Die Tragik in der Existenz des modernen Menschen bei G. Simmel [1 ed.] 9783428400638, 9783428000630


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German Pages 94 [95] Year 1962

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Die Tragik in der Existenz des modernen Menschen bei G. Simmel [1 ed.]
 9783428400638, 9783428000630

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Die Tragik in der Existenz des modernen Menschen bei G. Simmel Von

Isadora Bauer

Duncker & Humblot · Berlin

ISADORA BAUER

Die Tragik in der Existenz des modernen Menschen bei G. Simmel

Die Tragik in der Existenz des modernen Menschen bei G. Simmel

Von

Dr. Isadora Bauer

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1962 Duncker & Humblot, Berlin Gedruckt 1962 bei F. Zimmermann & Co., Berlin W 30 Printed in Germany

Meinem Vater t

Inhalt Einleitung

9

I. Problemstellung

IL

1. Der Begriff des Tragischen bei Simmel 2. Das Tragische in positiver Sicht 3. Die moderne Deutung des Tragischen in der menschlichen Existenz

13 21 25

Der tragische Gegensatz

31

1. 2. 3. 4. 5. III.

13

.

Der Mensch als Wesen der Mitte Existentielle Gebrochenheit des Menschen Streit zwischen Leben und Form Individuum und Person in der Kontinuität des Lebens Die Tragik der Formzerstörung als Notwendigkeit des Geistes . . .

Sittliche

Forderungen und der Konflikt

der Pflichten

1. Realität und Idealität 2. Die tragische Situation des Individuums im Schnittpunkt mehrerer Forderungen

31 35 40 47 51 55 55 57

3. Sollen als Forderung )und Anspruch 60 4. Die sittlichen Forderungen und ihre Wertung in bezug auf ethische Quantität und Qualität , 63 5. Tragik des Seins in subjektiv-unvollkommenem So-sein im Verhältnis zur gesollten Ordnung 67 6. Frage nach der Einheit (Gültigkeit und Festigkeit) zwischen den ideellen Forderungen und dem empirischen Sein . 69 IV.

Wertkriterien

71

1. Sehnsucht des Geistes nach einer überindividuellen Wertwelt . . . 71 2. Dualismus: bonum - malum . v .. . . . . . . . 72 3. Die Ausweglosigkeit der sittlichen Lage 75 V. Tragik: Metaphysische 1. 2. 3. 4.

Kategorie

Tragik als Möglichkeit der Freiheit Die Qualität der geistigen Person Tragik als Schicksal Tragik als notwendige Paradoxe von Einheit und Vielheit

78 78 81 84 86

Schlußbetrachtung

89

Literaturverzeichnis

92

Einleitung* Georg Simmel starb 1918 kurz vor Beendigung des ersten Weltkrieges i n Straßburg, wo er während des Krieges als Professor der Philosophie wirkte. Seine Persönlichkeit u n d sein W e r k sind Ausdruck der W e n d e v o m 19. zum 20. Jahrhundert. Diese Jahrhundertwende steht i m Zeichen großer technischer Erfindungen u n d naturwissenschaftlicher Erkenntnisse u n d hat das A u f b l ü h e n von Industrie u n d W i r t s c h a f t i n unmittelbarem Gefolge. Ein allgemeiner Fortschrittsglaube u n d Optimismus läßt das Leben i n bequemer Sattheit dahingleiten. A u f geistigem Gebiet beginnen sich entscheidende W a n d l u n g e n vorzubereiten, die i n Simmeis Denken symptomatisch den U m b r u c h künden. Simmel stellt zugleich Ausgleich u n d zukunftsdeutenden A u f b r u c h dar. D u r c h i h n w i r k e n wesentliche gedankliche Einflüsse des 19. Jahrhunderts i n unsere Zeit des 20. Jahrhunderts hinein. I n seinem W e r k findet sich keimhaft eingefaltet das Neue an Gedanken u n d Kräften, das erst nach dem ersten u n d zweiten W e l t krieg seine gültige Bestätigung u n d A k t u a l i t ä t erfahren hat. Simmel nahm i m Geiste die Nöte des Umbruchs ahnend vorweg, indem er sie i n einer Philosophie des lebendigen Fragens zu deuten versuchte. I n den Ausführungen, die Simmel während des ersten Weltkrieges i n seiner Schrift ,,Der Krieg u n d d i e geistigen Entscheidungen" darlegte, versucht er, den Krieg als eine absolute Situation i m Leben der V ö l k e r w i e auch i n dem des I n d i v i d u u m s zu deuten, die den Menschen aus seiner scheinbaren Geborgenheit löst u n d zu neuer Sinngebung zwingt. A l l e r dings konnte Simmel nicht voraussehen, daß durch den zweiten W e l t k r i e g seine Gedanken über den Sinn des Kampfes grausam widerlegt werden würden. Der moderne Krieg ist zur sinnlosen Massenvernichtung geworden u n d unterscheidet sich daher grundsätzlich von der Auffassung, die Simmel v o m Kriege hatte. Der metaphysische Sinn des Kampfes ging verloren, denn die K r ä f t e der Humanität werden durch i h n eher geschwächt als gestärkt. Simmel faßt die Zeit der Erschütterung als heilsam auf, da i n der Entscheidung des Kampfes nur Lebensstarkes u n d Wertvolles sich behaupten kann u n d alles Abgestorbene, M ü r b e verschwinden muß, das als hemmender u n d lähmender Ballast auf dem Leben lastet. D u r c h die * Die vorliegende Schrift ist hervorgegangen aus einer Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität München, zu der ich von dem verstorbenen Professor Dr. Josef Stürmann angeregt wurde und für deren Durchführung ich von Professor Dr. Aloys Wenzl wertvolle Ratschläge erhielt. Mit der Herausgabe des Buches verbinde ich den herzlichen Dank an meine Lehrer.

10

Einleitung

Erschütterung des Krieges w i r d die Fragwürdigkeit des Daseins zum bewußten Erlebnis. A l s die traditionellen Begriffe u n d Bindungen brüchig zu werden beginnen, die alten Überzeugungen nicht mehr halten u n d tragen wollen, als sich die menschliche Gesellschaft i n einer soziologischen Umschichtung von der alten Standesgesellschaft wegbewegt, da erkennt Simmel, daß eine Zeit anbricht, i n der der Mensch neue Werte u n d Grundlagen zu schaffen hat, denn einst Bedeutungsvolles ist des Inhalts beraubt, ist bedeutungslos geworden oder findet keine Resonanz mehr. I n dieser allgemeinen U m w ä l z u n g t r i t t dem Menschen seine Verlorenheit u n d H i l f l o s i g k e i t deutlich vor Augen. Diese Situation kennzeichnet den Beginn einer neuen Epoche, die notwendigerweise auch einen neuen Menschentypus prägt, den modernen Menschen, der als letzte Tatsächlichkeit nur die Erlebnisgewißheit seines Lebens hat u n d dem alles andere i n Fragwürdigkeit rückt, ja sogar er selbst i n bezug auf den Sinn seiner Existenz. Simmeis Philosophie richtet sich a u f das gegebene Konkrete, das er nach dem Sinn letzten Seins befragt. Es ist leicht begreiflich, daß der moderne Mensch einer neuen Gesellschaftsform nach dem Verlust der alten tradierten Maßstäbe n u n neue Orientierungen sucht. D a m i t h a l f Simmel den Boden f ü r eine Philosophie zu bereiten, i n welcher die seit Kant verbannte Metaphysik wieder einen Platz einnimmt. Eine A b k e h r v o m formalen Denken bringt eine Reaktion m i t sich, die gegen den Intellektualismus m i t seiner dogmatischen Starre gerichtet ist. D a erweist sich Simmeis Philosophie als aufklärerisch i m tiefsten Sinne des Wortes, denn sie ist A u s d r u c k jener beginnenden Denkbewegung, die sich bis i n unsere gegenwärtige Zeit erstreckt u n d deren tiefe Tragik darin besteht, alles i n Frage zu stellen u n d i n jeder A n t w o r t die Ruhelosigkeit einer neuen bohrenden Frage erfahren zu müssen. D i e Philosophie Simmeis bemüht sich, das menschliche Dasein v o m Wesen der Zeit her zu betrachten u n d nach menschlich gemäßen Maßstäben neu zu begründen. Diese Problemstellung verlangt, daß zunächst jede herkömmliche Lösung beiseite gelassen u n d auf selbständigem Boden philosophiert werde. I n absolutem Sinne w i r d philosophische Voraussetzungslosigkeit zwar nie zu erreichen sein, doch gerade i n diesem Bemühen, sich überhaupt jenseits v o n einzelnen Voraussetzungen zu stellen, liegt das Wesen der Philosophie begründet. Der auf sich selbst verwiesene Mensch erstrebt eine autonome Geisteshaltung, er sucht ,,dieses Sich-selbst-gehören des Denkens, diese seine von nichts Äußerem gebundene Konsequenz betreffe, über die momentane Einzelheit hinaus, das Ganze des Erkennens, ja, des Lebens" 1 . H i e r tritt uns das Kernproblem der Simmelschen Philosophie entgegen, es ist die Frage nach der Einheit des Daseins. I n Simmeis ganzem p h i l o sophischem Schaffen äußert sich das suchende Ringen, i n den Mannig1

Simmel, Georg: Hauptprobleme der Philosophie, Berlin 1950, S. 8.

