminologie ersetzbar. Das sogenannte »hard problem of conciousness«, wie es David Chalmers nennt, ist für den eliminativen Materialismus gelöst. Mentale Zustände, unser Bewusstsein, sind für ihn nur neuronale Zustände und es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Wissenschaft das Festhalten an zusätzlichen Entitäten (Bewusstsein, Empfinden) aufgeben müsse. Vgl. Chalmers, D. (1995), Facing up tot he problem of consciousness, in: Journal of Consciousness Studies, Volume 2, Number 3, 200–219. 437 438

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ronaler Prozesse. Oder gibt es trotz der scheinbar zwingenden Akzeptanz der Kausalität als Denkprinzip alles Geschehenden eine Möglichkeit, das menschliche Refugium der Willensfreiheit zu retten? 440 Diese Frage beantworten die sogenannten Kompatibilisten affirmativ. Unter dem Begriff Determinismus wollen wir verstehen, dass die vollständige Menge aller Fakten über die Vergangenheit, zusammen mit den Naturgesetzen, alle Fakten darüber, was in der Gegenwart geschieht, impliziert. 441 Kompatibilisten stimmen also der Aussage zu, dass Freiheit und kausaler Determinismus nicht inkompatibel sind. Dies führt notwendig zu der Wahrheit, dass die Tatsachen der Vergangenheit zusammen mit den Naturgesetzen zum Zeitpunkt t dazu führen, dass ich X tue. Wenn das so ist, dann steht mir selbst in einer als frei empfundenen Handlung – also einer Handlung aus freien Stücken, wie wir sagen – in diesem Augenblick t kein echter Zugang zu Alternativen derselben offen. Eine regulativ zu nennende Kontrolle besteht zum Zeitpunkt t nicht. Käme ein Kompatibilist auf eine Art metaphysische Lücke 442 zu sprechen, eine kontrafaktische 440 Der Atomist Epikur versuchte dies in seiner grundsätzlich deterministischen Weltauffassung durch die Möglichkeit einer spontanen, irregulären Abweichung im atomaren Strom aller Ursachen und Wirkungen zu rechtfertigen. In jüngster Zeit wird diese Auffassung, wonach die Freiheit des Willens durch besondere Phänomene der determinierten Natur erklärt werden, durch Roger Penrose vertreten. Die in der Quantenmechanik beschriebenen Zustände der Unbestimmbarkeit (Überlagerung oder Superposition) sind, seiner Auffassung nach, ein möglicher physikalischer Ursprung für das, was wir Willensfreiheit nennen. Der Kern seiner Theorie besteht darin, dass es im Inneren von Nervenzellen Teile geben müsste (Mikrotubuli), die einerseits klein genug sind, um zum Schauplatz quantenmechanischer Prozesse werden zu können, und andererseits groß genug, um das Makrogeschehen im Gehirn beeinflussen zu können. Vgl. Penrose, R. (1995), Schatten des Geistes: Wege zu einer neuen Physik des Bewusstseins, Heidelberg: Spektrum. 441 Vgl. Fischer, J. M. (2015), Verantwortlichkeit und das Ende des Lebens, hg. v. M. Quante, Münster: Mentis, 19. 442 John Searle tut dies, wenn er schreibt: »Die Lücke ist dasjenige Merkmal unseres bewussten Entscheidens, und Handelns, wo wir das Gefühl haben, dass alternative zukünftige Entscheidungen und Handlungen uns kausal offenstehen. Zurückblickend: Die Lücke ist dasjenige Merkmal unseres bewussten Entscheidens und Handelns, durch das die den Entscheidungen und Handlungen vorhergehenden Gründe vom Akteur nicht als kausal hinreichende Bedingungen für die Entscheidungen und Handlungen erlebt werden. Soweit es unser bewusstes Erleben betrifft, tritt die Lücke auf, wenn die Überzeugungen, Wünsche und andere Gründe nicht als kausal hinreichende Bedingungen für eine Entscheidung (die Ausbildung einer vorhergehenden Intention) erlebt werden.« Vgl. Searle, J. (2001), Rationality in Action, Cambridge: MIT Press, 62. Der Fehler dieser Auffassung besteht darin, dass selbst wenn ich wüss-

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Sphäre der Unbestimmtheit, gäbe er damit zugleich seine Position auf. Es ist entscheidend, die genannte Konsequenz aus dem für wahr gehaltenen – weil kaum anders plausibel denkbaren – Kompatibilismus auszusprechen und die behauptete Integrierbarkeit von Freiheit und Verantwortung verständlich zu machen. Determinismus und Freiheit schließen sich nicht aus, weil unser Freiheitsbegriff nicht die Determinierung der relevanten Prozesse per se negiert, sondern vielmehr die determinierenden Handlungs- und Urteilsbedingungen unterscheidet. Es kommt nicht darauf an, ob es zeitlich vorausgehende Determinanten gibt, 443 sondern darauf, welche davon in welchem Umfang in unserem Urteilen und Handeln wirksam werden. Die bloße Tatsache, dass trotz eines gegebenen Weltzustandes (Gesamtheit aller Fakten) neben der determinierten noch eine weitere Entscheidung möglich wäre, stellt keineswegs eine Bedingung für Freiheit und Verantwortung dar. Eine angenommene Indeterminiertheit könnte zwar eine rein zufällige Alternativhandlung ermöglichen, die ihrerseits jedoch nicht zur Begründung einer freien Handlung beizutragen in der Lage wäre. Wir sehen also, dass nicht die Bestimmung per se der Gegenspieler der Verantwortung sein kann. 444 Peter Bieri te, dass die Lücken-These falsch ist, ich immer noch nicht weiß, was die kausal hinreichenden psychologischen Zustände mich tun lassen werden und mir als Person sehr daran gelegen sein wird, gemäß dem Ergebnis der mir bewussten Deliberation zu handeln. Vgl. hierzu auch Fischer (2015), 102. Gerade ohne die Annahme einer kausalen Lücke fühle ich mich verantwortlich für die Hervorbringung guter Gründe und damit möglicher bestimmender Antezedenzien für die anstehende Handlung. 443 Vgl. hierzu die Experimente von Benjamin Libet. Libet selbst wies übrigens mehrfach darauf hin, dass seine Experimente zwar vorbewusste Aktivitäten (auch als Bereitschaftspotentiale bezeichnete Zustände) nachweisen könnten, jedoch dies keinesfalls ein zwingender Beweis für die Illusion der Willensfreiheit sei. Libet glaubt vielmehr, dass der Mensch zumindest im Stande ist, gegen diese (natürlichen) Prozesse ein »Veto« einlegen zu können. Vgl. Libet, B. (1985), »Unconscious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action«, in: Behavioral and Brain Sciences 8 (4), 529–566, 538. Im Kontext seiner philosophischen Anthropologie war es Max Scheler, der dieses Potential des Menschen, durch seinen Geist eine Negierung natürlicher Antriebsprozesse (Lebenserscheinungen) leisten zu können, als spezifisch menschliche Leistung (der Mensch als Nein-Sager) herausstellte. Vgl. Scheler, M. (2007), Die Stellung des Menschen im Kosmos, hg. v. M. Frings, 17. Aufl., Bonn: Bouvier, 100. 444 Singer widerspricht dieser Auffassung von Freiheit und deren Verträglichkeit mit kausaler Determination, wenn er behauptet, dass nur ein unverursachtes Wollen als wirklich frei bezeichnet werden könne. Vgl. Singer, W. (2004), »Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen«, in: C. Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, 9. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 30–65, 50.

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stellt zurecht fest, dass Freiheit nicht nur nicht im Widerspruch zu Bedingtheit und Bestimmung stehen, sondern im Gegenteil, sogar ein Mehr an Determination voraussetzt. 445 Der sogenannte naive Determinismus, wie Singer ihn vertritt, wonach unsere neuronalen Prozesse in eine gigantische Naturmaschine eingespannt sind, die ohne unser Zutun und Wollen von einem Zustand zum anderen wechselt, ist empirisch nicht belegbar, sondern, wie auch Gabriel feststellt, »ziemlich wilde philosophische Spekulation« 446. Es trifft zweifellos zu, dass es natürliche Bedingungen in uns gibt, die unsere Willensbildung und damit unsere Freiheitsbedingungen beeinflussen und ganz bestimmt auch einschränken. Doch dabei handelt es sich nicht um hinreichende Handlungsbedingung im Sinne einer uneingeschränkten Kommandogewalt, sondern vielmehr um unsere personalen durch genetische und ontogenetische Prozesse sowie durch unsere individuellen Erfahrungen in struktureller Verknüpfung mit diesen gebildeten Präferenzen, Neigungen, Sensibilitäten und Ängsten. Wir dürfen aber nicht den Fehlschluss zulassen, wonach es sich bei diesen Vorbedingungen um eine dunkle Kraft der Versklavung handelt, sondern sollten zur Kenntnis nehmen, dass es sich dabei um die Grundbedingungen eines ethischen Bewusstseins schlechthin handelt. Unser Dasein entsteht doch überhaupt nur, wenn wir diesen inEntscheidend ist, dass es sich erstens um Gründe und zweitens um die eigenen, durch unser Selbst verbürgten handelt. Die Eigentlichkeit wird durch die Substanz, die bereits erwähnte autoeidetische Struktur, einer Person sichergestellt. Überzeugungen, Werturteile und die damit verbundene Weise, wie sich die Person selbst sieht und auf die Zukunft hin entwirft, sind die Stützen der personalen Eigentlichkeit. Freiheit und Verantwortung finden sich, wo sich unser Selbst als normative Auffassung unserer Existenz in unseren Handlungen (oder Unterlassungen oder Überzeugungen) wiederfindet. 445 Vgl. Bieri, P. (2017), Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, 12. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer, 243 f. Eine konträre Position dazu und damit ein Beispiel für die von Bieri erwähnte falsche Auffassung von Freiheit liefert uns Van Inwagen, wenn er schreibt: »[…] [O]hne freien Willen [gemeint ist die indeterministische Auffassung der alternativen Möglichkeiten, GS] gibt es keine moralische Verantwortlichkeit: Wenn es moralische Verantwortlichkeit gibt, dann ist jemand moralisch verantwortlich für etwas, das er getan hat oder versäumt hat zu tun; für eine Handlung oder eine Unterlassung moralisch verantwortlich zu sein, heißt zumindest, dass man hätte anders handeln können, was auch immer es noch beinhalten mag; dass man hätte anders handeln können, heißt, einen freien Willen zu haben.« Inwagen, P. v. (1983), An Essay on Free Will, Oxford: Clarendon Press, 161 f. 446 Gabriel, M. (2016), Ich ist nicht Gehirn: Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, Berlin: Ullstein, 270.

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dividuellen Kern anerkennen und ihn durch die Vernunft in Beziehung zur Welt setzen. Diese naturale Grundbedingung jeder Individuation ist nicht Last oder Quelle heteronomer Entmündigung, sondern die Ausgangsbedingung unserer Existenz. Worauf es ankommt ist die Sicherung einer Verfassung, in der wir uns mit Hilfe der Vernunft zu dem bestimmen, was uns richtig erscheint. Es handelt sich um das stets gleiche Strukturprinzip der Selbstorganisation, das aus dynamisch fokussierenden, organischen, sozialen, psychischen und intellektuellen Leistungen das entstehen lässt, was uns unverwechselbar zu uns selbst macht. 447 Ob uns im Zweifel die Treue gegenüber unserer Familie oder aber unsere politische Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit vorrangig erscheint, hängt von dem ab, wer wir sind. Und wer wir sind, ist auch, aber eben nicht nur, durch unsere Natur bestimmt, die uns als Bedingung unserer Freiheit im Prozess der Selbstbestimmung ein Leben lang begleitet und sie ist dabei sowohl konstitutiv als auch normativ die conditio sine qua non unserer moralischen Handlungen. Richtig ist also, dass wir als Individuen zwar tun können, was wir wollen, aber eben nicht alles wollen können. 448 Diese theoretische Einschränkung ist praktisch und existentiell die Bedingung unserer Freiheit und definitiv nicht ihre Widerlegung. Wenn Determinismus Freiheit ausschließen würde, befände sich Freiheit unter dem Diktat des Zufalls. Denn nicht Freiheit ist das Gegenteil von Bedingtheit, sondern Zufall. 449 Freiheit ist aber nicht ZuVgl. Gerhardt (2007), 367. »Ich kann thun, was ich will […]. Aber ich vermag nicht, es zu wollen«. Schopenhauer, A. (1977), Die Welt als Wille und Vorstellung, Züricher Ausgabe: Werke in zehn Bänden, Band 2, Zürich: Diogenes, 82. 449 Das Argument der Inkompatibilisten, wonach Freiheit mit dem Ausschluss echter regulativer Kontrolle (die Möglichkeit alternativer Handlungs- und Urteilsweisen zum Zeitpunkt t) nicht vereinbar sei, werden wir hier nicht weiter diskutieren, sondern uns den Implikationen des davon abweichenden Freiheitsbegriffes der Kompatibilisten befassen. Eine ausführliche Diskussion dazu findet sich in Fischer, J. M. (1994), The Metaphysics of Free Will: An Essay on Control, Oxford: Blackwell. Außerdem wird von einigen Philosophen behauptet, es sei eine begriffliche Wahrheit, dass eine Person, die nicht von regulativer Freiheit ausginge, nicht in der Lage sei abzuwägen. Taylor etwa weist darauf hin, dass ich nicht abwägen kann, was ich gleich tun werde, auch wenn ich nicht weiß, was ich gleich tun werde, wenn ich nicht glaube, dass es von mir abhängt, was ich gleich tun werde. Vgl. dazu Taylor, R. (1983), Metaphysics, Englewood Cliffs: Prentice-Hall, 38–39 und auch Inwagen (1983), 155. Entgegen dieser Auffassung halten wir den Satz für wahr, dass es unter der Annahme einer kausal determinierten Welt richtig sein kann, davon auszugehen, dass ich mich 447 448

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fall oder Indeterminiertheit, sondern Selbstbestimmung. Also das Vermögen, durch die Kräfte unserer Vernunft gewonnene (beste) Gründe zum Ursprung unserer Urteile, Handlungen und Einstellungen zu machen. Wenn Michael Pauen allerdings davon spricht, dass bereits die Durchsetzung von Interessen und Wünschen gegen Widerstände ein autonomer Akt sei, zielt er zu kurz. 450 Freiheit, wie wir sie auffassen, gründet nicht in einem Humeschen Verständnis von bloßer Willensrealisierung, sondern darin, dass die betreffende Person mittels der Vernunft in der Lage ist, vor anderen und zuallererst vor sich selbst Gründe für den in Frage stehenden Akt zu benennen. Diese Auffassung kann als prinzipiell rationalistisch bezeichnet werden und fasst Freiheit demnach in exekutiver Hinsicht auch als das Vermögen, sich durch rational vermittelbare Gründe affizieren zu lassen. Dabei kann es sich durchaus im Grenzfall um die Entscheidung handeln, bewusst gewordenen Trieben oder Bedürfnissen folgen zu wollen. Rationalität in diesem Sinne impliziert keineswegs die Negierung bestimmter Motive, sondern umfasst stets deren Einordnung und Rechtfertigung durch die Gesetzmäßigkeiten der Vernunft. Der Satz »ich folge in der Sache meinen Gefühlen« ist also nicht notwendig irrational, sondern kann durch, z. B. im Falle eines Chirurgen, gegebene Expertise und Erfahrung eine rationale Begründung für Handlungen während einer Operation sein, weil alternative, z. B. deliberative Handlungsvorbereitungen aus zeitlichen Gründen jedenfalls nachteilig für den angestrebten Heilungserfolg wären. Es gibt einen weiteren Zusammenhang, der den Bezug auf Wünsche im Konin einer konkreten Situation nur unter der Annahme für oder gegen eine Handlung entscheide, dass diese meinen besten Gründen entspricht. Die Tatsache, dass ich weiß, dass ich zum Zeitpunkt t nicht anders hätte entscheiden können, als ich es getan habe, ist somit sowohl mit unserer Auffassung von Freiheit als auch mit der Annahme des kausalen Determinismus vereinbar. Entscheidend ist nur, dass ich vor der Abwägung (Deliberation) noch nicht weiß, wie ich entscheiden werde und ich ein tatsächliches Interesse daran habe, wofür ich hinreichend Gründe haben könnte, mich zu entscheiden. Vgl. hierzu auch Bok, H. (1998), Freedom and Responsibility, Princeton: Princeton University Press, 109–114. 450 Vgl. Pauen, M./Welzer, H. (Hgg.) (2015), Autonomie: eine Verteidigung, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer, 28 f. Pauen begibt sich damit auf das normative Glatteis des Humeschen Voluntarismus. Das Gewahrwerden von Wünschen und Interessen steht nunmal in keinem hinreichend konstitutiven Verhältnis zu Freiheit. Wenn das Befolgenkönnen von Wünschen schon Autonomie verbürgte, würde die begriffliche Differenz zur Willkür eliminiert und das führte zur Aufhebung des Verständnisses vom Menschen als Person.

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text der Freiheit legitimiert. Dieser geht auf Harry Frankfurt zurück und leistet zweierlei: Erstens versucht Frankfurt mit seinem Modell der second-order volitions eine gewisse handlungstheoretische Homogenität zu wahren. Ausgehend vom exekutiven Vorrang der Wünsche, beschreibt er Wünsche einer höheren Ordnung, gemäß derer Wünsche einer niedrigeren Ordnung gewünscht werden. Es handelt sich also um den Versuch, das, was Kant unter »Wille« verstand, empirisch zu rekonstruieren. Anstelle des apriorischen Gesetzes bestimmt der Mensch seine Wünsche aus Wünschen, die jedoch nicht einfach vorangehende Wünsche ohne jeden normativen Gehalt darstellen, sondern aus einer Quelle hervorgehen, die mit Erkenntnis (auch Klugheit), Identität und Sinn in engster Verbindung stehen. 451 Ein Mensch, der nach reiflicher Überlegung seiner Auffassung von der Bestimmung des Menschen als Person und womöglich durch einschlägige leidvolle Erfahrungen zu der Überzeugung gelangt, Freiheit oder Gleichberechtigung als einen normativen Kern seiner politischen Auffassung anzunehmen, hat auch den Wunsch ein solcher Mensch zu sein und als solcher erkannt zu werden. Aus seinem Selbst-Entwurf wird ein (höherstufiger) Wunsch. Wir können uns sozusagen (eingeschränkt) wünschen, was wir uns wünschen sollten. Zweitens gelingt es Frankfurt durch dieses Konzept, dem Widerspruch aus Determinismus und Willensfreiheit zu entgehen. Sowohl die Wünsche der unmittelbaren als auch der höherstufigen Ordnung sind Determinanten oder wie Singer sie nennen würde: Attraktoren. Freiheit wird demnach von Frankfurt nicht alternativ zum Determinismus, sondern kompatibel (kompatibilistische Position) verstanden. Entscheidend ist – wie schon zuvor erwähnt – nicht die Frage der Bestimmung selbst, sondern die Frage der qualitativen, also inhaltlichen Bestimmungsgründe. Vernachlässigen wir die Stringenz der kantischen Trennung von apriorischen und empirischen Bestim451 Da Frankfurt nicht ausdrücklich auf das Selbst rekurriert, sondern vielmehr Aspekte der Klugheit als übergeordnete Inhalte der höherstufigen Wünsche benennt, könnte für eine präzisere Differenzierung von unmittelbarem, höherstufigem (secondary) Wunsch im Fall der spezifischen Ursprünglichkeit des Wunsches aus dem Selbst, der autoeidetischen Struktur einer Person, auch von ultimate volitions, die Rede sein. Grundsätzlich möchten wir darauf hinweisen, dass bei Modellen, zu nennen wären hier zwei hierarchische Konzepte wie das von Frankfurt, aber auch von Gary Watson (vgl. Watson, G. (1975), »Free Agency«, in: Journal of Philosophy 72, 205–220, 216), die Gefahr besteht, wesentliche Aspekte der Verantwortung (Eigentlichkeit, Bindung an Gründe) zu unterlaufen und eine rein strukturelle Beziehung als normativ hinreichend darzustellen.

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mungsgründen, nähern wir uns an dieser Stelle doch wieder seiner Auffassung von Freiheit. Denn auch nach unserer Auffassung entsteht Freiheit aus der Kausalität, die die Vernunft in Ansehung ihrer Objekte hat. Der Mensch – oder besser die Person – als Urheber seiner eigenen Prinzipien. 452 Der von Kant geforderte exklusive Bestimmungscharakter der Vernunft wird an dieser Stelle ausdrücklich geteilt. Der Vorrang der Vernunft ist dadurch begründet, dass – wie schon bei Kant – nur darin ein universeller Bezugspunkt der Urteilskraft aller vernünftigen Wesen zu finden ist. Der unabdingbare Zwang zur Verständigung unter verschiedenen Individuen, den jede ethische Diskussion voraussetzen muss, bedingt notwendig einen gemeinsamen Nenner in dieser Verschiedenheit – die Vernunft. Die Analogie zur Höherrangikeit der second-order volitions von Frankfurt zu Kants emphatischer Bindung aller Triebfedern an das Gesetz ist unübersehbar: Der Mensch (selbst der ärgste) tut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise […] Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf; und wenn keine andere Triebfeder dagegen wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund in seine oberste Maxime aufnehmen, d. i. er würde moralisch gut sein. Er hängt aber doch auch […] an den Triebfedern der Sinnlichkeit und nimmt sie […] auch in seine Maxime auf. Wenn er diese aber als für sich als allein hinreichend zur Bestimmung der Willkür in seine Maxime aufnähme, […] so würde er moralisch böse sein. […] Also muss der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, […] in der Unterordnung liegen, welche von beiden [Triebfedern, GS] er zur Bedingung der anderen macht. 453

Zum Vergleich von Frankfurts Modell und der Freiheitsauffassung von Kant muss jedoch unbedingt auf zumindest einen weiteren Aspekt eingegangen werden. Wie bei allen hierarchischen Theorien, besteht auch bei Frankfurts Modell die Gefahr einer rein strukturellen Beschreibung, einhergehend mit einem normativen Defizit dergestalt, dass reine Übereinstimmungskriterien – hier: erststufiger Wunsch und zweitstufige Volition – notwendig normativ unterbestimmt bleiben. Soweit wir uns der Freiheitstheorie einer mehrstufigen Präferenzbildung und deren Bewertung anschließen, geschieht 452 453

Vgl. Kant, GMS, BA 100 f. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 33 f.

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dies ausdrücklich nicht unter der Bedingung, dass die Eigenschaft einer bloßen Übereinstimmung von Wünschen, womöglich nach vorangehender Angleichung, bereits einen zureichenden Grund für Freiheit und damit in der Folge für Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit darstellt. Ein triftiger Grund, davon nicht auszugehen, ist z. B. die vorstellbare Möglichkeit, dass eine solche Übereinstimmung auch durch subjektive Zustände wie emotionale Erregung, Hypnose oder andere manipulierte Zustände herbeigeführt wird. Dies kann nur durch die mehrfach genannte prinzipielle Ansprechbarkeit der betreffenden Person durch Gründe ausgeschlossen werden. Nur unter dieser Bedingung können höherrangige Wünsche an uns selbst als Transmittoren praktischer Vernunft fungieren. Auch die autoeidetische Struktur, der wertgebundene Kern einer Person, muss wesentlich offen gegenüber dieser Ansprache und der damit verbundenen Fraglichkeit seiner Inhalte sein. Halten wir also fest: Moralische Verantwortung und Freiheit, verstanden als ein Vermögen der Selbstbestimmung, stehen in einem bedingenden Zusammenhang. Wer nicht in der Lage ist, sich selbst auf gute Gründe zu beziehen und diese zum wesentlichen Teil seiner Stellungnahme (synkathesis) macht, entzieht sich den Bedingungen der Zuschreibung von Verantwortung. Die entscheidenden Wesensmerkmale der freien Stellungnahme sind dabei zum einen die Bindung an Gründe und zum anderen die Eigentlichkeit dieser Bindung. Nicht allein weil ich Gründe für meine Handlung nennen kann, handle ich verantwortlich, sondern weil es meine persönlichen Gründe sind, auf die ich mich beziehe. Eigentlichkeit bedeutet das eigene Für-wahr-halten von Werturteilen, verbunden mit der Bereitschaft, diese grundsätzlich deliberativ oder im Akt der Verantwortung in Frage zu stellen. 454 Die eigentliche Stellungnahme macht uns zu moralischen Akteuren, die sich selbst ernst nehmen und zugleich prinzipiell offen sind für den Diskurs über das Gute in der moralischen Gemeinschaft, als deren verantwortliche Mitglieder sie sich verstehen. Die unbedingte Forderung offenbart in der Verantwortung beides, ihre Bedingtheit durch die Bedingungen unserer wahrhaftigen 454 Auch wenn wir in der Verantwortung zunächst antworten, führt dieses Antworten eine Bereitschaft für die Öffnung gegenüber den Antworten auf unsere Verantwortungsinhalte mit sich. Wer sich verantwortet, tut dies nicht im Habitus eines Dogmatikers, sondern akzeptiert die grundlegende personale Bindung seiner Stellungnahme und die damit verbundene Anfechtbarkeit durch Dritte, deren Wertgebundenheit im Falle redlicher Erwiderung dieselbe Struktur aufweist.

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Selbstauffassung, aber eben auch ihre Unbedingtheit durch bloß für wahr gehaltene Ansprüche, deren Gültigkeitsbehauptung auf Konvention, Tradition oder Überlieferung ohne Substanz für eine gelingende Selbstverantwortung beruht. Frei und zugleich verantwortungsvoll handelt eine Person, wenn diese zum einen neben ihrem gerade eben auftretenden Wunsch, der außer durch dieses Auftreten durch nichts weiter begründbar ist, auch in der Lage ist, dieser Triebfeder eine höherstufige Volition (second-order oder ultimate-order volition) gegenüberzustellen und sie gegebenenfalls durch diese zu transformieren, sodass ein Wille durch echte Willensbildung entsteht, dessen Ursprung rational-moralisch und nicht nur natürlich bedingt ist. Wie bei Kant ist auch hier das Gütesiegel der übergeordneten Triebfeder das der Rückbindung an die Vernunft. Freilich haben wir hier die grundlegende Problematik der prinzipiellen Unterschiedlichkeitsbehauptung von Triebfedern der einen und der anderen Art bei Kant vernachlässigt. Doch dies wurde ausführlich im Kapitel 4.2.1 erörtert. Im Unterschied zu Kant sehen wir nicht die Achtung 455 vor dem Gesetz als Bindeglied zwischen dem principium diiudicationis und dem principium executionis, sondern das Streben eines jeden ver455 Kant nennt die Pflicht als zentralen Grund moralischer Praxis: die »Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem Gesetz« (GMS 400, AA). Damit gründet Kant also die praktische Konsequenz sittlicher Haltung auf einem Gefühl, wenn auch dem falschen. Menschen handeln immer dann, wenn sie überlegt handeln, also nicht impulsiv oder getrieben sind, im »Dienste« eines Interesses (vgl. Kapitel 10.3). Wir können genauso gut von absichtlich sprechen. Absichtlichkeit bedeutet, auf etwas zu zielen, über das bloße Geschehen der Handlung hinaus etwas im Blick – in Sicht nehmen – zu haben. Wie dargelegt, bedarf jede humane Praxis die sie initiierende Emotion. Die Verbindung aus Emotion und Interesse ermöglicht also die Gerichtetheit von Handlungen überhaupt. Also bedarf es der Benennung und Beschreibung einer Emotion, die wegen ihrer phänomenalen Beschaffung geeignet ist, in den Dienst der Vernunft gestellt zu werden. Achtung – wie sie Kant auslegt – kommt dafür nicht infrage. Achtung überschneidet sich semantisch mit den Bedeutungen von Respekt, Berücksichtigung, Hochschätzung und zu einem geringeren Teil mit Vorrangigkeit. Diese Begriffe implizieren zweifellos eine hohe Relevanz für das Verhalten von Personen, aber eben ohne eine mit ihnen einhergehende, final und notwendig zur Handlung drängende Emotion. Achtung kann deshalb kein Strukturelement der autoeidetischen Struktur sein. Zwar achten wir in der von uns identifizierten Emotion der existentiellen Geborgenheit, die uns mittels der Verantwortung moralisch substantiell vermittelt wird, einen Gegenstand, nämlich unser Interesse an einer authentischen Existenz. Doch handelt es sich dabei mitnichten um die Achtung nach dem Verständnis Kants. Bei ihm achten wir etwas (das Gesetz), in unserem exekutiven Zusammenhang achten wir uns selbst. Dieser relationale Unterschied der Achtung ist entscheidend.

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nünftigen Wesens nach wahrhaftiger Praxis. Der Mensch qua Vernunftwesen unterliegt allein bedingt durch die Richtigkeit seiner Einsicht 456 – und dadurch in gewisser Weise unbedingt – dem WahrheitsAnspruch seiner autoeidetischen Struktur. Wie schon oben ausgeführt, ist es nicht vorstellbar, dass ein Vernunftwesen willentlich in seiner Existenz sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht das von ihm für wahr Gehaltene verfehlt. Mit dieser Auffassung schließen wir an unser Verständnis von Verantwortung an. Der sich Verantwortende erweist sich durch seine normative Rechtfertigung als an Gründe gebundener und diesen folgend als freier Mensch, als eine Person. Er kann den Gründen entsprechen (folgen), weil er sich dies wünschen kann. Wir kommen damit zu der Auffassung, dass das Wahrheitsstreben des Menschen letztlich die Brücke zwischen rationalem Schließen und emotionalem Wollen bildet. Dem selbstverantwortlichen Menschen gelingt durch dieses Bindeglied zwischen seiner autoeidetischen Struktur und seinem konkreten Entschluss zu urteilen oder zu handeln seine höchstpersönliche Bindung an sein Selbst. Diese Form der Freiheit ist die eigentliche und führt zugleich die in der Ethik so zentrale Funktion der Autonomie mit sich. In der Selbstverantwortung aktualisiert sich die Freiheit einer Person in autonomer Weise als gerechtfertigte Selbstbestimmung.

5.3 Moralische Gründe und Motive Wenn wir bei einer bestimmten Handlung nach dem Grund fragen, meinen wir, welche Rechtfertigung es für diese Handlung in den Augen des Handelnden gibt. Dabei können als Rechtfertigungskategorien gut und schlecht, effizient und ineffizient oder richtig und falsch dienen. Begriffsgeschichtlich stand zunächst der kausale Bedeutungsaspekt im Vordergrund. Aristoteles, der für Grund die beiden Begriffe archē (Prinzip) und aitía (Ursache) verwendete, beschrieb mit seinen vier Ursachentypen (causa materialis, causa formalis, causa efficiens 456 Dabei muss diese Einsicht stets für eine objektive gehalten werden. Die Einsicht darf vom Einsehenden nicht unter der Voraussetzung subjektiver Bedingungen verstanden werden. Der »normative Zwang« entsteht nur dann, wenn der urteilende Mensch von der allgemeinen Zuträglichkeit, Glücksbeförderung etc. zusätzlich zur gewonnenen Einsicht selbst überzeugt ist. Diese »begleitende Überzeugung« erfordert die grundsätzliche Bereitschaft zu deliberativen Prozessen.

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und causa finalis) verschiedene Weisen von Gründen für das Seiende. Gründe waren also etwas, woraus Seiendes hervorging. In epistemologischer Hinsicht ist das bis heute so. Wenn wir über wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis sprechen, hat dies die Bedeutung, dass uns bezüglich der erkannten Sachverhalte deren kausale Voraussetzungen (Erkenntnisgründe) in einem umfassenden Maße bekannt sind. Der Wahrheitsanspruch im Hinblick auf den zu erklärenden Sachverhalt stützt sich sozusagen auf diese (theoretischen) Gründe. Eine gute Theorie bedingt gewissermaßen ein valides Verständnis von Gründen. Praktische Gründe hingegen dienen nicht der erklärenden Dimension von Handlungen, sondern – wie eingangs bereits genannt – der Rechtfertigung. Moralische Gründe – im Speziellen – bestimmen darüber, ob es sich um eine richtige oder eine falsche Handlung oder Einstellung handelt. Moralische Einstellungen wie Verzeihen, Verpflichtung, Verantwortung oder Dankbarkeit hängen unmittelbar an diesem verzweigten Netzwerk moralischer Gründe. Die Gemeinsamkeit ist also die: Theoretische Gründe rechtfertigen den behaupteten Wahrheitsanspruch, praktische (moralische) Gründe die Handlung. Im Unterschied zum theoretischen Grund jedoch entfalten die praktischen Gründe ihre Rechtfertigungseigenschaft nicht durch ihren kausalen, sondern durch ihren teleologischen bzw. präskriptiven Charakter. Während in der modernen Handlungstheorie zwar auch Gründe in teleologischer Hinsicht (z. B. einen bestimmten Wunsch zu haben) als (teil-)verursachend 457 betrachtet werden, spielt für die Untersuchungen von Handlungen in der Ethik dieser Aspekt eine untergeordnete Rolle. Moralische Gründe verweisen grundsätzlich auf einen obersten Zweck, der mit der betreffenden Handlung verfolgt werden soll. Um diesen Zweck näher zu bestimmen, ist es erforderlich, den Moralbegriff selbst etwas näher zu untersuchen und für die vorliegende Untersuchung festzulegen.

Neben dem Wunsch des Akteurs muss bereits seit Hume eine weitere Komponente hinzukommen, nämlich eine Überzeugung. Diese Überzeugung bezüglich der Realisierbarkeit erst veranlasst den Wünschenden zur Handlung. Dabei wird von einigen Autoren ein interessanter Unterschied bezüglich der Welt – Geist Ausrichtung gemacht. Während Wünsche darauf zielen, die Welt ihren Interessen gemäß anzupassen (world-to-mind direction of fit), ist dies bei Überzeugungen genau umgekehrt. Diese zielen auf Wahrheit, also auf eine Übereinstimmung von Geist und Welt (mind-toworld direction of fit). Vgl. Goldie (2009), 237. 457

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5.3.1 Moral Der Ausdruck »Moral« geht auf das lateinische Wort mos, mores (Sitte, Sitten) zurück und bezieht sich auf all das, was Gebräuche und Sitten eines Gemeinwesens ausmacht. Da die moralischen Regeln einer Gesellschaft ihre Gültigkeit vor allem aus der Tradierung 458 beziehen, sind diese grundsätzlich nicht als universell zu betrachten, sondern variieren in Abhängigkeit von Kultur und Gesellschaft. »Moral« hat sowohl eine deskriptive wie normsetzende Bedeutung. Im ersten Fall beschreibt sie, wie Menschen faktisch handeln, ein Muster der tatsächlichen Verhältnisse, die Sitte (mos). Weil diese Muster und Regeln zugleich der Maßstab für angemessenes (gutes) und unangemessenes (schlechtes) Verhalten interpretiert werden, entfaltet sich eine normative Komponente, die Sittlichkeit (moralitas). Während sich die Moralistik um die tatsächliche Beschaffenheit von Sitten in den entsprechenden Gesellschaften kümmert, ist es die Ethik, die sich mit den Anspruchs- und Geltungsbedingungen moralischer Normen befasst. Hier wird erwartungsgemäß unser Augenmerk liegen. Wir wollen grundsätzlich zwischen konfessionell bzw. überempirisch begründeten Normen sowie rational fundierten Sollensbegründungen unterscheiden. Beide Weisen der Geltungsbegründung werden im Kontext der jeweiligen Figuren in Teil II ausführlich erläutert, um so die normativen, teilweise narrativ geprägten Denk- und Glaubensvoraussetzungen in die Beurteilung der betreffenden Handlungen angemessen einbeziehen zu können. Rationale (postmetaphysische) Fundierungen von moralischen Normen sollen dagegen an dieser Stelle weiter besprochen und bewertet werden. Moralsysteme sind im übergreifenden Sinne utilitaristisch geprägte Regelzusammenhänge. Menschen leben nicht außerhalb ihrer unmittelbaren Lebensbedingungen, sondern eben in ihnen und bedürfen zur Realisierung ihrer elementaren Lebensinteressen (Sicherheit, Beziehungen, Entfaltung) nicht nur einer Passung zwischen Mensch und Welt im Sinne einer erträglichen Einwohnung in ihre Umwelt, sondern auch einer Passung zu den Mitmenschen ihrer Gemein-

458 Tugendhat erklärt in seiner Konzeption einer instrumentalistischen Moral explizit die Unabhängigkeit von einem traditionalistischen Hintergrund. Die Fähigkeit, zählen zu lernen, steht mit der Theorie der Zahlen im gleichen Verhältnis wie die Fähigkeit, Normensysteme zu verstehen und ihnen beizutreten. Die Fähigkeit alleine macht noch keine inhaltlichen Voraussetzungen. Vgl. Tugendhat (1997), 42.

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schaft. Um fiktive Naturzustände existentieller Verunsicherung (Hobbes) im engsten Gruppengefüge gar nicht erst entstehen zu lassen, werden entsprechend der Folgen des individuellen Handelns für die Gemeinschaft (angenehm, unangenehm) diese als gute oder schlechte Handlungen bewertet. Moral erfüllt damit auch eine Schutzfunktion, um versehrbare Lebewesen und anerkennungsbedürftige Personen zu schützen, die einerseits aufgrund ihrer geteilten Lebensform mit anderen auf deren responsives Verhalten angewiesen sind und die andererseits als unvertretbare Einzelne ihr Leben zu leben haben. 459 Der Beurteilungsmaßstab der Handlungen ist also das Wohl der betreffenden Gemeinschaft. 460 Wenngleich das Resultat derartiger sozialer Normvereinbarungen höchst unterschiedlich ausfallen kann, so sind doch Werte, die als Kern der relativ unterschiedlichen Moralausprägungen erkennbar sind, universell. So finden sich wohl in allen moralischen Systemen Inzestverbote, Ablehnung der Lüge, des Bruchs von Vereinbarungen und Versprechen gegenüber Gruppengenossen. 461 Wir finden überall die Anerkennung von Hilfsbereitschaft, Mut und Sorgfalt bei allen vorkommenden Arbeiten. 462 Für die angestrebte begriffliche Fassung der Moral ist im Hinblick auf den ethischen Relativismus entscheidend, dass jedenfalls Strukturen rationaler Übereinkunft (Prinzipien) das Fundament jedweder Moral darstellen. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Übereinkunft aus der Interpretation eines als göttlich angenommenen Willens oder aus einer Praxis der Verständigung mittels für rational gehaltenen Gründen resultiert. Unterschiede in der Normenformulierung lassen sich in großem Umfang auf die Unterschiede der kulturellen (inklusive religiösen) Verhältnisse, jedoch unter gleichzeitiger Rückführbarkeit auf eine Vielzahl universeller Prinzipien einordnen. Spätestens seit Kant kommt zu den genannten Anforderungen eines dem Vertrauensprinzip und der harmonischen Lebensgestaltung folgenden utilitaristischen Gestaltungsansatzes auch ein formal-gesetzlicher hinzu. Sodass wir konstatieren können, dass es sich in modernem Sinn bei Vgl. Gosepath (2006), 270. Vgl. Kohlberg, L. (2014), Die Psychologie der Moralentwicklung, hg. v. W. Althof unter Mitarbeit v. G. Noam und F. Oser, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 18. 461 Wir finden dazu bei Hume: »Wie groß die Verschiedenheit der Kommunalgesetze sein mag, man muß doch zugestehen, daß sie in ihren Grundzügen ziemlich regelmäßig übereinstimmen; denn die Zwecke, denen sie dienen, sind überall genau dieselben.« Hume (1984), 124. 462 Vgl. Patzig (1971), 78 f. 459 460

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Moral nicht nur um diejenigen Normen handelt, die sagen, was, mit Rücksicht auf die Interessen anderer, für mich zu tun gut oder schlecht ist, sondern auch um Normen, die die Würde jeder Person und ihre Selbstachtung 463 ins Zentrum ihrer wechselseitigen Erwartungen stellen. 464 Moral muss beide Aspekte, den der individuellen Würde und Freiheit einerseits, aber auch den durch die intersubjektiv geteilte Lebensform (Habermas) bedingten Aspekt der empathischen Verbundenheit andererseits umfassen. Frankena spricht hier vom »principle of justice« und vom »principle of benevolence«. 465 Im Hinblick auf die individuelle Dimension der Moral kommt es darauf an, dass die handelnde Person angesichts des bestehenden Regelkanons durchaus anderer Sphären des Zusammenlebens (juridische, ökonomische oder politische) für sich zu klären hat, wie sie sich selbst versteht. Moral handelt demnach von denjenigen Normen, die den Selbstbegriff des handelnden Wesens regulieren, die ihm helfen, das Problem zu bewältigen, das es sich selber ist. 466 Für ein System sittlicher Normen müssen jedoch auch nach Kant (im zeitlichen Sinn) neben der Verallgemeinerungsfähigkeit der den Handlung zugrunde liegenden Maximen immer auch inhaltliche Prinzipien derart hinzutreten, dass diejenige Handlungsweise als richtig gilt, von der nach Lage der Dinge und bester Einsicht erwartet werden kann, dass sie einen günstigeren Zustand für alle Beteiligten herbeizuführen in der Lage ist als jede andere der diskutierten Handlungsweisen. 467 Der Ausdruck »günstiger Zustand« ist natürlich bislang deutlich unterbestimmt und steht bei der genauen Betrachtung 463 Die Selbstachtung hat die Eigenart, dass sie durch ihre bewusste Berücksichtigung in der Praxis zugleich die Achtung der andern zum Gegenstand erhält. Wer sich wirklich achten will und diese zum Prinzip möglicher Handlungen erklärt, kommt nicht umhin, das gleiche Anliegen anderer in sein Denken zu inkludieren. Umgekehrt wird die Achtung der anderen die eigene Selbstachtung stützen und diesen moralischen Mechanismus erhalten. 464 Vgl. dazu auch Habermas: »Weil Moralen auf die Versehrbarkeit von Lebewesen zugeschnitten sind, die durch Vergesellschaftung individuiert werden, müssen sie stets zwei Aufgaben in einem lösen: Sie bringen die Unantastbarkeit der Individuen zur Geltung, […] im selben Maß schützen sie aber auch die intersubjektiven Beziehungen reziproker Anerkennung, durch die sich die Individuen als Angehörige einer Gemeinschaft erhalten.« Habermas (1991), 16. 465 Frankena, W. K./Hörster, N. (Hgg.) (1972), Analytische Ethik: Eine Einführung, München: dtv, 62 ff. 466 Vgl. Gerhardt (2007), 97. 467 Vgl. Nowell-Smith, P. H. (1954), Ethics, Harmondsworth: Penguin Books, 226– 244.

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des Moralbegriffes doch in gewisser Weise auch im Mittelpunkt. Der Zweck also, dem die sittliche Normierung einer Gesellschaft zu dienen hat, steht in Frage. Welche Lebensformen sollten befördert, welche erschwert, vermieden oder gar verboten werden? Die Abkehr von autoritären Grundlegungen menschlicher Normen war die Voraussetzung für die Überwindung von nach unserem heutigen Verständnis unbegründeten Ungleichheiten und willkürlicher Interpretation. In religiös fundierten politischen Gemeinschaften war der meinst von Privilegierten ausgelegte Wille Gottes die ultimative Legitimierung aller Einschränkung von Freiheit und vielfältiger Formen der Bestrafung. Diese Willkür durch zweckdienliche Interpretation göttlichen Willens oder mythischer Bedeutungen ruhte auf der Behauptung exklusiven Verstehens göttlicher Botschaften und ebenso exklusiver Verständigung mit deren Autoren. 468 Diejenige Verfassung einer Gemeinschaft gilt es anzustreben, durch die die Freiheit der einen Person mit der Freiheit der anderen Person in Übereinstimmung gebracht werden kann, ohne dass das legitime Interesse dieser Personen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, ungebührlich eingeschränkt wird. 469 Das konkrete Verfahren, wie wir von diesem Prinzip der Selbstzweckhaftigkeit jeder Person und damit von der einzigen legitimen Moralbegründung überhaupt zu konkreten handlungsleitenden moralischen Gründen gelangen, mag es ein kategorischer Imperativ 470 oder ein regelfundierter Diskurs sein, wollen wir dazu die Idee eines unparteiischen Zuschauers aufnehmen oder die Konzeption von Parteien bevorzugen, die unter festgelegten Bedingungen Gerechtigkeitsregeln aushandeln: Entscheidend ist, dass das gewählte Verfahren moralische Verpflichtungen hervorbringt, die diesem gleichen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben gebührend Rechnung tragen. 471 Der Zielzustand lässt sich mit Tugendhat auch als äquilibrierendes Normensystem beschreiben, in dem die Perspektive der 468 Dabei wurde der grundsätzlich partikularistische Charakter der Moral durch die jeweiligen Wahrheitsansprüche der Religionen nur verschleiert. Vgl. Tugendhat (1997), S. 94. 469 Vgl. Kant, MdS, A 34. Kant lässt keinen Zweifel daran, dass neben dem Gesetz, also der universellen Grundlage des Gebotenen, auch Bedingungen zur moralisch relevanten Freiheitsermöglichung gehören, die nicht nur mit denen des kategorischen Imperativs zusammenfallen. Moralische Gründe sind demnach immer auch in den spezifischen Gegebenheiten der jeweiligen Gemeinschaft verankert. 470 Unter den Einschränkungen der genannten konkretisierenden inhaltlichen Prinzipienfindung. 471 Vgl. Klemme (20062), S. 141 f.

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Äquilibrierung die Perspektive aller gleichermaßen ist. Eine sich daraus entwickelnde instrumentalistische 472 Moral will – so Tugendhat – nicht den unbeschränkten, sondern vielmehr den beschränkten Nutzenmaximierer. Die Begründung des Normensystems basiert also auf einer wechselseitig gewollten Einschränkung. 473 Erst durch die schrittweise Verlagerung von überempirischen Normenbegründungen hin zu vernunftbasierten und damit dem Denken prinzipiell aller Menschen verfügbaren Fundierungen der Moral wurde schrittweise der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und der einforderbaren Allgemeingültigkeit möglicher Rechtfertigungen der Einschränkung von Freiheiten etabliert. Ein modernes Moralverständnis hat seine Legitimation seither an der unverhandelbaren Würde jedes einzelnen Individuums und den Verhandlungsergebnissen aufgeklärter politischer Subjekte zu erweisen. Die Legitimierung der Einschränkung individuellen Strebens und Handelns geschieht bei der Realisierung dieser Prinzipien unter gelichzeitigem Verweis auf den Zweck individueller Lebensgestaltung: Autonomie. Wir stellen unsere, dem individuellen Glück geschuldeten Handlungen unter die verpflichtende Perspektive einer den Selbstzweck aller begründenden Idee. Moral und Eigeninteresse fallen dabei nur unter der Bedingung ontogenetischer Formungs- und Bildungserfolge sowie geglückter Identitätsbildung mit explizit postkonventionellem Urteilsniveau zusammen. Gelingt dies nicht, operiert die betreffende Gesellschaft mit immer ausgefeilteren Sanktionierungsmethoden, die mittels der Angst vor diesen eine freiheitliche und selbstbestimmte Moralität ersetzen zu müssen glaubt. In der Folge verlieren die Akteure einer derartig konditionierten Gesellschaft ihre individuelle Empfindlichkeit und Ansprechbarkeit für Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. Moralische Gründe müssen also geeignet sein, durch ihre Verwendung in einer reziproken Rechtfertigungspraxis unter vernunftfähigen Personen die durch die Moral geschaffene Schutz- und Entfaltungsfunktion von Individuen zu stützen und immer wieder zu erneuern. Moralische Gründe sind mit Klemme somit »Normen moralischer Richtigkeit« 474. Moral und die normativen Implikationen 472 Der Akteur innerhalb einer instrumentalistisch fundierten Moral wählt eine gemeinsame Praxis und nicht wie der Kontraktualist ein für ihn optimales Verpflichtungssystem, das für ihn speziell den maximalen Nutzen verspricht. Vgl. Tugendhat (1997), 45. 473 Vgl. Tugendhat (1997), 42. 474 Klemme (20061), 139.

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von Gut und Böse werden so einer voluntativen Bestimmung entzogen und der Vernunft überstellt. Moral muss – so Neiman – durch Überlegung, wir fügen hinzu: und Kommunikation, erlernt werden. 475 Mit dieser Definition sittlicher Gründe haben wir sozusagen den begrifflichen Bereich und dessen Grenze sichtbar gemacht, der sich in der moralischen Praxis als principium diiudicationis klar absetzt von der verursachenden Dimension entsprechender Handlungen. Als äquilibrierendes System unter autonomen Personen muss Moral zugleich die Bedingungen freiheitlichen Handelns und damit die motivationalen Aspekte moralischer Praxis berücksichtigen. Die nachfolgende Konturierung des principium executionis als Wunsch bzw. Gefühl soll durch die ausführlich zu untersuchende Wechselbeziehung zu Gründen systematische Einblicke für das Verständnis praktischer Vernunft überhaupt vermitteln. 476

5.3.2 Das Verhältnis von Gründen und Motiven Wir haben die Frage nach der normativen Bedeutung von Emotionen und der exekutiven Funktion der Vernunft bereits mehrfach berührt. Während bei den Empiristen Shaftsbury, Hutcheson und Hume eine große Klarheit dazu gefunden wurde, bei den klassischen Rationalisten eine grundsätzliche normative Abwertung von Emotionen attestierbar ist, zeigt sich bei Kant zum ersten Mal die konstitutive Notwendigkeit beider Bewusstseinskategorien für die moralische Praxis. Wir haben dargelegt, dass Emotionen, insofern sie arationale Phänomene sind, als sie selbst – im Widerspruch zu sentimentalistischen Auffassung der Empiristen – nicht in der Lage sind, an einem normativen Begründungsprozess »teilzunehmen«. Sie sind rationale PhäVgl. Neiman (2013), 28 Wir finden diese Unterscheidung auch bei Hutcheson in dessen ersten Abschnitt seiner Erläuterungen zum moralischen Sinn. Am Beispiel der Aufopferung im Krieg erläutert er: »Thus, why does a luxurous man pursue wealth? The reason is given by this truth, ›Wealth is useful to purchase pleasures.‹ Sometimes for a reason of actions we show the truth expressing a quality engaging our approbation. Thus the reason of hazarding life in just war is that ›It tends to preserve our honest countrymen or evidences public spirit‹. The reason for temperance and against luxury is given thus, Luxury evidences a selfish base temper. The former sort of reasons we will call exciting and the latter justifying.« Hutcheson wiederum verweist auf die bereits von Grotius getroffene Unterscheidung von Gründen für Krieg in justificae oder suasoriae oder diese sub ratione utilis. Hutcheson (1971), 121. 475 476

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nomene, insofern sie sich durch vernünftige Urteile, seien es Handlungsprinzipien oder Wertbindungen, grundsätzlich als »ansprechbar« erweisen. Während hinsichtlich der praktisch hinreichenden Bedeutung von Gründen und Motiven in der aktuellen philosophischen Debatte kaum mehr Zweifel bestehen, spalten sich Denker und Autoren in zwei Lager, wenn es um die Frage der Struktur von Motiven und Gründen geht. Anders gefragt: Was zählt als guter Grund 477 zu handeln? Sind es vernünftige Gründe, die bereits im klassischen Sinn der praktischen Vernunft die erforderlichen Motive hervorzubringen in der Lage sind (internalistische Forderung) oder gibt es gute, rationale Gründe, die subjektiv weiterer Antezedenzien bedürfen, um praktisch wirksam zu werden? Letztere Position führt grundsätzlich die Bedrohung der praktischen Vernunft insofern mit sich, als es unter bestimmten Umständen tatsächlich keinen Sinn mehr machen würde, von einer praktischen Vernunft zu sprechen, wenn diese die Bestimmungshoheit über die Praxis eines Menschen dadurch verlieren würde, dass andere Faktoren, die nicht allein durch das Bewusstsein vernünftiger Gedanken notwendig hervorgebracht werden, über die Umsetzung von Sollen in Tun entscheiden. Die Vernunft würde sozusagen keine praktisch hinreichenden Gründe aufbieten können und so auf kontingente Faktoren wie Wünsche oder motivierende Meinungen angewiesen sein (neohumesches Modell). Die begriffliche Unterscheidung in Internalismus und Externalismus geht auf W. D. Falk zurück. 478 Die Tragweite der darin diskutierten Gegensätze ist erheblich. Findet sich in der internalistischen Auffassung die Behauptung, die moralische Rechtfertigung einer Handlung schließe ihre Motivation bereits mit ein, bedarf moralische Praxis nach externalistischer Auffassung zusätzlich einer motivationalen Begründung. Praxis folgt demnach nicht zwingend aus Erkenntnis. 479 Es geht also um nicht weniger als die Beschaffenheit unseres moralischen Bewusstseins. Innerhalb der internalistischen Konzeption ist eine weitere Unterscheidung erforderlich. Handelt es sich bei Grund und Motiv um eine analytische Einheit, dann enthielten moralische Gründe 477 Grund darf hier nicht im engeren Sinne als rationales Urteil verstanden werden, sondern ist weiter zu fassen im Sinne einer hinreichenden Veranlassung. 478 Vgl. Falk, W. D. (1947), »Ought and Motivation«, in: Proceedings of the Aristotelian Society 48, 111–138. 479 Dieser Auffassung steht die klassische, auch intellektualistische Position des Sokrates entgegen, wonach wahre Erkenntnis auch die praktische Umsetzung mit sich führt.

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bereits begrifflich den Wunsch, ihnen zu folgen, oder es wird die begriffliche Verschiedenheit von Grund und Motiv unterstellt und dennoch die internalistische Forderung erfüllt. 480 Im zweiten Fall können wir auf Kapitel 4.2.1 zurückblicken und Kant dieser moraltheoretischen Auffassung zuordnen. Während Hume keiner der beiden eindeutig zuzuweisen ist. 481 Durch den Ausschluss moralischer Rechtfertigung durch die Vernunft und deren Reduktion auf mögliche funktionale Beiträge wäre seine Position wohl eher als reduktionistisch-internalistisch zu bezeichnen. Der Belang dieser moralphilosophischen Debatte für die Bearbeitung des Phänomens der unbedingten Forderung liegt auf der Hand: Schon der Terminus unbedingte Forderung hat neben seiner auf Karl Jaspers zurückgehenden Bedeutung, die auf die Quelle der Forderung verweist, auch eine Konnotation hinsichtlich der exekutiven Fraglosigkeit. Zumindest die zweite Bedeutung bedarf auf jeden Fall dieser moraltheoretischen Untersuchung von Gründen und Motiven. Die Behauptung, objektive Gründe würden bereits begrifflich die subjektive willentliche Komponente der Ausführung mit sich führen, halten wir nicht für plausibel. Eine theoretische Auseinandersetzung (Deliberation) mit möglichen moralischen Handlungsweisen und die sich möglicherweise daran anschließende Einsicht (Zustimmung) ist von dem tatsächlichen Entschluss als Willensakt kategorial verschieden. Wenn wir deliberieren, kritisch prüfen, Zusammenhänge auf ihre Schlüssigkeit hin untersuchen, dann finden diese Prozesse in einer entlasteten Weise statt. 482 Damit ist gemeint, dass wir die mit einer rationalen Abwägung verbundenen Operationen durchzuführen in der Lage sind, ohne dabei eine persönliche Involvierung im Sinne einer Betroffenheit oder resultierenden Verpflichtung mitzudenken. Der Mensch ist im Stande, Wissenschaft zu betreiben, ohne auch nur einen Gedanken an die persönliche Betroffenheit zu investieren. Wäre das nicht so, müssten Wissenschaftler nicht nur nach ihrer Fähigkeit, empirische Daten zu gültigen Erkenntnissen zu transformieren, sondern zusätzlich nach ihrer persönlichen Passung zu etwaigen Forschungsinteressen ausgewählt werden. Es kommt durchaus vor, dass wir bei der Beurteilung moralischer Fragen vor Vgl. Scarano (2002), 432–437. Vgl. Kapitel 4.2. 482 Die Verfechter externalistischer Ansätze sprechen auch von der »Bedingung deliberativer Transparenz«. Gosepath (1999), 20. 480 481

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der endgültigen Schlussfolgerung innehalten, weil wir ahnen, dass daraus Ansprüche an uns resultieren könnten. Diese Ansprüche aber sind Inhalte eines antizipierten Verhaltens Dritter oder eigener nachfolgender Überlegungen. Die Forderung an uns resultiert nicht aus dem Urteil selbst, sondern aus der Erfahrung. Wenn ich zum Schluss komme, dass a) unser Planet nur durch eine drastische Reduzierung der CO2-Emissionen vor einer – aus menschlicher Perspektive – dramatischen Klima- und damit einhergehenden Oberflächenveränderung zu bewahren wäre und b) jeder Mensch grundsätzlich die Pflicht hat, seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung humaner Lebensbedingungen auch über seine eigene Lebensspanne und seinen persönlichen Lebensraum hinaus zu leisten, es sei denn, er würde seine aktuellen Lebensressourcen damit unter ein ihm zumutbares Mindestmaß reduzieren (Ernährung, Fortpflanzung, bestimmte Freiheits- und Entfaltungsrechte, etc.), dann mag dies bei der anschließenden Bestellung eines schweren Geländewagens zwar zur Entwicklung von unangenehmen Gefühlen der Scham führen, jedoch keinesfalls zwingend diesen Kaufentschluss verhindern. Eine analytische Einheit zwischen begründetem Urteil und subjektiver Willensbestimmung besteht also nicht. Die internalistische Auffassung widerspricht unserer gängigen phänomenologischen Charakterisierung von Deliberation. Korsgaard bringt diese Überlegung auf den Punkt, wenn sie meint, der zwingende Charakter einer derartigen Überlegung läge in dieser, nicht in uns. 483 Wir können dann zwar mit gutem Grund behaupten, diese Person handele irrational, 484 weil sie unabhängig von der Richtigkeit ihrer Annahmen a und b keine innere Übereinstimmung zwischen Urteil und Praxis herstellen konnte, an der Tatsache der zusätzlichen Bedingtheit praktischer Vernunft ändert es indes nichts. Halten wir also fest: Es gibt keine zwingende Verbindung zwischen objektiven theoretischen Operationen und der subjektiven Willensbildung. 485 Einen Grund verstehen impliziert Vgl. Korsgaard (1999), 132. Dieses Urteil setzt faktisch freilich die Ablehnung der Humeschen Auffassung von Rationalität als wunschgemäßer Handlungsweise unter potentieller Zuhilfenahme einer rein instrumentell verstandenen Vernunft voraus. 485 Diese Aussage steht in Übereinstimmung mit einer Vielzahl neurophysiologischer Untersuchungen. Nicht wenige psychische Krankheitsbilder – wie z. B. ADHS – und selbst die lange zurückliegenden Erkenntnisse aus dem berühmt gewordenen Unfall des Phineas Gage aus dem 19. Jhd. weisen darauf hin, dass es in unserem Gehirn ein spezifisches Areal gibt, den sogenannten Präfrontalcortex, das unabhängig von ande483 484

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nicht ohne weiteres, von ihm motiviert zu werden. Wenn wir den moralischen Prozess, also die Überlegung und die Ausführung moralischer Inhalte richtig verstehen wollen, müssen wir von einer Art koproduktiven Wirkung von Wahrheit (Geltung) und bestimmten, noch näher zu untersuchenden exekutiven Bedingungen ausgehen. Es könnte doch sein, dass Gründe zwar keine Motive implizieren, diese jedoch zumindest ko-konstituieren. Dann wäre die kausale Rolle des Grundes für die ausgelöste Handlung keine geringere als der Inhalt eines Buches für das Wissen eines betreffenden Menschen. Bücher können wirkungslos im Sinne einer nicht gelungenen Vermittlung von Wissen sein, das Gegenteil trifft aber auch häufig zu, was die Rolle des Buches in seiner kausalen Bedeutung für eine bestimmte Wissensvermittlung nicht verringert. Lediglich die unmittelbare Notwendigkeit in der Beziehung Buch und Wissen wäre nicht gegeben. Wie in diesem Fall das Wissen auch z. B. durch Nachdenken oder Unterrichtung entstehen kann, kann eine Handlung neben einer durch Gründe induzierten Motivierung auch durch dispositive, elementar körperliche oder psychologische Auslöser (Motive) verursacht werden. Thomas Nagel hat sich mit der Beziehung von Gründen und Wünschen intensiv befasst und kommt zu – aus unserer Sicht – durchaus plausiblen Zusammenhängen. Nagel akzeptiert die Notwendigkeit von Wünschen für (rationale) Handlungen, negiert jedoch Wünsche als Antezedenz-Bedingung, soweit diese nicht selbst durch Gründe motiviert sind. Obwohl fraglich ist, ob wir diese durch Gründe motivierten Wünsche einfach nur als »Wünsche« oder vielleicht besser als eine dispositive Struktur bezeichnen sollten, trifft Nagel damit den Nagel auf den Kopf. Gründe sind demnach motivierend, weil sie in der Lage sind, Wünsche, besser: dispositive Strukturen, zu aktualisieren. Die analoge Struktur zu Kants Motivationsmodell ist augenscheinlich. Nagel widerspricht damit klar der Vorstellung notwendiger letztlich rational blinder Wünsche als Antezedenz rationaler Handlungen. 486 Die Vernunft hat so gesehen zwei Gesichter, das der logischen Struktur im Kontext sprachlicher Rechtfertigungspraxis, aber auch das der veranlassenden Kraft für adäquate ren kognitiven Prozessen eine für die Exekution von Einsichten maßgebliche Rolle in Form von Hemmung oder Verstärkung spielt. Siehe dazu: Damásio, H. et al. (1994), »The return of Phineas Gage: clues about the brain from the skull of a famous patient«, in: Science 264 (5162), 1102–1105. 486 Vgl. Nagel, T. (2005), Die Möglichkeit des Altruismus, 2. Aufl., Berlin: Philo Fine Arts, 41–48.

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Handlungen. 487 Am Beispiel der Klugheit weist Nagel nach, dass, wenn wir Handlungen zugunsten künftiger Bedürfnisse wählen und dabei aktuelle Wünsche zurückstellen, wir handeln, obwohl kein aktueller (unmotivierter) Wunsch dazu vorliegen kann. Die einzige Erklärung für diese klugen Handlungsweisen liegt in dem durch die Vernunft motivierten Begehren und kann nicht in antezedierenden Wünschen gefunden werden. Dies impliziert, »dass sich der Einfluss von Gründen über die Zeit hinweg geltend machen kann, weil es rational ist, all das schon jetzt zu befördern« 488. Der philosophisch interessante Aspekt scheint uns die Beschaffenheit der Bedeutungsstrukturen und deren Entstehung zu sein. Handelt es sich um rein heterogene Reaktionsbedingungen zur Erlangung oder Vermeidung von Gefühlen oder können wir für die bestimmenden Handlungsmotive Gründe anführen, die eo ipso einer vorgestellten Gemeinde von Vernünftigen sprachlich vermittelbar wären? Funktionieren wir also nur in einem mechanistischen Sinn oder folgen wir Zusammenhängen, die zwar empirisch aufgeladen, aber zugleich für die betreffende Person kognitiv erschlossen, begründet und verantwortbar sind? Die aktuelle empirische Forschung zur moralischen Motivation zeigt, dass die Bereitschaft zur Normenbefolgung weder aus der Unterwerfung unter eine rigide, kontrollierende Über-Ich-Instanz, noch aus früheren Habitualisierungen resultiert, sondern am besten durch ein sogenanntes Selbstbindungsmodell darstellbar ist. 489 Menschen weisen also offenkundig eine sensible Verbindung zwischen rationalen Einsichten (Vernunft) und motivationaler Disposition (Emotion) auf. 490 Gründe vermögen allein aufgrund ihrer Gültigkeit noch nicht zu motivieren, aber sie können in Menschen mit einer rational ver487 Hier muss jedoch unbedingt ergänzt werden, dass ohne das Vorhandensein des Wunsches, sich selbst als ein Wesen aufzufassen, das rationalen Beziehungen folgen und entsprechen will, die Übertragung von Gründen in Motive in uns Menschen nicht plausibel erklärbar wäre. Vgl. dazu auch Gosepath (1999), 136. 488 Nagel (2005), 66. 489 Vgl. Nunner-Winkler (2006), 180 ff. In Nunner-Winklers Studie wurde bereits von Neun- bis Zehnjährigen auf die Frage: »Warum sollte man tun, was richtig ist?« am häufigsten die Antwort: »Weil man gerecht und fair sein will« gegeben. 490 Das von Andreoni 1990 im Rahmen der rational-choice-theory erwähnte innere Erleben nach normkonformen Handlungen: warm glow feeling kann als emotionale Antwort und zugleich als veranlassender Moment für derartige Handlungen verstanden werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich dabei um eine äußerst ich-nahe Erfahrung handelt, die nicht mit Gefühlen zu vergleichen ist, die sich nach einem Sieg, einer guten Note oder dergleichen einstellen.

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fassten Selbstkonzeption jene thymotische Genugtuung hervorrufen und sind doch ursprünglich auch wieder an Wünsche im Sinne existentialer Urantriebe zurückgebunden. Dieser Urtrieb resultiert aus der Wahrnehmung und Beurteilung unseres Selbst als eine sinngebundene und -realisierende Existenz. Wer weiß, wer er vor sich selbst sein will, hat existentiale Gründe, die in motivationale Wünsche nach Entsprechung dieser Zielgestalt in der Form von Selbstwerdung und Selbstachtung übersetzt werden. Menschen wollen sich nicht nur verstehen – also kausale Verstrickungen aufdecken –, sondern sich achten und lieben. Dieses Verlangen ist ohne ein höchstpersönliches Urteilen über Werte nicht zu befriedigen und das ist die erste und stärkste sittliche Quelle menschlicher Praxis. Durch diese Einsicht verstehen wir nun auch den Menschen als nach Geltung und Sinn Suchenden. Dabei können metaphysische Gewissheiten ebenso wirkmächtige Bezugsgrößen hervorbringen, wie es Vorstellungen vermögen, die uns durch internalisierte Werturteile eine verbindliche, letztlich teleologisch verstandene Idee unserer eigenen lebenswerten, weil sinnrealisierenden Existenz in den entscheidenden Momenten unseres Lebens vor Augen halten. Dieser Blick auf uns im Bewusstsein unserer vernunftvermittelten Werturteile vermag uns einerseits zu motivieren, weil wir ohne Selbstachtung nicht leben wollen. 491 Andererseits ist er uns Grund, weil er uns erlaubt, uns zu rechtfertigen, vor uns und den Mitmenschen. Das Wollen und die Geltung finden in der anthropologischen Tatsache der vernunftbewirkten Stellungnahme zu unserer eigenen Existenz ihren Ursprung und der Widerspruch, wie er in den internalistischen und externalistischen Vorstellungen deutlich beschrieben wurde, löst sich auf. Gründe werden tatsächlich nur verständlich, wenn sie Geltung und Wille in der Lage sind zu erklären. Der zugrundeliegende Prozess ist ein Strukturierungsvorgang, in dem aus unserer existentiellen Selbstprojektion eine dispositive Struktur entsteht. Diese wiederum vermag Gründe, die nur Gründe sind, wenn sie unserem Selbstentwurf entsprechen, stützend zu motivieren. Wünsche verlieren damit ihre radikal naturalistische Verursachung und werden auch zu rationalen »Derivaten«. Wünsche 491 Der Verlust der Selbstachtung als strukturelles Phänomen führt material die Verzweiflung mit sich. Der motivationale Raum spannt sich somit von zu vermeidender Verzweiflung bis hin zu dem von Andreoni genannten warm glow feeling, das sich bei selbstkonformer Praxis einstellt.

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können deshalb als motivationale Bedingung anerkannt werden und müssen zumindest der Möglichkeit nach als kausal durch rationale Zielvorstellungen verursachbare Handlungsursachen gelten. Die dargelegte Verbindung von Selbst, Grund und Motivation bildet die Grundlage für die im Kapitel 10.2 näher zu erläuternde autoeidetische Struktur. Es ist aber bereits jetzt erkennbar, wie über unser wertgebundenes Selbst eine Dynamik der motivierenden Gründe entstehen kann, die ihrerseits die Aufgabe hat, eine Kongruenz aus Selbst und Welt zu ermöglichen. Da eine Kausalbeziehung zwischen Einsicht und Motivation nicht darlegbar ist, muss der Begriff der praktischen Vernunft um dispositive Voraussetzungen erweitert werden. Die Vernunft kann nur unter Bedingungen bewirken, was gesollt ist. Insofern trifft Tugendhats Aussage ins Schwarze, wenn er behauptet, eine Moral, die nicht auf Gefühlen aufbaut, sei eine Quasi-Moral. 492 Wenn Frankl vom Menschen als sinnstrebigem Wesen spricht und Aristoteles in der Übereinstimmung von Güte und Praxis das summum bonum benennt, mag der hier beschriebene Zusammenhang verdeutlichen, wie eine existentiell aufgefasste Interpretation dessen aussehen könnte. Die Konsequenz, dass sich aus dieser Feststellung eine inhärente Schwächung des rationalistischen Verständnisses der praktischen Vernunft ergibt, ist ebenso unausweichlich wie hinnehmbar. Schließlich hat die aktuelle Philosophie nicht in erster Linie den systematischen Implikationen und Ansprüchen bestimmter vergangener systematischer Theoriekonstrukte (KpV) zu folgen, sondern es müssen Theoreme unabhängig davon die überzeugendsten Gedanken und Einsichten der Gegenwart wiedergeben. 493 Wir können zwar den Verlust der Vernunft als alleinigen Bestimmungsgrund menschlicher Vgl. Tugendhat (1997), 33. Oder wie J. Wallace diesen Verdacht einer unzulänglichen Begründung ausdrückt: »Es ist jedoch nicht ausgemacht, dass das rekonstruierte Selbstverständnis unserer moralischen Praxis Vorrang vor einer (plausiblen?) Theorie der Motivation haben sollte. […]« Internalisten müssen versuchen nachzuweisen, dass das, was uns aus dem inneren Gesichtspunkt unseres alltäglichen praktischen Überlegens als eine Überlegung erscheint, die uns einen unbedingten moralischen Grund gibt, etwas Bestimmtes zu tun, letztlich doch immer auf einer Pro-Haltung (pro-attitude), letztlich also auf einem Wunsch beruht, auch wenn es aus der Innenperspektive nicht so scheinen mag. Die Reichweite rationaler Handlungs- oder Meinungsbestimmung überschreitet den Geltungsbereich der Philosophie. Mit Korsgaard gilt jedoch, dass uns die Philosophie zu sagen in der Lage sein muss, wie es ist, rational zu sein. Vgl. Korsgaard (1999), 145. 492 493

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Praxis bedauern. 494 Ebenso können wir aber auch die entscheidende Bedeutung personaler Eigenschaften als ko-konstitutive Bedingungen einer moralischen Praxis willkommen heißen. Die Entscheidung, welchen Standpunkt wir einnehmen, hängt von unserem Zutrauen in psychologische und pädagogische Möglichkeiten einer vernunftverpflichteten Formung menschlicher Entscheidungspraxis ab.495 Für die vorliegende Untersuchung spielt die Beschaffenheit sowohl der Gründe als auch der motivierenden Kräfte in einer ganz anderen Hinsicht eine wichtige Rolle. Im zweiten Abschnitt der Untersuchung werden konkrete Figuren der Geschichte auf genau diese strukturellen Fragen hin untersucht und dabei zwischen eher religiösen und tendenziell postkonfessionellen Begründungszusammenhängen unterschieden. Wir werden zeigen, dass sich die Rolle der Vernunft dabei nicht nur in ihrer theoretischen erschöpft, sondern darüber hinaus existentielle Orientierungsfunktion übernimmt. Die vorangehenden Gedanken zum Zustandekommen moralischer Praxis werden insbesondere für die Konzeption der autoeidetischen Struktur, in der sowohl rationale als auch emotional-dispositive Elemente als Strukturmomente integriert werden, fruchtbar gemacht.

5.4 Der Wille im Lichte des Sollens Bereits in der griechischen Antike wurde die Differenz von Gesolltem und Gewolltem thematisiert. Sokrates sprach im Dialog Protagoras davon, dass das sittliche Niveau der Handlungen stets mit dem der Einsicht in das Gute identisch ist und schloss damit die Willensschwäche (akrasia) aus. 496 Dieses intellektualistische Verständnis von der rechten Praxis beruhte letztlich darauf, dass ein vernünftiger Mensch in seinen Handlungen niemals hinter das ihm Freiheit schenkende Wissen vom Guten zurückfallen würde. Für Sokrates hat die Einsicht in das Gute eine Erhabenheit zur Folge, die keinen Spielraum für Nagel und Williams verweisen genau darauf und glauben, damit die Richtigkeit des Internalismus beweisen zu können. Vgl. Gosepath (1999), 128. 495 Es ist – so Korsgaard – kein Zufall, dass zwei der prägendsten Philosophen der westlichen Tradition – Aristoteles und Kant –, die beide Moral als Form der praktischen Vernunft verstanden, sich explizit mit den Methoden der moralischen Erziehung auseinandersetzten. Vgl. Gosepath (1999), 136 sowie Habermas’ Diktum von den entgegenkommenden Lebensformen. Vgl. Habermas (1991), 25. 496 Vgl. Kapitel 6. 494

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Zögern oder Unterlassung übriglässt. Das Gute trägt im Erkanntwerden zugleich die Motivation, es zu realisieren in sich. Eine durchweg vergleichbare Auffassung von den zureichenden Gründen für die moralische Praxis vertritt der Leibniz-Anhänger Christian Wolff. Die entscheidende Prämisse des für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts prägenden Moralphilosophen besteht darin, das Streben nach sittlicher Vervollkommnung zum Naturprinzip vernünftiger Wesen zu erklären. Deduktiv leitet er daraus das Gesetz der Natur ab: Thue, was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was ihn unvollkommener machet. 497

Aus der genannten Prämisse und der Einsicht in das Gesetz ergibt sich so für Wolff ohne weitere Annahmen und Zugeständnisse das Verlangen des Menschen, dem Naturgemäßen, hier der Möglichkeit der sittlichen Vervollkommnung, zu folgen. Das Motivationsproblem scheint gelöst. Denn der Mensch, so Wolff, verfolgt letztlich seine Glückseligkeit und diese sei nun mal nicht in der Befriedigung von Neigungen und Leidenschaften, sondern nur aus der Herrschaft der Vernunft über jene zu gewinnen. Also muss er, um glücklich zu werden, dem Gesetz folgen. 498 Wer nämlich die konstitutiven Bedingungen des Glücks eingesehen und somit die wahre Natur des Menschen erkannt hat, wird alles, was der Vervollkommnung der Gelingensgründe dient, anstreben und das Gegenteil meiden. 499 Die Befolgung des Gesetzes ist das Mittel »seine Glückseligkeit zu erhalten« 500. Wolff postuliert somit wie Sokrates eine intellektualistisch motivierte Handlungspraxis, jedoch nicht aus einer evidenzbasierten Einsicht in das Gute schlechthin, sondern durch einen – wie wir finden – Fehlschluss (petitio principii), indem er den Strebungen des Menschen (hier dem Glück) eine Verwurzelung im Primat der Vernunft zuschreibt und das Gesetz der Natur, das es einzusehen gilt, somit zu einem Verlangen nach rationaler Kontrolle aller Affekte und Neigungen wird. Die anthropologische Annahme der alleinig rationalen Glücksquelle formuliert also bereits den Inhalt der Schlussfolge-

497 Wolff, C. (1733), Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen: zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Frankfurt am Main, Leipzig: Renger, § 12. 498 Vgl. Wolff (1733), 113, § 185. 499 Vgl. Wolff (1733), § 28. 500 Wolff (1733), § 28, § 57.

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rung. 501 Der stetige Vervollkommnungsanspruch richtet sich deshalb nach Wolff auf die Klarheit der Einsicht in die Gründe für die Glückseligkeit, wodurch wiederum zureichende Ursachen für das richtige Wollen entstehen. 502 Aristoteles bestreitet die hinreichende, unfehlbare Bestimmung des Willens durch die Einsicht in das Gute mit Bezug auf Sokrates. Er verweist vielmehr am Ende des dritten Buches seiner Nikomachischen Ethik auf die »Herausforderung«, die sich aus dem sittlich Gesollten und der tatsächlichen Praxis ergibt. Niemand sollte ihm [Sokrates, GS] zufolge wissentlich gegen das Beste handeln, sondern immer nur aus Unwissenheit. Allein diese Vorstellung steht zu den klaren Tatsachen in Widerspruch, und man muß nur sein Augenmerk auf den Affekt, die Leidenschaft, richten […]. 503

Die anschließend untersuchten möglichen Kombinationen von bloßer Meinung und echtem Wissen sowie trefflicher und verfehlender Begierde führen schließlich zu dem Schluss, dass der Tugendhafte nicht durch bloße Mäßigung tugendhaft sein könne, denn dann könnte zwar das Schlechte – obwohl begehrt – durch den erworbenen Habitus vermieden werden, doch zugleich würde auch das Gute womöglich durch den enthaltsamen Charakter nicht in praxi realisiert. Deshalb kann nur gelten:

501 Zur Verdeutlichung sei etwas genauer auf den Zusammenhang von Güte, Vervollkommnung und Glück hingewiesen. Wolff geht gemäß dem Prinzip vom zureichenden Grunde davon aus, dass das erkannte Gute zu einer notwendigen Willensbestimmung führt. Das Ergebnis der erfolgreichen Bestimmung des Willens gemäß dem Gesetz wiederum vermittelt uns in einem resultierenden Sinn Glück. Bei Kant finden wir einen ähnlichen Zusammenhang in dessen Tugendlehre. Eine »fröhliche Gemütsstimmung« resultiert hiernach aus dem Bewusstsein, in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Freiheit gehandelt zu haben. Wenngleich bei Kant freilich in Absetzung zu Wolff nicht Glück, sondern eine gute Gestimmtheit die Folge aus der pflichtgemäßen Bezwingung der Natur ist, denn »die moralisch gerichtete Vernunft« zieht die »Sinnlichkeit (durch die Einbildungskraft) mit ins Spiel.« Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Fußnote 23, 24. In der zweiten Kritik lesen wir gar, dass nicht nur die Tatsache, dass der reine Bewegungsgrund des Charakters, also das Gesetz, weil er der einzige in Frage kommende Grund ist, sondern »auch darum, weil er den Menschen seine eigene Würde fühlen lehrt, dem Gemüte eine ihm selbst unerwartete Kraft gibt.« Kant, KpV, A 271 f. 502 Vgl. Wolff, C. (1751), Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle: Renger, § 246, § 373. 503 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1145 b, 25.

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Wie nämlich ein Knabe nach der Vorschrift seines Erziehers leben muß, so muß sich das begehrende Vermögen im Menschen an die Vorschrift der Vernunft halten. Daher muß beim Mäßigen der begehrende Seelenteil mit der Vernunft übereinstimmen; denn beide haben das sittlich Schöne zum Ziel, und nun begehrt einerseits der Mäßige, was er soll und wie und wann er soll, und andererseits ist es gerade diese, was die Vernunft gebietet. 504

Hier wird die dianoetische Tugend der Mäßigung zur Bedingung einer gelingenden Übereinstimmung des Sollens und Handelns. Triebe und Affekte werden bei Aristoteles nicht automatisch durch eine rationale Leistung zu Stützen des rechten Wollens, sondern bedürfen der praktischen Einübung und einer damit zu erreichenden habituellen Verfassung der Strebungen (hexis), die so eine Kongruenz von rationaler Einsicht und affektivem Streben erst ermöglicht. 505 Der Tugendhafte will, was er soll, weil er durch Einübung zunächst Gewöhnung und dann auch Einsicht in das moralisch Gesollte erlangt. Die moralische Handlung wird dann nicht mehr nur erkannt, sondern spontan gewollt. 506 Tugend unterscheidet sich von Motiv und Absicht eben dadurch, dass neben der dispositiven Bestimmung auch die Performanz hinzukommen muss. Insofern stimmt Tugend mit Tauglichkeit, Taugen und Tüchtigkeit überein. Moralische Motive bilden so gesehen zwar den Kern, aber nicht das Ganze der Tugend. 507 In gewisser Hinsicht folgen Leibniz und Wolff dieser von der Einsicht in das richtige Maß bedingten Sittlichkeit. Wie bei diesem das Streben zum Guten zur Realisierung des Gesollten führt, 508 ermöglicht die Befolgung des Vervollkommnungsgebotes bei jenen die Erkenntnis vom rationalen Vorrang in der sittlichen Praxis und das Vermögen, den Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1119 b, 10. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1105 b, 9–12. 506 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1105 b, 25 ff. 507 Vgl. Birnbacher, D. (2013), Analytische Einführung in die Ethik, 3. Aufl., Berlin, Boston: de Gruyter, 297 f. sowie: »Nur möchte es keinen kleinen Unterschied machen, ob man das höchste Gut in ein Besitzen oder ein Gebrauchen, in einen bloßen Habitus oder in eine Tätigkeit setzt. Der Habitus kann ja, wie z. B. bei einem, der schläft oder sonstwie ganz untätig ist, vorhanden sein, ohne irgend etwas Gutes zu verrichten, der Aktus, die Tätigkeit, aber nicht. Denn sie wird notwendig handeln und gut handeln. Wie aber in Olympia nicht die Schönsten und Stärksten den Kranz erlangen, sondern die, die kämpfen (denn nur unter ihnen befinden sich die Sieger), so werden auch nur die, die recht handeln, dessen, was im Leben schön und gut ist, teilhaftig.« Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1099 a. 508 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1111 a, 29 ff. 504 505

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Affekten ihren je angemessenen nachgeordneten Stellenwert zuzuweisen. Die durch Einsicht gewachsene Reife zur richtigen Willensbestimmung übt bei Leibniz jedoch nie einen Zwang auf den Willen aus, wie dies bei einer kausalen Determination der Fall wäre. Der Wille wird vielmehr angeleitet, wie dies bei einer Bestimmung durch eine causa finalis der Fall sei. 509 Diesen äußerst interessanten Aspekt des Sollens greift auch Viktor Frankl im Hinblick auf das Verhältnis von Wert und Sollen auf. Während Triebe treiben und somit als causa efficiens zu bezeichnen sind, gehört es zum Wesenskern des Wertes, dass wir ihn anstreben (Wertstreben) und das Sollen damit als eine Anziehung zu einer Wirkursache hin zu begreifen ist. Der Geist verfügt damit über eine Kraft, die Frankl Noodynamik in scharfer Absetzung von der Psychodynamik nennt. 510 Trotz der vorangegangenen durchaus erhellenden Wesenscharakterisierungen des Sollens-Begriffes und der damit zutreffenden Differenzierung der Weise der Inanspruchnahme des Menschen durch Triebe, Werte und Einsichten ist doch die Motivationsfrage bislang noch nicht erschöpfend behandelt. Denn zumindest die genannten rationalistisch geprägten Positionen von Aristoteles, Leibniz, Wolff und Kant stützen sich bislang im Wesentlichen auf die anthropologische Annahme, dass der Mensch, nachdem er angemessen eingesehen hat, auch will und zwar nicht von ggf. emotionalen Konflikten beladen, sondern sogar gestützt durch seine Lust. 511 Auch Kant, der landläufig zweifellos eher als ein Vertreter einer »gefühlsemanzipierten« Ethik bekannt ist, teilt diese Ansicht, wenn er auf Schiller antwortend schreibt: 509 Vgl. Leibniz, G. W. (1875), Die Philosophischen Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt, Nachdruck Hildesheim 1965, Berlin: Weidmann, Band 7, 164. 510 Vgl. Fetz/Graeßner (2005), 130. 511 Bei Aristoteles wird dies überaus deutlich in der Unterscheidung zwischen Mäßigkeit (enkrateia) und Tugend (areté). Der Vortreffliche (spoudaios) nämlich handelt aus Klugheit und der entsprechenden charakterlichen Eignung und tut dies zum einen, weil das, was er tut, gut ist (vgl. Legalität bei Kant) und weil es seinem Glück dient. »Der Mann der Tugend steht mit sich selbst in Übereinstimmung und begehrt seiner ganzen Seele nach ein und dasselbe, und darum wünscht er auch sich selbst Gutes und was so erscheint und setzt es ins Werk – denn dem Guten ist es eigen, das Gute zu verwirklichen –, und zwar um seiner selbst willen, nämlich zugunsten seines denkenden Teils, der ja das eigentliche Selbst des Menschen ist.« Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1166 a, vgl. 1119 b, 15–16. Derjenige, der nur das Maß der Handlung erkennt und diese vollzieht, ist dadurch alleine noch nicht tugendhaft. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1128 b, 34.