Einleitung faltigkeiten, Gegensätzen u n d Spannungen des menschlichen Daseins die große Einheit u n d Ganzheit des Seins aufzuzeigen. Simmel ist sich jedoch bewußt, daß „ d i e Ganzheit des Daseins i m w i r k l i c h e n Sinne niemandem zugängig" 2 ist, u n d gerade darum w i r d der philosophische Denker unentwegt v o n der geistigen Sehnsucht nach Einheit getrieben sein. Simmeis letzte Schaffensperiode gipfelt i n den feinsinnigen u n d klugen A u s f ü h rungen über den Begriff des Lebens. Trotz seiner metaphysischen H a l t u n g bietet er keine endgültig versöhnenden Lösungen der Gegensätzlichkeiten, ,,denn es kommt ja darauf an, dem Gegensatz seine Schärfe, die ja da$ ganze Problem erst aufgibt, zu erhalten u n d n u n erst eine Brücke zwischen seinen Polen zu schlagen" 3 . Dies konnte Simmel u m so mehr, als er m i t seinem Lebensbegriff eine - w i e er es selbst bezeichnet - ,,Universalie" geschaffen hatte, i n deren p r i n z i p i e l l e m Sein die Gegensätze über sich hinausgehoben werden u n d i n der einheitlichen Lebensströmung als V i e l heiten i n einem Ganzen aufgehen. D a d u r c h entgeht er der Gefahr der Vereinseitigung, w i e sie bei Schopenhauer u n d Nietzsche gegeben ist. Ein gewisser Einfluß Schopenhauers läßt sich insofern nicht von der H a n d weisen, als der „ W i l l e " bei Simmel i m Sinne einer Lebensenergie, einer D y n a m i k erscheint, die - vergleichbar m i t Bergsons ,,élan v i t a l " - a u f mannigfache A r t u n d Weise die W i r k l i c h k e i t formt, die aber an sich unbekannt bleibt. I m Gegensatz zu Schopenhauer aber beurteilt Simmel diesen W i l l e n nicht als Leidensquell, er spricht i h m vielmehr einen W e r t zu, der dem Dasein Freude u n d „ F e i e r l i c h k e i t " verleiht. Diese Konzeption stellt i h n i n die geistige Nähe Nietzsches, dessen metaphysischer Einfluß auf Simmel bedeutend war, ohne daß er jedoch dessen nihilistische Tendenzen geteilt hätte. W e d e r die pessimistische Lebensschau Schopenhauers noch Nietzsches „Jubel über das D a s e i n " ist i n Simmeis W e r k vorhanden, es ist vielmehr ein aufrichtiges u n d tapferes Bekenntnis zum Leben m i t seinem Leiden, m i t seiner Tragik. N i c h t Resignation u n d daraus erfolgendes Q u i e t i v w i e bei Schopenhauer w i r d erstrebt, sondern tätige Bewährung. Simmel hält sich absichtlich fern v o n jeder Systematik, er wehrt sich gegen philosophische Systeme, w e i l seine A r t der Darstellung u n d des Philosophierens keine starre Grenze u n d einseitige Festgelegtheit i n Begriffe u n d D e f i n i t i o n e n duldet. Simmeis seltene geistige Beweglichkeit erträgt keinen Begriffsdrang, u n d die A r t der Problemstellung verlangt eine eigene Ausdrucksweise, die der inneren Bewegtheit des Denkvorganges gerecht w i r d . Simmel legt mehr W e r t „ a u f den geistigen ZeugungsVorgang als a u f das schließliche Erzeugnis" 4 . Trotz dieser „Systemlosigkeit" ist seine Philosophie i n sich p l a n v o l l . D i e oft bemängelten logischen Widersprüche werden k r i t i s c h u n d bewußt von i h m selbst gesehen u n d 2 3 4

Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, S. 12. a. a. O., S. 103 a. a. O., S. 6

12

Einleitung

dienen i h m als letzte Ausdrucksmöglichkeiten f ü r philosophische Erkenntnisse, die an der Grenze dessen stehen, was die Sprödigkeit der Sprachm i t t e l noch auszudrücken vermag. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Simmel mit einer faszinierenden Sprachbeherrschung seinen philosophischen Gedanken f e i n nuancierten A u s d r u c k verleiht. Sein Philosophieren geht v o n „schlichten Tatsachen" aus, deren wesentlichen W e r t u n d deren Bedeutung er erkennt. Es liegt i h m daran ,,νοη dem einfach Gegebenen das Senkblei i n die Schicht der letzten geistigen Bedeutsamkeiten zu schicken" 5 . Andererseits sollten die philosophischen Begriffe nicht immer nur i n ,,ihrer eigenen Gesellschaft bleiben, sondern auch der Oberfläche des Daseins geben, was sie zu geben h a b e n " 6 . Diese Auffassung zeigt deutlich die Grundtendenz der Simmelschen Philosophie: die Umspannung der Gegensätze durch die „schlichte T a t s ä c h l i c h k e i t " 7 des Lebendigen. I n der vorliegenden Schrift s o l l n u n der Versuch unternommen werden, die Tragik i n der menschlichen Existenz philosophisch zu deuten. D i e Untersuchungen w o l l e n die Bedeutsamkeit der Philosophie Simmeis zum Thema der existentiellen Tragik aufzeigen, u m so mehr als dieses geistige Erbe i n einer Zeit, da der Schein das wesentlich W e r t v o l l e zu verschlingen droht, den Blick f ü r tragisches Geschehen ö f f n e n möchte. I m Vertrauen darauf, daß nur der lebendige Geist echte Werte schafft, überläßt Simmel sein Gedankenwerk zu weiterem Schaffen m i t den W o r t e n : „ I c h weiß, daß i c h ohne geistigen Erben sterben werde (und das ist gut so). M e i n e Hinterlassenschaft ist w i e eine i n barem Gelde, das an viele Erben verteilt w i r d , u n d jeder setzt sein T e i l i n irgend einen Erwerb um, der seiner N a t u r entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen i s t " 8 .

5 6 7 8

Simmel: Rembrandt. Leipzig 1919, S. VII. a.a.O., S. V I I . a.a.O., S. V i l i . Simmel: Fragmente und Aufsätze, München 1923, Motto.

L Problemstellung 1.

Der Begriff des Tragischen bei Simmel

Alles tragische Geschehen beruht letzten Endes auf einem unversöhnbaren Gegensatz. I n der griechischen Tragödie hat dieses Phänomen seine einzigartige literarische Gestaltung gefunden. Der antike Mensch erfährt die Unverträglichkeiten der W e l t u n d ihre widersprechenden Forderungen i n der Tragödie. Das Subjekt steht einer harten, unverrückbaren Objektivität gegenüber. Es ist das uralte Problem v o n Mensch u n d W e l t , von leidvoller, schuldloser u n d doch schuldhaft werdender Verstrickung i m Dasein. A n diesem ausweglosen Gegensatz, den die Götter als Schicksal i n der tragischen Person zum A u s d r u c k bringen, muß der Mensch zerbrechen. I n diesem Fall geschieht das Bedeutsame, daß die O b j e k t i v i t ä t aus ihrer rätselhaften A n o n y m i t ä t heraustritt u n d dem Einzelnen gegenüber als Schicksal konkret w i r d , i n d e m es diesen eben zerbricht. D i e Objektivität, die sich sonst jedem Z u g r i f f widersetzt, kommt gleichsam auf das Subjekt zu, ergreift es u n d w i r d begriffen als Schicksal. Trotz äußerer Vernichtung aber bleibt ein unzerstörbarer W e r t erhalten: die W ü r d e u n d Tapferkeit des Menschen, der selbst i m größten Leid sich dem Gesetz verpflichtet u n d einer höheren O r d n u n g verbunden f ü h l t . Das einheitliche W e l t g e f ü h l f ü r die Verwurzelung i n einem Seinsgrund w i r d bereits i n der A n t i k e durch wachsende Skepsis (Sokratischer Zweifel) erschüttert u n d geht i n späterer Zeit mehr u n d mehr verloren. M i t dem Christentum ist durch den Abfallsgedanken der Loslösung u n d A b i r r u n g des Menschen von Gott ein weiterer entscheidender Schritt zur Entzweiung des einheitlichen Weltgefühls vollzogen. Der Mensch steht zwischen H i m m e l u n d Hölle, er fürchtet die Mächte des Teufels u n d h o f f t a u f die Gnade u n d H i l f e des Himmels. Mensch u n d Gott erscheinen weit voneinander getrennt 1 . Z w e i Leben hat der Mensch zu leben, ein vergängliches u n d ein ewiges i m lenseits; daran w i r d dem Menschen seine D o p pelnatur bewußt. N u n beginnt das Problem des tragischen Gegensatzes, der Widersprüche u n d Unvereinbarkeiten zum Gegenstand auch p h i l o sophischer Betrachtung zu werden. D i e W e l t zerfällt i n Fremdheiten, die W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t e n des Lebens werden bewußt, die menschliche Seele schafft neue Abgründe, u n d e i n 'unlösbarer Dualismus scheint sich lang1 Hugo, Victor: Préface de » Cromwell«, Librairie Larousse, S. 24 ff. C'est l'originalité du christianisme d'avoir mis un abîme entre l'homme et Dieu. En même temps, on voit poindre «l'esprit d'examen et de curiosité», en d'autres termes »le démon de l'analyse et de la controverse«.

14

Problemstellung

sam Bahn zu brechen. Das gläubige Gemüt f i n d e t zwar i n der Person Gottes einen letzten H a l t , dennoch bleibt die Erkenntnis u n d die innere; Erfahrung, daß durch die W e l t ein Bruch gehe. Selbst Nicolaus v o n Cues m i t seiner modern anmutenden D i a l e k t i k der endlichen Gegensätze, die i n der Steigerung i n die unendliche Einheit der „ c o i n c i d e n t i a opposit o r u m " i n Gott gipfelt, k a n n nicht mehr ganz begriffen werden, da die dualistischen Kräfte d u r c h den I n t e l l e k t die Entzweiung u n d Entfremdung zwischen Gott u n d Mensch weiter vorantreiben. D i e Emanzipation des Verstandes w i r d erkennbar i n der Verselbständigung der Philosophie, die sich n u n f r e i macht v o n der Theologie. D i e beispiellose Erschütterung der Seele, die i n dem Erlebnis wurzelt, daß sich der Mensch seinem Gott gegenübergestellt f ü h l t , mag als existentiell-tragische Situation bezeichnet werden, jedoch ist damit immer noch die tröstliche M ö g l i c h k e i t des I n Beziehung-Tretens m i t Gott gegeben. Je mehr aber der kritische Z w e i f e l die Bindung an den göttlichen U r g r u n d zerstört, desto eifriger u n d sehnsüchtiger beginnt n u n die Suche nach einer neuen Grundlage des Seins, nach einem Sinn u n d W e r t des Daseins. A u c h zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt man die gleichen Fragen nach Sinn u n d W e r t des Daseins, denn gerade durch den Fortschrittsoptimismus erwacht eine gewisse Skepsis. Der Z w e i f e l an der rational beherrschten u n d technisierten W e l t materialistischer Prägung w i r f t die Frage nach dem auf, was über diese W e l t hinausgeht, nach dem eigentl i c h W i r k l i c h e n , dem Unbedingten. M a n beginnt die Bedrohung zu begreifen, die Zufälligkeiten des Daseins, die trotz V e r n u n f t n i c h t abzuweisen sind. Das formale rationale Denken des 19. Jahrhunderts reicht nicht aus, die W e l t zu begreifen u n d zu deuten. D i e Lebensphilosophie setzt der rational-mechanistischen Weltauffassung die D y n a m i k , die Bewegung des Lebens gegenüber u n d legt m i t dieser Einbeziehung des Irrationalen i n die Wirklichkeitserfassung den G r u n d zu einer neuen anthropologischen Weltbetrachtung, die die Auferstehung der Metaphysik i m Gefolge führt. W o h l hatte der Neukantianismus kritische Ansätze zur Ü b e r w i n d u n g des formal-dogmatischen Denkens unternommen, blieb aber dennoch der kategorial-formalen D e n k t r a d i t i o n treu. D i e Lebensphilosophie entzündet sich ebenfalls an der kritischen H a l t u n g zu Kant. I n dieser kritischen Haltung bleibt sie zwar noch Kant verpflichtet, geht aber v ö l l i g eigene Wege. I m gewissen Sinne ist die Philosophie des Lebens schon durch Schopenhauer u n d Nietzsche vorbereitet worden, doch erst durch Bergson wurde sie entscheidend u n d grundlegend als neues Philosophem fundiert. Simmeis Verdienst ist es, die Gedanken Bergsons i n Deutschland bekanntgemacht u n d weitergeführt zu haben. I m V e r l a u f e der geistesgeschichtlichen E n t w i c k l u n g wandelt sich der tragische Gegensatz der antiken Geistesauffassung u n d gestaltet sich i m mer mehr zu einem K o n f l i k t , dessen Ort die subjektive I n n e r l i c h k e i t des