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Denn sie [die Tugend, GS] hat mit Hindernissen zu kämpfen, zu deren Überwältigung sie ihre Kräfte zusammen nehmen muß, und zugleich manche Lebensfreuden zu opfern, deren Verlust das Gemüt wohl bisweilen finster und mürrisch machen kann; was man aber nicht mit Lust, sondern bloß als Frohndienst tut, das hat für den der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Wert und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung soviel wie möglich geflohen. 512

Kant betont in seinem Tugendbegriff die Willensstärke und legt ihn letztlich auf die dem Menschen gemäße (im Sinne von mögliche) sittliche Vollkommenheit fest: Das moralische Gesetz ist heilig (unnachsichtlich) und fordert Heiligkeit der Sitten, obgleich alle moralische Vollkommenheit, zu welcher der Mensch gelangen kann, immer nur Tugend ist, d. i. gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz […]. 513

Somit bedeutet das Streben nach der Tugend auch bei Kant keine Ablösung der Gefühle, sondern vielmehr ihre Kontrolle und Kultivierung im Sinne einer moralischen Selbstkontrolle. 514 Kant strebt eine Konkordanz von Herz und Verstand an, wenn er in seiner Vorlesung, gut zehn Jahre vor der Grundlegung, schreibt: Gott will aber nicht die Handlung [allein, GS] sondern das Hertz; Hertz ist das principium der moralischen Gesinnung. […] Demnach ist die Gesinnung der Leistung der Pflichten zu cultivieren. 515

Den beherrschten Neigungen und Trieben stehen Gefühle und Lust aus dieser gelungenen Beherrschung (gutwillige Gesinnung) 516gegenüber. Wir wollen diese Gefühle indirekt und kognitiv-relational nennen, weil ihre Entstehung nicht aus der Anschauung, sondern aus der Vorstellung von sittlicher Performanz, hervorgerufen durch das Supremat der Vernunft, herrührt. 517 Festzuhalten bleibt dabei, dass 512 Kant, MdS, A 176. In § 35 verweist Kant auf die praktisch notwendige Funktion der »in uns von der Natur gelegten Antriebe«, weil diese uns helfen »dasjenige zu tun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde.« Kant, MdS, A 132. 513 Kant, KpV, A 231. 514 Vgl. Louden, R. B. (2006), »Moralische Stärke. Tugend als eine Pflicht gegen sich selbst«, in: H. Klemme/M. Kühn/D. Schönecker (Hgg.), Moralische Motivation: Kant und die Alternativen, Hamburg: Meiner, 79–96, 86. 515 Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, 55. 516 Vgl. Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, 55. 517 In seiner Vorlesung zur Moralphilosophie (1773–1775) trifft Kant die Unterscheidung zwischen Obligation und necessitatio practica. Der Mensch – so Kant – bedarf des letzteren, weil er auch unter subjektiven Gesetzen steht, und deshalb »[…] muß

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die bislang angesprochenen Gefühle der Erhabenheit und Frohgestimmtheit nicht dem moralischen Urteil vorangehen. Das principium diiudicationis ist die Vernunft. Kant macht dies am Beispiel der Schuld verständlich: Nun muß man doch die Wichtigkeit dessen, was wir Pflicht nennen, das Ansehen des moralischen Gesetzes und den unmittelbaren Wert, den die Befolgung desselben der Person in ihren eigenen Augen gibt, vorher schätzen, um jene Zufriedenheit in dem Bewußtsein seiner Angemessenheit zu derselben und den bitteren Verweis, wenn man sich dessen Übertretung vorwerfen kann, zu fühlen. Man kann also diese Zufriedenheit oder Seelenunruhe nicht vor der Erkenntnis der Verbindlichkeit fühlen und sie zum Grunde der letzteren machen. Man muß wenigstens auf dem halben Wege schon ein ehrlicher Man sein, um sich von jenen Empfindungen auch nur eine Vorstellung machen zu können. 518

Wir erkennen in diesen Ausführungen Kants deutlich die indirekte Gefühlsstruktur. Es bedarf der vorangehenden »Arbeit« der Vernunft, um mittels der durch sie verursachten proportionalen Inhalte unserer Gefühle die moralische Handlung initiieren zu können. 519 Die gute Praxis folgt bei Kant aus einer Relation von Denken und Fühlen in dem Sinne, dass die Erhabenheit des Guten aus Achtung vor seinem Prinzip, ausgelöst durch die darin begründeten Gefühle, in einer moralischen Handlung mündet. 520 Gefühle der Lust, die er gezwungen werden.« 47. Die Obligation resultiert aus den Neigungen und »so fern jemand unter der Obligation steht, so ist er nicht frey.« 47. 518 Kant, KpV, A 68. 519 Eine ausschließlich rationale Verankerung der moralischen Motivation erscheint schon deshalb ausgeschlossen, da uns als endlich vernünftige Wesen immer auch der »Ausstieg« aus diesem Begründungsrahmen möglich ist. »Hence however ambitious Kantian morality may seem, it is important to keep in mind that, given these limitations [the finite rationality, GS] alone, the theory cannot be understood as aimed toward demonlishing all forms of skepticism. If some persons opt out of rationality altogether, the claims of a system of moral obligations built precisely on consideration of rationality can hardly be expected to force them to comply.« Ameriks, K. (2006), »Kant and Motivational Externalism«, in: H. Klemme/M. Kühn/D. Schönecker (Hgg.), Moralische Motivation: Kant und die Alternativen, Hamburg: Meiner, 3– 22, 4. 520 Diese Standardauffassung, wonach die Erkenntnis alleine noch keine moralische Handlung automatisch mit sich führt, wird in der vielfältig verzweigten Handlungstheorie auch als Humesche Theorie bezeichnet. Daraus geht hervor, dass gute Gründe (hier: auf Einsicht basierende moralische Urteile) ohne Wünsche oder verwandte Gefühle keine motivierenden Gründe sein können. Vgl. Harth (2008), 34.

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durch kognitive Leistungen überhaupt erst ermöglicht werden, kennt auch Aristoteles. Die »hedonistische« Präferenz eines jeden Menschen identifiziert er in seiner am meisten wesensgemäßen Tätigkeit, dem Denken. Statt eines Entweder-Oder der Konstituierung sittlicher Praxis, ist es die Synthese aus vernünftiger Einsicht und der durch diese ermöglichten Lust. Wenn aber das eigentümliche Werk und die eigentümliche Verrichtung des Menschen in vernünftiger […] Tätigkeit der Seele besteht, […] so bekommen wir nach alledem das Ergebnis: das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele […]. 521

Trifft dies zu, so wird auch die eigentümlich menschliche Lust in der eigentümlich menschlichen Tätigkeit liegen, und das ist das Denken. Sie heißt bei Aristoteles nicht mehr Lust, sondern Glückseligkeit. Sie ist unter allen Lüsten die reinste, weil sie immateriell und geistig beschaffen ist. Jede tugendgemäße Tätigkeit beglückt den Menschen, weil jede Tugend am Geistigen teil hat. Auf dieses für die vorliegende Untersuchung überaus relevante Verhältnis von Vernunft und Gefühl kommt Kant an entscheidender Stelle seiner zweiten Kritik nochmals zu sprechen und erläutert dabei auf äußerst treffende Weise das Wesen der oben genannten indirekten, weil kognitiv-relationalen Gefühle. Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellektuellen Kausalität, d. i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung, und, indem es ihn sogar niederschlägt, d. i. demütigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist, und a priori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können. 522

Kant unternimmt im Fortgang seiner Schrift eine Zweiteilung des Selbst. Ein Teil des Selbst ist bestimmt durch die Vernunft, der andere ist »unser pathologisch bestimmbares Selbst«, das in einem als Selbstliebe bezeichneten Hang dazu neigt »sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Be521 522

Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098 a. Kant, KpV, A 130 f.

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stimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen.« 523 Da alle Neigung ihren Grund in sinnlichen Gefühlen hat, kann ihr zu keiner Zeit normative Befugnis zukommen. Doch gewollt wird sie doch; das ergibt sich schon analytisch aus ihrer begrifflichen Bedeutung. Kant gelingt es nun, einen vermeintlichen Widerspruch – dass zwar die formal objektive Bestimmung des guten Willens einzig und allein aus dem sittlichen Gesetz erfolgen kann und darf, der Mensch jedoch durch Gefühle letztlich subjektiv veranlasst wird zu handeln – dadurch zu lösen, indem ein zweites Bestimmungsvermögen des zentralen Sittengesetzes hinzukommt. Das Vermögen, das zwar durch die notwendige intellektuelle Verachtung der Neigungen eine Demütigung des durch sie affizierten Subjektes auslöst, evoziert zugleich ein »gleichgeschätztes« Gefühl der Achtung aus dem Bewusstsein des einschränkenden Grundes – nämlich des Gesetzes – und bewirkt damit eine Beförderung der Kausalität, wirkt also als Triebfeder. Kant nennt dieses besondere, im Übrigen selbstverständlich apriorische Gefühl auch ein moralisches Gefühl. 524 Kant beschreibt also im dritten Hauptstück seiner zweiten Kritik eine Erweiterung der ohnehin schon rigoros beschriebenen Hegemonie der intelligiblen Welt vernünftiger Wesen. Indem er auch die – ja mindestens aufwiegende – positive Kraft des moralischen Gefühls, hervorgebracht aus der im Bewusstsein vorgestellten Erhabenheit des reinen praktischen Willens, postuliert. Die universell gesetzgebende Norm der Vernunft, die alleine Moralität zu verbürgen in der Lage ist, wird so auch zur Ursache ihrer praktischen Umsetzung, zum principium executionis. 525 Zunächst wollen wir dafür die Selbstbezüglichkeit aller sittlichen Motivation näher untersuchen. Aus der bislang beschriebenen Zweistelligkeit der Beziehung aus Gesetz und Antrieb wird nun eine dreistellige Beziehung. Wir benötigen eine Instanz, die sich der GebunKant, KpV, A 132, Hervorhebung durch GS. Vgl. Kant, KpV, A 131–133. 525 Eine weitergehende Differenzierung des Achtungsbegriffes findet sich bei Habermas. Hier wird unterschieden zwischen der grundsätzlich kontextgebundenen Anwendungsproblematik einerseits und der kontextunabhängigen moralischen Motivation zur Aktualisierung eines Prinzips andererseits. Vgl. Habermas (1991), 149. Außerdem sei an dieser Stelle erwähnt, dass Kants Pflichtbegriff wie oben ausgeführt auf dieses Verständnis der Achtung notwendig baut. Wer aus Pflicht handelt, handelt eben aus Achtung vor dem Sittengesetz. Somit wird das moralische Gefühl bei Kant zum nervus probandi für die Beurteilung der echten – nicht nur pflichtgemäßen, sondern aus Pflicht erfolgenden – Handlung. Vgl. Kant, GMS, B 9 f. 523 524

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denheit von Gesetz und Antrieb phänomenal überhaupt erst bewusst werden kann. Dieses Bewusstsein 526, das immer schon einer sittlichen Willensbestimmung vorausgehen und in diese einfließen muss, kann als Ich oder, um eine den numerischen Identitätsaspekt sowie den indexikalischen Funktionsaspekt herabstimmende und den generischen stärker betonende Bezeichnung vorzuziehen, als unser Selbst bezeichnet werden. Generisch wäre hier im Sinne von wesenhaft und zwar der Menschen als animal rationale oder Geistwesen zu verstehen. Analog einem Ich als Zentrum einer leiblichen Einheit wollen wir uns nachfolgend stärker mit dem Selbst als Zentrum einer geistigen Identität befassen.

5.5 Das Selbst als Movens sittlicher Praxis Der substantivisch verwendete Ausdruck Selbst gewinnt erst mit dem neuzeitlichen Denken geprägt von Subjektivität 527 und Innerlichkeit philosophisch an Bedeutung. Eine Ausnahme bildet das im Rahmen der Selbstsorge thematisierte Wesen des Selbst im platonischen Dialog 528 Alkibiades II. Ausgehend von den antiken Materialisten zur Gnosis, der hellenistischen Ethik, bis hin zum Neuplatonismus wird das Selbst (inhaltlich, nicht als Ausdruck) als wahrnehmbare Innerlichkeit und als Seele 529 verstanden. Ausgehend von der Frage, was den Pflanzen, Tieren und Menschen Leben verleiht und somit den 526 Der Begriff Bewusstsein wird zunächst als die Möglichkeit, unser Denken und Fühlen faktisch und qualitativ verfolgen bzw. beobachten zu können, verwendet und aus heuristischen Gründen semantisch dem Selbstbegriff gleichgesetzt, der jedoch im Fortgang des Abschnittes deutliche Differenzierung erhalten soll. 527 In der vorliegenden Untersuchung wollen wir unter »subjektiv« alle Meinungen und Zustände subsumieren, denen keine Tatsachen in einer Welt entsprechen, von denen man denkt, dass sie ganz unabhängig von den Gedanken aller Subjekte über sie existieren. Vgl. Henrich, D. (2007), Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 23. 528 Die Autorenschaft zu dem Dialog ist nicht eindeutig geklärt. Die modernere Forschung gelangt häufig zu dem Ergebnis, es würde sich um einen zwar im platonischen Stil, jedoch tatsächlich von einem unbekannten Schriftsteller verfassten Dialog handeln. 529 Unterschiedliche Auffassungen bestanden zugleich hinsichtlich der Frage, ob es sich um einen Teil (nur den rationalen) oder um die ganze Seele (rational, fühlend und wollend) handelt. Erstere Auffassung vertrat Damaskios, letztere Proklos. Der Neuplatoniker Porphyrios spricht vom Selbst als dem Ort der Rückwendung (οὐ γὰρ εἰς ἄλλο, ἀλλ’ εἰς τὸν ὄντως ἑαυτὸν ἡ ἀναδρομή) und deutet damit bereits ein relativ

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fundamentalen Unterschied zur anorganischen Materie überhaupt erst ermöglicht, wurde der Ausdruck Seele (psyché) von den Denkern dieser Zeit mit Konzepten unterschiedlichster Attribute begrifflich gefüllt. Der Atomist Lukrez (ca. 97–55 v. Chr.) etwa unterschied zwei verschiedene Arten von Seele – animus und anima innerhalb seiner materiellen Weltauffassung: Erstlich behaupt’ ich, der Geist [animus] (wir nennen ihn öfter Verstand auch), In dem unseres Lebens Beratung und Leitung den Sitz hat, Ist nur ein Teil von dem Menschen, so gut wie die Hand und der Fuß ist. Oder das Auge ein Teil des ganzen lebendigen Wesens. […] Nicht nur der Geist, auch die Seele verweilt in den Gliedern, […] Geist und Seele [anima] (behaupt’ ich nun weiter) sind innig verbunden Untereinander und bilden aus sich nur ein einziges Wesen. Doch ist von beiden der Herrscher und gleichsam das Haupt in dem ganzen Körper die denkende Kraft, die Geist und Verstand wir benennen, Und die nur in der Mitte der Brust den beständigen Sitz hat. […] Über den ganzen Körper jedoch ist die übrige Seele Ausgebreitet. Sie regt sich gehorsam dem Winde des Geistes. Dieser allein denkt frei, nur er fühlt eigene Freuden […]. 530

Während der eine Teil, lokalisiert in der Brust, denkt und bestimmt, folgt der andere verteilt auf den ganzen Körper und »übermittelt« Gefühle und Absichten dem restlichen Körper, damit er sich verhält, wie vom Geist bestimmt. Beide Seelen gehören der Physis des Körpers an und sind so letztlich homogene Ursache des Lebens. Die Materialisten dieser Zeit glaubten, in der notwendigen Übertragungsbedingung der Berührung den Beweis für die materiale Beschaffenheit der übertragenden Seele gefunden zu haben. 531 Die nahezu als zeitgleich empfundene Ausführung des Körpers des von der Seele bestimmten und Übertragenen schließlich scheint ein schlüssiger Beweis für die höchste Beweglichkeit und der damit erwiesenen Leichtigkeit der

modernes Verständnis des Selbst als Selbstbewusstsein an. Vgl. Ritter (2007), Bd. 9, 292. 530 Titus Lucretius Carus (1991), Von der Natur, übers. v. H. Diels, mit e. Einf. und Erl. v. E. G. Schmidt, Geleitwort zur Erstausg. 1924 v. A. Einstein, München: dtv, Buch III, Verse 94–145. 531 Vgl. Lukrez, Von der Natur, Verse 158–167.

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»kugelig runden und allerkleinsten Atome« 532 zu sein, aus denen die Seele bestehen müsse. Der gleichen materialen Natur wie der des Körpers folgend, wird mit dem Untergang des einen auch der des anderen besiegelt. Der Körper wäre ohne die Seele nicht lebendig und die Seele kann ohne den Körper erst gar nicht sein. Platon hingegen vertritt eine Weltauffassung der ontologischen Aufspaltung. 533 Neben den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung kosmos aisthetos, inklusive der Menschen selbst, verortet er das wahrhaft Seiende in einer nicht-sinnlichen Sphäre, kosmos noêtos, deren Entitäten sowohl einen erkenntnistheoretischen wie auch ontologischen Vorrang vor allem sinnlich Fassbaren besitzen. Die Seele ist für Platon eine immaterielle, unsterbliche, überirdische, geistige Wesenheit. Anders als bei Lukrez geht diese zwar eine Verbindung mit dem Leib des Menschen ein, doch handelt es sich dabei um eine vergleichsweise lockere Verbindung – wie Hirschberger 534 es formuliert – und steht somit nur in einem akzidentiellen Verhältnis zu ihm. Der ontologische Dualist Platon untergliedert die Seele in seinem Dialog Politeia in drei Teile: Die Vernunft- oder Geistseele logistikón, die muthafte Seele thymoeides und die triebhafte Begierdenseele epithymētikón. 535 Diese als eine gedachte Seele ist für Platon zwar das Lebensprinzip des Menschen, doch zugleich von grundverschiedener Beschaffenheit. Freilich nur negativ als immateriell qualifiziert, da unsere für Wesensbeschreibungen materialer Entitäten geübte Sprache für eine positive »Beschreibung« weitest-

Lukrez, Von der Natur, Verse 177–188. Diese als Dualismus bezeichnete Auffassung findet sich im Prinzip bereits vor Platon bei den orphischen Mysterien und den Pythagoräern. Vgl. Aristoteles (19952), Über die Seele, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 6, bearb. v. H. Seidl, übers. v. W. Theiler, Lizenzausgabe, Hamburg: Meiner, I 3, 407 b, 15–26. 534 Vgl. Hirschberger, J. (Hg.) (1980), Geschichte der Philosophie, Bd. I: Altertum und Mittelalter, 12. Aufl., Lizenzausgabe, Köln: Komet, 116. 535 Da Platon in seinem Dialog Phaidon ausführlich auf die Unsterblichkeit der Seele einerseits und auf die Abtrennung alles Sinnlichen nach dem Tode des Leibes andererseits hinweist, geht Hirschberger davon aus, dass die Rede von den beiden niederen Seelenteilen nur der Tatsache Rechnung tragen will, dass die Geistseele als eigentliche Seele der beiden anderen Seelenteile nur als vermittelnde Instanzen bedarf. Vgl. Hirschberger (1980), 119 f. Dies übrigens ist eine durchaus interessante Parallele zur vermittelnden Seele anima bei Lukrez. Offenbar zeigt sich sowohl bei den dualistischen als auch bei den monistischen Denkern der Antike die Vordringlichkeit der Erklärung, wie eine Vermittlung – modern gesprochen: Interaktion – zwischen Seele und Leib zu denken ist. 532 533

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gehend versagt 536, ist die Seele für Platon das eigentliche Selbst des Menschen, das auch nach dessen Tode nicht untergeht. 537 Eine dritte Auffassung von der Seele finden wir bei Aristoteles. Seinem metaphysischen Konzept des Hylemorphismus folgend, ist die Seele die Form des Leibes. 538 Seine nichtdualistische Konzeption widersetzt sich damit aber auch einer rein physikalistischen Bestimmung der Seele, die jene als bloß Körperliches versteht. 539 Wir nennen nun eine Gattung des Seienden das Wesen (Substanz [ousia, GS]), und von diesem das eine als Materie, das an sich nicht dieses bestimmte Ding da ist, ein anderes aber als Gestalt und Form, nach welcher etwas schon ein bestimmtes Ding ist, und drittens das aus diesen (beiden Zusammengesetzte). […] Daher ist wohl jeder natürliche Körper, der am Leben teilhat, ein Wesen (Substanz), und zwar im Sinne eines zusammengesetzten Wesens. […] Notwendig also muß die Seele ein Wesen als Form(ursache) eines natürlichen Körpers sein, der in Möglichkeit Leben hat. Das Wesen aber ist Vollendung (Entelechie). Also ist sie Vollendung eines solchen Körpers. 540

Die Seele ist weder selbständige Substanz noch eine Eigenschaft (Akzidens), vielmehr die Entelechie einer leiblich-seelischen Ganzheit. 541 Dieser Begriff besteht demnach aus einem Zusammenwirken zweier Prinzipien mit dem Ergebnis einer nur durch diese Zusammenwirkung ermöglichten dritten Gesamtheit, mit Fähigkeiten, die nur die536 Die Etymologie der Ausdrücke, mit denen wir immaterielle Entitäten bezeichnen, belegt in sämtlichen Fällen eine Ursprungsbeziehung zum Materiellen. Vgl. Fetz, R. L. (1975), Ontologie der Innerlichkeit. Reditio completa und processio interior bei Thomas von Aquin, Studia Friburgensia, Bd. 52, Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag, 115. 537 Im Dialog mit Kriton fragt jener Sokrates, wie er ihn denn bestatten solle. Worauf Sokrates antwortet: »Wie immer ihr wollt. vorausgesetzt, ihr bekommt mich zu fassen und ich bin euch nicht entwischt. […] Ich bringe den Kriton einfach nicht dazu zu glauben, dass ich der Sokrates bin, der eben jetzt diskutiert und jede Äußerung richtig einordnet; er glaubt vielmehr, daß ich jener bin, den er ganz bald als Leichnam sehen wird, und fragt dann, wie er mich bestatten soll. […] Er [Kriton, GS] wird dann auch bei der Bestattung nicht sagen, es sei Sokrates, den er aufbahrt, den er zu Grabe trägt oder den er begräbt […].« Platon (1974), »Phaidon«, in: G. Eigler (Hg.), Platon, Werke in acht Bänden: griechisch und deutsch, Band 3, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt: WBG, 115 c 2–115 e 4. 538 Dies gilt im Übrigen auch für Tiere, selbst für Pflanzen. Vgl. Aristoteles, Über die Seele, I 1, 402 b 3–5. 539 Vgl. gegen Hippon und gegen Kritias: Aristoteles, Über die Seele, I 2, 405 b 2 f. 540 Aristoteles, Über die Seele, II 412 a 5 f. 541 Vgl. Aristoteles, Über die Seele, II 414 a 14 ff.

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ser leib-seelischen Einheit zugeschrieben werden können. Die Seele ist demnach nicht etwas, das am Körper existiert, sondern die Art und Weise, wie der Körper existiert. Ohne den Körper wäre die Seele bloße Abstraktion und umgekehrt der Körper ohne Seele nur form- und zusammenhanglose Materie. Wir sind weder das eine noch das andere, sondern der (entelechiale) Vollzug der Gesamtheit. Um es noch einmal deutlich herauszustellen: Weder der Leib alleine noch die Seele sind in der Lage das auszumachen, hervorzubringen, was wir mit Leben und den damit einhergehenden Vollzügen bezeichnen. Wir sind diejenige physische Existenz, die sich selbst zum Ziel hat. 542 542 Hier bietet sich ein kurzer Exkurs in den aktuellen Stand der Debatte der sogenannten philosophy of mind an. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie wir uns das Zusammenwirken von Geist und Körper oder Leib und Seele vorstellen sollen. Dabei entsteht unweigerlich die Frage nach der Beschaffenheit des Geistes als Vorbedingung möglicher Erklärungsmodelle. Zu unterscheiden sind dabei zwei grundlegende und ein dritter, modifizierender Standpunkt: Der naturalistischen Auffassung zufolge kann der Geist reduktiv durch Naturgesetze vollständig erklärt werden. Der Geist ist nicht von grundlegend anderer Beschaffenheit als unser Körper und mit ihm alle uns bekannten Dinge dieser Welt. Naturalisten (man spricht auch von Materialisten oder Physikalisten) bezweifeln also einen Substanzdualismus bezüglich mentaler Zustände und der körperlichen Welt. Zum zweiten gibt es die dualistische Auffassung, die in ihren Grundzügen dem Entwurf von Descartes folgt. Dessen metaphysischer Beweis für die behauptete Dualität von Geist und Körper findet sich hauptsächlich in den Meditationen: »Erstens weiß ich, daß alles, was ich klar und deutlich einsehe, von Gott so geschaffen sein könnte, wie es sich mir darstellt; wenn ich daher ein Ding klar und deutlich ohne ein anderes zu erkennen vermag, so genügt dies, um mich zu vergewissern, daß die beiden wirklich verschieden sind, da sie wenigstens für sich von Gott gesetzt werden können. Es kommt nicht darauf an, wodurch die Unterscheidung möglich wird. Ich weiß von meiner Existenz und schreibe gar nichts anderes meiner Natur oder meinem Wesen zu, als daß ich ein denkendes Ding sei.« Descartes R. (2005), Meditationes de Prima Philosophia / Meditationen über die Erste Philosophie, Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. v. G. Schmidt, Stuttgart: Reclam, 189. Descartes schließt also aus der klaren Erkenntnis seiner selbst als res cogitans einerseits und der Tatsache, dass es Körper allein mit der Eigenschaft des Ausgedehntseins gibt, dass das Ich unabhängig vom Körper existieren kann. Ich bin somit von meinem Körper real verschieden. Jeder, der von der Tatsache ausgeht, dass er einen nichtphysischen Geist besitzt, muss auf irgendeine Weise schlüssig erklären können, wie dieser mit dem Körper systematisch zusammenwirkt. Gegenwärtig werden hierzu drei Theorien diskutiert. Der Parallelismus, der Okkasionalismus sowie der Epiphänomenalismus. Umgekehrt obliegt es den sogenannten Eigenschaftsphysikalisten, im Rahmen eines reduktiven physikalischen Erklärungsansatzes oder doch zumindest in der Fortentwicklung einer Identitätstheorie auf Grundlage der Übereinstimmung der kausalen Rollen von physikalischen Prozessen und mentalen Zuständen nachzuweisen, dass im einen Fall eine geschlossene Kausalfunktionskette, im anderen Fall eine Bedeutungsidentität aufgrund funktionaler Gleichheit besteht. Vgl. dazu Becker-

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Augustinus schließlich spricht vom homo interior und beide, der Neuplatonismus und Augustinus, haben mit ihrer Konzeption die Rückwendung auf sich als Quelle des Selbst bestimmt. 543 Im Unterschied zu Descartes bleibt das Selbstbewusstsein jedoch ein Ausmann, A. (2008), Das Leib-Seele-Problem, Paderborn: UTB sowie Jackson, F. C. (1982), »Epiphenomenal Qualia«, in: Philosophical Quarterly 32, 127–136. Philosophen wie Thomas Nagel und David Chalmers beschreiben das von letzterem als hard problem bezeichnete, ungeklärte Verhältnis von Physik und Bewusstsein damit, dass es Bewusstseinszustände und damit auch Begriffe gäbe, die nur derjenige erwerben kann, der in der Lage ist, eine bestimmte Erfahrungsperspektive einzunehmen. Derartige Tatsachen seien prinzipiell subjektiv und durch naturgesetzlich formulierte Sätze per definitionem nicht abbildbar. Warum? Weil Naturgesetze per se nur Sätze aus der sogenannten Dritte-Person-Perspektive ermöglichen. In Nagels berühmt gewordenem Aufsatz »What is it like to be a bat?« schreibt dieser: »If physicalism is to be defended, the phenomenological features must themselves be given a physical account. But when we examine their subjective character it seems that such a result is impossible. The reason is that every subjective phenomenon is essentially connected with a single point of view, and it seems inevitable that an objective, physical theory will abandon that point of view.« Nagel, T. (1974), »What is it like to be a bat?«, in: The Philosophical Review LXXXIII, 435–450, 436. Auf ein ähnliches, wenn auch anders begründetes Ergebnis läuft die Geschichte von Jackson mit seinem Gedankenexperiment von einer brillanten Wissenschaftlerin, die in einer schwarz-weißen Welt alle naturwissenschaftlichen Sätze über Farben studiert und doch bei der ersten realen Betrachtung einer Farbe etwas hinzulernen würde, hinaus. Diese Wissenslücke sei der beschreibenden Perspektive immanent und ließe sich durch noch so viel physikalisch ausgesagtes Wissen niemals einholen. Vgl. Jackson (1986), 130. Übrigens greift schon Wittgenstein diese »Lücke« in seinem Tractatus auf, wenn er schreibt: »Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.« Wittgenstein, L. (1963), Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 114 f. Eine als »Brückenposition« zu bezeichnende Auffassung dieses bis heute anhaltenden philosophischen Diskurses vertritt Thomas Fuchs. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit allzu ehrgeizigen Erklärungsansprüchen der Neurobiologie verweist er auf die grundsätzliche epistemische Asymmetrie von objektiven und subjektiven Tatbeständen und bestreitet die physikalische Reduzibilität mentaler Zustände. Vgl. Fuchs, T. (2013), Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, 4. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer, 55. Die Funktion des Gehirns ist dabei die eines Trägermediums, das auch aufgrund kultureller (nicht physischer) Bestimmungen als eine Art Matrix unsere bewusste Wahrnehmung vermittelt. Vgl. a. a. O., 82, 86 und 306. Das Gehirn – so Fuchs – ist somit Vermittler der Tätigkeiten der Person. Genauer: Nicht das Gehirn vermittelt zwischen Geist und Körper, sondern der lebendige Leib vermittelt zwischen Gehirn und Geist. Vgl. a. a. O., 300, 302. Fuchs ist kein Dualist im klassischen Sinne, bestreitet aber den metaphysischen Realismus des Physikalismus, vor allem weil dieser die eigene Abhängigkeit von der intersubjektiv konstituierten Lebenswelt übersieht. Vgl. a. a. O., 87, 297. Diese behauptete Einheit von lebendiger Person und komplexem Körper in Form des lebendigen Men-

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gangspunkt des Nachdenkens und ist noch lange nicht das davon gänzlich verschiedene sachliche Fundament des Denkens überhaupt. 544 Wenn in starkem Kontrast hierzu nicht wenige durchaus exponierte Vertreter der sogenannten philosophy of mind davon sprechen, dass es sich beim Selbst um eine Illusion handelt, ein Gefühl der Meinigkeit, das aus »einem Vorgang der multisensorischen Integration erzeugt« 545 wird, ist es umso wichtiger, sich sowohl der phänomenalen als auch der funktionalen Seite dieses Ausdrucks zu nähern. Als was erscheint uns das Selbst und auf welche Weise gehört es zu unserem Leben als Mensch? Denn für den Menschen als moralisches Subjekt zeigt sich nicht die ohnehin stark umstrittene ontologische Beschaffenheitsfrage bewusster Vorstellungen (seien es Empfindungen oder intentionale Zustände) als unmittelbar relevant, sondern vielmehr deren existentielle Funktion und Bedeutung im Kontext praktischer Herausforderungen, die spätestens bei der Frage nach dem Selbst, als besondere Form von Bewusstsein, im Letzten auf schen ist ein Wissen, das auf seltsame Weise nur fühlbar bleibt, »es lässt sich gedanklich nicht erfüllen« a. a. O., 297. Fuchs setzt der naturalistischen eine personalistische Einstellung entgegen, die den Menschen als verkörperten Geist, als eine nur in Lebensvollzügen ganzheitlich zu verstehende Einheit begreift. Diese Einheit sei unhintergehbar. Vgl. a. a. O., 305 f. Subjektivität muss – so Fuchs – unabdingbar verkörpert und leiblich gedacht werden. Allerdings muss Folgendes kritisiert werden: Fuchs analogisiert die Beziehungen Materie – Information sowie Physisches und Mentales. Information ist wesentlich Vorstellung, damit Mental; im Besonderen Intentional. Damit wird die Analogie zirkulär. Mit der Aussage: »Das Subjekt der Erkenntnis ist der Möglichkeit nach was das Objekt ist, und erkennt, indem es selbst wird was das Erkannte ist« Böhme, H./Böhme, G. (1985), Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 279, beschreibt Fuchs einen unbewiesenen Anspruch der Isomorphie von Subjekt und Objekt. Zutreffend ist: »Das Gehirn kann nun zunehmend als ein sozial und gesellschaftlich geprägtes Organ verstanden werden, durch dessen Funktionen der Transformation und der Musterbildung biographische Erfahrungen als Bereitschaften und Vermögen inkorporiert werden.« (303). 543 Vgl. Ritter (2007), Bd. 9, 293, sowie Taylor, C. (1994), Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 235 ff. 544 Vgl. Krüger, G. (1958), Die Herkunft des philosophischen Selbstbewusstseins, Freiburg, München: WBG, 11 f. Der Beweis der Existenz über den Zweifelsweg durch das eigene Selbst wird sowohl von Augustinus als auch von Descartes in ähnlichen Wendungen vorgetragen. Insbesondere im Verständnis der Freiheit sieht Krüger eine große Ähnlichkeit der beiden Denker. Einer Freiheit, die bei Augustinus durch das »Insichgehen«, den reditus in se ipsum, charakterisiert ist. Vgl. a. a. O., 8. 545 Metzinger, T. (2009), Der Ego Tunnel: eine neue Philosophie des Selbst: von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, 2. Aufl., Berlin: Berlin-Verlag, 113 ff.

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die Frage nach dem gelingenden Leben gerichtet ist. 546 Die Frage nach den exekutiven Bedingungen bestimmter Handlungen wird durch die Klärung ontologischer Unklarheiten von mentalen Zuständen nicht im geringsten erhellender zu beantworten sein; genauso wenig wie Fragen der Aerodynamik eines Flugzeuges durch Theorien bezüglich der molekularen Beschaffenheit der Luft unmittelbar beeinflusst werden.

5.5.1 Das Selbst als Reflexion Platon beschrieb in seiner Politeia sehr anschaulich, worum es sich bei dem Bezug auf sich selbst dem ersten Anschein nach handeln könnte, nämlich um etwas Lächerliches. Im Dialogabschnitt zur Bestimmung der Besonnenheit verdeutlicht er die merkwürdige Bedeutung sprachlicher Hinweise in Bezug auf den Umgang mit dem Selbst. Nun ist doch das stärker als er selbst lächerlich. Denn wer stärker als er selbst wäre, wäre doch offenbar auch schwächer als er selbst, und der Schwächere stärker; denn es ist doch immer derselbe, der in allen diesen Redensarten auf beiden Seiten aufgeführt wird. 547

Viel deutlicher, wenn auch sehr pointiert, kann das Phänomen einer durch Selbsterkenntnis überhaupt erst ermöglichten Konfrontation interiorisierter, also als zu mir gehörender Wahrnehmungsinhalte nicht geschildert werden. Wir Menschen sind offensichtlich zu einer Denkleistung ganz besonderer Art befähigt. Betrachten wir die Eigenheit dieses Denkens näher. Zunächst der Blick auf die notwendige Struktur. Wen ich etwas denke, das sich objektiv auf Gefühle oder Einsichten, die ich mir zuordne, bezieht, bedarf es mindestens einer zweiteiligen Aufspaltung meiner Objektbestimmungen, nämlich in das Objekt des jeweiligen Denkaktes und dasjenige, das diesen Denkakt vollzieht. Der Vorstellende der Vorstellung wird zum sich Vorgestellten. Das vorstellende Subjekt wird selbst noch einmal zur Vor546 Die Frage nach dem gelingenden Leben wiederum ist von der Frage des Mit- und Unter-anderen-lebens nicht zu trennen. Die anthropologische Gegebenheit der sowohl äußeren als auch inneren Sozialität führt zu dieser besonderen konstitutiven Abhängigkeit des guten Lebens. 547 Platon (1971), »Der Staat«, in: G. Eigler (Hg.), Platon, Werke in acht Bänden: griechisch und deutsch, Band 4, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt: WBG, 430 e.

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stellung. 548 Dieser Akt der Selbstobjektivierung scheint der Kern des bis hierher noch nicht weiter differenzierten Begriffes des Selbstbewusstseins zu sein. Hier sitzen und darüber schreiben bedingt bereits eine dreifache Aufspaltung und unterstellt, es handelt sich um mindestens zwei vergegenwärtigte Denkobjekte, auf die sich mein Denken richtet (so etwa stärkere und schwächere bei Sokrates), sind wir bei einem Gefüge angelangt, das nicht weniger als vier Teile aufweist. Wir müssen uns dieses notwendig als Einheit denken, die in der Lage ist, verschiedene Bewusstseinsinhalte – z. B. ein Prinzip und eine Lust – als solche zu objektivieren, 549 und wir vermögen obendrein innerhalb desselben Einheitsgefüges diese Dreistelligkeit als diese zu verstehen, womit wir den Autor dieses Textes als Glied einer Erkenntnis der zweiten Ordnung und in toto als vierten Teil des Bewusstseinsgefüges erfasst hätten. 550 Die Erweiterung des Strukturglieder ist nun freilich endlos auf z. B. andere Personen oder aber auch in einer infiniten Erhöhung der Reflexionsinstanzen innerhalb des betreffenden Subjekts möglich. Daraus ergäbe sich aber im UnVgl. Reinhold, K. L. (2003), Beiträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen, Bd. 1, Das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, Hamburg: Meiner, 171. 549 Zum Begriff der Objektivität sei in diesem Zusammenhang auf Robert Spaemann verwiesen: »Die Rede von Subjekten und Objekten als zwei prinzipiell entgegengesetzten Seinsbereichen geht an der Wirklichkeit vorbei. Genauer gesagt: Diese Sicht bringt so etwas wie Wirklichkeit überhaupt zum Verschwinden. Objekte, die nur Objekte sind, haben nur subjektives Sein. Sie sind nur wirklich als Gegenstände für ein Subjekt […], da sie ja nichts jenseits ihres Gegebenseins sind.« Spaemann, R. (2008), Grundvollzüge der Person, München: Pneuma, 19. Umgekehrt – so Spaemann – ist uns die res cogitans immer nur als bereits Gedachtes in uns selbst bewusst, mithin als Objekt. Vgl. Ebd. 550 Der Zusammenhang von Objekt und vorstellendem Organismus bezüglich des Bewusstseins wird bei Damasio ausgeführt. Für ihn handelt es sich bei Bewusstsein um den Inhalt des Wissens von den Beziehungen zwischen Organismus und Objekt. Vgl. Damasio (2000), 33. Hierbei handelt es sich um eine klassisch aristotelische Bewusstseinskonzeption. Der menschliche Geist ist für Aristoteles das Erkenntnisprinzip der körpergebundenen Seele. Als solcher ist er nach außen auf materiale Wesenheiten bezogen und in sich betrachtet »irgendwie der Möglichkeit nach die erkennbaren Dinge, in Wirklichkeit aber ist er keines, bevor er erkennt.« Aristoteles, Über die Seele, III, 4 429 b 30. Vgl. Fetz (1975), 33 u. 62. Während also für Aristoteles die Selbsterkenntnis als etwas Sekundäres, weil durch sinnliche Erkenntnis Vermitteltes, zu gelten hat, steht für Augustinus die Selbsterkenntnis letztlich in sich selbst. Das Wissen um sich selbst muss als unreduzierbares Phänomen sui generis gesehen werden, weil es weder vermittelt ist, noch aus Objektbezügen resultiert. De Trinitate XIV, 6, 8 (1041–42), zit. n. Fetz (1975), 42. 548

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terschied zu der aufgezeigten Vierstelligkeit kein qualitativer, im Sinne von perspektivischer oder die Eigenart der Wahrnehmungsebene betreffender, »Mehrwert«. Das Gemeinsame dieser Glieder von Denkakten ist die differenzierende Bestimmungsleistung in Rückwendung auf ihre vorangehenden bzw. zugrundeliegenden Inhalte. Deshalb kann treffend mit Hegel behauptet werden: Die Struktur des Selbstbewusstseins ist die der Reflexion. 551 Wodurch aber die ursprüngliche Unbefangenheit des Lebens verloren ging und die Reflexion zustande kam, dürfte sich mit der erfahrenen Widerständigkeit des Daseins erklären lassen. Not, Scheitern und Misserfolg werfen die unbefangene Lebenstendenz auf sich selbst zurück. Die Erfahrung der Ohnmacht also ist die Quelle der Reflexion. 552 Thomas von Aquin war es, der sich in verschiedenen seiner Schriften mit diesem aus seiner Sicht entscheidenden Thema der menschlichen Erkenntnis befasst hat. Seine vielschichtig ausgearbeitete Lehre von der reditio completa soll hier nicht umfassend, jedoch in den für die Untersuchung relevanten Bezügen kurz zusammengefasst werden. 553 Der Aristoteliker Thomas von Aquin bestimmt die Geist-Seele als denjenigen Teil der Seele des Menschen, der durch das Erkenntnisvermögen ausgezeichnet ist. Dieser Teil der als Formprinzip des menschlichen Leib-Seele-Kompositums zu verstehenden Seele ist es auch, dem – dem Vermögen nach –die Selbsterkenntnis der Seele zuzuschreiben ist. 554 Thomas unterscheidet prinzipiell zwischen der Sinnenerkenntnis und der rein geistigen Funktion der Erkenntnis. Erstere wird uns durch Sinnesorgane vermittelt, letztere ist frei von jeder Vermitteltheit und bedarf in konstitutiver Hinsicht 555 keiner materialen Ursachensetzung. Das Erkennen selbst ist letztlich dem 551 Vgl. Hackenesch, C. (2001), Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassirer, Hamburg: Meiner, 7. Dort bezeichnet Christa Hackenesch die Darstellung der Reflexion als den Kern der Wissenschaft der Logik und in Verbindung mit der dadurch nur zu gewinnenden Freiheit des Menschen mit Hegel Reflexion und Selbstbewusstsein als strukturidentisch. Bei Plessner finden wir hierzu die treffende Formulierung: Der Mensch »lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben«. Plessner, H. (2003), »Die Stufen des Organischen und der Mensch«, in: Ders. (Hg.): Gesammelte Schriften 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 364. 552 Vgl. Krüger (1958), 5 f. 553 Eine ausführliche Untersuchung der reditio completa bzw. der processio interior findet sich in Fetz (1975). 554 Da die Geist-Seele bei Thomas nicht nur Geist, sondern auch Form eines Leibes ist, besitzt sie auch das Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung. Vgl. Fetz (1975), 153. 555 Im Fortgang wird sich zeigen, dass die unvermittelten Denkakte der Geist-Seele

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Gestaltungsprinzip des Menschen zuzuschreiben, seiner Form, die der Materie subsistiert. 556 Nur durch das Zusammenwirken von Leib und Seele, letztere als wirkprinzipieller Ursprung des Ganzen, besitzt der Mensch sowohl die in ihrer Gerichtetheit eingeschränkte sinnliche als auch die zur Rückwendung auf sich selbst fähige, geisthafte Erkenntnis. Die Ermöglichungsbedingung reflexiver Erkenntnis liegt in der Subsistenz des Formprinzips, also der Seele. 557 Nun aber zur Selbsterkenntnis als ein besonderes, den Menschen – so Thomas – vor allen anderen Naturwesen auszeichnendes Vermögen. Sich selbst zu erfassen bedeutet eine Art Selbsteinwirkung, die der von materialen Vollzugsbedingungen geprägten Sinnen-Erkenntnis grundsätzlich nicht möglich ist. 558 Aber auch die Selbsterkenntnis bedarf nach Thomas einer materialen Voraussetzung. Selbsterkenntnis ist uns als ein Wissen von einem kognitiv anderen gegeben. Sie wird uns in Form der Wahrnehmung anderer geistiger Tätigkeiten (Vorstellungen, Empfindungen etc.) überhaupt erst möglich. Niemand kann also sein Erkennen wahrnehmen, ohne dass nicht das Erkannte schon seinen Gegenstand hat. Thomas impliziert an dieser Stelle die heute mit Intentionalität beschriebene Charakteristik aller kognitiven Vollzüge. Wenn der Mensch denkt, denkt er niemals, ohne auch etwas zu denken. Unsere Selbsterkenntnis ist an Akte dieser Art gebunden. 559 Der Mensch vermag sich also nur durch vom Sinnlichen herkommend seine Erkenntnisform aktuierend zu erkennen. 560 Dieses etwas eines zugrundeliegenden Denkaktes bildet die notwendige Brücke zur Erkenntnis von uns selbst. Ich erfasse mich selbst dadurch, dass ich etwas anderes erfasse. Nur über das andere gelange ich zu mir selbst. 561 Dadurch, dass der Mensch – ermöglicht durch die genannten Denkakte – sich selbst erkennt, kehrt er gewissermaßen zurück zu sich, zurück zum eigenen Wesen. Hier schließt sich also der Kreis: Ausgehend von der materialen Sinnenzwar eines objektiven Gegenstandes vorangehender Akte als deren intentionalen Inhalt bedürfen, dieser ist jedoch als notwendig und nicht konstitutiv aufzufassen. 556 Vgl. Fetz (1975), 109, 112, 147. Nur durch die Subsistenz der Seele als Form der Materie kann sichergestellt werden, dass diese nicht gänzlich im materiellen Wesen aufgeht und somit eine Rückkehr zu sich selbst überhaupt erst ermöglicht wird. 557 Vgl. Thomas, Summe der Theologie, I, Sent. d. 17, 1, 5 ad 3. 558 Vgl. Thomas, Summe der Theologie, I, 87, 3. 559 Vgl. Questiones Disputate de veritate (im Folg. zit.: Ver.), 10, 8; Thomas, Summe der Theologie, I, 87, 1. 560 Vgl. Thomas, Summe der Theologie, I, 14, 2, 3. 561 Vgl. Fetz (1975), 114.

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erkenntnis, zurückgekehrt zum ursprünglichen Formprinzip durch das besondere Vermögen der Reflexivität. 562 Die Eigenart dieser Selbstgegenwart besteht wohl darin, dass die Seele sich mit ihrem realen Wesen gegenwärtig ist und nicht nur durch eine den Gegenstand nur abbildende Vorstellung, wie dies bei der Gegenstandswahrnehmung der Fall ist. 563 Reditio completa meint also eine Selbsterkenntnis ausgehend von und gebunden an eine material-sinnliche, zurückgeführt in eine geisthafte Erkenntnis, deren Gegenstand das Wesen der Geist-Seele selbst ist. 564 Eine Frage bleibt für Thomas noch offen: Wodurch ist es uns möglich, vermittels unserer Sinneserkenntnis, die doch primär auf die Erfassung der Dingwelt gerichtet ist, immer auch uns selbst als Erkennende zu erfassen? Die Antwort findet Thomas in der Art unseres Erkenntnisbezuges. 565 Dieser ist dadurch geprägt, dass wir die Dinge nicht nur sinnlich-inhaltlich wahrnehmen, sondern immer auch als Seiendes. Die daraus entstehende Andersheit liegt wiederum primär in der Präsenz dessen, was sich über die Sinne bekundet. Nun gehört es zum Wesen einer jeden Präsenz, dass sie etwas für jemanden darstellt. Indem ich vom Sein der Dinge weiß, erfasse ich zugleich auch in Absetzung dazu die Selbsthaftigkeit des Erkennenden, also meiner selbst. Ich werde mir meiner selbst bewusst, weil ich etwas in seinem Eigensein erfasse, das nicht mein Eigensein ist. 566 Diese besondere Art des menschlichen Erkenntnisbezuges greift etwa siebenhundert Jahre später Martin Heidegger auf, wenn er den Menschen als den einzigen Adressaten des Seins ausweist. Der Mensch geht nicht auf im Seienden; er ist in der Lage, in ein Verhältnis zu ihm zu treten und erkennt dabei das Sein am Seienden. 567 Heidegger stellt fest, dass der Mensch als Existierender (Dasein) 562 Bei Robert Spaemann finden wir diese Bewegung als Rückkehr unter einem zusätzlichen Aspekt gefasst: »Personen sind nicht instantane Subjektivitätspunkte. Das instantane Selbstbewusstsein ist vielmehr erst das Resultat der Reflexion eines Subjekts, das Resultat einer Rückkehr aus den vielen erlebten Inhalten zu sich selbst.« Spaemann (2008), 20. 563 Vgl. Fetz (1975), 149. 564 Vgl. Fetz (1975), 163. 565 Die hier skizzierte Antwort von Thomas findet sich im Wesentlichen in dessen Lehre von den Transzendentalien. 566 Vgl. Thomas, Summe der Theologie, I, 16, 4, 2 (Fetz (1975), 127). 567 Bei Karl Jaspers finden wir den gleichen Aspekt, wenn er im Begriff des »Grundwissens« davon spricht, dass nicht nur Seiendes offenbar wird, sondern dieses Offenbarwerden sich selbst offenbar wird. Vgl. Jaspers (1984), 111 ff.

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immer schon Welt hat. Diese Weltaneignung 568 geschieht und kann nur geschehen, weil er das Sein am Seienden erkennen kann, er teilt nicht den Abgrund der Tiere, der darin besteht, etwas niemals als etwas auffassen zu können und dadurch weltarm in seiner Um-Welt aufzugehen. Weltbildung erfordert zum einen, das Sein am Seienden erfassen und zum anderen es vom Sein der Welt unterscheiden zu können. 569 Das Wissen um diese ontologische Differenz konstituiert den Menschen und macht ihn durch das Existieren aus Freiheit zur höchsten Weise des Seins. 570 Mit Kant gesprochen ist der Mensch an sich das Bewusstsein seiner Freiheit. Dieser Aspekt der menschlichen Seinsweise war es auch für den Anthropologen Helmuth Plessner, der ihm auf der Suche nach dem exklusiven Unterschied des Menschen gegenüber allen anderen Formen organischen Lebens die entscheidende Antwort zu geben schien. Plessner fand zu der treffenden Beschreibung der exzentrischen Positionalität. Das Tier ist bezüglich seiner Kognitionen zentrisch insofern, als es selbst zwar sämtliche Bezüge zur Welt (Vorstellungen, Impulse, Gefühle) erlebt, es ist von diesen gewissermaßen erfasst. Im Zentrum dieser Seinszustände stehend bleibt es aber sich selbst als solches, im Zentrum stehendes Wesen unbekannt. Für Plessner 568 Diesen konkreten Prozess der differenzierten Aneignung der Welt nennt Cassirer »Gestaltung zur Welt« und ergänzt hinsichtlich der Genesis derselben, dass es sich dabei keineswegs um ein der Weltbildung vorangehendes Selbst handelt. Der Anfang dieses vielfältigen Prozesses findet seinen Ursprung in der Ungeschiedenheit und Indifferenz von Welt und Selbst und entwickelt sich aus den symbolischen Formen des Mythos, der Sprache und der Erkenntnis. Cassirer beschreibt damit den Anspruch seiner Philosophie, diese Formen nicht als Gegebenheit ohne weiteres hinzunehmen, sondern deren Entwicklungsverlauf aufzuzeigen. Cassirer klärt dadurch den Vorgang der Reflexion als ein allmählich entstehendes Vermögen aus dem »stetig fortschreitenden Prozeß der Bestimmung« Cassirer, E. (1923), Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache, hg. v. H. Noack, Berlin: Bruno Cassirer, 22. 569 Vgl. Heidegger, M. (1975), Die Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe 2. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 24, Frankfurt am Main: Klostermann, 454. 570 Vgl. Heidegger, M. (1978), Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, Gesamtausgabe 2. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 26, Frankfurt am Main: Klostermann, 22 f. Heidegger stellt in Sein und Zeit klar, dass die Weltbezogenheit nicht etwa einen »Abfall« des Selbst, sondern vielmehr dessen ursprüngliche Wirklichkeit darstellt. Die Welt tritt also nicht zu meinem Selbst hinzu, sondern bildet dessen Kern. Vgl. Heidegger, M. (2006), Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen: de Gruyter, 119. Vgl. dazu die Konzeption des Selbst als Manifestation des Schaffens der symbolischen Formen als Welt. Also: Selbst als Manifestation der durch symbolische Formen geschaffenen Welt.

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eröffnet sich genau an dieser Stelle der limitierten Verhältnisbildung die entscheidende differentia specifica des Menschen. Er steht als intentional denkendes und unmittelbar fühlendes Wesen gleichwohl im Zentrum der Weltbezogenheit, ist sich dieser aber absolut bewusst. Er weiß um die Vermittlung der Welt durch sich und ist damit zugleich exzentrisch in seiner Position zur Welt. Während das Tier zwar zwischen sich und der Umwelt zu trennen im Stande ist, kommt beim Menschen eine weitere Unterscheidung hinzu: die zwischen ihm als psychophysische Einheit und als sich selbst. »Wohl ist es (als Leib) ihm (dem Ganzen), nicht aber das Ganze sich gegenwärtig. Ihm gegenwärtig ist Außenfeld und Körperleib.« 571 Das Individuum, so Plessner, ist »in das in seine eigene Mitte Gesetztsein gesetzt«, es »steht im Zentrum seines Stehens«. 572 Diese Doppelaspektivität des Menschen wird in folgendem Zitat aus Plessners Lachen und Weinen noch einmal plastisch: »Ich gehe mit meinem Bewußtsein spazieren, der Leib ist sein Träger, von dessen jeweiligem Standort der Ausschnitt und die Perspektive des Bewußtseins abhängen; und ich gehe in meinem Bewußtsein spazieren, und der eigene Leib mit seinen Standortveränderungen erscheint als Inhalt seiner Sphäre.« 573

Auch Plessner unterstreicht also unübersehbar die Reflexivität unserer Denkakte als das anthropologische Prädikat und benennt mit diesem spezifischen Vermögen – wie schon einige Denker vor ihm – die entscheidende, weil notwendige Eigenschaft unseres Denkens im Hinblick auf zentrale Kategorien des Menschen wie: Autonomie, Identität, Freiheit und Verantwortung. 574 Selbsterkenntnis als aktgebundene, differenzierende Seinsbestimmung der eigenen Person wurde somit sowohl in Abgrenzung zur humanen, sinngebundenen Erkenntnis als auch zur tierischen, zentrierten und im Wahrnehmungsgeschehen gänzlich aufgehenden Erkenntnis hinreichend Plessner (2003), 306. Plessner (2003), 362. 573 Plessner, H. (1970), »Lachen und Weinen«, in: G. Dux (Hg.), Philosophische Anthropologie, Frankfurt am Main: Fischer, 11–171, 44. 574 Bei Paul Ricœur finden wir einen weiteren sehr entscheidenden Aspekt der Reflexion, wenn er schreibt: »Die Reflexion ist die Aneignung unseres Strebens nach Existenz und unseres Wunsches nach Sein, durch die Werke hindurch, die von diesem Streben und diesem Wunsch zeugen.« Ricœur (1974), 59. Ricœur macht deutlich, dass der Mensch nicht nur gegenwärtig ist, sondern geschichtlich existiert und als solcher an einer narrativ verfassten, sinnvollen Aneignung der Welt interessiert ist. 571 572

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deutlich dargestellt. In beiden theoretischen Freistellungen der Erkenntnis von uns selbst zeigte sich die besondere, als wesenhaft zu bezeichnende Fähigkeit des Geistes zu einer Rückwendung auf sich selbst (Reflexion) als notwendige Bedingung. Mit dem bisherigen Vermögen der Reflexion, im Besonderen zu dessen Beitrag zur Selbsterkenntnis, ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Reflexionsphilosophie noch nicht angesprochen. Nämlich die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn wir uns die genetischen Vorbedingungen der bewussten Reflexion verständlich zu machen versuchen. Wie können bzw. sollen wir uns einen ersten affirmativen Akt des Geistes vorstellen, der uns zu den vorstehend benannten Leistungen des reflexiven Bewusstseins befähigt? Paul Ricœur spricht in diesem Zusammenhang von der »konkreten Reflexion« 575. In Überwindung einer Subjektvorstellung als sich selbst präsentes Zentrum zielt seine Auslegung des Selbst auf eine diesem vorausliegende, ihm nicht durchsichtige Dynamik. Der Bewusstheit unseres Denkens geht also ein ihr unbewusster, geschichtlicher Akt der ursprünglichen Affirmation voran. Das Ego – so Ricœur – ist von diesem dies verursachenden Grund seiner Existenz, seinem eigentlichen Sein, getrennt und der Zugang durch die Objekte seiner Akte verstellt. Diese Verstellung des konkreten Selbst bedingt, dass sich der Mensch jenseits des bloßen »ich denke« sein »ich bin« über einen hermeneutischen Zugang über die Reflexion seiner Objekte und Symbole – auf indirektem Wege also – zu erschließen hat. 576 Reflexion wird im Sinne Ricœurs erst denn konkret, wenn dabei die Objektivationen unserer Existenz als vermittelnde und damit aufklärende Prozesse in den Blick genommen werden. 577 Das hermeneutische Reflexionsverständnis Ricœurs weist uns mit seiner Vermittlungsfunktion der Objekte als Schlüssel für das Verständnis unserer eigenen Existenz somit zum einen eine Brücke vom Gegenstand des Denkens zum Kern unseres Seins und zum anderen eine Umgehungsmöglichkeit der aporetischen Fragestellung nach der Hervorbringung des aktgebundenen »ich denke« durch die Rückbindung an eine diesem vorausliegende Dynamik. 578 Ricœur findet so zu einem positiven Begriff

Ricœur (1974), 58. Vgl. Ricœur, P. (1984), Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II, übers. v. J. Rütsche, München: Kösel, 210 f. 577 Vgl. Mattern, J. (1996), Ricœur zur Einführung, Hamburg: Junius,187 f. 578 Ricœur folgt in diesem Ansatz dem französischen Philosophen Jean Nabert, der als 575 576

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der Reflexion des Selbst, der deutlich über die reine »Ich-denke-Vorstellung« der Selbsterkenntnis von Descartes, Thomas und Plessner hinausgeht, ja dieser ein vollständig verschiedenes Verständnis des Selbst als »ich bin« gegenüberstellt. Die Reflexion ist die Aneignung unseres Strebens nach Existenz und unseres Wunsches nach Sein, durch die Werke hindurch, die von diesem Streben und diesem Wunsche zeugen; deshalb ist die Reflexion mehr als bloße Kritik der Erkenntnis und selbst mehr als bloße Kritik der moralischen Urteilskraft; jeglicher Kritik der Urteilskraft vorgängig, reflektiert sie auf jenen Existenzakt, den wir im Streben und Begehren entfalten. 579

Im Gegensatz zur Selbsterkenntnis der ersten Art ist das Selbst, wie es Ricœur fasst, nicht der Beginn und die Voraussetzung eines reflexiven Erkenntnisaktes, 580 sondern ein uns aufgegebenes, durch unsere Lebensvollzüge zu erschließendes und deutendes Bewusstsein von unserer Existenz und damit ein am Ende einer Reflexion stehendes Ergebnis eines lebenslangen Interpretationsgeschehens. Dieser Prozess wird getragen von einem subjektiven Streben, das ein Begehren nach Sein ist. Das Ziel des Strebens ist die verstandene Existenz. 581 Weil sich aus dieser Auffassung von Reflexion zugleich ein Motiv zur Lebensgestaltung ableitet, leistet Ricœur damit einen wichtigen Beitrag zu der angestrebten Rekonstruktion der unbedingten Forderung. Der Akt der Selbst-Aufklärung verliert seinen bloß epistemischen Aspekt und wird um einen existentiellen erweitert. Wir werden diesen Gedanken auch in der normativen Interpretation der Verantwortung wiederfinden. 582 Der Aufruf des gnō´thi seautón gewinnt somit neben seinem klärenden einen entscheidenden normativen Aspekt hinzu. Nicht ich als erkennendes Subjekt, als Träger von Akten, sondern ich als Träger von personalen Bestimmungen, die wiederum zum Inhalt von kognitiven Akten werden können und in der Reflexion werden müssen, bin das Objekt der delphischen Auf-

einer der wichtigsten Vertreter der Reflexionsphilosophie großen Einfluss auf Ricœur ausübte. 579 Ricœur (1974), 59 f. 580 Vgl. dazu die mehrfach benannte Funktion der Selbsterkenntnis bei Thomas und Plessner als Ermöglichungsbedingung des Selbstbezuges überhaupt. 581 Vgl. Liebsch, B. (Hg.) (1999), Hermeneutik des Selbst – Im Zeichen des Anderen, Freiburg, München: Alber, 28. 582 Vgl. dazu Kapitel 5.2.

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forderung. Das unmittelbare Bewusstsein der Selbstgegenwart kann nicht gefordert werden, man hat es einfach. Um die Annäherung an die sittliche Relevanz des Selbst fortzusetzen, bedarf es sowohl einer weiteren Abgrenzung als auch einer semantischen Erweiterung. Finden wir doch in unserer Sprache in den Fällen des Bezuges auf uns neben dem Ausdruck des Selbst auch den des Ich. Neben der semantischen Unterscheidung dieser beiden Ausdrücke wäre dann auch noch aufzuweisen, wie wir von der rein faktischen Selbstgegenwart zu einer präskriptiven, inhaltlich gefüllten Funktion des Selbst als mögliches principium diiudicationis gelangen.

5.5.2 Das Selbst und das Ich In einer Hinsicht sind sich – so verschieden diese Denker ansonsten sein mögen – Thomas von Aquin, David Hume und Immanuel Kant einig. Das Selbst im cartesianischen Sinn als Substanz aufzufassen, ist falsch. 583 Der Begründer des neuzeitlichen Subjektbegriffs, Descartes, fasst den Geist als eine vom Menschen unabhängige Substanz. Als eine Art »[…] Denkstoff, der einen Organismus auf magische Weise mit Subjektivität ausstattet.« 584 Demnach könne zwar der Mensch nicht wesentlich ohne Geist, aber vice versa sehr wohl vorgestellt 583 Für Thomas haben wir unser Selbst nur im Akt der Erkenntnis. Diese Akte sind per se intentional, also immer schon auf etwas gerichtet. Dies führt notwendig dazu, dass uns unser Selbst nur mit einem fremden Gegenstand erfahrbar wird. Vgl. Fetz (1975), 114. Für Hume sind alle Gegenstände des Denkens, so auch unsere Selbsterkenntnis, auf ideas an perceptions zu reduzieren. »Now since nothing is ever present to the mind but perceptions, and since all ideas are derived from something antecedently present to the mind; it follows, that it is impossible for us so much as to conceive or form an idea of any thing specifically different from ideas and impressions. Let us fix our attention out of ourselves as much as possible: Let us chase our imagination to the heavens, or to the utmost limits of the universe; we never really advance a step beyond ourselves, nor can conceive any kind of existence, but those perceptions, which have appeared in that narrow compass. This is the universe of the imagination, nor have we any idea but what is there produced.« Hume, D. (19781), A Treatise of Human Nature, Being an Attempt to introduce the perimental Method of Reasoning into Moral Subjects (1739–40), ed. by L. A. Selby-Bigge and P. H. Nidditch, Oxford: Clarendon Press, 67. 584 Koch, C. (2014), »Das Leib-Seele-Problem im 21. Jahrhundert«, in: H. Fink/ R. Rosenzweig (Hgg.), Bewusstsein – Selbst – Ich. Die Hirnforschung und das Subjektive, Münster: Mentis, 67–88, 75.

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werden. Bei Descartes wird der Geist zum Ding, res cogitans. Der Mensch wird zu einem Agglomerat zweier unabhängiger Wesenheiten. Als Substanz persistiert der Geist inhaltsleer aus sich und erhält eine Wirklichkeit losgelöst von Körper und Welt. So eindeutig uns diese Vorstellung als überholt zu gelten scheint, so wenig greifbar ist uns doch bis heute eine positive Wesensbestimmung des Geistes im Allgemeinen und des Selbst 585 im Besonderen. Worte wie Selbst-Achtung, Selbst-Bestimmung, Selbst-Verleugnung, Selbst-Verfehlung und Selbst-Bezeugung haben nur dann einen Sinn, wenn es etwas in unserem Bewusstsein gibt, dem wir eine herausragende Bedeutung für unsere gesamte Existenz zuschreiben, weil es bei Sätzen mit diesen Ausdrücken immer ums Ganze, um das, was uns ausmacht, geht. Ohne Identität gibt es keine Werte, ohne Werte keine Ethik und ohne Ethik wäre nicht nur die zentrale Frage dieser Untersuchung hinfällig, sondern auch jede Anthropologie ihrer Grundlage beraubt. Denn ohne eine Theorie der richtigen Handlung würde die Auseinandersetzung mit dem Menschen leer und sinnlos. Also hängt von der Identitätsfrage und damit von unserem Verständnis vom Selbst eine ganze Menge ab. Die Frage nach dem Selbst ist nicht u-topisch, weil sie immer eine ethische Topographie impliziert. Sie ist ethisch situiert aus dem Ort, an dem wir uns unter Anderen befinden. 586 Was aber ist das Gemeinsame der oben genannten Bedeutungen? Zweifellos sind dies Inhalte, die nur dann überhaupt sinnvoll gedacht werden können, wenn diese über allem Zufälligen und bloß die Beschaffenheit und die Umstände unserer Erfahrungen und Lebensbedingungen Betreffenden stehen. Hier zeigt sich der Unterschied von Selbst und Ich am deutlichsten. Das Ich ist wesentlich eine vereinheitlichende und gleichzeitig zu anderen abgrenzende Antwort auf die Fragen: »Wer hat das Gefühl x?«, »Wer ist von x überzeugt?«, »Wer beabsichtigt die Handlung x?«, also ein soziales Subjekt. Ricœur spricht bei diesem Aspekt unserer Identität von der Selbigkeit (idem) und setzt diese klar ab von der Selbstheit. 587 Das Ich steht in seiner numerischen Identitätsfunktion also für die Aufrechterhaltung dieser beständigen Zuordnung bzw. besser:

585 An dieser Stelle steht der Ausdruck »Selbst« bereits nicht mehr nur als epistemische Entität in bloßer Abspaltung von anderem, sondern als Benennung besonderer Inhalte der Sittlichkeit und Identität. 586 Vgl. Liebsch (1999), 15. 587 Vgl. Ricœur, P. (1996), Das Selbst als ein Anderer, München: Fink, 10 ff.

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Zurechnung angesichts der wechselnden Zustände, die sich aus dem Verhältnis Mensch und Welt ergeben mögen. Diese numerische Identität wird ergänzt um eine innerliche, die eines bewussten Ortes in uns, der in unmittelbarer Wechselwirkung mit unserem Denken, Fühlen und Wollen steht und für diese geistigen und leiblichen Vorgänge als gemeinsamer Adressat fungiert, der als solcher aber keineswegs nur passiv empfängt, sondern zugleich zu dem wird, der diesen bewussten Inhalten erst Sinn gibt, weil er diese hat. 588 Das Ich ist also das Subjekt, dem wir diese Phänomene zuschreiben. Diese askriptive Bedeutung spielt vor allem im Zusammenhang mit der später noch zu behandelnden personalen Eigenschaft der Verantwortung eine zentrale Rolle. Das Selbst hingegen ist kein rein faktisches, sondern vielmehr ein forderndes, normierendes und existentiell bedingendes Bewusstsein. Die Frage nach unserem Selbst will uns darüber aufklären, wer wir sind. Das cogito Descartes’ und auch die vorangehende Untersuchung der Selbst-Erkenntnis mag uns sagen, dass wir sind, und in Teilen auch, was wir sind, wer wir als gehaltvoll beschriebene Personen sind, bleibt bei dieser im Kern konkurrenzierenden Gegenüberstellung von Substanzen (Descartes) und dem von Kant als formales, weil inhaltsloses Bewusstsein bezeichneten Selbst im Sinne eines Sich-durchsichtig-werdens in kognitiven Akten im Dunklen. Eine Person hat nicht einfach einen Geist oder bestimmte Zustände, sondern ist ein aus Gründen handelndes und denkendes Wesen. Das Selbst in diesem Sinne ist die analytisch notwendige Bezugsgröße aller sittlichen Identifizierung. Wir werden uns durch die Unterscheidung des Ichs vom Selbst erst als ein Mensch bewusst, der sich in seinem eigenen Denken zu etwas ins Verhältnis setzen kann. 589 Die Frage nach dem Selbst ist vor allem die Frage danach, wer wir sind. Das Selbst wird im Kontext dieser Untersuchung nicht als präformierte oder teleologische Substanz definiert, sondern als möglicher Inhalt der Antworten auf 588 Auf die sprachlogischen Schwierigkeiten, die bei der Verwendung des »Ich« als Sprecher auftreten, verwies u. a. auch Ulrich Pothast. In der Verwendung des Pronomens »ich« in der ersten Form kommt es bei der Erklärung, um wen es sich dabei handelt, zu einem definitorischen Zirkel, da »mich selbst« als Flexion von »ich« steht und somit das zu Erklärende mit der Erklärung zusammenfällt. Pothast erläutert diesen Regress der Beziehung ausführlich an der Konzeption Fichtes und Brentanos. Vgl. Pothast, U. (1971), Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankfurt am Main: Klostermann, 26 ff. sowie 67 ff. 589 Sprachlich wird dies z. B. in der Frage deutlich: »Werde ich mir gerecht?«

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die fundamentalen Fragen unserer sittlichen Existenz. Wir verstehen unter Selbst nicht etwas im substanziellen, hypostasierenden Sinn, aber eben auch nicht nichts. Wie können wir diese sprachlich häufig als innere Instanz verwendete Bezugsgröße Selbst philosophisch fassbar machen? Zunächst haben wir festzuhalten, dass der Begriff in zwei grundlegenden Weisen zu unterscheiden ist. Das Bewusstsein einer selbstbezüglichen Relation im Sinne der Objektivierung und damit Vergegenwärtigung des Vorstellenden. 590 Wir erläuterten dies ausführlich mit Hilfe der Konzeptionen von Thomas, Plessner und in Teilen auch Kant und Heidegger. Was uns dabei hell und klar aufscheint, ist eine strukturelle Einsicht, die Gewissheit, in der bloßen Vorstellung von Welt nicht aufzugehen, nicht absorbiert zu werden von den Inhalten unserer Kognitionen, sondern durch eine denkende Rückkehr in der Lage zu sein, das erkennende Subjekt als solches zu einem besonderen Vorgestellten unseres vorstellenden Erkenntnisvermögens zu machen. Wir werden diese Bedeutung des Selbst in der Fortsetzung epistemisches Selbst nennen. Der heuristische Beitrag für die Frage nach dem Selbst als Movens sittlicher Praxis ist eben darin zu sehen, dass wir nur dadurch überhaupt erst eine Frage zu stellen in der Lage sind, die uns als Person zum Gegenstand macht. 591 Wir sind nur dadurch fähig, ein Selbstverhältnis zu konstituieren. Dem gegenüber gilt es, ein Verständnis von Selbst zu unterscheiden, das wir nicht relational, sondern qualitativ und vor allem im Kontext unserer sittlichen Verortung als Menschen überhaupt begreifen. Ein Begriff also, der uns sprachlich immer dann begegnet, wenn davon die Rede ist, wofür wir stehen, woraus wir schöpfen und woran wir uns messen; wenn es darum geht, einen tiefsten inneren Kern und Anker unserer Welt der Bedeutungen zu benennen, wenn es um unsere ethische Situierung gegenüber uns und anderen geht. Tugendhat spricht in diesem Zusammenhang von der Stellungnahme, die in der Frage mündet: Soll ich x oder y tun? Dieses Selbst ist angesprochen, wenn es um die Bedeutung von Treue, Achtung, Authentizität und Identität geht. Die Stellungnahme – im Sinne eines Ja- oder Neinsagenkönnens – ist zugleich konstitutiv für ein 590 Hinsichtlich der anthropologisch interessanten Frage, wie wir Menschen diese Vermögen erwerben konnten, vertritt Tugendhat die Auffassung, dass die Objektivierung evolutionär aus der prädikativen Sprachfähigkeit hervorging. Aufgrund der Struktur Subjekt–Prädikat muss er von den Dingen sprechen und auf diese Weise ist er auch für sich ein Objekt. Vgl. Tugendhat (2010), 24. 591 Vgl. die Subjekt-Objektspaltung bei Jaspers (1956), II, 337.

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formal freies Wesen. 592 Wird dieses Selbst zum Satzgegenstand, geht es ums Ganze, nichts vermag deutlicher auf eine tiefe existentielle Krise einen Menschen zu verweisen als die diesbezüglichen Ausdrücke der Selbst-Aufgabe oder -Verlorenheit. Ist diese Weise des Selbst gemeint, sprechen wir künftig vom ethischen Selbst und genau dieses erfordert eine weitere Befragung. Während Sätze in Verbindung mit dem epistemischen Selbstbewusstsein z. B. die Form »Ich weiß, dass x« haben, haben diese in Verbindung mit dem ethischen Selbstbewusstsein die Form »Ich werde x tun« oder »Ich kann x oder y tun«. Letzteres ist die Vorbedingung für Ersteres, sonst handelt es sich dabei um keine Absicht. Wie können wir dieses Selbst jenseits des traditionellen Subjekt-Objekt-Modells fassen? Mit der Ablehnung eines hypostasierenden zweiten Subjekts ist positiv noch nichts gewonnen. Wir werden uns deshalb mit dieser Frage befassen müssen und greifen dabei zu Beginn auf die hermeneutische Konzeption einer narrativen Identität von Paul Ricœur und im Fortgang vor allem auf die existentiale Auslegung des Selbst als Zu-Sein von Martin Heidegger zurück. In Das Selbst als ein Anderer 593 unterscheidet Ricœur zwei Aspekte des Selbst als idem und als ipse. Idem beschreibt im Wesentlichen das, was wir in diesem Kapitel als Ich bezeichneten. Auch Selbigkeit genannt, steht idem für unsere numerische Identität. 594 Eine Identität, deren Eigenheit darin zu finden ist, dass sie trotz aller Veränderung mannigfaltiger Attribute »durchhält«. Wir behalten diese idem-Identität als körperliche Einheit und soziale Bestimmtheit ein Leben lang. Als der Eine sind wir durch diesen Aspekt des Selbst dauerhaft benennbar und zu identifizieren. Es handelt sich um die

Vgl. Tugendhat, E. (1979), Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 30. 593 Die besondere Bedeutung dieses Werkes – nicht zuletzt auch für die vorliegende Untersuchung – liegt darin, dass es Ricœur gelingt, die Aporien der traditionellen Subjektphilosophien und die damit verbundenen Setzungs- und Dekonstruktionstheorien hinter sich zu lassen. Vgl. Mattern (1996), 193. 594 Vgl. hierzu auch Robert Spaemann, der die bloß numerische Identität als Begriffsmerkmal der Person bezeichnet und damit zugleich die Eignung von Person als Begriff offenlässt. Person beschreibt demnach zugleich das Banalste (numerische Identität, jener, kein anderer) und das Tiefste (Träger der Würde, jemand, der nicht nur wirksam wird, sondern durch sich als freies Wesen wirkt). Vgl. Spaemann, R. (2006), Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, 3. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta, 41, 86. 592

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Permanenz eines sich durch die Zeit unverändert Erhaltenden. 595 Die wesentliche Funktion, die dieser Seinsweise zukommt, ist die der Reidentifizierbarkeit und damit auch der juridische Aspekt. Der für unser Anliegen weitaus bedeutendere Begriff ist der des ipse. Ricœur umfasst damit das, was wir auf die Frage: wer anstelle was wir sind, antworten würden. Unseren inneren Kern, die Gesamtheit unserer Habitualitäten, also unseren Charakter insofern dieser das widerspiegelt, was uns als Person ausmacht. 596 Das Selbst konstituiert sich durch ein Sich-verstehen, ist dabei nie statisch, sondern eine durch Auslegung immanent dynamische Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«. Das Produkt dieses permanenten Aneignungsvorganges nennt Ricœur die narrative Identität. Vom Selbst lässt sich […] sagen, daß es durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfiguration refiguriert wird. Im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben kann die für die Ipseität konstitutive narrative Identität auch die Veränderung und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen. Das Subjekt konstituiert sich in diesem Fall als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens. Wie die literarische Analyse der Autobiographie bestätigt, wird die Geschichte eines Lebens unaufhörlich refiguriert durch all die wahren und fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich erzählt. Die Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten. 597

Der Kern des Narrativismus wird hier dadurch deutlich, dass wir nicht nur Geschichte haben, sondern auch Geschichte sind. 598 Oder mit Karl Jaspers gesprochen: Ohne Geschichte verlieren wir die Atemluft unseres Geistes. 599 Aus der Zeitlichkeit unserer Existenz entsteht, angetrieben durch das Streben nach Sein, eine uns selbst erzählte Identität. Die Fortschreibung dieses existentialen Selbst-Begriffes fordert offensichtlich eine andere Form von Permanenz als wir sie bei dem Selbst als idem kennengelernt hatten. Die Selbstheit – so Ricœur – gewinnt ihre Identität nicht durch eine Form, wie sie etwas Vgl. Ricœur (1996), 140 ff. und vgl. Heidegger (2006), 114. Vgl. Ricœur (1996), 151. 597 Ricœur, P. (1991), Zeit und Erzählung, Bd. III: Die erzählte Zeit, übers. v. A. Knop, München: Fink, 396. 598 Vgl. Ineichen, H. (1999), »Vom Ich zum Selbst. Zu Ricœurs Weg von der Sprechakttheorie zum Narrativismus«, in: B. Liebsch (Hg.), Hermeneutik des Selbst – Im Zeichen des Anderen, München: Alber, 89–105, 103. 599 Vgl. Jaspers, K. (1997), »Psychologie und Soziologie«, in: Ders. (Hg.), Kleine Schule des philosophischen Denkens, 8. Vorlesung, München: Piper. 595 596

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in materialer Auffassung erhält, sondern durch die permanente Erkennbarkeit des Charakters, also seiner dispositiven Qualitäten und durch das Halten von Versprechen. Zu diesen Dispositionen gehören für Ricœur neben Identifizierungen mit anderen geschätzten Personen auch die Bindung an Werte. Insofern diese Stabilität der Gewohnheiten die Zeitlichkeit derselben verdeckt 600, zeigt sich etwas Paradoxes, es zeigt sich der Charakter als das Was des Wer. 601 Neben dieser Form der Identität des ipse, die an die des idem erinnert, zielt aber gerade die Bindung an Werte auf eine ganz andere Form der Permanenz und damit der Identität, nämlich die der Treue. Das Selbst als ipse erhält seine Identität in dieser Hinsicht durch die Kontinuierung eines Sichverhaltens 602 in der Welt und wird damit unmittelbar und offensichtlich zu einer konstitutiven Größe für die sittliche Praxis einer Person im Allgemeinen und die Grundlegung einer unbedingten Forderung im Besonderen. Diese von Ricœur als Selbst-Ständigkeit 603 bezeichnete Dauerhaftigkeit des ipse, die aus der Treue zu Werten resultiert, zielt unbestreitbar auf das Wer einer Person und ist nicht mehr vergleichbar mit dem Was des idem. Während also die Permanenz des idem auf einer substantiellen Invarianz trotz der Veränderlichkeit beruht, entwickelt Ricœur eine neue Form der Permanenz, die überhaupt erst aus der Veränderlichkeit von Bedingungen, Umständen und auch Interessen und Neigungen entstehen kann. Treue ist nur zu denken unter der Bedingung widerstrebender oder widerständiger Umstände. Ein Verhalten, das sich in bloßer Übereinstimmung mit persönlichen Grundsätzen erschöpft, kann als konsequent, erwartbar oder verlässlich, niemals aber als Ausdruck von Treue bezeichnet werden. Die Identität des ipse, die durch narrative Prozesse in Form eines Sichverstehens ständig neu gewonnen wird, steht in korrespondierender Beziehung zu den Handlungen der Person, wodurch mit jeder Handlung immer auch jene auf dem Spiel steht. Im Kontext der unbedingten Forderung gewinnen wir durch 600 Diese Verdeckung ist freilich nicht vollständig, allein der Modus des Erwerbens von charakterlichen Eigenschaften lässt die Grenzen der Nicht-Zeitlichkeit derselben deutlich werden. Vgl. Mattern (1996), 200 f. 601 Vgl. Ricœur (1996), 147. 602 Wir werden auf diesen Ausdruck im nachfolgenden Abschnitt zu Heideggers Konzeption des Selbst als Zu-Sein noch ausführlich zu sprechen kommen. 603 Ricœur übernimmt diesen Ausdruck von Heidegger (vgl. Sein und Zeit, § 64, 316– 324). Gemeinsam ist beiden Bedeutungen die kategorische Verschiedenheit von anderen Formen der substantiellen Permanenz.

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die von Ricœur beschriebene Permanenz des ipse eine neue Vorstellung von Selbst-Erhaltung. Wenn der unaufhörliche Konstitutionsprozess des Selbst vor allem durch die Handlungen der Person vermittelt wird, gewinnt die Wahl der möglichen Handlungsweisen eine über die Handlung selbst hinausreichende Dimension der Selbst-Erhaltung im Sinne einer aufrecht zu erhaltenden Konsistenz 604 einer durch Werte und Überzeugungen fundierten (narrativen) Identität. Die Sorge 605 um diese Konsistenzerhaltung aus unserem Streben zu sein im Sinne der Ipseität kann den bloßen substanziellen Erhaltungsdrang womöglich relativieren. Aus dem Vorangehenden wird deutlich, dass sich aus der bloßen Zurückwendung keine Selbsterkenntnis im Sinne des ethischen Selbstbewusstseins gewinnen lässt. Kein Subjekt kann durch bloße Introspektion Antworten auf die Frage »Wer bin ich?« finden. Eine adäquate Basis findet sich – den Gedanken Ricœurs folgend – erst in einer Selbstverständigung, die sowohl praktische als auch kognitive Elemente aufweist. Die Konstitution des Selbst ist somit neben der Introspektion wesentlich von Rezeption und Konstruktion aus dem Anderen heraus durch Aneignung desselben geprägt. Eine SelbstVerwirklichung oder Selbst-Auslegung im Sinne einer Realisierung einer als statisch zu denkenden Vorgabe kommt demnach ebenso wenig in Frage. Vielmehr geht es um eine in die jeweilige Lebensform eingebettete Wechselwirkung aus Lebenspraxis und ihrer Verständlichmachung einerseits und Werten und ihrer Realisierungsbedingungen andererseits, mithin um Selbst-Werdung. Anders gesagt: Ohne ein ethisches Selbst-Bewusstsein wäre dem Menschen als moralisches Subjekt der Begriff der Autonomie und der Identität 606

604 Zum Begriff der Konsistenz muss ergänzt werden, dass es sich dabei um keine strikte wahrheitstheoretische Konsistenz im klassischen Sinne handeln kann. Liebsch macht dies klar, wenn er sagt, dass kein Geschehen eindeutig die Geschichte vorzeichnet, durch die es nachträglich als folgerichtig oder nachvollziehbar erzählt werden kann oder wird. Die Kontingenz der Verhältnisse lässt sich also trotz der angestrebten Konsistenz der narrativen Identität nicht vollständig einholen. Vgl. Liebsch (1999), 38 f. Konsistenz muss also hier als geforderter Rahmen gesehen werden, der sich durch die mögliche Aneignung, die immer eine konstitutive Voraussetzung der Selbstbildung ist, ergibt. 605 Das Wort »Sorge« erfährt im unmittelbaren Fortgang des Abschnittes in Verbindung mit Heideggers Konzeption des Selbst als zentrales Konstitutivum des Daseins eine weitergehende Präzisierung. 606 Identität wird hier im Sinne von Selbst-Sein verwendet. Also der umfassenden

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gänzlich unverständlich 607 und er wäre für immer verloren in den heteronomen Verhältnissen seiner Mitwelt. Der Selbst-Begriff erhält somit an dieser Stelle der Untersuchung eine weitere Dimension. Die rein ontologische des epistemischen Selbstbewusstsein 608 wird erweitert um eine ethische. Der Selbst-Erkenntnis 609 im Sinne der Selbst-Gegenwart folgt nun ein Selbst-Bewusstsein im potentiell präskriptiven Kontext, als Dimension der ethischen Situierung. Die Quelle dieser ethischen Stellungnahme kann – wie schon erwähnt – weder in einer als Substanz gedachten Subjektheit gesehen, noch in einem als reiner Anwendung von »ichhaften« Normen auf die Welt verstanden werden, 610 handelt es sich doch um eine Form der Dialektik von Verstehen und Selbstverständigung. Die Prägungen, Formungen und Grenzen meines Verstehens bestimmen demnach den Zugang zu mir wie zu anderen und zur Welt. Ricœur nannte es die Doppelfunktion als »Leser und Schreiber zugleich« 611. Für den hermeneutischen Prozess der Aneignung von Welt ist die Frage nach dem Verstehen nicht von der nach der Selbstverständigung zu trennen. 612 Der damit gegebene Bedingungszusammenhang wird für das in dieser Untersuchung vorgelegte Verständnis von Sittlichkeit und Selbst im Lichte persönlicher Erfahrungen eine bedeutende Rolle spielen. Übereinstimmung meiner Person mit meinen als würdig und wahr verfassten Ansprüchen und narrativen Inhalten in Bezug auf meine Existenz. 607 Damit einhergehend wäre auch jede Form der autonomen Begründung sittlicher compliance ausgeschlossen. 608 Vgl. dazu auch die Verwendung des Ausdruckes bei Tugendhat. Er spricht von einem »richtigen« und falschen Selbstbewusstsein und trennt damit die bloße Selbstgegenwart als »Richtiges« von der regulativen Idee des Sichdurchsichtigwerdens. Das für das Sich-zu-sich-verhalten Relevante kann nur das von uns als ethisches Selbstbewusstsein Bezeichnete sein. Vgl. Tugendhat (1979), 28. 609 Um die Ausdrücke Ich und Selbst noch schärfer abzugrenzen, empfiehlt sich nach dem zuletzt Dargelegten bei der rein epistemisch geprägten Selbst-Erkenntnis künftig von einer Ich-Erkenntnis in deutlicher Abgrenzung zum Selbst-Bewusstsein zu sprechen. 610 Dieser Mangel muss bei Lauth gesehen werden. Die Sinnrealisierung aus der praktischen Anwendung eines wertimmanenten Sollens an der Realität als Material der Realisierung übersieht den dialektischen Aspekt des Verstehens und der Selbstverständigung. 611 Ricœur (1991), Bd. III, 396. 612 Vgl. Angehrn, E. (1999), »Selbstverständigung und Identität: zur Hermeneutik des Selbst«, in: B. Liebsch (Hg.), Hermeneutik des Selbst – im Zeichen des Anderen: zur Philosophie Paul Ricœurs, Freiburg im Breisgau: Alber, 46–69, 48 f.

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Die nunmehr deutlich gewordenen Konturen des Selbst als Ergebnis eines Verständigungsvorganges, der das Selbst zuallererst sprachlich konstituiert und jenes diesem nicht schon als vorausliegend voraussetzt, erweitern wir nachfolgend in Richtung einer Struktur des ethischen Selbst, die uns umfassender über die normativen Bestimmungsmomente aufzuklären in der Lage sein wird. Auf die Frage, wie uns das »Innere« in normativer Hinsicht zugänglich sein kann, gilt es einen kurzen Blick auf einige ontologischstrukturelle Konzepte zu werfen. Aristoteles begründete die Tradition, bei Seiendem von der Substanz und ihren Zuständen zu sprechen. Bis heute finden wir in unserer Sprache mit der Subjekt-PrädikatStruktur die Folgen dieser gedanklichen Verwurzelung. Im zweiten Modell wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir uns Bewusstsein wie Objekte, wie das Vorstellen eines Gegenstandes zu denken haben. Diese sogenannte Subjekt-Objekt-Beziehung wurde übertragen auf das Selbstbewusstsein und führte dazu, sich das Selbst als Objekt des denkenden Subjekts zu verdeutlichen. Der Mensch hat sich sozusagen vor sich. In einem dritten Ansatz wird davon ausgegangen, dass alles epistemische Wissen auf Wahrnehmungsprozessen beruht. In Analogie zum Sehen erschließt sich der Mensch als eine Art inneres Gewahrhaben. Heidegger versucht mit seiner Konzeption des Sich-zu-sich-verhaltens alle drei Paradigmen der Bewusstseinsdeutung zu durchbrechen und kommt zu einem überzeugenden Verständnis der Existenz, die nicht mehr länger als Substanz, Objekt oder Wahrnehmung, sondern wesentlich als Vollziehendes aufgefasst wird. 613 Heidegger beantwortet die Frage nach dem Unterschied zwischen »es ist« und »ich bin« dahingehend, dass er die Weise, in der wir auf unser Sein bezogen sind, nicht als die versteht, in der wir uns auf etwas Vorhandenes beziehen, sondern als Selbstbekümmerung. 614 Ein Selbstverhältnis, das wesentlich von einer Sorge des Menschen zum Sein bestimmt wird. 615 Dieses Verhältnis fordert den Menschen in seinem jeweiligen Sein, das er zu sein hat, Stellung zu nehmen. Heidegger nennt diese ontologische Struktur Zu-Sein und Vgl. Tugendhat (1979), 33 f. Vgl. Heidegger, M. (1973), »Psychologie der Weltanschauungen«, Anmerkungen zu Karl Jaspers 1919/21, in: H. Saner (Hg.), Karl Jaspers in der Diskussion, München: Piper, 93. 615 Heidegger macht jedoch in Sein und Zeit deutlich, dass damit keineswegs nur der Aspekt der Fürsorge gemeint sein kann, sondern auch die beiden anderen strukturalen Momente der Sorge, das Schon-sein-in und das Sein-bei. Vgl. Heidegger (2006), 193. 613 614

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zugleich Existenz. Was den Menschen ausmacht, ist nicht in substanziellen Kategorien zu fassen, sondern allein in dieser Stellungnahme zu erkennen. Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz. Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene »Eigenschaften« eines so und so »aussehenden« vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das. 616

Das Selbst des Menschen, sein eigentliches Sein, besteht demnach nicht faktisch, sondern es ist wesenhaft Möglichkeit und kann sich selbst darin wählen. Es ist das Sich-zu-sich-verhalten, das uns vom Sein Gebrauch machen lässt. 617 Heidegger macht hier durchsichtig, wie die Überwindung des objekthaften Selbstverhältnisses zu einem ominösen zweiten Subjekt gelingen kann: Unser Sich-zu-sich-verhalten hat die Struktur eines Verhaltens – im Modus der Sorge – zu unserer Existenz. Wir Menschen haben 618 kein Selbst, sondern das Selbst ist das, worum es uns geht, was im Letzten für uns relevant ist. Der spezifische Ausdruck des menschlichen Seins, das Dasein, versteht sich selbst aus der Möglichkeit, »es selbst oder nicht es selbst zu sein.« 619 Der Maßstab für diese Frage sind dabei nicht diverse Bestimmtheiten eines gedachten Ich-Kerns, sondern das Sein in seinen jeweiligen Bezügen. Diese Bezogenheiten (Normen, Werte) bestimmen durch meine Wahl und ohne Reflexion auf einen inneren Kern mein Sein als das, das ich sein will oder eben nicht. Das Dasein wird sich selbst als »das Sein zum eigensten Sein-können, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens« 620 offenbar. Heidegger verlässt so die methodische Engführung, die sich Heidegger (2006), 42. Vgl. Heidegger (2006), 4. 618 Die Fraglichkeit dieses »Habens« spiegelt sich auch in der Frage des ontologischen Charakters des Selbst wider, die sich Heidegger stellt, und indem er zwar den Sinn des Seienden, die Vorhandenheit für das Selbst einfordert, jedoch die Substanzvorstellung nur als »ontologische(n) Leitfaden« einschränkt, wird die Schwierigkeit, die darin liegt, deutlich. Vgl. Heidegger (2006), 114. »Die ontische Selbstverständlichkeit der Aussage, daß ich es bin, der je das Dasein ist, darf nicht zu der Meinung verleiten, es sei damit der Weg einer ontologischen Interpretation des so ›Gegebenen‹ unmissverständlich vorgezeichnet. Fraglich bleibt sogar, ob auch nur der ontische Gehalt der obigen Aussage den phänomenalen Bestand des alltäglichen Daseins angemessen wiedergibt. Es könnte sein, daß das Wer des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin.« Heidegger (2006), 115. 619 Heidegger (2006), 12. 620 Heidegger (2006), 188. 616 617

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aus der rein phänomenologischen Betrachtung des Selbst ergibt und erweitert in seiner existentialen Analytik den Blick auf ein sich selbst verstehendes Leben. 621 Neben der Struktur des Sich-selbst-verstehens unterscheidet sich das Dasein wesentlich vom Sein alles Vorhandenen dadurch, dass es sein Sein nicht schlechthin hat, sondern sich darum sorgt und dies in keiner gattungsmäßigen Weise, sondern höchstpersönlich. Heidegger nennt dies die Jemeinigkeit. 622 Diese Unvertretbarkeit – die Jemeinigkeit – wird damit zur notwendigen Bedingung der Seinsweisen von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Nur unter der Voraussetzung einer von Mensch zu Mensch individuellen und unvertretbaren Möglichkeit, sich selbst zu finden, kann die Verfehlung (Uneigentlichkeit) oder das Gelingen (Eigentlichkeit) überhaupt erst gedacht werden. Heidegger stellt mit dieser hermeneutisch erlangten Analyse klar, dass sich das Selbstverhältnis des Menschen nicht in einer objekthaften Innenschau auflöst, 623 sondern indem es sich zu seiner Existenz verhält. 624 Das, was auf dem Spiel steht, die eigene Existenz, steht nur auf dem Spiel, weil sie durch den Modus der möglichen Eigentlichkeit auch verloren gehen kann. Dasein ist je seine Möglichkeit und es »hat« sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes. Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen. Verloren haben kann es sich nur und noch nicht sich gewonnen haben kann es nur, sofern es seinem Wesen nach mögliches eigentliches, das heißt sich zueigen ist. 625

Das Sein, das wir in der Weise des Daseins immer schon zu sein haben, kann freilich nicht im ontischen Sinn verloren gehen. Im GegenVgl. Heidegger (2006), 46. Vgl. Heidegger (2006), 42, 53. 623 Auf die Schwierigkeiten, die ein reflexives, rein objekthaft konzipiertes Selbstbewusstsein mit sich bringt, hat bereits Dieter Henrich deutlich verwiesen. Im Kern besteht der Zirkel darin, dass sich ein Ich auf das Subjekt zurückwenden soll, in dem es doch erst sich selbst erkennt. Es wird also schon vorausgesetzt, was sich doch erst durch den Reflexionsakt konstituieren soll. Henrich versucht zwar durch die Abhebung der »Kenntnis seiner selbst« von der reflexiven Selbstbeziehung diesen Widerspruch zu lösen, verliert aber dabei das zu erklärende Phänomen des Selbstbewusstseins aus dem Auge. Vgl. dazu Henrich (2007), 252 und Tugendhat (1979), 66 ff. 624 Vgl. Tugendhat (1979), 38. 625 Heidegger (2006), 42. 621 622

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teil. Auch eine Existenz in der Uneigentlichkeit kann das Sein des Daseins »in seiner vollsten Konkretion bestimmen« 626. Das Sein im Uneigentlichen ist nicht per se schwächer oder hat etwa einen geringeren Seinsgrad. Sofern jedoch das Sein zum Seinkönnen freiheitlich verfasst ist, kann sich das Dasein unwillentlich zu seinen Möglichkeiten verhalten und wird dadurch uneigentlich. 627 Was ist mit unwillentlich gemeint? Dies mag zwar eine Wahl aus Freiheit, die jedoch nicht aus reflektierter Selbstbestimmung, sondern vielmehr aus vermittelter Selbsterhaltung resultiert, sein. Das Verstehen im Sinne des Entwerfens von Seinsmöglichkeiten – so Heidegger – hat sich auf die Welt verlegt, das Dasein ist in diesem Modus an diese verloren. 628 Das Aufgehen im Man und bei der besorgten »Welt« offenbart so etwas wie eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-seinkönnen. 629

Die Existenz als verstehendes Seinkönnen, dem es immer und vor allem um sich selbst geht, bringt im Modus der Uneigentlichkeit die Authentizität des Sichverhaltens-zu-sich in Gefahr. Die praktische Frage, die nach der existentialen Analyse des Daseins in der Frage, wer ich sein will, mündet, wird bei ihrer Beantwortung korrumpiert und das Dasein verliert seine Jemeinigkeit. Mit Heidegger: »Das Sein zum Seienden ist nicht ausgelöscht, aber entwurzelt.« 630 Die uns als Dasein gegebene Freiheit impliziert demnach im Verhältnis zu unserem vorausliegenden Sein eine dieser Möglichkeit gemäße Seinsweise (Eigentlichkeit) oder eine diese verfehlende (Uneigentlichkeit). Der formale Sinn der Existenzverfassung ist die Seinsbestimmung aus der Möglichkeit, die das Dasein nicht schlichtweg hat, sondern ist und es ist in räumlicher Hinsicht niemals hier, sondern immer dort, aus dem es in das Hier zurückkommt, um das Zu-Sein auszulegen. 631 Im je zu vollziehenden Stellungnehmen haben wir als Personen einen Spielraum, der sich durch bewusste Konfrontation mit der Frage, wer wir sein wollen, nicht notwendigerweise vergrößert, jedoch immer vor uns verdeutlicht. Die Faktizität des Zu-Seins stellt

626 627 628 629 630 631

Heidegger (2006), 43. Vgl. Heidegger (2006), 193. Vgl. Heidegger (2006), 222. Heidegger (2006), 184. Heidegger (2006), 222. Vgl. Heidegger (2006), 107 f.

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uns vor diese Aufgabe im Dasein und fordert diese Stellungnahme unbedingt aus derselben. Heidegger hat mit seiner Fundamentalontologie einen neuen Blick auf unser Selbst eröffnet. Als leibliche Menschen sind wir zwar Substanz, als praktisch Verantwortliche aber Vollziehende. Wir stellen uns mit unseren Handlungen nichts weniger als unserem Sein, das historisch aufgefasst werden muss. In der reflektiven Anstrengung geformt durch die Frage: »Wer will ich sein?« gewinnen wir unsere Eigentlichkeit ein ums andere Mal und bleiben uns als Sichzu-sich-verhaltende treu oder gehen uns verloren. 632 Die Sorge um dieses Sein entspricht einer Grundstruktur unserer Seinsverfassung und ermöglicht uns überhaupt erst die Infragestellung unserer Handlungen gegenüber unserem Zu-Sein. Das Sich-zu-sich-verhalten – so Tugendhat – darf mit Heidegger nicht mehr reflexiv im Sinne eines Verhaltens einer Person gegenüber einer Person, sondern als Verhalten von sich zu seinem Sein aufgefasst werden. 633 Anders als bei primitiven Formen des Lebens steht nicht die Erhaltung des Seins, womöglich vermittelt durch Annehmlichkeit als Repräsentationen des Guten, im Fokus aller Strebungen, sondern die radikale Verantwortung für die durch verstehenden Selbstbezug verbürgte Seinsgestaltung aus der Frage, wie ich sein will. Wie schon bei Aristoteles zu finden, ist es dieses durch Überlegung Hinzukommende, das den Menschen vom rein durch Strebungen geleiteten Tier trefflich unterscheidet. 634 Das Dasein strebt in Übereinstimmung mit Aristoteles 632 Im Lichte dieser Gedanken gewinnt die Formulierung Jaspers’: »bewahrten die Treue dort, wo Treulosigkeit alles zunichte mache,« und der »Verrat des ewigen Seins das nun noch bleibende Dasein unselig werden ließe« eine tiefere Bedeutung. Vgl. Jaspers (1962), 54 f. Sowohl die narrativ vermittelte Geschichtlichkeit des Selbst bei Ricœur als auch das Sichverhalten zum Sein als Zu-Sein bei Heidegger verdeutlichen erheblich, worin der Sinn und die Verantwortung einer Person in ihren Handlungen genauer besteht und was im Fall der Untreue erkennbar auf dem Spiel steht. Andererseits geht Jaspers auch weiter in der Behauptung, in einer transzendenten Bezogenheit den Ursprung der Entschlossenheit zu sehen. Gewonnen aus dem Glauben trägt uns demnach eine Gewissheit, die uns fähig macht, einer unbedingten Forderung zu begegnen. Vgl. Jaspers (1962), 56. Der Glaube vervollständigt bei Jaspers die rationale Reflexion und ist notwendig, um Sinn im Leben zu finden. »Das Gedankenwerk ist immer das Halbe, das zur Wahrheit der Ergänzung dessen verlangt, der es nicht nur als Gedanken denkt, sondern es damit geschichtlich in der eigenen Existenz werden läßt.« Jaspers (1948), 17. 633 Vgl. Tugendhat (1979), 189. 634 Vgl. Aristoteles, Über die Seele, III, 11. In der Nikomachischen Ethik wird der Unterschied verdeutlicht. Was beim Menschen im Denken die Bejahung und Vernei-

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nicht vorrangig nach dem Erhalt – »dass« –, sondern nach der Gestaltung – »wie« bzw. personhaft gefragt »wer«. Weil wir vernunftbegabt sind, verlieren wir im bloßen Erhalten des Substanziellen unsere Existenz immer dann, wenn diese in Konflikt mit jenem gerät. Das So-Sein erhält im Menschen den Vorrang vor dem Sein. Wir haben somit eine Struktur der Selbstbeziehung und des Selbstbewusstseins vorliegen, die den aporetischen Regress der Beziehung 635 durch die Abkehr vom Substanzbezug und die Affirmation eines Person-Begriffs, der ein Wesen beschreibt, das sein Sein zu sein hat, überwindet. Die Proposition, der gegenüber ich mich zu verhalten habe, ist nicht mehr ein Faktum im Sinne einer res cogitans oder ein wie auch immer charakterisiertes weiteres Subjekt, sondern die Proposition der eigenen Existenz, zu der ich mich qua Existenz zu verhalten habe. 636 Das »Selbst als Existenz« überwindet aber nicht nur die mehrfach genannte Selbstreflexivität, sondern zugleich die unmittelbare Bindung der Person an Normen und Werte. In der praktischen Frage dreht es sich nicht um Befolgung, sondern um das eigene Sein. Es scheint zunächst unklar zu sein, wie sich aus Letzterem eine inhaltliche ethische Kategorie ableiten ließe. Eine Erklärung hierfür finden wir, indem wir den von Heidegger im Hinblick auf Selbstbestimmung genannten Existentialen der Eigentlichkeit und Entschlossenheit folgen. Die Bedingung der Eigentlichkeit für den in der Weise der Möglichkeit existierenden Menschen besteht in der Selbst-Wahl. Im Sichverhalten zu unserem Zu-Sein wählt der eigentliche Mensch zunächst die Wahl selbst. Er reflektiert 637 die praktische Frage in Bezug auf sich und sein Sein; eine bloße Überlegung, die etwa auch heteronome Bestimmungen abwägend stattfinden könnte, ist hier ausgeschlossen, ihr fehlt die letzte Sinnbegründung der

nung, ist beim Tier Streben und Fliehen. Das treffliche Leben hängt somit am wahrheitsgemäßen Gebrauch der Vernunft und am rechten (hier tugendgemäßen) Gebrauch des Willens (als überlegtes Begehren). Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139 a, 20–25. 635 Die Überwindung der »Ich-Kern-Theorien« ermöglicht uns bei der Aussage »ich will« nicht zu denken »mein ich sagt mir, dass ich will« oder »ich frage mich, was ich will«, sondern »wer will ich sein?«. Vgl. Tugendhat (1979), 219. 636 Vgl. Tugendhat (1979), 189 f. 637 Das Wort meint hier nicht den Sinn einer Rückwendung wie in der traditionellen Selbstbewusstseinstheorie, sondern den einer Überlegung. Einer Überlegung, in der die Wahrheitsfrage der in meinen Absichten und Meinungen impliziten Annahmen und Gründe im Mittelpunkt steht. Vgl. Tugendhat (1979), 236 f.

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Handlung in der auf die eigene Existenz gerichteten Gestaltungsfrage. Geschieht diese Wahl der Wahl nicht, verliert sich unser Dasein in der Uneigentlichkeit. Das Ergreifen dieser Seinsmöglichkeiten hat das Man dem Dasein immer schon abgenommen. Das Man verbirgt sogar die von ihm vollzogene stillschweigende Entlastung von der ausdrücklichen Wahl dieser Möglichkeiten. Es bleibt unbestimmt, wer »eigentlich« wählt. Dieses wahllose Mitgenommenwerden von Niemand, wodurch sich das Dasein in die Uneigentlichkeit verstrickt, kann nur dergestalt rückgängig gemacht werden, daß sich das Dasein eigens aus der Verlorenheit in das Man zurückholt zu ihm selbst. 638

Nur die Modifikation des Man-Selbst zum eigentlichen Selbst lässt uns zurückfinden zur Selbstbestimmtheit. Dies bedeutet ein »Seinkönnen aus dem eigenen Selbst.« 639 Die Frage der inhaltlichen Bestimmbarkeit der richtigen Beantwortung der praktischen Frage wird bei Heidegger nicht zu Ende geführt. Stattdessen expliziert Heidegger im Begriff der Entschlossenheit, was er unter der einer Selbst-Wahl vorangehenden Überlegung genauer versteht. Es wäre ein völliges Mißverstehen des Phänomens der Entschlossenheit, wollte man meinen, es sei lediglich ein aufnehmendes Zugreifen gegenüber vorgelegten und anempfohlenen Möglichkeiten. Der Entschluß ist gerade erst das erschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit. 640

Entschlossenheit darf also gerade nicht fixen Bestimmungen nur folgen, sondern findet diese im Entwerfen der Seinsmöglichkeiten. Eine Wahl allerdings, die sich nicht vor dem Horizont von Gründen vollzieht, ist keine Wahl im Sinne der Entschlossenheit, weil nicht ich gewählt habe. Wahl im existentiellen Verständnis Heideggers meint also eine Festlegung jenseits der verschleierten Bestimmungen des Man und nachvollziehbar in sprachlich fassbaren Gründen, die unmissverständlich der Frage, wer ich sein will, Rechnung tragen. 641 Nur so verbürgt der Modus der Eigentlichkeit in der Entschlossenheit Heidegger (2006), 268. Heidegger (2006), 268. 640 Heidegger (2006), 298. 641 Selbst meint also immer zugleich begründet. Wenn wir irrational wählen, neigen wir zu der Formulierung »es« hat gewählt. Selbst impliziert also sprachliche Transparenz und axiologische Bestimmungen. Selbst ist der Inbegriff für ein gewähltes Gebundensein aus unserer geschichtlichen Existenz heraus. 638 639

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ein selbstbestimmtes Dasein. 642 Der aus der Jemeinigkeit zu gewinnende Seinsmodus der Eigentlichkeit ist potentiell durch das In-derWelt-sein bedroht. Die Bedrohung, weil möglicher Verfall, resultiert dabei aus der Weise des Seins, die sich von der besorgten Welt her versteht. Das eigene Dasein ebenso wie das Mitdasein Anderer begegnet zunächst und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt. Das Dasein ist im Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst. 643

Das Dasein verliert sich an die Welt, indem es »die eigene Führung, das Fragen und Wählen« 644 an die Welt, ihre Traditionen und Konventionen abgibt. Dieses abgeleitete Selbst verdeutlicht Heidegger in Die Grundprobleme der Phänomenologie als den »Widerschein des Selbst aus den Dingen« 645. Wir verstehen uns somit nicht im Wortsinn aus den eigentlichen Möglichkeiten unserer Existenz, sondern wie wir uns im alltäglichen In-sein in unserer Existenz an die Welt (Dinge und Mitmenschen) verloren haben. 646 Die Uneigentlichkeit wird somit endgültig zum Inbegriff einer heteronomem Identität 647 Vgl. Tugendhat (1979), 241. Heidegger (2006), 125. 644 Heidegger (2006), 21. 645 Heidegger (1975), 229. 646 Vgl. Heidegger (1975), 228. Fetz verweist in seiner Abhandlung Zweideutige Uneigentlichkeit darauf, dass es sich bei dieser Verfremdung des Selbst um keine gänzlich neue Skizzierung handelt. Bereits im Neuplatonismus wurde von Plotin bis Proklos immer wieder herausgestellt, wie das Selbst, die geistige Seele, durch ihre körperliche Verbindung und ihre Hinwendung zur Sinnenwelt ihrer wahren Selbsterkenntnis verlustig geht. Da auch Heidegger den Hinweis gibt, seine Interpretation der Sorge sei im Zusammenhang der Versuche einer Interpretation der augustinischen Anthropologie entstanden, ist die Feststellung interessant, dass bereits Augustinus (De Trinitate, 10. Buch, V. 7, PL 977, nach Fetz (1992)) von der Sorge als dem »Klebstoff« spricht, der uns so den Weltdingen verhaftet sein lässt, dass wir ihre Bilder auch dann mit uns nehmen, wenn wir zum Nachdenken über uns selbst zurückkehren. Vgl. Fetz, R. L. (1992), »Zweideutige Uneigentlichkeit. Martin Heidegger als Identitätstheoretiker«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17 (3), 1–26, 14 f. 647 Zum grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Theorem vom Verfall zur Uneigentlichkeit bei Heidegger und dem Verständnis von konventioneller Identität im Kontext stufentheoretischer Identitätstheorien siehe auch Fetz (1992) ab S. 23. Im Kern handelt es sich um die bei Heidegger vorausgesetzte, gleichursprüngliche Möglichkeit aus der Jemeinigkeit zur Eigentlichkeit oder der Verfallsform, der Uneigentlichkeit. Fetz stellt klar, dass gemäß allen vorliegenden Erfahrungsdaten die faktische Möglichkeit zu autonomer Selbstbestimmung (Kompetenz) einen erfolgreich durch642 643

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und zur Beschreibung einer Existenz, der es per definitionem unmöglich geworden zu sein scheint, gegen Sitten und Traditionen, aber auch entgegen gesellschaftliche Erwartungen, die konkret an diese gerichtet werden, selbstbestimmt zu handeln. Im Hinblick auf die unbedingte Forderung scheint also sowohl das ethische Selbstbewusstsein 648 einerseits als auch das reflektierte Selbstverhältnis bezüglich qualitativer Wertüberzeugungen im Kontext konkreter Handlungen das Fundament andererseits zu sein, auf dem sowohl die notwendige Autonomie als auch die Motivation im Sinne einer Entschlossenheit zu stehen kommen. Die innerhalb metaphysisch geprägter Weltanschauungen mit damit einhergehenden transzendent begründeten Normvorstellungen erhalten dadurch eine voraussichtlich tragfähige Kontrastierung. Sowohl die phänomenal zutreffende Notwendigkeit zur Handlung als auch die analytisch gegebene Freiheit der Stellungnahme vor dem Horizont einer umfassenden Sorge um die Konsequenzen im Hinblick auf unser Sein geben uns einen äußerst ergiebigen Interpretationsrahmen für die noch folgende empirische Untersuchung der unbedingten Forderung. Unabhängig von allen normativen Bestimmungen erschließt sich der Mensch durch die von Heidegger dargelegte Selbstbeziehung in der gelingenden Eigentlichkeit einen von heteronomen Kriterien unabhängigen Sinnhorizont. Ähnlich einer verfahrensethischen Bestimmung der richtigen Handlung erklärt Heidegger mit der Form einer rationalen Grund-Legung durch die Reflexion als Überlegung, wie sich das Dasein selbstgemäß auf die Zukunft hin entwirft und gemäß diesem Entwurf handelt. Die normative Frage wird damit inhaltlich unzureichend, aber formal schlüssig beantwortet. Das ipse Ricœurs wird bei Heidegger zu einem bedingenden Faktor, der unsere Existenz, unser Zu-Sein, konstitutiv zu beherrschen vermag. Der größte »Gewinn« durch Heideggers existenziale Konzeption der Eigentlichkeit aus dem Sichverhalten zum Zu-Sein ist, dass wir eine konsistente Auslegung des menschlichen Selbstlebten Entwicklungsprozess voraussetzt. Erst nach sukzessiv erfüllten Verwirklichungsbedingungen ist die Möglichkeit einer autonomen Identitätsform real gegeben. Die – so Fetz – wirklichkeitsferne Annahme eines prinzipiellen »Seinkönnens«, das frei für Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit ist, ignoriert diese Tatsache und klärt somit nicht angemessen über die Differenz von prinzipieller Wesensmöglichkeit und realer Verwirklichungsmöglichkeit und der Entwicklungsbedingungen letzterer auf. Vgl. Heidegger (2006), 232 sowie a. a. O., 25. 648 Vgl. den Bezug zu gnō´thi seautón.

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bewusstseins und seiner Selbstbestimmung in struktureller Hinsicht erhalten haben. Das inhaltliche Defizit bei Heidegger bleibt eine Herausforderung, die nur durch die beschriebene ethische Auseinandersetzung mit Gründen und der kritischen Prüfung des Verantwortbaren mittels selbstobjektivierender Verfahren und Prinzipien bewältigbar scheint. Der von G. H. Mead gewählte sozialmoralische Ansatz 649, in dem das Selbst wesentlich vom Anderen her zu verstehen sei, bewährt diese normative Auseinandersetzung und führt zu einer erheblichen Verdeutlichung des sittlichen Anspruchs auf intersubjektive Gültigkeit.

5.5.3 Das Selbst als inneres Du Im Sich-zu-sich-verhalten steckt das Wort »verhalten« und eben dieses versucht Mead als Vertreter des Sozialbehaviorismus abseits jedes radikalen, auf Reiz-Reaktions-Mustern aufbauenden, klassischen Behaviorismus durch Sprache und Interaktion, also intersubjektiv zu erklären. Unser Bewusstsein konstituiert sich demnach aus sozialen Erfahrungen über signifikante Symbole (Sprache, Gesten). Es sind diese Erfahrungen, die uns schließlich in die Lage versetzen, uns selbst zum Objekt werden zu können und zu einem Sinnverständnis zu finden, das sich ausschließlich der sozialen Interaktion verdankt. Mead fasst das Sich-zu-sich-verhalten als ein Mit-sich-reden auf. Das Selbstverhältnis ist somit sprachlich und sozial bedingt. 650 Mead fundiert damit das epistemische Selbstbewusstsein, wie schon Thomas, in der Selbstobjektivierung. Reason cannot become impersonal unless it takes an objective, nonaffective attitude toward itself; otherwise we have just consciousness, not self-consciousness. And it is necessary to rational conduct that the individual should thus take an objective, impersonal attitude toward himself, that he should become an object to himself. 651

Die Struktur des Sich-zu-sich-verhaltens ist bei Mead identisch mit der des externen Dialoges. Eine Person konstituiert sich selbst durch den Nach-, besser Mitvollzug des Verhaltens der anderen. Der Agie649 Vgl. Mead, G. H. (1934), Mind, self, and society: from the standpoint of a social behaviorist, Chicago: University of Chicago Press. 650 Vgl. Tugendhat (1979), 245. 651 Mead (1934), 138.

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rende realisiert innerhalb dieses Mitvollzuges die Bedeutung 652 der eingesetzten Sprache und Gesten in der Weise, dass er die Einstellung bzw. Haltung des Adressaten in das eigene Verhalten übernimmt. Wir übernehmen die Haltung des anderen wie ein Spatz den Gesang eines Kanarienvogels übernimmt und machen uns durch unser Agieren zugleich zum Adressaten, wir betrachten uns unterbewusst als den anderen. Das ist es, was Mead »taking the attitude of the other« 653 nennt. Der agierende Mensch vollzieht dabei implizit nach, wovon er ausgeht, dass es beim Adressaten explizit ausgelöst wird. 654 Genau dadurch wird aus einer Geste, einem sprachlichen Akt, ein bedeutsames Symbol und der erfolgreiche Mitvollzug hängt an der gelungenen Übernahme der »attitude of the other« 655. Es ist dieser bedeutsame Mitvollzug, der dem Individuum überhaupt erst die Möglichkeit erschließt, durch das transportierte Material (hier: significant symbols) eine Deliberation als Grundbedingung sittlichen Verhaltens zu vollziehen. Worte und Gesten fungieren also gerade nicht als unmittelbarer Reiz verbunden mit einer zwangsläufigen Reaktion. Durch die emulierte charakterliche Disposition des anderen ist das Individuum in der Lage, sich zu Bedeutungen und – wie Mead an anderer Stelle schreibt 656 – sozialen Kontexten zu verhalten. Denken (in sittlicher Hinsicht) ist für Mead deshalb konsequenterweise ohne die genannten Bedeutungsträger nicht möglich. 657 Wie zu erwarten, gilt dies im besonderen Maße auch für das reflexive Denken. Die vorausgehende Hemmung des eigenen Antwortverhaltens führt uns zu den unterschiedlichen sozialen Bedeutungen unserer Handlungs652 Unter Bedeutung versteht Mead: »the act or response which it calls forth explicitly in the individual to whom it is addressed, and implicitly in the individual who makes it; and this particular act or response for which it stands is its meaning as a significant symbol.« Mead (1934), 47. 653 Mead (1934), 68 f. 654 Das – so Mead – geht so weit, dass wir bei Aufforderung eines anderen zu einem bestimmten Verhalten in uns selbst die Tendenz, jenes zu tun, verspüren. Vgl. Mead (1934), 70. 655 Mead (1934), 47. 656 Vgl. Mead (1934), 69. 657 Vgl. Mead (1934), 47. Denken bedeutet für Mead in diesem Zusammenhang: »an internalized or implicit conversation of the individual with himself.« An anderer Stelle macht Mead den Unterschied dieser Auffassung zu einem klassischen Behavioristen wie Watson deutlich, wo er bestreitet, dass es sich im Gebrauch der Sprache nur um ein Spiel der Worte mit und gegeneinander handele. Dies, so Mead, lässt den wichtigen Aspekt außer Acht, dass Worte auch Träger von sozialen Bedeutungen sind. Vgl. Mead (1934), 69.

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alternativen und ermöglicht durch unser Bewusstsein von uns selbst eine Wahl. Unser Selbst wird dabei auch bei Mead sowohl epistemisch als auch ethisch und – das ist für unseren bislang erreichten Stand zum Selbst von größter Bedeutung – auch als ein Verhalten zu uns selbst aufgefasst. Neu kommt freilich hinzu, dass Mead eine Antwort auf die Frage nach den Inhalten sittlicher Deliberation bietet. The organization of the self is simply the organization, by the individual organism, of the set of attitudes toward its social environment – and towards its self from the standpoint of that environment or as a functioning element in the process of social experience and behavior constituting that environment – which it is able to take. 658

Wir erfahren bei Mead also mehr über die eigentlichen Bezüge der Eigentlichkeit von Heidegger. Der überlegende Mensch vollzieht sein Selbst demnach, indem er internalisierte soziale Erwartungen anderer, vormals externer, zur Grundlage seines Verhaltens zu seinem ZuSein macht. Mead spricht in diesem Zusammenhang vom »generalized other«. Dieser unpersönliche und allgemeine Andere ist bei Mead die Kristallisation aller normativen Erwartungen der entsprechenden sozialen Umgebung. 659 Um dies verständlicher zu machen, strukturiert Mead die je erfahrenen und miterlebten Einzelbedeutungen zu einem erlebten Prozess. Dieser Prozess und dessen spezifische Organisation als soziales, sittliches Gesamtgeschehen ist der Kern des generalized other. 660 Die Summe der generalisierten Gruppenhaltungen oder -erwartungen (social attitudes) konstituieren das vollentwickelte Selbst. Das von Mead genannte Kriterium der konfliktfreien Integration aller Einzelerfahrungen, die jede für sich einen Bezug zur integrativ höherstehenden Endstufe aufweisen, ist dabei wesentlich für das generalized other. 661 Es ist diese universelle und explizit nicht persönliche Eigenschaft des allgemeinen Anderen, die den sozial-behavioristischen Aufbau von Meads Konzept besonders deutlich macht. Der generalized other wird somit zu einer vorläufigen Antwort auf die durch den blinden Fleck Heideggers offengelassene Frage nach den normativen Bestimmungen des Sich-zu-sich-verhaltens. Das Verhältnis zum Zu-Sein müssen wir uns als eine Stellungnahme auf die Forderungen vorstellen, die genetisch betrachtet auf die Ver658 659 660 661

Mead (1934), 91. Vgl. Mead (1934), 90. Vgl. Mead (1934), 155. Vgl. Mead (1934), 158 f.

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innerlichung normativer Erwartungen unserer sozialen Außenwelt zurückgehen. 662 Ausgehend von Tugendhat 663 stellt sich aber die Frage, inwieweit das Sich-zu-sich-verhalten aus einem sinnstiftenden Horizont integrierter Rollenerwartungen tatsächlich auch die Anforderungen an eine wahrhaft autonome Ich-Identität erfüllen kann. 664 Zwar wurde klar, wodurch überhaupt normative Bestimmungen zu gewinnen sind – nämlich aus der mich umgebenden Gesellschaft –, jedoch bleibt bislang offen, wie ein Widerspruch, eine Absetzung des Individuums sowohl von der eingenommenen Rolle als auch von den kooperierenden Erwartungen der Gesellschaft, also deren Sitten, Gesetze und Regeln, denkbar sein könnte. So wenig eine Rolle, deren Träger ich gegebenenfalls bin, durch ihre gesellschaftliche, also heteronome Prägung der letzte Urteilshorizont einer selbstgesetzlichen Person sein kann, so sehr verlangt wahre Autonomie nach der Möglichkeit, diesen durch eine selbstgewählte Bindung an Werte überschreiten zu können. Eine Rolle ist letztlich nicht mehr als eine in der betreffenden sozialen Gemeinschaft akzeptierte Form bestimmter kooperierender Tätigkeiten. Als Träger dieser Rolle verbürgt mir diese Akzeptanz zwar den Anschluss an die Gemeinschaft, darf jedoch im Fall der autonomen Identität keinesfalls ultimativ für meine moralische Urteilsbildung sein. Es könnte sogar sein, dass ich die Rollenidentität lediglich aus Kompatibilitätsgründen übernehme. Jemand ist zwar Unternehmer, geht aber nicht in den darin situierten Verhaltenserwartungen auf. Mit Tugendhat: Die Tätigkeiten dieser Rolle erfüllen mich, d. h. meinen Lebenswillen nicht, sie machen nicht den Sinn meines Lebens aus. 665 Die daraus notwendige Erweiterung des Selbst vollzieht Mead mit der Aufspaltung des Selbst in das

662 Mead fasst diesen Internalisierungsprozess nicht nur als genetische Grundbedingung für alle sittlichen Überlegungen im Menschen, sondern geht weiter, wenn er ausführt: »I know of no way in which intelligence or mind could arise or could have arisen, other than through the internalization by the individual of social processes of experiences and behavior, that is, through this internalization of the conversation of significant gestures, as made possible by the individual’s taking the attitude of other individuals toward himself and toward what is being thought about. And if mind or thought has arisen in this way, then there neither can be nor could have been any mind or thought without language; and the early stages of the development of language must have been prior to the development of mind or thought.« Mead (1934), 191 f. 663 Vgl. Tugendhat (1979), 268 ff. 664 Vgl. Tugendhat (1979), 270 f. 665 Vgl. Tugendhat (1979), 270.

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Me und das I. 666 Mead vermeidet die metaphysische Frage, wie eine Person sowohl ein Me als auch ein I sein kann und fokussiert sich stattdessen auf die Bedeutung beider Aspekte des Selbst aus Sicht des Verhaltens. 667 Das Me entsteht aus der Übernahme bzw. – wie wir es zuvor nannten – der Internalisierung der »attitudes of the others«. Unser Me ist somit, funktional betrachtet, die verinnerlichte Stimme der organisierten Erwartungen unserer sozialen Gemeinschaft. »The taking of all of those organized sets of attitudes gives him his ›me‹.« 668 Das I ist eine Art innere Antwort auf dieses Erwartungs-Set. 669 Wir beziehen Stellung. Empirisch ist uns dieser Teil des Selbst lediglich in der Rückschau mit der Frage: »Wer hat diese oder jenes getan, entschieden, etc.?« zugänglich. Das I ist deshalb jener Selbst-Aspekt der Person, mit der sich diese identifiziert. 670 Während das Me uns Pflichten oder Normen als adäquat »präsentiert«, ja diese darüber hinaus einfordert, verhält sich das I dazu und ist auch der Teil unseres Selbst, auf den wir im Fall des stolzen Zurückblickens auf eine Handlung Bezug nehmen. 671 Das Selbst, auf das wir jedoch im Ganzen zurückblicken, auf das wir historisch Bezug nehmen, ist unser Me mit all seinen organisierten Erwartungen der Gesellschaft, zu der wir uns zugehörig erklären. 672 Aus dem bisher Dargelegten wird ersichtlich, dass ein Individuum, das in seiner Rollenidentität aufgeht, dem »Kommunikationspartner« Me nichts entgegenzusetzen hat. Dieser Mensch »is hardly more than a ›me‹« 673, ihm mangelt es an einer ich-haften Vorstellung von sich selbst, die ihn in die Lage versetzt, ein echtes Sich-zu-sichverhalten zu konstituieren. Im Kontext der unbedingten Forderung erhält dieser Aspekt des Selbst ein großes Gewicht. Ist es doch diejenige Selbstinstanz, die uns prinzipiell zu postkonventionellen Vgl. Mead (1934), § 22. Vgl. Mead (1934), 173. 668 Mead (1934), 175. An anderer Stelle präzisiert Mead dies und spricht von den »attitudes of the others which one assumes as affecting his own conduct«. Ebd. 176. Die für das Me konstitutiven »attitudes« sind demnach nicht nur die der anderen als andere. Vielmehr kommt ein Bewusstsein hinzu, das uns diese fremden Haltungen zu faktisch akzeptierten und damit für unser moralisches Handeln relevanten erklärt. 669 Vgl. Mead (1934), 175. 670 Vgl. Mead (1934), 174 f. 671 Vgl. Mead (1934), 177. 672 Vgl. Mead (1934), 200. 673 Mead (1934), 200. 666 667

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Handlungen befähigt. Blicken wir zurück, stellt sich allerdings die Frage, wo wir das nach Ricœur herausgearbeitete ethische Selbstbewusstsein zu situieren haben. Wie passt dieses einerseits sozial konstituierte 674 Selbst mit der Notwendigkeit einer andererseits autonomen Selbstbestimmung zur Realisierung der unbedingten Forderung zusammen? Selbst der Rückgriff auf Rationalität, wie er in nahezu jeder respektablen Ethik zur Fundierung objektiver Gründe erfolgt, wird bei Mead zu einem sozial bestimmten Geschehen. Nicht nur das Individuum »is what he is in so far as he is a member of the community«, sondern selbst »from the point of view of reflective thought« 675 ist das Individuum ein sozial vermitteltes. Wir finden hier eine Konzeption vor, die sowohl die Identität als auch die rationalen Ressourcen umfassend als vermittelte und durch einen ständig wirksamen Prozess des Austauschs mit der Gemeinschaft als relationale und damit gebundene Tatsachen des menschlichen Geistes ausweist. Deshalb erneut die Frage, wie sich Relationalität und Autonomie hier zueinander verhalten, bzw. ob ein solches Verhältnis ohne wechselseitigen Ausschluss überhaupt denkbar ist. Mead beantwortet diese Fragen affirmativ, in dem er einen »particular and unique standpoint« konstatiert, der es dem Individuum ermöglicht »a different aspect or perspective« in Bezug auf das gegebene Verhaltensmuster zu gewinnen. Every individual self within a given society or social community reflects in its organized structure the whole relational pattern of organized social behavior which that society or community exhibits, or is carrying, and its organized structure is constituted by this pattern; but since each of these individual selves reflects a uniquely different aspect or perspective of this pattern in its structure, from its own particular and unique place or standpoint within the whole process of organized social behavior which exhibits this pattern – since, that is, each is differently or unique related to that whole process, and occupies its own essentially unique focus of relations therein – the structure of each is differently constituted by this pattern […]. 676

674 »It is a self, that is realized in its relationship to others« Mead (1934), 204. »We can not realize ourselves except in so far as we can recognize the other in his relationship to us. It is as he takes the attitude of the other that the individual is able to realize himself as a self.« A. a. O., 194. 675 Mead (1934), 200 f. 676 Mead (1934), 202.

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Der genetische Vorgang selbst, der uns neben dem vermittelten Ganzen des sozialen Verhaltensmusters erlaubt, zu einer positional und relational individuellen Stellungnahme zu gelangen, bleibt bei Mead im Dunklen. Festzuhalten bleibt auch, dass das Me Meads nicht – wie Tugendhat andeutet 677 – mit dem Man Heideggers gleichzusetzen wäre. Der bei Heidegger eindeutig und ausschließlich pejorativ verwendete Begriff des Man 678 steht einem Me von Mead gegenüber, das zum einen als konstitutive Voraussetzung jeder Identitätswerdung eingeführt und zum anderen als Gegenstück einer dialektischen Selbstbestimmung gesehen wird. Die rigorose Barriere, die Heidegger zwischen dem Ich und den anderen zur Konstitution der Eigentlichkeit fordert, wird zugunsten einer durch Wahrheit vervollständigten Entschlossenheit zumindest unter Bedingungen gestellt. Die Hereinnahme von Gründen, die als solche durch die qualifizierte Urheberschaft aus sachlicher Exzellenz bestimmt sind, wird nicht eo ipso zu einem Verdikt der eigentlichen Selbstbestimmung. Das Me kann jedoch nicht als letzter Maßstab autonomer Urteilsbildung dienen, weshalb es der freien Stellungnahme des Ichs bedarf. Wir werden noch darauf zu sprechen kommen, inwiefern innerhalb des sozialen Konstitutionsrahmens des Selbst eine Antwort auf die Fragen nach der Orientierungsleistung derart vermittelter Identitätsmerkmale möglich sein könnte. Zuvor bedarf aber die Konzeption Meads eines entscheidenden Schlusssteins, um dessen Gebäude tragfähig für anschließende Begründungsansätze zu machen. Dabei handelt es sich um den sozialen Akt der Anerkennung. Um diesen zentralen Akt sozialer Interaktion besser verstehen zu können, möchten wir ihn logisch in zwei Teile unterteilen: in das Erkennen und das Annehmen. Wenn wir z. B. davon sprechen, eine Leistung anzuerkennen, meinen wir damit zum einen, etwas, das einer Leistung nach unseren Maßstäben entspricht, erkannt zu haben. Es muss notwendigerweise beim Anerkennenden eine Erkenntnisleistung vorangehen, die es ihm ermöglicht, überhaupt den Gegenstand der Anerkennung, eben eine Leistung, eine bestimmte Haltung etc., als solche zu erfassen. Dieses Erkennen ist im Hinblick auf Dinge ein verhältnismäßig trivialer Vorgang der Zuordnung sensorischer Daten zu gelernten Begriffen. 679 In der so sprachlich ver677 678 679

Vgl. Tugendhat (1979), 279. Vgl. z. B. Heidegger (2006), 179, 185, 238, 246. An dieser Stelle wollen wir die weit kompliziertere Thematik der apriorischen

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mittelten Dingwelt verfügen wir innerhalb des üblichen Spektrums über klare Kriterien, wann etwas dieses oder jenes ist, einer bestimmten Kategorie zuzuordnen ist und welche Funktionen diesem Etwas üblicherweise zuzuschreiben sind. Damit ist jener Erkenntnisvorgang normalerweise auch abgeschlossen und ein zusätzliches Annehmen wäre sprachlich sinnlos. Wir sagen also: »Das ist ein Baum«, und es käme uns nicht in den Sinn hinzuzufügen: »Ich nehme diesen Baum als solchen an«. Im Annehmen, wie es hier zu verstehen sein soll, ist ein Vorgang der persönlichen Gutheißung gemeint. Persönlich, weil die Gutheißung einer Instanz bedarf, die prinzipiell in der Lage sein muss, Gut 680 und Schlecht zu unterscheiden, und dieses vernunftbegabten Wesen vorzubehalten ist. Im Annehmen findet demnach zum anderen eine Bejahung statt, es wird das Angenommene als etwas ganz Bestimmtes betrachtet, bewertet. In der Annahme erfolgt implizit ein Werturteil. Gegenstand derartiger Annahmen sind dabei nicht Gegenstände beliebiger Art, sondern etwas, das auf die Verursachung durch als frei zu denkende Individuen zurückzuführen ist und außerdem durch andere bejahungswürdig erscheinen kann. Um nicht in eine tautologische Begründung zu verfallen, muss das Attribut bejahungswürdig freilich weiter zurückgeführt werden. Wir verstehen darunter die Eigenschaften eines anzunehmenden Gegenstandes 681, die einen den Mustern sozialer Erwartungen 682 gemäßen Mehrwert bedeuten. Folgen wir dieser groben Skizzierung, meinen wir mit Anerkennung im hier verwendeten Sinn einen Vorgang der bejahenden Erkennung persönlicher Gegenstände (Akte) durch andere. Aus der Voraussetzung der Erkenntnis für andere ergibt sich schon die Abhängigkeit von der grundsätzlichen Erkenntnisfähigkeit des Anerkennenden. Ähnlich den Kenntnissen bestimmter Dingeigenschaften bedarf es bei der Anerkennung bestimmter Wertmaßstäbe, also inhaltlicher Vergleichsgrößen, die mir ermöglichen, Begriffsmöglichkeit und der damit verbundenen Rolle erfahrungsgestützter Wahrnehmung außen vor lassen, weil diese zum behandelten Gegenstand keinerlei Relevanz aufweist. Gleiches gilt für andere offene Fragen der Erkenntnistheorie, die in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen. 680 Bei der Definition von »Gut« wollen wir uns darauf festlegen, jenes darunter zu verstehen, das mit Bezug auf vernünftige Gründe als in definierten Kontexten objektiv vorteilhaft oder zuträglich zu bezeichnen ist. 681 Gegenstand ist selbstverständlich nicht auf eine dingliche Bedeutung zu reduzieren, sondern hier deutlich weiter als Leistung, Verhalten, Urteilen, Beitrag, Verzicht etc. zu verstehen. 682 Vgl. Mead (1934), 158, 201, 307.

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den sozialen Mehrwert als solchen überhaupt wahrzunehmen. Eine wertblinde Gemeinschaft wäre zu keiner Anerkennungsleistung imstande, sie wäre nicht in der Lage, eine abgrenzende Antwort auf sozial relevante Gegenstände menschlichen Verhaltens zu geben, ja die Bedeutung von »sozial relevant« würde für diese nicht existieren. Gegeben, dass wir Menschen niemals in einer völlig wertblinden Gemeinschaft aufwachsen, demnach immer unter bestimmten Anerkennungsmustern einer gegebenen Gemeinschaft existieren, entspricht es doch keinesfalls der Idee wahrer Selbstbestimmung, in diesem Verhältnis von Ich, Gemeinschaft und Anerkennung vollständig aufzugehen. Wir benötigen also eine Vorstellung, die uns einerseits die Bestätigung der dialogischen Struktur der Anerkennung erlaubt und andererseits die Forderung nach einer finalen Stufe einer von den sozialen Umgebungsbedingungen unabhängigen Ich-Identität zu erklären vermag. Ohne diesen Anspruch würde der Begriff der postkonventionellen Moralität seinen Sinn verlieren. Denn entweder bliebe die Gemeinschaft die letzte und verbindliche normgebende Instanz, dann entspräche dies paradigmatisch der Bedeutung eines konventionell urteilenden Menschen, oder Meads These vom sozialen Selbst wäre zu verwerfen, dann bliebe im Unklaren, wie wir unser Selbst als Verhältnis zu unserem Sein überhaupt konstituieren könnten. 683 Ja, die Ethik überhaupt kann gar nicht ohne die Voraussetzung eines für seine eigenen Gründe einstehenden Individuums gedacht werden. Wie bereits bei Platon nachzulesen, kann eine Menge niemals wirklich philosophieren, so wenig wie es der Mietling in seiner Orientierung am Applaus derselben vermag. 684 Deutlich wird auch bei Aristoteles, trotz allem Streben nach allgemeingültigen Aussagen über das gelingende Leben als der eigentliche Träger der Tugend, das Individuum genannt, das zwar die Ehre anstrebt (Anerkennung der Gemeinschaft), jedoch diese aufgrund ihres heteronomen Charakters zu keiner Zeit als höchstes Gut betrachtet. Die edlen und tatenfrohen Naturen ziehen die Ehre vor, die man ja wohl als das Ziel des öffentlichen Lebens bezeichnen darf. Indessen möchte die Ehre doch etwas zu Oberflächliches sein, als daß sie für das gesuchte höchste Gut des Menschen gelten könnte. Scheint sie doch 683 Vgl. dazu auch Fetz (1992), 16. Fetz verweist auf die notwendige Funktion der Sozialformen für den Selbstaufbau der Person und zugleich auf die Tatsache, dass der Menschen durch eine völlige Bindung an diese moralisch degenerieren würde. 684 Vgl. Platon, Der Staat, 494 a.

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mehr in den Ehrenden als in dem Geehrten zu sein. Vom höchsten Gute aber machen wir uns die Vorstellung, daß es dem Menschen innerlich zu eigen ist […]. 685

Moralische Einsichten können nicht als unmittelbar und hinreichend sozial vermittelbar gelten. Der Einsehende bedarf neben der möglichen Vermittlungsleistung immer auch eigener Anstrengungen der Überlegung, Wägung und Wertung. Aus letzterer schließlich müsste für eine moralische Praxis im Allgemeinen und für die unbedingte Forderung im Speziellen eine Bindung hervorgehen, auf die wir noch genauer zu sprechen kommen werden. Kommen wir zunächst zurück zu Meads particular standpoint. Wie gewinnen Individuen diesen? Mead bleibt hier im Ungefähren. Wir müssen und können davon ausgehen, dass das von jedem Menschen reflektierte Muster der sozialen Verhaltenserwartung 686 durch einen besonderen Prozess der höchstpersönlichen, lebensgeschichtlichen Verarbeitung im Sinn einer existentiellen Anpassung und Vertiefung entscheidend individualisiert wird. Werte werden durch Reflexion im Sinne Plessners als das Erleben des Erlebten 687 in einem Akt der Aneignung des Strebens nach Existenz und unserem Wunsch nach Sein 688 zu Gründen unseres particular standpoints. Somit ergibt sich eine konsistente Auffassung von einer zwar sozial vermittelten Struktur und anfänglich sittlich bestimmenden Erwartungsbasis, hin zu einer nur noch strukturell vermittelten, jedoch durch Reflexion normativ individualisierten Selbstbestimmung. Wichtig dabei ist, dass der Akt der Anerkennung bei dieser Internalisierung der Struktur des anderen nicht verloren geht. Der bei Mead entscheidende Aspekt des Mitvollzugs, des »taking the attitudes of the other« bleibt der vorherrschende Prozess, wenn wir uns die praktische Frage stellen. Wir emulieren einen Dialog, in dem unser »Gesprächspartner« die reale soziale Positionierung verloren hat und zum individuellen Repräsentanten von durch Aneignungsprozesse gewonnenen WertÜberzeugungen geworden ist. Unser Selbst bleibt also sozial vermittelt und strukturiert jedoch nicht mehr unmittelbar aus dieser Quelle bestimmt.

685 686 687 688

Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095 b, 22–27. Vgl. Mead (1934), § 26. Vgl. Plessner (2003), 264. Vgl. Ricœur (1974), 59.

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Die Frage nach der Möglichkeit der unbedingten Forderung und – sollte diese affirmativ beantwortet werden – nach den notwendigen Realisierungsbedingungen erhält unter der Annahme der vorangestellten Konzeption einen konkreten Bezugsrahmen. Während ausgehend von Aristoteles das Sein der übrigen Lebewesen im Leben selbst, dessen Prinzip, die Seele, verkörpert, aufgeht, 689 ist es dem sprachbegabten Menschen vorbehalten, offen und damit ansprechbar zu sein für Fragen des Guten und der Gerechtigkeit. 690 Der Mensch, ausgestattet mit einem sprachlich verfassten Bewusstsein, erschöpft sich nicht im Befriedigen von Bedürfnissen, sondern sieht sich in seiner Existenz neben den allgemeinen Imperativen des Lebens auch durch Ansprüche, deren Horizont das gelingende Dasein und damit eine geistige Konzeption von Bejahungsbedingungen des Lebens ist, gefordert. So, wie blinde Bedürfnisse über die dadurch realisierten biologischen Vorteile in einem ermöglichenden Zusammenhang mit dem Leben als solchem stehen, sind sittliche Forderungen auf die Entwicklung und den Erhalt eines ethischen Selbstbewusstseins gerichtet. Wie im Neuen Testament bei Matthäus zu lesen: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein« 691, tritt im Dasein der physischen Selbsterhaltung eine grundlegend neue Dimension hinzu. Wie wir gesehen haben, handelt es sich genetisch um eine sozialstrukturell vermittelte Innerlichkeit, die uns in Form von Aufrufen und An-Sprüchen in Anspruch nimmt und uns dadurch ein Verhalten zu uns selbst, übersetzt in die praktische Frage, abverlangt. Der Akt der Anerkennung ist es, der dem Menschen in seinem Verhalten zu seinem Sein, in der Entsprechung gegenüber seinen Wertüberzeugungen, als Bejahung aufgeht. Wie das Tier durch die Erhaltung seines Lebens sein télos erfüllt, hängt die Vortrefflichkeit des Daseins an der Realisierung persönlicher Vorstellungen vom Guten. 692 Zu der physischen Erhaltung tritt eine geistige Bejahung hinzu und ihr potentiell entgegen. Dem Vgl. Aristoteles, Über die Seele, 415 b, 13. Vgl. Aristoteles (19954), Politik, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 4, übers. v. E. Rolfes, Lizenzausgabe, Hamburg: Meiner, 1253 a, 13. 691 Matthäus, Kapitel 4. 692 Diese Form der Verwirklichung ist freilich nicht im ultimativen Sinn normativ gebunden. Spätestens durch die pluralen Prägungen der Postmoderne und durch die zunehmende Infragestellung absoluter Begriffe des Guten im Kontext fraglich gewordener religiöser Überzeugungsmuster gilt dies der Form und Struktur nach auch für das Phänomen des Fanatismus, aber auch im religiös gebundenen Märtyrertum. Susan Neiman, sieht darin den Wunsch nach einer Freiheit, die diesen Menschen wie nichts anderes das Gefühl der Lebendigkeit verleiht. Ein Streben, das durchaus als 689 690

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Seienden der Sinn. Das Über-Leben wird im Phänomen der unbedingten Forderung seiner Unbedingtheit beraubt, um im Leben – gemeint ist das Dasein mit all seinen existentialen Bestimmungen – dieselbe zu ermöglichen. Im Akt der Anerkennung erfahren wir eine Selbstbejahung, die – so Tugendhat – dem Streben nach Selbstbehauptung folgt und uns ein Gefühl der Schätzung verleiht. 693 Personen verfügen potentiell über das Vermögen, Sinnverwirklichung als ihr höchstrangiges télos über die bloße Erhaltung von Leben zu stellen. Mead verankert die Möglichkeit zur Stellungnahme auch gegen unmittelbare, womöglich bedrohliche, gesellschaftliche Erwartungen im Standpunkt einer Person, der sich seinerseits auf einer rational begründbaren Vorstellung besserer Verhältnisse stützt. A man has to keep his self-respect, and it may be that he has to fly in the face of the whole community in preserving this self-respect. But he does it from the point of view of what he considers as a higher and better society, than that which exists. 694

Mead überwindet mit seinem Entwurf die normative Orientierungslosigkeit von Heideggers Entschlossenheit zwar, bleibt aber mit seinem Verweis auf eine rationale Begründungspflicht zu ungenau. Denn »the voice of reason to him self« 695 wird einer praktisch hinreichenden ethischen Bestimmbarkeit nicht gerecht. Erst in Verbindung mit einer validen Werttheorie kann diese Lücke seiner Selbstbestimmungskonzeption geschlossen werden. Ausgehend von seiner Bestimmung des Guten als das, was aus objektiven Gründen vorzuziehen ist, findet Tugendhat das notwendige Maß für die zu ermittelnde Vorzugswürdigkeit in der Erfahrung. 696 Dies erscheint uns aus mehreren Gründen nicht ganz überzeugend. Es kann durchaus erfahrene Experten im Umgang mit Sachfragen (politische Ordnung: Freiheit, Gerechtigkeit) geben, die trotz ihrer Erfahrung, oder gerade deshalb, aus der Perspektive eines am Wert der Freiheit orientierten Menschen gerade nicht zur Überwindung des ungerechten Status Quo beitragen können. Ähnliches könnte für praktische Vermögen im nicht moralischen Sinne gelten. Der Experte für Kohlebau ist nicht rational, wenn auch einer destruktiven Logik folgend, betrachtet werden muss. Vgl. Neiman (2013), 130. 693 Vgl. Tugendhat (1979), 272 f., 279. 694 Mead (1934), 389. Vgl. dazu auch Frankfurt (2016), 71. 695 Mead (1934), 167 f. 696 Vgl. Tugendhat (1979), 276 f.

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ohne weiteres prädestiniert, die Fragen künftiger Energieversorgung durch z. B. erneuerbare Energien zu beantworten. Nicht die bloße Erfahrung, sondern das spezifische Verstehen der humanen Existenzbedingungen erweist sich bei der Findung der sittlichen Vortrefflichkeit als maßgeblich. Die von Tugendhat geforderte (potentielle) Rechtfertigungsverpflichtung der Person für die so gewonnenen Urteile gegenüber der Gemeinschaft ist – auch und gerade im Fall der autonomen und postkonventionellen Person – eine notwendige Validierungsbedingung, die jedoch nur unter der Annahme eines idealen Diskurses Gültigkeit beanspruchen darf. Dies verweist freilich auf die klassische Behauptung, dass im Phänomenalen zwar deskriptive Aussagen im Sinne von zutreffend und unzutreffend zu bekommen sind, jedoch normative Sinnzusammenhänge, inklusive ethischer Forderungskonzepte, für eine moralische Lebenspraxis nicht ohne eine Vorstellung vom Guten, trotz all der von Tugendhat zurecht geforderten anthropologischen Rückbindung, möglich sind. Dieses Potential, Sinn und Richtung zu vermitteln, macht zugleich das Transzendieren dieser Realitäten zu einer notwendigen Eigenschaft dieser Vorstellung. Um Missverständnisse zu vermeiden: Wenn wir hier von Transzendierung sprechen, ist gerade keine Rückkehr in kontrafaktische bzw. metaphysische Bezüge gemeint. Das zu Transzendierende sind vielmehr die arbiträre Gemeinschaft und die konventionellen Bestimmungen, um zu einer auf anthropologischen Realisierungsbedingungen basierenden Selbstbestimmung zu gelangen. Unser Ringen um eine bedeutsame Existenz, die es uns wert zu sein scheint, gelebt zu werden, darf im Letzten nicht vom Urteil zufälliger Ratgeber oder von der faktischen Erwartung sozialer Gemeinschaften abhängen. Der große Gewinn durch den internalisierten ethischen Dialog liegt doch gerade darin, dass wir dadurch zu einer quasi-unabhängigen, also freien Selbstbindung an Gründe gelangen. »Selbst« kann nur meinen, dass wir mittels unseres eigenen Begründungsvermögens zu einer Quelle sinnvoller und gerechter Lebensführung finden, die wir aufgrund ihrer genetischen Qualität gerade im Falle einer unbedingten Forderung als die einzig relevante begreifen. Es kommt also darauf an, einen »Aufstieg« von der sittlichen Blindheit über die moralische Rollenübernahme und Erwartungserfüllung hin zu einer »höchstrichterlichen« Begründungsinstanz in uns zu finden, die durch nichts anderes als die höchstpersönliche Einsicht in vor uns selbst rechtfertigbare Gründe hervorzubringen ist. 260 https://doi.org/10.5771/9783495823842 .

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Die Expertise des Phronimos müsste also im einen Fall auf anthropologische Tatsachen wie Freiheitsstreben und den sensiblen Umgang mit Fragen der Gerechtigkeit, im anderen auf den naturgesetzlichen Prinzipien der Energieumwandlung überhaupt gründen. Handelt es sich hier nicht gerade um ein Wissen, das sich nicht bei den Experten der jeweiligen Praxis (Politiker, Bergbauingenieur), sondern zuvörderst bei denjenigen findet, die sich von der weltgebundenen, konkreten Praxis gerade so weit zu entfernen wissen, dass ihr Urteil nicht durch die aus den jeweiligen konkreten Praxisüberzeugungen geprägten und bestimmten Fertigkeiten und Verfahren geblendet ist und denen aber zugleich das Menschsein und dessen prinzipiellen im Sinne von nicht hintergehbaren Bedingungen vortrefflicher Lebensführung bestens vertraut sind. Die Frage, wie wir diese Prinzipien als Gründe für unser Handeln zu fassen bekommen, dürfte zumindest in sittlicher Hinsicht begrifflich entschieden sein – es handelt sich dabei um Werte (Werte sind übergeordnete moralische Konstrukte des menschlichen Geistes, die dem jeweiligen Individuum als Möglichkeitsbedingungen einer für die betreffende menschliche Gemeinschaft wesensgemäßen Existenzweise erscheinen). Es ist derjenige als Phronimos und damit als intersubjektiver Vermittler des principium diiudicationis zu bestimmen, der über diese besondere Expertise von menschlichen Existenzbedingungen inklusive aller Konflikthaftigkeit verfügt und diese in angemessener Weise zur Fundierung der je geforderten Stellungnahme des Selbst anzuwenden versteht. 697 Wir können also kurz zusammenfassen: Mit Heideggers Zu-sein erhielten wir eine überzeugende Überwindung sowohl der Substanzals auch der Subjekt-Objekt-Struktur des Selbst, mit Meads Mitsich-reden eine genetisch plausible, sozial vermittelte Vorstellung dieser Struktur des Sich-zu-sich-verhaltens, und schließlich mit der Bezugnahme auf Werte die Beseitigung des normativen Vakuums, das bei Heidegger offensichtlich und bei Mead durch unzureichende Ausarbeitung des Vernunftbegriffes gegeben war. Die Erfahrung des Erfahreneren, die bei Tugendhat zum letzten Kriterium der aus dem

697 An dieser Stelle sollte auch auf die prinzipielle Problematik, die allen neoaristotelischen Ansätzen in Form der durch sie übernommenen Beweislast innewohnt, hingewiesen werden. Nämlich zu zeigen, wie sich eine objektive moralische Ordnung ohne Rückgriff auf metaphysische Prämissen begründen lässt. Vgl. Habermas (1991), 19.

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Das principium diiudicationis moralischer Handlungen

Selbstverhältnis gewonnenen Stellungnahme erklärt wird, 698 erwies sich als nicht ausreichend tragfähig. An dieser Stelle kommen wir zum vorläufigen Abschluss der begrifflichen Ausarbeitung, soweit diese für die anschließende Analyse der Fallstudien und das Verständnis des Phänomens der unbedingten Forderung erforderlich war. Die nun folgende Untersuchung historischer Texte einschlägiger Figuren und Denker dient als Unterstützung für die eingangs aufgestellte Hypothese, wonach das Phänomen der unbedingten Forderung nicht nur theoretisch konzipierbar, sondern darüber hinaus im Leben konkreter Personen nachweisbar ist.

698 Vgl. Tugendhat (1979), 282. Ausgehend vom empirischen Bestimmungsansatz des Guten bei Aristoteles erweitert er diesen um einen diskursiven Rechtfertigungsanspruch.

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II. Fallstudien

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Sokrates

Dieses Kapitel wendet sich dem Leben und den Gedanken einer der wohl prägendsten Persönlichkeiten der gesamten, zumindest westlichen, Geistesgeschichte zu. Mit ihr erst entstand die Philosophie, wie wir sie kennen, als existentielle Beschäftigung mit den Fragen des Menschseins, des richtigen Lebens und der Stellung des Menschen in der Welt. Um diese überragende Figur vor der Analyse der Apologie besser verorten und kennenlernen zu können, geben wir einen biographischen Überblick. Daran wird sich eine für unser Thema relevante Beschreibung seiner grundlegenden Positionen anschließen. Doch vorerst einige Erläuterungen zur Überlieferungsgeschichte.

6.1 Zur Quellenlage Sokrates selbst hat nichts schriftlich niedergelegt. Sein Philosophieren bestand vielmehr im lebendigen Dialog auf Straßen und öffentlichen Plätzen. Der Athener wurde zum Schöpfer eines neuen methodischen Stils, des Sokratischen Dialogs (Sokratikoi logoi). Eine vollständige Fassung derartiger Dialoge liegt uns nur von Platon vor. Außerdem wurden als Quellen die Schriften des Xenophon (ca. 430– 355 v. Chr.), hier insbesondere seine »Memorabilia« 699, die Komödie »Wolken« von Aristophanes 700 (ca. 445–385 v. Chr.) und Berichte des

Xenophon (1956), Die Sokratischen Schriften, übers. und hg. v. E. Bux, Stuttgart: Kröner. Eine sehr ausführliche Untersuchung der Eignung und Grenzen der Memorabilien als Quelle für die Lehre des Sokrates findet sich in Döring, A. (1987), »Die Memorabilien als Quelle für die Lehre des Sokrates«, in: A. Patzer (Hg.), Der Historische Sokrates, Darmstadt: WBG, 91–108. 700 Aristophanes (448–385 v. Chr.) war ein Zeitgenosse Platons. Der Komödiendichter überzog Sokrates in seinem Werk mit bitterböser Kritik an dessen Weisheitslehre. 699

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Sokrates

Aristoteles 701 (384 – 322 v. Chr.) überliefert. Die Entstehung der xenophontischen Apologie wird auf die Zeit nach 386 v. Chr. datiert, denn der Bezug auf Anytos und dessen Sterben in schlechtem Rufe wäre ex eventu zuvor nicht möglich gewesen. Xenophon selbst war während Sokrates’ Prozesses nicht zugegen und bezog sich deshalb auf den Bericht eines gewissen Hermogenes. 702 Hinsichtlich des historischen Gehaltes der Dialoge merkt Taylor an, dass weder eine Zuordnung zum Begriff der Biographie noch zur Fiktion sinnvoll sei. Zweifellos wirkte sich die Interessenlage der jeweiligen Autoren auf das von Sokrates gezeichnete Bild aus, keinesfalls aber kann von einer fiktiven Gestalt des idealen Philosophen ausgegangen werden. Die Dialoge sind vielmehr Widerspiegelungen der Sicht, die ihre Autoren von der einzigartigen Persönlichkeit und dem beispiellosen Leben des Sokrates hatten. 703 Vom Verfahren 704 selbst wurden keine Berichte überliefert. In der Folgezeit entstanden vermeintliche Aufzeichnungen sowohl der Anklage- als auch der Verteidigungsreden. Die von Platon und Xenophon verfassten Verteidigungsreden liegen heute vor, von den Anklagereden dagegen wurde keine schriftlich überliefert. 705 Während die viermal so lange Version des Platon den vermeintlich authentischen Text wiedergibt, handelt es sich bei Xenophon um eine erzählende Darstellung. Hinsichtlich des von Platon erwähnten Orakels 706 gibt es keine letzte Sicherheit, da offizielle Aufzeichnungen über das Orakel von Delphi nicht existieren. Taylor so-

Vgl. dazu auch Altrichter, R./Ehrensperger, E. (Hgg.) (2010), Sokrates, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt UTB, 13. 701 Böhme merkt hierzu kritisch an, dass es sich bei Aristoteles keineswegs um ein unmittelbares Zeugnis handele, da dieser erst 32 Jahre nach dem Tod des Sokrates nach Athen kam. Vgl. Böhme, G. (1988), Der Typ Sokrates, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 27. 702 Vgl. Xenophon, Die Sokratischen Schriften, 305. 703 Vgl. Taylor, C. C. W. (1999), Sokrates, Freiburg: Herder, 12. 704 Das Verfahren der Athener Justiz sah vor, dass zunächst Zeugen der beiden Seiten ihre Aussagen zu machen hatten, worauf dann die Jury für Freispruch oder Verurteilung stimmte. Nach einem Schuldspruch wurde, nach nochmaliger Anhörung der beiden Seiten, zur Form der Bestrafung von der Jury zwischen den beiden Vorschlägen abgestimmt. Vgl. Taylor (1999), 22. 705 Vgl. ebd. Hinsichtlich der Authentizität des Wortlautes geht auch Guardini davon aus, dass es sich bei den Dialogen nicht um eine wörtliche Wiedergabe handelt. Vgl. Guardini, R. (1987), Der Tod des Sokrates, Düsseldorf: Matthias-Grünewald, 89. 706 Sokrates’ Mission wurde durch eine Frage seines Freundes Chairephon an das Apollonorakel in Delphi ausgelöst. Vgl. Kapitel 6.4.1.

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Zur Biographie

wie andere Forscher 707 tendieren jedoch zur Glaubwürdigkeit der diesbezüglichen Schilderungen. Zusammenfassend kann man mit Taylor die grundsätzliche Linie der Verteidigungsreden für historisch plausibel halten. In Ermangelung der detailhaften Quellenlage kann aber nur auf den allgemeinen Tenor der Reden zuverlässig geschlossen werden. 708

6.2 Zur Biographie Der Chronist Apollodoros aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr., der wiederum von dem Biographen Diogenes Laertius aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. zitiert wird, datiert Sokrates Geburt auf den frühen Mai 469 v. Chr. 709 Der Sohn des Steinmetzen Sophroniskos und der Hebamme Phainarete wuchs im Bezirk (Demos) Alopeke der Stadt Athen in einer Zeit auf, in der Athen, von der Tyrannis längst befreit und durch die Verfassung des Solon (640–560 v. Chr.) und die Reformen des Kleisthenes (570–507 v. Chr.) geprägt, später als das »Goldene Zeitalter« 710 bezeichnet wurde. Nach der Schlacht von Salamis (480 v. Chr.) begann Athen seine Macht auch auf andere Städte auszuweiten und den Attischen Seebund zu gründen. Athen wurde zur stärksten Seemacht, und wer als Künstler oder Philosoph etwas auf sich hielt, wohnte hier, im Mittelpunkt des attischen Reiches und zugleich in der ersten Demokratie der Geschichte. Athen zählte zu dieser Zeit etwa 40.000 Einwohner, wenngleich der Großteil nicht aus Vollbürgern, sondern aus Sklaven und Fremden (Metöken) bestand. Der einflussreichste Politiker und Erbauer der Akropolis war Perikles (490–429 v. Chr.). Unter seiner Führung erlebte Athen seine demokratische Blütezeit. 711 Sokrates, die personifizierte Abkehr von den bis dahin dominierenden ionischen Naturphilosophen 712, trat erstmals im Alter von 37 Jahren, zu Beginn des Peloponnesischen 707 Hierzu kann auch Böhme trotz seiner insgesamt sehr kritischen Analysen zur Schlüssigkeit der einzelnen Zeugnisse gezählt werden. Vgl. Böhme (1988), 29 f. 708 Vgl. Taylor (1999), 34. 709 Vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II, 44. 710 Toman, J. (1975), Sokrates, Prag: Langen Müller, 132. 711 Vgl. Lehmann, G. A. (2008), Perikles, Staatsmann und Stratege im klassischen Athen, München: Beck, 342 f. 712 Der prominenteste Vertreter dieser Gruppe war der in Athen lebende Anaxagoras, der auch zu den anfänglichen Lehrern des Sokrates gezählt werden darf.

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Sokrates

Krieges auf die historische Bühne. Sokrates’ Mut und Tapferkeit in den Schlachten von Poteidaia und Delion waren legendär. In der erstgenannten Schlacht soll er Alkibiades, den Neffen des Perikles, gerettet haben. Die daraufhin eigentlich ihm zustehende Auszeichnung übertrug er jedoch, nach den Schilderungen in Platons Symposion, dem späteren Strategen und Feldherrn des Sizilienfeldzuges. Darüber hinaus sind sich die Historiker sicher, dass Sokrates ein leidenschaftliches Temperament besaß und Ärger und sexuelle Verlangen durch Vernunft zu beherrschen verstand. 713 Bis zum Jahre 406 v. Chr. ist über Sokrates nichts weiter überliefert. In diesem Jahr kam es erneut zu einer Seeschlacht 714, in der es die beteiligten Strategen unterließen, die Gefallenen und Schiffbrüchigen zu retten. Sokrates war dann als Vertreter in der Volksversammlung der einzige, der sich der gesetzwidrigen Verurteilung der betreffenden Strategen widersetzte. 715 Nach 404 v. Chr., als auf die Eroberung Athens durch die Spartaner die Herrschaft der »Dreißig Tyrannen« 716 folgt, wurde Sokrates von Kritias und Charmides per Gesetz jede weitere Unterrichtung der Athener Jugend untersagt. 717 Etwa fünf Jahre später kam es aufgrund eines Komplotts von Anytos, Lykon und Meletos 718 zum Prozess gegen Sokrates, an dessen Ende seine Verurteilung zum Tode stand.

Vgl. Taylor (1999), 19. Die sogenannte Arginusenschlacht war eine der letzten größeren Kampfhandlungen im Peloponnesischen Krieg. Die Athener gewannen diese Schlacht überlegen, unterließen jedoch aufgrund eines aufkommenden Sturms die Bergung der Schiffbrüchigen, was zum »Arginusenprozess« führte. In dessen Verlauf wurden sechs der zehn Strategen hingerichtet. Vgl. dazu auch Németh, G. (2006), Kritias und die dreißig Tyrannen: Untersuchungen zur Politik und Prosopographie der Führungselite in Athen 404/403 v. Chr., Stuttgart: Steiner. 715 Vgl. Platon, Apologie, 32 b. 716 Während der Schreckensherrschaft der »Dreißig Tyrannen« wurden Tausende Athener hingerichtet oder ins Exil verbannt. Bereits nach acht Monaten kam es jedoch zu einer Gegenrevolution und zur Restitution der Demokratie. Unter der Führung des Redners Lykon und des Demagogen Anytos sollte die Demokratie erneuert werden. Vgl. Taylor (1999), 20 und Toman (1975), 362 f. 717 Vgl. Toman (1975), 50. 718 Meletos, ein mittelmäßiger Tragiker seiner Zeit, kann als Hauptankläger, mit dem Vorwurf der Asebie gegen Sokrates, betrachtet werden. Vgl. Taylor (1999), 21. 713 714

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Zur Charakterisierung und Bedeutung

6.3 Zur Charakterisierung und Bedeutung Die großen Philosophen des sechsten Jahrhunderts v. Chr. (Anaximander, Pythagoras, Heraklit und Empedokles) hatten versucht, die Normen menschlichen Handelns aus ihrer jeweiligen Naturerklärung im Hinblick auf das Ganze der Welt abzuleiten. 719 Sokrates dagegen blickte mehr auf die Menschen als in den Himmel. Er steht für die geistesgeschichtliche Wende vom Mythos zum Logos. Er verfolgte nicht nur die guten Taten homerischer Götter und Heroen, sondern widmete sein ganzes Leben der Frage, woraus wirkliche Güte, Gerechtigkeit und Menschlichkeit bestehe. Sokrates sprach zum ersten Mal aus, dass der Wert des menschlichen Lebens im direkten Verhältnis zur erkannten Wahrheit steht. 720 Ein Glauben, in dem er sein Leben führte und für den er bereit war zu sterben. Sokrates vertrat diese Haltung mit einer Entschlossenheit, die ihn für alle Zeiten zu der Verkörperung des philosophischen Eros werden ließ. Meinungen und unbewusste Tätigkeiten sollten durch die gelebte Vernunft zu verständigem Bewusstsein erhoben werden. Nicht mehr nur die physiologischen Bezüge des Menschen bestimmen sein Leben. Er hat in den Augen dieses philosophischen Pioniers sein Schicksal als bewusstes Individuum selbst in die Hand zu nehmen und sein Leben als ein durch seine Erkenntnis bestimmtes Dasein zu gestalten. »Dem Instinkt, der Autorität alten Herkommens, der Macht irrationaler religiöser Erfahrungen und der Weisheit mythischer Bilder, welche ihre sichernde und bindende Kraft verloren haben oder verlieren, wird die von Wesenseinsicht und Sachverpflichtung getragene Kraft des persönlichen Verantwortens gegenübergestellt.« 721 Es entsteht erstmals in der Geschichte des Denkens eine Haltung, die den Weltlauf den Zwecken des Menschlichen unterworfen weiß. 722 Die umfassende Durchführung des Vernunftethos 723, sowohl im Vgl. Nohl, H. (1904), Sokrates und die Ethik, Tübingen: Mohr, 34. Vgl. Platon (19732), »Kriton«, in: G. Eigler (Hg.), Platon, Werke in acht Bänden: griechisch und deutsch, Band 2, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt: WBG, 46 b. 721 Guardini (1987), 57. 722 Vgl. Nohl (1904), 58. 723 Die Maßgeblichkeit der Rationalität für die gute Handlung und der damit für die sokratische Ethik zentrale Stellenwert wird in folgendem Zitat überaus deutlich: »Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche, als dem Satze, der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt.« Platon, Kriton, 46 b. 719 720

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Sokrates

persönlichen wie auch im politischen Leben, bildete seinen moralischen Lebensgrund. Oder, wie es Guardini fasst: »Für ihn geht es um die letzte Sinngebung des Daseins.« 724 Es geht ihm also darum, das Absolute des Wahren und Guten zu verinnerlichen, was vor allem für den Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung noch von zentraler Bedeutung sein wird. Mit dem Ziel der Erhellung und der Klärung vieler scheinbar selbstverständlicher Begriffe tritt er den Politikern, Dichtern und Handwerkern seiner Zeit entgegen. Diese Praxis führt zu der merkwürdigen Methode des protrepein, mit der er die selbstzufriedene Gewissheit vieler seiner Gesprächspartner zerstörte. 725 Als unermüdlich Fragender brachte Sokrates sein Gegenüber dazu, sich selbst und dessen bisherige Ansichten zu überprüfen. Diese Form der Verunsicherung, verbunden mit dem Ziel der Klärung des Bewusstseins, begründete nach dem Tode von Sokrates eine eigene literarische Gattung, die logoi sokratikoi, welche diese mündlichen Diskussionen nachahmten. 726 Kierkegaard nannte diese Form des Gespräches die Methode der indirekten Kommunikation. 727 Ein Erzieher – so Hadot – sagt nie, was er selbst denkt, sondern immer nur, »was er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache denkt« 728. Eine für Sokrates’ Leben entscheidende Bedeutung bekam die Erkenntnis vom Nichtwissen. Ausgelöst durch die Befragung des Apollonorakels in Delphi, interpretierte er die durch seinen Freund Chairephon überbrachte Botschaft von der unübertroffenen Weisheit des Sokrates 729 auf eine hintergründige Weise. Da er wusste, dass er über keinerlei Expertentum verfügte, interpretierte er die Weissagung derart, dass es sein Wissen über sein Nichtwissen sein müsse, das allein ihn zum Weisen im Sinne des Orakelspruches machen konnte. 730 Sokrates erkennt dabei nicht nur die Kriterien möglichen Wissens als Bedingungsmöglichkeit wahrer Erkenntnis, sondern drückt mit sei-

Guardini (1987), 83. Vgl. Nohl (1904), 23 f. 726 Vgl. Hadot, P. (2005), Philosophie als Lebensform: Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, ungek. dt. Neuausg., Frankfurt am Main: Fischer, 138. 727 Vgl. Kierkegaard, S. (1957), Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, 2 Bände, Düsseldorf, Köln: Diederichs, 240. 728 Hadot (2005), 140. 729 Vgl. hierzu Platon, Apologie, 21 a. 730 Vgl. Guardini (1987), 67. 724 725

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Zur Charakterisierung und Bedeutung

nem Bekenntnis, nichts zu wissen, auch sein Verlangen nach einem umfassenden Verständnis der Werte und Güter des Willens 731 aus. Dieses Bekenntnis des Nichtwissens wird Sokrates zur Mission und findet in der Apologie als ein Rechtfertigungsgrund seinen Niederschlag. Die Tatsache, dass man sich allenthalben in den Künsten einig ist über Zweck und Mittel, nur nicht über gut, böse, gerecht und ungerecht, verhindert im Leben dieses großen Philosophen aber keineswegs die Entstehung der unerschütterlichen Überzeugung, dass dieses Wissen erlangt werden kann. Das Gegebensein ethischer Begriffe im Denken des Menschen erfordert notwendig die Möglichkeit ihrer inhaltlichen Bestimmbarkeit. 732 Die Lebensarbeit des Sokrates begann so mit dem absoluten Zweifel des Ich weiß, dass ich nichts weiß, der aber zugleich ermöglichte, dass ihm die Vorstellung einer wahren Erkenntnis aufging, verstanden als Zusammenhang begründeter Urteile, der keinem Widerspruch unterliegt. 733 Das Verständnis vom Guten war für Sokrates durch sein ganzes Leben hindurch eng mit dem daran orientierten Handeln verbunden. Durch die Leugnung der akrasia (Willensschwäche bzw. Unbeherrschtheit) war für Sokrates das sittliche Niveau einer Handlung immer identisch mit dem zugrundeliegenden Wissen über das Gute. Der Wille ist – so verstanden – immer auf ein Gut gerichtet, das sein Wesen und sein Gesetz ist. Wer das Gute kennt, der tut es. Diese intellektualistische Position basiert auf der Überzeugung, dass der Mensch niemals Sklave eigener Triebe und Affekte sein dürfe, und auf der damit verbundenen Vorstellung von Freiheit. Das Postulat, es müsse ein Wissen geben, das uns freimacht, fordert den Menschen ein Leben lang auf, es zu gewinnen. Das Wissen ist die absolute Macht im Menschen. Solange sich ein Mensch auf dem Weg zu diesem absoluten Wissen befindet, wird er in seiner Handlung zwar immer wieder fehlen. Niemals jedoch wird er trotz erkanntem Wert bewusst falsch handeln.