Problemstellung M e n s c h e n ist. W ä h r e n d f r ü h e r i n der a n t i k e n u n d m i t t e l a l t e r l i c h e n

Welt

der M e n s c h sich als s u b j e k t i v e Ganzheit einer V i e l f a l t o b j e k t i v e r Erscheinungen gegenüber sah, w i r d n u n auch der D u a l i s m u s i n d i e T i e f e m e n s c h l i c h e n Seele getragen. W o

i m m e r der Geist zu einer

der

Erkenntnis

gelangt u n d diese als sicheren Ausgangspunkt f ü r die E r f a h r u n g u n d Erk l ä r u n g der W e l t

nimmt,

wird

i n t e l l e k t u e l l e Erkenntnis n i c h t Man

bedarf

ihm

d i e tragische G e w i ß h e i t ,

imstande

eines Ansatzpunktes,

der

daß

alle

ist, d i e W i r k l i c h k e i t zu fassen. nicht

schon den Stempel

eines

d u a l i s t i s c h e n oder m o n i s t i s c h e n W e l t b i l d e s trägt. D e r p h i l o s o p h i s c h e A n satz des Rationalismus, das ,,cogito", w i r d f ü r den e x i s t e n t i e l l e n Z w e i f e l der N e u z e i t u n b e f r i e d i g e n d u n d k a n n n i c h t m e h r als letzte Tatsache h i n genommen werden. D i e m o d e r n e P h i l o s o p h i e des beginnenden 20. Jahrhunderts

stellt

das p h i l o s o p h i s c h e

Denken

auf

die

Grundtatsache

des

Lebens. M a n k ö n n t e sagen, daß a m A n f a n g dieser neuen P h i l o s o p h i e das „ v i v o " steht, das erst d i e M ö g l i c h k e i t des , , c o g i t o " einschließt. Das D e n k e n selbst ist ein Vorgang oder eine F u n k t i o n des m e n s c h l i c h e n Lebens. Leben ist etwas, das erlebt u n d n i c h t gedacht w i r d , stellt also i n sich selbst eine Einheit dar, die n i c h t a l l e i n a u f d e m Wege des logisch-disr k u r s i v e n Denkens gewonnen w u r d e , somit also der G e f a h r der U n t e r s t e l l u n g anderer Setzungen enthoben ist. U m das P h ä n o m e n des Lebens i n seiner W i r k l i c h k e i t begreifen zu können, stellt S i m m e l den Kantschen Kategorien des Erkennens d i e des Erlebens gegenüber, da i m Erlebnis n o c h i n „ m e t a p h y s i s c h e r Ungeschiedenh e i t " der e i n h e i t l i c h - l e b e n d i g e Q u e l l p u n k t dessen liegt, was i n seiner Ausgestaltung d u r c h das B e w u ß t s e i n i n u n v e r s ö h n l i c h e Gegensätze u n d A n t i n o m i e n auseinanderfällt. Es ist das W e s e n des Lebendigen, sich i n ständiger Bewegtheit zu e n t f a l t e n , sich i n f o r t w ä h r e n d e m Strömen u n d Fließen zu erhalten. G l e i c h z e i t i g aber zeigt es d i e Tendenz, aus der f o r m l o s e n K o n t i n u i t ä t des W e r d e n s i n Gestalt der F o r m i n d i e W i r k l i c h k e i t zu treten. W ä r e das Leben n u r ein stetes heraklitisches Fließen, so w ü r d e es o h n e Z i e l i n leerer I n d i f f e r e n z verrauschen; da es aber S i n n stiftet u n d W e r t e setzend sich realisiert, w i r d i n n e r h a l b

des v e r f l i e ß e n d e n

Lebensstromes

der Prozeß i n feste F o r m e n gebannt. „ D i e beiden Begriffe, zwischen deren D e u t u n g u n d W e r t u n g das D a s e i n sich a u f Schritt u n d T r i t t zu entscheiden hat, sind: das Leben u n d d i e F o r m " 2 . A u s diesem Gegensatz gestaltet sich der a n t i n o m i s c h e Charakter des Lebens, das sich stets gezwungen sieht, die aus sich geschaffenen G e b i l d e i n d i e K o n t i n u i t ä t der Lebensd y n a m i k aufzulösen u n d zu zerstören; so scheint es den Bestand seiner eigenen Geschöpfe zu gefährden u n d e n t h ü l l t sich gerade d a m i t als Leben. D a r i n zeigt sich d i e Tatsache, daß d i e tragische A n t i n o m i k

d e m Leben

i m m a n e n t ist. Eine Spannung b l e i b t d e m M e n s c h e n spürbar, die das Leben 2

Simmel: Rembrandt, S. 67.

16

Problemstellung

ständig m i t Tragik überschattet. So w i e der W i d e r s p r u c h dem Leben notwendig immanent ist, ist es auch die Tragik. Beides aber k a n n n u r innerhalb eines Prozesses verstanden werden. Tragik entsteht n u r i m Werden, zeigt sich nie als Geformtes u n d entzieht sich deshalb dem logischen G r i f f der D e f i n i t i o n . D a aber tragisches Geschehen m i t dem Phänomen des Lebens u n l ö s l i c h verbunden ist, hat Simmel i n seiner Lebensmetaphysik die philosophische Deutung u n d Bedeutung des Tragischen i n der menschlichen Existenz dargestellt. ,,Ein tiefes G e f ü h l f ü r die Tragik des Daseins liegt i n dieser Anweisung auf das Nein, die i n jedem Ja enthalten ist, die das Ja erst zu seinem rechten Sinne kommen l ä ß t " 3 . A u f das Ganze des Lebens bezogen, liegt i n jener Einbeziehung des Gegensatzes eine tiefe Erkenntnis, die auch die Auffassung des Todes, der ja das große N e i n des Lebens darstellt, v ö l l i g wandelt. Der Tod, der das Leben begrenzt, indem er es beendet, ist notwendiges Schicksal u n d birgt die Möglichkeit, f o r m e n d das Leben zu bestimmen, w e i l der Mensch weiß, daß er sterben muß. Es ist also das Bewußtsein des Todes, das Wissen u m das unentrinnbare Todesgeschick, da9 dem Leben mitgegeben ist. W i e die Form durch die Grenze bestimmt u n d überhaupt nur durch sie möglich ist, w i r d auch das Leben i n jedem Augenb l i c k v o m Tode geformt, denn ,,in jedem einzelnen M o m e n t s i n d w i r solche, die sterben werden, u n d es wäre anders, wenn dies nicht unsere mitgegebene, i n i h m irgendwie wirksame Bestimmung w ä r e " 4 . W e n n w i r den T o d als dem Leben notwendig immanent betrachten, der allen A k t e n u n d I n h a l t e n erst Bedeutung u n d d i e M ö g l i c h k e i t der Formung gibt, dann erscheint er nicht mehr als Verhängnis, dem w i r h i l f l o s verfallen sind. D i e Immanenz des Todes eignet dem Leben als notwendige D i a l e k t i k , da es v i r t u e l l seine Formung u n d Zerstörung zugleich i n sich trägt. Es leuchtet i n dieser Auffassung eine M ö g l i c h k e i t menschlicher Freiheit auf, die i n tragischer E r f ü l l u n g zu der Erkenntnis führt, daß das Sterben ein Reifen u n d V o l l e n d e n des Lebens ist. „ V i e l l e i c h t muß man das Leben so i n das Zentrum der Weltanschauung gesetzt u n d so gewertet haben w i e ich, u m zu wissen, daß man es nicht bewahren darf, sondern hingeben m u ß " 5 , so äußert sich Simmel u n d bekundet damit, daß „Leben u n d Tod, insofern sie einander logisch u n d physisch auszuschließen scheinen, doch nur relative Gegensätze sind, u m g r i f f e n v o m Leben i n dessen absolutem Sinne, der das gegenseitige Sichbegrenzen u n d Sichbedingen v o n Leben u n d T o d unterbaut u n d ü b e r g r e i f t " 6 . D i e Erfahrung des Todes läßt i m Menschen die Frage nach dem wach werden, was das Leben über sich hinausführt, nach Unsterblichkeit, die 3 4 5 6

Simmel: Simmel: Simmel: Simmel:

Hauptprobleme der Philosophie, S. 82. Lebensanschauung, München und Leipzig 1922, S. 98. Fragmente und Aufsätze, S. 8. Rembrandt, S. 92.

Problemstellung dem Menschen als geistige Sehnsucht nach Erlösung innewohnt. Einerseits erlebt sich der Mensch als endliches Wesen u n d weiß, daß er der u n e r b i t t l i c h verfließenden Zeit anheimgegeben ist, andererseits berührt er gleichsam an den Rändern seines Wesens Grenzen, die i h n die Unendl i c h k e i t ahnen lassen. D i e physische Existenz w i r d zwar durch den T o d beendet, die geistige aber f ü h l t sich nicht dem Tode unterworfen, denn i n d e m sich der Geist der Grenze bewußt w i r d , hat er sich bereits außerhalb ihrer gestellt. „ U n d w e n n . . . allerdings der T o d dem Leben v o n vornherein innewohnt, so ist auch dies ein Hinausschreiten des Lebens über sich selbst. I n seiner Zentriertheit verbleibend, streckt es sich sozusagen nach d e m Absoluten des Lebens h i n u n d w i r d i n dieser Richtung Mehr-Leben, aber es streckt sich auch nach dem N i c h t s hin, und, w i e es sich erhaltendes u n d sich steigerndes Leben i n einem A k t ist, so ist es auch sich erhaltendes u n d sinkendes Leben i n einem A k t , als ein A k t " 7 . A u c h a u f der Stufe des Geistes vollzieht sich das Leben i n einem ständigen Sichübergreifen, denn überall steht u n d bewegt es sich zwischen Grenzen, zwischen Spannungspolen, die nur d u r c h ein Transzendieren i n das Höhere u n d ü b e r greifendere überbrückt werden können. Insofern das Leben m i t aller D y namik seiner Kräfte vorwärts drängt u n d sich entfaltet, sprengt es jeweils seine aus sich selbst gewachsenen Formen, die es i n jedem M o m e n t begrenzen. „ I n d e m es Leben ist, braucht es die Form u n d i n d e m es Leben ist, braucht es mehr als die F o r m " 8 . D a r i n liegt zwar logisch gesehen ein Widerspruch, aber gerade dieser ist die angemessene Weise, u m die d e m Leben innewohnende Tragik auszudrücken. Paradoxien, Gegensätze, Widersprüche werden aus dem Leben hervorgetrieben u n d machen sich auf jedem Gebiet geltend, ob es sich n u n u m psychische Regungen, intellektuelle oder soziologische Gebilde handelt. D i e unaufhebbare Spannung, die sich d u r c h die beiden Reihen v o n K o n tinuität u n d D i s k o n t i n u i t ä t ergibt, ist i m Grunde genommen das SubjektObjekt-Problem, das aber bei Simmel ganz i n die Subjektivität des I n d i viduums hineingenommen w i r d u n d damit seine moderne Prägung i m Sinne der existentiellen Gebrochenheit erhält. D e n n Kontinuität u n d Diskontinuität sind gegensätzliche Lebensrhythmen u n d weisen bei Simmel dialektisch auf einen „ D r i t t e n Bereich" hin, i n welchem das Leben verläuft. D i e Rätselhaftigkeit des Lebens weist über die A l t e r n a t i v e v o n Prozeß u n d I n h a l t hinaus; den kontradiktorischen Gegensatz v o n Kontinuität u n d D i s k o n t i n u i t ä t läßt Simmel nicht als A l t e r n a t i v e gelten. Er n i m m t diese unlogische Formulierung als unvermeidlichen A u s d r u c k f ü r Goethes Begriff, wonach „geprägte Form lebend sich e n t w i c k e l t " 9 . 7 8 9

Simmel: Lebensanschauung, S. 20. a.a.O., S. 22. Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 159.

2 Bauer

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Problemstellung

Das Auseinanderfallen i n Subjekt u n d Objekt gehört zum Wesen des Existentiellen. Demnach ist Tragik sowohl die M ö g l i c h k e i t der Existenz überhaupt als auch die Bedingung des Werdens. Das Phänomen des Tragischen macht sich als dunkle, treibende K r a f t geltend, die zwar logisch nicht definierbar u n d darum rational nicht faßbar ist, die aber als metaphysisches G r u n d p r i n z i p dem Sein immanent ist. Tragik entsteht nicht nach streng kausalen Bedingungen, ist also nicht berechenbar u n d entzieht sich der Lenkung durch die Vernunft. Es w i r d später noch zu zeigen sein, daß sich gerade d a r i n ein gewisser Spielraum f ü r Freiheit befindet, denn i n der Tragik w i r d das Telos durchbrochen, das i n hohem Maße das menschliche Dasein bestimmt. W e n n n u n tragisches Geschehen zwar durch angebbare Gründe verursacht ist, w i r d man doch gleichzeitig erkennen müssen, daß Tragik nicht m i t kausaler Notwendigkeit entsteht. Ein kausaler Zusammenhang kann zwar nachträglich aufgefunden werden, aber bei gleicher Ursache muß nicht notwendigerweise eine tragische Situation entstehen; sie kann sich ergeben, muß es aber nicht. Maßgebend u n d entscheidend dafür ist die anthropologische Grundverfassung des Menschen, das ,,Lebens-Apriori des Subjektes" 1 0 . H i e r ist der Wurzelboden f ü r tragisches Erleben zu sehen, das i m gelebten Leben auf verschiedene Weise, i n zahlreichen Verflechtungen u n d unter unübersehbar nuancierten Bedingungen i n Erscheinung tritt. I n dem Moment aber, da das Tragische zur konkreten Tatsache w i r d , rückt es aus dem metaphysischen Bereich i n die raumzeitliche Kategorie unserer Erfahrung. D i e Transzendenz reicht also i n das w i r k l i c h gelebte Leben hinein, die W i r k l i c h k e i t hat somit metaphysische Tiefe. I m tragischen Geschehen gibt sich etwas Unzeitliches i m Gefäß der Zeit. I n der existentiell menschlichen Tragik begegnen sich Diesseitiges u n d Jenseitiges, Zeitliches u n d Ewiges, Endliches u n d Unendliches. H i e r leuchtet die Verbindung der extremsten Fremdheiten auf, indem zugleich der radikale Gegensatz festgelegt w i r d . (Siehe Kap. II) Tragik ist eine metaphysische Notwendigkeit f ü r das Werden u n d f ü r das Gewordene 1 1 . Sie haftet dem subjektiven Lebensstrom, w i e auch den aus dem Prozeß gelösten objektiven Inhalten u n d Formen an. I n der Tragik spiegeln sich die Ganzheit des Lebens u n d die Einheit der menschlichen Existenz, denn zu jedem Zeitpunkt ist es das ganze Leben u n d ,,in jedem einzelnen seinem I n h a l t nach noch so besonderen T u n u n d Wissen, Beschaffensein u n d Sich-Bewähren steckt der ganze Mensch" 12. I n der Erkenntnis, daß Tragik beide Seiten des dualen Bruches, Subjekt u n d Objekt, als Einheit umschließt, hat Simmel die beiden extremen philosophischen Richtungen der Lebensverneinung Schopenhauers u n d des heroischen Überwindungsversuches Nietzsches unter einem gemeinsamen 10 11 12

Simmel: Lebensanschauung, S. 125. Zur Verdeutlichung die Ausführungen in Kapitel II/3, S. 40 ff. Simmel: Schulpädagogik, Osterwieck/Harz 1922, S. 34.

Problemstellung

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Aspekt gesehen. Schopenhauer betont mehr die objektive Seite; der objektive W i l l e , der nie Genüge findet u n d i n grenzenloser Kontinuität sich rastlos i n immer neuen Objektivationen ausdrückt, ist der tragische Q u e l l stetigen Leidens. Nietzsche dagegen legt das Gewicht philosophischer Betrachtung auf die subjektive Seite des i n d i v i d u e l l Geformten. Simmel sucht n u n die Synthese beider Anschauungen zu geben, indem er die Transzendenz des Lebens nicht i n einseitige W i l l e n s d y n a m i k verlegt, f ü r i h n besteht die Einheit i n der Vielheit. Diese Überlegung basiert auf der Einsicht, daß sich m i t keinem der beiden obigen extremen Standpunkte der rein subjektiven bzw. objektiven Denkrichtung - ein einheitliches W e l t b i l d , eine Ganzheit f i n d e n läßt. So kommt Simmel zu den beiden sich ergänzenden D e f i n i t i o n e n des Lebens, das ,,Mehr-Leben" i m Sinne v o n Bewegtheit u n d „Mehr-als-Leben" i n einem ist. W e n n nun, w i e schon erwähnt, der T o d die physische Endlichkeit bedeutet u n d damit die Existenz, die w i r als Leben erfahren, f o r m t u n d v o l l endet, dann muß dies auch i n jedem einzelnen Lebensmoment der Fall sein. Tatsächlich prägt das Bewußtsein des Todes das Dasein u n d gibt dem H a n d e l n u n d Denken, die spezifische Formung. Das Bewußtwerden des Todes lenkt die Besinnung auf den Unsterblichkeitsgedanken, den w i r i n der spekulativ-mystischen w i e auch i n der rationalen Denkrichtung vertreten finden. D i e sehnsüchtige Gerichtetheit des Lebens drängt auf das Unsterblichkeitspostulat hin. Das Leben, das sich i n ständigem Drang nach Formung v e r w i r k l i c h t u n d Zugleich ohne Rast weiterfließt, w i r d von dem englischen Dichter George Herbert als tragischer Weg des Menschen i n dem Gedicht ,,The Pulley·' gedeutet: Ein Engel verteilt unter die Menschen alle Güter u n d Gaben des Lebens, nur eine behält er auf Geheiß Gottes zurück: den Frieden. D e m Menschen ist damit Ruhelosigkeit bestimmt, die geeignet ist, i h n den W e g zu Gott zu führen. Sie ist als metaphysischer Trieb erkennbar u n d M o t o r aller Intentionen. I m praktischen Leben aber mag der Unsterblichkeitsgedanke sich noch aus einer anderen Richtung her geltend machen u n d zwar aus einer Erfahrungstatsache, «die dem Menschen mehr oder weniger deutlich bewußt w i r d . „ A n jeder einzelnen aktuellen Vorstellung, bei der w i r überhaupt verweilen, f ü h l e n w i r , daß a l l die Spannkräfte oder Tiefenvorgänge, die m i t i h r oder zu i h r empordringen, nicht vollständig zum A u s d r u c k u n d Ausleben kommen; es bleibt von diesen ein T e i l übrig, den w i r als das U n Gestaltete, Un-Endliche an unseren endlichen Augenblicken f ü h l e n . . . " 1 3 . Jeder Mensch kommt m i t einem körperlichen u n d einem geistig-seelischen Kräftepotential auf die W e l t , das i h m eine Reihe von Möglichkeiten offenh ä l t sich i n dieser W e l t zu realisieren u n d i n i h r zu bestehen. Der Mensch trägt eigentlich i n sich ein ideelles B i l d dessen, das zu werden er imstande 13

2*

Simmel: Lebensanschauung, S. 116.