Vgl. Nohl (1904), 1. Vgl. hierzu auch Platon (19771), »Charmides«, in: G. Eigler (Hg.), Platon, Werke in acht Bänden: griechisch und deutsch, Band 1, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt: WBG, 159 a. Zwar wird hier lediglich im Hinblick auf die Möglichkeit einer Antwort durch Charmides Bezug genommen. Der Kern des Argumentes ist jedoch trotzdem daran anzulehnen, da die rationale Struktur des richtigen Inhaltes identisch mit der bloßen Beantwortungsmöglichkeit ist. 733 Vgl. Nohl (1904), 8. 731 732

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Sokrates

Schrecklich wäre es, wenn den Menschen, trotzdem ihm das Wissen innewohnt, etwas anderes beherrschte und ihn herumzerrte wie einen Sklaven. »So ist also dies der Name der Menschen, die das Schöne, Gute und Gerechte nicht wissen.« 734 Für Sokrates war der gute Wille also selbstverständlich. Sobald ein Ausgangszustand vom Erkennen logisch durchdrungen ist, ist auch die Gestaltung der Handlung in adäquater Weise gegeben. 735 Ich wenigstens glaube dieses, daß kein weiser Mann der Meinung ist, irgendein Mensch fehle aus freier Wahl oder vollbringe irgendetwas Böses (aischra) und Schlechtes (kaka) aus freier Wahl (hekōn), sondern sie wissen wohl, daß alle, welche Böses und Schlechtes tun, es unfreiwillig (akōn) tun. 736

Sokrates gelang es jedoch nie, eine umfassende positive Definition des sittlich Guten zu formulieren. Der aporetische Charakter seiner Dialoge basiert auf dieser Unmöglichkeit einer abschließenden, positiven Begriffsbestimmung. Entscheidend ist jedoch, dass durch die dialektische Reflexion der Dialoge eine Erschütterung hervorgerufen wird, die dem Menschen einen ernsthaften Zugang zu einem existentiellen Bewusstsein verschaffen kann. 737 Durch den Mangel an einem klaren Kriterium bedarf es in konkreten Handlungssituationen deshalb einer inneren Erleuchtung 738 oder eines Gewissens, durch das sich die richtige Handlung ermitteln ließe. Für Sokrates war dies sein göttliches Zeichen. 739 Sokrates, der fest an die Aufgabe der rationalen Durchdringung aller Dinge glaubte, schloss aber auch die objektiven Dinge in seinem Begriff der eudaimonía ein. Alles Schöne und Edle, auch die »Süßigkeiten« des Lebens, mussten in eine Güterordnung gebracht werden,

Xenophon, Die Sokratischen Schriften, IV, 2, 22. Vgl. hierzu auch Kapitel 4.1. 736 Platon (19772), »Protagoras«, in: G. Eigler (Hg.), Platon, Werke in acht Bänden: griechisch und deutsch, Band 1, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt: WBG, 345 d. 737 Vgl. Hadot (2005), 147. 738 An die Stelle der Erleuchtung kann auch eine Evidenz treten. Genau an dieser Stelle leistet die von Lauth geleistete Beschreibung der Evidenz des sittlichen Wertes einen großen Beitrag zum Verständnis des Verhältnisses von Wissen und Tugend. Die dort verwendete Bezeichnung der »Sazienz« bringt die Tiefe und Verbindlichkeit des geschauten Wertes zum Ausdruck und vermittelt so einen guten Begriff von der Notwendigkeit der sokratischen Leugnung der akrasia. 739 Vgl. Taylor (1999), 111. 734 735

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Des Sokrates Verteidigung

aus der dann auch die Tugend ableitbar sein musste. 740 Der Ausdruck kalokagathía 741 spiegelt dieses Grundverständnis ausdrucksvoll wider.

6.4 Des Sokrates Verteidigung Im Mittelpunkt der Verteidigungsrede steht das wegen Asebie und Verderbens der Jugend angestrengte Gerichtsverfahren gegen Sokrates. Die Aufzeichnungen dazu stammen alle aus den Jahren nach dem eigentlichen Prozess und berichten von den Reden der Anklage und der Verteidigung. Von den Anklagereden sind jedoch keine überliefert. Lediglich vom Inhalt der sokratischen Verteidigung sind zwei Schriften, nämlich die von Xenophon und jene von Platon, bis in unsere Zeit erhalten geblieben. Während Xenophons Aufzeichnungen erzählenden Charakter haben, gibt Platon seine Schrift in Dialogform mit dem vermeintlich wörtlichen Text der drei Verteidigungsreden des Sokrates in einer fast viermal so langen Version wieder. 742 Zusammen mit den Dialogen Euthyphron, Kriton und Phaidon bildet sie die erste Tetralogie der platonischen Werke. Wie bei allen platonischen Dialogen sollte man sich auch bei der Apologie vergewissern, welcher Schaffensperiode des Autors dieser Dialog angehört. Diese Vergewisserung ist bedeutsam im Hinblick auf die Frage, ob es sich dabei um die historische Auffassung des Sokrates handelt oder ob Platon seinem Lehrer die Worte »in den Mund legt«, um seine ureigene Position durch einen Stellvertreter zum Ausdruck zu bringen. Die aus dieser Frage resultierende Differenzierung in sokratische und ausschließlich platonische Dialoge ist sehr umstritten. Die einschlägigen Positionen reichen von der völligen Negierung eigener Gedanken, wonach Platon sozusagen als »Protokollant der sokratischen Gespräche« 743 agiere, bis hin zur These, Platon hätte Sokrates als literarische Figur eingesetzt, um seine eigene Philosophie zu ver-

Vgl. Nohl (1904), 60. Es handelt sich um ein sprachliches Kompositum aus kalós und agathós (schön und gut). Der Begriff drückt damit den doppelten Aspekt von Ästhetik und Ethik aus. Der Begriff umschreibt den ganzen Komplex menschlicher Güter, zu dem das Sittliche ebenso gehörte wie Reichtum, Ruhm und Gesundheit. Vgl. Nohl (1904), 57. 742 Vgl. Taylor (1999), 22 ff. 743 Pleger, W. (1998), Sokrates. Beginn des philosophischen Dialogs, Hamburg: Rowohlt, 96. 740 741

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Sokrates

breiten. 744 Beide Extrempositionen konnten sich jedoch im Ergebnis nicht durchsetzen. 745 Die vermittelnde Auffassung, wonach im Fortgang der Entstehung der Dialoge von einer dynamischen Entwicklung in der Perspektive der Schriften ausgegangen wird, konnte sich letztlich behaupten. 746 Wir dürfen also davon ausgehen, dass sich Platon in seinen frühen Schriften um eine authentische Wiedergabe des historischen Sokrates bemüht hatte 747 oder wie Taylor es treffend fasst: »Sie sind Ausdruck der Sicht, die ihre Autoren [Xenophon wird hier mit eingeschlossen, GS] von der Persönlichkeit eines einzigartigen Individuums und den Ereignissen in dessen Leben hatten.« 748 Da die Einordnung der platonischen Dialoge in eine chronologische Reihenfolge philologisch als gelöst gilt, darf die Apologie der frühesten Periode zugerechnet werden. 749 Der darin beschriebene Prozess fand 399 v. Chr. statt: In einer Zeit, in der Athen nur wenige Jahr zuvor durch die Niederlage im Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) die Vorherrschaft über Griechenland an Sparta abgeben musste. Damit endete nicht nur eine Phase der beeindruckenden kulturellen Entwicklung, die nach dem Sieg in den Perserkriegen ihren Anfang genommen hatte, sondern auch die Blütezeit des athenischen Stadtstaates selbst. Die nach kurzer tyrannischer Regierung wieder errichtete Demokratie wurde von Sparta zwar toleriert, fühlte sich in dieser Zeit jedoch bedroht. 750 Das politische Klima war deshalb auch anfällig für geistige Haltungen wie die des Sokrates. Die hergebrachte Religiosität mit ihrer mythisch-kultischen Gläubigkeit war durch die vielen Kriege und deren Verwüstungen und Niederlagen mehr und mehr einer am Überleben und Genuss orientierten Moral gewichen. Da es jedoch gerade die Religion und ihre Mythen waren, in denen die politische Ordnung wurzelte, wurde auf jeden Zweifel entschlossen reagiert. Sokrates war in die allgemeine gesellschaftliche und politische Gesinnung nur zum Teil eingefügt. Dies Gigon, O. (1979), Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte, 2. Aufl., Bern: Francke, 65 f. 745 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Unruh, P. (2000), Sokrates und die Pflicht zum Rechtsgehorsam, Baden-Baden: Nomos, 18 f. 746 Vgl. Unruh (2000), 19. 747 Diese Auffassung findet sich auch bei Pleger (1998), 47 und Böhme (1988), 29. 748 Taylor (1999), 12. 749 Vgl. Lesky, A. (1999), Geschichte der Griechischen Literatur, 3. Aufl., München: Saur, 581. 750 Vgl. Guardini (1987), 56. 744

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Des Sokrates Verteidigung

darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der unbequeme Denker die Ordnung an sich, vor allem die des Staates, aus tiefster Überzeugung bejahte. 751 Trotzdem ihm religiöse Bräuche heilig und die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen wichtig waren, war er in »seinem Eigentlichen aber, seiner Sendung und seinem inneren Müssen« 752 doch ein Einzelner. Das Gerichtswesen, wie es zur Zeit des Prozesses gegen Sokrates vorherrschte, war wesentlich von den Reformen des Kleisthenes und Solon geprägt. Während die Blutgerichtsbarkeit dem Areopag 753 vorbehalten blieb, war für sämtliche Straf- und Zivilverfahren die Heliaia 754 die zuständige Gerichtsinstanz. Die Athener legten die Rechtsprechung damit in die Hände des Volkes. Aus den zehn Phylen wurden durch die neuen Archonten je 600 Bürger per Los bestimmt. Aus dieser Gesamtzahl der Mitglieder der Heliaia wurden dann Sprechkörper bzw. Geschworenenausschüsse gebildet. Dies diente der Steigerung der Effektivität und vereinfachte die Gerichtsverfahren. Im Falle des Sokrates umfasste dieser Ausschuss 501 Heliasten 755. Fehlurteile ließen sich bei den aus Laien zusammengesetzten Geschworenengerichten freilich nicht vermeiden. Unübersehbar ist aber ein Bemühen um eine Verfahrensgerechtigkeit, die sich zum Beispiel am Einsatz der Klepsydra zeigte, einer Art Wasseruhr, die es ermöglichte, den Parteien die gleiche Redezeit zuzuweisen. 756 Die Parteien plädierten selbst, ohne einen Rechtsbeistand nach unserem modernen Verständnis. Nach Verlesen der Anklageschrift und der Dies wird auch in der Apologie durch die getreue Erfüllung seiner Pflichten als Hoplit (Infanterist) in diversen Schlachten deutlich. Vgl. dazu Platon, Apologie, 28 e. 752 Guardini (1987), 57. 753 Darunter ist der oberste Rat der Stadt zu verstehen, der nach einem in der Nähe der Akropolis gelegenen Felsen benannt wurde. 754 Dies ist die Bezeichnung der obersten Gerichtsinstanz des damaligen Athens. 755 Die Heliasten eines jeden Ausschusses wurden nach strengen Bestimmungen mit Hilfe einer Losmaschine ausgewählt. Das Ergebnis unterlag strengsten Geheimhaltungsbestimmungen, damit die Kläger- und Angeklagten-Partei keinesfalls die Namen der Gewählten kannten, bevor der Prozess begann. Jeder der Heliasten musste einen Amtseid ablegen, der ihn zur Neutralität und Gewissenhaftigkeit bei der Urteilsfindung verpflichtete. Vgl. auch Pleger (1998), 68. 756 Neben den Geschworenen nahmen ein vorsitzender Beamter, ein Gerichtsschreiber, ein Herold der Gemeinde sowie ein skytischer Bogenschütze für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung an dem Prozess teil. Man unterschied zwei Arten von Klagen: öffentliche Klagen und Zivilklagen. Eine öffentliche Klage konnte jeder Bürger einreichen, während eine Zivilklage von der geschädigten Partei einzureichen war. Vgl. Gigon (1979), 69 f. 751

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schriftlichen Erwiderung des Angeklagten erhielten der Ankläger und der Angeklagte das Wort. Die Richter fällten ihr Urteil in geheimer Abstimmung. Wurde der Angeklagte mit der einfachen Mehrheit der Stimmen für schuldig befunden, wurde entweder die vom Gesetz dafür festgelegte Strafe verhängt oder erneut über das Strafmaß abgestimmt, wie es bei Sokrates der Fall war. In diesem Fall durfte der Angeklagte selbst einen Vorschlag zum Strafmaß machen. 757 Die Anklage gegen Sokrates geht formal auf drei Personen zurück. Meletos, Anytos und Lykon. Meletos war ein Dichter ohne größere Bedeutung, Anytos der Mann im Hintergrund, ein einflussreicher Politiker und wohlhabender Gerber und Gegner aller neuen Strömungen. 758 Er galt als Vertreter der Handwerker. Lykon schließlich war ein Rhetor und Vertreter aller Politiker und Intellektuellen. 759 Meletos ist es, der zu Beginn des Prozesses im Namen aller drei die Anklage vorträgt. Sie lautet: »Sokrates […] frevle, indem er die Jugend verderbe und die Götter, welche der Staat annimmt, nicht annehme, sondern anderes neues Daimonisches.« 760 Daraufhin erhält der Angeklagte, Sokrates, das Wort. Sokrates geht dabei stellenweise von der Ansprache des gesamten Volkes von Athen über in einen Dialog mit Meletos. Nach dieser erster Verteidigung entscheiden die 757 Vgl. Pleger (1998), 65 ff. Bei der Höhe der Strafe spielte neben der Schwere des Vergehens auch der gesellschaftliche Rang des Angeklagten eine wichtige Rolle. Als Strafen kamen einfache Geldstrafen (Schadenersatz), aber auch die Einziehung des gesamten Vermögens in Betracht. Leibesstrafen umfassten lebenslange oder befristete Verbannung sowie die Aberkennung der Bürgerrechte und Einkerkerung. Letztere kam aber nur für Nichtbürger in Frage. Für die Todesstrafe gab es mehrere Varianten: festgekettet an einem Brett, aufrechtstehend, bis nach qualvollen Stunden der Tod eintritt; zu Tode prügeln, einen Abhang westlich der Akropolis hinabgestürzt werden oder der angeordnete Suizid mit dem Schierlingsbecher. Letzterer darf als privilegierte Form angesehen werden. Vgl. Pleger (1998), 69 f. 758 Vgl. Pleger (1998), 71. 759 Vgl. Ebd. Bei Toman finden wir in dessen Biographie von Sokrates die weitere Ausführung, es handele sich bei Lykon und Anytos um die bestimmenden Politiker, die nach der Herrschaft der Dreißig die demokratischen Institutionen – die Bule, die Ekklesia und die Heliaia – wieder eingesetzt hätten. Im Fortgang stellte sich jedoch heraus, dass diese nicht Protagonisten einer Demokratie im perikleischen Sinne waren, sondern vielmehr durch Intrigen und geschicktes Taktieren die Demokratie zu ihrem persönlichen Vorteil aushöhlten und in Folge besonders die einfachen Bürger darunter zu leiden hatten. Vgl. Toman (1975), 362 ff. 760 Platon, Apologie 24 b, c. Der Inhalt der Anklage unterscheidet sich bei Xenophon kaum. Im Kern wird auch hier die Infragestellung der hergebrachten Gottheiten und das Verderben der Jugend zum Vorwurf gemacht. Vgl. Xenophon, Die Sokratischen Schriften, 5–10, 308.

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Geschworenen über Schuld und Unschuld im Sinne der Anklage. 761 Anschließend erhält Sokrates erneut das Recht, zum Strafmaß Stellung zu nehmen und somit weitere Verteidigungsargumente vorzubringen. 762 Was jedoch war nun der Grund für die Anklage? Pleger erkennt in dem im Dialog Menon geäußerten Vorwurf, der sowohl die formalisierten Wahlmechanismen der jungen Demokratie (Losverfahren) als auch die pädagogischen Methoden zur Ausbildung der Jugend betraf, den historischen Kern der Anklage. 763 Die Kenntnis dieser Rahmenbedingungen und Verfahrensregeln erleichtert zweifellos die Beurteilung des Kontextes des anschließend zu untersuchenden platonischen Dialoges. Platons Apologie gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden die Hypothesen des Sokrates dargelegt, weshalb es zum Prozess überhaupt gekommen ist. Daran schließt sich die Begründung seiner Lebensführung, d. h. deren Darlegung aus philosophischer Sicht an, und schließlich wird im dritten Teil die Reaktion auf das von der Heliaia gefällte Urteil dargelegt. 764 Der Gang unserer Untersuchung hält sich strikt an die Passagen, die in Hinblick auf das Thema der unbedingten Forderung von Relevanz sind. 765 Um die diesbezüglichen Argumente des Sokrates zu gewichten, ist es jedoch erforderlich, zwei zentrale Aspekte seiner Verteidigungsrede vorab zu beschreiben. Diese sind zum einen die Funktion des apollinischen Orakels und zum anderen die Bedeutung des Daimonions.

6.4.1 Der Spruch von Delphi Zu Beginn der Apologie beschreibt Sokrates die Gründe, weshalb er bei so vielen Athenern unbeliebt ist. Die Weisheit nämlich sei es, die ihn in das so sehr verachtete Geschäft gebracht habe. Jene Weisheit 761 Das Ergebnis der Abstimmung war: 281 Gegenstimmen und 220 Stimmen für Sokrates. Vgl. Pleger (1998), 76. 762 Vgl. Guardini (1987), 59 f. Obwohl aus der Version der Klageschrift von Diogenes Laertius hervorgeht, dass bereits in dieser die Todesstrafe beantragt war, muss dies keinen Widerspruch zum Ablauf bei Platon darstellen. Die Prozessordnung sah diese Stellungnahme des Angeklagten grundsätzlich vor. Vgl. Pleger (1998), 76. 763 Vgl. Pleger (1998), 71. 764 Vgl. Altrichter/Ehrensperger (2010), 73. 765 Diese finden sich nahezu ausschließlich im zweiten Teil. Dort entwickelt Sokrates seinen ethischen Gegenentwurf zum Denken seiner Zeit und begründet seine Haltung im Hinblick auf Gott, die Gesetze und die Ideen des Guten und der Gerechtigkeit.

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aber, die er als menschliche Weisheit bezeichnet. 766 Um diese durchaus provozierende 767 Begründung glaubhaft zu machen, beruft sich der Angeklagte auf den Gott in Delphi. 768 Sokrates erläutert: Den Chairephon kennt ihr doch. Dieser war mein Freund von Jugend auf, und auch euer, des Volkes, Freund war er und ist bei dieser letzten Flucht mit geflohen und mit euch auch zurückgekehrt. Und ihr wißt doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch, als er einst nach Delphi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren; – nur, wie ich sage, kein Getümmel, ihr Männer. – Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, daß jemand weiser wäre. Und hierüber kann euch dieser sein Bruder hier Zeugnis ablegen, da jener bereits verstorben ist. 769

Da Sokrates sich durchaus im Klaren über seine Unwissenheit ist und andererseits der Gott nicht lügen kann, bleibt ihm nur die Möglichkeit herauszufinden, was der Spruch der Pythia meinte. Die Methode bestand darin, einen für weise Gehaltenen aufzusuchen und wenn möglich das Orakel zu überführen. Dabei erging es Sokrates nicht wie erwartet, sondern: »Im Gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen andern Menschen auch, am meisten aber sich selbst sehr weise vorzukommen, es zu sein aber gar nicht.« 770 Diese Erfahrung wiederholte sich sowohl bei den erfahrensten Politikern und Dichtern als auch bei den besten Handwerkern. Das Ergebnis dieser Befragungen bestand für Sokrates darin, dass er über das Wissen verfügte, nichts zu wissen, während sich die Befragten ihrer Unwissenheit nicht bewusst waren. Sie bildeten sich vielmehr ein, etwas zu wissen, was sich jedoch als Scheinwissen herausstellte. Darin, dass dieser Orakelspruch einen historischen Wahrheitsgehalt hat, sind sich die Forscher Pleger und Taylor einig. Sowohl die religiöse Bedeutung des apollinischen Orakels in der Zeit des So-

Vgl. Platon, Apologie, 20 d. Sokrates ahnt dies und appelliert deshalb vor der Nennung des Argumentes an die anwesenden Richter: »… erregt mir kein Getümmel, selbst wenn ich etwas vorlaut zu reden dünken sollte.« Platon, Apologie, 20 e. 768 Vgl. Platon, Apologie, 20 e. Bei Xenophon lautet diese Begebenheit sehr ähnlich. Die Antwort des Orakels fällt etwas differenzierter aus, nämlich: »[K]ein Mensch sei edler, gerechter oder besonnener oder vernünftiger als Sokrates«. Xenophon, Die Sokratischen Schriften, 11–15, 309. 769 Platon, Apologie, 21 a. 770 Platon, Apologie, 21 c. 766 767

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krates als auch die beschriebenen Umstände und die Form der Antwort unterstützen diese These. 771 Wie aber ist zu erklären, dass Sokrates den Orakelspruch des Apollon als unwiderrufliche, göttliche Mission annahm und sein Leben fortan in dessen unbedingten Gehorsam stellte? Diese nun gehe ich auch jetzt noch umher nach des Gottes Anweisung zu untersuchen und zu erforschen, wo ich nur einen für weise halte von Bürgern und Fremden; und wenn er es mir nicht zu sein scheint, so helfe ich dem Gotte und zeige ihm, daß er nicht weise ist. Und über diesem Geschäft habe ich nicht Muße gehabt, weder in den Angelegenheiten der Stadt etwas der Rede Wertes zu leisten noch auch in meinen häuslichen, sondern in tausendfältiger Armut lebe ich wegen dieses dem Gotte geleisteten Dienstes. 772

Auskunft darüber – so Pleger – liefert uns die Mythologie und die nicht erst seit Heraklit immer wieder benannte Bedeutung des Orakels. Die Sprüche des Orakels galten seit jeher als doppeldeutig, weshalb Apollon auch den Beinamen Loxias, der Doppeldeutige, erhielt. Ihnen wurde größte Beachtung geschenkt, da sie in ihrer Bedeutung meist über den konkreten Einzelfall hinauswiesen und allgemeine religiöse, politische oder moralische Bedeutung erhielten. 773 Um aufzuklären, was das Orakel für Sokrates bedeutet, verweist Pleger auf die Befragung, die Xenophon vornahm. Hintergrund war die Frage Xenophons, welche Götter er während einer bestimmten Schlacht anzubeten hätte, um die Reise ehrenvoll und glücklich zu beenden. Nach seiner Rückkehr erzählte er Sokrates vom Orakelspruch. Die Reaktion des Sokrates lautete: »[…] da du aber gefragt hast, mußt du alles, was der Gott befohlen hat, tun.« 774 Hieraus wird erkennbar, dass für Sokrates offenbar kein Zweifel am Spruch des Orakels in Frage kam. Dem Spruch ist unbedingt Folge zu leisten! Guardini fasst dies prägnant im Satz: »Existenz und Wirksamkeit des Mannes wurzeln im Bewusstsein einer göttlichen Sendung« 775. Diese Überzeugung wird freilich später eine wichtige Rolle bei der Begründung der unerschütterlichen Haltung des Sokrates spielen.

771 772 773 774 775

Vgl. hierzu Taylor (1999), 29 sowie Pleger (1998), 65. Platon, Apologie, 23 b. Vgl. Pleger (1998), 64. Xenophon, Die Sokratischen Schriften, 87. Guardini (1987), 90.

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6.4.2 Das Daimonion Sowohl bei Platon als auch bei Xenophon finden sich Hinweise auf das sokratische Daimonion. 776 Sokrates selbst beschreibt es als »etwas Göttliches und Daimonisches, […] eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir nie.« 777 Das Daimonion erscheint ihm also als etwas Göttliches, ein übernatürlicher, irrationaler Einspruch gegen manche seiner Absichten, verbunden mit der festen Überzeugung, ihm folgen zu müssen. In der Apologie macht uns Platon deutlich, dass es auf den abratenden Einfluss eben jenes Daimonions zurückzuführen ist, dass Sokrates sich aus dem öffentlichen politischen Geschehen sein ganzes Leben lang herausgehalten hat. 778 Von besonderer Bedeutung ist auch die Erwähnung des Daimonions im Zusammenhang mit dem gesamten Prozessverlauf. Mir ist nämlich ihr Richter […] etwas Wunderbares vorgekommen. Meine gewohnte Vorbedeutung nämlich war in der vorigen Zeit wohl gar sehr häufig, und oft in großen Kleinigkeiten widerstand sie mir, wenn ich im Begriff war, etwas nicht auf die rechte Art zu tun. Jetzt aber ist mir doch, wie ihr ja selbst seht, dieses begegnet, was wohl mancher für das größte Übel halten könnte und was auch dafür angesehen wird [der Tod, GS]; dennoch aber hat mir weder, als ich des Morgens von Hause ging, das Zeichen des Gottes widerstanden, noch auch als ich hier die Gerichtsstätte betrat, noch auch irgendwo in der Rede, wenn ich etwas sagen wollte. […] Was für eine Ursache nun soll ich mir hiervon denken? Das will ich euch sagen. Es mag wohl, was mir begegnet ist, etwas Gutes sein, und unmöglich können wir Recht haben, die wir annehmen, der Tod sei ein Übel. Davon ist mir dies ein großer Beweis. Denn unmöglich würde mir das gewohnte Zeichen nicht widerstanden haben, wenn ich nicht begriffen gewesen wäre, etwas Gutes auszurichten. 779

Das Daimonion wirkt also offenkundig in zweierlei eindeutiger Weise: erstens – im Falle der positiven Erscheinung – als abratende Einrede und zweitens – im Fall des Fehlens – als göttliche Zustim776 Vgl. Xenophon, Die Sokratischen Schriften, 1–4, 11–15 sowie Platon, Apologie, 31 d, 40 b, 40 c, 41 d, darüber hinaus die platonischen Dialoge Phaidros, Kritias, Euthyphron und Symposion. 777 Platon, Apologie, 31 d. 778 Vgl. Platon, Apologie, 31 e-32 a. 779 Platon, Apologie, 40 a-40 c.

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mung. In dieser »eingeschränkten« Funktion der inneren Stimme sieht Guardini auch einen wichtigen Grund, diese nicht mit dem Gewissen gleichsetzen zu können. 780 Wirkt doch ein Gewissen sowohl in intervenierender Weise als auch als ein »Du sollst« 781. Die Eigencharakteristik des Daimonions ist es letztlich, »[w]iewohl […] es mich oft mitten im Reden aufhielt« 782, die es »in die Nähe des Prophetischen rückt« 783. Es ist diese Kraft in Sokrates’ Leben, die sein philosophisches Wirken so einzigartig und in gewisser Weise auch schwebend erscheinen lässt. Die Kraft, die zum einen mit der mythologischen Vergangenheit in Widerstreit tritt, zum anderen aber eine übernatürliche Dimension erhält. Sokrates, der Zweifler und Frager, wird von einer Haltung getragen, die sich zugleich in Verbindung mit einer ihn überragenden Dimension weiß. So sehr er sich dem Denken und Begründen verschrieben weiß, für den »ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient, gelebt zu werden« 784 und die Vernunft in den Mittelpunkt seiner Philosophie rückt, ist er nach allen einschlägigen Fällen der überlieferten Schriften zum unbedingten Gehorsam gegenüber dieser ihrer Natur nach doch irrationalen Instanz bereit. 785 Die Analyse des Auftretens der göttlichen Stimme lässt dabei erkennen, »that the daimonion turns Socrates away not from doing what his reason or sense has pronounced right, but rather from doing what his reason or sense has pronounced wrong.« 786 Existenz und Wirksamkeit dieses zweifelnden, fragenden und suchenden Mannes wurzeln letztlich im Bewusstsein einer göttlichen Sendung. 787

780 Vgl. Guardini (1987), 87 f. sowie hierzu auch Pleger (1998), 57, wenngleich dieser eher dazu tendiert, das als »innere Stimme« zu interpretierende Phänomen als bloßes Warnsignal in bedrohlichen Situationen zu deuten. 781 Guardini (1987), 88. 782 Platon, Apologie, 40 b. 783 Guardini (1987), 88. 784 Platon, Apologie, 38 a. 785 Die Spannung zwischen der Haltung einer nicht weiter reflektierten, per se respektierten Autorität und dem Pathos der intellektuellen Begründung der Lebensführung tritt hier deutlich hervor: »Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts Anderem von mir gehorche, als dem Satze, der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt.« Platon, Kriton, 46 b. Es bleibt wohl der komplexen Persönlichkeit des doch niemals dogmatisch auftretenden Denkers geschuldet, diese scheinbare Gegensätzlichkeit aushalten zu müssen. 786 Weiss, R. (1998), Socrates Dissatisfied. An Analysis of Plato’s Crito, Oxford: Oxford University Press, 19. 787 Vgl. Guardini (1987), 90.

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6.4.3 Die unbedingte Forderung im Kontext der Apologie Platon schildert Sokrates in der Apologie als eine Persönlichkeit, die über den scheinbar selbstverständlichen Vorrang der Erhaltung des Lebens vor allen anderen Handlungsalternativen, die diesem Imperativ zuwiderlaufen, hinaustritt. Von besonderem Interesse ist nun, welche Begründungen dieser außergewöhnlichen Haltung zugrunde liegen. Wie ist es einem Menschen – der sein ganzes Leben der rationalen Reflexion und der intellektuellen Überprüfung gewidmet hat – möglich, größte Bedrohungen seines Lebens, ja zuletzt sogar den sicheren Tod, vor sich selbst und seinen Mitmenschen als zu akzeptierende Folge zu rechtfertigen? Wie gelingt es Sokrates, die Tugend über jede Möglichkeit der Tugendhaftigkeit per se, nämlich der Erhaltung seiner physischen Existenz zu stellen? Diese Fragen werden nachfolgend an die Apologie zu stellen sein. Um übersichtlich zu gliedern, werden die gefundenen Textstellen systematisch unterschieden. Hierfür werden zum einen das Phänomen des Gehorsams gegenüber positiven Aufträgen (hier: Daimonion und Gesetz) und zum anderen die Beschreibung der ethischen Norm in Verbindung mit der intellektuellen Klärung der Bedeutung des Todes dienen.

6.4.4 Sokrates und die Pflicht zum Gehorsam Gehorsam erfordert notwendig eine vom Gehorchenden akzeptierte Autorität. Eine solche Autorität übernimmt im Moment der gegebenen Handlungsalternativen eine bestimmende Funktion und lässt dadurch jede Beeinflussung andersartigen Ursprungs, seien es Affekte oder rationale Erwägungen, unwirksam werden. Für Sokrates darf hier zunächst Gott als eine derartige handlungsleitende Autorität genannt werden. In vielem mag sich der Mensch täuschen lassen, »doch aber dünkte es mich notwendig, des Gottes Sache über alles andere zu setzen« 788. Hier wird deutlich, dass dann, wenn Gottes Wille für den Menschen erkennbar wird, 789 alle anderen Weisen der ethischen Begründung in den Hintergrund treten. Wie aber wird unserem – dem Logos verschriebenen – Philosophen dieser göttliche Wille gegenwärPlaton, Apologie, 21 d. Dieser Wille bzw. Gottes Auftrag wurde für Sokrates, durch das delphische Orakel verbürgt, erkennbar. 788 789

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tig? Zum einen durch den weissagenden Spruch des Orakels von Delphi und zum anderen durch die ihn seit seiner frühen Kindheit begleitende innere Stimme, das Daimonion 790. Es ist die delphische Weissagung, die Sokrates zu einer Selbsteinschätzung führt, gemäß der er »wohl von dem Gotte der Stadt mag geschenkt sein« 791. Es konstituiert sich in Sokrates ein Sendungsbewusstsein, das keinen Raum für alternative Geltungsansprüche lässt und somit eine Form der unbedingten Forderung begründet. Daher auch jetzt, ihr Athener, wo ich weit entfernt bin, um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie einer wohl denken könnte, sondern um euretwillen, damit ihr nicht gegen des Gottes Gabe an euch etwa sündigt durch meine Verurteilung. Denn wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr nicht leicht einen anderen solchen finden, der ordentlich, sollte es auch lächerlich gesagt scheinen, von dem Gotte der Stadt beigegeben ist wie einem großen und edlen Rosse, das aber eben seiner Größe wegen sich zu Trägheit neigt und der Anreizung durch den Sporn bedarf, wie mich scheint der Gott dem Staate als einen solchen zugelegt zu haben, der ich auch euch einzeln anzuregen, zu überreden und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre, überall euch anliegend. 792

Diese Forderung beruht letztlich darauf, dass er als Werkzeug Gottes dessen Auftrag, das Scheinwissen zu beseitigen und wahre Erkenntnis zu vermitteln, unbedingt zu folgen hat. An dieser Stelle könnte der Eindruck entstehen, Sokrates verfalle einer Hybris. Dazu nimmt Guardini überzeugend Stellung und erklärt, dass es ein Stadium sittlich-religiöser Freiheit gebe, das ein derartiges Selbstzeugnis jenseits allen Hochmutes legitimiere. 793 Vor diesem Hintergrund der Unbedingtheit ergibt sich für den Athener ein nicht mehr zur Disposition stehender Lebenszweck. Selbst Bedrohungen, die für konventionell denkende Menschen nahezu selbstverständlich zur Aufgabe von zuvor durchaus benannten und praktizierten Überzeugungen führen würden, vermögen Sokrates im wahrsten Wortsinne nicht zu erschüttern. Die in seiner Seele tief verwurzelten Gewissheiten verschaffen ihm eine in ihm ruhende Kraft, der durch äußere Widerstände, gleich welcher Art, keine Gren-

790 791 792 793

Vgl. hierzu Kapitel 6.4.2. Platon, Apologie, 31 a. Platon, Apologie, 30 d-e. Vgl. Guardini (1987), 85.

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zen gesetzt werden können. In seiner Verteidigung vor den Richtern Athens wird dies von ihm unmissverständlich klargestellt. So daß, wenn ihr mich jetzt lossprecht, ohne dem Anytos zu folgen, welcher sagt, entweder sollte ich gar nicht hierher gekommen sein, oder, nachdem ich einmal hier wäre, sei es ganz unmöglich, mich nicht hinzurichten, indem er euch vorstellt, wenn ich nun durchkäme, dann erst würden eure Söhne sich dessen recht befleißigen, was Sokrates lehrt, und alle ganz und gar verderbt werden; wenn ihr mir hierauf sagtet: »Jetzt, Sokrates, wollen wir zwar dem Anytos nicht folgen, sondern wir lassen dich los unter der Bedingung jedoch, daß du diese Nachforschung nicht mehr betreibst und nicht mehr nach Weisheit suchst; wirst du aber noch einmal betroffen, daß du dies tust, so mußt du sterben« – wenn ihr mich also wie gesagt auf diese Bedingung losgeben wolltet, so würde ich zu euch sprechen: Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden […]. 794

Hier offenbart Sokrates den absoluten – und darin wahrhaft unbedingten – Sinn seines Daseins. 795 Hier entsteht das Paradigma eines Charakters, der sich durch die Bereitschaft ausweist, seine gesamte Existenz auf das Fundament geistiger Einsichten zu stützen. Sokrates verteidigte vor der Heliaia seine narrative Identität. 796 Wir erkennen darin eine Selbst-Konzeption, die der existenzphilosophischen Auffassung vom Selbst als Entwurf und Projektion zumindest sehr nahekommt. Die sich daraus konstituierende Selbst-Treue ist für den streitbaren Athener keineswegs nur ein télos von Handlungen unter anderen, sondern der absolute Grund seiner Identität. Eine weiterhin zu benennende Autorität, der Sokrates als Bürger Athens uneingeschränkt Pflichterfüllung und Gehorsam schuldet, ist das Gesetz. 797

Platon, Apologie, 29 c-d. Vgl. auch Horn, C. (1998), Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München: C. H. Beck, 228. 796 Vgl. Ricœur (1996), 579 sowie Kapitel 5.5.2. 797 »Sokrates: Wir behaupten doch, man dürfe in keinem Falle willentlich Unrecht tun […]. Ob die Menge nun ja dazu sagt oder nicht, und ob wir noch Schlimmeres erleiden müssen als dies hier oder auch weniger Schlimmes: das Unrechttun ist trotzdem für den, der es tut, in jedem Falle etwas Schlechtes und Häßliches – ja oder 794 795

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Und eben hatte unser Stamm, der antiochische, den Vortrag, als ihr den Anschlag faßtet, die zehn Heerführer, welche die in der Seeschlacht Gebliebenen nicht begraben hatten, sämtlich zu verurteilen, ganz gesetzwidrig, wie es späterhin euch allen dünkte. Da war ich unter allen Prytanen [Ratsmitgliedern, GS] der einzige, der sich euch widersetzte, damit ihr nichts gegen die Gesetzte tun möchtet, und euch entgegenstimmte. Und obgleich die Redner bereit waren, mich anzugeben und gefangenzusetzen, und ihr es fordertet und schriet: so glaubte ich doch, ich müßte lieber mit dem Recht und dem Gesetz die Gefahr bestehen als mich zu euch gesellen in einem so ungerechten Vorhaben aus Furcht des Gefängnisses oder des Todes. 798

Entgegen jeder konventionellen Orientierung entzieht Sokrates seine Präferenzen der Abhängigkeit von körperlichem Wohlergehen bzw. von der Vermeidung bedrohlicher Konsequenzen. Die Einsicht in seinen wahren Daseinszweck »immunisiert« ihn gegen Manipulationsinteressen seiner Umgebung und seien es die gewählten Richter der Heliaia, die bereit wären, die Schonung des Sokrates mit dessen künftigen »Wohlverhalten« zu erkaufen. Wie sehr diese Haltung nicht nur einer inneren Überzeugung entspringt, sondern jeder lebenspraktischen Prüfung standhält, beweist der Angeklagte durch eine weite Schilderung einer Begebenheit: Nachdem aber die Regierung an einige wenige gekommen, so ließen einst die Dreißig mich mit noch vier anderen auf die Tholos holen und trugen uns auf, den Salaminier Leon aus Salamis herzubringen, um ihn hinzurichten, wie denn dergleichen vieles vielen anderen auch auftrugen, um so viele als irgend möglich in Verschuldungen zu verstricken. Auch da nun zeigte ich wiederum nicht durch Worte, sondern durch die Tat, daß der Tod, wenn euch das nicht zu bäurisch klingt, mich auch nicht das mindeste kümmerte, nichts Ruchloses aber und nicht Ungerechtes zu begehen mich mehr als alles kümmert. 799

Im Fortgang der Verteidigung nimmt Sokrates Stellung zum von ihm bevorzugten Inhalt seiner Rede. Darin wird deutlich, dass gerade wegen des unbedingten Respekts vor dem Gesetz, das für ihn letztlich im Göttlichen wurzelt, 800 ein jeder Versuch, die Richter in ihrem Urnein? / Kriton: Ja. / Sokrates: Man darf also unter keinen Umständen Unrecht tun. / Kriton: Ganz gewiß nicht.« Platon, Kriton, 49 a-b. 798 Platon, Apologie, 32 b-c. 799 Platon, Apologie, 32 c-d. 800 Obwohl im Dialog Euthyphron hauptgegenständlich, bleibt die begriffliche Klärung der Frömmigkeit offen. Guardini verweist jedoch auf wertvolle Elemente der

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teil durch anderes als die Wahrheit zu beeinflussen, für ihn einer Gotteslästerung gleichkäme: Abgesehen von dem Rühmlichen dünkt es mich auch nicht einmal recht, den Richter zu bitten und sich durch Bitten loszuhelfen, sondern belehren muß man ihn und überzeugen. Denn nicht dazu ist der Richter gesetzt, das Recht zu verschenken, sondern es zu beurteilen; und er hat geschworen, nicht sich gefällig zu erweisen, gegen wen es ihm beliebt, sondern Recht zu sprechen nach den Gesetzen. Also dürfen weder wir euch gewöhnen an den Meineid noch ihr euch gewöhnen lassen, sonst würden wir von keiner Seite fromm handeln. Mutet mir also nicht zu, ihr Athener, dergleichen etwas gegen euch zu tun, was ich weder für anständig halte noch für recht noch für fromm, zumal ich ja, beim Zeus, eben auch der Gottlosigkeit angeklagt bin von diesem Meletos. Denn offenbar, wenn ich euch durch Bitten zu etwas überredete oder nötigte gegen euren Schwur, dann lehrte ich euch, nicht zu glauben, daß es Götter gebe, und recht durch die Verteidigung klagte ich mich selbst an, daß ich keine Götter glaubte. 801

Aus dem Gesetz erwächst für Sokrates offenbar eine Pflicht, die durch alles menschlich Bedingte hindurch Gültigkeit behält. 802 Der Charakter dieser Forderung erhält am Ende eine nicht bloß ethische, sondern vielmehr religiöse Prägung. 803 Die Gültigkeit des sittlich Guten als etwas Göttliches zu erkennen und wider alle zeitlichen Schäden ihr zu genügen, darf als ein Wesenszug dieses sokratischen Gehorsams- und Pflichtverständnisses betrachtet werden. Taylor erkennt in diesem Gehorsam den Nachweis, dass Platon das philosophische Leben als eine höhere Form der religiösen Praxis betrachtet. Ein Gehorsam, der will, dass wir unsere Seelen und damit uns selbst vervollkommnen. 804 Ein weiteres Gehorsamsverhältnis im Leben des Sokrates erweist sich durch die Berufung auf das Daimonion. Auf den phänomenologischen Aspekt wurde im entsprechenden Abschnitt bereits eingegangen. Von weiterem Interesse ist der in diesem Zusammenhang Bestimmung des Frömmigkeitsbegriffs in der Apologie. Danach bedeutet Frömmigkeit vor allem, sich um die Erkenntnis des Göttlichen zu bemühen. Daraus wiederum lässt sich plausibel das Lebensmotiv des Sokrates – dem göttlichen Auftrag des Apollon zu folgen – als Gehorsam gegen den göttlichen Befehl, also als Frömmigkeit bezeichnen. Vgl. Guradini (1987), 95. 801 Platon, Apologie, 35 c-d. 802 Vgl. auch die Situation im Gefängnis in Platons Dialog Kriton 50 c-51 b. 803 Vgl. Guardini (1987), 96. 804 Vgl. Taylor (1999), 31.

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erneut auftretende Verweis auf eine irrationale Autorität, die trotz des göttlichen Auftrages zur rationalen Klärung ethischer Begriffe eine Unbedingtheit jenseits des Verstehbaren begründet. In der platonischen Apologie ist an zwei Stellen von dieser göttlichen Stimme die Rede. Zum einen, um Sokrates Abstinenz von öffentlichen Ämtern zu rechtfertigen, 805 zum anderen, um die Richtigkeit der Hinnahme des Todesurteils zu begründen: Es mag wohl, was mir begegnet ist, etwas Gutes sein, und unmöglich können die Recht haben, die annehmen, der Tod sei ein Übel. 806

Hier wird erneut deutlich, welcher existentielle Stellenwert, welches unüberbietbare Kriterium einer im Letzten unerklärlichen Autorität jenseits des Begründbaren eingeräumt wird. Sokrates verweist selbst in dem Moment, in dem es um die Rechtfertigung der Auslöschung seiner physischen Existenz geht, auf eine transzendente, geistige Autorität. Taylor sieht darin eine Auflösung des vergeblichen Versuchs, eine positive Theorie des Guten zu finden. Sind vor Sokrates die Athener in spontaner und unreflektierter Weise den Regeln einer objektiven Moral gefolgt, so führte der Anspruch der subjektiven Reflexion zur Unterminierung der Autorität der Sittlichkeit. 807 Dieser Prozess mündet bei Sokrates jedoch nicht in der Unbestimmtheit subjektiver Relativität, sondern findet seinen Bestimmungsgrund in einer inneren Erleuchtung, die er selbst Daimonion oder Zeichen nennt.

6.4.5 Sokrates im Angesicht des Todes Soll der Aspekt der moralischen Unbedingtheit im Leben eines Menschen näher untersucht werden, so kommt seiner Haltung gegenüber dem drohenden Tod eine herausragende Rolle zu. Wie steht der Denker, der das Leben überaus bejahte, zur drohenden Auslöschung seines Daseins? Welche Einordnung erfährt dieses an Bedeutung kaum zu überbietende Ereignis im Leben dieses Menschen im Verhältnis zu seinem höchsten Daseinszweck?

805 806 807

Vgl. Platon, Apologie, 31 d. Platon, Apologie, 40 b-c. Vgl. Taylor (1999), 111.

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Sokrates

Zunächst wird jedes Wissen über den Tod als Anmaßung entlarvt. Sokrates stellt mit dieser These erneut seine Form von Weisheit unter Beweis, die ihn in Übereinstimmung mit der delphischen Weissagung bringt, die Weisheit nämlich zu wissen, was man nicht weiß. Der Mensch, der dieses Wissen nicht hat, verfällt einem Scheinwissen, wenn er fälschlicher Weise von positivem Wissen ausgeht. Genau diesen Zusammenhang sieht Sokrates bei positiven Aussagen über den Tod gegeben. Denn den Tod fürchten, ihr Männer, das ist nichts anderes, als sich dünken, man wäre weise, und es doch nicht sein. Denn es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüßten sie gewiß, daß er das größte Übel ist. Und wie wäre dies nicht eben derselbe verrufene Unverstand, die Einbildung, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Ich nun, ihr Athener, übertreffe vielleicht um dasselbe auch hierin die meisten Menschen. Und wollte ich behaupten, daß ich um irgend etwas weiser wäre: so wäre es um dieses, daß, da ich nichts ordentlich weiß von den Dingen in der Unterwelt, ich es auch nicht glaube zu wissen. 808

Sokrates bleibt offenkundig auch in dieser entscheidenden Situation vor den Anklägern und der gesamten Heliaia seinem göttlichen Auftrag treu. Er bringt sein Wissen vom Scheinwissen zur Anwendung und mutet damit erneut ihnen – ausgerechnet den ihn anklagenden Bürgern, aber auch den über ihn Richtenden – die Einsicht in deren intellektuelle Anmaßung zu. Das zweite Motiv für die Verurteilung der Furcht vor dem Tod sieht Sokrates in der daraus resultierenden Missachtung Gottes. Hat ihm Gott durch das Orakel doch einen für Sokrates eindeutigen Auftrag erteilt. Jede Unterordnung dieser Mission unter eine Bedingung, und sei es die Furcht vor dem Tod, wäre ein Beweis für seine Ungläubigkeit. […] [W]o aber der Gott mich hinstellt, wie ich es doch glaubte und annahm, damit ich in Aufsuchung der Weisheit mein Leben hinbrächte und in Prüfung meiner selbst und anderer, wenn ich da, den Tod oder irgend etwas fürchtend, aus der Ordnung gewichen wäre. Arg wäre das, und dann in Wahrheit könnte mich einer mit Recht hierherführen vor Gericht, weil ich nicht an die Götter glaubte, wenn ich dem Orakel unfolgsam wäre und den Tod fürchtete […]. 809

808 809

Platon, Apologie, 29 a-b. Platon, Apologie, 28 e-29 a.

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Des Sokrates Verteidigung

Neben der Ablehnung sicheren Wissens über die Bedeutung des Todes wechselt Sokrates von der epistemologischen in die doxische Sphäre. Der Gegenstand Tod ermöglicht zwar keine klare Bestimmung, jedoch erlaubt ihm die Überlieferung und die Ableitungen aus den Vorstellungen vom Tod die Formulierung einer Hoffnung. Laßt uns aber auch so erwägen, wie viel Ursache wir haben zu hoffen, es sei etwas Gutes. Denn eins von beiden ist das Totsein, entweder soviel als nichts sein, noch irgendeine Empfindung von irgendetwas haben, wenn man tot ist; oder, wie auch gesagt wird, es ist eine Versetzung und Umzug der Seele von hinnen an einen andern Ort. Und ist es nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn jemand einer solchen Nacht, in welcher er so fest geschlafen, daß er nicht einmal einen Traum gehabt, alle übrigen Tage und Nächte seines Lebens gegenüberstellen, und nach reiflicher Überlegung sagen sollte, wieviel er wohl angenehmere und bessere Tage und Nächte als jene Nacht in seinem Leben gelebt hat: so glaube ich, würde nicht nur ein gewöhnlicher Mensch, sondern der große König selbst finden, daß diese sehr leicht zu zählen sind gegen die übrigen Tage und Nächte. Wenn also der Tod etwas solches ist, so nenne ich ihn einen Gewinn, denn die ganze Zeit scheint ja auch nicht länger auf diese Art als eine Nacht. Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hinnen an einen andern Ort, und ist das wahr, was gesagt wird, daß dort alle Verstorbene sind, was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter? Denn wenn einer in der Unterwelt angelangt, nun dieser sich so nennenden Richter entledigt dort die wahren Richter antrifft, von denen auch gesagt wird, daß sie dort Recht sprechen, den Minos und Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos, und welche Halbgötter sonst gerecht gewesen sind in ihrem Leben, wäre das wohl eine schlechte Umwanderung? Oder auch mit dem Orpheus umzugehen und Musaios und Hesiodos und Homeros, wie teuer möchtet ihr das wohl erkaufen? Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies wahr ist. Also müßt auch ihr, Richter, gute Hoffnung haben in Absicht des Todes, und dies eine Richtige im Gemüt halten, daß es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode, noch daß je von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt werden. 810

Wir können also nicht wissen, haben aber gute Gründe zu hoffen, dass der Tod kein Übel ist.

810

Platon, Apologie, 40 c-41 d.

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Sokrates

Unabhängig von diesen Äußerungen zum Tod bezieht Sokrates in der Apologie eindeutig Stellung zu den moralischen Prioritäten. Seine Gütertheorie lässt keinen Zweifel daran, welche Relevanz der Tod für den gerechten Menschen haben darf. Es ist seine Gewissheit einer göttlichen Ordnung, die sein Handeln in entscheidenden Lebenssituationen einer unbedingten Forderung unterstellt. Wir finden dazu im Text drei Ebenen der Vergewisserung: die subjektive, auf Reflexion oder auf seinem Daimonion beruhende, die durch legale Vertreter des Gesetzes gestützte und schließlich die durch objektive göttliche Weisung begründete Vergewisserung. Und wollte ich behaupten, daß ich um irgend etwas [sic!] weiser wäre: so wäre es um dieses, daß da ich nichts ordentlich weiß von den Dingen in der Unterwelt, ich es auch nicht glaube zu wissen; gesetzwidrig handeln aber und dem Besseren, Gott oder Mensch ungehorsam sein, davon weiß ich, daß es übel und schändlich ist. Im Vergleich also mit den Übeln, die ich als Übel kenne, werde ich niemals das, wovon ich nicht weiß, ob es nicht ein Gut ist, fürchten oder fliehen. 811

Im Abschnitt 28 d werden die ersten beiden Instanzen der Vergewisserung nochmals erwähnt: Wohin jemand sich selbst stellt, in der Meinung, es sei da am besten, oder wohin einer von seinen Obern gestellt wird, da muß er, wie mich dünkt, jede Gefahr aushalten und weder den Tod noch sonst irgend etwas in Anschlag bringen gegen die Schande. 812

Schließlich finden wir in der Verteidigungsrede zwei weitere Textstellen, in denen Sokrates über allen Maßen als der Inbegriff eines seinem Denken und Glauben in unbedingter Weise verpflichteten Menschen hervortritt: Wenn ich nun durch solche Reden die Jugend verderbe, so müßten sie ja schädlich sein; wenn aber jemand sagt, ich rede etwas anderes als dies, der sagt nichts. Dem gemäß nun, würde ich sagen, ihr Athenischen Männer, gehorcht nun dem Anytos oder nicht, sprecht mich los oder nicht, daß ich auf keinen Fall anders handeln werde, und müßte ich noch so oft sterben. 813 Denn wißt nur, wenn ihr mich tötet, einen solchen Mann wie ich sage, so werdet ihr mir nicht größer Leid zufügen als euch selbst. Denn Leid zufügen wird mir weder Meletos noch Anytos im mindesten. Sie 811 812 813

Platon, Apologie, 29 b. Platon, Apologie, 28 d. Platon, Apologie, 30 b-c.

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Des Sokrates Verteidigung

könnten es auch nicht; denn es ist, glaube ich, nicht in der Ordnung, daß dem besseren Manne von dem schlechteren Leides geschehe. Töten freilich kann mich einer, oder vertreiben oder des Bürgerrechtes berauben. Allein dies hält dieser vielleicht und sonst mancher für große Übel, ich aber gar nicht. 814

Sokrates wird durch seine Haltung dem Tod gegenüber zum Paradigma für Integrität und Moralität. Entgegen der üblichen Unterordnung aller moralischen Optionen unter die bloße Erhaltung der eigenen physischen Existenz erschafft er in seinem Denken eine absolut ethische Norm. Es ist diejenige, die letztlich den Wesensgrund alles Seienden ausmacht, das Gute. Sokrates gibt uns in seiner Person ein überzeugendes Beispiel für die exzentrische Positionsübernahme zu sich selbst. Sei es sein Gewissen oder aber seine konsequente Bindung an das vernünftig Wissbare, die Entsprechung gegenüber diesen Ansprüchen an sich selbst bietet ein überaus deutliches Beispiel für eine Selbstbeziehung im Sinne des Sichzusichverhaltens. Sokrates stellt mit seiner radikalen Treue gegenüber seinem Entwurf von sich selbst die Möglichkeit einer faktisch autonomen Identität und der damit verbundenen Urteilsstruktur augenfällig unter Beweis. Das Gute in der Welt des Beliebigen und das Wahre in der Welt des Scheins und der Täuschung sind seine transzendente Quelle für ein Leben aus seiner Existenz. Diese später von Platon zum zentralen Gedanken seiner Philosophie erhobene Behauptung 815 ist die notwendige und hinreichende Bedingung für die in seinem Denken verwurzelte unbedingte Forderung an ihn als Menschen und Philosoph. So lässt sich bei Sokrates die unbedingte Forderung letztlich als die kategorische Ablehnung jeder Hypothetisierung des Guten verstehen. Das Gute wird so zum Horizont seiner gelebten und wohl für alle Zeit das Denken der Menschheit prägenden Unbedingtheit.

814 815

Platon, Apologie, 30 c-d. Vgl. Hadot (2005), 29.

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7

Mark Aurel

Gegenstand der folgenden Untersuchung sollen die Aufzeichnungen des Mark Aurel sein, die er während seiner Feldzüge von 170–179 niederschrieb. Diese Aufzeichnungen passen der Form nach in keine der typischen literarischen Gattungen. Ihr Titel lautet griechisch Ta eis heauton, was mit »Selbstbetrachtungen« bzw. nicht selten auch »Ermahnungen an sich selbst« 816 wiedergegeben wird. Im letzteren wird der stark appellative und an die regelgetreue Lebensführung erinnernde Charakter der Schrift besser deutlich. Im Fortgang der Untersuchung wird aber der weithin bekannte Titel Selbstbetrachtungen verwendet. Die in zwölf Bücher gegliederte Schrift enthält eine Vielzahl kurzer, dem persönlichen Trost und der Ermutigung des Kaisers dienender Gedanken, die wohl als Ergebnis persönlicher Meditationen als Notizen in Form einer Art persönlichen Tagebuchs ihre Niederlegung fanden. 817 Anhand dieser Quellen lässt sich am besten auf die Relevanz der der unbedingten Forderung für diesen stoischen Philosophen eingehen.

816 In Hadot, P. (1997), Die innere Burg; Anleitung zu einer Lektüre Marcus Aurelius, aus dem Franz. v. M. Ozaki und B. von der Osten, Frankfurt am Main: Eichborn, 46 f. wird hierzu festgestellt, dass Mark Aurel seinem Werk wohl überhaupt keine Titel gab. Da es sich in seinen Augen um eine rein private Sammlung persönlicher Notizen handelte und es zu keiner Zeit in der Absicht des Autors lag, diese zu veröffentlichen. In der ersten Veröffentlichung 1559 wird dem Werk der Titel: De seipso seu de vita sua (»Über sich selbst oder sein Leben«) gegeben. Bei den folgenden Ausgaben (von Straßburg 1590 und Lyon 1626) findet sich der Titel: De vita sua (»Über sein Leben«) 46 f. 817 Vgl. Hadot (1997), 50 ff.

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Zur Biographie

7.1 Zur Biographie Mark Aurel entstammte einer Familie mit spanischen Wurzeln. Sein Urgroßvater Annius Verus übersiedelte Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. aus der Nähe von Cordoba in das Zentrum des römischen Reiches. Großes Geschick bei Geschäften und der Wahl der Partner für seine Kinder ermöglichten der Familie einen raschen Aufstieg in die römische Aristokratie. So wurde der Großvater von Mark Aurel dreimal zum Konsul von Rom bestellt, was eine außerordentliche Auszeichnung darstellte. Der Vater von Mark Aurel wurde von Kaiser Vespasian (Regierungszeit von 69 bis 79) in den Stand der Patrizier, den höchsten Senatorenstand, dem die unmittelbaren Nachfolger der alten römischen Adelsgeschlechter angehörten, aufgenommen. Im Jahr der Geburt von Mark Aurel, 121, herrschte Kaiser Hadrian (Regierungszeit von 117 bis 138). Er war es, der die Weichen für den auffällig gelehrsamen und wohl spätestens ab dem 12. Lebensjahr an der Philosophie interessierten Sohn seiner Halbschwester Domitia Lucilla stellte. Der vielversprechende Enkel des Annius Verus wurde von Beginn an zur Bescheidenheit erzogen. Seine Mutter wählte deshalb für ihren Sohn zunächst eine öffentliche Schule, bevor Mark Aurel schließlich, auch auf Drängen seines Großvaters hin, Privatunterricht durch ausgesuchte Lehrer erhielt. Kaiser Hadrian sorgte im Jahre 137 bei der Regelung seiner Nachfolge dafür, dass der von ihm adoptierte Exkonsul Aurelius Antoninus seinerseits den jugendlichen Marcus Annius adoptierte. Von da an war sein Name Marcus Aurelius Verus. Als Hadrian 138 starb und Antoninus dessen Nachfolge antrat, wurde Mark Aurel kurze Zeit nach dem Erhalt der Quästur 818 der Titel Caesar verliehen. Der Senat legte damit öffentlich die Nachfolge des regierenden Kaisers Antoninus Pius fest. Für den jungen Kronprinzen bedeutete dies Abschied von seinen Zukunftsträumen, in denen er sich bis dahin immer als Philosoph sah. Aber entgegen seinen Befürchtungen konnte sich Mark Aurel weiterhin intensiv seinem Studium widmen. Die Großzügigkeit seines Vaters ermöglichte ihm eine gründliche Ausbildung in Grammatik, Rhetorik und Philosophie. Cornelius Fronto und Herodes Atticus – zwei der besten Lehrer 818 Darunter ist das niedrigste Amt der römischen Ämterlaufbahn, des sogenannten cursus honorum zu verstehen.

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Mark Aurel

ihrer Zeit – unterrichteten Mark Aurel in lateinischer und griechischer Rhetorik. Zu den wichtigsten philosophischen Lehrern zählten Apollonius von Chalkedon, den Antoninus 140 nach Rom kommen ließ. Junius Rusticus und Claudius Maximus – beide Staatsmänner – waren weitere Lehrer, die dem Thronfolger im Wesentlichen die Lehren des Epiktet und die von dessen Lehrer Musonius vermittelten. Junius Rusticus, der zu den wichtigsten Beratern des späteren Kaisers werden sollte, war selbst ein großer Praktiker der stoischen Lebensweise. Rusticus war es, dem Mark Aurel die Bekehrung zur Philosophie verdankte und das dürfte zwischen 144 und 147 geschehen sein. Epiktets geistige Souveränität und seine bescheidene Grundhaltung sollten Mark Aurel in Zukunft stark beeinflussen. Nicht das Tragen eines Umhangs sei der Zweck der Philosophie, sondern über eine aufrechte Vernunft zu verfügen. Epiktets Haltung, dass alle Philosophie auf den Charakter des Philosophen abzielen müsse, beeindruckte Mark Aurel von Beginn an. Um die Vermittlung der republikanisch geprägten politischen Philosophie kümmerte sich der Senator Claudius Severus Arabianus. Dieser Kenner der römischen Geschichte war mit den Lehren des Aristoteles bestens vertraut und verehrte die republikanischen Denker Cato, Brutus und Paetus Thrasea, also Menschen, die für ihr Eintreten gegen die Monarchie in die römische Geschichte eingingen. Von ihm übernahm Mark Aurel die Zielvorstellung vom Kaiser, dem es gelänge, die Gleichheit vor dem Gesetz (isonomia) und die Gleichheit der Rede (isegoria) mit der Stellung des Einen an der Staatsspitze zu versöhnen. 819 Mark Aurel war 40 Jahre alt, als er nach dem Tod seines Vaters 161 auch den letzten noch fehlenden Titel des Augustus erhielt. Einerseits bedeutete dies eine fast fünfundzwanzigjährige Vorbereitungszeit 820 auf seine Aufgaben als Kaiser, andererseits verfügte der neue Mann an der Spitze des Weltreiches über keinerlei militärische Erfahrung. Sein Vater Antoninus Pius ging wohl davon aus, dass Mark Aurel das Reich von Rom aus regieren könne und nicht an einer Front des seinerzeit befriedeten Reiches die Geschicke Roms werde verteidigen müssen. 821 Doch es kam anders. Nach einer verlorenen Schlacht gegen die Parther bei Elegeia am oberen Euphrat und einer 819 820 821

Vgl. Rosen, K. (1997), Marc Aurel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 50. Vgl. Rosen (1997), 37. Vgl. Rosen (1997), 39.

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Zur Biographie

weiteren Niederlage einer römischen Legion entlang der syrischen Aufmarschroute war der große Krieg unvermeidlich geworden. Der nach fünfjähriger Dauer für die Römer erfolgreich verlaufene Krieg war jedoch nicht die einzige Herausforderung für den neuen Kaiser. Ein seit Menschengedenken einmaliges, verheerendes Hochwasser zerstörte einen Großteil der Kornvorräte und führte letztlich zu einer Hungersnot in der Millionenstadt am Tiber. Selbst diese Katastrophe sollte aber noch nicht das Ende der Hiobsbotschaften darstellen. Noch während des Parther-Krieges kam es zu Unruhen entlang der Donau. Germanische Stämme bedrohten die Völkerschaften südlich der Donau. Der daraufhin entstandene Friedensvertrag hielt jedoch nicht lange und bereits im Sommer 167 kam es zu einer Invasion, die Rom seit dem Einfall der Teutonen vor mehr als 270 Jahren nicht mehr erlebt hatte. Die Germanen 822 brachen damit den geschlossenen Vertrag und zwangen den Senat offiziell, den Krieg gegen die Invasoren auszurufen. Das Reich befand sich in Anbetracht dieser erneuten Bedrohung und der erzwungenen Fortsetzung der Kriegsführung in einer sehr schwierigen Situation, als die Bevölkerung sich mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert sah. Es war die Pest, die in Rom Tausende von Toten forderte und die Truppen zusätzlich schwächte. 823 Mark Aurel, der 168 von dort aufbrach, um an der Nordfront persönlich den Kampf seiner Legionen zu unterstützen, war davon überzeugt, nur durch entschlossenes militärisches Auftreten den Kriegsparteien in den germanischen Stämmen ihre Unterstützung entziehen zu können. Dieser Krieg sollte noch bis 175 andauern und Mark Aurel, abgesehen von kurzen Aufenthalten in Rom, als Feldherrn im Dienste seines Volkes in Anspruch nehmen. Es ist kaum vorstellbar, unter welcher Belastung der Kaiser während dieser Kriegsjahre gestanden haben mag. Kehrte er von der Schlacht in sein Hauptquartier zurück, musste er sich den vielfältigen Aufgaben der Reichsführung widmen. So waren wichtige Personalentscheidungen zu treffen, Anfragen aus allen Teilen des Reiches zu beantworten und nicht zuletzt die Staatsfinanzen ständig zu überwachen. 824

822 Markomannische und quadische Scharen versammelten sich und überrannten die Grenze entlang der Donau, um bis in die venezianische Tiefebene vorzustoßen. Vgl. hierzu auch Rosen (1997), 87. 823 Vgl. Rosen (1997), 89. 824 Vgl. Rosen (1997), 111.

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Mark Aurel

Die Verheißungen eines langanhaltenden Friedens sollten jedoch von der Realität schnell eingeholt werden. Der »Herr der Welt« 825 sah sich mit erneuten Stammesbewegungen im Norden konfrontiert und rief bereits im Sommer 177 den zweiten Germanischen Krieg aus. Trotz Alter und Krankheit entschloss sich der Imperator 178, für sein Reich erneut in den Krieg zu ziehen. Nur zwei Jahre später, wahrscheinlich im Feldlager der Zehnten Legion in der Nähe von Wien, starb der »Philosophen-Kaiser«. 826 Mark Aurel, der von der Philosophie der Stoa begeisterte Sprössling spanischer Übersiedler, der sich nichts sehnlicher wünschte als mit seiner Person ein lebendiges Zeugnis für die Ideale der zeitgenössischen Philosophie zu sein, befand sich von seinen neunzehn Herrschaftsjahren über Rom fünfzehn Jahre im Krieg. Die Entstehung der Selbstbetrachtungen oder auch Ermahnungen an sich selbst – wie die Sammlung dieser Selbstappelle über viele Jahrhunderte genannt wurde 827 – kann zweifellos als eindrückliches Ergebnis der tiefen Auseinandersetzung eines großen Geistes mit seinem Schicksal gewertet werden.

7.2 Der Philosophenkaiser und das Unbedingte Mark Aurel hat durch das Verfassen der Selbstbetrachtungen nichts wesentlich Neues erdacht. Er bezieht sich auf stoische Grundpositionen und wendet diese in Form von Ermahnungen an sich selbst an. 828 Die überragende Bedeutung seines Textes rührt weniger von einer systematischen Erkenntnisleistung, als aus der beeindruckenden Übertragung philosophischer Grundüberzeugungen auf seinen persönlichen Lebensvollzug her. Ein Verständnis der Philosophie, wie es zum Besten der antiken Auffassung gehörte. 829 Es gilt nun zu prüfen, welche Relevanz und Bedeutung das Phänomen der unbedingten For-

»Der Herr der Welt« oder »Herr der Erde und des Meeres« rühmten Inschriften aus der Zeit nach dem ersten Markomannenkrieg Mark Aurel. Das Volk beurteilte seine militärischen Erfolge als seit Augustus unübertroffen und wähnte sich in Sicherheit und Rom in unangefochtener Führungsposition. Vgl. Rosen (1997), 127. 826 Vgl. Rosen (1997), 130. 827 Vgl. Hadot (1997), 51. 828 Vgl. Hadot (1997), 19. 829 Vgl. Hadot (1997), 19. 825

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Der Philosophenkaiser und das Unbedingte

derung dabei im Leben des großen Kaisers hatte und wo sich dieses gegebenenfalls aus seinem Werk zeigen lässt. Mark Aurel, der wohl mächtigste Mann seiner Zeit, gewährt uns durch seine Aufzeichnungen einen Einblick in die tiefsten Auseinandersetzungen mit seinem Leben. Seiner Pflicht als Kaiser des römischen Reiches folgend, setzt er sich über viele Jahre seiner Regentschaft den Mühen und tödlichen Gefahren eines Feldherrn aus. Er, der wie kein anderer die Spannung zwischen dem Glanz seiner Position und der Wirklichkeit als Mensch empfunden hat, war geprägt von seiner Zerbrechlichkeit und Bedeutungslosigkeit in der Unendlichkeit von Raum und Zeit und lässt uns teilhaben an seinen existentiellen Konflikten und den durch Reflexion gewonnenen Selbsteinsichten. Im Bewusstsein von Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Lebens verfasste er seine Notizen im Ringen um einen Sinn für seine Existenz.

7.2.1 Die Vorstellung von Gut und Böse Der Begriff der Forderung verweist notwendig auf eine Vorstellung von Gut und Böse. Anders ließe sich eine Unterscheidung von Forderung und Versuchung nicht denken. Um diese Voraussetzung und damit um die Eingrenzung des Fordernden, d. h. um die wesentlichen durch die Schule der Stoa geprägten Vorstellungen des Guten, soll es zunächst gehen. Mark Aurel vertritt mit den Lehren der Stoa die feste Überzeugung, dass das Gute weder durch eine metaphysische Substanz oder Idee, noch durch Macht, Ruhm, Schönheit oder Einfluss, ja nicht einmal durch Glück verkörpert wird. Bei Ruhm, Macht, den allgemeinen Umständen des Lebens und auch bei Menschen handelt es sich um typische Mittelwerte 830 (Adiaphora), die als solche gleichgültig sind und damit keine ethische Relevanz für sein Leben haben. Ich bestehe aus einem Körper und einer Seele. Für den Körper sind alle Dinge weder gut noch böse, d. h. wertfrei. Denn er kann nicht unterscheiden. Für die Seele aber ist alles weder gut noch böse, was nicht zu

830 Genauere Beschreibung des Begriffs aus diversen Quellen, z. B. Marc Aurel (2003), Wege zu sich selbst, hg. und übers. v. R. Nickel, 2. Aufl., Düsseldorf: Artemis & Winkler, VI, 32. Im Folgenden zitiere ich Mark Aurels Selbstbetrachtungen aus dem angegebenen Werk mit »Mark Aurel, Selbstbetrachtungen« mit der Angabe des Buches und der Nummerierung.

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Mark Aurel

ihrem Tätigkeitsfeld gehört. Wofür sie aber gewissermaßen zuständig ist, darüber kann sie bestimmen und verfügen. Allerdings bezieht sich dies nur auf ihre gegenwärtigen Tätigkeiten. Denn ihre zukünftigen und früheren Tätigkeiten sind ebenfalls weder gut noch böse. 831

Nichts, was nicht in seiner Macht liegt, hat für ihn diese Relevanz, denn nur »[…] die Tat ist von sittlicher Bedeutung, und der Stoff, an dem die Tat vollzogen wird, ist gleichgültig« 832. Was also ist dann das eigentlich Gute? Es liegt in der Beschaffenheit unserer Gesinnung. Mark Aurel schreibt dazu »dass nichts für einen Menschen gut sein kann, was ihn nicht gerecht, besonnen, tapfer, unabhängig werden lässt, und nichts schlecht sein kann, was nicht das Gegenteil des Genannten hervorbringt« 833. Der sittliche Wert liegt für Mark Aurel niemals in der äußeren Wirklichkeit, sondern konstituiert sich in uns, wird durch unser Denken und die Motive unseres Handelns geschaffen. Was zählt, sind weder das Ergebnis noch die Effektivität, sondern die Absicht, gut zu handeln. Entscheidend ist allein, aus einem einzigen Motiv heraus zu handeln 834: des moralisch Guten, ohne jegliche Rücksicht auf Interesse oder Lust. Dies ist der einzige Wert, das einzige Notwendige. 835 Der intellektuell-ethische Prozess ist es, der das absolut Gute umspannt. Inhaltlich lässt sich das höchste Gut bei Mark Aurel aus dem zentralen Anspruch der Stoa – nämlich gemäß der Natur zu leben – ableiten. Zu welchem Zweck ein jedes Wesen ausgerüstet ist und wofür es ausgerüstet ist, dahin strebt es. Wohin es aber strebt, dort liegt sein Ziel. Wo aber sein Ziel ist, da liegt der Nutzen und das Gute eines jeden Wesens. Das Gute also des vernunftbegabten Lebewesens ist die Gemeinschaft. 836

Der sittliche Wert also umschließt den Begriff des Guten bei Mark Aurel. Konsequent folgt diese Überzeugung der naturphilosophischen Vorstellung der Stoa, der zufolge alle Wesen einer umfassenden Gemeinschaft angehören 837 und die Liebe zum Menschen von

Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VI, 32. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 58. 833 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII, 1. 834 Vermutlich liegt in solchen stoischen Positionen die häufige Inbezugsetzung von Kant und der Stoa begründet. 835 Vgl. Hadot (1997), 119. 836 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, V, 16. 837 Der zentrale Begriff hierfür ist die Allnatur. 831 832

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Der Philosophenkaiser und das Unbedingte

daher ihre Rechtfertigung findet. »Eines nur geht mich an: dass ich für meine Person nichts tue, was die Einrichtung des Menschen überhaupt nicht will, oder so nicht will, oder gerade jetzt nicht will.« 838 »Zweck vernünftiger Wesen aber ist, den Grundsätzen und Satzungen des ältesten Staatswesens und der ehrwürdigsten Staatsverfassung zu folgen – nämlich dem Kosmos.« 839 Die Natur ist als zentraler Begriff für alle wirksamen Gesetze und als Horizont für jede Nützlichkeits- und Gerechtigkeitsvorstellung die maßgebliche Perspektive zur Beurteilung moralischer Zusammenhänge. Was im Laufe des Lebens als gut oder böse zu gelten hat, unterliegt diesem universellen Prinzip. »Alles ist mir süße Frucht, was, oh Natur, deine Jahreszeiten mit sich bringen. Von dir ist alles, in dir alles, in dich kehrt alles zurück.« 840 Diesem Verständnis folgend ist jede individuelle Seele Teil einer gemeinschaftlichen, alle Vernunftwesen vereinenden Seele. 841 Dabei wird bei Mark Aurel die gerechte Handlung und die tugendhafte Absicht zum einzigen Bestimmungsgrund des Guten. Nichts, was nicht in seiner Macht liegt, kann diese Stufe moralischer Bedeutung je erreichen. Im Folgenden soll nun der Frage nachgegangen werden, ob, und wenn ja, wo sich bei Mark Aurel in seinen Selbstbetrachtungen eine ganz bestimmte Form der Auseinandersetzung mit diesem Guten erkennen lässt, nämlich die Form der unbedingten Forderung an ihn.

7.2.2 Die Selbstbetrachtungen im Spiegel der Unbedingten Forderung Unbedingt ist eine Forderung im umgangssprachlichen Sinn dann, wenn es keinerlei denkbare Lebensumstände gibt, die den Inhalt der Forderung für den jeweiligen Adressaten – also die betreffende Person – fragwürdig oder gar hinfällig machen könnten. Bei dieser umgangssprachlichen Annäherung ist sofort ersichtlich, dass eine unbedingte Forderung in den Kontext des Wert-Begriffs gehört. Wir sagen von dem, was uns Endzweck an einem Gesollten ist, dass es uns wert sei. Dabei handelt es sich jedoch um einen anderen 838 839 840 841

Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 20. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, II, 16. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, IV, 23. Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, IV 29.

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Mark Aurel

Wert als demjenigen, der uns lediglich als Mittel einen Wert darstellt, eben einen Wert, der durch das Wesen des Mittels für etwas anderes jeweils Angestrebtes definiert ist. Gemeint ist vielmehr ein Wert, der das Gesollte seiner selbst wegen wert macht. Dieses Verständnis als Selbstwert, der ein bestimmtes Sein gegenüber anderen für uns bevorzugt erscheinen lässt, soll mit »Wert« bezeichnet werden. Der Wert wiederum nimmt eine Art Mittlerposition zwischen dem faktischen oder auch als wirklich zu bezeichnenden Willen und dem wertimmanenten Sollen ein. Dieses dem Wert immanente Sollen ist der Kern des Verständnisses der unbedingten Forderung, wie sie hier untersucht werden soll. Wir werden vor allem bei den beiden folgenden Autoren feststellen, dass es dieses Sollen ist, das auf Verwirklichung drängt. Ein Sollen, das im Bewusstsein des jeweiligen Menschen auf sein Wollen gerichtet ist und mittels der Freiheit der Person nach Realisierung im konkreten Leben strebt. 842 Mark Aurel verweist in seinen Ermahnungen 843 nur selten explizit auf jenen fordernden Charakter – der aus seiner tiefen Wertgebundenheit resultiert – im Hinblick auf einen innerlichen Konflikt. 844 Es sind vielmehr eine Vielzahl von Grundüberzeugungen, Prinzipen seines Handelns und Aufrufe an sich selbst, die uns verdeutlichen, von welch reiner Beschaffenheit sein Charakter und wie tief in ihm die Idee der Unbedingtheit verankert war. In der folgenden Untersuchung werden diese »Bekenntnisse« aufgeführt, im Gesamtkontext erläutert und auf die Bedeutung für einen Verweis auf die Haltung eines Menschen reflektiert, der sein ganzes Dasein in den Dienst eines gerechten Lebens gestellt hat.

842 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Reinhard Lauth in seiner Ethik. Lauth (1969), besonders 32–38. 843 Mark Aurel war fest davon überzeugt, dass ein glückliches Leben nur gelingen kann, wenn es festen Dogmen (Lehrsätzen) folgt. Diese sind es, die ihm die Unterscheidung von gut und böse in möglichst allen Lebenslagen ermöglichen. Vgl. hierzu auch Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII, 1, 6. 844 Ein Hinweis auf einen derartigen Konflikt mit einer inneren Instanz findet sich bei dem einmalig gebrauchten Ausdruck »Gewissen« im Zusammenhang mit der Beschreibung der charakterlichen Qualitäten seines Vaters. Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VI, 30.

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Der Philosophenkaiser und das Unbedingte

7.2.3 Die »relativistische« Lebensperspektive Voraussetzung für die intellektuelle Verankerung einer ethischen Unbedingtheit ist, dass allen dieser Domäne angehörigen Einzeldinge, Umstände und Folgen in einer untergeordneten Beziehung zu dieser stehen. Es findet also eine mindestens zweistufige Hierarchisierung von Inhalten des Bewusstseins statt, die es dem betreffenden Menschen ermöglicht, die so gewonnene Differenz auf konkrete Lebensumstände in ethischer Hinsicht zu beziehen. Es werden dabei nicht die Inhalte möglicher Handlungsalternativen aufeinander bezogen, sondern deren Bedeutung für die eigene Vorstellung eines sinnvollen und – wie es Mark Aurel formulieren könnte – naturgemäßen Lebens wird relativiert und auf mindestens einen zentralen Bedeutungsinhalt 845 hin ausgerichtet. Karl Jaspers nennt dies auch »sein eigentliches Sein finden«, bzw. »den Grund seiner Entschlüsse in Freiheit gewinnen«. 846 So wird eine Haltung gegenüber allen nur möglichen Handlungsalternativen gewonnen, aus der heraus durch eine Art der ursprünglichen Festlegung auf ein Ewiges 847 eine ethische Klarheit gewonnen wird, die allen Nützlichkeitskalkülen, gleich welcher Ordnung, entzogen ist. Da Mark Aurel in seinem Denken eindeutig der Tradition der Stoa zuzuordnen ist, lohnt es sich zunächst zu klären, wie dort diese ethisch entscheidende Differenzierung vorgenommen wird und wie der absolute Bezugspunkt begründet wird. Ursprung aller stoischen Ethik ist die Naturgemäßheit unserer Lebensführung. Zenon 848 erklärt jenen Ausgangspunkt als Erster. In seinem Buch über die Natur des Menschen bezeichnet er das Leben im Einklang mit der Natur als das Endziel des Menschen. Ebenso Kleanthes in der Schrift über die Lust sowie Hekaton und Poseidonios in der Schrift über die Endziele. Chrysipp begründet dies in seinem Buch über die Endziele mit der Feststellung, dass unsere Naturen Teile des Weltganzen seien. 849 Hierunter wird der im Verlauf der Untersuchung noch weiter explizierte moralische Wert zu verstehen sein. 846 Jaspers (1962), 54. 847 Vgl. Jaspers (1962), 57. 848 Zenon von Kriton (333 v. Chr.-264 v. Chr.) zählt zu den hellenistischen Philosophen und war der Gründer der Stoa. Die wichtigste Quelle zu Zenon bildet Diogenes Laertius. Vgl. Ritter (2007), Bd. 7, 176–185. 849 Vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, VII, 87 f. 845

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Mark Aurel

Bei Mark Aurel finden wir hierzu: Dessen muß man sich immer bewußt sein, was die Natur des Ganzen und was meine eigene Natur ist und wie sich diese zu jener verhält und welcher Teil welches Ganzen sie ist und daß es niemanden gibt, der dich daran hindern könnte, stets das, was im Sinne der Natur ist, deren Teil du bist, zu tun und zu sagen. 850

Jenes Dogma der Übereinstimmung mit der Natur des Weltganzen wird so zum Fixpunkt seiner naturphilosophischen Überlegungen und auch zum Horizont seiner Ethik. Letzteres wird deutlich, wenn er die Gemeinschaft der Menschen 851 – übrigens niemals eingegrenzt auf bestimmte politische Gemeinschaften oder Gesinnungsgruppen – als von der Natur auferlegtes Anliegen aller Menschen bezeichnet: Der Geist des Ganzen will die Gemeinschaft. Also schuf er die geringeren Wesen wegen der höheren und brachte die höheren zueinander. Du siehst, wie er unterordnete, zusammenfügte, jedem einzelnen das ihm Zukommende zuteilte und seine höchsten Geschöpfe zusammenführte, auf daß sie sich miteinander vertragen sollten. 852

Hier interessiert nun die von der Stoa gelehrte und von Mark Aurel gleichfalls vollzogenen Differenz, die eine Relativierung der moralischen Relevanz bezüglich der möglichen Gegenstände im konkreten einzelnen Lebensvollzug mit sich bringt und so eine Unbedingtheit überhaupt erst ermöglicht. Die zentrale Aussage der stoischen Texte dürfte hier bei Epiktet zu finden sein. Er ist es, der eine fundamentale Einteilung (dihairesis) der Dinge in diejenige vornimmt, welche in unserer Macht liegen und solche, worüber der Mensch nicht – zumindest nicht vollständig – verfügen kann. 853 Wer sich um die Entwicklung seines Inneren kümmert, kann frei und glücklich werden, alles andere dagegen ist als gleichgültig zu betrachten, es sind adiaphora, Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, II, 9. Vgl. hier auch Kapitel 7.2.2. 852 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, V, 30. 853 Vgl. Epiktet (1984), Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hg. v. H. Schmidt, Neubearb. v. K. Metzler, 11. Aufl., Stuttgart: Krümer, 1. »Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unseren Körper, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht. Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann nicht gehindert oder gehemmt werden; worüber wir aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden und steht unter fremdem Einfluss.« 850 851

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sittlich gleichgültige Dinge. Halten wir also fest: Alles steht mit allem in Verbindung; alles befindet sich in einem alles umfassenden Sinnzusammenhang 854 und die ethisch relevante Norm – die Förderung der Gemeinschaft – bildet den Zielpunkt der von uns zu verantwortenden Willensakte und Handlungen. In den Selbstbetrachtungen heißt es: Es ist nämlich nicht recht, dem vernunftbestimmten und gemeinschaftsbezogenen höchsten Wert irgendeinen anderen Wert vorzuziehen, wie zum Beispiel die Anerkennung in der großen Öffentlichkeit, hohe Ämter, Reichtum oder Lustgewinn. 855

Bei diesem als »höchsten Wert« bezeichnetem Gut endet jede Relativität. Hier entsteht der gesuchte absolute Grund, woraus unsere Existenz gedacht und gelebt werden muss. Die Vereinigung der naturphilosophischen und ethischen Position wird bei Mark Aurel deutlich, wenn er schreibt: »Dein Streben und Tun erreicht sein Ziel im solidarischen Handeln; denn dies entspricht deinem Wesen.« 856

7.2.4 Das Absolute und die Existenz An keinem Scheideweg des Lebens lässt sich wohl drastischer und eindeutiger die Unbedingtheit moralischer Forderungen erkennen als dort, wo unser elementares Daseinsinteresse und damit unsere biologische Grunddisposition zum Leben selbst berührt werden. Mark Aurel äußert sich in seinem moralischen Tagebuch explizit zur Bedeutung des Todes. Ein Aspekt seiner Auseinandersetzung mit diesem die menschliche Existenz besonders beherrschenden Thema ist dabei die Unterordnung des individuellen Daseins unter die absolute Priorität des naturgemäßen Lebens.

7.2.4.1 Der Vorrang der Natur

Mark Aurel lässt keinen Zweifel daran, dass die Sorge um die Seele im Mittelpunkt seiner Ethik steht. Dabei erfordert das Gelingen einer 854 Der allerdings nur mittels des Logos, der Vernunft überhaupt, eingesehen werden kann. 855 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, III, 6. 856 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, IX, 31.