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Problemstellung

ist. I m Laufe des Lebens aber zeigt es sich, daß die Formung nach dem, ideell vorgezeichneten Bilde sich i n tragischem Kampfe vollzieht; denn was immer w i r tun, u m uns zu v e r w i r k l i c h e n , w i e immer w i r auch wählen, u m uns durch diese W a h l zu bestimmen, stets bleibt ein Rest ungelöst, bleibt etwas unerlöst. M a n denke nur an die gegebenen Lebensbedingungen, an die W i l l k ü r , an den Z u f a l l des Lebensgeschehens, das den Menschen v o n seinem i h m eigenen, k r a f t seines inneren Wuchses geforderten W e g drängt u n d i h n abhält, er selbst zu werden. Daher w i r d i h m das beängstigende Gefühl, daß das Leben einem Glücksspiel gleiche; dies läßt ein G e f ü h l der H i l f l o s i g k e i t , der Verlorenheit u n d grenzenlosen Fremdheit aufkommen. D a aber „gewisse Forderungen i n der W i r k l i c h k e i t des menschlichen Wesens unmittelbar angelegt" sind, „ z u deren E r f ü l l u n g es unter den empirischen Verhältnissen nicht kommen k a n n " , entsteht die H o f f n u n g a u f die „ O r d n u n g der Dinge, das Versprechen, das sie m i t der Organisation unseres Wesens gegeben hat, wenigstens i n einem Jenseits e i n z u l ö s e n " 1 4 . D i e E n t w i c k l u n g des I n d i v i d u u m s bleibt oft dem Z u f a l l unterworfen, „ d e r uns i n den krassen Fällen verkümmerter Talente, deplacierter Energien, unentwirrbarer Schicksalsverknotungen deutlich zu werden pflegt . . . " 1 5 . Betrachtet man das Leben, dann erscheint damit i n enger Verkettung das Problem des Schicksals. D e m Begriff „ S c h i c k s a l " haftet i m m e r ein tragischer Aspekt an. Diese Auffassung v o n der i n d u n k l e r Unergründlichkeit u n d objektivem Gegenüber verharrenden M o i r a , die als ewiges Schicksal über dem Menschen schwebt u n d i n der tragischen Situation konkret w i r d , diese antike Schicksalsauffassung hat i n der modernen Philosophie eine Veränderung erfahren, i n d e m schicksalhaftes Geschehen i n die subjektive I n n e r l i c h k e i t des Menschen verlagert w i r d u n d i h m nicht mehr als allmächtiges Verhängnis gegenübersteht. D i e geistige Person ist Träger u n d Schöpfer der tragischen Situation, d. h. des Schicksals, m i t einer bestimmten Freiheit, die i n der personalen Existenz des Menschen liegt. D a aber die personale Existenz i n der geistigen Person lebt, ist Schicksal ein geistiges Moment. D i e enge V e r q u i c k u n g v o n Person u n d Schicksal f i n d e t Simmel i n Rembrandts Gestalten künstlerisch symbolhaft dargestellt. „ . . . es (das Schicksal) bricht aus i h n e n hervor, aus irgendeiner tiefen Quelle, die nichts Vorangehendes u n d nichts übergreifendes kennt, strömt hier ein Werden, das die Totalität dieses Lebens ist, aber seiner W i r k l i c h keit u n d seinem Sinn nach einzig, eine i n d i v i d u e l l e causa s u i " 1 6 . Diese Auffassung soll nicht etwa auf eine bequeme Versöhnung der schon erwähnten Diskrepanz zwischen dem I n d i v i d u u m u n d den Z u f ä l ligkeiten der W e l t hinzielen, sondern den Blick darauf lenken, daß „ z w i 14 15 18

Simmel: Kant und Goethe, Leipzig 1916, S. 108. Simmel: Lebensanschauung, S. 118. Simmel: Rembrandt, S. 131.

Problemstellung sehen dem Menschen u n d seinem Schicksal, so d u m p f , so alltäglich, so zermürbend oder zerbrechend es sein m a g " 1 7 , eine Verbindung besteht, die seinen W e r t konstituiert. Der antike Mensch sieht sich seinem Schicksal i n ohnmächtiger Fesselung gegenüber, der Mensch der Renaissance k ä m p f t trotzig gegen die Schicksalsmächte, der moderne Mensch sucht i n der existentiellen Begegnung m i t dem Schicksal Sinn zu stiften, der seiner inneren subjektiven Gerichtetheit entspricht. D i e objektiven Ereignisse, die das I n d i v i d u u m treffen, bleiben immer noch zufällig, aber „ d a ß sie eben m i t jenem subjektiven Leben zusammenstoßen u n d damit innerhalb seiner einen Sinn b e k o m m e n " 1 8 , bestimmt das typisch menschliche Schicksal. 2.

Das Tragische i n positiver Sicht

D i e Stellung des Menschen i n der W e l t , seine Beziehung zu i h r u n d die A r t seiner V e r w i r k l i c h u n g i n einem menschen-würdigen Dasein geben zu den mannigfaltigsten Überlegungen Anlaß, w i e dieses Leben durchzuführen sei. Dabei ergeben sich f ü r den Menschen unserer Zeit sogleich z w e i Fragen entsprechend der menschlichen Selbsterfahrung: ob dieses Leben als naturales oder geistiges Sein gelebt werden soll. A l s menschliche Lebewesen f ü h l e n w i r die Anweisung, mehr zu sein als n u r naturale Geschöpfe, wie es die Tiere sind. D i e praktische D u r c h f ü h r u n g dieser Alternative, entweder das eine oder das andere zu sein, ist uns allerdings versagt, da w i r auf G r u n d unserer Wesensstruktur beides zugleich u n d somit das lebendige Paradox sind. D a d u r c h haftet dem menschlichen Dasein eine Unvollständigkeit u n d U n v o l l k o m m e n h e i t an, woraus notwendigerweise ein Streben nach Ganzheit folgt. Der absolute Z i e l p u n k t steht i n Frage,· m i t dem Bewußtwerden der Frage f ä l l t jedoch zugleich eine Vorentscheidung über das ewige Geschick des Menschen überhaupt. W i r erleben uns i n einem Spannungsbogen zwischen Körper u n d Geist verklammert, an der U n v o l l k o m m e n h e i t des Daseins leidend, teils i n eine naturale O r d n u n g gebunden u n d doch zugleich m i t der M ö g l i c h k e i t zur Freiheit ausgestattet, uns aus dieser O r d n u n g i n ein höheres Sein zu erheben. A u f mittelalterlichen Kunstwerken ist das Erlebnis der Zerrissenheit der menschlichen Seele o f t i n allegorischer Form m i t H i l f e v o n drei Gestalten dargestellt: Teufel, Mensch u n d Engel; später f i n d e t man die Teufelsgestalt d u r c h ein Tier ersetzt. D e r Mensch steht i n der M i t t e u n d hat zu wählen zwischen Tier u n d Engel. D i e A l t e r n a t i v e hieß also i m M i t t e l a l t e r : Sünder oder Heiliger u n d bedeuted die extremste Aufreißung der Gegensätze ; hier also subjektive Verstrickung i n Sünde u n d Schuld, dort objektive Geistigkeit i n höchster Reinheit u n d Heiligkeit, die „ h e i l " ist, w e i l sie nicht mehr i n dualer Zersplitterung steht. Eine moderne Tendenz i n der 17 18

Simmel: Rembrandt, S. 132. Simmel: Lebensanschauung, S. 119.

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Problemstellung

Philosophie der Gegenwart hat das alte Problem i n neuer u n d abgewandelter Form wieder aufgegriffen. Heute w i r d dieses Problem aus der Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz hervorgetrieben. A u s dem Z w e i f e l der Neuzeit u n d der Verzweiflung der Generationen unseres Jahrhunderts macht sich das Entweder - Oder geltend, w o m i t das Hamlet'sche Sein oder Nichtsein gemeint ist u n d das genau auf das „ e x i s t e r e " des Menschen hinzielt. Somit rückt der Mensch w i e d e r u m i n den B l i c k p u n k t des philosophischen Interesses: Es gilt, den Menschen zu gewinnen aus seiner Situation der widersprüchlichen Fremdheiten u n d geistig-seelischen Gerichtetheit. Diese tragische Spannung macht sich ständig i m Dasein bemerkbar u n d ist t i e f i n das Leben versenkt. D o r t liegt als furchtbare M ö g l i c h k e i t die „ A h n u n g eines unermeßlichen Vorrats an Leiden, . . . den w i r mit uns herumtragen w i e i n einem verschlossenen G e f ä ß " 1 9 . Daher rührt w o h l die Angst des modernen Menschen, die nicht angebbar u n d nicht nur i m psychischen Bereich zu lokalisieren ist. Der unerschöpfliche Vorrat an Leidensmöglichkeiten, der dem Menschen mitgegeben wurde, ist es, der i h n v o m Tier unterscheidet, da er das einzige Wesen ist, das an sich u n d seinem Dasein zu leiden vermag. Dies setzt voraus, daß solche A r t des Leidens i n Form von K o n f l i k t e n auf der Stufe der Geistigkeit zum Austrag kommt. Nichts ist so i n der Lage, den Menschen zu charakterisieren, w i e das, woran er leidet. Geistiges Leid k a n n nur der Mensch empfinden u n d dies verleiht i h m die echt menschliche W ü r d e . I n der tragischen Situation w i r d das i n uns latent ruhende Leid evident. D a m i t w i r d i m Tragischen eine'gewisse Doppelgipfeligkeit sichtbar, die das Leben stets zu A u f g i p f e l u n g e n u n d Höhepunkten führt. Das zur Realisierung gelangte Leid i n der Tragik lindert die Spannung u n d w i r k t erlösend. Subjekt u n d Objekt erscheinen i n ihrer klarsten Trennung, zugleich auch i n größter Annäherung. Einerseits leuchtet f ü r einen Augenb l i c k die Harmonie der Einheit zwischen den Gegensätzen auf, andererseits erscheinen die widersprüchlichen Pole i n unversöhnlicher Trennung. Der Mensch berührt gleichsam die Einheit, die i h m nicht zuteil werden kann,· er wäre sonst v o l l k o m m e n u n d gerade dies versagt i h m das Leben. Z u m wahren Leben gehört die M ö g l i c h k e i t des Versagens, des Scheiterns u n d der Verzweiflung, ja „ D a s Entscheidende u n d Bezeichnende des Menschen ist, w o seine Verzweiflungen l i e g e n " 2 0 . D a m i t w i r d gesagt, daß der Mensch unvollendet u n d unvollendbar ist, je mehr er A n s p r u c h hat, als Mensch zu gelten. D i e V o l l e n d u n g bedeutet fertige, endgültige Form. Dies wäre das Ende des sich i n stetigem W e r d e n vollziehenden Lebens. A u c h v o n diesem B l i c k p u n k t aus zeigt sich i m tragischen Geschehen wieder die doppelte Bedeutung, die f ü r das Wesen des Tragischen typisch ist: Es zerstört, u m damit zugleich zu vollenden; i n der V o l l e n d u n g aber bleibt 19 20

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 16. a.a.O., S. 15.

Problemstellung

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das Stückwerk sichtbar. W o beides gegeben ist, fügt sich ein Ganzes. Daher berührt der Mensch i n der tragischen Verstrickung die beiden extremen Pole des Seins u n d des Nichtseins u n d findet dadurch die Erhöhung i n einem ganzen Sein. Das Subjekt i n der Spannung tragischer K o n f l i k t e erfährt die Transzendenz i n der E r f ü l l u n g seines Schicksals. W i e sehr sich auch tragisches Schicksal gegen das Leben, gegen jeden Sinn u n d W e r t zu kehren scheint, w i r d doch eine A h n u n g wach, die sich zuweilen zu i n t u i t i v e r Gewißheit steigert, daß dieses Geschehen i m letzten Seinsgrunde stehe u n d somit einen positiven A u f t r a g erfülle. M a n könnte sagen, daß i n der Tragik dem Menschen der Weg gewiesen ist, sich nach seine,m Lebens-apriori zu vollenden. ,,Im Tragischen lebt eine tiefe H a r m o n i e zwischen dem Positiven i m Menschen u n d dem, was dies Positive zerstört" 2 1 . H i e r sei aus dem Bereich der Literatur an das klassische Beispiel der Antigone erinnert. Sie steht i n einem Sollenskonflikt zwischen den Forderungen des weltlichen u n d des göttlichen Gesetzes. I m Vollzug ihrer W a h l bestimmt sie sich selbst zum höchsten W e r t des Menschseins u n d e r f ü l l t damit zugleich ,das ewig göttliche Gesetz. D i e Entscheidung t r i f f t sie f r e i aus der N o t w e n digkeit ihres inneren Wuchses. I m freien Vollzug ihrer Entscheidung zerstört sie zwar ihr Leben, gibt i h m dadurch jedoch die W ü r d e u n d W e i h e der Vollendung. I n der täglichen Lebenspraxis jedes Menschen ergeben sich Situationen, die aber j e nach dem Maße des personalen Wertes mehr oder weniger i m Sinne teleologisch-eudämonistischer Vernünftigkeit gelöst werden. Dennoch bleibt es wahr, daß sich i n dem Maße der ergriffenen Tragik die menschliche Werthöhe kundtut. D u r c h Vernunftgründe allein läßt sich das Wesen des Tragischen nicht erhellen. D i e beherrschende Rolle des Denkens erstreckt sich f ü r das Naturwesen Mensch a u f den Bereich lebensdienlicher Funktionen. N a c h Zweckmäßigkeitsgründen handelt das rechnend-berechnende Artwesen Mensch ohne jeden A n s p r u c h auf jenes Sein, das nur i n geistigem Existentwerden realisierbar ist. D a m i t ist gegeben, daß tragische Situationen - nach nur rationalistischen Kriterien beurteilt - zwecklos erscheinen, da die Gründe jener K o n f l i k t e dem bloßen Lebensvollzug widersprechen. Das heißt aber auch, daß i n der Tragik das Kausaldenken ein Ende hat. Das Tragische i n seinem Geschehen entsteht aus dem W e r d e n u n d ist selbst ein Werden, d. h. auch hier scheint die Einheit aufzuleuchten, die sich ergibt, w e n n Ursache u n d W i r k u n g noch als ungespaltene Kraft, als einheitliche D y n a m i s erlebt werden. W o W e r d e n u n d Gewordenes sich gegenseitig bedingend durchdringen, k a n n es keine Kausalität geben. Dies könnte das K r i t e r i u m f ü r das Tragische überhaupt sein u n d außerdem den Beweis liefern, daß i n der Tragik Freiheit möglich, ja sogar eine Bedin21

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 15.

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Problemstellung

gung ihrer ist. M i t dieser Problemstellung w i r d sich die vorliegende Untersuchung noch i n einer speziellen Erörterung befassen. (Siehe Kap. V r 1.) Es soll i m H i n b l i c k auf das Problem des Tragischen gezeigt werden, daß es gleichsam i m Schnittpunkt vieler Probleme liegt u n d aus sich alle anderen Fragen entläßt, die es zu einem echten Kernproblem philosophischer Betrachtung werden lassen. Georg Simmel hat sogar i n seiner Lebensphilosophie dem tragischen Geschehen die zentrale Stellung zugewiesen, die es i n der A n t i k e als lebendige Einheit i m Denken der Menschen hatte. D a der Mensch den O r t des tragischen Widerstreits darstellt, ist er durch sich u n d i n sich gleichsam die Verkörperung der W e l t . Ein neuer Kosmos w i r d sichtbar i n der Rückwendung auf den Menschen. V o n neuem w i r d der Mensch i n seinem Sein zu ergründen gesucht u n d w i r d i n dieser seiner Begründung w i e d e r u m zum „ M a ß aller D i n g e " . D i e Bestimmung des Lebens z u m echt Menschlichen ist Z i e l u n d Sehnsucht der geistigen Person; alle K o n f l i k t e , Widersprüche u n d Gegensätzlichkeiten sind nur „Pulsschläge dieses einheitlichen Lebens selbst, als die notwendigen Stationen zu seinen W e r t h ö h e n " 2 2 . Menschen, deren Wesen sich Höherem aufschließen w i l l u n d die sich i m Dasein der Tragik des Lebens stellen, stehen damit i m Banne einer irrationalen, transzendenten Ordnung, die i n sich selbst vorgefunden, i n der echt menschlichen W a h l zu sich selbst v e r w i r k l i c h t w i r d . Diese Auffassung rückt den Menschen u n d sein Leben deutl i c h i n den M i t t e l p u n k t des tragischen Seins, sich selbst als Aufgabe vorfindend, als Ziel, W e r t u n d Sinn allen Strebens. Ein solches Menschen-! b i l d ist imstande, das Ewige i m Menschen zu spiegeln u n d eine Verbindung zum Absoluten i m Sinne einer communicatio dei zu ermöglichen. Begreift man den Menschen i n seiner tragischen Stellung zwischen zwei Polen, dann w i r d man die unendlichen M ö g l i c h k e i t e n der Lebensverwirkl i c h u n g ahnen können, w i e sie i n zahllosen I n d i v i d u a l i t ä t e n v o n menschl i c h e n Lebewesen zum A u s d r u c k gelangen. A u s dieser Überlegung ergibt sich, daß ein Mensch i n seiner Seinsverwirklichung dem anderen nicht gleichen kann, daß jeder eine W e l t f ü r sich ist. M a g ein Menschenleben an I n h a l t e n u n d Ereignissen dem anderen noch so gleich sein, erweisen sich die äußeren objektiven Lebensmomente i n ihrer inneren, subjektiven Bedeutung f ü r das Leben doch als ganz verschieden. Das hat i n der teleologisch-utilitaristischen Praxis zur Folge, daß die m i t Bewußtsein u n d I n t e l l e k t gewählten Mittel als objektive Werkzeuge zu einem bestimmten Zweck zwar berechenbar, aber i m H i n b l i c k a u f den W e r t des Zweckes selbst i n d i f f e r e n t sind; sie haben l e d i g l i c h die F u n k t i o n v o n Instrumenten, brauchen aber i n ihrer W e r t i g k e i t nicht m i t dem objektiven W e r t des Zieles übereinzustimmen. D e r i m Zweck ruhende u n d intendierte W e r t w i r d jeweils aus dem subjektiv-personalen Wertbewußtsein des Menschen 22

Simmel: Schulpädagogik, S. 133.

Problemstellung

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heraus bestimmt. Das gleiche M i t t e l mag einem w e r t v o l l e n oder sogar ethisch fragwürdigen Zweck dienen, ausschlaggebend ist a l l e i n die innere B e f i n d l i c h k e i t des Menschen, die aus der einheitlichen Wesensnotwendigkeit entscheidet, was subjektiv als W e r t gemeint u n d als solcher o b j e k t i v realisierbar ist oder bei W a h r u n g innerer Treue u n d sittlicher Integrität als U n - W e r t abgelehnt werden muß. Angesichts dieser Problematik drängt sich die Frage nach dem auf, was die Menschen gemeinsam besitzen, w o r i n alle gleich sind, w o r i n das wesentlich Menschliche besteht, das den Menschen sich selbst u n d seinem Nächsten v e r p f l i c h t e n d bindet. A l l e n Menschen gemeinsam ist das Leiden, die Q u a l der polaren Entzweiung, die Tragik des Werdens, dessen Schauplatz eben das Leben darstellt. M i t Schopenhauer u n d Nietzsche hat i n der Philosophie eine Epoche begonnen, i n der man das Geheimnis des Lebens philosophisch zu ergründen trachtet. Diese beiden Denker stellen eine entscheidende geistige W e n d e dar, denn sie haben das Leiden u n d den rastlosen, tragischen K a m p f des Lebens i n philosophischer Besinnung zu deuten versucht. Bis d a h i n konnte man m i t Recht Simmeis A n s i c h t beipflichten, der sich folgendermaßen äußert: „Es ist erstaunlich, w i e wenig v o n den Schmerzen der Menschheit i n ihre Philosophie übergegangen i s t " 2 3 . Trotz dieser Einbeziehung des Leides i n seine Philosophie verf ä l l t Simmel nicht etwa i n einen Pantragismus, er hält sich auch f e r n jeder ausdrücklich pessimistischen Deutung. Diese Haltung, die A u s d r u c k seines ganzen Denkens ist, zielt darauf h i n , die Gegensätze v o n einem Höheren übergreifen zu lassen, das A n s p r u c h auf Absolutheit erheben kann. A u f diesem Wege gelangt er zu einer positiven Schau des Tragischen, zu dem B e g r i f f des absoluten Lebens, das Mehr-Leben u n d M e h r als-Leben ist. 3.