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guten Seelenverfassung notwendig eine Übereinstimmung mit der Natur. Immer wieder weist er auf diesen Zusammenhang hin 857, und selbst die Bedeutung der Aufrechterhaltung des eigenen Lebens wird diesem Imperativ untergeordnet: Du urteilst unrichtig, o Mensch, wenn du meinst, daß ein Mann, der auch nur einigen Wert hat, die bedenkliche Wahl zwischen Leben und Sterben ins Auge fassen und nicht vielmehr das nur erwägen soll, ob, was er tue, Recht oder Unrecht und die Tat eines Guten oder Schlechten sei. 858

Durch die zentrale Annahme einer größeren als nur dem menschlichen Leben dienenden, universellen Kraft, gelingt es Mark Aurel, die für die Unbedingtheit seines moralischen Ideals notwendige Unterordnung, selbst der körperlichen Existenz, zu vollziehen. Diese »Urkraft des Weltganzen ist ein wilder Strom. Er reißt alles mit.« 859 Und aus dieser Vorstellung des Wesens der Naturkraft resultiert auch die Naturgemäßheit unseres leiblichen Unterganges. »Das Sterben ist freilich nicht nur ein natürlicher Vorgang, sondern auch nützlich für die Natur.« 860 Sollte im Laufe des Lebens ein Konflikt entstehen, sich etwas Unüberwindliches – das wir weder beeinflussen könnten, noch zu verantworten hätten – in den Weg stellen, so ist der Rat Mark Aurels eindeutig. Da dann ein Weiterleben keinen Sinn mehr hätte, wäre ein frohes Ausscheiden aus dem Leben die notwendige Konsequenz. 861 Diese Position verdeutlicht eindringlich die unbedingte Haltung Mark Aurels gegenüber einer dem eigenen Leben übergeordneten Größe. Nur durch diese Prämisse ist die Absolutsetzung des eigenen Lebens, zu der wir doch alle neigen, 862 überwindbar und die Gewinnung einer Haltung möglich, die uns das wahre Gute und Schlechte ungetrübt zu erkennen erlaubt. Mark Aurel stellt die Unbedingtheit seiner Naturgemäßheit auch noch dem psychologischen Druck gegenüber, der durch ein konventionelles Moralverständnis entstehen kann, indem er die authentische Handlungsweise, orientiert am Prinzip der Übereinstimmung mit der Natur, einer AkzepVgl. u. a. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, III, 7, V, 29, VI, 14 und VI, 29. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 44. 859 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, IX, 29. 860 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, II, 12. 861 Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII, 47. 862 In Selbstbetrachtungen, XII, 31 geht Mark Aurel kurz auf die Neigung des Menschen ein, das Leben als solches zu schätzen und den durch den Tod bedingten Verlust der Dinge zu fürchten. 857 858

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tanz bzw. Wertschätzung durch den Mitmenschen kategorisch voranstellt und »wenn sie ihn nicht ertragen können, sollen sie ihn töten. Denn das ist besser, als so zu leben wie sie.« 863 An anderer Stelle finden wir diese Eindeutigkeit eingeleitet mit einem Appell: Achte die Götter, rette die Menschen. Das Leben ist kurz. Die einzige Frucht des irdischen Lebens ist eine fromme Gesinnung verbunden mit Taten zum Wohle der Mitmenschen. 864

Die Seele hat dem Leben eines Menschen, das der Gemeinschaft gewidmet ist, würdig zu sein. 865

7.2.4.2 Die Vergänglichkeit der Existenz

Der kaiserliche Stoiker setzt sich mit der Bedeutung der eigenen Existenz auch insofern auseinander, als er sie in ihrer zeitlichen Dimension und ihrer Bedeutung der umfassenden, ewigen und sich ständig verändernden geprägten Natur gegenüberstellt. Mark Aurel bekennt sich zu einer Perspektive, die den einzelnen Menschen als Teil eines umfassenden Weltganzen betrachtet. Durch die notwendige Prämisse, dass es sich beim Weltganzen um die entscheidende und uneingeschränkt zu bejahende Dimension handelt, kann das Vergehen der untergeordneten Dinge – und dazu gehören auch die beseelten Menschen –, das letztlich der Erhaltung des Kosmos dient, nicht schlecht sein. Für alle Teile des Ganzen, die naturgemäß vom Kosmos umfaßt werden, besteht die Notwendigkeit zu vergehen. »Vergehen« soll bedeuten »Sich verändern«. Wenn dies aber ein unausweichliches Übel für die Teile des Ganzen wäre, dann dürfte das Ganze nicht gut funktionieren, wenn sich seine Teile ihm entfremden und ohne Unterschied zur Vernichtung bestimmt sind. Hat denn die Natur selbst versucht, ihre eigenen Bestandteile zugrunde zu richten und sie so zu erzeugen, daß sie dem Unheil ausgesetzt sind und zwangsläufig in ihr Verderben geraten, oder blieb ihr verborgen, daß derartiges geschah? Beides ist doch nicht anzunehmen. Wenn aber jemand die Wirksamkeit der Natur ausschlösse und annähme daß die erwähnten Vorgänge mit der natürlichen Eigenschaft der Dinge zu erklären seien, dann wäre es auch lä863 864 865

Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, X, 15. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VI, 30. Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, III, 7.

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cherlich, einerseits zu behaupten, die Teile des Ganzen veränderten sich aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit, andererseits sich darüber wie über einen widernatürlichen Vorgang zu wundern oder zu ärgern, zumal die Auflösung in die Elemente erfolgt, aus denen jedes Ding entsteht. Denn entweder findet eine Zerstreuung der Elemente statt, aus denen die Dinge zusammengesetzt waren, oder eine Umwandlung des Festen in das Erdige und des Hauchartigen in das Luftartige, so daß auch diese Substanzen wieder in den Geist des Weltganzen aufgenommen werden, ob es nun in bestimmten Zeiträumen in Feuer aufgeht oder in ewigem Wechsel sich erneuert. Stell es dir aber nicht so vor, daß das Feste und das Hauchartige gleich bei ihrer Entstehung da waren. Beides hat nämlich ohne Ausnahme erst gestern und vorgestern aus der Nahrung und aus der eingeatmeten Luft die ihm zufließende Substanz erhalten. Das also, was es erhalten hat, verändert sich, nicht das, was die Mutter gebar. 866

Die Einordnung des Todes steht bei Mark Aurel also auf dem Boden einer ganzheitlichen Betrachtung des allein zu erhaltenden und alles in sich einschließenden Weltganzen. 867 Mark Aurel gelingt die Überwindung der Ich-zentrierten Perspektive durch die Einordnung desselben in einen höheren, heiligen Kontext. Die eigene Existenz und ihr möglicher Untergang durch den Tod verlieren dadurch ihren vernichtenden Schrecken und wird zum naturgemäßen und damit nützlichen Ereignis für ein alles überragendes Ganzes. Im siebten Buch zitiert der Sohn des Antoninus hierzu Platon: ›Glaubst du, daß einer Seele, die über Weitblick und Überblick über die gesamte Zeit und das gesamte Sein verfügt, das menschliche Leben als etwas Besonderes erscheint?‹ – ›Unmöglich‹, antwortet er. – ›Also wird ein solcher Mensch auch den Tod nicht für furchtbar halten?‹ – ›Keinesfalls.‹ 868

Neben dieser funktionalen Unterordnung relativiert Mark Aurel die Bedeutung der bloßen Existenz des einzelnen Menschen durch die Gegenüberstellung der je eigenen Lebensfrist und der Unendlichkeit der vor ihr und nach ihr liegenden Ewigkeit. 866 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, X, 7. Vgl. auch II, 3. Hier wird vor allem die Einordnung der menschlichen Existenz in das für die Natur Notwendige und Nützliche und deren Verbindung zur göttlichen Vorsehung noch einmal herausgestellt. 867 Hier könnte in synonymer Weise auch »Logos«, »Natur« oder »Kosmos« verwendet werden. 868 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 35.

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Es ist ein zwar gemeinhin übliches, aber doch förderliches Hilfsmittel zur Todesverachtung, sich diejenigen zu vergegenwärtigen, welche mit Zähigkeit am Leben hingen. Denn welchen Vorrang haben sie vor den Frühverstorbenen? Liegen sie ja doch alle irgendwo; Cadicianus, Fabius, Julianus, Lepidus und andere, die viele zur Bestattung hinausgetragen haben und dann selbst hinausgetragen worden sind. Kurz ist überhaupt die Zwischenzeit. Und unter wievielen Mühseligkeiten und in welcher Gesellschaft und in was für einem Körper wird sie ausgelebt! Mach dir also nicht viel daraus! Schau vielmehr auf das Unermeßliche der Zeit hinter dir und das ebenso Grenzenlose der Zeit vor dir hin! Was ist denn da noch für ein Unterschied zwischen einem, der drei Tage, und einem anderen, der drei Jahrhunderte verlebt? 869

Auch hier wird ein übergeordneter Maßstab herangezogen, um die Gefährdung des Unbedingten durch die mögliche Priorisierung des individuellen Daseins auszuschließen. Diese Einordnung des Strebens nach Lebenserhaltung in das moralisch Relevante eines vernünftigen Menschen spiegelt deutlich wider, warum es sich beim Tod um ein Gleichgültiges handeln soll und muss. Die Dauer der eigenen Existenz ist unwichtig und »den Gedanken an ein möglichst langes Leben muß sich ein wirklicher Mann aus dem Kopf schlagen. Er darf auch nicht am Leben hängen, sondern muß dieses Problem der Gottheit überlassen […] [und erkennen,] daß niemand seinem Schicksal entkomme.« 870 Nicht das »wie lange« steht im Fokus des moralischen Menschen, sondern »wie beschaffen« ein Leben ist umfängt die gesamte ethische Relevanz des menschlichen Daseins.

7.2.5 Metaphysische Prämissen Ein vernünftiges Wesen, das selbst seine Lebensdauer einer absoluten, moralischen Forderung unterordnet, muss in seinem Denken notwendig einen sein Leben transzendierenden Grund voraussetzen, auf den hin es zu leben gilt. Vernunft fordert sozusagen ein Höheres, aus dessen Wesen ein Zweck ableitbar wird, der wiederum eine Unterordnung nachgeordneter Bedeutungen unter eine diesem Zweck zugeordnete Unbedingtheit ermöglicht. Diese metaphysische Prämisse lässt sich auch bei Mark Aurel in seinen Ermahnungen finden. Diese Perspektive fungiert gleichsam als Prämisse für die Relativie869 870

Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, IV, 50. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 46.

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rung des eigenen Lebens, wenn er schreibt: »Die Menschen zu verlassen ist nichts Furchtbares, wenn es Götter gibt.« 871 Und kurz darauf versichert er sich der Hypothese: »Doch es gibt Götter.« 872 Mark Aurel lässt an verschiedenen Stellen eine platonisch-dualistische Auffassung erkennen, die seine absolute moralische Haltung stützt. Die Reinheit seines göttlichen Teils, der leitenden Seele, hat absoluten Vorrang und ist der Bedeutung des vergänglichen Fleisches, der Hülle, bei weitem übergeordnet. Der Kaiser folgt Platons Lehre, dass es zu einer Verbindung des Göttlichen mit dem Leiblichen kommt und diese zur rechten Zeit wieder getrennt werden. Unsere Pflicht ist es, alles zu unternehmen und zu unterlassen, was den Vorrang des göttlichen Geistes gefährden könnte. 873 Du bestiegst ein Schiff, fuhrst los und landetest wieder. Steig aus. Wenn du in ein anderes Leben übergehst, dann ist auch dort alles von Göttlichem erfüllt. Wenn du dich aber im Zustand der Empfindungslosigkeit befindest, wirst du aufhören, Schmerzen und Freuden zu haben und dem Gefäß zu dienen, das so viel weniger wert ist als das, dem es dient. Dieses nämlich ist Geist und göttliche Kraft, jenes aber nur Erde und Blut. 874

Um das Unbedingte aus der Beziehung zu Gott ableiten zu können, stützt sich Mark Aurel auf das aristotelische Naturverständnis vom Menschen. Es sind die Attribute der Vernunft und der Gemeinschaftsbezogenheit, die dem Menschen Richtung und Aufgabe bedeuten. Die Götter fassen keine Beschlüsse hinsichtlich der menschlichen Angelegenheiten. Vielmehr ist es das Weltganze, um das die Götter sich sorgen. Der Mensch hat dem zufolge die Verantwortung, naturgemäß – also vernünftig und gemeinnützig – zu handeln und damit in Übereinstimmung mit dem Weltganzen zu leben. 875 An dieser Stelle trifft sich die in der Stoa ausgeprägte Haltung amor fati (»Man muß den von den Göttern ausgelösten Sturm bis zur Erschöpfung, aber ohne zu klagen, aushalten.« 876) mit der dem Menschen auferlegten

Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, II, 11. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, II, 11. 873 Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, III, 12. Weitere Stellen zur Pflicht des Menschen, seine Seele rein zu halten: VIII, 51, II, 13. 874 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, III, 3. 875 Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VI, 44. 876 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 51. Vgl. hierzu auch VIII, 23. 871 872

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Verantwortung im freien Handeln. 877 Es ist die aus der Freiheit resultierende Verantwortung für seine Handlungen, die Mark Aurel den Raum für die darin gegebene Unbedingtheit der Forderung eröffnen. Der Mensch hat die Aufgabe, das Seine zum Ganzen beizutragen, also dem durchaus funktionalen Aspekt im Hinblick auf eine höhere Erfüllungsdimension gerecht zu werden. Die Götter wollen also nicht, dass der Mensch um sich selbst im Sinne seiner Bedürfnisse und Befriedigungsmöglichkeiten kreist, sondern »[…] daß alle vernunftbegabten Wesen ihnen ähnlich werden und der Feigenbaum die Funktion des Feigenbaumes, der Hund die des Hundes, die Biene die der Biene und schließlich der Mensch die des Menschen erfüllt.« 878 Erst dann, wenn der Mensch sich nicht mehr nur den Affekten 879 hingibt und als bloßes Material des kosmischen Geschehens fungiert und stattdessen dem in der gesamten Natur immanenten göttlichen Willen (lógos) folgt und so Teil der alles umfassenden Vernunft wird, erfüllt der Mensch die sittliche Grundforderung der Stoa: im Einklang mit der Natur (homologia) zu leben. 880 Diese Forderung allein ist es, die dem Menschen aufgetragen ist. Nicht der sichere Tod beunruhigt unsere Seele, sondern die Übereinstimmung mit der Natur und dem Göttlichen in uns 881 muss uns kümmern. Denn sie entscheidet über die Würde der Seele und ermöglicht uns so, damit aufzuhören, Fremder im eigenen Vaterland (hier: Kosmos) zu sein. 882 Selbst der Tod wird eingeordnet in die Sphäre möglicher Ereignisse, die dem Ganzen dienlich und damit als nützlich zu betrachten sind. 883 Die Unbedingtheit der sittlichen Forderung an Mark Aurel wird auf diese Weise durch ihren göttlichen Ursprung erklärt und in einen umgreifenden naturphilosophischen Rahmen gestellt. Der Kaiser des römischen Weltreiches hat damit für sein Leben eine beeindruckend klare und in der biographischen Umsetzung überzeugend gelebte Entscheidung über die letzte Zweckhaftigkeit jenseits von allem na877 Vgl. hierzu Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII, 56 und zum Verhältnis Eigenverantwortung und göttlicher Einfluss IX, 40. 878 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, X, 8. 879 Zur Bewertung des Göttlichen und der Affekte vgl. auch Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, XII, 19. 880 Vgl. Weinkauf, W. (2009), Die Philosophie der Stoa, Ausgewählte Texte, Stuttgart: Reclam, 194 f. 881 Zum Göttlichen in dir vgl. auch Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, III, 4 und II, 13. 882 Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, XII, 1. 883 Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, XII, 23.

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türlich Bedingten getroffen. Er folgt bedingungslos einer tief verankerten Vorstellung von Pflicht und Sinn seiner Existenz. In unbedingter Weise bejaht er seine Zugehörigkeit zum Logos, zur Weltvernunft und widersteht den Antrieben der durch seine Leiblichkeit bedingten Affekte. Die so in seinem Herzen erfahrene unbedingte Forderung gründet im Göttlichen und richtet sich an ihn als Menschen und Kaiser.

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Thomas Morus

Die dritte Persönlichkeit, an die wir die Frage nach der Existenz der unbedingten Forderung im Handeln von Menschen stellen wollen, ist der Heilige Thomas Morus. Er war einer der gebildetsten Bürger Englands, ein enger Freund des Humanisten Erasmus von Rotterdam und ist zweifellos eine der symbolträchtigsten Gestalten der abendländischen Geschichte. Die Untersuchung orientiert sich an einer Auswahl von Briefen 884, die von Thomas Morus zwischen November 1501 und dem 6. Juli 1535, dem Vortag seiner Hinrichtung, verfasst wurden.

8.1 Zur Biographie Der Inhalt der Briefe verweist – wie nicht anders zu erwarten – des Öfteren auf biographische Begebenheiten aus der damaligen Politik und der Familie des Autors. Um dem Leser eine angemessene Beurteilung und Gewichtung der zitierten Textstellen zu ermöglichen, ist eine ausführliche Schilderung der Lebensumstände des Humanisten nicht nur dienlich, sondern notwendig. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Englands und Europas zu Beginn der Neuzeit weichen von den uns heute bekannten Lebensbedingungen derart drastisch ab, dass deren – zumindest teilweise – Kenntnis als Verständnishintergrund erforderlich ist. Außerdem ist eine historische Einordnung der Personen, die im ereignisreichen Leben des Sir Thomas Morus eine wichtige Rolle spielten, für die Interpretation der Briefe un-

884 Insgesamt wurden von T. Morus wohl mehr als tausend Briefe verfasst. Davon sind uns 127 erhalten und die zugrunde gelegten 42 Briefe folgen der Auswahl und Übersetzung von Barbara von Blarer aus dem Jahre 1949, Köln: Einsiedeln. Im Folgenden zitiere ich die Briefe unter Angabe des Datums bzw. der Nummer und der Seitenzahl.

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erlässlich. Der gelehrte Heilige erschließt uns insbesondere durch seine späten Briefe einen tiefen Einblick in seine Gewissensangelegenheiten 885. Vor allem diese Passagen werden am deutlichsten erhellen, worin seine unbedingte Haltung wurzelt, die ihn letztlich sein Leben kosten wird.

8.1.1 Zwischen Klosterleben und politischer Karriere Der Sohn des angesehenen Richters John More kommt am 7. Februar 886 1478 in London auf die Welt. Zu dieser Zeit lebten in London etwa fünfzigtausend Einwohner, und das Königreich zählte etwa drei Millionen Untertanen. Die Bevölkerung litt unter den Folgen großer ökonomischer Umbrüche. Die sogenannte »Einhegung« 887 veränderte die bisherigen sozialen Strukturen. Das Stadtleben in London war von öffentlichen Bestrafungen und Hinrichtungen geprägt. Auspeitschungen, Brandmarkungen und das Abtrennen von Gliedmaßen gehörten zum üblichen Vorgehen gegen Bettler und Vagabunden. Zum Tode Verurteilte starben unter größten Qualen. Erhängen, Vierteilen und das Herausschneiden von Eingeweiden zählten zu den alltäglichen Methoden, um die Bevölkerung zur Gesetzestreue zu bringen. Der sogenannte kleine Mann war gottesfürchtig und stellte die gesellschaftliche Ordnung nicht in Frage, und die Furcht vor der Verdammnis im Jenseits war im Bewusstsein der Menschen allgegenwärtig. Zugunsten der Verheißungen im jenseitigen Paradies wurden so 885 Walter Nigg, ein bekannter Hagiograph, wählte für seine More-Biographie den Untertitel »Der Heilige des Gewissens«. Vgl. Nigg, W./Loose, H. (Hgg.) (1990), Thomas Morus. Der Heilige des Gewissens, Freiburg: Herder. 886 Hinsichtlich des genauen Geburtsdatums entstand im Laufe der verschiedenen Biographien etwas Verwirrung. Unter den neueren Biographen, so u. a. bei Herz, D. (1999), Thomas Morus zur Einführung, Hamburg: Junius und Marius, R. (1987), Thomas Morus, Zürich: Benziger, wird jedoch auf den 6./7. Februar des Jahres 1478 verwiesen. Chambers führt die unterschiedlichen Angaben auf Unachtsamkeiten unter den Tudor-Biographen zurück. Vgl. Chambers, R. W. (1946), Thomas More. Ein Staatsmann Heinrichs des Achten, München, Kempten: Kösel, 57 ff. 887 Wegen der begehrten Schafwolle war es für die Großgrundbesitzer profitabler, auf Weidewirtschaft und Schafzucht umzustellen. Dadurch verlor der Großteil der Landarbeiter seine Lebensgrundlage. Massen von hungernden Landarbeitern zogen deshalb elend durch das Land und hofften, als Arbeiter in den aufkommenden Manufakturen oder für eines der Landsknechtheere angeheuert zu werden. Vgl. Munier, G. (2008), Thomas Morus. Urvater des Kommunismus und katholischer Heiliger, Hamburg: VSA, 22.

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Zur Biographie

größte Ungerechtigkeiten und Leiden im täglichen Leben geduldig ertragen. 888 Allen Widrigkeiten des Alltags zum Trotz liebten die braven Untertanen ihren König. Er war es, der für den Schutz des Landes vor den Feinden Frankreich und Schottland stand. Thomas war durch seine Herkunft keiner großen Not ausgesetzt. Die Juristenfamilie verfügte über einen bescheidenen Wohlstand und gehörte zu der im Aufstieg begriffenen Bürgerschicht. 889 Der junge Thomas kommt zunächst für fünf oder sechs Jahre auf eine Lateinschule, bevor er am Hofe des Lordkanzlers und Erzbischofs von Canterbury, John Morton als Page seinen Dienst aufnimmt. Am Hof von Morton lernt Thomas alles, was zur höfischen Etikette zählt und was er über religiöse Feierlichkeiten und zeremonielle Handlungen wissen musste. Bei Roper lesen wir, dass der Bischof den Zögling stets lobte und voraussah, dass »dieser Knabe, der hier am Tisch bedient, zu einem hervorragenden Manne heranwachsen würde« 890. Weil dem Bischof die außerordentliche Begabung des Vierzehnjährigen für Latein und Rhetorik auffällt, schickt er ihn um 1492 zum Studium nach Oxford an das Canterbury College. 891 Danach beschäftigt sich Morus mit scholastischen Studien und tritt in das angesehene Lincoln’s Inn zum Studium der Jurisprudenz ein. Von 1499 bis 1503 zog sich der junge Jurist in ein Kloster der Kartäusermönche 892 zurück. Heinrich interpretiert diesen Schritt als eine Möglichkeit, seinem Verlangen nach Religiosität und Spiritualität gerecht werden zu können. 893 ObVgl. Munier (2008), 28. Vgl. Munier (2008), 32. 890 Roper, W. (1986), Das Leben des Thomas Morus, nach der Ausg. v. E. V. Hitchcock, Heidelberg: Lambert Schneider, 15. 891 Vgl. Munier (2008), 34. Es handelt sich um das heutige Christ Church College. Da das Universitätsregister von 1463 bis 1505 verloren gegangen ist, lassen sich die Fächer, die Morus belegte, nicht mehr genau feststellen. Zu seinen Lehrern zählten die beiden Frühhumanisten William Grocyn und Thomas Linacre. Die Universität stand zu dieser Zeit unter der Leitung der Benediktiner und Thomas konnte seinem Hang zu einem gottgefälligen und einfachen Leben nachgeben. Vgl. Munier (2008), 34. 892 Der Kartäuser-Orden zeichnete sich durch besondere Strenge und beharrliche Ablehnung jedweder Reformen aus. 1084 durch Bruno von Köln gegründet – der Ordensname geht zurück auf den Ort Chartreuse bei Grenoble –, schreiben die Regeln des Ordens ein streng eremitisches Leben vor. An sämtlichen kirchlichen Feiertagen wird ein strenges Fasten eingehalten und das härene Hemd getragen, welches die Haut wund scheuert und verletzt, um so Buße im Angesicht des Herrn zu tun. Vgl. Heinrich, H. P. (1984), Thomas Morus mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 20. 893 Vgl. Heinrich (1984), 20. 888 889

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Thomas Morus

wohl Morus strikt nach den Ordensregeln lebte, legte er kein Gelübde ab. 894 Munier glaubt, in der Faszination für Askese und Zurückgezogenheit bei Morus ein zeitlebens wirksames inspirierendes Element seiner Gedankenwelt zu erkennen, das jedoch nicht bestimmend für seinen konsequent politisch orientierten und weltzugewandten Lebensweg war. 895 Thomas Morus verlässt also die Klostermauern und wendet sich der Welt zu. Er heiratet 1504 Jane Colt 896 und zieht noch in der Regierungszeit Heinrich VII. ins Parlament ein. Nachdem der junge Parlamentarier mit einer zwar wortgewaltigen, jedoch jugendlich hitzigen Rede ein Anliegen des Königs abschmettert, bekommt Morus zum ersten Mal in seinem Leben die Folgen despotischer Allmacht zu spüren. Sein Vater wird in den Tower geworfen und nur gegen eine hohe Geldstrafe wieder auf freien Fuß gesetzt. 897 Mit seiner Frau hatte Morus vier Kinder. Seine 1505 geborene Tochter Margaret stand ihm bis zu seinem letzten Tage ganz besonders nahe. 898 Bei einem Besuch des Erasmus im Jahre 1509 übernahm dieser die Patenschaft über den in diesem Jahre geborenen einzigen Sohn des zärtlichen Familienvaters. 899 Wie einst die Akademie Platons, galt das Haus von Morus als eine berühmte Stätte des Lernens. Erasmus schreibt dazu begeistert: »Es gibt dort niemanden, der nicht alle Zweige der artes liberales studiert. Sie bemühen sich dabei vor allem um Tugend und Frömmigkeit. […] Jeder erfüllt seine Pflicht mit Eifer, und man vermisst dabei nicht einmal eine maßvolle Fröhlichkeit.« 900 Schirmer spricht gar von einem der »bemerkenswertes-

894 Vgl. Schirmer, R./Schirmer, W. (Hgg.) (1971), Thomas Morus Privat. Dokumente seines Lebens in Briefen, Köln: Hegner, 10. 895 Vgl. Munier (2008), 54. 896 Diese stirbt überraschend bereits 1511 und Morus heiratet kaum einen Monat später – um seiner Kinder willen – die sieben Jahre ältere Witwe Alice Meddleton. Vgl. Schirmer, R. und W. (1971) Thomas Morus Privat. Dokumente seines Lebens in Briefen. Köln: Hegner, 13. 897 Vgl. Munier (2008), 40. 898 Keinem seiner Kinder schrieb er so häufig stolzerfüllte, erfreute und besorgte Briefe wie seiner »carissima filia« Margaret. Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 20. Wir werden auch in dem nachfolgend untersuchten Briefwechsel auf einige dieser Briefe treffen. 899 Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 15. 900 Erasmus, zit. nach Heinrich (1984), 35 f. Vgl. außerdem Bemerkungen in Schirmer/Schirmer (1971), 16.

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Zur Biographie

ten englischen Haushalte seines Jahrhunderts« 901. Der streng gläubige Jurist hasste dabei die spätscholastischen, subtilen Kategoriendebatten und kam mehr und mehr ins Fahrwasser des Humanismus mit seinen Bildungsidealen und dem spezifischen Lektürekanon. 902 Der Bischof von Hippo war es jedoch, der zu dieser Zeit und wohl auch in den folgenden Jahren seine Geistesbildung wie kein anderer beeinflusste. Morus kannte das Gesamtwerk von Augustinus – seinem Lieblingsheiligen – nahezu auswendig. Der Gottesstaat ist in seinen Schriften das meist zitierte Werk. 903

8.1.2 Auf dem Weg zum Lordkanzler Seine beachtliche Karriere macht dieser im Königshaus durchaus schon bekannte 904 Thomas Morus im Dienste des Hauses Tudor. Als im November 1501 Prinzessin Katharina von Spanien in England eintraf, ließ er, wie die meisten Engländer seiner Zeit, großes Interesse an den Auftritten der königlichen Familie erkennen und schrieb in seinem ersten überlieferten Brief 905 an seinen früheren Lateinlehrer, dass er der beschlossenen Verbindung von Katharina und Arthur 906, dem Prinzen von Wales, sehr hoffnungsvoll gegenüberstünde. Diese Heirat sollte sich jedoch für den gottesfürchtigen Engländer bald als Quelle großen Unheils erweisen. Bereits im April 1502 starb Arthur, und Katharina hat zeitlebens behauptet, dass es ihrem Gemahl wegen seines Gesundheitszustandes nie möglich war, ihr sexuell beizuwohnen. 907 Nachdem der päpstliche Dispens 908 vorlag, wurde Heinrich,

Schirmer/Schirmer (1971), 15. Vgl. Munier (2008), 35. 903 Vgl. Marius (1987), 67. 904 Die überlieferte Geschichte, wonach Morus 1509 nach einem gemeinsamen Spaziergang mit Erasmus im Eltham Palace zusammen mit den Kindern Heinrich VII. zu Tisch saß, belegt diese Bekanntschaft. Vgl. Marius (1987), 77. 905 Vgl. Brief an John Holt, November 1501. 906 Arthur war der älteste Sohn Heinrichs VII. Es ist nicht viel von ihm überliefert. Bekannt ist, dass er ein kränkelndes Kind war, das an Diabetes oder Tuberkulose gelitten haben soll. Am Sonntag, den 14. November heiratete er im Alter von 15 Jahren die spanische Prinzessin. Vgl. Marius (1987), 78. 907 Vgl. Marius (1987), 78. 908 Papst Julius II., der Ende des Jahres 1503 zum Papst gewählt wurde, gewährte diesen Dispens. Dieser war nötig, da das kanonische Recht der Kirche – gestützt auf 901 902

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der neue Prinz von Wales, Katharina als neuer Gatte versprochen. Kurz nachdem Heinrich VIII. 1509 den Thron bestiegen hatte, fand schließlich auch die Trauung mit Katharina von Aragon statt. Für Thomas Morus ging es beruflich zunächst weiter steil bergauf. Von 1510 bis 1518 war er Under-Sheriff von London, bis er 1518 in den Kronrat berufen wurde. 909 Im Jahre 1514 wurde er Mitglied im prominenten Anwaltskolleg Doctor’s Commons und bereits im Jahr darauf gehörte er zu einer Gesandtschaft des Königs, die in Flandern mit dem Herzog von Burgund, dem späteren Kaiser Karl V., Wirtschaftsverträge zwischen England und den Niederlanden aushandeln sollte. 910 Seit 1515 war Thomas Wolsey, ein ruhmsüchtiger, aber politisch sehr talentierter Emporkömmling, Lordkanzler und Kardinal. Er galt als kluger Ratgeber und war bis zu seinem vorzeitigen Sturz 1529 der mächtigste Mann in der englischen Politik. 911 Der Einfluss des charismatischen Politikers auf das Leben von Thomas Morus war erheblich. 912 Wolsey förderte den Aufstieg des ambitionierten Engländers. Ohne dessen Zustimmung wäre Morus niemals Königlicher Rat geworden. Während der jahrelangen Zusammenarbeit war Wolsey immer der Vorgesetzte und Morus sein Untergebener. Beide dienten ihrem König treu und wurden schließlich von ihrem Herrn vernichtet. 913 Trotz aller Ergebenheit gegenüber dem König, wusste Morus immer dessen sehr wohl begrenzte Verlässlichkeit und Drang zu politischen Erfolgen richtig einzuschätzen. »Wenn ihm mein Kopf eine Festung in Frankreich eintragen würde, er würde rollen«, soll er zu William Roper 1524 währen des englisch-französischen Krieges gesagt haben. 914 Die nächste wichtige Stufe seiner politischen Karriere erklomm Morus 1522, als der ein Jahr zuvor zum Ritter geschlagene Politiker

dem 3. Buch Mose 20, 21 – die Heirat der Witwe seines Bruders verbot. Vgl. Munier (2008), 175 f. und Marius (1987), 79. 909 Vgl. Marius (1987), 87. 910 Vgl. Munier (2008), 68. 911 Vgl. Marius (1987), 90. 912 »Wir können uns nicht vorstellen, wie das Leben von Thomas Morus ohne Wolsey ausgesehen hätte.« Marius (1987), 92 913 Vgl. Marius (1987), 91. 914 Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 19.

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zum Sprecher des Unterhauses 915 gewählt wurde. 916 Zu Morus’ politischer Tätigkeit gehörten vorwiegend Verhandlungen mit englischen Kaufleuten, mit den Vertretern der Hanse, aber auch diplomatische Aufgaben auf höchster Ebene. 917 Noch unter Kardinal Wolseys Kanzlerschaft kam es zum Anstoß für das, was man von da an »the great matter« nannte: Heinrichs VIII. Bestreben, sich von seiner Gattin, Katharina von Aragon, scheiden zu lassen. König Heinrich, der nach der Totgeburt bzw. dem frühen Tod der Söhne zunehmend um seine Nachfolge besorgt wurde, nützte dieses böse Omen als himmlischen Fingerzeig zur Trennung. Sein Lordkanzler Wolsey unterstützte dieses Vorhaben, getrieben von der Aussicht auf eine Verheiratung mit dem französischen Königshaus, natürlich ohne Wissen davon, dass sich sein König bereits in die Hofdame Anne Boleyn verliebt hatte. Zwischen dem König und den ihm treu ergebenen Beratern entstand ein Machtkampf, der für Morus auf dem Schafott enden sollte. 918 Thomas Morus wurde von Heinrich VIII. mehrfach aufgefordert, sich mit Bischöfen und anderen Gelehrten in dieser Angelegenheit zu beraten. Morus erwies sich dabei stets als taktvoll und verschwiegen. Während sich Lordkanzler Wolsey in Rom um eine Annullierung der Ehe mit der Königin bemühte, machte ihn Anne Boleyn zunehmend für den erfolglosen Verlauf der Anstrengungen verantwortlich. Am 19. Oktober 1529 forderte der König schließlich seinen Kanzler zum Rücktritt auf und ernannte kurz darauf seinen treuen Unterschatzkanzler Morus zu dessen Nachfolger. 919 Für Morus, der zu diesem Zeitpunkt durchaus als versierter, in komplizierten Verhandlungen und Interessenausgleichen 915 In seiner ersten Rede plädiert er für Toleranz und Redefreiheit. »Die Sache ist so wichtig«, sagte er, »und die Ehrfurcht vor eurer gefürchteten Majestät so groß, daß die furchtsamen Untertanen nur dann befriedigt wären, wenn ihr in eurer gnädigen Milde eine solche, ihre ängstlichen Skrupel beseitigende Erklärung abgäbt und sie ermutigt und sicher macht.« Schirmer/Schirmer (1971), 18. 916 Vgl. Munier (2008), 69. 917 1520 begleitet er den König zu politischen Treffen mit Kaiser Karl V. in Canterbury und dem französischen Herrscher, Franz I., auf dem »Güldenen Feld« zwischen Calais und Boulogne-sur-Mer. Vgl. Munier (2008), 69 und Schirmer/Schirmer (1971), 18. 918 Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 25 f. 919 Der dadurch erforderliche Nachfolger Morus’ als Sprecher des Parlaments wurde der später im Zusammenhang mit seiner Verurteilung wichtige Thomas Audley. Er hatte den Präsidialvorsitz des Hochverratsprozesses gegen Morus und Bischof Fisher im Jahre 1535 inne. Vgl. auch Munier (2008), 305.

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außerordentlich erfahrener Politiker gelten durfte, begann nun die schwierigste Phase 920 seiner gesamten Karriere. 921 Im September 1530 begann der König seine »große Sache« weiter zu betreiben und beauftragte Gelehrte und Professoren verschiedener europäischer Universitäten, mittels eines Gutachtens sein Scheidungsanliegen zu beschleunigen. 922 Morus, der das entstehende Parteiennetz erkannte, vermochte den Gang der Dinge nicht mehr aufzuhalten. Im Gegenteil, er wurde entgegen seines Gewissens, quasi von Amts wegen, vom König aufgefordert, die Ergebnisse der Universitäten Cambridge und Oxford 923 dem Parlament zu berichten. 924 Dies war auch der Zeitpunkt, zu dem Morus den Herzog von Norfolk bat, sich für ihn beim König für seine Entlassung einzusetzen. 925

8.1.3 Vom Widerstand bis zur Hinrichtung Im Frühjahr 1532 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das dem Papst die bislang üblichen Annaten 926 der Bistümer entziehen sollte. Wer von da an dagegen verstieß, machte sich des Verstoßes gegen das Praemunire-Statut 927 schuldig. Dieser Beschluss sollte in den Augen 920 Morus ahnte, was auf ihn zukam, und bereitet die Seinen in Gesprächen über frühere Märtyrer auf das Mögliche vor. Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 34. 921 Die politischen Prioritäten Heinrichs – »die große Sache« und die Loslösung von Rom – machten Thomas Morus zum denkbar ungeeignetsten Kandidaten. Vgl. Munier (2008), 209. Während seiner folgenden zweieinhalb jährigen Amtszeit widmete sich Morus vornehmlich seinen Pflichten als hoher Richter, entschied so über Gesuche und führte langwierige Prozesse. Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 30. 922 Vgl. Munier (2008), 177. 923 Thomas Morus war seit 1524 der Kanzler der beiden Universitäten. Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 31. 924 Morus vertrat die Position, dass es dem König nicht etwa um die Liebe zu einer neuen Frau, sondern um den Verstoß gegen das Gebot Gottes (die Witwe seines Bruders geheiratet zu haben) ginge. Vgl. Ridley, J. (2005), Heinrich VIII. Die Biographie, Düsseldorf: Patmos, 221. 925 Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 31. 926 Dabei handelt es sich um den ersten Jahresertrag eines Bistums nach Ernennung eines neuen Bischofs. 927 Heinrich berief sich hierbei auf einen Erlass Eduards III., wonach sich jeder Kleriker strafbar mache, wenn er eine päpstliche Verfügung ohne Billigung des Königs befolge. Vgl. Hein, R. B. (2000), »Gewissen« bei Adrian von Utrecht (Hadrian VI.), Erasmus von Rotterdam und Thomas More: ein Beitrag zur systematischen Analyse des Gewissensbegriffs in der katholischen nordeuropäischen Renaissance, Studien zur Moraltheologie 10, Münster: LIT, 431 f.

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des Königs auch deutlich machen, wie sehr der Papst im Volke verhasst sei. Der Konfrontationskurs gegen den römischen Klerus wurde mit immer härteren Mitteln ausgetragen. Im Oberhaus wurden Petitionen hinsichtlich der Annaten des Klerus rundweg abgelehnt und auch im Kronrat stießen sie auf den Widerstand von Morus. Diese Positionierung des Lordkanzlers betrachtet Munier als den Beginn seines Abstieges. 928 Solange er keine legale Möglichkeit zur Annullierung seiner Ehe gefunden hatte, versuchte Heinrich noch, durch entschlossene und rücksichtslose Bekämpfung der Ketzer nach Rom zu signalisieren, wie sehr er doch der berufene »Verteidiger Gottes« sei. Thomas Morus kam ihm bei diesem Manöver durch seine unerbittliche Haltung 929 gegenüber den Häretikern sehr gelegen. Thomas Cromwell agierte als Gegengewicht dazu immer radikaler gegen den etablierten Klerus und es gelang ihm schließlich, das gegen Wolsey im Parlament verabschiedete Praemunire-Statut nach und nach auf den gesamten Klerus auszudehnen. In der Folgezeit vermochte es Cromwell schließlich einen Großteil der Kirchengüter zu konfiszieren 930 und konnte damit sowohl die Zustimmung des aufstrebenden Bürgertums gewinnen, als auch die Geldmittel der Krone vergrößern. 931 Am 15. Mai 1532 bestätigte die kirchliche Konvokation von Canterbury, dass der englische König von nun an ihr einziges Oberhaupt sei. 932 Einen Tag später trat Thomas Morus unter Angabe gesundheitlicher Gründe von seinem Amt als Lordkanzler Englands zurück. Im August 1532 wurde der ehemalige Beichtvater Anne Boleyns, Thomas Cranmer zum neuen Erzbischof von Canterbury ernannt. Er war es, der die wichtige Angelegenheit des längst zur Trennung von der katholischen Kirche entschlossenen 933 Königs zu einem für ihn guten Ende führen und die Scheidung von Katharina unter den Segen der Vgl. Munier (2008), 212. Morus hat aus Überzeugung eine große Anzahl von Häretikern auf den Scheiterhaufen geschickt. Wörtlich soll er gesagt haben: »Ich hasse diesen ganzen Menschenschlag so sehr, dass, wenn sie nicht wieder zu Sinnen kommen, ich ihnen so verhasst sein will, wie es nur geht.« Vgl. Munier (2008), 212. 930 Mehr als zwei Drittel des klösterlichen Bodenbesitzes wurden an Bürgerliche verkauft und bis 1549 waren alle 540 Klöster Englands aufgelöst. Vgl. Munier (2008), 212. 931 Vgl. Munier (2008), 212. 932 Dieses Datum ging in die englische Geschichte als der Tag der »Unterwerfung des Klerus« ein. Vgl. Munier (2008), 215. 933 Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 31. 928 929

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Kirchen stellen sollte. 934 Im Januar 1533 heiratet Heinrich VIII. schließlich Anne Boleyn, gestützt auf die Überzeugung seines neuen Erzbischofs, der päpstliche Dispens von 1503 hätte die Ehe mit Katharina nie für gültig erklären dürfen. Dies stellte für Papst Clemens einen Affront dar, auf den er aufgrund der höchstpersönlichen Weihe des Autors jener Zeilen jedoch nicht unmittelbar reagieren konnte. 935 Vom Nachfolger Clemens’, Papst Paul III. exkommuniziert, veranlasste Heinrich durch seinen Kronrat eine Verordnung, wonach der Papst künftig nur noch als »Bischof von Rom« bezeichnet werden durfte. 936 Morus friedlicher und unbekümmerter Rückzug wurde von der unaufhaltsamen Zuspitzung des Kirchenstreits durchkreuzt. Hinzu kam, dass der exponierte Humanist durch eine Vielzahl von kontroverstheologischen Schriften zum wichtigsten Verfechter des Katholizismus in ganz England wurde. Heinrich, der am liebsten jeden einzelnen seiner Untertanen dazu gezwungen hätte, seine Eheannullierung, die Regelung für die Thronfolge aus einem Nachkommen mit Anne Boleyn sowie die Ablehnung der päpstlichen Suprematie zu unterzeichnen, steuerte damit geradewegs auf Konfrontationskurs zu seinem ehemals treu ergebenen Lordkanzler. Die »Affäre Barton« 937 bot schließlich den gesuchten Anlass für den immer aggressiver vorgehenden Thomas Cromwell, durch eine juristisch geschickte Inszenierung den tiefgläubigen Morus ins Visier zu nehmen. Nach einem gescheiterten Versuch gelang es dem »Hammer der Mönche« schließlich eine »Bill of Attainder« durchzusetzen, ein Gesetz, das 934 Papst Clemens war unter der Voraussetzung, dass er wie üblich die Annaten des Bistums erhält, bereit, den gelungenen Schachzug des Königs durch die Weihe des als Lutheraner geltenden Geistlichen zum Erzbischof zu unterstützen. Vgl. Munier (2008), 213. 935 Cranmer erklärt am 23. Mai 1533 die Ehe von Heinrich und Katharina für nichtig. Es sei nur rechtens, sagte er, dass Heinrich sich weigere, weiterhin mit Katherina in gottloser Weise zusammenzuleben. Vgl. Munier (2008), 214. 936 Dies hatte den Hintergrund, dass der Papst dadurch, genau wie jeder andere Bischof außerhalb Englands, keinerlei Macht mehr ausüben durfte. Vgl. Munier (2008), 215. 937 Elizabeth Barton, genannt »Maid of Kent«, war eine englische Predigerin, die seit 1526 als Prophetin verehrt wurde. Im Trancezustand (vermutlich als Folge von Epilepsie) behauptete sie, sie hätte eine Erscheinung gehabt, wonach Heinrich VIII. sieben Monate nach seiner Neuverheiratung sterben müsse. Die Nonne wurde im Herbst 1533 verhaftet und schließlich wegen Hochverrats hingerichtet. Vgl. Munier (2008), 219.

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jeden, der den König nicht rechtzeitig vor den Offenbarungen der Nonne gewarnt hatte, unter Anklage stellte. Neben Bischof Fisher befand sich auch der Name von Thomas Morus auf der Liste der Namen, die dieses Vergehens verdächtigt wurden. 938 Erneut gelang es dem versierten Juristen durch wohlweislich aufbewahrte Dokumente und das »Angebot«, sich vor dem House of Lords selbst zu verantworten, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Doch gewarnt durch das bekannte Sprichwort: Indignatio principes mors est – des Fürsten Ungnade bedeutet den Tod –, 939 dämpfte er die Freude seiner Tochter Margret über die Streichung von der Liste der Verdächtigen mit den Worten: »Glaub mir Meg, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« 940 Im März 1534 erfuhr der Streit zwischen dem englischen König und der römischen Kirche seinen Höhepunkt. Die Bulle des Papstes traf ein und lehnte die Rechtmäßigkeit der Ehe mit Anne Boleyn ab. Damit war die endgültige Kirchenspaltung für Heinrich besiegelt. Noch im selben Monat wurde der »Act of Succession« – die Anerkennung der rechtmäßigen Thronfolgeansprüche der Kinder aus der Ehe mit seiner zweiten Frau – im Parlament verabschiedet. Darin wurde ebenfalls die Eheannullierung für rechtmäßig erklärt und die Aberkennung der päpstlichen Suprematie über die englische Kirche rechtlich verankert. 941 Die Verpflichtung zum Eid auf dieses Gesetz war allerdings nicht enthalten. 942 Gerade einmal vier Wochen später, am 12. April 1534, erhielt Thomas Morus eine Vorladung vor die königliche Kommission, um dort seinen Eid auf die Inhalte des »Act of Succession« abzulegen. 943 Am folgenden Tag verabschiedete er sich von den Seinen, ging zur Themse hinunter und betrat gemeinsam mit seinem Schwiegersohn, William Roper, das wartende Boot. Nachdenklich in sich gekehrt wandte er sich an seinen Begleiter und sagte leise: »Sohn, Roper, ich habe überwunden.« »The field is won.« 944 Vor der Kommission galt es nun zu beeiden, dass nicht der Papst in Rom, Vgl. Munier (2008), 218 ff. Vgl. Roper (1986), 62. 940 33, August 1534, 174. 941 Vgl. Munier (2008), 220 sowie Schirmer/Schirmer (1971), 39. 942 Dies stellt eine wichtige Tatsache für den späteren Begründungskontext für die Unrechtmäßigkeit der Anklage dar. 943 Im Prinzip waren alle drei Millionen Untertanen der Krone zu dieser Eidablegung aufgefordert. Heinrich begann dabei mit den bedeutendsten Geistlichen, Beamten und Politikern. Bis Ende Juli 1534 kamen mehr als 7300 der wichtigsten Persönlichkeiten des Landes diesem Aufruf nach. Vgl. Munier (2008), 222. 944 Schirmer/Schirmer (1971), 40. 938 939

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sondern ein weltlicher Fürst, der König von England, das rechtmäßige Oberhaupt der englischen Kirche sei. 945 Der strenggläubige Katholik und erbitterte Feind aller Häretiker konnte sein vor langer Zeit gegebenes Treueversprechen vor Heinrich VIII. in dieser Angelegenheit nicht einlösen. Daraufhin wurde Thomas Morus wenige Tage vor dem Bischof John Fisher in den Tower von London gebracht. Mit dem Brief an seine geliebte Tochter Margret, datiert auf diesen denkwürdigen Tag, beginnt eine Reihe von Briefen, geschrieben in den einzelnen Phasen der Kerkerhaft, die unter anderem vom herzzerreisenden Kampf der Tochter um ihren Vater handeln, der sich auf kein Gesetz, keine Verfügung berufen kann, sondern allein auf die Stimme seines Gewissens hört, dessen er so sicher ist »wie Gottes im Himmel« 946. Sir Thomas More zählte zusammen mit einigen Kartäusermönchen und Bischof Fisher zu den wenigen Personen des Landes, die den Eid verweigerten. Die ihm nun verbleibenden 15 Monate bis zu seiner Hinrichtung sind ein einziges Zeugnis grausamster, despotischer Willkür. 947 Mehr noch als die Enge seiner Zelle und die schmale Kost belastete den humanistischen Gelehrten der Entzug seiner Schreibutensilien. So kam es, dass seine letzten Briefe nur als holzkohlebeschriebene kleine Kassiber überliefert sind. Margaret, die alles unternahm, um ihren Vater in dieser Zeit doch noch umzustimmen, hatte offensichtlich – wie auch der Rest der Familie – große Schwierigkeiten, die Gewissensentscheidung ihres geliebten Vaters mitzutragen. 948 Während seiner Gefangenschaft entstanden neben den 945 Hier gibt es bis heute eine historische Ungewissheit, die sich nicht mehr aufklären lässt: Vermutlich wurde den einfachen Untertanen der Krone das Angebot gemacht, den Eid mit der Zusatzformel »soweit es das Gesetz Christi erlaubt« im Hinblick auf den König als Oberhaupt der Kirche zu unterschreiben. Jedenfalls hat Morus Lieblingstochter Margaret nach eigenem Bekunden mit dieser Vorbehaltsklausel (as far as would stand with the law of God) dem Eid zustimmen dürfen. Morus, Fisher und der mit ihnen zusammen eingekerkerte Dr. Nicholas Wilson, der ehemalige Beichtvater des Königs, sollten aber wohl gezwungen werden, den Eid ohne die Vorbehaltsklausel zu unterzeichnen. 946 Schirmer/Schirmer (1971), 41 sowie 33, August 1534, 176. 947 Bereits die Verhaftung war nach den geltenden Rechtsmaßstäben unzulässig, da zur Rechtfertigung der Einkerkerung eine Hochverratsanklage hätte vorangehen müssen, nicht jedoch eine einfache Eidesverweigerung. Morus war aber lange genug Berater des Königs, um zu wissen, wie wortbrüchig die Rechtsprechung unter einem absolutistischen Monarchen war. Vgl. Munier (2008), 223. 948 Vgl. Munier (2008), 223.

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Briefen auch Gebete und Traktate, unter anderem ein Trostdialog gegen Trübsal und ein Traktat über die Passion. 949 Der erfahrene Jurist vermied in den wiederkehrenden Verhören auf die Frage nach den Gründen seiner Verweigerung jede Art von Konkretisierung hinsichtlich der Eidformel. Nur durch hartnäckiges Schweigen konnte er den Vorwurf der »böswilligen« 950 Ablehnung abwenden. Während dieser Zeit wurde Cromwell von Heinrich beauftragt, dem gesamten Klerus den einschlägigen Eid abzuverlangen. Eine daraufhin ausgelöste Verhaftungswelle brachte auch Vater Reynolds von Sion und drei Kartäuserprioren in den Tower. 951 Trotz der unvorstellbaren Grausamkeiten blieb Morus standhaft und verweigerte jede verwertbare Aussage. Das einzige, worauf der von Krankheit zunehmend gezeichnete Häftling beharrte, war, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Er erklärte aber immer wieder: »Wahrhaftig, ich werde Zeit meines Lebens nie auf Befehl einen Eid schwören.« 952 Der ergebene Christ Morus bezweifelte lange, ob er nicht unter schwersten Misshandlungen doch noch zusammenbrechen würde. Er schämte sich sogar seiner Angst vor Schmerzen und äußerte der Tochter gegenüber: »Ich habe mehr Angst vor Schmerz und Tod, als es sich für einen gläubigen Christen gehört.« 953

Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 44. Einer Gruppe von Parlamentariern, zu der auch die Schwiegersöhne Morus gehörten, gelang es bei dem entscheidenden Gesetz einen Zusatz durchzusetzen, der nicht die einfache Verweigerung, sondern nur die Ablehnung in Verbindung mit einer erkennbar bösen Absicht zu einem hinreichenden Grund für die Anklage wegen Hochverrats erklärte. Dies führte jedoch zu pausenlosen Verhören in Verbindung mit einer ausgeprägten Zermürbungstaktik. Vgl. Munier (2008), 228. 951 Die Mönche, die keinerlei Rücksicht auf juristische Finessen nahmen, wurden nach ihrer frühzeitigen Verurteilung auch als Mittel zur Einschüchterung der verbleibenden Gefangenen missbraucht. Unvorstellbare Bilder wurden so auch Thomas Morus zugemutet. »Nachdem man sie unter den Galgen geschleift hatte, ließ man die Verurteilten einen nach dem anderen auf einen Karren steigen, der unter ihnen weggezogen wurde, so dass sie hingen; danach wurde sofort der Strick durchgeschnitten, und man richtete sie auf und stellte sie an einer dafür vorgesehenen Stelle auf, um sie stehend zu erhalten und ihnen die Schamteile abzuschneiden, die ins Feuer geworfen wurden; man schnitt sie (noch lebend) auf und riss ihnen die Eingeweide heraus; hierauf wurde ihnen der Kopf abgeschlagen und ihre Körper gevierteilt. Zuvor hatte man ihnen das Herz herausgerissen und ihnen damit den Mund und das Gesicht eingerieben.« Augenzeugenbericht, zit. nach Heinrich (1984), 123 f. 952 Heinrich (1984), 128. 953 Heinrich (1984), 124. 949 950

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Thomas Morus

Wenn du einen qualvollen Tod auch gerne fliehen möchtest, so kann dich doch die Betrachtung des großen und furchtbaren Todeskampfes Christi trösten. […] Welches Grauen wir auch in unseren Sinnen empfinden mögen, mit seiner Hilfe werden wir doch seinetwegen eher alle Torturen ertragen, die der Teufel mit seinen Folterknechten in dieser Welt auch ersinnen könnte, als ihn und seinen Glauben vor der Welt zu verleugnen. 954

Am 17. Juni 1535 wurde Bischof Fisher wegen Hochverrats abgeurteilt und am 22. Juni enthauptet. 955 Für den nur wenige Tage später anberaumten Hochverratsprozess gegen Morus fehlte den Anklägern jede konkrete Aussage, die als Nachweis für die entscheidende »böse Absicht« hätte herangezogen werden können. Das Gericht half sich kurzerhand mit einer meineidigen Falschaussage des Kronanwalts Lord Rich, der behauptet, Morus in seiner Zelle besucht und in ein Gespräch verwickelt zu haben. Darin habe Morus angeblich zugegeben, dass das englische Parlament nicht das Recht habe, den König zum Oberhaupt der Kirche zu ernennen. 956 Bevor der zum Tode Verdammte jedoch abgeurteilt wurde, bestand er auf sein Recht zur letzten Anhörung vor dem Gericht: Da ich sehe, dass ihr entschlossen seid, mich zu verurteilen, […] will ich nun zur Erleichterung meines Gewissens meine Meinung wider die Anklage und das Statut offen und frei darlegen. Weil diese Anklage auf eine Parlamentsakte gegründet ist, die in unmittelbarem Widerspruch zu den Gesetzen Gottes und seiner heiligen Kirche steht, deren höchste Leitung sich kein weltlicher Fürst auf Grund irgendeines Gesetzes in ihrer Gesamtheit oder auch nur in Teilen anmaßen darf, da sie von Rechtswegen dem Heiligen Stuhl in Rom als ein geistlicher Vorrang zusteht, der dem heiligen Petrus und seinen Nachfolgern, den Bischöfen eben jenes heiligen Stuhles, durch den Mund unseres Heilands selbst als ein Privileg zuerkannt worden ist, darum ist dies kein Gesetz, auf Grund dessen ein Christ von Christenmenschen unter Anklage gestellt werden kann. 957

Heinrich (1984), 126. Eine Enthauptung stellte in Anbetracht der üblichen Hinrichtungsart für des Hochverrats Verurteilte eine Art Gnadenakt dar. Vgl. Munier (2008), 230. 956 Vgl. Munier (2008), 230 und etwas ausführlicher Schirmer/Schirmer (1971), 48. 957 Zit. nach Heinrich (1984), 133. 954 955

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Das Unbedingte in den Briefen

Auf diese Worte folgte am 1. Juli 1535 in einem Gerichtssaal des Westminsters 958 die Verurteilung von Thomas Morus wegen Hochverrats durch den Lordkanzler Thomas Audley. 959Am sechsten Juli 1535 wurde der bis in den Tod treue Diener Gottes zum Schafott 960 geführt und vor den Augen zahlreicher Anwesender enthauptet. 961

8.2 Das Unbedingte in den Briefen Eine derart ausführliche biographische Einleitung war nötig, um die unbedingte Forderung als philosophisches Konzept in Morus’ Briefen aufzeigen zu können. Hierzu folgt nun der Versuch, aus 42 ausgewählten Briefen des Thomas Morus, die dieser zwischen November 1501 und dem Vortag seiner Enthauptung schrieb, überzeugende Nachweise seiner unbedingten Haltung aufzuweisen. Eine Haltung, die es ihm, gestützt auf einen unerschütterlichen Glauben, ermöglichte, seine Liebe zu seiner Familie und die Treue gegenüber seinem König unter die Macht einer alles überragenden Verpflichtung zu stellen. Die Klarheit und die Entschlossenheit, die aus seinen überlieferten Zeilen hervortritt, wird insbesondere vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte des 1935 heiliggesprochenen Thomas Morus zu einem beeindruckenden Zeugnis einer »übermenschlichen« Glaubenskraft. Quelle und Maßstab seiner unbeirrbaren Haltung war sein Gewissen. Je enger sich das Netz der antipapistischen Politik des Königs um den ehemaligen Lordkanzler schloss, desto größer wurde die existentielle Bedeutung des Inhalts seiner Gewissensüberzeugung. Es ist diese sittliche Instanz, die als hinreichende Begründung für die beispiellose Unbedingtheit seiner Haltung gegenüber Gesetz und König angesehen werden kann. Sie gilt es deshalb im Folgenden genau zu analysieren. Aus den Briefen des Humanisten geht überdeutlich hervor, dass seine Handlungslegitimierung aus einer inneren sittlichen Urteilsinstanz heraus erfolgt. Während der Zeit seiner Verteidigung und 958 Es handelte sich dabei um denselben Saal des Gerichtshofes, dem der Vater von Morus als Richter angehörte. Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 50. 959 Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 51. 960 Auch ihm wurde die »Gnade« zuteil, enthauptet und nicht, wie die Kartäusermönche, zerstückelt und langsam zu Tode gequält zu werden. Vgl. Munier (2008), 23. 961 Als letzte Worte finden wir bei Roper, Morus »sterbe als treuer Diener des Königs, aber Gottes Diener zuerst«. Roper (1986), 84.

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Thomas Morus

Rechtfertigung vor sich, seiner Familie und den Vertretern des Königs wird das Wort conscientia bzw. conscience zum zentralen Terminus seiner Äußerungen. 962 Morus setzt sich dabei nicht nur mit der für ihn offenkundigen inhaltlichen Bedeutung, sondern auch und vor allem mit der entscheidenden Frage der sittlichen Verbindlichkeit in Bezug zu positiven Rechtsvorschriften auseinander. 963

8.2.1 Die Evaluierung des Gewissens Der Jurist Thomas Morus kann dem Gewissen alleine nicht die ultimative normative Autorität in Staat und Kirche zusprechen. Die Führung durch die ratio reicht letztlich nicht aus, um ein Gemeinwesen ohne Gesetze zu führen. Es bedarf letzten Endes staatlicher Instanzen, die den Ratschluss der praktischen Vernunft des Einzelnen maßregeln und ihn zur Rechenschaft ziehen können. 964 Der Normativität des Gewissens ist somit durch allgemeine Übereinkünfte, ausgedrückt im Gewohnheits- oder im positiven Recht, eine Grenze gesetzt. Die heilsrelevante Weisungsbefugnis und Erkenntnisfähigkeit des Gewissens müssen in Übereinstimmung stehen mit dem Glauben und der Lehre der Kirche, insofern sie der Wahrheit Christi entsprechen. 965 ›Ei, Margaret‹, erwiderte da mein Vater, ›die Rolle, die du übernahmst, spielst du nicht schlecht. Was die Gesetze dieses Landes angeht, so ist wohl jeder Staatsbürger verpflichtet, sich ihnen unter allen Umständen zu unterwerfen, oder aber er zieht sich die gesetzlich festgelegte Strafe oder sogar das Mißfallen Gottes zu. Es ist aber kein Mensch verpflichtet zu beschwören, daß jedes Gesetz gut ist; er vergeht sich auch nicht gegen ein Gebot Gottes, wenn er in einem Punkt, den er für unbedingt ungehörig hält, seinen Gehorsam verweigert. Jedermann weiß genau, daß in der ganzen Christenheit kein solches Gesetz herausgegeben werVgl. Hein (2000), 366. Vgl. 33, August 1534, 161. 964 »[N]eque sola ratio praescribit formas discriminandi proprij: nisi rationi consensus accedat, atque is in communi forma commercij mutui publicus: qui consensus aut coalescens usu, aut expressus litteris, publica lex est.« More, Responsio ad Lutherum I, 18, in: Martz, L. L. (1965), Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More, New Haven, London: Yale University Press, zit. aus Hein (2000), 419. 965 Dieses Konzept spielt vor allem bei den kontroverstheologischen Aktivitäten des bedeutenden Politikers eine wesentliche Rolle. Die Berufung der Häretiker auf ihr Gewissen war nur unter diesen Prämissen keine hinreichende Rechtfertigung. 962 963

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den kann; nur ein allgemeines Konzil ist über derartigen Irrtum erhaben.‹ 966

Hier wird die der Gültigkeit unterschiedlicher Anspruchsebenen mit moralischer Relevanz reflektiert. Morus ist sich sehr wohl im Klaren darüber, dass Prämissen erfüllt sein müssen, nämlich die subjektive Überzeugung, dass es sich um »unbedingt ungehörige Punkte« handelt. 967 Was jedoch hinreichende Kriterien für diese Prädizierung sein könnten, erfahren wir erneut aus einem Brief an seine geliebte Tochter Margret, die immer wieder mit großem argumentativen Geschick getragen von der Zuneigung zu ihrem Vater versucht hat, das rationale Gebäude seiner Überzeugung zu erschüttern. Morus berichtet ihr an dieser Stelle erneut aus einem Verhör, in dem er dem königlichen Sekretär, Cromwell, antwortet: Kein Mensch ist durch das Gesetz eines einzelnen Staates stärker gebunden als durch ein Gesetz, das die ganze Christenheit verpflichtet. 968 Ich fühle mich nicht verpflichtet, mein Gewissen nach den Befehlen des königlichen Rates zu richten, da ihnen doch die Auffassung der ganzen Christenheit entgegensteht. 969

Im Kern fordert der Gelehrte hier die uneingeschränkte Bindung des Gewissens an die lex divina. Die Autorität einer Gemeinschaft konstituiert sich durch die Übereinkunft der Gesamtheit seiner Mitglieder. Da es sich im Falle der Suprematie 970 des Papstes um eine kirchenrechtliche Fragestellung handelt, ist diese Gesamtheit der Mitglieder identisch mit der Gemeinschaft aller Gläubigen. Sind die nötigen Voraussetzungen gegeben, 971 entscheidet die Gemeinschaft

33, August 1534, 172. Offen bleibt freilich, warum Morus an anderer Stelle während seines Verhöres vor dem Erzbischof von Canterbury und der königlichen Kommission (vgl. Kapitel 8.1.3) aussagte, er könne keinen verurteilen, der den Eid leistete. Vgl. 29, 17. April 1534, 151. Diese Toleranz dürfte nach der Erfüllung der von ihm selbst explizierten Prämissen zumindest fragwürdig sein und diente möglicherweise eher taktischen Überlegungen für seine Verteidigung. 968 3. Juni 1535, 207. 969 17. April 1534, 152. 970 Morus macht in seinen Briefen deutlich, dass es gerade die Anerkennung des königlichen Supremats ist, die er mit seinem Gewissen niemals vereinbaren könne. Vgl. 17. April 1534, 149. 971 Morus beschreibt in einem seiner Briefe die Voraussetzung für ein Konzil, das für alle Christen verbindliche Entscheidungen treffen soll. Hier nennt er die rechtmäßige Versammlung (lawfully assembled) und die Allgemeinheit (general) des betreffenden 966 967

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der Christen, vom Geist Gottes bewegt und unterstützt, in höchster Autorität. 972 Handelt es sich demnach um einen von dieser Autorität gefassten Beschluss, ist die subjektive Meinung (auch nach einer möglicherweise eingehenden Gewissensprüfung) der normativen Gültigkeit dieses Urteils unterzuordnen. 973 Wenn sich jemand auf seine eigene Meinung stützt und sich mit einem kleinen oder großen Anhang gegen eine von einem allgemeinen Konzil anerkannte Wahrheit des christlichen Glaubens äußert, so dürfte man eine solche Haltung gewiß nicht anerkennen. 974 Ich habe nie daran gezweifelt, daß man die auf einem ordentlich einberufenen Konzil bestimmten Glaubenssätze unbedingt zu befolgen hat; wir dürfen doch die Unfehlbarkeit eines allgemeinen Konzils nicht in Frage stellen. 975

Der Inhalt der eigenen Gewissensüberzeugung verliert demnach im Fall eines gültigen Konzilsbeschlusses seine bestimmende sittliche Relevanz. Trotz dieser kritischen Begrenzung der legitimen Berufungsmöglichkeiten auf das Gewissen bezieht sich der gläubige Humanist fortwährend auf dieses, um sich vor dem Staat, seiner Familie und der Welt für seine Haltung zu rechtfertigen.

8.2.2 Die Superiorität des Gewissens Der einstige Lordkanzler Heinrichs VIII. leidet offenkundig unter dem resultierenden seelischen Konflikt. Sein Leben war geprägt von

Konzils. Vgl. Brief Rogers, 516/66–71, zit. aus Hein (2000), 460 und 5. März 1534, 145. 972 »[…] aber der Heilige Geist, der die Kirche lenkt und leitet, ließ es nie zu, daß der Christenheit ein Konzilsbeschluß verkündet wurde, der Gott mißfiel und nicht in Einklang mit seinen Geboten gebracht werden konnte.« 33, August 1534, 172. 973 Es ist dieser exegetische Begründungscharakter, der uns veranlasst, die Kriterien einer eng gefassten postkonventionalen Urteilsbildung in Frage zu stellen. Morus bezieht sich in seiner Urteilsbegründung gerade nicht auf eigene Einsichten in prinzipielle Zusammenhänge sittlicher Ordnung, sondern legitimiert seine (Gewissens-) Urteile durch die Konformität mit höheren Autoritäten (Gott, Papst, Konzil). Vgl. dazu 5. März 1534, 145, 33, August 1534, 172 und seine »Hoffnung auf den Himmel« 31, Mai 1534, 155. 974 33, August 1534, 174. 975 5. März 1534, 145.

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der Bewunderung des Monarchen, 976 dem er so viel zu verdanken hatte. Er ermöglichte ihm eine Karriere, die ihn schließlich in das höchste weltliche Amt des Staates führte, sorgte bis zu seinem Rücktritt für ein wirtschaftlich sorgenfreies Leben und Wohlstand für seine ganze Familie. Dennoch konnte und wollte er sich der in großer Klarheit empfundenen sittlichen Pflicht nicht entziehen. Meine Tochter Margret, wir haben diese Dinge mehr als ein- oder zweimal besprochen; dieselbe Geschichte, dieselben Befürchtungen hast du mir schon erzählt. Jedesmal erklärte ich dir, daß kein Mann den Eid mit mehr Freude beschworen hätte als ich, wenn ich eine Möglichkeit sähe, des Königs Wille zu erfüllen, ohne gleichzeitig Gott zu beleidigen. Mehr als alle übrigen Menschen fühle ich mich der königlichen Hoheit zutiefst verpflichtet für die vielen außerordentlichen Gunstbezeugungen, die ich zu allen Zeiten genießen durfte. Aber ich muß mich doch an mein Gewissen halten, weshalb mir gar keine andere Handlungsmöglichkeit offensteht. 977

Thomas More nimmt hier nicht Bezug auf den Vorrang einer lex divina, die per se keiner Gewissensprüfung im engeren Sinne bedürfte, sondern beruft sich erneut auf sein Gewissen, womit er unter Berücksichtigung des Vorgenannten eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen beiden ausdrückt. Obwohl die Unvereinbarkeit zwischen der Beschlusslage der Gemeinschaft der Gläubigen und dem nur partiell legitimierenden Parlamentsbeschluss bereits hinreichend für die Ablehnung der Suprematie wäre, nennt der gelehrte Jurist weitere Gesichtspunkte für die Legitimierung der Superiorität seines Gewissens. So darf das Gewissen sich nicht aktiv gegen die staatlichen Organe wenden. Dies wäre in seinen Augen ein Zeichen von Böswilligkeit – was wiederum ein sicheres Zeichen für ein fehlgeleitetes Gewissen wäre. Einem guten Gewissen muss somit immer ein guter Wille vorangehen, eine sittlich gute Grunddisposition. 978 Thomas verdeutlicht dies in einem Brief an Thomas Cromwell: […] ich kann Gott nur bitten, daß er jeden Skrupel und jeden Zweifel an meiner Ehrlichkeit von des Königs Herz nehme; er möge sich über-

976 Nach dem Tod des Vaters Heinrich VII. verfasste Morus bekanntlich ein Krönungsgedicht an den Nachfolger, in dem er vom rühmlichsten aller Könige spricht, der nicht nur ein Volk, sondern die ganze Erde zu regieren geschaffen schien. Vgl. Schirmer/Schirmer (1971), 11 f. Außerdem vgl. 5. März 1534, 142. 977 33, August 1534, 161. 978 Vgl. Hein (2000), 462.

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zeugen lassen, daß ich wirklich nichts Böses vorhatte, im Gegenteil nur das Gute erstrebte […]. 979

Eine weitere Bedingung für die bindende Wirkung des Gewissens sieht Morus offenkundig in der eingehenden rationalen Überprüfung aller Aspekte, die freilich vom sachlichen Informationsstand und der Kenntnis der moralischen Prinzipien abhängt. 980 Thomas Morus erklärt in einem Brief an seine Tochter: […] trotzdem bot ich aber dem Rat sehr schweren Herzens an, mit der Erlaubnis ihrer Hoheit und auf ihren Befehl, die mich vor ihrer Ungnade bewahren sollten, die verschiedenen Punkte anzugeben, die mein armes Gewissen hinderten, den Eid abzulegen. Ich erklärte mich bereit, ihrem langen Drängen endlich nachzukommen, wenn sie mit stichhaltigen Beweisen meine Ansichten berichtigen könnten, so daß mein Gewissen keine Hindernisse mehr sähe. 981

In einem weiteren Brief an Margaret schreibt er: Wenn er Gefahr sieht, so ist er verpflichtet, sein Gewissen zu formen, indem er guten Rat einholt und sich über die schwierigen Seiten der Frage genau unterrichten läßt. Er muß überzeugt sein […]. 982

Zusammengefasst erfordert die Verbindlichkeit des eigenen Gewissens also, dass es erstens einer durch ein allgemeines Konzil festgelegten Lehre nicht widerspricht, dass es zweitens keinen aktiven aufrührerischen Widerstand gegen die staatliche Ordnung (Böswilligkeit) propagiert und dass es drittens gründlich informiert ist. 983 Für Thomas Morus ergibt sich demnach eine zweifache Begründungsbasis für seine kategorische Ablehnung, das vorgelegte Gesetz zu beeiden. Zum einen sind es seine eigenen Schlussfolgerungen und Überzeugungen (subjektiver Gewissensinhalt) und zum anderen die von subjektiven Reflexionen unabhängige kirchenrechtliche Bindung, die sich aus seinem Christsein per se ergibt. Sollte eine Gewissensüberzeugung auf diesen Prämissen beruhen, so hält dieses vernunftgemäße Resultat eine unbedingte Ver5. März 1534, 138. Vgl. dazu auch Thomas, Summe der Theologie, I-II, q. 19 aa. 5–6, q. 90 a. 1. Das Gesetz ist generell der Vernunft zugehörig, aber selbst ein irriges Gewissensurteil (conscientia erronea) bindet. 981 36, 1534, 190. 982 37, 1534, 196. Über die Sicherheit, dass diese Formung des Gewissens ausreichend stattgefunden hat, um ihm bedingungslos zu vertrauen, vgl. 3. Juni 1535, 208. 983 Vgl. auch Hein (2000), 462 f. 979 980

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pflichtung für den betreffenden 984 Menschen. Unbedingt deshalb, weil es dann um nichts weniger als den Heilszustand der eigenen Seele geht.

8.2.3 Der Zusammenhang von Gewissen und Heilszustand Aus dem gläubigen Humanisten spricht die tiefe Gewissheit, dass die Kongruenz zwischen Handeln und Gewissen unmittelbar den Heilszustand seiner Seele bestimmt. So sehr ihm diese Überzeugung eine emotionale Zerrissenheit schafft, so radikal ist er doch in der Bereitschaft, diese ethische Norm über alle möglichen Konsequenzen im Diesseits zu stellen. Zu spät, meine Tochter? Ich flehe zu Gott, daß keine praktische Möglichkeit einer Rettung mehr bestehen möge, wenn ich meinen Sinn doch noch ändern wollte. Denn jede andere Haltung kann mein Seelenheil nur gefährden, besonders, wenn sie einem bloßen Angstgefühl entspringt. Deshalb möge Gott mir die Kraft verleihen, meinen bisherigen Einsichten treu zu bleiben. Je mehr Schaden ich in meinem Leben nehme, desto besser wird es mir im jenseitigen Leben ergehen. Müßte ich fürchten, schwach zu werden, zu fallen und aus lauter Angst den Eid anzunehmen, so kann ich mir nur wünschen, vorher wegen meiner bisherigen Weigerung vom König bestraft zu werden; dann dürfte ich vielleicht von Gott die nötige Gnade zu weiterer Standhaftigkeit erhoffen. 985

Morus war zweifellos ein Mensch, der das Leben bejahte. Doch für die unumstößliche Norm (sein Gewissen) ist er bereit, »lieber auf Güter, Ländereien und wenn es sein muß auch auf das Leben zu verzichten, als durch einen falschen Schwur […] [seine] Seele in Gefahr zu bringen.« 986 Der Familienvater machte es sich dabei aber niemals leicht und war sich seiner Verantwortung im Leben und insbesondere seiner Familie gegenüber stets bewusst. Dies zeigt sich eindrücklich, wenn er bei seiner Tochter um Verständnis wirbt: In manch einer ruhelosen Nacht, während meine Frau schlief und auch mich schlafend wähnte, überdachte ich alle Gefahren, die mir begegnen 984 »Ich mische mich aber nicht in die Gewissensangelegenheiten der anderen Menschen ein; denn ›jeder steht und fällt seinem [sic!] eigenen Herrn‹, wie der hl. Paulus sagt; ich will über niemanden richten.« 3. Juni 1535, 208. 985 33, August 1534, 178. 986 33, August 1534, 176.

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könnten; ich zog alle Möglichkeiten in Betracht – selbst das größte Unglück kann mich nicht unvorbereitet treffen. Oft wurde das Herz mir schwer bei solchen Gedanken; aber nicht einmal das atemraubendste Angstgefühl konnte mich zu einer Sinnesänderung bringen. 987

Beispiellos vertritt der tiefgläubige Christ die letztlich in seinem Glauben wurzelnde sittliche Unbedingtheit, wenn er schreibt: Ich mußte mir aber sagen, daß in dieser Gewissensentscheidung mein Leib nur unter der Preisgabe meines Seelenheils gerettet werden kann. Schließlich unterlag aber in diesem Widerstreit Gott sei Dank mein furchtsames Herz; die Vernunft kam mit Hilfe des Glaubens zum Schluß, daß der Mensch sein Leben ohne Nachteil hingibt, wenn er ungerechterweise den Tod erleidet. 988 Daraus kann kein weiterer Schaden erwachsen – im Gegenteil, aus Gottes Hand wird er unschätzbare Wohltaten erfahren. Ich bin von der Rechtlichkeit meiner Handlungsweise überzeugt; ich bin doch nicht verpflichtet, die Haltung meines Gewissens zu ändern, wenn ich meine Seele dadurch in Gefahr bringe, sollte ich auch ohne gesetzliche Verurteilung oder auf Grund eines nur gegen mich verfaßten Gesetzes getötet werden. 989

Die Kraft für diese unvergleichliche Apologie des Gewissen 990 schöpft der standhafte Christ aus der existentiellen Gewissheit, dass ihn nach seinem irdischen Dasein ein überirdisches »Leben« bei Gott erwartet, worin sein Seelenheil besteht. 991 Aber wenn wir einmal sterben müssen und vor Gott Rechenschaft abzulegen haben, so wird er euch in den Himmel eingehen lassen, weil ihr eurem Gewissen gemäß gehandelt habt. 992

Am Vortag seiner Hinrichtung ist das Herz des Vaters von der Liebe zu seiner Tochter und der Dankbarkeit über ihre Treue erfüllt, die zuletzt auch im Respekt vor seiner unbedingten sittlichen Haltung bestanden hat.

33, August 1534, 178. Dieser Teil des Zitats lässt besonders auf eine duale Güterordnung bei Morus schließen. Vgl. dazu Kapitel 10.1.4. 989 36, 1534, 192. 990 Vgl. Heinrich (1984), 121. 991 Hier zeigt sich deutlich der bereits erwähnte eschatologische Begründungscharakter, der grundsätzlich einer sanktionsrelativen Motivation, wie sie Kohlberg ausdrücklich nicht in den postkonventionellen Urteilsstufen verortet, zu entsprechen scheint. 992 33, August 1534, 170. 987 988

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Ich habe Deine Liebe zu mir nie so geschätzt wie damals, als Du mich das letzte Mal küßtest. Ich freute mich so sehr, daß Du Dich nicht um die Konventionen der Welt kümmerst. Leb wohl, mein liebes Kind; bete für mich, wie ich es für Dich und alle unsere Freunde tue, damit wir uns zu den Freuden des Himmels wiederfinden dürfen. Ich danke Dir für alles, was Du für mich auf Dich genommen hast. 993

Mit diesen letzten Zeilen verweist Morus auch auf die große Bedeutung und zugleich Herausforderung der überkonventionellen Urteilsfindung. Philosophisch relevant ist dabei die außerordentliche Reflexionsleistung, die auf ein besonderes Verhältnis von Vernunft und Glaube schließen lässt. Seine letzten Gedanken entspringen einer tiefen Dankbarkeit für die Liebe und moralische Unabhängigkeit seiner Tochter, verbunden mit der festen Erwartung, dass er sich bald in der ewigen Gemeinschaft mit den aufrechten Christen, befreit von allem weltlichen Schmerz und Kummer, wiederfinden wird. Mit der philosophischen Interpretation Thomas Morus’ anhand seiner Briefe aus dem Tower von London erreichen wir zugleich den Abschluss der Gruppe von Denkern, die sich bezüglich ihrer moralischen Begründung in einer besonderen Weise auf eine geteilte metaphysische Ordnung bezogen haben. Besonders insofern, als alle drei dabei nicht nur ihre faktische Existenz transzendierten, um eine Vorstellung von moralischer Idealität in sich zu ermöglichen, sondern sich dabei zugleich in einem religiös geformten und kulturell übermittelten Rahmen metaphysischer Vorstellungen bewegten. Václav Havel, den wir im Anschluss zunächst allgemein biographisch und sodann anhand seiner Briefe aus dem tschechoslowakischen Staatsgefängnis auch im Hinblick auf seine sittlichen und weltanschaulichen Überzeugungen näher kennenlernen werden, wusste sich selbst in keiner derartigen Gemeinschaft. Die Wahl Havels als vierte Figur der hier vorgelegten Untersuchung liegt auch und besonders darin begründet.

993

5. Juli 1535, 215.

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

»Wir wurden begraben, als wir aufhörten, das größere Leben zu leben.« (Tomáš Garrigue Masaryk)

Václav Havel ist aus verschiedenen Gründen die geeignete Person, um sie im Hinblick auf die gestellte Aufgabe näher zu untersuchen. Zum einen wuchs er in einer Gesellschaft auf, die in totalitärer Weise von sozialistischen Leitbildern geprägt war. Dies ermöglichte eine Identitätsentwicklung fernab religiös dominierter Institutionen und konfessionell geprägter soziokultureller Einflüsse. Andererseits wurde der Dissident und unermüdliche Aktivist für Freiheit und Menschenrechte Zeit seines Lebens nie zu einem politisch angepassten Teil dieser Gesellschaft. Hinzu kommt, dass der Sohn aus großbürgerlichen Verhältnissen eindrückliche Dokumente seiner gründlichen Reflexionen über Sinn und Verantwortung einerseits und die damit unmittelbar in Verbindung stehende Frage nach den letzten normativen Orientierungsgrößen seiner Existenz andererseits hinterlassen hat. In seinen Briefen an Olga liegen uns Dokumente vor, aus denen zu erkennen sein wird, dass Havel durch seine aus höchsten Reflexionsstufen gewonnenen Sinn- und Verantwortungsbegriff einen originären moralphilosophischen Beitrag hinterlassen hat. Die von ihm getroffenen Entscheidungen und deren Begründung werden deutlich machen, dass Havel als ein genuines Beispiel gelungener Moral- und Identitätsentwicklung betrachtet werden kann. Wie die Biographie zeigen wird, gibt es im Leben Václav Havels die unbedingte moralische Forderung.

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Zur Biographie

9.1 Zur Biographie Václav Havel wurde am 5. Oktober 1936 als erster Sohn von Václav Havel und Božena Havlová geboren. In den ersten Lebensjahren profitierte Václav von den Vorzügen seiner großbürgerlichen Herkunft. 994 Sein Vater, ein aufgeklärter Patriot, erzog seinen Sohn in der ideellen Atmosphäre des Humanismus Masarykscher 995 Prägung. Václav wurde gemeinsam mit seinem Bruder vielseitig gefördert. Naturwissenschaften und häusliche Theateraufführungen gehörten zur intellektuellen Umgebung innerhalb der stattlichen Villa am Ufer der Moldau. Die politischen Entwicklungen sollten diese gutbürgerliche Idylle jedoch nicht lange bestehen lassen. Die Folgen des Münchner Abkommens von 1938 führten die junge Nation unter deutsche und ungarische Hoheit und nach dem 2. Weltkrieg 996 geriet die neugegründete 3. Republik nach dem Februarumsturz unter kommunistischen Einfluss. So geht im Februar 1948 der gesamte Besitz der Havels schließlich in Staatsbesitz über und es dauert nicht lange und Václav kam erstmalig unmittelbar mit dem freiheitsfeindlichen kommunistischen Staatsapparat in Berührung. 1949, im Alter von 13 Jahren, sollte er drei Monate unter Hausarrest verbringen, weil ihm vorgeworfen wurde, einer Gruppe von Menschenschmugglern Beihilfe geleistet zu haben. Im Alter von gerade einmal 14 Jahren endete seine schulische Karriere. Als »bourgeoises Element« 997 eingestuft, wurde ihm jede weiterführende Schulbildung verwehrt. 998 In den folgenden Jahren fing Havel an, sich mit Gedichten zu beschäftigen und wurde zur treibenden Kraft in einem Debattierclub – genannt die 36’er – nach dem Geburtsjahr ihrer Mitglieder. 999 Politisch prägte den jungen Denker eine Vorstellung, die man als sozialistischen Humanismus bezeichnen könnte. Sowohl Teile des intellektuellen Erbes Masaryks als auch die Grundsätze seiner Familie 994 Sein Großvater Vásclav Havel war ein sehr erfolgreicher Bauunternehmer und ermöglichte seinen Nachfahren ein zunächst sorgloses Leben in der Hauptstadt der jungen Nation. 995 Tomáš Masaryk (7. 3. 1850–14. 9. 1937) war ein tschechischer Philosoph, Mitbegründer und erster Staatspräsident der Tschechoslowakei (1918–1935). 996 Zu Details der Verwicklungen und Berührungen der Familie Havel mit dem NSRegime siehe auch: Keane, J. (1999), Václav Havel. A Political Tragedy in Six Acts, London: Bloomsbury, 48–72. 997 Zantovsky, M. (2014), Václav Havel. In der Wahrheit leben, Berlin: Propyläen, 48. 998 Vgl. Zantovsky (2014), 47. 999 Vgl. Zantovsky (2014), 49.

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

fanden sich darin wieder. Im Wesentlichen ging es dabei um eine politische Ordnung, die durch staatliche Regulierung ein Optimum bürgerlicher Bedürfnisbefriedigung und individueller Freiheit sicherstellen sollte. Verbunden mit der Idee einer paneuropäischen Einigung kam der später als Optimalismus bezeichnete Ansatz dem heute bekannten Konzept des sozialen Wohlfahrtsstaates sehr nahe. Zu jener Zeit von Havel bekundete Auffassungen marxistischer Prägung wurden später als Verirrungen eines von ihm fremden Ideengutes bezeichnet. 1000 In seinen Debatten mit grundsätzlich Gleichgesinnten trat schon in dieser Zeit die fundamentale Bedeutung moralischer Werte für die Gestaltung eines individuell freien Lebens, wider nihilistischer Gegenpositionen von z. B. seinem Freund Radim Kopecký, zutage. 1001 Der junge Václav Havel pendelte anfangs noch zwischen dem Selbstbild eines Wissenschaftlers und Gelehrten einerseits und dem des bohemehaften Dichters andererseits. Letzteres ermöglichte ihm, auch die Poesie als Mittel der Kaschierung seiner Positionen zu nutzen. 1002 Neben der drei Jahre älteren Schauspielerin, Olga Splichalova, die später seine Frau werden sollte, lernte der 17-jährige Václav durch das breite Netzwerk seiner Eltern auch den liberalen Journalisten und Schriftsteller Eduard Valenta kennen, der Havels erste literarische Versuche las und ihn ermutigte weiterzumachen. Zu den vielzähligen Kontakten zu zeitgenössischen Denkern gehörte auch Josef Safarik, ein renommierter Moralphilosoph, der ihn in der Entwicklung seiner moralischen Haltung stark beeinflussen sollte. 1003 In den folgenden Jahren kam der junge Künstler zu der Einsicht, dass weder die Poesie noch die Philosophie sein professionelles Metier werden würden. Seine Zugehörigkeit zu den 36’ern und seine Bemühungen in Politik und Kultur machten ihn jedoch zu einem festen Mitglied der Prager Künstler- und Intellektuellenszene. Der sich selbst als nonkonformistisch verstehende Václav versuchte nach erfolgreichem Abschluss des Abendgymnasiums leider ohne Erfolg zu einem geisteswissenschaftlichen Studium zugelassen zu werden. Als Gescheiterter ohne Ausbildung begann Havel nach seinem zweijährigen Militärdienst während seiner Zeit als Bühnentechniker Artikel für Literatur- und Theaterzeitschriften zu verfas1000 1001 1002 1003

Vgl. Zantovsky (2014), 50. Vgl. Zantovsky (2014), 51. Vgl. Zantovsky (2014), 51. Vgl. Zantovsky (2014), 56 f.

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Zur Biographie

sen. Die Zeit als Assistent im ABC-Theater, in der er unter anderem bei Aufführungen von Tschechow unter der Leitung von Radok 1004 mitwirkte, sollte zu einem Wendepunkt in seinem Leben werden. Havel erkannte, dass Theater mehr war als das erfolgreiche Zusammenwirken von Schauspielern und Regisseuren. Weit darüberhinausgehend begriff er es als lebendigen geistigen Brennpunkt, als einen Ort gesellschaftlichen Bewusstwerdens. 1005 Mit seinen Artikeln in diversen Kulturzeitschriften machte sich Havel in der Folgezeit einen Namen als einfühlsamer und scharfsinniger Kritiker der Theaterszene. 1960 begann der bürgerliche Intellektuelle seinen Weg als Dramatiker und veröffentlichte einen Einakter mit dem Titel Familienabend. 1006 Mit der Aufführung des Dramas Gartenfest, einem 4-Akter, der die vom Staat verhängte Phraseologie parodierte, gelang dem zwischenzeitlich 27-jährigen Havel im Jahr 1963 sein Durchbruch als Theaterautor. Das im Theater am Geländer aufgeführte Stück war über Jahre ausverkauft. An Eintrittskarten zu kommen, galt als ebenso schwierig, wie eine Reisegenehmigung in den Westen zu erhalten. Das Gartenfest wurde schließlich auch an renommierten Bühnen wie dem Burgtheater in Wien und dem Schiller-Theater in Berlin in das Programm aufgenommen. 1007 Mitte der 60er Jahre war Havel relativ wohlhabend mit regelmäßigen Einnahmen aus den Aufführungen seiner Bühnenstücke im In- und Ausland und galt in der Literatur- und Theaterszene als fest etabliert. Dabei wollte es der regimekritische Essayist und Bühnenautor aber nicht belassen. Bei zahlreichen Gelegenheiten prangerte er das System der Überwachung und Zensur des kommunistischen Regimes an und wurde Anfang 1965 Mitglied des Redaktionsrates einer kulturellen Monatsschrift mit dem Titel »Das Gesicht«. 1008 Als das Blatt nach der Veröffentlichung eines kritischen Textes ins Visier der kommunistischen Kontrollorgane geriet, zeigte Havel seine Bereitschaft, sich unter hohen persönlichen Risiken gegen empfundenes Unrecht einzusetzen. Er sammelte Unterschriften von Hunderten einflussreichen SchriftAlfréd Radok entstammte einer jüdischen Familie und war 1914 geboren, einer der einflussreichsten tschechischen Theaterregisseure seiner Zeit. Ein Großteil der von ihm produzierten Filme fiel der kommunistischen Zensur zum Opfer. 1005 Vgl. Havel, V. (19901), Fernverhör. Ein Gespräch mit Karel Hvíždăla, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 51. 1006 Vgl. Zantovsky (2014), 81. 1007 Vgl. Zantovsky (2014), 91. 1008 Vgl. Zantovsky (2014), 107. 1004

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

stellern und Intellektuellen, wie beispielsweise einem seiner frühen Idole, dem späteren Nobelpreisträger Jaroslav Seifert. Dies gelang ihm durch seine unbegrenzte Fähigkeit, Kontakte zu knüpfen und Netzwerke zu nutzen. Eine Fähigkeit, die ihn als geborene Führungspersönlichkeit auswies. Für den bislang politisch nicht öffentlich in Erscheinung getretenen Havel war dies eine »private Schule der Politik« 1009. Der als zurückhaltend und weich geltende Bühnenautor wurde in dieser Zeit vom Theatermenschen zum politischen Aktivisten, der lernte, mit Funktionären des Schriftstellerverbandes und Vertretern der kommunistischen Partei zu diskutieren und seine Überzeugungen wirksam zu vertreten. 1010 Václav Havel lernte die Frau seines Lebens mit knapp 17 Jahren kennen. Da sich die drei Jahre ältere Olga Splichalova, eine angehende Schauspielerin, zunächst nicht besonders interessiert zeigte, dauerte es drei weitere Jahre, bis die beiden schließlich ein Paar wurden. In den schwierigen Jahren seiner Militärzeit und gescheiterten Versuche, akademisch voranzukommen, war sie es, die immer loyal zu ihm stand und sein einziger Lichtblick war. 1011 Diese Frau war es auch, die Havel bis zu ihrem Tod eine Lebensgewissheit sein sollte, die weit über das hergebrachte Maß an Vertrautheit hinausging. Sie war über 50 Jahre lang seine Gefährtin, sein Gewissen und seine erste Leserin. 1012 Obwohl Olga wegen ihrer Bildung und Herkunft nicht den Vorstellungen von Václavs Mutter entsprach, heirateten sie 1964. Was sie in die Beziehung einbrachte war »ein Element von Gesundheit, ein unmittelbares und reines Gefühl für das Leben und für schöpferische Werte; ein Element einer ursprünglichen und fast unangenehmen natürlichen Intelligenz bei der Bewertung all der Dimensionen der Welt, die uns umgibt.« 1013 Während der Zeit im Gefängnis war Olga für Havel seine Augen und Ohren, seine Managerin und Vermittlerin. Sie blieb zeit ihres Lebens ein unverzichtbarer Teil seiner Welt und als Geliebte und Gefährtin von unschätzbarem Wert für seine persönliche Entwicklung, aber auch für sein gesamtes Leben. 1014 Havel (19901), 97. Vgl. Zantovsky (2014), 108 ff. 1011 Vgl. Zantovsky (2014), 67 f. 1012 Vgl. Zantovsky (2014), 69. 1013 Brief an Václav Havel, 14. Juli 1964, in: Freimanová, A. (2013), Síla věcnosti Olgy Havlové, Praha: Knihovna Václava Havla, 12. 1014 Vgl. Zantovsky (2014), 76. 1009 1010

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In der zurückliegenden Zeit hatte sich die kommunistische Partei der Tschechoslowakei zum unumstößlichen Machtzentrum nach dem Vorbild der UdSSR entwickelt. Unter der Führung von Antonin Novotny etablierte sich ein totalitäres Regime, das sich wesentlich auf die Kontrolle und staatlich diktierte Steuerung gesellschaftlicher und insbesondere ökonomischer Prozesse stützte. In den 60er Jahren führte dies zu einer länger anhaltenden Wirtschaftskrise. Dies, der schwelende Nationalitätenkonflikt mit der Slowakei und systemkritische Bewegungen u. a. aus literarischen Kreisen 1015 mündeten am 4. Januar 1968 in der Ablösung von Novotny durch Alexander Dubček. Die Neubesetzung des Amtes des Ersten Sekretärs der KPC kann als Auftakt für den beginnenden Reformkurs der Regierung, der tschechischen »Ur-Perestroika« 1016, bewertet werden. Havel exponierte sich in dieser Zeit verhältnismäßig wenig. Er forderte zunächst lediglich, dass die Zeitschrift Das Gesicht wieder zugelassen und seine nicht-kommunistischen Schriftstellerkollegen wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen werden sollten. In der breiten Gesellschaft wurden die neu gewonnenen Freiheiten genutzt, um frühere Verbände, Organisationen und Parteien wieder zum Leben zu erwecken. 1017 Havels einziger offizieller Beitrag in dieser Zeit war ein Artikel vom 4. April 1968 in der Zeitschrift Literární listy, der im Kern die Schlussfolgerung vorbereitete und zog, dass eine echte Opposition eine tatsächliche Unabhängigkeit von der herrschenden Regierung voraussetze und diese auch potentiell in der Lage sein müsse, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Dieser Artikel wurde auch im Kreml gelesen und später als Anhaltspunkt für die angestrebte Konterrevolution der Tschechoslowakei angeführt. 1018 Havel begründete diese Zurückhaltung mit seiner Auffassung, dass es die Hauptaufgabe eines Schriftstellers – der Wahrheit zu dienen – nicht erlau-

1015 Hier ist exemplarisch die sogenannte Kafka-Konferenz vom 27. und 28. Mai 1963 zu nennen, die zwar einige Jahre zurücklag, aber als mit den Entwicklungen der Jahre 1967 und 1968 unmittelbar verbundenes Geschehen betrachtet werden darf. Ein weiteres gesellschaftliches Ereignis, das sich in diesen Ursachenzusammenhang einfügen lässt, war der Studentenprotest vom 31. 10. 1967. 1016 Zantovsky (2014), 120. 1017 Beispielhaft wären hier die Organisation der Pfadfinder, die nationale Sport- und Gymnastikbewegung, SOKOL sowie die sozialdemokratische Partei und ein Kreis unabhängiger Schriftsteller, der Havel am 6. Juni zum Vorsitzenden wählte, zu nennen. Vgl. Zantovsky (2014), 126. 1018 Vgl. Zantovsky (2014), 128.

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ben würde, aktiv ins politische Geschehen einzugreifen. 1019 Dies änderte sich jedoch nach dem Einmarsch der russischen Panzer in der Nacht zum 21. August 1020 radikal. Havel schrieb und veröffentlichte fast täglich Kommentare, trat in Fernsehsendungen auf, appellierte an seine Schriftstellerfreunde 1021 auf der ganzen Welt, ihre Stimme gegen diesen Akt der Repression zu erheben. Havel ahnte, wozu das führen würde, und prophezeite in einem Radiobeitrag die Konsequenzen für die kritische und entschlossene Position der betreffenden Schriftsteller: »Sie gehörten zu den Ersten, die die Nation zu politischem Handeln aufriefen. Zweifellos werden sie auch zu den Ersten gehören, die die Besatzer verfolgen und einsperren werden.« 1022 Havel erhob erneut seine Stimme, als sich der junge Philosophiestudent Jan Palach auf dem Wenzelsplatz im Januar 1969 öffentlich verbrannte: »Uns steht nur ein einziger Weg offen: unseren politischen Kampf bis zum Schluss weiterzuführen … Ich begreife den Tod von Jan Palach als eine Warnung vor einem moralischen Selbstmord von uns allen.« 1023 Als Mitautor der 10-Punkte-Proklamation zum Jahrestag der russischen Invasion, in der die Politik der sogenannten »Normalisierung« unter der Führung von Staatspräsident Husák kritisiert wurde, wird er von der Staatssicherheit ständig beschattet und abgehört. 1024 Havel war nun offiziell ein Staatsfeind, und der junge Schriftsteller zog sich zunächst in sein Anwesen in Hrádeček mit Olga zurück, um zu schreiben, zu lesen und spazieren zu gehen. 1025 Havel hatte zu Beginn der 1970er Jahre keine Arbeit mehr. Von den Einnahmen aus den Aufführungen seiner Stücke im Ausland Vgl. Zantovsky (2014), 131. Der als Prager Frühling bezeichnete Reformprozess unter Alexander Dubček fand mit der Invasion der sowjetischen Truppen ein jähes Ende. Die größte europäische Militäroperation seit 1945 hatte 98 Todesopfer, Dutzende von Inhaftierungen, die Emigration von fast 100.000 Tschechen und den Parteiausschluss von mehr als 300.000 ehemaliger Mitglieder der KPC zur Folge. Vgl. Zantovsky (2014), 156. 1021 Darunter waren unter anderem Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbüttel, Kenneth Tynan, Kingsley Amis, John Osborne, Arnold Wesker, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Jean-Paul Sartre. 1022 Fünf Radioansprachen. 21. August 1968, in: Havel, V. (19991), Spisy, Bd. 3, Eseje a jiné texty z let 1953–1969, Praha: Torst, 848. 1023 Auftritt im tschechoslowakischen Fernsehen, Januar 1969, VH1, ID6495, zit. n. Zantovsky (2014), 146. 1024 Vgl. Lebenslauf von Václav Havel. Mediathek des Deutschen Bundestages. 1025 Vgl. Zantovsky (2014), 146 ff. 1019 1020

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konnte er seinen Unterhalt jedoch gut bestreiten. Sein Rückzug nach Hrádeček bescherte ihm zum einen eine sehr produktive Zeit als Autor und zum anderen den Vorteil, etwas aus dem Visier der Staatssicherheit zu verschwinden. In diesen Jahren nahm Havel an Petitionen teil, unterstützte verbotene Schriftsteller und veranstaltete literarische Salons. 1026 Während in der internationalen Politik mit der Schlussakte von Helsinki die Machtverteilung der beiden großen Blöcke eine gewisse wechselseitige Anerkennung und vorübergehende Festigung erhielt, formte sich im Heimatland von Havel erneut Widerstand gegen Zensur, Überwachung und totalitäre gesellschaftliche Unterdrückung durch die kommunistische Partei des Landes. 1976/77 entstand – getragen von Intellektuellen, Künstlern, Priestern, aber auch Arbeitern und Exkommunisten – eine Bürgerinitiative, die auf die Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen wollte. Havel war prägender Mitautor 1027 und ein führender Kopf dieser Bewegung, die sich klar gegen jede ideologische Grundlegung und eindeutig auf ein Bewusstsein der Verantwortung, der Freiheit und der menschlichen Integrität berief. 1028 In der Wohnung von Havel fand am 29. Dezember 1976 ein abschließendes Treffen statt, bevor dann das von 241 Personen unterzeichnete Papier an die internationale Presse weitergeleitet und veröffentlicht wurde. 1029 Eine Resolution des Politbüros erklärte unmittelbar nach der Veröffentlichung alle Unterzeichner zu Feinden des Sozialismus, sorgte für eine sofortige Entlassung aller öffentlich beschäftigten Unterstützer und führte zwei Wochen danach zur Inhaftierung Havels. 1030 Jan Patočka, der sofort die entstandene Lücke zu füllen versuchte und die Sprecherrolle übernahm, erklärte in einem Text, dass das Hauptanliegen der Charta nicht in erster Linie die Verteidigung der Menschenrechte als solche sei, sondern vielmehr das zu schaffende Bewusstsein für die Notwendigkeit eines moralischen Grundlegens menschlichen Verhaltens überhaupt und in Gesellschaften im Besonderen. Diese Grundregeln seien bedingungslos und gewissermaßen »geheiligt«. 1031 Vgl. Zantovsky (2014), 161 ff. Neben Václav Havel waren der Philosoph Jan Patočka und der ehemalige Außenminister Jiri Hajek die wichtigsten Autoren der Erklärung. 1028 Im Kern stellte die Erklärung die in der KSZE-Akte und teilweise im tschechoslowakischen Gesetz festgeschriebenen Grundrechte der Realität gegenüber. 1029 Vgl. Zantovsky (2014), 205 ff. 1030 Vgl. Zantovsky (2014), 217 ff. 1031 Vgl. Zantovsky (2014), 219. 1026 1027

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Der Philosoph musste für dieses Bekenntnis teuer bezahlen. Fast tägliche Verhöre waren die Folge und schließlich verstarb der 69-Jährige nach einem elfstündigen, anstrengenden Verhör in Folge des Treffens mit dem niederländischen Außenminister Max von der Stoel am Morgen des 13. März 1977 an Herzversagen. Havel, der immer noch in Untersuchungshaft saß, war nach einem Entlassungsgesuch, in dem er die Unterlassung weiterer politischer Aktivitäten durch seine Person zusicherte, am 20. Mai aus dem Gewahrsam entlassen worden. 1032 Dieses »Entgegenkommen«, das zwar unter verschiedenen manipulativen Behauptungen und zweifellos einschüchternden Verhörmethoden zustande kam, betrachtete Havel damals und später als Versagen. In der Zeit nach seiner Freilassung bewies er jedoch sich und seinen Mitstreitern, dass es sich um ein erzwungenes Einlenken und keinesfalls moralisches Versagen handelte. Obwohl er noch unter Anklage stand und jederzeit mit einem Prozess rechnen musste, nahm er in äußerst aktiver Manier seine oppositionellen Tätigkeiten wieder auf. Und obwohl der verbliebene Sprecher der Charta 77, Jiri Hajek, wenige Tage nach Havels Entlassung sein Verständnis für dessen Verhalten gegenüber der Staatssicherheit äußerte, verhinderte dies nicht, dass Havel im Rückblick diese Zeit zu einer zentralen Erfahrung wurde und »einige der schlimmsten Momente meines Lebens« 1033 darstellten. 1034 Im folgenden Jahr übernahm er wieder eine Sprecherrolle in der Charta-Initiative und der immer noch gedemütigte Havel ließ nichts unversucht, um sich vor allem vor sich selbst ins richtige Licht zu rücken. »Auf alle mögliche Weise – sogar ein wenig übertrieben, krampfhaft, wenn nicht geradezu hysterisch – engagierte ich mich, getrieben von der Sehnsucht, mich nach meiner Verunglimpfung irgendwie zu ›rehabilitieren‹.« 1035 Im Sommer 1978 verfasste Havel einen Text, der häufig missverständlich als Essay bezeichnet, doch in Wirklichkeit ein brillantes politisches Manifest war. Sein Titel Versuch, in der Wahrheit zu leben verweist auf den Kern des Inhaltes. Dieser besteht in der Analyse der Existenzbedingungen des Einzelnen in totalitären Systemen und der sich daraus ergebenden Voraussetzungen für den Erhalt des Systems

Vgl. Zantovsky (2014), 224. Debatte mit Timothy Garton Ash und Studenten der Universität Oxford, 22. 10. 1998, VHL, ID17274, zit. n. Zantovsky (2014), 229. 1034 Vgl. Zantovsky (2014), 222 ff. 1035 Havel (19901), 174 f. 1032 1033

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selbst. Havel kommt zu dem Schluss, dass die – wenn auch nur rituell geäußerte – Mitwirkung von Individuen zu einer Entfremdung von ihrer authentischen Existenz führt und das ursprünglich intendierte Leben in Wahrheit korrumpiert und das Individuum zum Teil des Systems wird. Der bewusste Verzicht auf programmatische Inhalte und die Betonung von Menschenrechten als Voraussetzung für die Erhaltung einer authentischen Existenz in einem diese grundsätzlich bedrohenden System wurde nicht zu Unrecht als ein methodischer Ansatz zur gewaltfreien Überwindung eines Unrechtsstaates bewertet. 1036 Am 29. Mai 1979 geschah, was Havel seit Längerem befürchtete. Als Folge seiner Aktivitäten der vergangenen zwei Jahre – u. a. seine neuerliche Sprecherrolle für Charta 77 und seine Unterstützung des Komitees zur Verteidigung unschuldig Verfolgter – wurde er von Kräften der Staatssicherheit festgenommen. Die kommunistische Führung war sich sehr wohl darüber bewusst, welches mediale Empörungspotential die Inhaftierung eines Menschenrechtlers mit sich brachte. Ein deshalb Havel unterbreitetes und mit dem State Departement der USA abgestimmtes Angebot in New York ein »Theaterstipendium« zu erhalten, lehnte Havel nach Rücksprache mit Olga ab. 1037 Diese Entscheidung fiel dem in einer Gemeinschaftszelle inhaftierten Havel weiß Gott nicht leicht. Er handelte als ein Mensch, der vom Einfachen träumte und sich für das Schwierige entschied. Halte ich das fünf Jahre aus? Wahrscheinlich. Eine andere Möglichkeit habe ich übrigens gar nicht. Oder vielleicht doch – aber ich weiß nicht, was geschehen müsste, damit ich mich für sie entschiede. In der Sache habe ich mich festgelegt. Ich habe meinen tschechischen Eigensinn und bleibe dabei. 1038

Sein Prozess fand am 22. Oktober statt und endete mit einer Verurteilung wegen Subversion und einer Straffestsetzung von viereinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung. Das anschließende Berufungsverfahren verlief erfolglos und der entschlossene Regimekritiker wurde ziemlich genau drei Jahre nach der Veröffentlichung der Charta 77 am 7. Januar 1980, nach sieben Monaten Untersuchungshaft, im GefängVgl. Zantovsky (2014), 237 ff. Vgl. Zantovsky (2014), 254 und Havel, V. (1989), Briefe an Olga. Betrachtungen aus dem Gefängnis, aus dem Tschech. v. J. Bruss, dt. Ausg. bearb. v. J. Gruša, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, Brief Nr. 10, 20 ff. 1038 Havel (1989), 41. 1036 1037

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nis Hermanice inhaftiert. 1039 Aus dem ersten Brief an Olga können wir entnehmen, dass sich der Häftling keine Illusionen hinsichtlich des Ernstes der Lage machte. Havel war klar, was auf ihn zukam und dass er für lange Zeit mit dem Verlust seiner äußeren Freiheit bezahlen musste. Aus der Zeit im Gefängnis sind die Briefe an seine Frau Olga überliefert. 1040 Darüber hinaus ist bekannt, dass er als Schweißer arbeiten, mindestens 15 Tage Einzelhaft ertragen und eine Vielzahl von Demütigungen über sich ergehen lassen musste. Der Rest seiner Zeit im Gefängnis blieb »hinter einem eigenartigen Nebel« 1041, sagte er. Durch die Briefe an Olga wird jedoch eindrücklich dokumentiert, dass Havel während seiner Haft eine entscheidende Weiterentwicklung seiner bis dahin vorwiegend in seinen Theaterstücken verarbeiteten Positionen zum Sinn des Lebens, zur persönlichen Verantwortung und seinem »metaphysischen Fluchtpunkt« 1042 seiner Existenz vollzog. Es war sicher kein Zufall, dass Havel so intensive Reflexionen in einer Phase der Abgeschiedenheit und massiver Einschränkungen, wie sie anderen Menschen einsam in der Wüste oder auf Bergen widerfuhren, gelangen. 1043 Am Montag, den 24. Januar 1983, wird Václav Havel auf die Krankenstation verlegt. Grund war eine erneute Lungenentzündung; diesmal wohl heftiger und schmerzhafter als je zuvor. »Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir je im Leben so schlecht ergangen ist. Ich war der festen Überzeugung, dass ich im Sterben liege.« 1044 Am 7. Februar schließlich wurde der unbequeme Regimekritiker nach 1351 Tagen in Haft in ein ziviles Krankenhaus überstellt und damit in die Freiheit entlassen. 1045 Die nächsten drei Jahre waren von schwierigen Entwicklungen in Havels Beziehungsleben geprägt. Dazu gehörten die zunächst ablehnende Haltung seiner Frau Olga, eine Abtreibung seiner Freundin Jitka und eine weitere Liaison, die ihn in eine tiefe Depression stürzen ließen. 1046 Neben diesen belastenden Verstrickungen erkannte der

1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046

Vgl. Zantovsky (2014), 257 f. Diese sind Grundlage der anschließenden philosophischen Interpretation. Havel (19901), 178 ff. Havel (1989), 75. Vgl. Zantovsky (2014), 274. Havel (1989), 311. Vgl. Zantovsky (2014), 288. Vgl. Zantovsky (2014), 292.

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ungekrönte König der Opposition, dass die Charta-Bewegung ohne eine zunehmende Internationalisierung an Wirkung einbüßen und deren Ziele dadurch stark gefährdet würden. Deutsche, schwedische und zuletzt kanadische Diplomaten waren Havel, der sich bewusst war, weiterhin überwacht zu werden, dabei behilflich, seine Schriften im Ausland zu verbreiten. Besonders intensiven Kontakt pflegte er mit dem Atomphysiker Frantisek Janouch in Schweden und dem in Deutschland lebenden Historiker Vilem Precan. 1047 In dieser Zeit verfasste Dissident Havel mehr als 500 Briefe an die beiden und führte eine Vielzahl von Telefonaten, in denen es häufig um seine anwachsende internationale Agenda, Publikationen, diverse Übersetzungen und nicht selten um Hilfe für andere Kritiker des kommunistischen Regimes ging. 1048 Politische Aktivitäten wie Proteste, Debatten und Petitionen, vor allem vieler Nichtregierungsorganisationen 1049, verliehen der westlichen Zivilgesellschaft eine deutliche und unüberhörbare Stimme. Mit Ausnahme von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die die Sowjetregierung immer wieder wegen der Menschenrechtsverletzungen konfrontierten, waren die zivilen Kräfte bis zu dieser Zeit weit wirkungsmächtiger als die Regierungen westlicher Demokratien. Die internationale Aufmerksamkeit für Václav Havel erhielt einen Höhepunkt, als die Rotterdamer Stiftung Praemium Erasmianum 1986 entschied, ihm den Erasmuspreis zu verleihen. 1050 Havel pries in der für ihn gehaltenen Dankesrede das Werk Erasmus’ Lob der Torheit: Das Erste, was ich hier empfehle, ist der Mut, ein Tor zu sein, ein Tor im wundervollsten Sinne des Wortes. Versuchen wir Toren zu sein und

1047 Beide leisteten einen großen Beitrag zur Erhaltung der Charta-Bewegung. Sie wurden von der Regierung Jahre zuvor ins Exil getrieben. Vgl. Zantovsky (2014), 301. 1048 Vgl. Zantovsky (2014), 301 ff. 1049 Zu diesen zählten auch: die internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte mit Sitz in Wien, der in London ansässige Index on Censorship, die US-amerikanische Helsinki-Watch, Amnesty International und der Internationale PEN-Club. Sie alle erhoben ihre Stimme und trugen wesentlich zur Verbreitung der Kritik am Eisernen Vorhang und der Sensibilisierung der westlichen Völker bei. Vgl. Zantovsky (2014), 316. 1050 Havel wurde verboten selbst an der Veranstaltung teilzunehmen. Auch wurde der Text der Rede, die ein Stellvertreter für ihn halten sollte, mehrfach kritisiert. Eine Erwähnung der Charta 77 wurde als zu politisch eingestuft und hätte die Teilnahme der niederländischen Königin verhindert. Vgl. Zantovsky (2014), 318.

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verlangen wir allen Ernstes, dass sich das angeblich Unabänderliche ändert! 1051

Die folgenschweren politischen Umwälzungen, die durch Michail Gorbatschow auf einem Parteikongress im Februar 1986 unter der Bezeichnung Perestroika (Umbau, Umstrukturierung) eingeleitet wurden, führten schließlich auch für die Tschechoslowakei zu erkennbaren Verbesserungen. 1052 Die kommenden Monate waren einerseits durch Großdemonstrationen auf dem Wenzelsplatz und andererseits durch Maßnahmen, die ein letztes Aufbegehren der Staatsmacht widerspiegelten, geprägt. Letzteres führte zu einer erneuten, allerdings nur kurzzeitigen Verhaftung Havels auf der Bühne eines Symposions, das er gerade dabei war zu eröffnen. 1053 Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz mit bis zu 10.000 Teilnehmern fanden immer häufiger statt. Brutale Gegenmaßnahmen durch die Polizei führten dazu, dass die Entschlossenheit nicht nur oppositionell organisierter, sondern aus der »normalen Mittelschicht« stammender Bürger zunahm. Immer öfter kam es dabei zu »Havel, Havel«-Rufen, um den berühmtesten Kritiker des zunehmend überforderten Regimes zu Ansprachen zu motivieren. Spätestens jetzt wurde Havel klar, dass er sich auf politische Verantwortung einzustellen hatte. Als es während der sogenannten Palachwoche 1054 zu einer erneuten Verhaftung Havels und einer anschließenden Verurteilung zu acht Monaten Haft kam, waren die Kräfte des bürgerlichen Widerstandes bereits so stark entwickelt und Havel im ganzen Land so bekannt, dass es innerhalb kurzer Zeit zu Petitionen für die Freilassung Havels kam. ZehnZantovsky (2014), 320. Die Ablösung von Präsident Husák als Generalsekretär der Partei im Dezember 1987 durch Miloš Jakeš sowie eine deutlich erstarkende Opposition, die sich auch wesentlich auf Inhalte der von Havel mitverfassten Charta stützte, waren Veränderungen, die den Wandel durch die Samtene Revolution einleiteten. Vgl. Zantovsky (2014), 324, 327. 1053 Die Veranstaltung trug den Namen Tschechoslowakei 88 und hatte prominente Teilnehmer wie die Herausgeberin der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff und den Historiker und Journalisten Timothy Garten Ash. Unmittelbar nach der Eröffnung der Veranstaltung wurde Havel von Mitarbeitern der Staatssicherheit abgeführt und erst nachdem ein Großteil der internationalen Gäste das Land wieder verlassen hatte auf freien Fuß gesetzt. Vgl. Zantovsky (2014), 332. 1054 Am 15. Januar 1989 riefen oppositionelle Gruppen zu einer Demonstration anlässlich des 20. Jahrestages der Selbstverbrennung des Studenten Jan Palachs am Denkmal des heiligen Wenzels auf. In der folgenden Woche kam es zu weiteren Demonstrationen. 1051 1052

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tausende unterschrieben und bewirkten vier Monate nach seiner Verhaftung die Freilassung der Person, die inzwischen zu einer der Figuren des bürgerlichen Widerstandes in der Tschechoslowakei wurde. 1055 Die Ereignisse nahmen nun in immer mehr kommunistisch regierten Ländern Europas Fahrt auf. Seit August 1989 flohen DDRBürger über die österreichisch-ungarische Grenze und einige von ihnen flüchteten in die westdeutsche Botschaft in Prag. Nach anfänglichem Widerstand der tschechischen Regierung fuhren schließlich mehr als 6.000 DDR-Bürger in Sonderzügen Richtung Westen. Am Folgetag des 17. November, an dem eine große Demonstration der Studenten stattfand, setzte sich Havel an die Spitze der Bewegung und forderte neben dem Staatspräsidenten Husák weitere Regierungsmitglieder zum Rücktritt auf und außerdem die Freilassung aller politischen Gefangenen. Am Folgetag wurde der Gedanke Havels, alle oppositionellen Kräfte zu bündeln, nach einem Treffen in seinem Haus in die Tat umgesetzt, das »Bürgerforum« war gegründet. 1056 Mit der Schlagzeile »Das System ist am Ende« titelte die internationale Presse am 20. November 1989, als sich mehr als 15.000 Demonstranten am Wenzelsplatz versammelten. 1057 Havel vertrat zuvor und auch in diesem historischen Moment den gewaltfreien Widerstand. »Jene, die ihre Gegner viele Jahre lang mit einer gewalttätigen und blutigen Rachsucht verfolgt haben, haben jetzt Angst vor uns. Sie können ruhig schlafen. Wir sind nicht wie sie …« 1058 Nach einer kurzen Übergangsregierung, geführt von Ladislav Adamec, endete diese auch aufgrund des großen Drucks aus der Bevölkerung bereits nach wenigen Monaten. 1059 Am 29. Dezember wurde Václav Havel von der Föderalversammlung nach Vorschlag durch Alexander Dubček zum Regierungspräsidenten und am 5. Juli des Folgejahres vom frei gewählten Parlament zum Staatspräsidenten gewählt. Eine der ersten Entscheidungen nach seiner ersten Wahl war eine Generalamnestie für etwa Vgl. Zantovsky (2014), 335 ff. Vgl. Zantovsky (2014), 353 ff. 1057 Vgl. Zantovsky (2014), 356. 1058 Rede vor den Demonstranten auf dem Wenzelsplatz, 22. November 1989, in: Havel, V. (19992), Spisy, Bd. 4, Eseje a jiné texty z let 1970–1989, Dálkový výslech, Praha: Torst, 1161. 1059 Drei Viertel der Minister gehörten der verhassten kommunistischen Partei an. Nachdem Adamec hinnehmen musste, dass Moskau zu keiner weiteren Unterstützung bereit war, erklärte er sich am 5. Dezember bereit, das Amt niederzulegen. Vgl. Zantovsky (2014), 363. 1055 1056

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23.000 Gefangene. 1060 Ein Ereignis, das wohl auch für Havel zu den denkwürdigsten seines Lebens gezählt haben dürfte, war die Rede, die er am 21. Februar 1990 vor beiden Kammern des US-Kongresses hielt. Selten gelang es einem politischen Führer der Neuzeit eindrucksvoller, ein Plädoyer für Freiheit und Menschenrechte zu halten, das sich derart auf dessen gelebte Zeugnisse eigenen Lebens in einem repressiven politischen System stützen konnte. Darin sagte er: Das Bewusstsein geht dem Sein voraus und keineswegs umgekehrt, wie die Marxisten behaupten. Daher lässt sich die Bewahrung dieser unserer menschlichen Welt nirgend anderswo als im menschlichen Herzen, im menschlichen Denken, in der menschlichen Demut und in der menschlichen Verantwortung finden.

Noch im selben Monat traf sich das tschechoslowakische Staatsoberhaupt mit dem Führer der einstigen kommunistischen Schutzmacht, Michail Gorbatschow und vereinbarte mit ihm den Rückzug aller sowjetischen Truppen, die seit dem verhängnisvollen 25. August 1968 im ganzen Land stationiert waren. Der Besuch durch Papst Johannes Paul II. am 21. April 1990 war vor allem im Hinblick auf Havels philosophische Verankerung von großer Bedeutung. Havel, der nie religiös, aber immer gläubig war, empfing das Oberhaupt der katholischen Kirche mit Worten, die deutlich auf seine metaphysische Konzeption verwiesen. Durch Ihren Besuch bringen Sie uns allen, wie ich fest glaube, die rechte Quelle wirklich menschlicher Verantwortlichkeit, somit also ihre metaphysische Quelle in Erinnerung […] den absoluten Horizont unseres menschlichen Bezugssystems, dieses geheimnisvolle Erinnern an das Sein, in das jede unserer Taten eingeschrieben wird und in dem und durch dieses selbst das Tun erst und wirklich gewichtet wird. 1061

Ein weiteres politisches Ereignis von großer Bedeutung für den Integrationspolitiker Havel und Europa war die Abspaltung der Slowakei. Zu viel trennte die beiden im Versailler Vertrag zu einer Nation vereinten Volksgruppen. Der kühl kalkulierende Václav Klaus hat dies frühzeitig erkannt, für den auf Toleranz und föderale Kooperation

Vgl. Zantovsky (2014), 398. Begrüßung von Papst Johannes Paul II. auf dem Prager Flughafen, 21. April 1990, in: Havel, V. (19902), Gewissen und Politik. Reden und Ansprachen von 1984–1990, hg. v. O. Pustejovsky, München: Institutum bohemicum, 119. 1060 1061

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setzenden Havel war es eine katastrophale politische Niederlage. 1062 Am 17. Juli 1992 war das Ende des Bundesstaates gekommen und wenige Tage auch das Ende der ersten demokratisch legitimierten Präsidentschaft Havels. Nach einer Zeit des demütigen Abwartens 1063 wurde auf Grundlage einer veränderten Verfassung, die sein Amt unter stärkere parlamentarische Kontrolle stellen sollte, Havel auch aufgrund seines unbestreitbaren moralischen Formates und seiner internationalen Anerkennung im Januar 1993 wiedergewählt. Klaus, der alte und neue Ministerpräsident, ließ kaum eine Gelegenheit aus, dem Präsidenten der neuen Nation das politische Primat der von ihm geführten Regierung durch gängelnde Bevormundung spüren zu lassen. Václav Havel sollte bis 2002 Staatspräsident der Tschechei bleiben. Der Träger des Karlspreises unterstützte die europäische Integration getragen von der Idee eines föderalen Europas, politisch geführt von demokratisch legitimierten Vertretern, ähnlich dem US-amerikanischen Kongress. Der NATO-Beitritt 1999 und die Aufnahme der Tschechei in die Europäische Union 2004 sind auch Früchte des politischen Lebenswerkes Václav Havels. 1064 Der Verfechter der Wahrheit, der bereit war, einen hohen persönlichen Preis für seinen unbeugsamen Einsatz für ein Leben in Freiheit durch Verantwortung zu bezahlen, zitierte anlässlich der Enthüllung eines Denkmals des Gründers der Tschechoslowakei, Tomáš Masaryks, diesen mit den Worten: »Wir wurden begraben, als wir aufhörten das größere Leben zu leben«. 1065 Dieser Satz – so scheint uns – vermittelt eindrücklich die Essenz Havels Grundüberzeugung, nur ein Leben, das in der Lage ist, das Unmittelbare durch die selbstgewählte Bindung an Werte und Ideen zu transzendieren, als ein wahrhaft menschliches zu akzeptieren. Kurze Zeit nach Olgas Tod, 1996, wurde auch bei Havel eine Krebserkrankung diagnostiziert. Seitdem deutlich geschwächt 1066 Vgl. Zantovsky (2014), 500 f. Havel hatte für die bevorstehende Neuwahl des Staatspräsidenten keine verlässlichen politischen Unterstützer. Zwar bekannten sich christ- und sozialdemokratische Parteien bald zu ihm als deren Kandidat, doch ließ die entscheidende parlamentarische Partei, die von Klaus geführte ODS, den Expräsidenten bis zum Wahltag am 26. Januar 1993 im Unklaren. Vgl. Zantovsky (2014), 508 und 540. 1064 Vgl. Zantovsky (2014), 575. 1065 Rede anlässlich der Enthüllung des Denkmals Tomáš Masaryks, Olomouc, 7. März 1993, in: Havel (19992), 66. 1066 Havel verbrachte in der Zeit von Ende 1996 bis zum Ende des Jahrzehnts nicht 1062 1063

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war er doch fest entschlossen, ein weiteres Mal für das Amt des Staatspräsidenten zu kandidieren. Mit einem deutlich schwächeren Wahlergebnis wählte ihn das Parlament am 20. Januar 1998 für seine letzte Amtszeit, in die ein letzter offizieller Besuch der USA, dem Land, das für ihn als Leuchtturm für Demokratie und Freiheit galt, und das Gipfeltreffen der Staatschefs der Mitgliedsstatten der NATO, dem ersten derartigen Treffen in einer Hauptstadt eines ehemals kommunistischen Staates, fallen sollten. Am 2. Februar 2003 verabschiedete sich der Mensch von seinen Bürgern, der international für die Überwindung des totalitären Regimes und den Wandel zu einer demokratischen und rechtsstaatlich verfassten tschechischen Republik stand, mit den Worten: Gegenüber all jenen von Ihnen, die ich in irgendeiner Weise enttäuscht habe, die mit meinen Handlungen nicht einverstanden waren oder die mich schlicht als hassenswert empfunden haben, möchte ich mich aufrichtig entschuldigen und vertrau darauf, dass Sie mir vergeben. 1067

In der Folgezeit wurde der Elder Statesman in den USA mit dem höchsten zivilen Orden – der Freiheitsmedaille – durch den Präsidenten ausgezeichnet, holte den ein oder anderen aufgeschobenen Urlaub mit seiner Frau Dagmar Havlova nach und verstarb wenige Wochen nach seinem 75. Geburtstag am 18. Dezember 2011 in seinem Haus in Hrádeček. »Es war, wie wenn eine Kerze verlöscht, ganz still.« 1068 Während seines zweiten Gefängnisaufenthalts zwischen 1979 und 1982 verfasste Václav Havel mindestens 1069 145 Briefe an seine damalige Frau Olga, die in der Blütezeit der sogenannten Samtenen Revolution, im September 1989 von Ingke Brodersen als Briefe an Olga. Betrachtungen aus dem Gefängnis (Havel 1989) veröffentlicht wurden. Anhand dieser Briefe soll nun unter anderem durch Zuhilfenahme der einschlägigen Beschreibungen und Kriterien für ein postkonventionelles moralisches Urteilen von Lawrence Kohlberg, Jürgen Habermas und auch George Herbert Mead untersucht werden, inwie-

weniger als 22 Monate in Kliniken, im Krankenstand oder in Phasen der Erholung. In der verbleibenden Zeit fühlte er sich elend oder unwohl. Vgl. Zantovsky (2014), 581. 1067 Zantovsky (2014), 591. 1068 Eliška Bártová, Interview mit Veritas Holíková, 22. Dezember 2013, zit. n. Zantovsky (2014), 356. 1069 Die Post des Insassen Václav Havel wurde selbstverständlich einer strengen Zäsur durch die Gefängnisleitung unterzogen, sodass nicht mit letzter Sicherheit feststeht, ob es nicht auch Briefe gab, die ihre Adressatin nie erreichten.

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Der Beobachter des Welttheaters

weit Václav Havel als Person diesen sittlichen Ansprüchen gerecht wurde. Dabei möchten wir darauf hinweisen, dass die durchaus interessante Unterscheidung der moralischen Handlung von dem jeweils vorangehenden moralischen Urteil an anderer Stelle zur Sprache kommen und in diesem Kapitel somit keine Berücksichtigung finden wird. Der systematische Verlauf der Untersuchung wird sich vorwiegend dem Aspekt der moralischen Postkonventionalität, der ethischen Transzendenz und den beiden Begriffen Sinn und Verantwortung zuwenden. Diese Blickwinkel ergaben sich als erkennbare Kategorien aus der Analyse der Briefe und als potentiell relevant für die gegenständliche Frage nach Begründungsansätzen für ein Leben in moralischer Unbedingtheit. Havel nimmt in seinem Selbstbezug eine subjektive Abspaltung zur Welt (Entfremdung) an und sieht sich in einer der Welt gegenüberstehenden Existenz, die in der Lage ist, nach Gründen für die jeweilige Beschaffenheit derselben zu fragen. Sich selbst dabei als Teil der Welt begreifend gelingt ihm durch diese Selbstdistanz eine Reflexion seiner sittlichen Gewissheiten auf höchster Ebene. Dadurch wird ihm ermöglicht, aus einer Art »Beobachterposition« eine Selbständigkeit zu wahren, die die Welt, wie er sie vorfindet, als nur eine Möglichkeit und nicht als absolute Gegebenheit betrachtet, und ein Aufgehen in gesellschaftlichen Konventionen verhindert. 1070

9.2 Der Beobachter des Welttheaters Anhand einer Vielzahl von Fundstellen in seinen Briefen an Olga, aber auch durch etliche Äußerungen in Reden vor dem Parlament und letztlich aus verschiedenen Theaterstücken, die Václav Havel schrieb, lässt sich mit großer Deutlichkeit erkennen, dass der als ruhig und beherrscht geltende Autor seine Lebensaufgabe niemals in der erfolgreichen Anpassung an politische Gegebenheiten sah oder diese als Preis für persönliche Ziele bereit war hinzunehmen. Ein Arrangement mit den gesellschaftlichen Zuständen in opportunistischer Hinsicht war für ihn ausgeschlossen, obgleich der politische Druck in der neugegründeten Tschechoslowakei in den Jahren nach 1945 immens war. Konfrontiert mit seiner Haftstrafe ungewisser Dauer war 1070 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund seiner biographischen Situation als Kritiker in einem totalitären, kommunistischen System.

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wohl niemand weiter von den gewünschten Konsequenzen der verurteilenden Gerichte entfernt als eben jener bemerkenswert charakterstarke und freiheitsliebende Theaterautor. Nicht Reue oder gar der Entschluss, künftig dieser Art von Sanktionen um den Preis der Anpassung entgehen zu wollen, kamen ihm in den Sinn, sondern der Vorsatz, die vor ihm liegende Zeit im Gefängnis für die eigene existentielle Vergewisserung und Festigung seiner Haltung nutzen zu wollen. 1071 Er sah sich als einen »Beobachter des Welttheaters« 1072. Dadurch lässt sich metaphorisch eine eindeutige Selbstpositionierung erkennen. Beobachtung setzt immer eine Aufteilung in den Beobachter und das zu Beobachtende – hier die Welt als Ganzes – voraus. Bereits in seiner Jugend wurde Havel bewusst, dass sein Quell des Sinnes und der Hoffnung, der Maßstab für Sittlichkeit und die Verkörperung seines Idealen Selbst 1073 im Sinne von Mead nicht in der realen Welt zu finden sein würde. Letzte Autoritäten, wie sie für konventionell urteilende Menschen in der sie umgebenden Gesellschaft zu finden wären, wollte Havel dort nicht verorten und reflektiert deshalb mehrfach die Frage nach der für ihn gültigen sittlichen Orientierung. Was ist der letzte Horizont seines [gemeint ist der Mensch, GS] Beginnens; der absolute Fluchtpunkt all dessen, was er tut, das nicht täuschende »Seinsgedächtnis«, das Gewissen der Welt und höchste »Gerichtsinstanz«; was ist dieser entscheidende Maßstab, Hintergrund oder Raum jeder seiner existenziellen Erfahrungen? 1074

Ein weiterer starker Ausdruck seiner Unabhängigkeit von der beobachteten Welt findet sich in seiner Einsicht, wonach wir letzte Gründe der Sittlichkeit und der Sinnhaftigkeit unseres Daseins niemals von außen – quasi in Form von Informationen – erhalten können, sondern diese nur aus uns selbst schöpfen können. 1075 Bis auf die Nennung von »Glaube« und »Hoffnung« 1076 als demnach ureigene Kategorien des Denkens bleibt offen, wie der Vorgang des Schöpfens genauer gefasst werden könnte. Klar ist jedoch, dass wir Menschen in Vgl. Havel (1989), 29 f. Havel (1989), 30. 1073 Havel spricht zwar nicht selbst vom Idealen Selbst, es finden sich jedoch zahlreiche Hinweise auf ein derartiges Verständnis einer idealisierten Selbstkonzeption. 1074 Havel (1989), 58. 1075 Vgl. Havel (1989), 58. 1076 Havel (1989), 58. 1071 1072

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seinen Augen die Antworten auf die grundlegenden moralischen Fragen nicht von der Welt ablesen, sondern sie in uns konstituieren und damit hervorbringen. Sinn und Sittlichkeit bedürfen somit nicht nur unserer Sinne, sondern offensichtlich ideeller »Zugaben«. Damit widerspricht Václav Havel der Möglichkeit, seine moralische Bestimmung als Person an Gesellschaften oder anderweitigen Autoritäten – gleich welcher Provenienz – zu delegieren. Die Welt – von Havel auch konkreter Horizont 1077 genannt – verliert in der Zeit seiner Gefangenschaft an Unmittelbarkeit und Vielschichtigkeit zugunsten einer vermittelten Wesentlichkeit. Ein Hinweis auf eine Interiorisierung 1078 von lebensgeschichtlichen Erfahrungen mit der Folge einer erhöhten, weil geklärten und besser verstandenen moralischen Relevanz wurde »auf ihre Weise wesentlicher« 1079. Diese Vergegenwärtigung einer inneren Welt stellt eine der Möglichkeitsbedingungen autonomer und postkonventioneller Urteilsfindung dar. Irgendwie vermittelter, aber gerade deshalb auf ihre Weise wesentlicher: als ein verborgener Komplex der Parameter des Lebens, Maßstab und Fluchtpunkt seines Sinnes. […] doch um so mehr mache ich sie mir klar – als Ganzes und als Komplex von Werten – als etwas, das die Quelle meiner Hoffnungen ist, Grund meiner (wie man das erhaben nennt), als etwas, in dem der eigentliche Sinn all meines Tuns begriffen ist. 1080

Über die moralische Ungebundenheit an Konventionen hinaus verweist Havel auf die Verbindung des Der-Welt-gegenübergestelltseins und der sittlichen Entschlossenheit. Weil Václav Havel sich der Welt gegenüberstellt, kann diese Objekt seiner eigensten Reflexionen und damit zu seiner Bühne autonomer sittlicher Handlungen werden. Nur dann kann sich eine Person zu etwas verantwortlich verhalten, wenn sie sich von jenem (ab)getrennt wahrnimmt. Oder kann nicht gerade das Gefühl der Ungewißheit in der Welt, oder das »Hinter-ihr-Herhinken« der leistungsfähigste Motor des »Mutes«

Vgl. u. a. Havel (1989), 74, 77, 93. Eine Präzisierung der Bedeutung wird später im Zusammenhang mit dem wertimmanenten Sollen bei R. Lauth erfolgen. Zunächst soll damit eine nachhaltige Verinnerlichung sittlicher Wertvorstellungen in Verbindung mit einer hohen handlungsleitenden Wirkungsweise verstanden werden. 1079 Havel (1989), 77. 1080 Havel (1989), 77. 1077 1078

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zu ihrem Erreichen und Erfassen sein? Je stärker sich ein Mensch »außerhalb« der Welt fühlt, desto stärker kann sein Streben sein sich ihrer zu »bemächtigen« 1081.

Diese eigenmächtige Gegenüberstellung der Welt bringt außer der möglichen Unabhängigkeit auch eine nicht weniger bedeutsame Bewertungsautonomie mit sich. Die aus einer verantwortlichen Lebensführung fortwährend erwachsende Pflicht zur Rechtfertigung stützt sich dann und nur dann nicht mehr auf einen gesellschaftlichen Konsens, sondern auf die Säulen seiner inneren Welt, seiner Identität. So schrieb Havel nach fast drei Jahren Inhaftierung an Olga: Was weiter wird, weiß ich nicht. Bisher weiß ich nur, daß ich trotz aller Prüfung – vielleicht – nicht zum Hampelmann geworden bin. Ob das für die Welt zu etwas gut ist, weiß ich nicht. Aber für mich ist das gut. 1082

Havel geht noch weiter, indem er eine ontologische Unterscheidung von Person und menschlicher Existenz vornimmt. Erstere hätte zwar ihren Schwerpunkt und Ursprung in etzterer, überschreite jene aber wesentlich und bilde das Zentrum sittlicher Relevanz. 1083 An dieser Stelle wird ein erster philosophisch aufschlussreicher Hinweis auf eine Möglichkeitsbedingung für eine unbedingte Sittlichkeit sichtbar. Die kognitiv fassbare Struktur von vorrangigen sittlichen Wertüberzeugungen könnte diese zumindest unterstützen. Die Vorrangigkeit wird auch an anderer Stelle seiner »Bekenntnisse« ersichtlich: Zugleich fühle ich mich zu keinerlei ›Treue‹ verpflichtet, denn in einer anderen Situation oder in einem anderen Zusammenhang nutze ich mit derselben Frechheit etwas völlig anderes aus, was mir in dem neuen Kontext treffender und ihm angemessener erscheint … Furcht vor Eklektizismus habe ich dabei überhaupt nicht: damit kann sich nur quälen, wer innerlich unsicher ist, wer eben nicht an seine Identität glaubt. 1084 [Hervorhebung durch GS]

Damit kommen wir bei der systematischen Analyse der philosophisch bedeutsamen Aussagen von der individuellen Absetzung gegenüber dem Weltganzen zu der Frage der autonomen Urteilsbildung. In Übereinstimmung mit den Autoren Mead, Kohlberg und Habermas 1081 1082 1083 1084

Havel (1989), 229. Havel (1989), 244. Vgl. Havel (1989), 86. Havel (1989), 136.

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Moralische Urteilsbildung

halten wir in diesem Zusammenhang die gelungene Identitätsbildung als grundlegende Möglichkeitsbedingung für unstrittig und es wird sich auch bei Václav Havel eben dieser bedingende Zusammenhang sehr eindrücklich an seinen existentiell geprägten Beschreibungen zeigen.

9.3 Moralische Urteilsbildung Identität ist uns nach Havels Auffassung nicht schlechthin gegeben, sondern ein Resultat individueller Bewusstwerdung. Dieser Prozess bedingt eine Bereitschaft zur Abstraktion von der konkreten Realität hin zu einer uns selbst begründenden Ordnung. Erreichen können wir diese Grundlegung unserer sittlichen Existenz dadurch, dass wir die »Stimmung des Seins« lernen zu hören und dabei erkennen, dass diese aufgrund einer Art Isomorphie zugleich die »Stimme unseres eigenen Seins« im Sinne einer sittlichen »Tiefendisposition« ist. 1085 Wenn wir in unsere ursprüngliche ›Verantwortung für alles‹ unmittelbar geworfen sind, weil unser Geist noch nicht deutlicher aufgetaucht ist, um uns unsere Getrenntheit bewußtzumachen, sind wir also auf dieser Ebene noch nicht fähig, wirklich die ›Stimme des Seins‹ zu reflektieren. So befinden wir uns erst später – im Fegefeuer der Lebensprüfungen und zu uns selber reifend – in wirklich ›wacher‹ Konfrontation mit ihr, in jenem nie endenden ›Dialog‹ […]. 1086

Václav Havel spricht hier von einem individuellen Reifungsprozess, der den Menschen zum Bewusstsein seiner Selbst in Absetzung und zugleich inhaltlicher Übereinstimmung zur Ordnung des Seins 1087 sichtbar werden lässt. Erst dieser reife Bewusstseinszustand ermöglicht uns ein freies Leben. Freiheit verstanden als die Möglichkeit, sich zur »Stimme des Seins«, lokalisiert als moralische »Tiefen-Disposition«, autonom zu verhalten. Václav Havel verdeutlicht hier sehr eindrucksvoll, dass er seine normativen Quellen tief in sich in Form universeller Prinzipien findet und sich damit ausdrücklich unabhänHavel (1989), 288. Havel (1989), 288. 1087 Havel unterscheidet die Ordnung des Seins von der des Todes. Während erstere den menschlichen Prozess der bewussten Identitätsbildung »Wille zur Identität« fasst, evoziert die Ordnung des Todes eine chaotische Vereinheitlichung alles Seienden. Vgl. Havel (1989), 242. 1085 1086

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gig von bestehenden Gruppenautoritäten moralisch bestimmt. 1088 Von Bedeutung scheint uns dabei zu sein, dass Havel nicht von einem Dritten als einer Art göttlicher Stimme ausgeht. Vielmehr ist diese Stimme des Seins mit der Welt und wird im reflektierenden Dialog mit mir vernommen. 1089 Dieser Selbstentwicklungsprozess ist es auch, aus dem Havel seinen Sinn des Lebens schöpft.

9.4 Sinn als Quelle für Orientierung Die Grundlegung seiner moralischen Verfassung bezieht Havel nicht aus einer offenbarten Wahrheit, die seine Treue einzufordern und ihm dadurch Sinn und Richtung zu geben vermag. Stattdessen sieht er eine ständige Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens als die eigentliche Bedingung für die Möglichkeit der Annäherung an ihre Beantwortung. So, wie sich der tiefere Sinn der Gesundheit nur in ihrer Abwesenheit erschließen lässt, bedarf es einer intensiven Lebensweise, einer Bewegung des Menschen an den Rand der vorgegebenen Antworten, um sich dem Nichts nähernd den Sinn der eigenen Existenz zu verdeutlichen. Das ist die bekannte Dialektik von Leben und Tod: je intensiver und voller der Mensch lebt und sich sein Leben bewußt macht, desto stärker dringt aus dem Inneren seines Erlebens das an ihn heran, was eigentlich das Sein zum Sein macht, das Leben zum Leben und den Sinn zum Sinn – nämlich ihr Hintergrund, Gegenteil und einziger definierender Maßstab: Nichtsein, Tod und Nichts. 1090

Die Suche nach moralischen Prinzipien erfordert eine formal-operatorische kognitive Struktur des Denkens, erschließt sie jedoch noch nicht per se. Genau diese Qualität des Denkens zeigt sich jedoch bei Václav Havel, wenn er von der Überwindung des spontan für sinnvoll Gehaltenen spricht und der somit ermöglichten Frage nach dem Wesen seiner Verantwortung und deren sittlichen Gehalt nachgeht. Auch die Vorstellung einer dialektischen Beziehung zwischen dem Tod und der Erfüllung wahrhaft glücklicher Lebensmomente im Aspekt der Ermöglichung der wechselseitigen Sichtbarkeit setzen eine Vgl. hierzu auch: Internale Prinzipien bei Kohlberg (2014), 22. Havel verweist in diesem Zusammenhang auf das »Unausgesprochene in der Sprache der Welt«, von dem Heidegger im Feldweg spricht. Vgl. Havel (1989), 289. 1090 Havel (1989), 163. 1088 1089

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Sinn als Quelle für Orientierung

formal-operatorische Denkart voraus. Diese zeigt sich auch, wenn Havel von der phänomenologisch skizzierten Unerfülltheit des Menschen im Moment größter Verzückung und Erfüllung spricht. Diesen Moment auszuhalten bedarf es, um sich »der wirklichen und in ihrem Wesen tief metaphysischen Frage nach dem Sinn des Lebens« 1091 zu stellen. In dieser Dialektik verbirgt sich für ihn der mögliche Grund sittlicher Verpflichtung. Es ist etwas vor allem anderen »Geschehendes«, Lebendes, was uns mitreißt oder anspricht, verpflichtet oder reizt, das mit unserer Erfahrung zusammenklingt und vielleicht auch von Grund auf unser ganzes Leben ändert; das sich jedoch nie bemüht, die nicht zu beantwortende Frage nach dem Sinn des Lebens so oder so eindeutig zu beantworten (beantworten als »erledigen«, vom Tisch wischen). Immer schlägt es eher eine Art vor, wie man mit dieser Frage leben kann. 1092

Václav Havel macht deutlich, dass es nicht finale, oft gegenständliche Antworten aus unserem konventionellen Gefüge sind, die uns moralische Orientierung vermitteln. Stattdessen erklärt er eine persönliche Verfasstheit, die sich aus einer lebensgeschichtlichen Bedingtheit und einer immerwährenden Beantwortung der Sinnfrage konstituiert, zur einzig möglichen Antwort auf diese existentielle Frage nach dem »Wozu« und »Wodurch« in seinem Leben. Ohne eine konkrete und zeitlich überdauernde Antwort zu leben, bedeutet aber keinesfalls eine Vereinfachung oder gar Flucht vor der eigentlichen Auseinandersetzung. Václav Havel deutet diese niemals endende Beantwortung der Frage durch seine moralische Existenz als Prozess; als ein durch eine Frage geleitetes Entwicklungsgeschehen ohne Aussicht auf einen Schlusspunkt. Sinn ist für Havel das aus der willentlichen – mit ihm als Person in Beziehung stehenden – Anstrengung für ein deliberativ gewonnenes Verständnis des Guten Resultierende. Wir können dieses Verständnis seiner moralischen Existenz mühelos mit dem philosophischen Theorem der strukturierenden Strukturierung nach Kohlberg in Deckung bringen und stärker noch dieses als einen empirischen Beleg betrachten. Hier wird ein Wahrheitsverständnis sichtbar, das erkenntnistheoretisch weder mit apodiktischer Evidenz noch mit begrifflicher, logischer Stringenz zu tun hat. Diese Wahrheit ist nie gegenwärtig. Wie schon zuvor macht Havel seine Ungebundenheit gegenüber »angebotenen« Überzeugungsinhalten der 1091 1092

Havel (1989), 163. Havel (1989), 166.

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

Gesellschaft deutlich. Es sind nicht einfache, fertige Vorschriften, sondern durch das eigene Leben dynamisch zu erringende Gewissheiten, die niemals objektiv fassbar und doch präskriptiv unantastbar sind. Er strömt also nicht aus irgendeinem konkret definierten Objekt außerhalb meiner selbst in mich hinein. Quell der Beständigkeit und Kontinuität ist für mich nicht die Fixierung auf irgendeine unveränderliche »Überzeugung«, sondern sie ist vielmehr ein nie endender Prozeß des Suchens, der Entmystifizierung und des Dringens unter die Oberfläche der Erscheinungen, dabei nicht gebunden durch Treue an irgendeine vorgegebene und fertige Methode. 1093

Havel spricht hier von einer sukzessiven, prozesshaften Aneignung. Es handelt sich dabei nicht um zu internalisierende Fremdbotschaften, z. B. einer bestimmten religiösen Offenbarung, sondern um eine Art Entdeckungsvorgang innerhalb des eigenen Denkens. Erneut ein starker Hinweis darauf, dass die moralische Normenverortung keinesfalls in einer externen Konventionalität oder einer ihn verpflichtenden Konformität zu finden sein kann. Wenn Havel auch von festgelegten Inhalten und Methoden Abstand nimmt, so bekennt er sich doch eindeutig zur denkenden und hier fragenden Auseinandersetzung mit seinen unmittelbaren Erfahrungen. In dieser Deliberation gelingt ihm die Annäherung an die Beantwortbarkeit der Sinnfrage. Die Frage ›und was weiter?‹ ist im Grunde die Frage ›na und?‹. Es ist also nicht nur die Frage nach dem, was wird, wenn eine bestimmte Freude zu Ende geht, sondern die Frage, welchen Sinn überhaupt die Freude hat, die vorherbestimmt ist, zu Ende zu gehen; mit anderen Worten, welchen Sinn überhaupt das hat, was unserem Leben Sinn gibt; also die Frage nach dem ›Meta-Sinn‹ des Sinnvollen. Erst in dem Augenblick, in dem in dieser Weise alles problematisiert ist, was bisher (unreflektiert) den sinngebenden Inhalt unseres Lebens ausmachte – all die tausend Dinge, derentwegen uns das Leben lebenswert schien oder derentwegen wir einfach lebten –, sind die Bedingungen dafür geschaffen, daß wir uns die Frage nach dem Sinn unseres Lebens tatsächlich ernsthaft stellen. 1094

Havel erkennt in sich eine Art Abstieg von den scheinbaren Sinnquellen hinab zu den wahren. Dies wäre durchaus analog zu 1093 1094

Havel (1989), 135. Havel (1989), 159 f.

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Sinn als Quelle für Orientierung

a) dem platonischen Verständnis vom ontologischen Aufstieg aus der Welt der Schatten und pseudorealen Wirklichkeitsabbilder, hinauf zu den axiologisch und ontologisch wahren Ideen. Ähnlich wie Platon, der diese als Inbegriff wahrer Erkenntnis im Kontext vorangehender Täuschungen beschreibt, ermöglicht das Ergebnis dieses von Havel beschriebenen Prozesses erst Erkenntnis von den letzten uns tragenden Sinnquellen. b) Eine weitere Analogie zeigt sich in dem Prozess einer strukturgenetischen Transformation unseres Erkenntnisvermögens, mittels dem wir in notwendiger Hinsicht erst in der Lage sind, universelle Prinzipien zu evidieren (erkennen der doxischen Verbindlichkeit) und zu deren Subjekt zu werden. Während die unbewusste Mehrheit der Menschen, wie auch die Troglodyten bei Platons Höhlengleichnis, nicht intensiv genug lebt und nicht ausreichend nachdenkt – im Sinne einer letzten Vergewisserung –, hat sie die Fragen nach dem Sinn des Lebens oft schon beantwortet, bevor sie sich diese ernsthaft gestellt hat. 1095 Die gegebenen lebensweltlichen Fakten dienen als unzureichend reflektierte Antworten. Sie antworten auf sie einfach mit ihrem Leben, indem sie leben, indem sie für etwas oder für jemanden leben, indem sie sich um etwas kümmern, an etwas Freude haben oder im Gegenteil an etwas leiden, nach etwas streben oder sich auch für etwas opfern – das alles aber als Vorgegebenes (sozusagen axiomatisch), existentiell Gegebenes, Selbstverständliches, das sie einfach tun, weil sie es ›müssen‹ – ohne sich die Frage zu stellen, warum sie eigentlich müssen. 1096

Václav Havel belegt nicht nur im Blick auf konkrete moralische Fragestellungen seine Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Gewohnheiten, vielmehr zieht er außerdem allzu selbstverständlich verfügbare Antworten auf Sinnfragen grundsätzlich in Zweifel. Der von ihm diagnostizierte Mangel an weiteren Reflexionsstufen verschließt eine tiefere Einsicht in valide Begründungen, die für ein wahrhaft autonom bestimmtes Leben (hier: Beantwortungsvorgang der Sinnfragen) unverzichtbar scheinen. Havel bestimmt aus dieser Konfrontation mit dem fraglich gewordenen Sinn unseres Seins die Quelle wahren Menschseins. Die verzweifelte Entbehrung und die ständige Suche – so Havel – bringen uns in ständigen Kontakt mit dieser zentralen Frage und dem damit 1095 1096

Vgl. Havel (1989), 160. Havel (1989), 160.

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

unauflösbar verbundenen Geheimnis. Und »der andauernde Kontakt mit diesem Geheimnis macht uns sogar erst zu Menschen« 1097, weil wir durch die stetige Befragung 1098 unser Weltverhältnis sittlich fassbar machen, ohne uns dogmatischen Festlegungen allzu bequem zu überlassen. Was liegt dieser äußerst reflektierten Stufentheorie mit höchster sittlicher Relevanz zugrunde? Václav Havel negiert bekanntlich offenbarte Glaubensinhalte als normative Letztbegründung; bezieht sich aber auf eine metaphysische Vorstellung 1099, die ihm als Quelle seiner ethischen Auffassung dient.

9.5 Der absolute Horizont Eine Antwort auf diese Frage [nach dem Sinn des Lebens überhaupt, GS] läßt sich logisch nicht mehr innerhalb dessen suchen, dessen Sinn wir suchen, sondern einzig außerhalb des »Lebens überhaupt«: in der Perspektive des Absoluten, im absoluten Horizont. 1100

Wir können also annehmen, dass auch der sich selbst als areligiös bezeichnende Mensch 1101, Václav Havel, zumindest logisch erklärt, aber wahrscheinlich auch persönlich glaubt, dass es eine Art geistiger Wirklichkeitsordnung mit darin gültigen, für unser moralisches Handeln gar verbindlichen Wertmaßstäben geben muss. Deutlich wird dies, wenn Václav Havel von seiner eigenen Bezogenheit auf einen konkreten Horizont spricht. All unser Handeln findet innerhalb von Bezugssystemen seinen Sinn. Sinn transzendiert demnach das sich auf ihn beziehende Geschehen grundsätzlich. Und so beginne ich mit neuer Dringlichkeit eine Reihe von Dingen zu begreifen, vor allem, daß der Mensch – ohne daß er sich das meist klarmacht oder weit eher, bevor er sich das klarmacht – mit allem, was er tut, sich auf etwas bezieht, auf etwas außerhalb seiner selbst, auf irgendeinen, persönlichen, existentiellen Horizont. Er tut alles eigentlich

Havel (1989), 167. Zum Akt der Stellungnahme und Fraglichkeit vgl. auch Kapitel 5.2. 1099 Die in seinen Texten und Vorträgen erkenntlichen Hinweise und Ausführungen sind nicht umfassend und stringent genug, um von einem metaphysischen System sprechen zu können. 1100 Havel (1989), 183. 1101 Vgl. Havel (1989), 208. 1097 1098

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Der absolute Horizont

auf dem Hintergrund dieses Horizontes, der sein Tun definiert und ihm Sinn gibt, etwa so, wie der Himmel die Sterne zu Sternen macht. 1102

Dieser existentielle Horizont – die uns umgebenden Wirklichkeit – ändert sich nicht beliebig, sondern als Ergebnis unserer durch Reflexion und denkender Anstrengung gewonnenen, je tiefer verstandenen Identität. Nicht eine invariante Wahrheit, die durchs Leben trägt, vielmehr eine sich entwickelnde. 1103 Der Moment 1104 schöpft den Raum der Möglichkeiten. Wir erfinden uns immer wieder neu aus der Faktizität der Umwelt. Wichtig: Trotz der Veränderlichkeit meint dies keine Beliebigkeit. Die formende Funktion des Horizontes ist eine Konstante im Kontext veränderlicher Realitäten. 1105 Dies gilt umso mehr für den dritten von Havel genannten Horizont (nach dem konkreten und dem konkreten existentiellen), den absoluten Horizont. Hier findet sich eine zweifach ausgerichtete Bewegung, die Havel in seinen Briefen an seine geliebte Olga verdeutlicht. Zum einen eine aufsteigende. Vom konkreten Horizont der Dinge über den konkreten existentiellen hin zu einer Orientierungsvorstellung, die durch das Durchschreiten der vorangehenden nur gewonnen werden kann, dem absoluten Horizont. Zum anderen eine Verinnerlichung von Werten, die zu einem Teil des Selbst wird und somit zur Gründung seiner Identität. Er ist am meisten nur gedacht, am abstraktesten, am verborgensten und am schwersten zu erfassen, gleichzeitig aber paradoxerweise der sicherste (er dauert an, auch wenn alles Konkrete zusammenstürzt), und es ist der letzte und absolute (als absoluter Horizont aller Lebensrelativitäten) – und es ist jener Horizont, den – als metaphysischen Fluchtpunkt des Lebens, der dessen Sinn definiert – viele als Gott erleben. 1106

Trotz seiner atheistischen Position 1107 entwickelt Havel ein religiöses Gefühl, um die Undurchdringlichkeit und Permanenz der tief empHavel (1989), 73. Vgl. hierzu auch den im Kapitel 10.4 näher beschriebenen Zusammenhang der ontogenetischen Anstrengungen in Bezug auf eine grundlegende epistemische Offenheit. 1104 Auch im Anklang an Heideggers Auffassung des Daseins, das sich im Vollzug von Möglichkeiten zum Sein immer irgendwie verhält. 1105 Vgl. auch Havel (1989), 74. 1106 Havel (1989), 75. 1107 Vgl. dazu auch Zantovsky (2014), 462 ff. 1102 1103

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fundenen moralischen Autorität zum Ausdruck zu bringen. Er gelangt zu dieser verbindlichen Tiefenstruktur durch eine – wie er schreibt – Vertiefung der oberflächlichen Gegenwart in tiefere Schichten seiner Seele. 1108 Diese tiefere Schicht ist es, die Havel als Bedingung der Möglichkeit, die sinnlich erfahrene Außenwelt zu relativieren, erkennt. Dieser »Komplex von Werten« 1109 wird zum Grund seiner sittlichen Unbedingtheit und zur niemals ganz fassbaren Antwort auf die ihn ein Leben lang begleitende Sinnfrage. Die Notwendigkeit einer Seinsordnung, wie Havel auch den absoluten Horizont nennt 1110, wird aus einem Gefühl geboren, das sich dem – gewissermaßen im Denken aufsteigenden – Menschen aufdrängt. Der Drang resultiert aus der dialektischen Notwendigkeit. Ebenso wie die Dinge den Raum und umgekehrt der Raum die Dinge notwendig macht, ergeht es dem denkenden Menschen mit der Vergänglichkeit und dem absoluten Horizont. Letzterer verbürgt den sittlichen Maßstab in einer Welt der Beliebigkeit, den Fluchtpunkt jeder Mannigfaltigkeit der Dinge. Der absolute Horizont »garantiert, daß nichts definitiv verschwindet und also nichts definitiv überflüssig ist« 1111. Ein Gefühl, das aus der Sehnsucht nach Gewissheit, nach etwas Gültigem und Festen resultiert. […] und wenn wir uns nicht völlig aufgeben wollen, d. h. resigniert unseren Weg aufgeben (also uns selbst), dann müssen wir das Gefühl haben, daß es irgendwohin geht, daß das nicht alles unwiederbringlich von selbst vergeht, daß wir nicht ganz in eine Zufälligkeit des Augenblicks eingeschlossen sind. 1112

Václav Havel beschreibt für sich die uralte Vorstellung, dass der Mensch – quasi aus psychotherapeutischen Gründen, aber nicht nur – eine Aufhebung aller Beliebigkeit in einer alles ordnenden Ordnung anzunehmen sich gezwungen sieht, um dem »Druck des Nichts entgegenzutreten« 1113. Alles hat letztlich seine Gründe, seine Zusammenhänge und seine Bedeutungen im sich uns dennoch niemals erklärenden absoluten Horizont. 1114 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114

Vgl. Havel (1989), 77. Havel (1989), 77. Vgl. u. a. Havel (1989), 132, 136, 172, 211. Havel (1989), 172. Havel (1989), 172. Havel (1989), 172. Vgl. Havel (1989), 174.

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Der absolute Horizont

Mit dieser eindeutig metaphysischen Konzeption füllt Havel aber nicht nur die Leerstellen einer ins sich ansonsten sinnlosen Existenz. Er erklärt eine abstrakte, über die Erfahrung hinausgehende und diese hervorbringende Seinsordnung auch zur entscheidenden Möglichkeitsbedingung für wahrhaft sittliche Handlungen. »Ohne diese zentrale Annahme (sei sie auch unreflektiert und hundertmal bestritten) ist keine dieser menschlichen Taten erklärbar noch denkbar, noch möglich.« 1115 Der Mensch befindet sich existentiell im Zustand des Ausgespanntseins, 1116 einem Gefühl der sinnhaften Verbindung von sinnlich erfahrbarem Sein und metaphysisch notwendigem, absolutem Sein. Václav Havel gewinnt in einer Art »bottom-up-Konzept« sein Bekenntnis zu einer metaphysischen Verankerung des Menschen. Aus der Annahme, dass der Mensch qua Mensch die Sinnfrage stellt und stellen muss, dass sich jeder Sinn über das ihn Betreffende erstrecken muss und dass sich in den partiellen Sinnerlebnissen unserer innerweltlichen Erfahrungen immer ein diese übertretender Verweis auf eine wesentlichere »Sinnsubstanz« findet, schließt Václav Havel auf den Sinn als metaphysisches Phänomen. 1117 Das Ergebnis ist ein Mensch, der – wie er schreibt – in der Weise des »Ausgespanntseins« existiert und sich dabei unablässig die unbeantwortbare Frage nach dem Sinn des Lebens stellt, ohne seine Verantwortung in der konkreten Lebenspraxis dieser Unbestimmtheit preiszugeben. Ein weiterer wichtiger Aspekt seiner metaphysischen Auffassung des Menschseins liegt in der Vorstellung einer geistigen Ordnung 1118. Diese gewinnt als mögliche Begründungsinstanz für seine mehrfach erwiesene überkonventionelle moralische Verankerung eine besondere Bedeutung. Hiernach hinterlässt jedwede geistige Tat ihre Spuren in jener geistigen Ordnung. Wie ein Strudel, der den Fluss, in dem er stattfindet, für alle Zeit verändert und doch ohne diesen niemals entstehen könnte. 1119 Also eine sich durch unser aller Handeln neu organisierende Organisation bzw. Ordnung des Geistes. Dies erscheint sehr stimmig im Hinblick auf die von Havel so stark gemachte Funktion der Verantwortung. Handeln heißt demnach Einfluss nehmen

1115 1116 1117 1118 1119

Havel (1989), 181. Vgl. Havel (1989), 203. Vgl. Havel (1989), 172. Havel spricht vom Geiste der Seinsordnung. Vgl. Havel (1989), 245. Vgl. Havel (1989), 212.

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

und Spuren in einer geistigen Ordnung hinterlassen. Interessant ist dabei die verbindliche Klarheit der moralischen Verpflichtung im Spannungsverhältnis zu der für uns nicht erkennbaren Konsequenz im Sinne der sich dadurch verändernden Gesamtheit der betreffenden Ordnung. Hier eröffnet sich eine weitere Begründung für einen sittlichen Imperativ. Offen bleibt freilich die Bestimmungsweise normativer Inhalte. In jedem Fall wird dadurch ein omnipräsentes Bewusstsein der persönlichen Verantwortung begründet, das als eine Möglichkeitsbedingung für autonomes und postkonventionelles moralisches Urteilen betrachtet werden kann. Der Häftling, Václav Havel, bekennt in seinem 96. Brief an seine Frau, dass es leicht geschehen könne, verbittert zu werden. 1120 Er stellt klar, dass dies insbesondere dann geschehen kann, wenn wir das Absolute, unseren transzendenten Sinnhorizont, vergessen. Dann sind wir schutzlos dem Sog des Nichts ausgeliefert und verlieren unsere Quelle für Sinn, Hoffnung und Verantwortung 1121. Er verliert diese aber nur unter der Bedingung des eigenen Versagens. 1122 Václav Havel macht deutlich, dass Sinn in seinem Leben mit persönlicher Anstrengung verbunden ist. Sinn zeigt sich nicht ohne weiteres; er kann das Resultat eigener Anstrengung sein und wird ohne diese ausbleiben. Sinn ist demnach nicht vor- sondern vielmehr aufgegeben. Dadurch, daß der Mensch ›aus sich‹ hinausblickt, daß er sich um Dinge kümmert, um die er sich vom Standpunkt des bloßen Überlebens aus gar nicht kümmern müßte, daß er sich immer wieder die vielfältigsten Fragen stellt und sich immer wieder neu ins Brodeln der Welt stürzt mit der Absicht, dort seine Stimme zur Geltung zu bringen – darin erst wird er wirklich zum Menschen, zum Schöpfer der ›Ordnung des Geistes‹, zu dem Wesen, das ein Wunder wirkt: die Wiedererschaffung der Welt. Die Tragödie des modernen Menschen besteht nicht darin, daß er eigentlich immer weniger über den Sinn des eigenen Lebens weiß, sondern daß ihn dies immer weniger stört. 1123

Diese Zeilen machen deutlich, dass Václav Havel wirkliches Menschsein unter die Bedingung einer moralischen Selbsttranszendenz stellt. Erst wenn der Mensch nicht mehr davor zurückschreckt, eigene – durch Reflexion gewonnene – Normen und Ideale in seiner jeweiligen Vgl. Havel (1989), 178. Auf diesen für Havel sehr wichtigen Begriff wird in einem der nachfolgenden Absätze noch genauer eingegangen. 1122 Vgl. Havel (1989), 178. 1123 Havel (1989), 178. 1120 1121

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Das Verhältnis von Welt und Selbst

Lebenswelt aktiv in Wirklichkeit zu wandeln, wird diese Stufe des Menschseins möglich. Dies wiederum darf als ein autonom prinzipienorientiertes und damit einem konventionellen von außen vorgefundenen Moralverständnis entgegengesetzt betrachtet werden. Václav Havel sieht sich somit internalen Prinzipien 1124 verpflichtet und belegt damit eindrücklich seine postkonventionelle Urteilsstufe. Der Bedingung der Transzendenz für die Würde des Menschen fügt Havel eine weitere Dimension hinzu. Sie entsteht durch das Verhältnis des Menschen zwischen der ihn begründenden Ordnung und der Welt. Dieses Verhältnis nennt Havel Verantwortung. Somit – so Havel – führt die Krise des absoluten Horizontes gesetzmäßig auch zur Krise der Verantwortlichkeit des Menschen. 1125 Havel macht hier deutlich, dass sein Sinnbegriff nur innerhalb einer vollständigen Seinsvorstellung erhalten bleibt. Der Verlust des Bezuges des Seienden zu seiner intelligiblen Dimension verhindert das jeweilige Verständnis von Sinn und Verantwortlichkeit. Wir erkennen hier bislang am deutlichsten die philosophische Grundlegung seiner moralischen Selbstbestimmung. Es ist die Synthese aus Welt und Geist, die Václav Havel überhaupt erst eine Vorstellung von Sinn und Verantwortung ermöglicht. Aus der Einsicht also, nicht ein »Schräubchen einer gigantischen Maschine« 1126 zu sein, das den bestimmenden Kräften der Umwelt ausgeliefert ist, sondern ein Mensch, der zur Verantwortung aufgerufen, der in einem Akt der selbstgesetzlichen Bestimmung seiner Handlungen neue Möglichkeiten schafft, gewinnt Václav Havel seinen Mut der Welt gegenüberzutreten.

9.6 Das Verhältnis von Welt und Selbst Václav Havel beschreibt Verantwortung zunächst als Beziehung zwischen Welt und Selbst. »Rahmen, Maßstab und Hintergrund« 1127 bedeuten die formende Funktion (Strukturierung, Organisierung, Entwicklung) der Vernunft in der ständigen biographischen Verwirklichung von uns transzendierenden Werten. Nicht das bloße Dasein des absoluten Horizontes macht uns zum verantwortlichen Men1124 1125 1126 1127

Vgl. Kohlberg (2014), 22. Vgl. Havel (1989), 235. Havel (1989), 237. Havel (1989), 94.

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

schen, sondern das bewusst gestaltete Verhältnis zu ihm. Erneut wird dessen transzendentale Bedeutung erkennbar, wenn er darauf hinweist, dass es dieser absolute Horizont ist, aus dem wir die Verantwortung gewinnen. Die in ihrem Grunde eine permanente Beziehung von uns als Relativitäten zu unserem »einzigen wirklichen Gegenpol« 1128 darstellt, die uns überhaupt erst ermöglicht, unsere Relativität als solche zu erfahren. Havel neigt überdies dazu, unsere konkrete Wirklichkeit lediglich als Mittler und damit zwar als sinnliche Quelle, nicht aber als letzte Ursache der Sittlichkeit zu betrachten. Es ist »der unveränderliche Horizont, den wir dahinter fühlen, bzw. der durch ihn uns ständig anhaucht.« 1129 Es ist die Verantwortung 1130, der Havel eine zentrale sittliche Bedeutung verleiht. Sie ist »die Fähigkeit oder Entschlossenheit oder anerkannte Pflicht des Menschen, unter allen Umständen, ein für alle Mal und total für sich einzustehen (also als einzige Schöpfung der Freiheit) […].« 1131 Hier finden wir deutliche Worte eines Freiheitsverständnisses, das aus einer nicht aufzuhebenden Bindung der eigenen Urteilsinstanz an den »unveränderlichen Horizont« resultiert. Durch die Verantwortung erst erlebt der Mensch – wie Havel ihn sieht – die Abgrenzung und Unabhängigkeit von der erlebten Wirklichkeit. Begrenzung der Abhängigkeit kann als Selbsttranszendenz und Grundlegung einer Autonomie übersetzt werden. Dies wiederum ist die Möglichkeitsbedingung für einen identitätsgebundenen Sinn im Leben. Die individuelle Existenz als Möglichkeit, durch Authentizität und Radikalität den Sinn des Seins neu zu erschaffen und dadurch zu bezeugen, dass der Mensch durch die nur ihm eigene Möglichkeit zur Selbstüberschreitung in der Lage ist, als gebundenes Wesen Freiheit zu entfalten. Havel bewertet den Stellenwert der Verantwortung deshalb so hoch, weil sie es ist, die ihm die nötige Entschlossenheit für die von äußeren Umständen unbedingte Sittlichkeit verleiht. Verantwortung ist für Havel sowohl ein Schauen als auch ein Verpflichtetwerden. 1132 Verantwortung heißt, daß wir für uns selber garantieren, und zwar auch in der weiteren Perspektive ›dessen, was jeder tun sollte‹ ; daß wir für uns in der Zeit garantieren, wir wissen, was und warum wir

1128 1129 1130 1131 1132

Havel (1989), 93 f. Havel (1989), 94. Vgl. dazu auch Kapitel 5.2. Havel (1989), 94. Vgl. dazu den normativen Aspekt der Verantwortung in Kapitel 5.2.2.