D i e moderne Deutung des Tragischen i n der menschlichen Existenz

D i e Problemstellung Mensch - W e l t - Gott ist auch i n der Philosophie des 20. Jahrhunderts i m Grunde genommen noch deutlich spürbar, w u r d e jedoch m i t einer entschiedenen Drehung i n den subjektiven Bereich des menschlichen Lebens verlegt. D i e Tendenz zum Vertrauensverlust d a r f als spezifisch moderner Zug dieser Zeit angesehen werden. Simmel hat i n der drohenden A u f l ö s u n g der wesentlich menschlichen Kräfte der Seele die Gefahr zu einer V e r f r e m d u n g u n d Verarmung der W e l t erkannt u n d versucht, der Zersplitterung des Lebens i n einen formal-analytischen Funktionalismus entgegenzuwirken, i n d e m er bewußt die Frage nach der Eigentl i c h k e i t des I n d i v i d u u m s stellt. D i e rational betonte mechanisch-technische Beherrschung der W e l t bietet dem Menschen keine ausreichende Grund2

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 1 .

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Problemstellung

läge, seine menschliche Position i m Dasein i n einem echten Existenzgrund zu sichern, was nur i m Selbsterlebnis möglich werden kann. I n dieser Situation, so bedrohlich u n d verloren sie auch erscheinen mag, ergeht an den Menschen der Ruf zur tapferen Selbstbescheidung, denn w i e kann der Mensch es wagen, über Gott u n d die W e l t , über Vernunft, W a h r h e i t u n d Erkenntnis, über Moral, G l ü c k u n d Leid etwas auszusagen, solange er sich selbst u n d sein Dasein als ungewiß, unbestimmt u n d f r e m d erfahren muß. ,,Durch m e i n Dasein b i n i c h nicht mehr als eine leere Stelle, ein U m r i ß , der aus dem Sein überhaupt ausgespart ist. D a m i t aber ist die P f l i c h t u n d Aufgabe gegeben, diese leere Stelle a u s z u f ü l l e n " 2 4 . So formuliert Simmel die A n t w o r t a u f die Frage nach dem, was eigentlich das Leben als Leben sei u n d welche Bedeutung i h m als Leben zukomme. H i e r m i t erweisen sich Simmeis Gedanken als bedeutsamer Ansatz, der zu einem neuen philosophischen Spezialgebiet werden sollte: der Existenzphilosophie. Simmeis Hervorhebung des I n d i v i d u u m s als letztes sicheres Bollwerk gegen die Flut der vermassenden Gleichmachung birgt den Schlüssel zur modernen Philosophie der Existenz, die durch Denker w i e Heidegger, Jaspers u n d Peter Wust zu einer f ü r die Gegenwart charakteristischen Richtung der Philosophie wurde. D i e leere Stelle i m Sein, die der Mensch i n seinem Dasein erfährt, kennzeichnet genau die geistige Situation unserer Zeit, die i n der existentiellen N o t deutlich zum A u s d r u c k kommt. Das menschliche Dasein w i r d i m allgemeinen als fragwürdige, höchst ungesicherte Tatsache erlebt. A u s dem G e f ü h l der Fragwürdigkeit u n d Unsicherheit, das sich schließlich i n Angst u n d V e r z w e i f l u n g objektiviert, macht sich sogleich i n dem Subjekt die Sehnsucht nach Erlösung v o n diesem Dasein geltend, das i n seinen W i d e r sprüchlichkeiten oft an die Grenze sinnloser Absurdität rührt u n d den Menschen dauernden Verwundungen aussetzt. M i t der Erkenntnis, daß das Dasein leer sei, ist bei Simmel nicht der W e g zum N i h i l i s m u s beschritten, sondern ein neuer Ausgangspunkt bezogen, von dem aus m i t demütiger Bescheidung u n d an Gläubigkeit gemahnendem M u t das Dasein als T e i l des Seins begriffen w i r d . I n diesem Sinne muß auch die Verzweiflung am Leben nicht unbedingt Ausdruck nihilistischer H a l t u n g sein, vor allem dann nicht, solange der Mensch sich selbst nicht f ü r wertlos hält. Somit muß auch der Pessimismus nicht notwendig die Leugnung jeden Wertes des Lebens meinen,· er stellt l e d i g l i c h einen Lebensaspekt dar, der Ausdruck einer Stellungnahme zum Dasein ist. D a m i t e r f ü l l t er i m m e r h i n die dem Leben als notwendig innewohnende Bestimmung des Sich-stellens. Der ständig dahinfließende Lebensstrom, der sich i n einem rastlosen Werdensprozeß i m Dasein offenbart, kennt keine bleibende, endgültige Form u n d keine festen, gültigen Inhalte. Somit erweist sich das bloße 2

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 1

Problemstellung Dasein schlechthin als leer, als indifferentes Fließen. D a sich aber das Leben nicht nur i n der einen Kategorie des Werdens vollzieht, sondern aus einer metaphysischen Gerichtetheit als Sehnsucht nach gültiger Form strebt (Ideen, Inhalte, Kunstwerke), zielt es auf das Sein hin, das ewig unwandelbar seiend ist u n d Erlösung v o m sich wandelnden W e r d e n bedeutet. I m Dasein verspürt also der Mensch die Bestimmung zum Sein, das i h m nicht gegeben ist, das i h m aber als Aufgabe aufgegeben bleibt, dem er strebend entgegendrängt. Das Leben strebt danach, aus der I n d i f f e renz des Daseins auszubrechen u n d sich i n die Existenz zu erlösen. Das leere Dasein soll e r f ü l l t werden, d. h. das menschliche Lebewesen soll als Mensch Gestalt annehmen, soll i n die Existenz treten, indem es sich aus dem Lebensprozeß heraushebt i n den ewig gültigen Bereich des Seins. Existentwerden vollzieht sich i n einer transzendierenden Bewegung, die aus der subjektiven I n n e r l i c h k e i t des Menschen zur Ergreifung u n d zur Teilhabe an dem führt, was die menschliche Seinsweise überschreitet 2 5 . Existenz bedeutet somit Begegnung m i t dem Sein i n der Transzendenz. Das Hinausgreifen über die jeweilige Grenze birgt i n sich die M ö g l i c h k e i t des .Hinausgreifens über das bloße Leben. Das i m Dasein m i t ideellen L i n i e n vorgezeichnete B i l d des Menschen w i r d v o m geistigen Subjekt vorgefunden u n d i n der E n t w i c k l u n g der menschlichen Person aus seiner Idealität i n die Realität gebannt. D i e Aufgabe liegt also f ü r den Menschen darin, real zu werden. Der Mensch befindet sich somit i m m e r auf dem Wege zu sich selbst, u n d jeder Lebensmoment stellt einen Durchgangspunkt, ein N o c h - N i c h t dar. U m aber diesen Prozeß lebendig zu erhalten, ist es eine notwendige Voraussetzung, daß die Bedrohtheit i m Leben stets spürbar u n d die am Dasein gefühlten Widersprüche bewußt werden. Sobald die Fremdheiten des Lebens über ihre singuläre, zufällige Erscheinung hinaus als geistige A n t i n o m i e n aus der Zeitlichkeit herausgehoben sind, stehen sie i n ihrer Objektivität dem subjektiven Leben m i t einer Eigenbedeutung u n d Eigenwilligkeit gegenüber, an der es sich zu bewähren hat durch die W a h l u n d die Entscheidung. ,,Das ist das W u n d e r v o l l e an der E n t w i c k l u n g der Lebewesen, daß der K a m p f u m das bloße Dasein schon u n v e r m e i d l i c h der K a m p f u m das Mehr-Sein ist, nicht die bloße Koordination, die der Begriff des Daseins anzuzeigen scheint, sondern nur d u r c h Sieg, Bewegtheit, Überlegenheit e r r e i c h t " 2 6 . U n t e r H i n w e i s auf die Bedeutung des Kampfes als existentielle Notwendigkeit i m Dasein, rückt das Phänomen des Tragischen zu einer metaphysischen Grundkategorie auf, die, Sein u n d W e r d e n gegenseitig durchdringend u n d verknüpfend, dem Leben als seine innerste W u r z e l gesetzt ist. I n der A n t i k e verstand man unter Tragik das Schicksalsgeschehen, das m i t Notwendigkeit 25 Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube, Fischer-Bücherei 1958, S. 18: „. . . das Sein, das das uns schlechthin andere ist, an dem wir keinen Teil haben, aber in dem wir gegründet sind, und auf das wir uns beziehen". 26 Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 24.

Problemstellung dem Menschen gegenübertrat. Es repräsentierte eine Macht, die den M e n schen v o n außerhalb t r i f f t u n d das göttliche Gesetz u n d die O r d n u n g vollzieht. D i e moderne Auffassung verlegt die tragische Situation i n die Existenz des Menschen selbst, dort entwickelt sie sich als N o t w e n d i g k e i t des personalen Seins. Demnach ist die metaphysische Grundlage der Tragik i m Individuum zu suchen, w ä h r e n d nach der Auffassung der A n t i k e „ e i n e i n d i v i d u e l l e Bestimmtheit als Basis des Lebens der P e r s o n " 2 7 nicht angenommen wurde. Diese moderne Deutung rückt das menschliche Leben i n den Zentralpunkt des tragischen Geschehens. D a m i t erhöht sich das Maß der Spannung, da dem Menschen eine autonome Stellung zugewiesen w i r d , die den Bereich seiner Möglichkeiten, seine Selbstverantwortlichkeit u n d das M a ß seiner Freiheit steigert. Tragik erweist sich als ein Geschehen, das wesensnotwendig m i t Unbedingtheit die Aufgabe des M e n schen aufzeigt, der sich i n freier W a h l zu entscheiden hat zur E r f ü l l u n g seiner existentiellen Bestimmtheit. Insofern der Mensch i n seiner Geistigkeit die Tragik ergreift, u m sogleich v o n dieser ergriffen zu werden, bestimmt er sich zum echt menschlichen Sein, das i n seinem Leben damit real w i r d . Außerdem v e r w i r k l i c h t sich i n der Bestimmbarkeit des geistigen Subjekts seine Geltung u n d sein Wert. So offenbart sich das menschl i c h Bedeutungsvolle i n der Tragik m i t Evidenz. D a Tragik i m m e r ein Entwicklungsvorgang ist, d a r f man i n i h r die M ö g l i c h k e i t der Menschwerdung sehen; v i e l l e i c h t ist i n i h r sogar jener dunkle, ewig zeugende U r g r u n d des Seins zu sehen, analog der heraklitischen Auffassung, wonach der Krieg der Vater aller Dinge ist. So bestimmt Simmel das Wesen der Tragik folgendermaßen: „ . . . daß ein Schicksal gegen den Lebenswillen, die Natur, den Sinn u n d W e r t einer Existenz zerstörerisch gerichtet ist - , u n d daß zugleich empfunden w i r d , dieses Schicksal gehe aus der Tiefe u n d N o t w e n d i g k e i t eben dieser Existenz h e r v o r " 2 8 . Betrachtet m a n v o n diesem Standpunkt aus das Problem des Tragischen, dann stellt es sich innerhalb des menschlichen Lebens als K o n s t i t u t i v m o ment der Person dar. D i e E n t w i c k l u n g v o m menschlichen Lebewesen zur Person vollzieht sich i m m e r i m Bereich tragischer Polarität nach der immanenten Gesetzlichkeit des subjektiven Wesenskernes. K o n f l i k t e sind somit notwendig, denn sie ermöglichen die Selbstverwirklichung u n d Selbstentfaltung des Menschen. Demnach stellt sich i n der Tragik essent i e l l eine wertschöpferische Kategorie des Seins dar. Was an Qualität u n d W e r t i n der menschlichen Seele lebt u n d v o n dort aus dem innersten, Zentrum des I n d i v i d u u m s i n die W i r k l i c h k e i t des Lebens tritt, kennzeichnet die menschliche Person u n d ihre Tragik, denn was i n der subjektiven I n n e r l i c h k e i t des I n d i v i d u u m s als W e r t gilt, k a n n i n der objektiven Äußerlichkeit ins Gegenteil verkehrt erscheinen. D a m i t mag es zusammenhänSimmel: Fragmente und Aufsätze, S. a.a.O., S. .