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etwas wann getan haben, was und warum wir etwas tun und was wir entschlossen sind zu tun. Hinter dem allen stehen wir und sind entschlossen, unsere Haltung jederzeit und allerorts zu verteidigen oder existentiell zu bezeugen. (Deshalb ist auch die Verantwortung, der Hauptschlüssel zur menschlichen Identität.) 1133

Ein eindeutiges Kriterium für eine moralisch postkonventionelle Haltung dürfte wohl die Verlagerung der moralisch relevanten Gründe weg von der extern präskriptiven Gemeinschaft hinein in das Zentrum einer reflektierten, auf gewonnenen Einsichten basierenden sittlichen Person sein. Václav Havel spricht von Verantwortung im Sinne gewusster Gründe für unsere Handlungen und damit auch gewusster Gründe für unsere Entschlüsse, die in besonderen Lebenslagen ein Zeugnis unserer autonomen existenziellen Grundlegung sein können. Freilich entsteht hier ein epistemisches Spannungsverhältnis aus »gewussten Gründen« und niemals einholbarem »absoluten Horizont«. Dies gilt es an anderer Stelle genauer zu untersuchen. Hier treffen wir direkt auf die zentrale philosophische Frage dieser Untersuchung. Václav Havel gerät sowohl in seinem Versuch der Sinnbegründung, als auch in seiner Begriffsbestimmung der »Verantwortung« ohne metaphysische Konzepte in Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten entstehen, weil er in einer Dialektik von Bewegung und ruhendem Ursprung, von konkreten und absoluten Horizonten, aber auch von erfahrener Beliebigkeit und für wahr gehaltener Absolutheit gefangen ist. Diese Gegenpole lassen sich ohne einen für ihn sprachlich nicht fassbaren Fluchtpunkt nicht auflösen. Havels Auffassung in dieser Hinsicht ist einerseits bestimmt von der Überzeugung, dass ein nihilistischer Weltbezug keine mögliche Position sein kann, er hält diese »für die traurigste Art menschlichen Falls« 1134. Andererseits negiert er überlieferte Gottesbegriffe unter anderem wegen ihrer allzu anthropomorphen Prägung. 1135 Seine Vorstellung von einem Leben in Wahrheit ist für Havel nicht vereinbar mit einem Konzept der offenbarten Wahrheit. Erstere ist dynamisch und verläuft entlang existentieller Selbstbefragung, letztere ist ein fester Punkt. 1136 Besonders anschaulich wird dieser intrapersonale Bezug,

Havel (1989), 174. Havel (1989), 178. 1135 Zur weiteren Erläuterung der Gründe für die Ablehnung konventioneller Gottesbegriffe vgl. auch Havel (1989), 208. 1136 Vgl. Havel (1989), 280. 1133 1134

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

den Havel immer wieder als Dialog seines Ichs mit etwas, das dieses transzendiert und dabei allgegenwärtig und allwissend ist, in seiner Parabel von der Straßenbahn. In seinem 137. Brief 1137 beschreibt Havel eine Situation, die ihm schon viele Jahre zuvor immer wieder in den Sinn kam. Er ist dabei, in den zweiten, vollkommen leeren Wagen einer Straßenbahn einzusteigen und fragt sich, ob er die eigentlich geforderte Krone in einen dafür vorgesehenen Kasten werfen soll oder nicht. Der Zutritt zum Wagon wäre technisch auch ohne die Bezahlung möglich und da er lediglich eine Station weiterfahren möchte, gibt es definitiv niemanden (kann als Abwesenheit der Gesellschaft übersetzt werden), der ihn im Fall der Nichtzahlung in Form einer Strafe sanktionieren, ihn verurteilen, oder der ihm im Fall des Bezahlens sein Wohlverhalten hochschätzen könnte. Jede Art von äußeren Einflüssen in Form von Konsequenzen, die auf seine Entscheidung folgen würden, ist also in dieser fiktiven Situation völlig ausgeschlossen. Es ist klar, worauf die Situation hinausläuft. Die moralisch geforderte Person fragt sich in diesem Dilemma: »Welche Autorität, welcher gute Grund könnte mich drängen, trotzdem zu bezahlen?« Was aussieht wie ein klassisches Setup für ein moralisches Dilemma-Experiment wird für Havel zu einer Schlüsselsituation für seine normative Begründungslegung. Für ihn steht fest, dass es sich um eine Art intrapersonalen Dialog zwischen seinem Ich und einer weiteren moralischen Instanz handelt. Das Ich wird dabei als Subjekt seiner Freiheit, als Reflexionszentrum und als Wählendes vorgestellt. Die von diesem verschiedene Instanz bezeichnet er als Partner, der sich an das Ich wendet, und weil dieser dem Ich gegenübertritt, fällt dieser begrifflich weder vollständig mit dem Über-Ich noch mit dem Gewissen zusammen. Die für unseren Kontext entscheidende Qualität aber liegt in der unbedingten Autorität. Havel spricht vom ewigen Gesetz, von der höchsten sittlichen Autorität, an der ihm mehr liegt als an allen konventionellen Erwartungen, ja wie er sagt: »[…] mehr als an mir selbst, nämlich an mir als dem Subjekt seines Daseins und Träger seiner ›Daseinsinteressen‹«. 1138 Ohne in der Lage zu sein, zwischen dem zu unterscheiden, was sein Erscheinen durch uns selbst oder durch das Erschienene bestimmt, nennt Havel diese sittliche Autorität das Sein, das in seiner Integrität, Fülle und Unendlichkeit

1137 1138

Vgl. Havel (1989), 278 ff. Havel (1989), 280.

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Das Verhältnis von Welt und Selbst

im Moment des Rufens zur Verantwortung »deutlich persönliche Züge« 1139 annimmt. Oder, wie Havel es auch beschreibt: […] es ist als ob das Sein des Universums in den Momenten, in denen wir uns auf dieser Ebene mit ihm treffen, auf einmal ein persönliches Gesicht gewönne und mit ihm sich an uns wende. 1140

In diesem Moment entsteht Verantwortung, gewonnen aus dem Ruf einer sittlichen Instanz, auf die hin wir orientiert sind, weil aus ihr letztlich alles Sein, also auch wir selbst, hervorgehen. 1141 Existieren heißt für den Dissidenten Havel, aus Verantwortung sein Leben gestalten. Normatives Gewicht erhält die Verantwortung durch den Bezug auf Überzeitliches, das sich dem Menschen durch sittliche Anstrengung, gesellschaftliche Einmischung über den eigenen Interessenhorizont hinaus und durch reflexive Auseinandersetzung mit der konkreten Wirklichkeit erschließt. Dadurch gelingt ihm eine postkonventionelle moralische Urteilsfindung, die auf selbst errungenen sittlichen Anschauungen und Prinzipien beruht. Die tiefe Einsicht, dass der Mensch erst dadurch zum Menschen wird, dass er sich fortwährend die Frage nach diesem »Gewissen der Welt«, dem »Seinsgedächtnis«, der »höchsten Gerichtsinstanz« stellt, kennzeichnet seine Grundhaltung. 1142 Das Mühen um Transzendenz, das Ringen um letzte Maßstäbe und Gültigkeiten münden bei Havel in einer ideellen Tiefenstruktur seiner Identität, die ihm ein unbedingtes Handeln überhaupt erst ermöglicht. Da es – so Havel – nicht darum geht, einen finalen inhaltlichen Katalog sittlicher Letztbezüge zu gewinnen, sondern das »Ausgespanntsein« und die hoffnungsvolle Selbstbefragung ein Leben lang auszuhalten, wird der Prozess zur sittlichen Bestimmungsgröße und finale Inhalte zu einer Art regulativen Vorstellung ohne Aussicht, ihrer ansichtig zu werden. Die Vorstellung einer Art Partizipation des Konkreten, weltlich Erfahrenen wird in Folgendem erkennbar: 1143 Das verborgene Rückgrat und die tiefste Quelle alles Sinnvollen im Leben ist also immer – ob wir uns das bewußtmachen oder nicht – diese Verankerung im Absoluten. Deshalb sage ich, der absolute Horizont ist Havel (1989), 280. Havel (1989), 281. 1141 Vgl. Havel (1989), 280 f. 1142 Vgl. Havel (1989), 58. 1143 Zur Unmöglichkeit finaler Inhalte in Antworten auf die Sinnfrage vgl. auch Havel (1989), 166. 1139 1140

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

unsere Meta-Erfahrung: er ist die auf dem Grund all unserer Erfahrung verborgene Erfahrung. 1144

Mit dieser Beschreibung drängt sich geradezu die Assoziation der Methexis-Lehre Platons auf. Jedoch nicht nur in ontologischer, sondern auch in axiologischer Hinsicht. Unseren Erfahrungen läge – so Havel – eine tiefere, nicht unmittelbar erkennbare Metaerfahrung zugrunde, die als eine Art absoluter Träger unserer unmittelbaren Erfahrungswelt verstanden wird. 1145 Sei es nun das Ding an sich oder die allen Dingen vorangehenden und an ihnen teilhabenden Ideen. Wenn Havel schreibt: »Die bisherigen inneren und äußeren Autoritäten erweisen sich als bedingt« 1146 und ihre sittliche Relevanz, ihr »Richtungssinn« hängen vom Maß ab, in dem sie auf ihren ideellen Kern verweisen, entwickelt Havel in Teilen analog der platonischen Methexis-Lehre eine Metaphysik der Erscheinungen, die erneut epistemologische wie auch ethische Aspekte in eine dreistufige aufsteigende Folge verortet. Zum einen die bloße Erscheinung, die Welt in dinglicher Hinsicht, zum anderen unsere moralischen Grundsätze, seien sie heteronom oder durch uns selbst gewonnen, und schließlich eine absolute Autorität, die alles Vorangehende erst erkennbar, aber niemals erschöpfend im Hinblick auf dessen moralische Potenz macht. Fakt ist, dass Václav Havel die sich uns unmittelbar zeigende Welt der Erscheinungen transzendiert, um eine für ihn erfüllte Möglichkeitsbedingung für den Sinn seines Lebens zu schaffen. Das Verhältnis der je individuellen Existenz zu diesem metaphysischen Horizont beschreibt Havel als mühevolle, der Selbstrettung verschriebene Anstrengung. Dieses ›Sich-Auseinandersetzen‹ ist die komplizierteste, dunkelste und zugleich wichtigste metaphysisch-existentielle Erfahrung, der sich der Mensch in seinem Leben unterziehen kann. 1147

Hier zeigt sich erneut eine Form des metaphysischen Denkens, die sich durch die Reflexion über Wesen und Bedeutung der Realität der Welt äußert. 1148 Havel versteht sich als Subjekt im wahrsten Sinne. Er verlässt die Sphäre des unreflektierten und spontanen Sinnverste-

1144 1145 1146 1147 1148

Havel (1989), 183. Vgl. Havel (1989), 183. Havel (1989), 206. Havel (1989), 168. Vgl. Kohlberg (2014), 226.

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Das Verhältnis von Welt und Selbst

hens und tritt ein in einen bewusst geführten Dialog personaler Selbstbefragung, geleitet durch die Frage nach dem letztlich verbindlichen Sinnhorizont. Wir erkennen hierin ein Geschehen, das als autonome Subjektivierung bezeichnet werden kann. Ein Mensch erkennt durch Befreiung oder Übertretung von konventionellen Moralund Sinnkonzepten die Möglichkeit der freigewählten Selbst-Bindung an universelle Ideen oder Prinzipien und vollzieht diese. Der »Lohn« für die mühevolle Reflexion ethischer Fragen ist in den Augen von Havel eine »Neuschöpfung des Seins«. 1149 Die neu gewonnene Ordnung des Geistes ermöglicht durch die schon erwähnte Emanzipation und die Ausrichtung auf den metaphysischen Sinnhorizont die für eine autonome Lebensführung so wichtige neue Seinsform. 1150 Eine prototypisch philosophische und geradewegs sokratische Haltung in der Auseinandersetzung mit letzten Fragen gibt uns Václav Havel zu erkennen, wenn er darauf hinweist, dass sich die Mehrheit der Menschen mit Antworten zufriedengibt, die zwar vordergründig befriedigen, jedoch im Kern nur ihrer – wie er es nennt – Selbsterhaltung dienen. Antworten, denen es an der notwendig vorausgehenden Emanzipierung des erkennenden Subjektes mangelt. Antworten, die sich zwar nahtlos in den moralischen Diskurs der allgemeinen Gesellschaft einfügen, jedoch vorrangig dem Erhalt konsistenter Meinungsbilder und kaum der Gewinnung selbsterzeugter Einsichten dienen. 1151 Die zentrale Bedeutung der autonomen »Neuschöpfung«, vor allem im Kontext der vorliegenden Untersuchung, liegt in der Ermöglichung unbedingter Sittlichkeit. Diese Funktion erkennt auch Havel, ohne sie zum eigentlichen Zweck der freiheitlichen Subjektivierung zu erklären. Havel stimmt mit Karl Jaspers darin überein, dass sich die Kraft der sittlichen Autonomie besonders in Momenten großer Bedrängnis erweist. Wir erfahren unsere Verantwortung am stärksten – so Havel –, »wenn sie uns zwingt, nicht nur gegen die 1149 »Die Ordnung des Geistes emanzipiert sich tatsächlich von dieser Grundlage, und als das wirkliche Wunder der ›Neuschöpfung des Seins‹ verwirklicht sie sich erst später – nämlich erst dann, wenn sich der menschliche Geist in allem Ernst – das bedeutet in ihrer metaphysischen Dimension – die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Sinn seiner sinnvollen Tätigkeiten stellt; nach dem Sinn und dem Wesen seiner eigenen Verantwortung; nach ihrer Rätselhaftigkeit und dem Rätsel ihres sittlichen Gehalts.« Havel (1989), 161. 1150 Vgl. Havel (1989), 161. 1151 Vgl. Havel (1989), 161.

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Václav Havel: Ein Leben in Wahrheit

Meinung unserer Umgebung zu handeln, sondern auch gegen unsere sogenannte Natur!« 1152 Nach über einem Jahr im Gefängnis bekennt er seiner geliebten Frau, dass sich sein Wille, diese Zeit schadlos überleben zu wollen, aus einer Art altruistischen Beziehung zu Werten und Idealen speist. Glück und Freiheit macht Havel abhängig von einer gelungenen Selbsttranszendenz. 1153

1152 1153

Havel (1989), 206. Vgl. Havel (1989), 73.

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III. Schlussbetrachtungen

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10 Die unbedingte Forderung als Funktion der autoeidetischen Struktur

Aus der diskursiven Auflösung der Gegensätzlichkeit von Gefühl und Rationalität, von Egoismus und Altruismus und schließlich von Immanenz und Transzendenz entwickelten sich im Laufe der vorangehenden Untersuchung bereits die Grundzüge einer autonomistischen, integrativen Konzeption freiheitlicher Selbstbestimmung. Wir werden diese Ansätze aufgreifen und nachfolgend versuchen, die autoeidetische Struktur als das sittlich übergreifende Prinzip moralischer Selbstbestimmung, inklusive der motivationalen Komponente, nämlich Emotionen, die mit der begründeten Auffassung von uns selbst in einem kausalen Verhältnis zu denken sind, zu rekonstruieren. Dabei wird sich zeigen, dass dieser aus existentieller Vernunft und der durch diese notwendigen Transzendenz sowie der kategorialen »Brückenfunktion« der existentiellen Geborgenheit und dem ursprünglichen »Zuschnitt« des Menschen zur Freiheit gebildete Begriff geeignet ist, die Leerstelle in der philosophischen Erklärung der unbedingten Forderung, als wesentliche Grenzsituation menschlicher Praxis, zu füllen. Die in dieser Bestimmung gewonnene Unabhängigkeit von autoritären, exegetischen (offenbarungsgestützten) Legitimierungen des sittlich Guten erweist zugleich einerseits die legitimatorische Kraft der Vernunft, aus der ihr spezifischen Weise sich auf Werte und Regeln zu beziehen, und andererseits die für ihre praktische Transformation in Handlungen notwendige Konvenienz mit stützenden Emotionen. Im Ergebnis gelang es damit, eine Konzeption vorzulegen, die die Möglichkeit eines unbedingten sittlichen Imperatives zum einen unabhängig von konventioneller oder extern sanktionsorientierter Entsprechung und zum anderen auf Grundlage vernünftiger Vergewisserung (objektive Richtigkeit) und existentieller Konvergenz (subjektive Richtigkeit) plausibel rekonstruiert. Bevor nun jedoch die autoeidetische Struktur und die durch sie ermöglichte unbedingte Forderung abschließend präzisiert werden,

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Die unbedingte Forderung als Funktion der autoeidetischen Struktur

möchten wir zusammenfassend auf den »Ertrag« der empirischen Grundlage dieser Untersuchung eingehen.

10.1 Gemeinsame Merkmale und Beziehungen der untersuchten Figuren Wir haben bisher die autoeidetische Struktur einer Person als eine besondere Form der sittlichen Verfassung, nämlich als Synthese von Vernunft und Emotion einerseits und von Existenz als Überkreuzungspunkt von Dasein und Transzendenz andererseits gekennzeichnet und damit die Haltung eines Menschen als individuelle und durchaus komplexe Möglichkeitsbedingung für dessen autonome Sittlichkeit philosophisch rekonstruiert. Alle vier Figuren, von Sokrates bis Havel, 1154 besitzen diese Verfassung. Aus ihrem reflexiven Weltbezug heraus gewinnen sie mittels der Vernunft Einsichten in die Prinzipien moralischer Geltung. Die in der Einleitung – ausgehend von Karl Jaspers – aufgestellte Hypothese, wonach die unbedingte Forderung nur unter der Bedingung einer postkonventionell geprägten und identitätsgebundenen Persönlichkeitsstruktur denkbar ist, hat sich als richtig erwiesen. Ob im Feldlager oder im Gefängnis, alle untersuchten Figuren setzten ihre rationalen Kräfte ein, um aus den jeweiligen Quellen ihrer Wertüberzeugungen eine Selbst-Verbindlichkeit in der Form ihrer Existenz als ihr eigenes Sollen zu gewinnen, zu dem sie sich treu und radikal verhielten. Im Prozess der Klärung und Vergewisserung ihrer selbst gelang es ihnen, zu einer Selbstbestimmung zu gelangen, deren normative Gewissheit, jenseits aller Konventionen, alleine in ihrem Verhältnis zu sich selbst gründete. Durch diese Selbstwahl formten sie durch eigene Anstrengung eine sittliche Verfasstheit, die es ihnen ermöglichte, im Urteilen und Fühlen, vermittelt durch ihre existentielle Vernunft, sich auch in extremen Grenzsituationen selbst treu zu bleiben. Die Gesamtheit dieser sich aus Vernunft, Motivation und Freiheit selbst strukturierenden Verfasstheit, die im Bewusstsein ihrer Existenz und Einheit als Person den entscheidenden Ausdruck findet, nannten wir die auto-

1154 Auf die Besonderheiten bzw. Einschränkungen bei Thomas Morus kommen wir noch im Zusammenhang mit der bei ihm zu findenden Form seiner Autonomie zu sprechen.

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Gemeinsame Merkmale und Beziehungen der untersuchten Figuren

eidetische Struktur. Nachfolgend möchten wir zusätzlich einige zentrale Merkmale herausstellen, die teils als Bedingung, teils als Ergebnis dieser sittlichen Tiefenstruktur in den Zeugnissen dieser Ausnahmegestalten auffindbar sind. Als grundsätzlich sozial verfasste Wesen gehen wir gleich zu Beginn auf einen Aspekt näher ein, der die Bedingungen der moralischen Urteilsbildung im Hinblick auf diese Beziehung des Urteilenden zu seinen Mitmenschen hin genauer betrachtet.

10.1.1 Die Beschaffenheit der moralischen Urteile Als Kriterien werden zum einen die Differenzierung nach »offener« und »geschlossener« Moral 1155 und zum anderen die klassische Unterscheidung von konventioneller und postkonventioneller Moral herangezogen. Die geschlossene Moral gründet auf der natürlichen Veranlagung des Menschen zur Sozialität. Die Grundlage bilden dabei Regeln, die das Leben der je spezifischen Gemeinschaft ordnen und den Zusammenhalt sichern sollen. Der funktionale Fokus der geschlossenen Moral liegt auf der Sicherung des Fortbestandes der durch sie geregelten Gemeinschaft. Sie konstituiert sich durch die Abgrenzung von anderen Gesellschaften. Der obligatorische Charakter dieser Moral entsteht lediglich durch die Aneignung der Verpflichtung als solcher. Dem gegenüber steht die offene Moral. Sie wird durch vorbildliche Persönlichkeiten, die Idee der Liebe zur gesamten Menschheit und durch geistige Prinzipien konstituiert. 1156 Die konventionelle Moral wird durch die Anerkennung gesellschaftlicher Regelsysteme bestimmt. Dieser steht die post- oder überkonventionelle Moral gegenüber, die sich aus autonom bestimmten Prinzipien ableitet. Bei allen vier untersuchten Denkern lässt sich eindeutig die Form der offenen und postkonventionellen Moral konstatieren. Sokrates lebt und wirkt zwar in seiner Heimatstadt Athen. Keine der von ihm genannten Urteilsbegründungen weist jedoch einen Bezug auf eine abgegrenzte Gemeinschaft im für die Begründung konstitutiven Sin-

Vgl. Bergson, H. (1933), Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Jena: Diedrichs, 29 f. 1156 Vgl. Bergson (1933), 29 f. 1155

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Die unbedingte Forderung als Funktion der autoeidetischen Struktur

ne hin. Sowohl sein Vernunftethos als auch der Rekurs auf sein Daimonion und die apollinische Weissagung leiten ihren Sinn evident nicht aus der Erhaltung einer bestimmten Gemeinschaft ab. Sie haben ihren Ursprung nicht in der stammesgeschichtlich geprägten Natur des Menschen, sondern in seiner vernunftgeprägten geistigen Verfassung. Daraus folgt zwingend die postkonventionelle Disposition der Moral von Sokrates. Es ist gerade nicht die dem konventionellen Moralbegriff innewohnende Pflicht zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die für Sokrates eine normative Wirkung entfaltet. Die Verpflichtungskraft des Guten orientiert sich nicht an der Meinung der Menschen, sondern erwächst aus ihrem Wesen. Sokrates orientiert sich an Höherem und nimmt dabei die Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Harmonie explizit in Kauf. 1157 Selbst die im Dialog Kriton erkennbare Positionierung des großen Denkers, in der er jede sich ihm bietende Fluchtmöglichkeit mit Bezug auf die Gültigkeit des Rechtsurteils ablehnt, darf nicht als Ausweis legalistischer Moral gedeutet werden. Sokrates macht deutlich, dass die Achtung des Gesetzes für ihn deshalb Vorrang hat, weil zum einen auch erfahrenes Unrecht keine unrechte Handlung rechtfertigt, zum anderen die destruktive Wirkung einer durch ihn begangenen Rechtsbeugung für seine eigene Seele, aber auch für alle nachfolgenden Generationen 1158 großen Schaden verursachen würde und weil er auch in dieser für ihn existentiellen Situation kein göttliches Zeichen gegen den Verbleib im Gefängnis erhält. 1159 Das Gesetz steht per se in einem Bedingungsverhältnis zu Gerechtigkeit und Wohlergehen der Menschen. Als solches wird es Kraft seiner Vernunft zur Norm, nicht aber durch die Interpretation der Menschen. Sokrates steht mit seinen sittlichen Normen gerade wegen diesen Begründungen über der konventionellen Verbindlichkeit des athenischen Gerichts. Im Falle des Philosophenkaisers ist besonders der Nachweis der offenen Moral augenscheinlich, ist doch die Solidarität mit allen an der Vernunft teilhabenden Menschen fester Bestandteil der stoischen Überzeugungen. Die kosmopolitische Perspektive leitet sich erkennbar aus einem als Prinzip zu bezeichnenden Verständnis vom weltimmanenten Logos ab. Darüber hinaus belegen uns seine Zeilen in Vgl. Platon, Apologie, 29 d, 29 e, 30 e sowie Platon, Kriton, 47 e-48 a. Vgl. Platon, Kriton, 54 c. 1159 Außerdem macht Sokrates deutlich, dass auch durch erlittenes Unrecht keine ungerechte Handlung zu rechtfertigen ist. Vgl. Platon, Kriton, 49 b-c. 1157 1158

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Gemeinsame Merkmale und Beziehungen der untersuchten Figuren

den Selbstbetrachtungen eindrücklich seine moralische Orientierung an stoischen Vorbildern. Mark Aurel macht mit seiner Moraltheorie – insbesondere auch durch den ermahnenden Charakter seiner Selbstbetrachtungen – deutlich, dass die Begründung seiner Sittlichkeit die konventionelle Erwartung an einen römischen Kaiser weit überragt und nicht nur der Machterhalt des Imperiums, sondern die Verbundenheit mit allen Menschen Grund seiner sittlichen Urteile ist. Die Handlungen des kaiserlichen Stoikers sind also nicht aus der Übereinstimmung mit einem kulturell und gesellschaftlich bedingten Regelkanon, sondern aus der Teilhabe an einem übergeordneten Naturprinzip legitimiert. Bei Thomas Morus besteht ebenso wenig der geringste Zweifel daran, dass er aus einer postkonventionellen und offenen Moralität heraus handelt und zuletzt ihr verpflichtet sein Leben opfert. Der ehemalige Lordkanzler unterwirft sich nicht dem politisch legitimierten Parlamentsbeschluss, gemäß dem er verpflichtet gewesen wäre, die Suprematie Heinrichs anzuerkennen. Mit der Berufung auf sein Gewissen erhebt er sich über die bloße Legalität dieses Gesetzes und belegt durch seine beispiellos konsequente Haltung den sittlichen Vorrang seines tiefen Glaubens an Gott und dessen Offenbarung. Morus betont mehrfach, dass in der gegenständlichen Angelegenheit nicht die ihn umgebende politische Gemeinschaft (Königreich England), sondern die Gemeinschaft der Gläubigen und deren Urteil von alleiniger Relevanz seien. Das entscheidende Kriterium der offenen Moral ist damit zumindest hinsichtlich der Unabhängigkeit von seiner natürlichen Gemeinschaft erfüllt. Inwiefern Morus tatsächlich neben der Unabhängigkeit von dessen gesellschaftlichen Sittenzwängen auch eine in ihm selbst gründende normative Instanz etablieren konnte, ist damit nicht beantwortet. Hier bestehen gewichtige Zweifel. Die Legitimierung seiner Haltung erfolgt mehrfach unter Bezug auf eine gesetzesförmige Ordnung. Zwar – und ausdrücklich – nicht der politischen Ordnung seiner Zeit, aber doch einer offenbarten Ordnung, deren – diese bedingenden – Gründe nicht weiter hinterfragt werden. Morus bezieht sich auf die Gebote Gottes und Entscheidungen päpstlicher Konzile, 1160 wenn er gegenüber seiner Tochter das Unrecht der vom König geforderten Unterschrift begründet. Bis hierher können wir also feststellen, dass Morus zweifellos ein

1160

Vgl. 33, August 1534, 172.

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zentrales Merkmal der Postkonventionalität aufwies, nämlich eine reflektierte Relativierung der ihn umgebenden sittlichen Ordnung. Der weitere – auch von Kohlberg beschriebene – Schritt der Bezugnahme auf eine diese dominierende normative Bezugsebene wird vom ehemaligen Lordkanzler des Königs zwar gegangen, aber er bleibt dabei im Außen. Konventionelle, äußerliche Legalität wird nicht durch ein vernunftbasiertes inneres Prinzipienverständnis ersetzt, das inhaltlich partiellen Ordnungen voranzustellen wäre, weil diese den Sinn der vorgefundenen sozialen Ordnungen begründen. 1161 Morus bleibt damit teilweise hinter den Kriterien einer eng gefassten Postkonventionalität zurück. Sowohl der mehrfache Hinweis auf die – im Fall der Verfehlung – drohenden göttlichen Sanktionen als auch die interpretierende Begründung zulässiger und verbotener Handlungen verweisen doch deutlich eher auf ein Bewusstsein der Legalität, denn auf eines der Legitimität aus eigener Einsicht in Gründe. Die dennoch konstatierte Postkonventionalität gründet bei Morus in einem umso deutlicher erkennbaren Kriterium, dem der gewissensbasierten Selbstverpflichtetheit, um einer »Selbstverurteilung« 1162 zu entgehen. 1163 Václav Havel erlebte die politischen Verhältnisse seiner Zeit von der Gründung der kommunistischen Republik 1948 bis zur Samtenen Revolution 1989 als feindlich, und zu keiner Zeit betrachtete er die vom politischen Regime erlassenen Gesetze oder eingeforderten moralischen Verhältnisse als bindend für sich und seine engste Umgebung. Es war gerade nicht die Assimilation in die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern sein stetiges Aufbegehren unter Berufung auf seine persönlichen Bedingungen für ein verantwortbares Leben, das seinen Charakter kennzeichnete. Weder berufliche Nachteile noch jahrelanger Freiheitsentzug konnten verhindern, dass er diesen nach außen schweren, für ihn jedoch selbstverständlichen Weg nahm. Havel lebte aus seiner Existenz, einem

Vgl. Kohlberg (2014), 105, 130. Kohlberg (2014), 27. 1163 Vgl. z. B. 3. Juni 1535, 207. Diese Form der moralischen Begründung ordnet Kohlberg der 6. Stufe zu. Inwiefern sich daraus und aus der Tatsache, dass sich aus den untersuchten Briefen keine Hinweise auf eine Art demokratische oder naturrechtsbasierte, menschenrechtliche Gerechtigkeitsauffassung ergaben, ein Widerspruch zur von Kohlberg angenommenen Invarianz der Stufenentwicklung ergibt, soll uns in dieser Untersuchung nicht weiter beschäftigen. 1161 1162

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Selbstbegriff, der ihm, jenseits natürlicher Konventionen, die ihn umgebende Legalität zu relativieren und sich selbst treu zu bleiben erlaubte. 1164 Havel lebte eine offene Moral, die durch ihre prinzipielle Verankerung ohne jeden Zweifel postkonventionell geprägt war. Die hier nachgewiesene Unabhängigkeit der untersuchten Denker gegenüber konventioneller Erwartungen setzt etwas voraus, woraus der konventionelle Anspruch überhaupt erst relativiert werden kann. Stellen wir uns eine ideale Gemeinschaft vollkommen sittlicher Menschen mit idealen Erwartungen aneinander vor, so wäre eine konventionelle Entsprechung inhaltlich die Gewähr für eine ideale sittliche Praxis. Allein die Konventionalität zu überwinden stellt also noch keine normative Steigerung dar. Es kommt offensichtlich darauf an, zu einer Verfassung zu finden, die uns ermöglicht, unsere Entscheidungen im Hinblick auf das, was wir moralisch nennen, vollständig aus uns selbst zu begründen. Dabei spielt es eine große Rolle, nicht nur den topographischen Aspekt (wer will oder urteilt), sondern auch die genetische Beschaffenheit (worauf das Urteil gründet) zu unterscheiden.

10.1.2 Innere Urteilsinstanz Als Quelle für eine derartige sittliche Autonomie rekurrieren alle vier untersuchten Denker auf eine innere Urteilsinstanz. Vor allem bei Sokrates 1165 und Thomas Morus erhält dabei der Begriff des Ge-

1164 Vgl. Rede vor dem US-amerikanischen Kongress am 21. Februar 1990. »Das Bewusstsein geht dem Sein voraus und keineswegs umgekehrt, wie die Marxisten behaupten. Daher lässt sich die Bewahrung dieser unserer menschlichen Welt nirgend anderswo als im menschlichen Herzen, im menschlichen Denken, in der menschlichen Demut und in der menschlichen Verantwortung finden.« 1165 Das Daimonion des Sokrates deckt sich zwar noch nicht vollständig mit dem allgemeinen Gewissensbegriff, da es ausschließlich per negationem eine Gewissheit verleiht. Dennoch ist die »innere Stimme« göttlichen Ursprungs eine der individuellen Seele mit der Geburt beigegebene Schutz-Instanz, die damit der christlichen synderesis-Konzeption sehr nahekommt. Vgl. zum Problem des sokratischen Daimonion Chadwick, H. (1978), »Gewissen«, in: T. Klauser (Hg.): Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. X, Stuttgart: Hiersemann, 1026–1107, 1040–1043.

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wissens 1166 eine große Bedeutung. 1167 Zum Begriff des Gewissens wird unter Verweis auf die bekannte Vieldeutigkeit hier vorausgesetzt, dass es sich weder um ein Gebilde aus der Verinnerlichung der Instinkte noch wie bei Freud um das Ich-Ideal oder ÜberIch als Repräsentanz unserer Elternbeziehung handelt. 1168 Wir gehen vielmehr davon aus, dass es sich dabei um eine autonome, von kulturellen Einflüssen zumindest nicht gänzlich bestimmte Leitinstanz und damit um einen möglichen Raum der Erfahrung eines unbedingten Sollens handelt. Beide Gewissenskonzepte, das autoritär-heteronome und das überkonventionell-autonome, lassen sich im Übrigen in das sehr überzeugende strukturgenetische Modell von Jean Piaget integrieren. So können die verschiedenen Konzepte in einen Entwicklungszusammenhang gebracht werden. Das von Fetz entwickelte Modell 1169 übersetzt spezifische Formen der Norminstanz – autoritäres 1166 Zunächst bedeutet der griechische Vorgängerbegriff zu Gewissen, syneidesis (ein ionisches Verbalsubstantiv), Bewusstsein in einem allgemeinen Sinn. Als Bewusstsein von einer bösen Tat kommt syneidesis erstmals bei Demokrit vor, analog findet sich das attische synesis bei Euripides. Vgl. Stelzenberger, J. (1933), Die Beziehungen der frühchristlichen Sittenlehre zur Stoa, München: Huber, 209. Der griechische Geschichtsschreiber Polybios schließlich überliefert synesis in der heute geläufigen, engeren Bedeutung des Gewissens als einem in den Seelen der Menschen wohnenden Ankläger. Vgl. ebd. In der spezifischen Bedeutung von Gewissen als einer Erkenntniskraft des objektiv Guten und Schlechten tritt syneidesis erst in hellenistischer Zeit vor allem im 1. Jahrhundert vor und im 1. Jahrhundert nach Chr. in Erscheinung. Vgl. a. a. O., 206. 1167 An dieser Stelle soll nicht auf die großen Debatten, die über das Gewissensphänomen geführt werden, eingegangen werden. Der Gewissensbegriff wird auch in der gegenwärtigen Forschung unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten diskutiert. Zur grundsätzlichen Problematik sei auf H. G. Stoker hingewiesen. Er hat die Aufgabe einer für das Verstehen des Gewissensphänomens grundlegenden Phänomenologie recht eindrücklich beschrieben: Angesichts der Vieldeutigkeit der Deutungen »ist es von selbst geboten, nicht die Theorien, nicht die Geschichte des Phänomens, sondern die objektive Wirklichkeit, das wirklich erlebte ›Gewissen‹ als Ausgangspunkt zu nehmen und nur die objektive Wirklichkeit über die Wahrheit der Theorien das letzte Wort sprechen zu lassen. […] Es muss eine gleichsam chirurgische Arbeit geschehen. Das Wort und der Begriff, ›Gewissen‹ ist durch so große Vieldeutigkeit und Verworrenheit belastet, daß geschnitten werden muß.« Stoker, H. G. (1925), Das Gewissen: Erscheinungsformen und Theorien, Bonn: Cohen, 4. 1168 Vgl. Freud (1975), 301 f. 1169 Dieser Ansatz folgt im Wesentlichen der Stufentheorie der Erkenntnisentwicklung nach Jean Piaget, der Stufentheorie der moralischen Urteilsbildung nach Lawrence Kohlberg sowie einer Stufentheorie der Identitätsbildung, die sich von Mead und Kohlberg herleitet und von Jürgen Habermas in ihre bekannteste Form gebracht wurde. Vgl. Fetz, R. L. (1995), »Das Gewissen. Angelpunkt von Moralität und Identi-

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Über-Ich-, konventionelles Regel- und autonomes Prinzipiensystem – in ein individualgeschichtliches Konzept. 1170 Angewendet auf unsere vier Denker bedeutet dies, dass ihre moralischen Urteile, mit denen sie der unbedingten Forderung gefolgt sind, offensichtlich von einem Gewissen der dritten Stufe begleitet wurden. Mittels dieser autoritativen Urteilsinstanz wurde dem aktuellen Sein der vier Philosophen ein Sollen gegenübergestellt, das ihren Willen aufforderte und ihnen im Fall der unbedingten Forderung im besten Sinne keine Wahl mehr ließ. 1171 Der Begriff des unbedingten Sollens stellt dabei die Finalität einer Sollensspannung, gerichtet auf Selbsterhaltung, 1172 dar. Es ist diese autonome Norminstanz, die Sokrates, vermittelt durch sein Daimonion 1173 und gewonnen aus den Reflexionen seiner Vernunft, einem höchsten Imperativ gegenüberstellt. Die Gewissheit, dass einem guten Menschen nichts Böses widerfährt, ermöglicht ihm im Vertrauen auf seine Vernunft eine unerschütterliche Haltung. Bei Morus erweist sich sein Gewissen in vielfacher Bekundung als die sittlich entscheidende Instanz. Es ist sein Gewissen, das ihn unabhängig von den größten Bedrohungen für Leib und Leben macht und ihm letztlich den Weg zur Erhaltung einer reinen Seele weist. Sein fester Glaube an Gott und die damit verbundenen eschatologischen Hoffnungen 1174 in Abhängigkeit vom Zustand seiner Seele geben ihm unbedingten Halt und Richtung für sein Handeln. 1175 Bei Mark Aurel tät«, in: Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften 1995/2, hg. v. A. Regenbogen, Universalistische Moral und Ethik in der Lehre, 51–68, 57. 1170 Vgl. Fetz (1995), 58. 1171 Es handelt sich dabei freilich um keine Determination im klassischen Sinne. Die Person entscheidet sich vielmehr in Freiheit für den sittlichen Wert (Wertbejahung) und schafft damit selbstbestimmt die Voraussetzung für eine derartige Bestimmung des Willens. 1172 Durch die Internalisierung der autonom konstituierten Prinzipien werden diese zu einem Teil des eigenen Selbst. So wird die Aufforderung durch das unbedingte Sollen auch zu einer Frage der Selbsterhaltung, auch wenn dies den sicheren Tod zur Folge hätte. Vgl. zur Internalisierung von Prinzipien Fetz (1995), 58 f. 1173 Vgl. Kapitel 6.4.2. 1174 Roper zitiert seinen Schwiegervater mit einer Antwort für den von Tränen gerührten Master Pope: »Beruhigt Euch, lieber Master Pope, und seid nicht untröstlich. Ich hoffe ja zuversichtlich, daß wir uns einst im Himmel überglücklich wiedersehen, und gewiß werden wir dort miteinander ein Leben in Liebe führen in ewiger, freudvoller Herrlichkeit.« Roper (1986), 85. 1175 Wir haben bereits auf die Einschränkungen bei der Anwendbarkeit des Begriffs »innerer Urteilsinstanz« bei Morus hingewiesen. Ergänzend möchten wir hier darauf

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erfüllt dessen Vorstellung von der Weltvernunft diese Grundbedingung für seine Erhebung über die konventionellen Moralvorstellungen. Aus ihr schöpft der pflichtbewusste Kaiser all seine Kraft, ob im Senat in Rom oder weit entfernt in den Schlachten für das Imperium. Die unbestreitbare Verbundenheit mit dem Logos und der dadurch gewonnene Maßstab der Naturgemäßheit ermöglichen ihm seine autonome Sittlichkeit. Was die unbelebte Natur qua Naturgesetz und das Tier qua Instinkt faktisch bestimmt, das wird dem Menschen qua Vernunfteinsicht als Teil des allumfassenden göttlichen lógos zum sittlichen Gesetz. 1176 Sie leistet sowohl formal die notwendige sittliche

hinweisen, dass er selbst zwar überaus deutlich auf die letzte Autorität seines Gewissen verweist, diesen Imperativ jedoch nahezu ausschließlich aus den Konsequenzen ableitet, die sich aus dem Urteil Gottes im Jenseits gemäß seiner Erwartung ergeben würden. Diese externe Sanktionsorientierung fügt sich nicht ohne weiteres in das Stufenmodell Kohlbergs. Auch verweisen Aussagen wie: »Ich habe nie daran gezweifelt, daß man die auf einem ordentlich einberufenen Konzil bestimmten Glaubenssätze unbedingt zu befolgen hat; wir dürfen doch die Unfehlbarkeit eines allgemeinen Konzils nicht in Frage stellen« (5. März 1534, 145), eher auf eine Art höhere, möglicherweise als Frömmigkeit aufzufassende Konventionalität. Um die in dieser Untersuchung analysierten und gefundenen Begriffe von Freiheit und Autonomie aufrechterhalten zu können (begriffliche Konsistenz), müssen wir auf diesen wichtigen Unterschied von Bestimmungsort oder -instanz und Urteilsgrund oder -fundierung aufmerksam machen. Morus erwies eindeutig die Selbstursprünglichkeit seiner Handlungen, die als eine notwendige Bedingung von Autonomie zu sehen ist. Dem Sollen seines Selbst gab er unter Preisgabe seines Lebens bis zuletzt die höchste Priorität. Die zweite notwendige Bedingung für autonomes Handeln jedoch, die Bindung der Gründe an eine vernunftbasierte anstatt an eine exegetische Rechtfertigungspraxis scheint nicht ohne weiteres gegeben zu sein. Unserer Auffassung nach will eine autonome Person nur unter der Bedingung des Verstandes (ich-gebundene Urteilsbegründung) wollen und tun, was sie will. Vgl. Kapitel 5.4. Diese Bedingung kann nur aufrechterhalten werden, wenn nachgewiesen werden könnte, inwiefern der Glaube – und hier insbesondere der religiös-autoritär vorgefundene Glaube – mit den Kräften der Vernunft aufzuweisen wäre. In Kants Religionsschrift finden wir dazu eine erhellende Unterscheidung von Gewissen und Urteilsinstanz. Zum einen gilt: »Das Gewissen ist ein Bewusstsein, das für sich selbst Pflicht ist.« Zum anderen: »Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand, nicht das Gewissen. […] Das Gewissen richtet nicht die Handlungen als Kasus, […] denn das tut die Vernunft.« Das Gewissen ist somit eine Funktion der Vernunft und »die sich selbst richtende moralische Urteilskraft«. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 287 f. [Hervorhebung durch GS]. Morus bleibt also hinsichtlich der begrifflichen Grenzen der Autonomie, wie sie in dieser Untersuchung gezogen wurden, weiter begründungsbedürftig. 1176 Vgl. Stelzenberger (1933), 162, 164.

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Verortung in Absetzung zum konventionellen Anspruch als auch inhaltlich die Quelle für die erforderliche willentliche Autonomie. Václav Havel unterscheidet sich in der Weise, wie er seine autonome Unabhängigkeit von den Forderungen der herrschenden politischen Autoritäten kenntlich macht, doch nennenswert von den drei vorangehenden historischen Figuren. Keiner dieser bezeugt so deutlich wie Havel seine Quelle innerlich gewonnener Legitimität aus dem Selbst als ein Sich-zu-sich-verhalten. Überhaupt ist der Akzent der existenzphilosophischen Selbstverortung im Leben bei ihm – als religiös ungebunden zu bezeichnenden Dissidenten – besonders deutlich. 1177 Bei Havel finden wir eine innere Urteilsinstanz als ein nach der Maßgabe der persönlichen Verantwortung niemals endgültiges Verstehen absoluter Weltbezüge. Er bezeichnet diesen Bezug auch gerne metaphorisch als (absoluten) Horizont. 1178 Zwar zeigt sich darin durch die erkennbare Uneinholbarkeit eine gewisse Ungesichertheit seiner Wertbezüge im Sinne nicht gegebener letzter Inhalte. Doch bleibt die moralische Begründungsinstanz offensichtlich innerlich und bindend, weil diese den zwar immer vorübergehenden, aber doch einzig verstehbaren Inhalt seines transzendenten Wert- und Sinnbezuges wiedergibt. Das gemeinsame Merkmal des inneren Urteilens bei allen vier Figuren ist das Bewusstsein der Freiheit als Möglichkeit des Seins und zugleich als Bedingung ihrer Bindung an das unbedingt Gesollte ihrer Existenz. In allen vier Fällen können wir somit eine je eigene innere Urteilsinstanz konstatieren.

10.1.3 Ideelle Gemeinschaft Bei der Bestimmung der möglichen Voraussetzungen für die Erlangung einer autonomen Moralität ergibt sich ein weiterer Ansatzpunkt aus der Frage nach einer ideellen Gemeinschaft. Trifft es zu – wie Mead, Kohlberg und Habermas behaupten –, dass es nicht möglich ist, sich alleine gegen eine bestehende Gesellschaft und deren ethische Normen zu stellen, dann ist damit eine weitere Bedingung zu überprüfen. 1179 Auch diese Voraussetzung ist bei unseren drei 1177 1178 1179

Vgl. Havel (1989), 166. Vgl. z. B. Havel (1989), 73, 75, 183. Über die genannten Autoren hinaus ist in diesem Zusammenhang auf das Kon-

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Denkern gegeben. Platon lässt Sokrates in der Apologie explizit von der (nach dem Tode) bevorstehenden Gemeinschaft mit den Weisen und Gerechten sprechen. Er weiß sich damit als Teil einer sittlichen Gemeinschaft, deren Maßstäbe – wie in seinem Leben – nicht durch die zufällige Beschaffenheit der Konventionen der sie umgebenden Gemeinschaften bestimmt war. Mark Aurel weiß sich als Stoiker in der Gemeinschaft aller ihm vorangehenden Philosophen, die seine Gewissheit von der alles bestimmenden Weltvernunft teilten. In den Selbstbetrachtungen verweist er mehrfach auf seine ideell Gleichgesinnten (Zenon, Kleanthes, Epiktet) und weiß sich damit nicht allein, wenn er über die moralischen Anforderungen seiner Zeit weit hinauswächst und sich von ihnen unabhängig macht. Bei Thomas Morus ist die Begründung seines Gemeinschaftsbewusstseins nicht zu übersehen. Spricht er doch mehrmals von der Gemeinschaft der Gläubigen, in die er sich fest eingebunden weiß und mit der er sich moralisch weit mehr identifiziert, als mit dem politischen Oberhaupt, König Heinrich VIII., oder den vielen Landsleuten, die sich dem Geist und den Bedrohungen der Zeit fügten. Unsere Figur aus dem 20. Jahrhundert, Václav Havel, bezeugt in seinen Briefen ebenfalls, dass er seinen Mut und seine Kraft zum ständigen Widerstand gegen das politische Regime, auch aus der Hoffnung auf eine Öffentlichkeit – wie er schreibt –, die seine Werte teilt, für »eine Gesamtheit gewisser Beziehungen, Werte, Ideale, die meinem Leben Sinn geben« 1180, schöpft. Havel wusste sich verbunden mit einer großen Anzahl von Vertretern freiheitlicher Grundwerte in aller Welt. Die Verleihung des Erasmuspreises 1986, des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und die zahlreichen Verbindungen zu Schriftstellern in der freien Welt sowie die Treue seiner Verleger sind Ausdruck dieser Verbundenheit. Ihre Solidarität und Ermutigung war für Havel von großer Bedeutung.

zept Tugendhats hinzuweisen, wonach die Begründung moralischer Normen durch den Akt der voluntativen Selbstbejahung und das diesen bedingende Gefühl des Sich-Wertschätzens gewährleistet sei. Tugendhat spricht von einem sozialpsychologischen Faktum der Moralität. Durch den selektiven Akt des Beziehens auf ganz bestimmte Gemeinschaften fügt sich diese These in die Theorie sozialer Bestätigung als Möglichkeitsbedingung radikaler Entgegensetzung ein und entgeht dabei auch dem Vorwurf allzu augenfälliger Relativität. Vgl. dazu Wolf, U. (1984), Das Problem des moralischen Sollens, Berlin, New York: de Gruyter, 216 ff. 1180 Havel (1989), 73.

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10.1.4 Güterordnung Welche Werte bestimmen letztlich das Gelingen eines Lebens? Was verstehen wir unter dem wirklich Guten und welche Umstände des Lebens sind ihm unterzuordnen bzw. moralisch irrelevant? Die Antwort auf diese Fragen liefert die jeweilige Güterordnung. Zur Klärung der im Innersten verankerten Wertehierarchie ist dabei wohl kaum ein Aspekt des menschlichen Lebens geeigneter als das Verhältnis zum Tod. 1181 Dieser Grenzstein der menschlichen Existenz reflektiert wie kein anderer unmittelbar das von allen Nutzenüberlegungen, Verstellungen und Selbsttäuschungen befreite Bekenntnis des Selbst. In der autoeidetischen Struktur konnten wir deutlich machen, dass es höchste individuelle Anstrengung bedarf, zu einer persönlichen Verfassung zu gelangen, die es ermöglicht, naturgegebene Imperative und Interessen zu transzendieren. Menschen dieser Verfasstheit gelangten auf diesen Weg, der wesentlich von der autonomen Selbstbestimmung geprägt ist, durch die initiale Infragestellung scheinbar selbstverständlicher Gewissheiten. Der Inhalt dieser Gewissheiten soll uns Auskunft darüber geben, woraus wir uns als Personen verstehen und was unserem Leben im ganzen Sinn verleihen könnte. Naheliegende Antworten wie Nation, Gesellschaft, religiös vermittelte Glaubensinhalte oder andere objektive, außer uns liegende Autoritäten verlieren in den Augen philosophisch denkender Menschen ihre Selbstverständlichkeit. Das Feuer der Vernunft (Nietzsche) macht überbrachte und vorgefundene Ordnungen fraglich. Die Liebe zur Wahrheit motiviert den vernünftigen Menschen zu Reflexion, Prüfung und Vergewisserung durch wohlbegründete Urteile. Nachfolgend blicken wir erneut auf die Zeugnisse der untersuchten Denker und prüfen deren wesentliche Bezüge in ihrer Ordnung der Werte und Vorstellungen vom Guten. Der große Athener wird in der Behandlung dieses Grenzbegriffes seinem Ruf als rationaler Geist gerecht. Wie in Kapitel 6.4.5 näher

1181 Die Konsequenzen der Handlungen aus extremen moralischen Forderungen widersprechen häufig dem funktionalen Kernbereich jeder Moral, wonach der Schutz des eigenen Lebens nicht weiter zu begründen ist. Es muss also grundsätzlich festgestellt werden, dass Handlungen um den Preis dieses elementaren Gutes, dem Leben selbst, ihre Legitimität niemals aus der Moral im engeren Sinne, sondern aus den hier ausführlich erläuterten internen Entsprechungs- und Erfüllungsverhältnissen beziehen.

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erläutert, deckt er auf, dass viele Menschen über den Tod 1182 nichts wissen und deshalb besser jede Furcht vor ihm unterlassen sollten. Denn der notwendig zu denkende Gegenstand dieser Furcht käme ja einer impliziten Wissensbehauptung gleich. Sokrates rät also zur Zurückhaltung beim urteilenden Denken und der Entwicklung von Emotionen über den Tod. Neben dieser Urteilsenthaltung nimmt der große Philosoph aber auch positiv Stellung zur Dignitätsstufe des Todes. 1183 Anklagewürdig wäre sein Verhalten, würde er dem göttlichen Auftrag eine vorrangige Berücksichtigung der Todesgefahr entgegensetzen. Er spricht davon, dass er dann »aus der Ordnung gewichen wäre« 1184. Genau wie bei Mark Aurel und Thomas Morus findet eine Unterordnung des Todes unter eine höhere, transzendente 1185 Ordnung, Instanz bzw. Autorität statt. 1186 Bei Havel finden wir keine ausdrücklichen persönlichen Hinweise bezüglich seiner Einstellung zur Hinnahme des Todes als mögliche Konsequenz seines Widerstandes, bzw. einen transzendenten Bezug, der den Tod als ein nachgeordnetes Ereignis einordnen ließe. Aus seinen Äußerungen nach der Selbstverbrennung des Philosophiestudenten Jan Palach im Januar 1969 lässt sich jedoch seine radikale Entschlossenheit und Bereitschaft erkennen, den »politischen Kampf bis zum Schluss weiterzuführen« 1187. Die Seele als eine sittliche Kategorie findet sich mit Ausnahme von Havel bei allen drei vorangehenden Philosophen als ein Ort höchstrangiger, das physische Leben überragender Stellungnahme (Morus) bzw. Prinzipien (Aurel). Für Sokrates ist die Seele als Träger Gemeint ist hier nicht – oder nicht allein – der Zeitpunkt, in dem ein natürliches Leben sein Ende findet, sondern der Zustand, der sich nach einer potentiellen, wie auch immer gedachten Veränderung oder Transformation anschließt. Bei diesen Theorien wird regelmäßig an den Denkformen Raum und Zeit festgehalten, so dass es sich wohl eher um Projektionen denn um unabhängige Vorstellungen formal alternativer Realitäten handelt. 1183 Vgl. Platon, Apologie, 28 e-29 a. 1184 Platon, Apologie, 28 e-29 a. Die zumindest begriffliche Nähe zum kosmischen Ordnungsbegriff der Stoa sei hier ausdrücklich erwähnt. 1185 Bei Mark Aurel ist dieser Ausdruck nur bedingt zutreffend, da der Weltlogos auch als weltimmanent wirksames Prinzip gedacht wird. Wir verwenden ihn deshalb in Bezug auf die Stoa als Ausdruck dafür, dass es sich um eine geistige Konstruktion über die Gegenstände der Welt und nicht um ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen selbst handelt. 1186 Vgl. Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, II, 13, VII, 35, VIII, 44 sowie Heinrich (1984), 126. 1187 Zantovsky (2014), 146. 1182

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aller Fähigkeiten und Erinnerungen sowie des Lebens des Menschen unsterblich und der Person gleichzusetzen. 1188 Die Seele gilt als Inbegriff des Erhabenen, als leitendes Vermögen und die Hinfälligkeit alles Irdischen Überdauerndes. Am ehesten könnte man bei Havel dessen Begriff der »Ordnung des Geistes« als ein überzeitliches Konzept, eine Art »Super-Identität« 1189, die die Geschicke der Menschheit durch alle Epochen hindurch begleitet, mit der Höchstrangigkeit des seelischen Wahrheitsgehalts bei den drei vormodernen Figuren vergleichen. Havel zeigt seine existenzphilosophische Affinität, wenn er vom Sein und dessen Willen spricht. Er hält den Menschen für einen Adressaten dieses Seinswillens und erkennt darin den Aufruf zur Individuation und Identitätsbildung. 1190 Das Prinzip der individuellen Sittlichkeit findet er in der Verantwortung eines grundsätzlich freien Geistes im »Willen zu sich selbst« 1191. Bei Aurelius lesen wir, »daß es genügt, nur bei dem göttlichen Geist im eigenen Innern zu verweilen und ihn wirklich in Ehren zu halten.« 1192 Und bei Thomas Morus schließlich finden wir vor allem den Terminus »Seelenheil« des Öfteren. 1193 In seinen Briefen wird die Vorrangstellung hauptsächlich hinsichtlich der Reinheit als frei von Sünden und im Speziellen als frei von Untreue gegenüber dem eigenen Gewissen betont: »Denn jede andere Haltung kann mein Seelenheil nur gefährden, besonders, wenn sie einem bloßen Angstgefühl entspringt.« 1194 Morus bittet Gott in seinen schwersten Stunden im Tower von London, »mich aber dahin zu bringen, daß ich nur noch auf das Heil meiner Seele achte und mich nicht mehr um die Erhal-

1188 »Denn nichts Anderes tue ich, als daß ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele, daß diese aufs beste gedeihe […].« Platon, Apologie, 30 a. Wenngleich deutliche Unterschiede beim jeweiligen Seelenbegriff, insbesondere zum Seelenverständnis der Stoa mit der Vernunft als leitender Seelenteil und Zentrum der Affekte und Antriebe, vorliegen, bleibt doch die hier genannte Vorrangstellung gegenüber leiblichen Belangen unberührt davon. 1189 Havel (1989), 211. Bei Havel ist aber nicht erkennbar, dass es sich dabei – im Unterschied zur klassischen Seelenauffassung – um ein Individuationsprinzip oder eine göttliche »Substanz« handeln könnte. 1190 Vgl. Havel (1989), 242. 1191 Havel (1989), 242. 1192 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, II, 13. 1193 Vgl. Kapitel 8.2.1. 1194 33, August 1534, 178.

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tung meines Lebens kümmere.« 1195 Diese Unterordnung, als elementarer Akt der Bewertung, erschließt sich uns als notwendige Folge der für die drei untersuchten vormodernen Philosophen uneingeschränkt zu konstatierenden »Teilnahme am Ewigen« 1196. Für alle vier untersuchten Philosophen lässt sich danach eine duale Güterordnung aufweisen. Eine Zweiteilung der Güter in Geist, Vernunft und Seele einerseits sowie Trieb, Sinne und die materiellen Güter andererseits.

10.2 Die autoeidetische Struktur und die Vernunft Mit Vernunft ist ein spezifisch menschliches Vermögen gemeint, auf eine bestimmte Weise mit Einsichten, Erscheinungen und Begriffen operieren zu können. Vernunft gewinnt ihre überragende Bedeutung für den Menschen durch die Kategorien der Wahrheit, der Nützlichkeit und der Existenz. Fundamentale Unterscheidungen unseres Daseins, etwa zwischen Leben und Tod, Arbeit und Spiel oder Recht und Unrecht, würden uns ohne Vernunft nicht gelingen. Wir – so Volker Gerhardt – könnten nicht einmal sagen, womit uns Ernst ist und worauf es uns dabei ankommt. 1197 Das dem Menschen so zentrale Werkzeug nützt sich durch seinen Gebrauch jedoch nicht ab, sondern im Gegenteil gilt: »Hominis autem mens discendo alitur et cogitando (der Geist des Menschen aber wächst durch Lernen und Denken).« 1198 Wahrheit als Inbegriff zutreffender Erkenntnis steht dabei neben dieser vorwiegend theoretischen Funktion zur Hervorbringung angemessener Vorstellungen von der Wirklichkeit (Wissenschaft) auch für die Weise, in der sich unsere für wahr gehaltenen Urteile über uns im Ganzen und die Welt, in der wir existieren, auf unser tatsächliches Dasein beziehen, also auf unsere Existenz. Die moralische Vernunft ist hierfür der Schlüssel. »Das Subjekt konstituiert sich in diesem Fall als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens.« 1199 Es konstituiert dadurch – mit Ricœur – seine narrative Identität. Gelingt dieser Prozess der Aneignung und Verifikation, sprechen wir von

1195 1196 1197 1198 1199

2. oder 3. Mai 1535, 203. Jaspers (1962), 57. Vgl. Gerhardt (2007), 318. Cicero, De officiis I, 105, in: Gerhardt (2007), 318. Ricœur (1991), Bd. III, 396.

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einer Existenz in Wahrheit oder im Fall des Scheiterns von einer Existenz in Unwahrheit oder einer verfehlten Existenz. Ebenso finden wir eine derivative Anwendung der Wahrheit, in der Begriffsform der Richtigkeit oder Angemessenheit, in der Beurteilung von Zweck/ Mittel-Beziehungen. Diese als instrumentell bezeichnete Beziehung (etwas dient einem anderen) wird ihrer funktionalen Qualität nach beurteilt. Die Kategorie der Wahrheit durchdringt somit die beiden anderen und kann deshalb als die zentrale Bezugsgröße der Vernunft betrachtet werden. Mit Schopenhauer lässt sich sagen, dass besonders das Merkmal der möglichen Abstraktion zum Begriff der Vernunft gehört. Mit ihr sind wir in der Lage, sowohl bestimmte Naturdinge, einschließlich aller Artefakte (Natur- oder Dingbegriffe), generisch zu ordnen und in ein Verhältnis zueinander zu setzen und dieses durch die Hervorbringung von kategorial neuen Begriffen (Vernunftbegriffen) zu bedenken. Es ist dieses Denken, in dem wir uns die Vernunftbegriffe der Nützlichkeit sowie der Angemessenheit und zweifellos auch die Träger bestimmter Güte und Vorzüglichkeiten, nämlich Werte, erschließen. Es sind diese Vernunftbegriffe, die das Koordinatensystem menschlichen Daseins bilden. Das Erschlossene ist aber die Folge der Anwendung einer besonderen Art des Denkens und keineswegs ein Teil von dieser. Die klassische Typisierung der Vernunft in instrumentell und prudentiell ist in sich nicht stimmig, da das Adjektiv instrumentell keine spezifische Differenz darstellt. Im ersten Fall wird der sich einem Zweck 1200 unterordnende, dienende Aspekt benannt, im zweiten das Ziel, dem mit ihrer Hilfe gedient werden soll (Klugheit), selbst. Die Vernunft ist wesentlich eine Form des Denkens, die Quelle neuartiger, das dinghafte Naturgeschehen übersteigender Begriffe wie Gleichheit, Differenz, Gerechtigkeit, Freiheit, Moral etc., ohne die wir als zōon logon echon in den für uns eminent wichtigen Bereichen unserer Existenz stumm blieben. Wir bezweifeln jedoch jegliche Behauptung, die darauf zielt, alleine aus der Vernunft normative Substanz ableiten zu können. 1201 Wir sind selbstverständlich in der Lage, aus gegebenen Vorsätzen die rich1200 Dabei handelt es sich meist um Zwecke, die keiner weitergehenden moralischen Legitimierung entspringen, sondern den unmittelbaren subjektiven Handlungsinteressen des betreffenden Subjekts dienen. 1201 Harry Frankfurt unterstützt grundsätzlich die Negierung normativer Gehalte der Vernunft und verweist an deren Stelle auf den Willen. Vgl. Frankfurt (2016), 17. Dies birgt jedoch die Gefahr in sich, normative Gehalte durch deskriptive Willensbeschreibungen gleichzusetzen. Um dem zu entgehen, bleibt die moralische Norm ein Ergeb-

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tigen und womöglich höchst moralischen Konklusionen zu bilden. Die mögliche sittliche Substanz findet sich dabei jedoch in den assertorischen Sätzen der Prämissen, Wünsche und Ziele, nicht in der diese logisch »verarbeitenden« Vernunft. Ihre sittliche Relevanz erhält die Vernunft aus ihrer Öffnung für das Glück und die Sinnbedingungen menschlicher Existenz. Wer sich theoretisch in der Vernunft bewegt, seine Weltorientierung und seine Zweck-Mittel-Überlegungen an ihr ausrichtet, kann ihren Imperativen auch praktisch nicht entkommen. Person sein bedeutet, mit einem Selbstbegriff in deskriptiver und präskriptiver Dimension zu leben. 1202 Vernunft nötigt uns – soweit wir uns vernünftig auffassen – zur Einheit als Person, im Sinne einer stimmigen Verfassung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das rechte Maß bei Aristoteles und der kategorische Imperativ Kants sind, so verstanden, höchst wirkmächtige sittliche Prämissen, deren Anwendung zur Hervorbringung konkreter Sollenssätze geeignet sind. Die im KI zum Ausdruck kommende Universalisierungshypothese 1203 ist nicht ein Faktum der Vernunft 1204 selbst, sondern eine aus den Vorsätzen a) alle Menschen verfügen über prinzipiell gleiche Bedingungen ihres Wohlergehens und b) es gibt keine individuellen zusätzlichen Gründe, die eine Relativierung der An-

nis offener rationaler Auseinandersetzung und im Zuge wohlbegründeter Rechtfertigung grundsätzlich politisch verbunden. 1202 Die Vernunft lässt sich nicht aus sich selbst normativ legitimieren. Der Nachweis der unbedingten Geltung ethischer Normen müsste die Form haben: Dass die Norm X schlechthin notwendig anerkannt wird, muss als notwendige Voraussetzung von etwas erwiesen werden, was selbst nicht kontingent ist. Anders gesagt: Die Anerkennung von X muss als Bedingung der Möglichkeit zu etwas unhintergehbar Notwendigem erwiesen werden. Vgl. Kuhlmann, W. (1978), »Zur logischen Struktur transzendental-pragmatischer Normenbegründung«, in: W. Oelmüller (Hg.), Transzendentalphilosophische Normenbegründung, Paderborn: UTB, 15–26, 20. Dieses unhintergehbare Notwendige ist nach Apel das apriorische Faktum der Argumentation. Dieses lässt sich jedoch keineswegs beweisen. Argumentation in dem Sinn, in dem sie schon immer als Kommunikation gemeint ist, ist jedoch nicht unhintergehbar notwendig. Vgl. Gosepath (1992), 322. 1203 Es soll hier nicht behauptet werden, der KI wäre mit der genannten Universalisierungshypothese gleichzusetzen, aber er ist ein wesentlicher Aspekt und zwar als Bedingung für die durch diesen nachgewiesenen Wegfall der Möglichkeitsbedingungen der in Frage stehenden sittlichen Kategorien wie Lügen, Versprechen halten etc. 1204 Auf die metaphysische Erkenntnisfunktion der Vernunft im Sinne einer Tätigkeit des erkennenden Bewusstseins, durch die ein Wissen apriori gefunden werden kann, soll hier verwiesen werden, um die sehr wirkmächtige transzendentale Auffassung der Vernunft nicht unerwähnt zu lassen.

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sprüche, die sich aus a) ergeben können, rechtfertigen würden, resultierende Schlussfolgerung. 1205 Die implizite Beachtung der Feststellung, wonach jede Vernunft auf für verbindlich gehaltenen Prämissen erst sinnvoll zu verstehen ist, finden wir in den weiteren Typisierungen der Vernunft als z. B. einer kommunikativen oder der von uns eingeführten existentiellen Vernunft. Beide Arten der Vernunft beruhen ihrerseits auf für wahr gehaltenen Annahmen und erfüllen in dem Raum, der sich durch diese logische Festlegung (Präsupposition) eröffnet, ihre dienende (instrumentelle) Funktion. 1206 Der einheitliche gemeinsame Nenner der Vernunft ist die WohlBegründetheit. 1207 Weshalb betonen wir diese Eigenarten der Vernunft so deutlich im Zusammenhang mit der zu erläuternden autoeidetischen Struktur? Die Antwort liegt in der sich nur daraus ergebenden Möglichkeit, das, was uns als vernünftige Lebewesen leitet und lenkt, komparativ aufzufassen. Würden wir Vernunft als einen normative Inhalte implizierenden Begriff auffassen, also eine substantielle Rationalität für wahr halten, müsste im Zuge sittlicher Begründungsdebatten (ethischer Überlegungen), schon aus heuristischen Gründen, von verschiedenen »Vernünften« die Rede sein. Wir hätten zwischen einer platonischen (Wahrnehmungs-)Vernunft (noesis) als 1205 Das Sittengesetz soll bei Kant durch die Deduktion der Freiheit und damit als Faktum der Vernunft begründet werden. Zugleich weist Kant selbst auf den zirkulären Bezug beider hin, wenn er schreibt: »Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben«. Kant, GMS, B 104. Zu Vernunft ohne normative Substanz siehe auch Wolf (1984), 44. 1206 Im Fall der kommunikativen Vernunft bestehen die ihr vorangestellten Annahmen darin, dass von einer prinzipiell herrschafts- und gewaltfreien und von reziproker Anerkennung geprägten Lebenswelt auszugehen sei. Im zweiten Fall, der existentiellen Vernunft, muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei unserer Existenz um eine regulativ relevante, unter bestimmten Bedingungen als gelungen und sinnvoll aufgefasste Weise unseres Seins handelt. 1207 Diese Grundeigenschaft aller Vernunft entspricht schon der stoischen Auffassung, die sich im Begriff der recta ratio widerspiegelt. Wir vollziehen demnach unsere Vernunft dann in rechter Weise, wenn wir uns gegenüber unseren Mitmenschen in rechtfertigender Weise verhalten. Cicero definiert das Vermögen der Vernunft als jenes, das es uns erlaubt, mit Rat zu wählen (cum officio selectio). Damit wird deutlich, dass die Vernunft nicht in erster Linie der Erkenntnis der Welt, sondern der Kontrolle unserer Ziele und Handlungen im Kontext wechselseitig begründeter Erwartungen dient. Vgl. dazu Schweidler (2004), 73 f.

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einem Vermögen, kraft dessen der Mensch auf dialektischem Wege zur Ideenschau befähigt wäre, einer aristotelischen, wonach der Geist (nous) als ein Prinzip (archē), das aller Bewegung zugrunde liegt 1208, einer von Gott geschenkten, theologisch aufgefassten Vernunft, etc. zu unterscheiden und hätten damit nicht nur begriffliche Schwierigkeiten zugelassen, sondern zugleich den Kern dieses menschlichen Vermögens verfehlt, wonach es sich bei der Vernunft um ein besonderes kognitives Vermögen handelt, das uns zu – in der Natur unvergleichlichen – (sittlichen) Einsichten, Begriffs- und Kulturleistungen befähigt, jedoch selbst keine dieser, ganz allgemein als Zustände unseres Bewusstseins bezeichneten Tatsachen in sich selbst trägt. 1209 Eine Theorie der Rationalität muss deshalb die ihr (teils) implizit anhaftenden Begründungszusammenhänge aufdecken und den instrumentellen Kern der Vernunft offenlegen und sodann zu einer durch Grundurteile neu und adäquat rekonstruierten Vernunftkonzeption finden. Wir folgen ausdrücklich Nida-Rümelin, wenn er mit seiner These der Einheit des normativen Sollens fordert, dass die Prädikate »rational« und »moralisch« in einer normativ aufgefassten moralischen Theorie zusammenfallen müssen. 1210 Es liegt uns deshalb daran, den Begriff der autoeidetischen Struktur mittels eines Vernunftbegriffs als jenes kognitive Ausnahmevermögen und die sich daraus ableitbare Phänomene für unsere Existenz philosophisch zu rekonstruieren. Unserem Begriff von Vernunft folgend, dass es sich bei den näher bezeichneten Typen der Vernunft lediglich um einen Hinweis auf die darin mitgedachten Urteile bzw. Vorannahmen und die damit verbundene Begründungsweise handelt, bezeichnen wir den Vgl. Aristoteles, Physik, 5, 256 b, 24 f. Wäre das nicht so, und gäbe es tatsächlich substantielle Rationalität, müssten die in einer vernünftigen Rechtfertigung genannten Gründe ihrerseits aus der Vernunft selbst (absolut) ableitbar sein. Dies ließe sich – wenn überhaupt – durch eine strikte Naturalisierung der Vernunft als normative Trägerin natürlicher Lebensimperative gewinnen. Vgl. dazu auch die in der vorliegenden Untersuchung in Kapitel 3.4 gefundene Definition für Werte als übergreifende Konstrukte des Guten vor dem Hintergrund wesensgemäßer Lebensgestaltung. 1210 Vgl. Nida-Rümelin, J. (1996), »Zur Einheitlichkeit praktischer Rationalität«, in: K.-O. Apel/M. Kettner (Hgg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 73–90, 77 f. Hiernach setzt das Auseinanderfallen beider Prädikate voraus, dass eines von beiden deskriptiv aufgefasst würde. Im Fall einer subjektivistischen Rationalitätsauffassung würde aus »h ist rational« lediglich folgen »Es liegt im Interesse der Person, h zu tun und keineswegs, dass es geboten sei, h zu tun«. 1208 1209

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Typus der Vernunft, der zur Rekonstruktion besonders radikaler, weil für das einzelne Individuum potentiell folgenschwerer Imperative, als existentielle Vernunft. Nun stellt sich freilich die Frage, welche Urteilsbeziehungen dieser besonderen Vernunft – wohlgemerkt besonders nur im Hinblick auf das mittels dieser Vernunft angestrebte Ziel – zugrunde liegen.

10.2.1 Rationalität als existentielle Vernunft und ihr Bezug zur Existenz Wer der Frage nachgehen will, wie es möglich ist, dass mündige Menschen zu prima facie das eigene Interesse gefährdende Handlungen bereit sein können, und dies auf philosophische Weise tun will, muss in seiner Antwort die Rationalität dieser Handlungen nachweisen. Wenn Sokrates im Kritias derart argumentiert, dass die Aufrechterhaltung der Achtung vor dem Gesetz – wie unzulänglich es auch sein mag – schwerer wiegt als die Erhaltung seiner Existenz, dann hat dieser Begründungszusammenhang zwei Bedeutungsebenen: Die erste liegt auf der Hand. Als ein Mensch, der stets bestrebt war, sein Leben in den Dienst – durch eigenes Denken erworbener – Einsichten zu stellen, war es ihm möglich, auch sich selbst zum möglichen Opfer besserer Gründe zu erklären. Die zweite Bedeutung dieser Haltung ist nicht ganz so augenscheinlich, führt uns aber auf direktem Wege zum Verständnis der existentiellen Vernunft. Menschen, die im Laufe ihres Lebens ihre tierhafte Bindung an Impulse, ihre Fesselung an Reiz-Reaktion-Bedingungen überwunden und zu einer inneren Tiefe und Komplexität gefunden haben, entwickeln damit zugleich ein neues Interesse. Dieses erhebt sich aus der Versunkenheit in unser primäres Erleben und hat sich selbst als Gegenstand. 1211 Diese als reflektiert und wertgebunden aufzufassende Verfassung (autoeidetische Struktur) ist der Beginn und die Voraussetzung für ein Geschehen, das wir mit dem Strukturbegriff am adäquatesten erklären können. Doch bevor wir uns diesem Vorgang näher zuwenden, kommen wir

1211 Der bei Jaspers eingeführte Begriff der Existenzerhellung als das Bewusstsein der Möglichkeiten des eigenen Seins trifft die gemeinte Selbstbezüglichkeit im Kontext einer existentiellen Ansprache durch mögliches Sein. Die existentielle Vernunft erschließt der Person die Relevanz der konkreten Situation im Hinblick auf diese gemeinte Seinsmöglichkeit. Vgl. Jaspers (1956), I, 32.

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zurück auf das Zentrum des hier eingeführten Typus der Vernunft: der Existenz. Sokrates und die drei anderen historischen Figuren hatten ein außerordentlich reflektiertes und in Werturteilen gebundenes Verhältnis zu sich selbst. Sie waren dadurch in der Lage, sich selbst nicht nur als etwas, als lebendiges Wesen, sondern weit darüber hinaus als eine durch Wertüberzeugungen getragene Existenz aufzufassen. Ihre bewusste Eigentlichkeit im So-sein war es, die ihnen einen neuen Ur-Grund für das ermöglichte, was sich ihnen in schwierigen Lebenssituationen als das einzig Vernünftige zeigte, ihre Existenz. Sokrates hatte damit nicht nur die Möglichkeit einer externen, auf die Athener bezogenen Folgenbetrachtung, sondern konnte darüber hinaus sich selbst vor Augen führen, welchen Einfluss seine Handlung (Rettung seines physischen Lebens durch Flucht aus dem Gefängnis) für alle Zeiten auf sein Verhältnis zu sich selbst gehabt hätte. Wer wäre er dann gewesen, hätte er sich »feige« verhalten? Er und mit ihm Marc Aurel, Thomas Morus und Václav Havel haben sich in der Situation höchster Bedrängnis und sittlicher Herausforderung existentiell rational verhalten und damit mittels der Vernunft ihrem höchstpersönlichen Entwurf von sich selbst entsprochen. In diesen Situationen zeigte sich die Zeitlichkeit und Individualität einer jeden Existenz. 1212 Wie die sogenannte prudentielle Vernunft in der Lage ist, durch zeitlich übergreifende Nutzenkalküle augenblickliche Bedürfnisse als nachrangig einzustufen 1213, so ist die existentielle Vernunft – als höchststufiger Typus 1214 – wesentlich in der Lage, niederrangigere Vernunftziele, einschließlich der physischen Selbsterhaltung, zu »neutralisieren«, weil diese Selbsterhaltung in physischer Hinsicht zugleich einer Selbstzerstörung in intelligibler Hinsicht gleichkäme. 1215 Dies zu denken, setzt voraus, dass wir eine grundsätzVgl. dazu auch die narrative Kennzeichnung des Selbst bei Ricœur (1974), 59. Der komplexe Vorgang der Präferierung wird mit dem Wort »einstufen« freilich nur sehr unpräzise benannt. Im Kapitel 4 zum principium executionis wurde jedoch auf weitere Implikationen ausführlich eingegangen, und im nachfolgenden Kapitel 10.3 zum Eigeninteresse wird abermals auf wesentliche Aspekte im Hinblick auf das ratio-emotionale Geschehen in der Willensbestimmung eingegangen. 1214 An dieser Stelle tritt der Ansatz hierarchischer Motivationsstrukturen hervor. Frankfurts second-order volitions werden hierdurch material erweitert, die existentielle Vernunft als Quell sekundärer Wünsche identifiziert. 1215 Jaspers spricht auch vom drohenden geistigen Selbstmord, wenn ich mich verrate. Vgl. Interview mit Thilo Koch vom März 1960, abgedruckt unter dem Titel »Nur die Freiheit – allein darauf kommt es an« in FAZ vom 17. 8. 1960. Hierzu ergänzend sollten wir uns vor Augen führen, wie gering doch der endgültige Verlust von Be1212 1213

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liche Verbindung von Selbstauffassung und unserem epistemischen Status in sittlicher Hinsicht annehmen. Die Frage wäre, ob nicht neben dem kategorischen Imperativ kantischer Auffassung, also ein KI, der einzig durch die Gesetzmäßigkeiten, die Beschaffenheit der Vernunft begründet 1216 ist, ein weiterer kategorischer Imperativ aus der Auffassung, dem Einsehen, der geglaubten unbedingten Gültigkeit (eine Art klare und wahre Einsicht in eine Wertgestalt im Sinne einer quasi unbegrenzten Bejahung (Liebe, Verlangen, Begehren) von bestimmten Werten) resultieren könnte. Der Unterschied zum klassischen KI bestünde freilich darin, dass dieser existentielle KI seine Gültigkeit nicht aus den Gesetzen des schlüssigen und unparteiischen Denkens bezöge, sondern aus einer unbedingten persönlichen Gebundenheit. Der Einwand dagegen könnte lauten, dass eine subjektive Geltungsbegründung niemals kategorischer Art sein könne. Dies würde ein Verständnis von Kategorizität voraussetzen, das ausschließlich dem Kants folgt und damit exklusiv formale, also auf Strukturen des Denkens bezogene Gründe für sittliche Imperative zulässt. Die Vernunft kann nicht durch sich selbst gerechtfertigt werden. Die rationalistische Einstellung, wonach es Gründe sind, die ein Sollen hervorbringen, bzw. ganz allgemein es Gründe sind, die über die Angemessenheit von Vorstellungen juridisch entscheiden, lässt sich selbst nicht begründen. 1217 Lediglich pragmatische oder dezisionistische Begründungen wären denkbar. Ein guter Grund, weshalb wir trotzdem von kategorischer Verpflichtung reden werden, besteht zum einen darin, dass nicht die von Kant antagonistisch aufgebauten kontingenten Neigungen eines Menschen und schon gar nicht die in Relation dazu gegebenen Verhältnisse (z. B. Verwirklichungskontext) normativ relevant wären, sondern einzig und allein die durch eigenes Denken und Fühlen begründete Bindung an die das eigene Sein-Sollen konstituierenden Werte. Wir fassen damit Imperative, die in einem konstitutiven Verhältnis zu unserer Existenz durch die mit ihnen verbundene Bedrohung der Selbst-Treue stehen, als kategorisch im unbedingten Sinne auf. Leitet der KI seine Geltung aus der wusstsein (Tod) im Vergleich zu immerwährenden Schmerzen der Verzweiflung und der Verlorenheit wöge. 1216 Diese Position wiederholt zunächst die von Kant selbst postulierten Begründungszusammenhänge. Vgl. Faktum der praktischen Vernunft. Wir haben oben bereits auf die Relativierung dieser Behauptung hingewiesen und versucht, die impliziten Vorbedingungen dieses angeblichen Faktums darzulegen. 1217 Vgl. Gosepath (1999), 45 f., sowie Schweidler (2008), 389.

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Zustimmung zur Vernunft als Weise zu denken ab, tut dies der autoeidetische Imperativ aus der Zustimmung zur einheitlichen, wahrhaftigen Existenz. Unser Selbst als Existenz will vernünftig sein, weil es durch einen performativen Widerspruch 1218 zu zerbrechen drohte. So notwendig eine vernünftige Prüfung unseres Selbst aber auch sein mag, niemals geht es alleine in dieser Gegenüberstellung von Sollen und Praxis auf. Autonomie ist immer mehr als formale Entsprechung. Selbst-Treue ist am ehesten vergleichbar mit dem platonischen Topos der Gerechtigkeit als gutem Zustand der Seele, der seine Geltung aus den Verwirklichungsbedingungen des guten Lebens bezieht. Deutlich erkennbar bleibt dabei der »subjektive Makel«. Dieser löst sich jedoch dann auf, wenn die Universalisierbarkeit von Handlungs- und – kantisch gesprochen – Willensbestimmungen nicht als notwendige begriffliche Bedingung eines kategorischen Imperativs unserer Prägung verstanden wird. Zielt jener auf die Reinheit der Vernunft aller vernunftbegabten Wesen, hat dieser immer die Existenz als wertrealisierendes Dasein von einzelnen Personen im Blick. So wie der vernünftige Mensch, nachdem er begonnen hat zu denken und zu sprechen, sich nicht anders als vernünftig aufzufassen in der Lage ist, kann sich der Mensch, der Einsicht in seine ultimative Sinnbedingung gewonnen hat, nicht mehr von dieser slösen. So wie uns die Geltungsansprüche der Vernunft keinen Ausweg aus ihr bieten, können wir uns den Imperativen der eigenen Existenzauffassung nicht entziehen. Die Person, die sich den Imperativen ihrer selbstgewählten Existenz entzieht, nicht gemäß diesen handelte, würde sich demzufolge irrational verhalten. Menschen, die aus ihrer autoeidetischen Struktur heraus leben, 1219 haben keine Alternative, weil es für sie als denkende und wertende Wesen kein Leben außerhalb ihrer selbstgemäßen Praxis geben kann. Warum? Weil der Mensch, der sich selbst »gefunden« hat, nichts mehr fürchtet, als sich selbst 1218 Die begründungstheoretische Bedeutung dieses Selbstwiderspruchs hat Karl-Otto Apel sehr scharfsinnig herausgearbeitet. Aufgrund der wesentlich soziomorphen Binnenstruktur unseres Selbst darf diese logische Figur auch ohne ein grundsätzliches diskursethisches Bekenntnis in Anspruch genommen werden. Vgl. Apel, K.-O. (1973), Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 358 ff. 1219 Ein Leben aus der autoeidetischen Struktur ist dabei keine Frage des Wollens im klassischen Sinn. Wer diese Struktur durch das vorangehende Klärungs- und Entwicklungsgeschehen in sich trägt, steht dieser nicht mehr objektiv gegenüber und kann deshalb auch nicht willentlich aus ihr oder aus anderen Gründen handeln. Die autoeidetische Struktur ist die epistemisch und affektiv geformte Einheit des Selbst, aus der sie lebt.

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abhandenzukommen, ins Nichts zu stürzen. Während die Kräfte zur biologischen Selbsterhaltung zum größten Teil instinktiv, also unverstanden, in uns verankert sind, stehen die Gründe und damit Werte unserer Existenz im hellen Licht unseres Selbst-Bewusstseins. Sind es beim KI die theoretische, weil formale Kongruenz mit dem begriffslogischen Denken, ist es im Fall der autoeidetischen Struktur die Übereinstimmung der persönlichen Praxis mit dem Sollen der eigenen Existenz. Existenz ist nach dieser Auffassung unser Bewusstsein vom Leben als sinn- und wertgebundenes Dasein, das uns als Sollen gegenübertritt. Wir sind damit an einer besonders wichtigen Stelle der vorliegenden Untersuchung angekommen. Deshalb noch einmal anders gefasst: Der wahrhaft freie und damit selbstbestimmte Mensch ist nicht nur der Adressat vergleichsweise einfacher Aufforderungen zur (instrumentellen) Stellungnahme der Form: »Soll ich x oder y präferieren, um p zu bezwecken?« (hypothetische Fraglichkeit), sondern und vor allem auch der Adressat von Imperativen, deren einziger Ursprung die Bewahrung seiner Existenz ist. Steht im einen Fall ein partieller Erfolg der konkreten Lebenspraxis auf dem Spiel, droht im anderen der Untergang dessen, was alleine uns übergreifende Bedeutung und Sinn im Leben zu stiften vermag. Neben dieser theoretischen Ableitung bedarf es aber auch einer motivationalen. Dazu wird im folgenden Unterkapitel das Gefühl der existentiellen Geborgenheit phänomenologisch erläutert und damit auch die Frage der exekutiv relevanten Folgen und Bedingungen unbedingter Forderungen sichtbar. Durch die Imperative der existentiellen Vernunft wird uns auch vor Augen geführt, was es bedeutet, uns gattungsbezogen als animal rationale aufzufassen. Es bedeutet nicht nur, eine Vorliebe zum Denken zu besitzen oder eine Differenz zu anderen Kreaturen unserer Mitwelt du benennen, ein ich-Sager (E. Tugendhat) sein zu können, sondern es beschreibt im Falle herausragender Individuen auch die Bereitschaft der bewussten Auffassung 1220 von uns selbst im Ganzen, unserer Existenz im Zweifel den Vorrang vor was auch immer kommen mag geben zu können. Wie aber ist das Verhältnis von existentieller Rationalität und der Art von Vernunft zu beschreiben, die wir im Kontext sprachlicher Auseinandersetzung mit den Erwartungen unserer Mitmenschen als moralische Vernunft bezeichnen könnten? An der Schnittstelle dieser beiden Rationalitätsbezirke 1220

Vgl. dazu Erschlossenheit bei Heidegger (2006), 212–230.

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entscheidet sich die vernünftige Grunddisposition einer Person. Die Existenz ist zwar der ultimative Bezugspunkt unserer existentiellen Vernunft. Jedoch ist die Existenz grundsätzlich als normativ passiv aufzufassen. Wir erkennen in ihr uns selbst als das, wovon wir überzeugt sind, ihm entsprechen zu müssen und zu wollen. »Das Dasein ist rufverstehend hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit.« 1221 Wir sind aber nicht in der Lage, ohne eine weitere Vernunftanwendung die notwendige konstitutive Leistung für unsere gerechtfertigte Seinsweise zu erbringen. 1222 Insbesondere im Spannungsverhältnis von Geschichtlichkeit jeder Existenz zur Allgemeingültigkeit moralischer Gesetze und Prinzipien tritt dieser äußere Anspruch an uns heran. Dem sich daraus möglicherweise ergebenden Vorwurf der absoluten Subjektivität entgehen sämtliche näher untersuchte Figuren mittels der zentralen Rolle der Verantwortung in ihrem Leben. In ihr gewinnt die Existenz eine sittliche Offenheit, die mittels der moralischen Vernunft den inhaltlichen Anschluss der Existenz an das Allgemeingültige sichert. 1223 Die moralische Vernunft dient der ethischen Fundierung der Existenz. In der Unterscheidung der beiden Vernunftarten zeigt sich der grundlegende Unterschied zwischen einer auf Erkenntnis gerichteten und einer auf Erhaltung und Erreichung gerichteten Vernunftanwendung. Die moralische Vernunft ermöglicht durch unsere Anstrengung, zu einer auf besten Gründen basierenden Urteilsbildung über das zu gelangen, was wir anderen schulden, ohne deren Freiheitsansprüche zu gefährden; sie ist insofern epistemisch wirksam, als sie uns einen, von externen AutoHeidegger (2006), 287. Die Konstitution der Eigentlichkeit aus der Absetzung vom »Man« ist inhaltlich normativ defizitär. 1223 Wir kommen hier zurück auf unser Verstehen moralischer Gründe in Kapitel 5.3. Eine moralische Person zu sein, erfordert, sich selbst auch als Exemplum aller Menschen und darin als Wesen, deren Anspruch auf Freiheit unverfügbar ist, zu sehen. Diese konstitutive Hinsicht aller vernunftbasierter Moral auf universelle Achtung der anderen realisiert sich in uns durch ein der Rechtfertigung fähiges Nachdenken. Kierkegaard schreibt dazu: »Erst wenn das Individuum selbst das Allgemeine ist, erst dann läßt das Ethische sich realisieren.« Kierkegaard (2017), 822. Er macht sich damit zum moralischen Menschen, nicht dadurch, dass »er sich seiner Konkretion entkleidet«, sondern dadurch, dass er sich mit dieser universellen Perspektive bekleidet. Wer ethisch lebt, hat sich selbst als seine Aufgabe darin, »das Zufällige und das Allgemeine ineinanderzuarbeiten.« Ebd. Vgl. dazu auch die Paradoxie der personalen Universalität: »Ein Mensch wird zur unverwechselbaren Persönlichkeit, indem er sich mit etwas identifiziert, das ihm wichtiger ist als er selbst und das er eben deshalb mit sich eigentlich nur in dem Sinne gleichsetzen kann wie alle anderen.« Schweidler (2008), 390. 1221 1222

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ritäten unabhängigen Zugang zu gültigen sittlichen Wahrheiten erschließt. 1224 Insbesondere in den für unser Zusammenleben so entscheidenden Situationen der Rechtfertigung dient uns dieser Typus der Vernunft als Instrument der Begründung gegenüber den möglichen Adressaten unserer Rechtfertigung. 1225 Die moralische Vernunft erschließt 1226 uns damit eine objektivierte Wahrheit, die Wahrheit aber, um die es uns in der Existenz gehen muss, »ist nur dadurch, dass ich mit ihr identisch werde.« 1227 Existenz als beste Seinsmöglichkeit im Verhältnis zu sich selbst wird wirklich in konkreten Entscheidungen und Handlungen. Von Sokrates bis Havel zeigten alle betrachteten Figuren, dass der Ursprung ihrer Sittlichkeit in ihrer Existenz zu finden war. Die festgestellten Unterschiede resultieren dabei aus der Weise der Vermittlung sittlicher Standards. Sei es die diskursive Vernunft bei Sokrates, die Übereinstimmung mit der rationalen Natur bei Marc Aurel, das Gesetz Gottes bei Thomas Morus oder schließlich die sittliche Instanz der Verantwortbarkeit bei Václav Havel. Bei keiner dieser Ausnahmegestalten regierte ein objektives Gesetz im Sinne eines dominierenden Aktes, etwa Vernunft gegen Gefühl, Objektivität gegen Subjektivität. Stattdessen finden wir in allen Fällen die für die existentielle Selbstbestimmung typische Zentralität des Sichzu-sich-verhaltens im konkreten Vollzug des Sich-selbst-werdens. 1228 1224 Die Geltung ergibt sich – wie mehrfach betont – nicht aus einer substantiellen Rationalität, sondern aus den natürlichen Bedingungen des Zusammenlebens (Kontextualität jeder Moral) und den Verfahren, die sich in der betreffenden moralischen Gemeinschaft als diejenigen entwickelt haben, mittels derer die wechselseitigen Erwartungen am angemessensten artikuliert werden können. 1225 Vgl. dazu auch Tugendhat (1976), 107. Gerade im Fall der besonderen Form der Selbst-Verantwortung zeigt sich die Binnenfunktion der moralischen Vernunft. Wir stellen uns selbst vor uns und beziehen Stellung gegenüber der Wahrheit der moralischen Vernunft. 1226 Im Erschließen alleine begründet sich jedoch keine der Vernunft implizite Normativität. Diese leitet sich erst aus dem materialen Gehalt der Gründe ab. 1227 Jaspers (1948), 11. Der sich so abzeichnende Unterschied der Wahrheit aus der moralischen und der aus unserer existentiellen Vernunft ist nicht ontologischer, sondern struktureller Art. Im ersten Fall besteht sie in der Entsprechung der Bedingungen, die sich aus den je gegebenen, reziprok auf Freiheit und das Wohl der Angehörigen der betreffenden Gemeinschaft gerichteten Verständigungsverfahren ergeben. Im zweiten aus der durch unseren praktischen Vollzug erwiesenen Selbst-Treue, dem rational vernünftigen Einstehen für unser Selbst. 1228 Jaspers umschreibt diese Zentralität der Existenz als Überwindung der SubjektObjektspaltung. Vgl. Jaspers (1956), II, 337. In dieser Zentralität wird im Übrigen auch die – aus hermeneutischen Gründen sinnvolle – Unterscheidung von principium

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Was uns zu moralischen Menschen macht, muss zu unserer Existenz werden, keine Befolgung von allgemeinen Regeln (Konventionalität), sondern ein Ergreifen von Seinsmöglichkeiten, die ihrerseits durch die grundsätzliche Weltorientiertheit der Existenz moralisch konstituiert sind. Die Aktualisierung und Befolgung unbedingter Imperative folgt aus der Seinsweise als Existenz. Diese – so Jaspers – ist »das Sein, das sein eigenes Sollen ist, […] welche, was sie unbedingt tut, als gesollt versteht.« 1229 Fragen wir uns nach dem Verhältnis von Existenz und Vernunft, müssen wir verstehen, dass diese jener zu einer Auffassung von Stimmigkeit, von Ordnung im Sinne der oben erwähnten guten Verhältnisse bei Platon verhilft und zugleich die Vorstellung davon ja überhaupt erst hervorbringt. Aus dieser Richtigkeitsvorstellung erwächst eine Form intellektueller Immunität, nach der jede Existenz strebt. Zu existieren bedeutet, nach der Ermöglichung geteilter Bestätigung aus dem Vermögen der Vernunft zu streben. Die zentrale Stellung der Vernunft resultiert schlicht aus unserer psycho-physischen Beschaffenheit. So anfällig anthropologische Setzungen dafür sind, nur für den Zweck, der den daraus abgeleiteten Folgerung dienen zu können, aufgestellt zu werden (petitio principii), so sehr müssen wir es doch als evident betrachten, dass wir schlicht aufgrund unserer sprachlichen Vermitteltheit gar nicht anders können, als mit Kategorien von richtig und falsch zu operieren. Weil wir qua Vernunft immer in und durch diese Wahrheitskategorien »gefangen« sind, ist sie auch der Grund für alle Vorstellungen von »existentieller Richtigkeit«. Erst dadurch ist es uns möglich, den semantischen Gehalt von Treue, Verletzung, Integrität, Verfehlung etc. zu denken. Die Vernunft ist also zugleich sowohl der Verursacher der Bedürftigkeit nach intellektueller Immunisierung als auch das einzige Mittel, diese zu erreichen. 1230 Das Wesen der Immunisierung besteht darin, eine sich diiudicationis und principium executionis überwunden und im Akt der Selbstbehauptung aufgelöst. 1229 Jaspers (1956), II, 330. 1230 Diese Auffassung von intellektueller Immunisierung geht über das Konzept der voluntativen Selbstbejahung von Tugendhat hinaus, dem das Sich-selbst-schätzenswert-fühlen-wollen, was wiederum mittelbar aus der Befolgung der Normen resultiere, denen allgemein das Prädikat zukommt, gut für alle zu sein, genügt. Weder eine ausreichend normative Begründung noch die diachrone Bedingung der existentiellen Geborgenheit werden damit erreicht. Zwar postuliert Tugendhat durch den Wegfall sogenannter höherer Wahrheiten (soziokulturelle Prägungen, religiöse oder mythische Überzeugungen) eine automatische Ausrichtung der Bedingungen des wechsel-

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über ihr Sein in der Welt bewusste Person vor den Folgen existentieller Verzweiflung zu schützen. 1231 Der Sinn unserer Existenz würde durch Täuschung korrumpiert und durch Wahrheit überhaupt erst möglich. Wir können die angestrebte Stimmung oder Richtigkeit auch als Gleichgewicht zwischen aufgefasster sittlicher Wahrheit und persönlichem Vollzug auffassen, die, angetrieben von dem Verlangen in existentieller Wahrheit leben zu wollen, durch ständige Prüfung als erhoffte Vergewisserung in Frage gestellt wird. Die Vernunft bedingt und beseitigt potentiell zugleich Angst. Angst, existentiell zu scheitern. 1232 Als zōon logon echon untersteht der Mensch in seiner Existenz im umfassenden Sinne dem Vermögen der Vernunft. Sie schenkt uns einerseits die Befriedigung aus der Erkenntnis, die Tiefe der Liebe, aber durch sie sehen wir uns als selbstbewusste und selbstgebundene Wesen immer auch radikalen Bedrohungen ausgesetzt als Folge einer existentiellen Verfehlung. 1233 Die Vernunft ist somit ein Organ eines in sich zweckmäßig organisierten Organismus. Selbst unser Weltbegriff ist nur als Folge unserer Selbstauffassung mittels unserer Vernunft möglich. Wir blicken durch uns selbst auf die Welt. »Qualiter anima est omnia quodammodo quae sunt.« 1234 Weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht können wir die Vernunft als bloßes Organ der Wahrheitsfindung auffassen. Wahrheit und Zweck sind über den Willen eng seitigen Schätzens auf alle, das Universelle. Inhaltliche Angaben, die das Gute gut machen, lassen sich daraus jedoch nicht finden. Eine Immunisierung auf Grundlage der Vernunft, also der Weise, in der wir schlicht nur zu denken in der Lage sind, scheint hier weitreichender. 1231 In vorangehenden Kapiteln wurde bereits die Liebe zur Wahrheit, das Streben nach einer Existenz in Wahrheit betont. In der Funktion der Immunisierung drückt sich die Sorge um den Verlust dieses existentiellen Zielzustandes aus. Pflichten sind »the reflective rejection of a threat to your identity.« Korsgaard (2013), 150. Pflichtgemäße Handlungen immunisieren uns gegen den Verlust unserer Identität. 1232 In diesem Gelingenszusammenhang erkennen wir die klassische Bedingung für Glück als eudaimonía bei Aristoteles. Auch hier ist es eine prinzipielle Überein-Stimmung von Praxis und Vorstellung, ohne die der Mensch in sein Unglück stürzen würde. 1233 Hier erkennen wir übrigens besonders deutlich, weshalb es tatsächlich sinnvoll ist, von moralischen Gefühlen zu sprechen. Nicht weil sie mit sittlichen Handlungen im Zusammenhang stehen und als Schuld oder Scham in Erscheinung treten, sondern weil es Gefühle gibt, die gleichsam der Ausdruck der Gründe selbst sind. 1234 Albertus Magnus (1968), Sancti doctoris Ecclesiae Alberti Magni Ordinis Fratrum Praedicatorum Episcopi Opera omnia, VII pars I: De Anima, hg. v. C. Stroick, Editio Coloniensis, Aschendorff: Monasterii Westfalorum, lib. 3, tract. 3, cap. 12, 223.

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verbunden. Erst durch den Willen wird die Vernunft zur wichtigsten Kraft des Menschen. Wahrheit wird im Zweck über das Interesse an ihr zum Willen transformiert.

10.3 Die autoeidetische Struktur und das Eigeninteresse Wenn Marc Aurel im klassischen stoischen Verständnis davon spricht, dass der Mensch sich selbst nur gerecht wird, wenn er nicht nur als Material des kosmischen Geschehens insofern fungiert, als er sich nur seinen Affekten hingibt, sondern stattdessen dem in der Natur waltenden göttlichen Willen (lógos) folgt. Wenn Sokrates sich selbst beschwört mit den Worten: »Wohin jemand sich selbst stellt, in der Meinung, es sei da am besten, […] da muß er, wie mich dünkt, jede Gefahr aushalten und weder den Tod, noch sonst irgend etwas in Anschlag bringen gegen die Schande« 1235, dann bedeutet weder das eine noch das andere, dass Gefühle prinzipiell im Widerspruch zur sittlichen, oder etwas umfassender gesprochen zu einer wertgebundenen Praxis des Menschen stehen. Sowohl die übermenschliche Opferbereitschaft Marc Aurels als auch die Unerschrockenheit Sokrates’ waren Gegenstand dessen, worum es in diesem Kapitel gehen soll: das Eigeninteresse. Noch ganz allgemein gesprochen gründet das eigene Interesse eines Menschen auf seinen Überzeugungen gelingender Lebensführung. Damit sind diejenigen Urteile über die Wirklichkeit gemeint, die unserem Streben nach einem glücklichen oder sinnstiftenden Leben am dienlichsten erscheinen. Interesse impliziert dabei mehr als nur ein Urteil. Wenn wir an etwas interessiert sind, sagen wir damit zwar aus, dass wir diesem affirmativ, im Sinne unserer eigenen Urteilsbildung, gegenüberstehen. 1236 Wir teilen damit aber noch mehr mit. Nämlich einen Wunsch, eine Präferenz, also eine emotionale Geformtheit, die neben unserer Überzeugung eine bestimmte Handlungsbereitschaft bzw. -wahrscheinlichkeit zum Ausdruck bringt. Handlungen finden grundsätzlich absichtlich statt. Eine Absicht wiederum resultiert immer aus einem Wunsch. Dieser Zusammenhang gilt prinzipiell und unabhängig davon, ob eine Handlung dem unmittelbaren Wohl oder Vergnügen des Handelnden Platon, Apologie, 28 d. Das affirmative Urteil kann sich selbstverständlich auch auf eine Ablehnung, einen Widerstand etc. als Inhalt des Etwas beziehen. 1235 1236

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selbst oder einem anderen zuträglich ist. Das Eigeninteresse ist per se also nicht als moralisch oder unmoralisch zu beurteilen, weil der Partikel »eigen« zwar auf den Träger des Wunsches verweist, nicht aber über die Vorteilsverhältnisse der beabsichtigten Handlungsziele aufklärt. Eigeninteresse und Altruismus schließen sich nicht notwendig aus. Beide erweisen sich erst in der Grundlegung der Wünsche, im Gehalt des Eigeninteresses. Selbstlose Handlungen sind demnach ein Widerspruch in sich. 1237 Entweder ich bin es, der die Handlung will, oder wir können von keiner Handlung – weil immer selbsthaft aufzufassen – sprechen. Da eine Bejahung bestimmter Zwecke grundsätzlich auch die Befürwortung der besten Mittel zu ihrer Erreichung logisch zwingend macht, müssen wir uns mit dem Anfang der kausalen Kette näher beschäftigen. Was wünschen sich Menschen und wie können diese Wünsche im Zuge einer distanzierenden Selbstbetrachtung bewertet werden? Zu tun, was wir wünschen, als vernünftig zu bezeichnen und die Funktion der Vernunft auf die Übereinstimmung von Wunsch, Meinung und Handlung zu beschränken, haben wir wiederholt als die klassische Humesche sensualistische Position beschrieben. Unsere Auffassung der Rationalität als relativ und formal haben wir bereits oben begründet. Ein substanzieller Vernunftbegriff scheitert letztlich an der Tatsache, dass die darin enthaltene Vorstellung eines objektiv Guten nur durch die notwendig vorangehende Naturbestimmung des Menschen und die damit verbundene Identität der vorausgesetzten und nachgewiesenen Substanz erklärt werden könnte. Im Übrigen könnte die wichtige Prämisse autonomer Sittlichkeit damit nur schwer aufrechterhalten und durch die Folgen einer totalitären Sittenvorstellung bedroht werden. Es gibt keine substantielle Metapräferenz, die für alle Menschen gleichermaßen zu behaupten wäre. 1238 Selbst die Erhaltung des Lebens kann Gegenstand prüfender Über1237 Dies gilt unter den begriffstheoretischen Bedingungen dieser Untersuchung. Sollte damit – wie im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus üblich – auf den Träger des unmittelbaren Nutzens verwiesen werden, wäre damit nach unserem Verständnis eine egoistische Handlung beschrieben. 1238 Dies steht scheinbar im Widerspruch zu Aristoteles und der eudaimonía als summum bonum. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095 a. Der Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn wir uns den prinzipiell strukturellen Charakter des aristotelischen Glücksbegriffs vor Augen führen. Wenn wir im X. Buch lesen: »[I]mmer wird seine seiner eigentlichen Tugend gemäße Tätigkeit die vollendete Glückseligkeit sein« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177 a, 15), wird doch schnell deutlich, dass diese Auffassung von letzter Seinsbestimmung präzise die in dieser Untersuchung vertre-

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legungen werden und somit gerade nicht als letzte objektive Begründung menschlichen Wollens behauptet werden. Wie verhält es sich mit einer formal verstandenen Grundlegung rationalen Wünschens? Wir kamen auf diese Frage bereits zu sprechen, als wir das Verhältnis von rationaler und existenzieller Vernunft näher untersuchten. Vernunft definiert sich demnach durch die Begründungsweise, die Beschaffenheit der durch sie erlangten Wohlbegründetheit. 1239 Die Frage nach der Rationalität unserer Wünsche richtet sich demnach eigentlich auf die Gründe, die uns in unseren Wünschen bestimmen und damit den Umfang unseres reflektierten Eigeninteresses festlegen. Wir glauben, diese letzten Gründe in unserer Auffassung von uns selbst zu finden. Als höchste Autorität für unsere Praxis müssen wir diese verstehen und vor uns selbst in ihren Grenzen, aber auch in ihrer Fundierung bejahen und akzeptieren. Darin liegt die wichtigste Funktion der Vernunft: in der Ermöglichung wahrer Autonomie. Es erscheint uns schwer zu widerlegen, dass alle Begriffe des semantischen Feldes von Heil und Gelingen bzw. der Negation derselben vernunftbedingt sind. Die durch die Vernunft aufgeworfenen und uns umfangenden Fragen, Ängste und Sorgen bilden den konstitutiven Rahmen für das größte vorstellbare Leid und Übel, aber auch für den Inbegriff von Glück, Wohlergehen und Sinn im Leben eines Menschen. 1240 Ohne das Auge der Vernunft hätten wir zwar Empfindungen und könnten zwischen angenehm und unerfreulich ohne weiteres unterscheiden, wir wären jedoch blind für die Dimensionen, die sich uns nur aus der Perspektive der Selbst-Transzendenz zu zeigen vermögen. Ein als Vernunftwesen ausgezeichnetes Wesen zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass dieses Wesen im kausalen Ursprung seiner Praxis – dem Wollen, der Vernunft – zugewendet ist. Daraus folgt, dass der Wertgehalt des Wollens, unsere tene Auffassung einer Selbst-Konvergenz im Sinne des Sich-zu-sich-verhaltens im Zu-Sein widerspiegelt. 1239 Unter dem wahren Wohl des Handelnden wird verstanden, was dieser vernünftiger Weise als Ziel wählt. Die diesem Ziel zugrundeliegenden Gründe führen zur genannten Wohlbegründetheit. 1240 Christian Wolff fasste diese Neigung, im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Kant, als eine zutiefst natürliche auf. Es sei die Natur, die uns gebietet, das zu tun, was uns vollkommener macht. Vgl. Wolff (1733), § 12, § 57. Freilich noch ohne die Einsichten der modernen Identitätsphilosophie beschreibt dies doch den Zusammenhang von sittlicher Selbstwahrnehmung und der mit dieser verbundenen Motivation als ein natürliches Potential des Menschen.

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Gefühle auch in Verbindung mit den Urteilen unserer Vernunft stehen. 1241 Dies klingt nach einer internalistischen Variante einer rationalistischen Motivationstheorie. Wozu wir uns ausdrücklich bekennen, soweit die transzendentalpragmatische Bedingung der Eigentlichkeit in Form eines aufgeklärten Bewusstseins von uns selbst gegeben ist. 1242 Der Gehalt dieser Gefühle ist dabei ein besonderer. Wie im vorangehenden Kapitel bereits ausgeführt, besitzt der Mensch, qua seiner Vernunft, ein Streben nach existentieller Wahrheit und personaler Integrität. Über dieses formale Interesse, das darin besteht, eigene Überzeugungen nicht nur zu haben, sondern ihnen gemäß zu existieren, entsteht die Motivation dazu, dem möglichen Sein unserer Existenz entsprechen zu wollen. Das in der philosophischen Erhellung (Jaspers) zutage tretende Selbst-Bewusstsein offenbart uns eine Spannung zwischen dem Sein als Möglichkeit (Existenz) und dem konkreten Dasein in der Welt. Diese Spannung findet in den autoeidetischen Gefühlen seinen motivationalen Ausdruck. In Anbetracht unserer als wahr und gesollt bewussten Seinsweise überkommt uns die Sorge vor einer Verfehlung. 1243 Wir fühlen das Verlangen, unsere Integrität zu wahren, als Pflicht. Wenn wir im Fall einer Rechtfertigung sagen: »Es war meine Pflicht, x zu tun bzw. y zu verhindern«, drücken wir damit nicht nur ein moralisches Urteil aus, sondern verweisen zugleich auf eine innere Veranlasstheit, darauf, dass es uns ein verbindliches Anliegen (Interesse) war, so und nicht anders zu handeln. Wenn Patzig schreibt, er sei der Auffassung, die spezifisch moralische Motivation bestünde in dem Wunsch, genau 1241 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Nunner-Winkler, die von einer formalen Bereitschaft, das jeweils als richtig Erkannte zu tun, spricht und diese an das Urteilsvermögen zurückgebunden sieht. Sie weist dies in einem Experiment mit Kindern nach, in dem diese unter Angabe von Gründen das Einhalten oder auch das Brechen eines zuvor gegebenen Versprechens erklären. Nunner-Winkler (2006), 180. 1242 Mit der Benennung einer Zusatzbedingung freilich verlassen wir in gewisser Weise wieder den Definitionsrahmen einer internalistischen Motivationstheorie im engeren Sinne. Um jedoch den Unterschied zu einer Theorie völliger Unabhängigkeit von Vernunft und Motiv deutlich zu machen, bleiben wir bei dieser Auffassung einer internalistischen Motivationstheorie, wenn auch im weiteren, nämlich dispositiven Sinne. 1243 Diese Sorge davor, sich nicht gerecht zu werden, fasst Heidegger mit der existenzialen Idee des »schuldig«. Wer ein Bewusstsein von Gesolltem hat, kann dieses verfehlen und wird dadurch als wesentlich freies Wesen schuldig. In der Schuld liegt die Idee des Nicht. Schuldig-sein bedeutet demnach »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.« Heidegger (2006), 283.

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das zu tun, was man als moralisch richtig erkannt hat, 1244 verdeutlichen das Verlangen nach Integrität und die Sorge vor dem drohenden Selbstverlust die präzisere Beschaffenheit dieses Gefühls, das diesen Wunsch fundiert. Das Streben nach Selbstgemäßheit (Integrität) wiederum kann als Ausdruck der Sehnsucht nach Sinn und existentieller Geborgenheit aufgefasst werden. Nur eine Existenz in Wahrheit 1245 ermöglicht uns, die Überzeugung von uns selbst aufrecht zu erhalten, rechenschaftsfähig zu existieren. 1246 Tugendhat glaubt, in dem Gefühl der Scham, das aus einer vorgestellten Verfehlung in unserer Verantwortung erwächst, das Motiv für das Streben nach Wahrheit erkannt zu haben. 1247 Scham ist jedoch in seiner Grundstruktur aus zwei Gründen als nicht adäquat für die Motivierung existentieller Entschlossenheit. Erstens handelt es sich beim Schamgefühl um ein vorwiegend situationsgebundenes Gefühl. Der Auslöser der Scham ist meist konkret, situativ und dadurch in seiner Wirkung zeitlich sehr begrenzt. Wir wissen als Schämende um die wahrscheinliche Überwindung dieses Zustandes in der Zukunft. Zweitens verstehen wir das Schamgefühl als ein Gefühl gegenüber anderen. Wir erblicken uns durch die Augen der anderen, verbinden mit diesem vorgestellten Anblick der anderen das von uns diesen unterstellte Urteil über uns und antizipieren deren Empörung bzw. abwertendes Urteil. Durch diese prinzipiell soziale Rückbindung hat die Scham eine normativ konventionelle Tendenz. Im Gegensatz dazu fassen wir die Furcht vor dem Verlust existentieller Geborgenheit als eine Form drohender Verzweiflung 1248 auf, die über eine konkrete Situation weit hinaus1244 Vgl. Patzig, G. (1996), »Moralische Motivation«, in: G. Patzig/D. Birnbacher/ W. Zimmerli (Hgg.), Die Rationalität der Moral, Bamberg: Fränkischer Tag, 39–55, 54. 1245 Der Ausdruck »Wahrheit« wird sowohl in theoretischer (theoretische Vernunft) als auch in ethischer Hinsicht (moralische und existentielle Vernunft) gebraucht und als die dem jeweiligen Seinsgegenstand adäquate Wohlbegründetheit aufgefasst. Dazu auch Jaspers: »Die Scheidungen gewinnen wir durch die Frage nach den Quellen des Gehalts von Wahrheit im Umgreifenden.« Jaspers (1947), 601. 1246 Diesen Anspruch der theoretischen Rationalität hält Tugendhat für eine anthropologische Tatsache und führt diesen am Begriff der intellektuellen Redlichkeit näher aus. Vgl. Tugendhat (2010), 100 f. Vgl. außerdem in Teil II, Václav Havel, Ein Leben in Wahrheit. Einen Nachweis für die zentrale praktische Bedeutung der Rechenschaftsfähigkeit finden wir besonders deutlich in Morus’ Brief 33, August 1534, 170 und Havel (1989), 174. 1247 Vgl. Tugendhat (2010), 107. 1248 Die gemeinte Verzweiflung ist klar zu unterscheiden von einem Zustand der

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geht – obwohl sie durch eine solche verursacht werden kann. Dieser (vorgestellte) Zustand hat deshalb eine mit Scham nicht zu vergleichende, existentielle Tiefe. Zum anderen ereignet sich das Gefürchtete ohne konkrete Rückbindung an das Bewusstsein eines anderen. Dieser Wegfall der sozialen Relation ist es, der dem drohenden Zustand ein unvergleichliches Gewicht gibt. Der reflektierende Mensch hat ein klares Bewusstsein von der Priorität und Gefahr selbstbezüglicher Identitätsverletzungen, zumal diese auch als wesentlich überzeitlich vorgestellt werden. 1249 Ähnlich wie das Ausmaß unserer Schmerzen oftmals mit der Bedeutung des physischen Defekts korrespondiert, vermag der Mensch unter der oben genannten Bedingung (Bedrohung der existentiellen Geborgenheit), Gefühle zu antizipieren, die in ihrer Wucht und Tragik den ganzen Menschen ins Nichts stürzen können. Wer diese Gefühle hat, verliert den Boden unter den Füßen und mit ihm alle Aussicht auf eine Beheimatung in dieser Welt. Als Vernunftwesen sind wir nicht nur Adressaten des Überforderung. In unserem Kontext ist sie die Folge eines übergroßen, als schicksalhaft empfundenen Verlustes der Selbst-Bewahrung und Selbst-Treue. 1249 Hier lässt sich eine durchaus wichtige Differenz von Thomas Morus zu den anderen drei Figuren erkennen. Morus fürchtet sich, aber nicht vor tiefer, existentieller Verzweiflung, sondern vor göttlicher Bestrafung und Ungnade. Die veranlassenden Bedingungen für dessen Handlungen sind somit extrinsisch und nicht primär selbstinduziert, also durch eigene Einsichten in eine vernünftig erschlossene Gutheit begründet. Gutes Verhalten ist für Morus konformes Verhalten. Morus fühlt sich demnach an ein normatives Konzept gebunden, das mit den Worten Tugendhats nicht autark, sondern von einer überempirischen Autorität abhängig ist. Vgl. Tugendhat (1997), 41 f. Das gegebene Sanktionsgefüge bei Morus ist externer Natur und erfüllt eher den von Tugendhat erwähnten motivationalen Zusammenhang der Scham im Sinne einer Sündigkeit. Der Begriff der Autonomie lässt sich im hier entwickelten strengen Sinne auf Morus aber nicht anwenden. Seine theistische Weltauffassung impliziert prinzipiell eine heteronome Begründungsstruktur seiner Sittlichkeit. Autonomie muss auf ein praktisches Bestimmungsgeschehen begrenzt bleiben, das im Regress auf (die besten) Gründe bei sich selbst bleibt (Anspruch der geschlossenen Fundierung). Nicht von sich aus, sondern aus sich muss die Bestimmung meiner Handlungen erfolgen, um wahrhaft autonom zu sein. Dadurch wird ausdrücklich nicht ausgeschlossen, dass Vorstellungen von Frömmigkeit und Heiligkeit nicht auch existentielle Dimensionen hätten, ganz im Gegenteil. Bei Morus erkennen wir genau dies: »Je mehr Schaden ich in meinem Leben nehme, desto besser wird es mir im jenseitigen Leben ergehen. Müßte ich fürchten, schwach zu werden, zu fallen und aus lauter Angst den Eid anzunehmen, so kann ich mir nur wünschen, vorher wegen meiner bisherigen Weigerung vom König bestraft zu werden; dann dürfte ich vielleicht von Gott die nötige Gnade zu weiterer Standhaftigkeit erhoffen.« 33, August 1534, 178.

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Seins, sondern auch Adressaten der, durch dessen objektive Seins-Begegnung bedingten, dunkelsten und bedrohlichsten Gefühle überhaupt. Mit dieser phänomenologischen Skizze der existentiellen Geborgenheit findet sich auch die Antwort auf die von Rawls offen gelassene Frage, was uns als Individuen dazu bringen könnte, eigene Lebenspläne gemäß einer Vernunft zu entwickeln, die prinzipiell belehrbar sind durch die Pläne anderer, mit denen wir als Freie und Gleiche zusammenleben wollen. 1250 Es ist diese radikale Bedeutung, die der Evidenz der unbedingten Forderung den Charakter eines plötzlichen Gewahrwerdens, ähnlich dem Charakter eines Blitzes, gibt. Nun müssen wir aus logischen Gründen neben den Gefühlen der Verfehlung auch über die Gefühle sprechen, die sich mit einer Handlung zeigen, deren Wertgehalt wir als Selbst-Bestätigung, -Treue oder -Gemäßheit beurteilen. Die treffendste Bezeichnung hierfür ist der im Kapitel 5.3.2 erwähnte Zustand des warm-glow-feelings. Treffend, weil damit phänomenologisch sehr adäquat der Zustand des sich Beheimatet-Fühlens 1251, der Geborgenheit im umfassenden Sinne, zum Ausdruck kommt. Analog der unmittelbar physischen Verhältnisse, die dadurch geprägt sind, dass die Vermeidung von Schmerz als deutlich drängender empfunden wird als das Verlangen nach dem fortgesetzten Gefühl des Sichgesundfühlens, gilt auch für diese besonderen, weil ich-nahen Gefühle, dass die Vermeidung der bedrohlichen Ausdrucksformen eine überragende Bedeutung für uns hat. Ohne uns selbst transzendierende Interessenhorizonte, und damit ist gemeint, den Umfang des vorgestellten Vorteils nicht ausschließlich auf das eigene, primär sinnliche Wohlergehen zu begrenzen, wäre moralisches Handeln irrational und die Spannung zwischen beidem nicht aufzuheben. Dieses praktische Potential aber ermöglicht grundsätzlich, dass ein Mensch Motive hat, die, obwohl das Handlungsergebnis primär altruistisch geprägt ist, rationalen Eigeninteressen dienen. Der Mensch erweitert somit durch diese Disposition den Raum der motivierenden Interessen und Bedürfnisse durch seine autoeidetischen Bedürfnisse. Da es sich um einen zentralen Punkt dieser Untersuchung handelt, wollen wir es noch einmal in aller DeutlichVgl. Schweidler (2008), 361. Vgl. hierzu auch den stoischen Begriff der oikeiosis im Sinne eines mit sich selbst anfreundenden Lebens und eines Lebensvollzugs, der im Einklang (Einwohnung) mit den eigenen Vorstellungen von Tugend besteht. Vgl. Schweidler (2004), 73. 1250 1251

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keit sagen: Sokrates und die anderen historischen Figuren unserer Untersuchung handelten so, wie sie handelten, weil es ihr stärkster Wunsch war, genau das zu tun. Es kommt darauf an zu verstehen, dass Aussagen wie die Luthers, die er 1521 auf dem Reichstag zu Worms sprach, eben diese »zwingende« Gewalt autoeidetischer Gefühle zu einer ungezwungenen Handlung zum Ausdruck bringen. Der Grund, weshalb die landläufige Auffassung vorherrscht, es bestünde ein prinzipieller Unterschied zwischen einer Handlung, die ausschließlich eigennützlicher Interessenbefriedigung dient, und einer zweiten Handlung, deren Intention zu allererst in dem Vollzug von Wertüberzeugungen besteht, liegt wohl darin, dass Menschen, die letztgenanntes vermögen, von der übergroßen Mehrzahl der anderen in ihrer Weise, an etwas in sich derart gebunden zu sein, nicht verstanden werden. Es mangelt schlicht an dem für ein Verständnis zwingend erforderlichen »common ground« als geteilte Gründe. Riskiert dagegen eine Mutter ihr Leben für ihre Kinder, wird dies, wegen der in unserer Art weitverbreiteten, instinkthaften Veranlassung, leichter »verstanden«. In Wahrheit (formal) handeln Egoisten, Mütter und die hier gegenständlichen Ausnahmefiguren prinzipiell gleich – aus ihren vorherrschend stärksten Wünschen. 1252 Ihre praktisch vollzogene Haltung, als ausschließlich innerlich Veranlasstes, bedarf aus Sicht der betreffenden Person keiner weiteren Bestätigung (Ehrung) oder Belohnung 1253 durch andere, weil es dem eigenen

1252 Wenn Aristoteles den Hochgesinnten als denjenigen beschreibt, der ob seiner Tugendhaftigkeit geehrt dieser Ehrerweisung gleichgültig oder doch zumindest sehr maßvoll gegenübertritt, wird dieser Aspekt der um seiner selbst willen gewünschten Handlung abermals deutlich. Nur wer selbst nicht über die Möglichkeit verfügt, die Zusammenhänge von altruistischer Nützlichkeit und selbstgemäßer Motiviertheit verstehen zu können, misst der Ehrerweisung einen überhöhten Wert zu. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1124 a. Liegt doch – so Aristoteles – die Ehre eher in den Ehrenden als in dem Geehrten. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095 b, 25. So erhält durch eine übermäßige Heroisierung der in der betreffend tugendhaften Art handelnden Person im Grunde auch der Beleg für das unverstandene Zustandekommen derselben seinen Ausdruck. 1253 Nicht zu wissen, ob wir – in welcher Form auch immer – für unsere Sittlichkeit belohnt werden, ist für eine Moral entscheidend. Der Begriff der Menschlichkeit würde großen Schaden nehmen, wären extrinsische Belohnungen und Wertschätzungen der Kern der durch sie bezeichneten Handlungen. Wer sich ausschließlich an derartigen Effekten (Belohnung und Strafe) orientiert, ist nach Kant nicht besser als ein abgerichteter Hund. Sittliche Handlungen müssen frei sein. Vgl. Kant, I. (1803), Über Pädagogik, hg. v. F. T. Rink, Königsberg: Nicolovius, 21.

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Wohlergehen einer höheren Stufe dient. 1254 Erfolgt diese z. B. durch eine besondere gesellschaftliche Exposition dieser Person (Auszeichnungen, Denkmäler etc.), hat diese lediglich ihren Sinn im erinnernden Nachweis einer besonderen ontologischen Entwicklungsleistung für diejenigen, denen diese Art von Haltung fremd und die daraus potentiell folgende Handlung in ihrer Beschaffenheit und Struktur unverstanden bleiben wird. Durch derartige politische Handlungen bringen die Troglodyten (Platon: Höhlenbewohner) unbeabsichtigt ihr Unverständnis für das hochsinnige, ausschließlich innerliche Veranlassungsgeschehen der existenzerhellten Person zum Ausdruck. 1255 Die damit verbundene Begründung vernunftgebundener Motivation von der epistemischen Funktion der moralischen Vernunft über die aufklärende und erhaltende Funktion der existentiellen Vernunft bis hin zur emotionalen (exekutiven) Übersetzung in autoeidetische Gefühle erklärt transzendentalpragmatisch die Möglichkeit des Wollens von Handlungen, deren Sinn sich uns im Gewahrwerden unbedingter Forderungen zeigt. Die drohende Kontingenz von Wunsch und Einsicht ist damit überwunden. Stattdessen zeigt sich ein Geschehen, das sich wesentlich als ein Angleichungsvorgang verstehen lässt. Das Dasein wird zum Anlass für Vollzüge praktischer Vernunft. Die Angleichung ist dabei als regulatives Geschehen aufzufassen. Durch die Uneinholbarkeit des Gesollten der Existenz ist diese niemals vollständig. Wir sprechen deshalb auch von einer autoeidetischen Konvergenz. 1256 Ausgehend von Sokrates bis hin zu Havel 1254 Dazu lesen wir bei Kierkegaard: »Die Pflicht ist nämlich keine Auflage, sondern etwas, das obliegt. Wenn die Pflicht so gesehen wird, so ist das ein Zeichen dafür, daß das Individuum in sich selbst orientiert ist. […] Es hat die Pflicht wie sein Kleid angezogen, sie ist ihm der Ausdruck für sein innerstes Wesen.« Kierkegaard (2017), 820. 1255 Erfolgt die Handlung aus anderen Gründen, z. B. aus dem der Ehrerweisung, ist jener Mensch – nach Aristoteles – ein Tor, kein tugendhafter Mann. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1123 b. 1256 Aus diesem Grund ist Verwirklichung des Selbst eben nicht als ein begrenzbares Übereinstimmungsgeschehen zwischen Dasein und einem statischen Selbst zu verstehen. Vielmehr ist damit eine »Entfaltung zu einem – für diese Entfaltung verantwortlichen – Selbst hin« gemeint. Vgl. Schweidler (2008), 389. Ein Wirkverhältnis, das in Abgrenzung von einem entelechialen Werdevorgan, mit den Worten von Ernst Cassirer auch als forma formata und forma formans (Struktur und Strukturationsprinzip) bezeichnet wird. »Was als forma formata am Ende eines Prozesses steht, bestimmt in seiner Verjüngung als forma formans den Anfang eines neuen Prozesses.« Fetz, R. L. (2008), »Forma formata – forma formans. Zur historischen Stellung und systematischen Bedeutung von Cassirers Metaphysik des Symbolischen«, in:

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erweist sich diese Auffassung praktischer Vernunft als roter Faden für deren beispiellose Entschlossenheit und als schlüssiger Beweis dafür, dass, so exzeptionell ihr Bekenntnis gewesen sein mag, ihre Handlungen durch ihr existentiell erhelltes Eigeninteresse bedingt waren. Die Unbedingtheit resultiert – so Jaspers – aus dem Selbstsein, 1257 wir fügen hinzu: und die praktische Entschlossenheit aus der Übersetzungsleistung geistiger Inhalte 1258 in wollende Emotionen. Der Präferenzbegriff wird somit durch die rationale Anfechtbarkeit erweitert und die Frontstellung von Wunsch und Vernunft überwunden. Selbst das Prinzip konsequentialistischer Handlungsbegründung zeigt sich als kompatibel und steht für die unbedingte Priorität der aufrechtzuerhaltenden existentiellen Wahrheit. 1259 Der R. L. Fetz/S. Ullrich (Hgg.), Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«, Hamburg: Meiner, 15– 33, 20. Als sehr treffende Explikation dieses dynamischen Prozesses kann die begriffliche Fassung des ipse von Ricœur aufgefasst werden. In der narrativen Identität findet eine ständige reflexive Refiguration statt, die sich sehr stimmig in das hier vorgestellte Konzept der autoeidetischen Struktur einfügen lässt. 1257 Vgl. Jaspers (1946), 672. Die möglicherweise aufkommende Schwierigkeit aus der Bezugnahme auf Jaspers’ »Selbstsein« lässt sich mühelos auflösen. Wo sonst sollte das aus der besonderen Selbsterhaltung entstehende Interesse und das dadurch evozierte Gefühl der existentiellen Selbstsorge zu verorten sein als im Selbstsein. Die Tatsache, dass Jaspers diesen Begriff in dieser Hinsicht nicht weiter aus-, ihn aber als Quelle der Unbedingtheit anführt, macht die Bezugnahme auf diesen weder falsch noch leidet darunter die konzeptionelle Klarheit des vorgelegten Lösungsansatzes. Ergänzend zu dem bisher Vorgetragenen mag an dieser Stelle auch der Begriff der Angst bei Heidegger zum besseren Verständnis der fundamentalen Bedeutung der hier vorgestellten Selbstsorge im Sinne der angestrebten existentiellen Geborgenheit beitragen. Heidegger verwendet diesen Begriff, um klarzumachen, dass der Mensch wesentlich durch ein Gefühl, nämlich das der Angst, zu dem ihn auszeichnenden metaphysischen Wesen wird. Eine Angst, die dem Dasein dann eignet, wenn es sich seiner Endlichkeit in seiner Geworfenheit vollständig bewusst wird. Im Unterschied zu Heideggers Gefühl der Angst zielt unser Verständnis von Selbstsorge nicht primär auf die von diesem vorgetragene Seinsweise der Eigentlichkeit, sondern auf ein Leben in Wahrheit. Nicht drohende Korrumpierung durch von außen oktroyierte oder eingeschränkte Möglichkeitsräume für die eigene Lebensgestaltung in der Welt, sondern die Verfehlung der für wahr gehaltenen und durch persönliche Einsicht verbürgten Gelingensbedingungen der eigenen Existenz mit dem Lohn der von Spinoza als »acquiescentia in se ipso« bezeichneten Zustand moralischer Selbstgemäßheit stehen im Zentrum des motivationalen Fundaments der autoeidetischen Struktur. 1258 Jaspers spricht hier auch vom »absoluten Bewusstsein« als dem, was der Existenz Orientierung gibt. Das absolute Bewusstsein »trifft das Innerste der Existenz«. Jaspers (1956), II, 260. 1259 Stellen wir uns nur einmal vor, wertgebundene Handlungen würden neben der –

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Die unbedingte Forderung als Funktion der autoeidetischen Struktur

Wunsch wird dadurch als etwas verständlich, das über sein reines Gegebensein und Vorgefundenwerden hinausgeht und der voluntative Ausdruck einer wertgebundenen Disposition ist. 1260 Der Wunsch bzw. das Interesse sind als Handlungsmotiv selbst durch die autoeidetische Struktur motiviert. Die moralische Indifferenz von Wünschen wird durch die im Zu-sich-verhalten-wollen aus der Verfasstheit einer aufgeklärten Selbst-Liebe überwunden. Wir sind dann moralisch, wenn wir dazu neigen, es zu sein, und wenn wir dazu neigen, handeln wir rational, wenn und indem wir sittlichen Imperativen folgen, deren implizite Wertbezüge durch vorangehende Aneignung zu einem Teil unseres gesollten Seins (Existenz) wurden. Durch die Möglichkeit einer deliberativ zu gewinnenden, wertgebundenen Disposition als Haltung (autoeidetische Struktur) werden Werte und the moral point of view zu einem normativ wirksamen Teil von uns. Je gründlicher und ernsthafter wir versuchen, unsere Vernunft auf die komplexen Erfahrungen unseres Daseins hin zu befragen, umso hinfälliger werden rudimentäre, meist materiale Formen des Eigeninteresses. Durch Deliberation, Empathie und die so erlangte Grundüberzeugung von einer wechselseitig geschuldeten Entsprechung unserer Würde als freie Wesen, transformieren wir unser basales Interesse an tierhaft sinnlicher Nutzenmaximierung hin zu einem Verlangen und Streben nach normativer Integrität. Weil es sich im Selbstsein um die bedeutendste Erkenntnisstufe der menschlichen Vernunft handelt, ergreifen uns die mächtigsten Kräfte 1261 unseres Wollens, um den darin gegebenen Einsichten zu ihrem Durchwie inzwischen gezeigten – gewünschten Dominierung von niederstufigeren Präferenzen nicht durch die dargestellten positiven emotionalen Reaktionen, sondern durch leidvolle und ganz allgemein höchst unangenehme Zustände gekennzeichnet. Eine Handlung aus Freiheit für das Wohl anderer würde also nicht nur Entbehrung und persönliches Risiko, sondern obendrein Gefühle mit sich bringen, die uns an uns selbst leiden und verzweifeln ließen. Welche Aussichten auf sittliche Praxis bestünden dann noch? Hier zeigt sich die Evidenz der autoeidetischen Wunschrealisierung. Wir verbleiben auch bei der Erklärung herausragender sittlicher Handlungen im Funktionsgefüge individueller Steigerung des Wohlergehens für die betreffende Person. Dies schmälert nicht im Geringsten den Wert der zugrundeliegenden Moralität, sondern allenfalls die (unnötige) Bewunderung unreflektierter Beobachter. 1260 Vgl. dazu auch den Rationalitätsbegriff bei Korsgaard als reflective endorsement. Korsgaard (2013), lecture 2. 1261 Damasio macht diese Korrelation deutlich, wenn er schreibt: »Ich nehme weiterhin an, dass diese inneren Zustände – die sich entlang eines Kontinuums mit den Extremen Schmerz und Lust anordnen und durch innere oder äußere Objekte und Ereignisse verursacht werden – unbewusste, nonverbale Zeichen sind, die angeben,

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Umrisse der autoeidetischen Struktur

bruch und Vollzug zu verhelfen. 1262 Obwohl doch jedes Lebewesen aus einer Zellteilung hervorgeht und so vom Ursprung her unter der Bedingung der Abhängigkeit von mindestens einem anderen bereits existierenden Organismus entsteht; obwohl es ohne die reale Verbindung zu seiner Population nicht entwicklungsfähig wäre, so Gerhardt, stammt doch jeder Lebensimpuls aus der inneren Dynamik eines für sich bestehenden Organismus. Jedes lebendige Wesen erhält seinen Impuls allein aus sich selbst, es steht unter dem »Diktat« seiner Eigentlichkeit. 1263 Die Quelle praktischer normativer Autorität ist letztlich der Wille des Menschen. Mit Kant gesprochen ist es diese Kraft des Wollens (Gemüts), die »den Menschen seine eigene Würde fühlen lehrt, dem Gemüte eine ihm selbst unerwartete Kraft gibt«. 1264

10.4 Umrisse der autoeidetischen Struktur Durch die Beschreibung der autoeidetischen Struktur als wertverfasste Gelingensbedingung unserer Existenz haben wir den gemeinsamen Ursprung von Wille und Geltung fassbar gemacht. Wir wollen uns gerecht werden, wenn wir mittels der Vernunft die Unbedingtheit dieser existentiellen Entsprechung aus der Geltung der Gründe verstanden haben. Die autoeidetische Struktur integriert personale Eigenschaften und rationale Geltung. Das praktische Potential der rational verbürgten Geltung entsteht erst durch die Synthese von Wahrheit und Selbst aus dieser durch Reflexion und existentieller Selbstwahl gewonnenen Struktur. Die autoeidetische Struktur ist die ob Situationen, gemessen am inhärenten Wertesystem des Organismus, gut oder schlecht sind.« Damasio (2000), 45. 1262 Die nunmehr dargelegte Übereinstimmung zwischen sittlichen Imperativen und Interesse fügt sich sehr schlüssig zu der bereits oben erwähnten handlungstheoretischen Auffassung von H. Frankfurt. Der strukturellen Bedingung der Übereistimmung von primären und sekundären Wünschen als Rationalitätsbedingung haben wir mit den Wünschen, die sich aus der existentiellen Vernunft übersetzen lassen, eine existentielle Bedeutung an die Seite gestellt. Bei Morus finden wir dazu paradigmatische Situationen, die diese Zerrissenheit zwischen der Liebe zu seiner Familie (insbesondere zu Margret) und der nunmehr als existentiell zu bezeichnenden Verpflichtung, seiner Überzeugung vom göttlichen Willen, deutlich machen. Die entschlossene Präferenz gemäß seiner sekundären Wünsche ermöglichte so eine rational und emotional konsistente Haltung. 1263 Vgl. Gerhardt (2007), 163. 1264 Kant, KpV, A271.

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Synthese aus dem principium executionis und dem principium diiudicationis und damit auch die Möglichkeitsbedingung der unbedingten Forderung. Anders als bei Kant, der das für eine Handlung notwendige Gefühl (Achtung) als eine nicht weiter verifizierbare Wirkung der Vernunft bestimmt, erklärt die autoeidetische Struktur über den Wunsch nach einer Existenz in Wahrheit (high-order volition) schlüssig das Zusammenwirken des dijudikativen und des exekutiven Prinzips. 1265 Eine Synthese deshalb, weil in dieser beide Prinzien, verknüpft durch das existentielle Interesse der Besorgtheit über sich selbst, zusammenwirken und dadurch die Vernunft überhaupt erst praktisch werden kann. Die Besorgtheit erhält ihre Brückenfunktion durch ihre Relationen. In der Sorge sorgt sich jemand um etwas. Ersteres ist die betreffende Person und letzteres die dynamisch und damit im ständigen Werden, aber doch in den Momenten des Lebens absolut geltende Warheit. Anders formuliert: Die Natur des Menschen – bestehend aus Leib und Geist – ist es, die sowohl das in unserer Vernunft entstehende Postulat nach Universalität als Prüfstein moralischer Prinzipien als auch das für unser Wollen notwendige Gefühl zu synthetisieren in der Lage ist. Hierin einen Widerspruch zu sehen, würde auf eine sich daraus ergebende Notwendigkeit zur Diskussion über die grundlegenden humanen Ausgangsbedingungen für die hier behandelten Fragen verweisen. Die vordergründig erscheinende Widersprüchlichkeit beider Prinzipien ruht doch im Wesentlichen auf der philosophiegeschichtlichen Tatsache, diese einander verbindungslos gegenübergestellt zu haben. Das Reine und das Pathologische im Falle Kants. Heute dagegen wissen wir, dass dies falsch ist und bekräftigen damit, gerüstet mit ungleich größerem naturwissenschaftlichem Verständnis, die aristotelische Auffassung von der Formung des orektikon durch das Seelenvermögen. Gefühle stehen nicht nur in einfacher Verbindung mit unserem Geist, sondern kön1265 Kant beschreibt in seiner Grundlegung zwar, was einen guten Willen ausmacht, aber keineswegs die Möglichkeitsbedingungen dafür, wie er dazu kommt, das Gute zu wollen. Die weitgehende Negierung der Neigungen führt bei Kant dazu, dass eine anthropologisch angemessene Konstitutionstheorie des guten Willens nicht entstehen konnte. Kant denkt in seiner pflichtethischen Grundlegung nicht in der Kategorie eines regulativen Selbsterlebens und somit auch nicht in einer identitätstheoretischen Begründung der Verbindlichkeit moralischer Imperative. Lediglich die von ihm eingeführte Achtung rekurriert auf subjektive Bezüge, jedoch freilich ohne die je individuell gegebene Rückbindung an Erfahrungen mit und Einsichten in das eigene Sein als eine autoeidetische Quelle der Normativität. Identität als Ursprung moralischer Verpflichtung kann niemals alleine durch ein Gesetz gewirkt sein.

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nen durch diesen geformt werden. Dass es sich dabei um keine Einbahnstaße handelt, ist ebenfalls hinreichend bekannt. Das Vermögen zu fühlen ist nicht Gegenspieler vernünftiger Schlüsse, sondern vielmehr empfänglich für und formbar durch diese. Was Aristoteles hexis nannte, kann neben der von ihm benannten, durch den phronimos normierten Einübung auch durch Einsicht erreicht werden. Was nicht ausschließt, dass die ursächlich verschieden erlangte Motivation durch Wiederholung erst zur Haltung wird. Ohne das normative Korrektiv einer reflektierten Selbstauffassung und der mit dieser einhergehenden Angst, ihr nicht gerecht zu werden, degeneriert das Individuum zu einer Funktion seiner biologischen und umweltgebundenen Bedingungen. Selbstsorge und das aus ihr entstehnede Streben nach existentieller Geborgenheit bilden somit die moralpsychologischen Voraussetzungen für eine freiheitliche Existenz. Freiheit als ein Vermögen des Geistes zur Selbstbindung an Leistungen der eigenen Vernunft schließt adäquate Handlungen und Haltungen mit ein. Diese wiederum werden erst durch eine Theorie verständlich, die sowohl die kognitiven Prozesse der Urteilsbildung und der zu prüfenden Normen (Deliberation) erklärt, als auch eine Antwort auf die bislang fraglichen Bedingungen der Übersetzung dieser moralischen Urteile in eine emotional initiierte Praxis gibt. Aus der Einsicht in die eigene Festlegung auf ein Leben in einer durch die Mittel der Vernunft zu verifizierenden Wahrheit (objektive Bindung) entsteht in der konkreten Situation der Wunsch (subjektives Prinzip), sich selbst in dieser Wahrheit zu erhalten. In ihr verbindet sich das Vermögen des Menschen zur Selbsttranszendenz und die Bindung an die eigene subjektive Perspektive. 1266 Universalität und Individualität sind die darin in dialektischer Weise wirksamen Strukturelemente als formende Kräfte einer immer mehr zu sich findenden Person. 1267 In der Selbsttrans1266 Sobald wir einen Grund als solchen erfassen, folgt dieser objektiven Beurteilung eine subjektive Inanspruchnahme, wenn, ja nur wenn wir uns als ein Wesen begreifen, das sich selbst auch und vorrangig im Lichte dieser autoeidetischen Kongruenz, also der existentiellen Übereinstimmung von Einsicht und Praxis, auffasst. Würde eine solche Person den Anspruch der selbst-evidierten Gründe ablehnen, wäre das überragende Ziel aller Subjektivität, unsere Selbstwertschätzung gefährdet. Vgl. dazu auch »acquiescentia in se ipso« bei Spinoza (1977). Eine analytische Einheit zwischen begründetem Urteil und subjektiver Willensbestimmung besteht jedoch nicht. 1267 Vgl. hierzu auch die Beziehung von Diskurs, Universalisierung und Anerkennung: »Das Verfahren diskursiver Willensbildung trägt dem inneren Zusammenhang beider Aspekte Rechnung – der Autonomie unvertretbarer Individuen und ihrer Einbettung in intersubjektiv geteilte Lebensformen.« Habermas (1991), 19.

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zendenz gelangen wir zu unserer wahren Natur und verlassen die Welt bloßer Kausalbeziehungen zur Aufrechterhaltung organischer Strukturen. Der Satz von Nagel, wonach Gründe ihre motivierende Kraft nicht aus vorangehenden Wünschen herleiten, sondern, weil sie eben Gründe sind, diese selbst in der Lage sind hervorzubringen, wird erst durch die Konzeption der autoeidetischen Struktur verständlich. Wissen wir doch, dass Gründe alleine oft praktisch wirkungslose Ergebnisse kluger Diskurse und prinzipieller Ausgangsbedingungen sind. Die autoeidetische Struktur ist der gemeinsame Dreh- und Angelpunkt, aus dem heraus Gründe unmittelbar zur Handlung motivieren, und zwar weil sie nicht nur Gründe im Allgemeinen, sondern vor mir und der Welt rechtfertigbare Bedingungen meiner Existenz darstellen. Die durch die Vernunft »erzwungene« Stellungnahme 1268 und der uns innewohnende Entsprechungsdruck aus unseren autoeidetischen Gefühlen ist dabei die entscheidende Brücke, die in kausaler Hinsicht von der eigenen Sinnkonzeption zur emotionalen Verfassung und damit zur Handlung, auch in der Entsprechung einer unbedingten Forderung, führt. Die Triebfeder, als subjektiver Grund des Begehrens, resultiert aus dem Willen zum Sinn 1269, die Geltung dagegen letztlich aus der Natur. Der Wille zum Sinn wiederum bedingt die Seinsweise in Wahrheit. Die Unbedingtheit erwächst nicht wie bei Kant nur aus der Unhintergehbarkeit der Vernunft (Faktum der praktischen Vernunft) alleine (formale Unbedingtheit), sondern zusätzlich aus den inhaltlichen Bestimmungen der autoeidetischen Struktur. Diese bestehen aus den Einsichten unserer autoreflexiven Klärung (Wer bin ich?), aus unseren rational verbürgten Werturteilen als materiale Bedingung für eine sinnvolle Existenz (Wer will ich sein?) und aus der emotionalen Disposition, die eigene existentielle Geborgenheit niemals preisgeben zu wollen 1270 und sie deshalb durch 1268 Offen, weil in dieser Untersuchung nicht weitergehend ins Auge gefasst, bleibt eine Theorie der Bedingungen, wann ein zugrundeliegender Erkenntnisvorgang tatsächlich konstitutiv für das Selbst wird. 1269 Dieses von Viktor Frankl geprägte Dictum wird weiter unten detaillierter ausgeführt als ein Streben nach unerschütterlicher Geborgenheit. »Sinn« alleine wäre unterbestimmt, da die existentielle Komponente der Wahrheit darin nicht selbstverständlich mitgedacht wird. 1270 Etwas nicht preisgeben zu wollen, ist durchaus ein Teil der begrifflichen Extension von Achtung. Vgl. Kapitel 4.2.1). Achtung beinhaltet Hinsichten der Berücksichtigung (Vorzüglichkeit), des Respekts (vor dem Mächtigeren) sowie der Wertschätzung. Vgl. Wolf (1984), 100 f. Jede dieser Bedeutungen kann sich in dem Gefühl äußern, die so geachteten Inhalte, im Sinne der personalen Übereinstimmung mit

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die immunisierende Funktion der Wahrheit im Akt der Selbst-Treue aufrecht zu erhalten (Warum will ich so sein?). Die autoeidetische Struktur ist also genau das, was es einer Person ermöglicht (transzendental-pragmatische Funktion), aus der Transzendierung ihrer natürlichen Gebundenheit einen existential-kategorischen Imperativ in der Form einer normativen Selbstverpflichtung hervorzubringen. Die autoeidetische Struktur stellt ein schlüssiges Modell für die Integration objektiver Geltung und subjektiver Motivation dar, platonisch gewendet die Integration von logistikón und epithymêtikon. Im Zentrum steht eine autonomistische Konzeption unserer Lebensgestaltung, die in der Lage ist, sowohl rationale Gründe als auch emotionale Motive in einer verständlichen teleologischen Dynamik der Selbstwerdung darzustellen. Im Mittelpunkt steht die Antwort auf die Frage nach dem télos: »Wer will ich sein?« Daraus ergibt sich ein regulativer Prozess der Weltanpassung durch die eigene Praxis. Das Dasein wird zum Anlass für die Vollzüge der Existenz. Die autoeidetische Struktur erklärt den transzendentalen Zusammenhang von Phänomenen wie Deliberation und Verantwortung mit unserer moralischen Praxis und bekräftigt sowohl die von Kant benannte Unvollständigkeit der Vernunft im Hinblick auf das principium executionis als auch die Auffassung des Aristoteles, wonach das dauerhafte menschliche Wohlergehen wesentlich durch eine Entsprechung von dispositiven Strukturen (hexis) und unserer Einsicht in die gute Praxis bedingt ist. Wollten wir diese besondere sittliche Struktur in einer kurzen Formel fassen, so könnten wir sagen, es handelt sich dabei um einen geschlossenen sittlichen Funktionskomplex, der seine gesetzmäßigen Entwicklungsbedingungen aus der Weise des Zusammenspiels (der Konfiguration) von epistemischen (Selbstaufklärung und Vollzug der moralischen Vernunft), prohairetischen (Akt der Selbstwahl), dispositiven (Emotionen der immunisierenden Wahrheitsliebe und existentiellen Geborgenheit) und existentiellen (Dasein als ein Sein zum Gesollten) Schemata 1271 ableitet. Vor alledem aber erklärt diesen, keinesfalls preisgeben zu wollen. Wir finden also über die Explikation der autoeidetischen Gefühle durchaus Anschluss an die Triebfedertheorie Kants aus seiner Kritik der praktischen Vernunft, freilich ohne die von ihm geforderte Eigenart der Aprioritizität. 1271 Der Begriff Schema wird u. a. von Piaget als eine Untereinheit von Strukturen aufgefasst, deren spezifische Konfiguration und Transformation die Ganzheit einer Struktur bildet. Wir beziehen uns in unserem Verständnis auch auf die Auffassung von D. Rumelhart, wonach Schemata alle Kognition, also u. a. auch Erkenntnisse und

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das Konzept der autoeidetischen Struktur, warum Menschen im Allgemeinen moralisch handeln sollten, und im speziellen, wie es in existentiellen Grenzsituationen Menschen möglich sein kann, aus vernünftigen Gründen einer unbedingten Forderung zu folgen. Die autoeidetische Struktur übernimmt damit eine spezifisch transzendentale Funktion für die in der Selbstbetrachtung ersehnte (existentielle) Vergewisserung meiner selbst. Sie begründet die Urteile eines Menschen, die er über sich als verantwortliches Wesen im Spannungsfeld individueller Freiheitsentfaltung und den Interessen und Ansprüchen seiner Mitwesen unweigerlich zu fällen hat. In der Selbsterkenntnis, besser im Entwerfen der zustimmungswürdigen Weise sein zu wollen, konstituiert sich ein gesteigertes Selbst-Bewusstsein, das wiederum durch dessen existentiellen Gehalt zum Anlass und Ziel freier Anstrengung und damit zur Ermöglichung von Sinn wird. Ex negativo: Individuen, denen der ontogenetische Erfolg der selbsthaften Grundlegung ihrer Existenz misslingt, vermögen weder die Stufe freiheitlicher Selbstbestimmung noch eine Existenz getragen von Sinn zu erlangen.

10.5 Die Gesamtstruktur der unbedingten Forderung Der Mensch ist wesentlich ein relationales Wesen, dies zeigt sich in der eminenten Bedeutung sozialer Erfahrungen, sowohl in Form von Abgrenzungs- als auch Aneignungsbewegungen für die Konstitution des Selbstbewusstseins. Die resultierenden Beziehungen zu uns selbst, zu anderen und nicht selten zu transzendenten Entitäten als Explikation von Idealität sind Ausdruck dieser spezifischen Relationalität unseres Bewusstseins. Die Beziehung zu uns selbst zeigt dabei zum einen den Aspekt großer Innerlichkeit. Im autoreflexiven Modus des Denkens ruht unsere Weltverbundenheit zugunsten einer dadurch gewonnenen Geschlossenheit unseres Denkens. Aus der zunächst vollzogenen Deprivation entsteht ein neuer Raum, den wir als Innerlichkeit beschreiben. Zum anderen vermittelt uns die Bezie-

Deutungen, strukturieren und bedingen. Schemata bilden demnach die Voraussetzungen für eine sinnvolle Interpretation der Wirklichkeit und damit eine Art epistemischen Rahmen unserer Erfahrungen. Schemata können somit als Einheit höherer Ordnung verstanden werden. Vgl. Norman, D./Rumelhart, D. (Hgg). (1978), Strukturen des Wissens. Wege der Kognitionsforschung, Stuttgart: Klett-Cotta, 24, 285.

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Die Gesamtstruktur der unbedingten Forderung

hung zu uns selbst auch und vor allem die ethische Relevanz des anderen. Die legitime Forderung der Mitmenschen auf reziproke Geltungs- und Freiheitsansprüche wird uns im Blick auf uns sichtbar. Erst die Objektivierung meiner selbst durch einen bewussten Schritt des Denkens neben das dieses sonst Hervorbringende lässt den AnSpruch der anderen hörbar werden. Individualität und Sozialität finden darin einen Kreuzungspunkt. Bedürftigkeit und mit ihr die vielschichtigen Formen des Verlangens sind uns natürlich angewachsen. Unser Weltbezug ist zunächst rein deskriptiv und verbleibt in der Weise der Mittel-Zweck optimierenden Befriedigung unserer primären Bedürfnisse. Erst die Fraglichkeit vorgefundener und oftmals tradierter Lebensbedingungen setzt in uns ein Geschehen in Gang, das wir als philosophischen Weltbezug mit dem Verlangen nach begründeter Stellungnahme erleben. Ricœur spricht hier vom Begehren aus dem Erkennen. 1272 Im Laufe dieser Denkbewegungen erkennen wir den Modus der Möglichkeit nicht nur logisch, sondern als existentiell. Wir sind dann nicht einfach mehr, was wir sind, sondern spüren eine Spannung aus Faktum und Anspruch in uns. In diesem Moment erwacht unser Selbst als Sollen und wir verändern unseren Blick auf uns vom numerischen und bloß bedürftigen Subjekt zu einer individuellen Person. Sind wir – mit Aristoteles – qua Menschsein als Weltteilhaber sehend glücklich, erkennen wir in diesem Augenblick über das Seiende der äußeren Welt hinaus auch eine sich in uns zeigende Wertgestalt (eîdos). Der geschaute ontologische Reichtum der äußerlichen Welt wird erweitert durch das Bewusstsein von gesollten Seins-Möglichkeiten. Dieser autoeidetische Akt bewirkt, dass wir uns nicht länger bloß in der Rolle der passiven Weltanpassung sehen, sondern uns als Wesen auffassen, die aus einer autonomen Selbst-Verständigung aufgerufen sind, in Übereinstimmung von Denken und Fühlen ihren besten Gründen gemäß zu handeln. Wir passen uns nicht länger nur der Welt an, sondern wollen einen Beitrag leisten, die Verhältnisse von Mensch zu Mensch, aber auch darüber hinaus, gemäß unseren verbindlichen Selbstansprüchen, im Vollzug unserer Existenz, zu beeinflussen. Wir erleben diesen Anspruch als Pflicht, also als Notwendigkeit, und durch dessen Fundierung in uns selbst als Existenz, als unbedingt. Weil wir subjektiv nach Selbst-Treue streben und uns diese Form der Integrität eine notwendige Bedingung für unser ge1272

Vgl. Ricœur (1974), 59 f.

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lingendes Leben geworden ist, wollen wir das Gesollte. Im Mittelpunkt steht nicht die reine Maximenbewertung im kantischen Sinne mit der Frage: »Was soll ich tun?«, sondern die Sorge um unsere Existenz, die in der Frage mündet: »Wer will ich sein?« Die eingangs gestellte Frage: »Why to be moral?« kann nun auf die gleiche Weise beantwortet werden wie die Frage, warum wir Freundschaft oder Liebe für unser Leben beanspruchen. Nämlich mit Bezug auf die gut begründete Überzeugung, wonach das Leben eines vernünftigen Menschen durch das Bewusstsein von Selbst-Treue und die damit verbundene Weise, dieses zu erleben, ein unvergleichlich reicheres und in transzendentaler Hinsicht sinnerfüllteres Leben bedeutet. Umgekehrt lässt sich sagen, wer diese Fragen überhaupt stellt, befindet sich zwangsläufig außerhalb der notwendigen Voraussetzungen für die Art zu sein, wonach er fragt. Der einzige motivierende Grund könnte dann einer aus einer anderen Sphäre sein, die das Fragliche z. B. aus Motiven einer banalen Nützlichkeit befürwortete. Vorausgesetzt, ein Mensch stellt sich selbst nicht außerhalb des Geltungsbereichs jeder logischen Argumentation, also das Operieren mit Gründen, will sich dieser verstehen. Als freie Menschen streben wir nach einem Sein, das sich von bloßen körperlichen Erhaltungsimperativen emanzipieren kann, sollte es in faktischen Grenzsituationen unseres Daseins gefordert sein. 1273 Der Mensch vermag sich selbstzu-ermächtigen, weil er gelernt hat, zu verstehen. Aus dem Selbstverstehen wiederum tritt aus unserem logistikón ein Sollen hervor, weil wir der Welt, also auch uns selbst, nicht ohne Anspruch gegenübertreten können. Dieser Anspruch ist jedoch zunächst rein dijudikativ geprägt. Der Wunsch (exekutiver Aspekt) gründet in den – von uns logopsychisch genannten – Phänomenen unseres Bewusstseins. Es handelt sich um ein dem Menschen eignendes robustes Energiesystem, das ihn in die Lage versetzt Sinn in Praxis zu übersetzen. Der Mensch erweist sich mittels dieser logopsychischen Übertragung als Kompositum aus objektiver und subjektiver Geltung, aus Moral und Antrieb. Das hervorgebrachte Streben setzt den dynamischen Prozess der autoeidetischen Konvergenz in Gang. Weil sich der betreffende Mensch ernst nimmt und sich verstehen will, ist es ihm nicht mög1273 Spaemann spricht zurecht davon, dass Existenz – gemeint ist hier die bloß physische Seinsweise – keine Eigenschaft ist, durch deren Verlust man ärmer wird. Der Verlust der eigenen Existenz im Sinne von normativer Identitätsauffassung jedoch wäre für jeden Menschen eine Katastrophe.

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lich, im Vollzug seines Lebens die Bedingungen seiner existentiellen Integrität zu missachten, und es entsteht zugleich die Möglichkeit einer unbedingten Forderung. Es ist diese notwendige Integration von urteilendem und motivierendem Vermögen, die dem Begriff des eu zen eine neue Bedeutung gibt. Vernunft ist demnach nicht mehr länger als eine Art innerer Richter mit dem Gesetzbuch objektiver Prinzipien zu denken, sondern als ein Vermögen, das uns als Mensch im ganzheitlichen Sinn Rechnung trägt, indem es zwar zum einen den ultimativen Grund objektiver Legitimität aufweist, zum anderen aber auch das (subjektive) Eigeninteresse und die damit verbundenen Gefühle in den Zweckhorizont der Mittelkalkulation einbindet. Vernünftig im existentiellen Sinne ist, was uns wollend die Bedingungen unserer Existenz erfüllen lässt. Wir nennen damit eine der zentralen Bedingungen einer praktisch zu übersetzenden Vernunft, der praktischen Vernunft überhaupt. Die Untersuchung der vier historischen Figuren ergab, dass der Ursprung des Wollens entweder in einer externen (Morus) oder einer internen Autorität (Sokrates, Mark Aurel, Havel), nämlich der vernünftig begründeten Existenz liegen kann. In beiden Fällen ist die Befolgung der unbedingten Forderung eine Funktion der Sinnerhaltung der eigenen Existenz. Sokrates, Marc Aurel, Morus und Havel handelten gemäß ihrer Pflicht, weil das Sollen aus ihrem selbst entwickelten (übergeordneten) Wunsch resultierte, derjenige bleiben zu wollen, der sie ursprünglich sein woll(t)en, weil sie es sollten. Wenn wir vom moralischen Sollen reden, liegt sein Sinn in der Aufrechterhaltung eines Lebensentwurfs, der seinerseits von mir als Person, als Sinnbedingung meiner Existenz verstanden wird. An der ursprünglichen Beschaffenheit meines Entwurfs, im Sinne seiner Begründung, entscheidet sich die Frage von Freiheit und Autonomie. Kant stellte in diesem Zusammenhang fest, dass es diese radikale Form des innerlichen Imperatives ist, woran wir unsere Freiheit erkennen. 1274 Frei sind wir darin, weil wir den letzten Grund nicht der Welt überlassen, sondern diesen aus uns selbst gewinnen. Dieses »aus 1274 Bei Kants Galgen wird uns in ultimativer Weise vor Augen geführt, dass wir im Moment der Androhung, gehängt zu werden, zwar jederzeit bereit wären, zu dessen Vermeidung auf unwiderstehliche »wollüstige Neigungen« zu verzichten, jedoch durchaus ins Überlegen geraten würden, wenn wir dafür ein falsches Zeugnis gegenüber einem unschuldigen Mann abzugeben hätten. Kant führt uns mit dieser Metapher deutlich die Priorität unseres Selbstverhältnisses vor unmittelbarer Lustbefriedigung vor Augen. Vgl. Kant, KpV, A 54.

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Die unbedingte Forderung als Funktion der autoeidetischen Struktur

uns selbst« sollte so wenig wie möglich dezisionistischen und so viel wie möglich vernünftigen Gründen folgen. Unsere geschichtliche Identität wird dann zum prägenden Ausgangspunkt (terminus a quo) einer grundsätzlich rechenschaftsgebundenen Urteilspraxis und unsere Freiheit das zentrale Vermögen einer an Gründe gebundenen Willensbestimmung. Der Unterschied von Morus zu den anderen drei Denkern liegt somit nicht in der Bereitschaft, radikalen Aufrufen des Gewissens Folge zu leisten, sondern in den konstitutiven Bedingungen ihrer Identität, als Quelle der Pflicht. So lässt sich festhalten, dass bei Morus die Bedeutung der Vernunft auf die adäquate Interpretation des göttlichen Willens, vermittelt durch die Heilige Schrift und die Stimme Roms, bezogen bleibt. In den drei anderen Fällen dient sie in einer ständigen Strukturierung aus Urteil und Zweifel sowohl der Ergründung als auch der Anfechtung bestehender Identitätsgehalte, die sich schon deshalb nur als eine autoeidetische Konvergenz und niemals Konsistenz oder Äquivalenz auffassen lassen. 1275 Die unbedingte Forderung ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass es um Leben und Tod des Aufgeforderten geht, sondern dadurch, dass das, woraus sie erwächst, den tiefsten Grund unseres Denkens von uns selbst ausmacht. Eine unbedingte Forderung scheint möglich, wenn die betreffende Person ein Stadium der Selbstbestimmung mittels einer bewusst gewordenen Wertidentität erreicht hat, die als Ganzes zu bestimmen vermag, weil sie sich im Ganzen durch sie versteht. 1276 Die große Macht der existenziellen Eigenliebe wird so von 1275 Mit dem Ausdruck Konvergenz soll auf die dem Selbst wesentlich eignende Tatsache verwiesen werden, dass es niemals darum gehen kann, ein gegebenes (finales) Selbst zu verwirklichen, sondern es vielmehr auf die Entfaltung »zu einem – für diese Entfaltung verantwortlichen – Selbst« hin ankommt. Das »Selbst ist wesentlich sich uneinholbar«. Schweidler (2008), 389. 1276 Ein Einwand könnte sich aus der prima facie widersprüchlichen Einbeziehung von sowohl universalistischen als auch individuell-konsequentialistischen Begründungsansätzen ergeben. Dieser jedoch müsste bei genauer Betrachtung dann auch gegen Kant zu erheben sein. Die einem jeden Vernunftwesen (universell) zugängliche Notwendigkeit einer sittlichen Handlung aus Pflicht wird auch bei ihm mit einem subjektiven – wenn auch als apriorisch gekennzeichneten – Gefühl verbunden. Ohne dieses – so Kant – wäre die Vorstellung der praktischen Vernunft nicht aufrecht zu erhalten. Es gibt eine besondere Eigenart von Gründen. Im Begriff des Grundes finden wir sowohl eine sprachlich-logische Bezugnahme auf Sachverhalte, Wertpräferenzen oder die Nötigung einer Schlussfolgerung als auch den Anspruch an uns selbst, diesen zu entsprechen. Gründe führen – vermittelt durch ihren normativen Kern – latent den Anspruch der radikalen Verbindlichkeit mit sich. Der Einwand der Widersprüchlichkeit von Universalität und Subjektivität löst sich von selbst auf, wenn wir uns den

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Die Gesamtstruktur der unbedingten Forderung

der bloßen körperlichen Erhaltung umgelenkt auf die Verteidigung seines Selbst und wird darin zur Selbstliebe 1277. Der Mensch verfügt über dieses Potential, das ihn als Ganzes in den Dienst einer Idee (Wertvorstellung) zu stellen vermag. Die ursprüngliche Selbstliebe (eng verstanden als Liebe, die auf die Erhaltung des Selbst per se gerichtet ist) wird transformiert zu einer amor sui, die sich auf die das Selbst konstituierenden Wertvorstellungen bezieht. Der Sinn der Unbedingtheit liegt somit in dem begründet, was auf dem Spiel steht. Der Entsprechung der Forderung geht die Absolutsetzung des Selbst voran. 1278 Das Bewusstsein davon wird uns nicht natürlich als Art vermittelt, wie das Sehen eines Baumes, sondern ist das mögliche Resultat einer mühevollen autopoietischen Selbstwerdung. Darunter ist ein Prozess zu verstehen, der prinzipiell als Strukturierung aufzufassen ist. Leben und Tod stellen im Kontext der unbedingten Forderung lediglich den radikalsten Grenzwert dessen dar, worum es im Fall der aufrechtzuerhaltenden Selbstreue gehen kann. Durch diese Grenzsituation vermag sich uns die wohl reinste Form dessen, was wir als autoeidetische Struktur beschrieben haben, zu zeigen. Menschen erheben sich über die empirische Macht ihres Lebens und folgen der Stimme ihres Gewissens. Mit Montaigne: »Wer sterben gelernet hat, hat ein Sklave zu sein verlernet.« 1279 Und im Sinne Kants sei ergänzt: und wenn es die im Angesicht größMenschen wesenhaft als naturgebunden und zugleich frei ins Gedächtnis rufen. Die beim Königsberger noch vorzufindende Diffamierung der Gefühle als pathologisch mag nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine anthropologische Gewissheit handelt, wenn wir dem Menschen für sein Wollen empirische Tatsachen – also Gefühle – zuordnen. Die Unbedingtheit kantischer Prägung gründet in einer begriffslogischen Bedingung, gemäß der durch deren angenommenen Wegfall – verursacht durch ihre Missachtung – die Möglichkeitsbedingungen der in Frage stehenden sittlichen Kategorien wie Lügen, Versprechen halten etc. ausgeschlossen würden. Das Verständnis der autoeidetischen Struktur zielt jedoch auf eine Unbedingtheit, die sich aus der Absolutsetzung des Selbst ergibt. Vgl. Kierkegaard (2017), 771. Ein Widerspruch beider Begriffe gleichen Ausdrucks ist sowohl durch die Verschiedenheit ihrer Bezüge als auch durch die nachgewiesenen kompatiblen Geltungsebenen (epistemisch, existentiell) ausgeschlossen. Erst durch die Verbindung von Geltung und Wille entsteht eine Unbedingtheit im Sinne dieser Untersuchung. In der Anstrengung, diese beiden Formen der Unbedingtheit klar voneinander zu scheiden, mag durchaus die Gefahr der Irritation liegen. Wie so oft in dem Bemühen um präzise Begriffsanwendung ist diese jedoch unvermeidlich. 1277 Scheler unterscheidet Eigen- und Selbstliebe. Vgl. Scheler (1933), 235. 1278 Vgl. Kierkegaard (2017), 833. 1279 Montaigne, M. (2016), Essais, Frankfurt: Fischer, 10.

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Die unbedingte Forderung als Funktion der autoeidetischen Struktur

ter Selbstgefährdung drängendsten und doch nachrangigen Strebungen und Neigungen sind. Der Mensch erfährt sich als Nein-Sager (Scheler) und kann in Grenzsituationen, durch die Transzendierung bloßer Erfahrung, sein Bedürfnis nach Würde und Selbst-Treue zum Ausdruck bringen. Eine höhere Autorität als die von uns bejahten Notwendigkeiten unserer Existenz für das, was wir wollen oder tun sollen, gibt es nicht. Allen Versuchungen zum Trotz, den Argumenten des Thrasymachos zu erliegen, vermag der Mensch sich über die Natur zu erheben und sich mit Idealen zu verbünden. Es mag als Ironie des Schicksals erscheinen, dass die, nach Aristoteles, unhintergehbare Bedingung für ein gelingendes Leben (Tätigkeit gemäß der Tugend) zugleich die hinreichende Bedingung für dessen Aufgabe sein kann. Je unverstellter der Blick auf den Sinn unseres Daseins, desto nachrangiger werden die natürlichen Bedingungen seines Entstehens. Die unbedingte Forderung ist auch um den Preis des Todes möglich, da das Leben aus subjektiver Sicht keinen unbedingten Wert darstellt. Nicht das Leben, sondern das Selbst in der Form der Existenz sind absolut. Die anfängliche Unbedingtheit des Lebens weicht der unbedingten Vorrangigkeit von Sinn. Die Geworfenheit (Heidegger) des Daseins stellt uns vor eine Aufgabe, bei der wir im Erkennen unbedingter Forderungen einen Zielpunkt des persönlich Möglichen erreichen. Die unbedingte Forderung konfrontiert die aufgerufene Person mit dem, was zu sein sie nicht umhinkommt. Der dem vorangehende Anfang liegt in einem Akt, den Kierkegaard als Selbstwahl bezeichnet: »Die Hauptsache im Leben ist, sich selbst zu gewinnen, sich selbst zu erwerben; die Wahl selbst ist entscheidend für den Gehalt der Persönlichkeit; durch die Wahl sinkt sie in das Gewählte hinab.« 1280 Diese Selbstwahl und die sich an diese anschließende Lebensform zeigt sich bei allen untersuchten Figuren als zentrale Gemeinsamkeit. Worin liegt diese Zentralität? In der Absolutheit, denn, so Kierkegaard, »das Absolute bin ich selbst in meiner ewigen Gültigkeit.« 1281 Hier schließt sich gewissermaßen der Kreis: Durch den Erwerb einer absoluten Bestimmungsursache ermöglicht sich das Individuum ein es tragendes Bewusstsein von Sinn und Freiheit und aus diesem kann ein Sollen als unbedingt erfahren werden. Wenn wir dasjenige, das sich aus der Unveräußerlichkeit des Individuums und seiner ursprünglichen 1280 1281

Kierkegaard (2017), 711. Kierkegaard (2017), 771.

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Die Gesamtstruktur der unbedingten Forderung

Gleichstellung mit uns selbst ergibt (die Würde des Menschen), zur fundamentalen Aufgabe unserer sittlichen Selbstverwirklichung erklären, realisiert sich darin die höchstmögliche Annäherung einer Person an die Begründung aller moralischen Gründe und damit die Ermöglichung einer unbedingten Forderung. Wir konnten mit der autoeidetischen Struktur als eine praktische Verfasstheit von Personen genetisch und systematisch aufzeigen, dass Menschen primär durch die Fähigkeit zur Transzendierung 1282 des Faktischen, durch ihre Anstrengungen, sich selbst zu erkennen, durch deliberative Begründungsverfahren und durch die Synthese von Urteil und Wollen aus ihrer Existenz zu einer Willensbestimmung in der Lage sind, die sich aufgrund des individuell erlangten und zu bewahrenden Bewusstseins von Sinn als rational und radikal zugleich beschreiben lässt. Diese autoeidetische Verfassung einer Person ist somit der Fluchtpunkt aller Selbstbestimmung, durch die es sogar möglich wird, der Unbedingtheit des physischen Lebens die Unbedingtheit des Geistes entgegenzusetzen.

1282 Als Transzendierung verstehen wir das Streben nach einem idealen Halt. Jaspers begründet dies im Ungenügen des bloßen Weltseins. Vgl. Jaspers (1984), 136. Weil wir wesentlich geistig sind, so greifen wir aus nach einer ursprünglichen Reinheit, einer maßgeblichen Möglichkeit, dem Nichts zu entgehen. Vgl. Kierkegaard, S. (1992), Der Begriff Angst, Stuttgart: Reclam, 50–55. Dabei handelt es sich nicht um eine eskapistische Bewegung, sondern um eine der Verankerung des Daseins. In der Transzendenz beantworten wir die Frage nach dem Sinn, weil wir uns in ihr geschenkt werden. Vgl. Jaspers (1948), 16. Im platonischen Verständnis könnten wir sagen: Alles Faktische bleibt hinter dem es Ermöglichenden zurück. Sinn jedoch kann sich letztlich nur auf Unbedingtes beziehen. Wenn Freiheit die Bedingung der Möglichkeit zur Möglichkeit ist, wir selbst sein zu können (Kierkegaard), dann ist die Aneignung idealer Entitäten ihr Sinn, der im praktischen Vollzug sichtbar wird.

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