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Problemstellung gen, daß die wahre Persönlichkeit i n der Masse der Gesellschaft als störendes Element empfunden w i r d , trotz der i n i h r v e r w i r k l i c h t e n positiven Qualitäten der Seele u n d des Gemütes. M a n pflegt diesen Gegensatz v o n I n n e n u n d A u ß e n das A u f e i n a n d e r p r a l l e n v o n Idealität u n d Realität zu nennen u n d begnügt s i c h m i t der bequemen Erklärung, diese beiden Bereiche seien n u n einmal n i c h t zu vereinen. Dennoch ist n i c h t zu leugnen, daß die Idee des Menschen als I d e a l des Lebens u n d als letzte Bedeutsamkeit des Daseins i n der menschlichen Seele präformiert ist u n d nach Verw i r k l i c h u n g drängt. Dies k a n n aber n u r geschehen i n der aufrichtigen W a h l zwischen dem subjektiv inneren Gesetz des existentiellen So-seins u n d der objektiv äußeren Erscheinung. M i t der Entscheidung zu sich selbst drückt sich das tiefste, sehnsüchtige W o l l e n des Menschen aus, die Idee aus der Transzendenz real werden zu lassen. Q u e l l u n d Z i e l dieses W o l lens liegen i n der Personalität des Menschen. Der W e g zu sich selbst f ü h r t zum Erfassen des Seinsgrundes. I n d e m der Mensch aus der Spontaneität seines Wesens zur Selbstverwirklichung drängt, f ü h r t er mitunter seine Selbstvernichtung herbei. D a m i t offenbart sich i n jenem Faustischen Lebensdrang die geheimnisvolle Einheit i n der Tragik, „ d e n n er q u i l l t aus dem letzten Grunde alles Daseins u n d f ü h r t zu i h m zurück, so daß die Verneinung der i n d i v i d u e l l e n Form i h m eigentlich nahe l i e g t " 2 9 . So endet denn auf der Bühne der tragische H e l d meist d u r c h Selbstmord, der als Symbol u n d n i c h t etwa als Aussöhnung des tragischen K o n f l i k t e s zu werten ist - die Tragik bleibt unauflöslich. D e r T o d des tragischen H e l den kennzeichnet das W o l l e n eben dieses Menschen, zugleich w i r d dieses W o l l e n aber auch verneint. I n ähnlicher Weise verdeutlicht die Gebetsf o r m e l „ D e i n W i l l e geschehe" diese Situation paradoxer Tragik, d e n n nicht m e i n W i l l e - der menschliche W i l l e — soll geschehen, sondern ein höherer W i l l e , der mehr ist als meiner. W o l l e n u n d Sollen verschmelzen, u n d damit vollzieht sich das selbstüberwindende Loslassen, verbunden m i t der vertrauenden freien Anerkennung einer transzendenten Herrschaft u n d absoluten Macht. V o n diesem Standpunkt aus erfährt auch der Begriff der Schuld i n der h e r k ö m m l i c h gebrauchten Auffassung der formalen M o r a l eine entscheidende A b w a n d l u n g . N a c h menschlichem Maßstab w i r d die A l t e r n a t i v e i m m e r schuldig oder unschuldig lauten, aber menschliche U r t e i l e sind darum unzulänglich, w e i l sie aus dem beschränkten Bereich menschlich subjektiven Urteilsvermögens stammen. Jenseits aller relativen A l t e r n a t i v e n der rationalen Sphäre gibt es sub specie aeternitatis ein Schuldlos-schuldig, das i n der tragischen Gestalt der Antigone Darstellung gefunden hat. Sie ist schuldig v o r der öffentlichen M o r a l der Gesetzgebung, sie ist aber zugleich unschuldig vor den Mächten des Schicksals, vor dem göttlichen Gesetz, das sie als identisch m i t ihrer eigenen psychologisch i n d i v i d u e l l e n Innergesetzlichkeit weiß. Dieser erschütternde, Simmel: Fragmente und Aufsätze, S.

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30

Problemstellung

tragische Doppelaspekt ist auch i n der christlichen Ethik gültig geblieben, der i n der Mahnung: „Richtet nicht, auf daß i h r nicht gerichtet w e r d e t " zum A u s d r u c k bringt, daß ein U r t e i l über andere nicht nur i m Bereich der auf menschlicher Ebene geltenden paradoxen A l t e r n a t i v e v o n entwederoder seine v o l l e Gültigkeit hat, sondern darüber hinaus eine einheitliche W i r k l i c h k e i t i n dem, was als Höheres über diesem steht, das seinem Sein nach „ M e h r " , umfassender ist. I n einer tragischen Verstrickung eine Schuld sehen zu wollen, bedeutet, das Wesen der Tragik zu verkennen. M a n ist jedoch oft geneigt, Schuld als hypothetischen Begriff f ü r eine nicht vorhandene causa einzuführen, u m den i n der Tragik evidenten Widerspruch erträglich zu machen. I m Phänomen des Tragischen stellt sich Unbegreifliches u n d Unfaßbares dar,· darin zeigt sich die Nähe der Gottheit an, denn Gott ist - wie auch Kierkegaard meint - selbst eine unfaßbare „ p a r a d o x e " Tatsache 3 0 . H i e r m i t w i r d deutlich, daß i n der Tragik ein religiöses M o m e n t zum A u s d r u c k kommt, das i n der antiken Tragödie als göttliches Geschehen u n d W a l t e n der Gottheit noch lebendig empfunden wurde. Es liegt i n Verbindung m i t der modernen Auffassung der Tragik i m menschlichen Leben die M ö g l i c h k e i t nahe, einen neuen Zugang u n d eine Belebung religiösen Empfindens zu suchen.

30 Bei Kierkegaard bleibt das Paradoxe eng verknüpft mit dem Absurden, das auch in der Tragik aufweisbar ist. Das aus den Gegensätzlichkeiten .erwachsende tragische Erlebnis des Absurden erweckt die Angst, die im Glauben überwunden wird. Kierkegaard, Sören: Christentum und Christenheit, München 1957, S. 15: „Das Auftreten Christi ist und bleibt ein Paradox". a.a.O., S. 17: „Der Glaube hofft auch für dieses Leben, aber wohlgemerkt: kraft des Absurden, nicht kraft des menschlichen Verstandes,· sonst wäre er nur Lebensweisheit, aber nicht Glaube. Daher ist Glaube das, was die Griechen den göttlichen Wahnsinn nannten".

IL Der tragische Gegensatz 1.

Der Mensch als Wesen der M i t t e

I n jeder Kulturepoche gibt es Grundideen, die etwa dem Leitmotiv einer Oper oder Symphonie vergleichbar sind, i n A b w a n d l u n g e n immer wieder erscheinen u n d das gesamte kulturelle u n d geistige Leben i n ihrem Sinne prägen. So kann man i m Laufe der Geistesgeschichte beobachten, w i e i n wechselnden Epochen auch die geistigen Probleme sich w a n d e l n u n d wiederkehren. Das Denken der Menschen entzündete sich an den mannigfaltigen Erscheinungen der physischen u n d psychischen W e l t u n d an den Ungereimtheiten ihres Zusammenspiels. A u f der leidenschaftlichen Suche nach Erkenntnis, nach Lösung u n d A n t w o r t werden immer wieder

die

Standpunkte gewechselt, die Akzente verschoben, ohne daß sich ein A n haltspunkt f i n d e n ließe, der standhält. W i e immer auch die philosophische Fragestellung gelautet hat, stets war der Mensch mitgemeint u n d m i t i n das Problem verflochten, w e n n auch nicht i m m e r so deutlich ausgesprochen w i e i n der Neuzeit. Schon das Orakel zu D e l p h i läßt die Seherin Pythia dem Menschen „Erkenne d i c h selbst" zurufen, aber es war damit immer die Erkenntnis einer Beziehung u n d Zuordnung zu einem Absoluten, zum göttlichen Gesetz, i n dessen O r d n u n g der Mensch stand, gemeint. W ä h r e n d es i n der A n t i k e u n d i m M i t t e l a l t e r galt, den Standort des Menschen i m H i n b l i c k a u f Gott u n d die W e l t zu klären, liegt beute der Akzent a u f der Frage nach der Begründung des Menschen i n seinem existentiellen Dasein u n d seiner Stellung i m Kosmos. A l s m i t den Göttern Griechenlands das festgefügte W e l t - u n d Menschenbild der A n t i k e versank, w u r d e die W e l t i n zunehmendem Maße f r e m d u n d fragwürdig.

Im

Gottesbegriff des Mittelalters versöhnen sich noch einmal alle Zwiespältigkeiten u n d Gegensätze der W e l t i n einer allweisen Einheit, bis schließl i c h auch dieser letzte Grund, durch Z w e i f e l u n d Skepsis

erschüttert,

selbst als Gegenstand des Fragens i m Leben u n d Denken des Menschen steht. I n dieser E n t w i c k l u n g liegt die Gefahr, daß n u n m i t der verlorenen göttlichen A u t o r i t ä t der Mensch jedes Z i e l u n d jede Richtung verliert. D a m i t er aber nicht verlorengehe, versucht er i n sich u n d durch sich selbst eine A u t o r i t ä t zu errichten, u m k r a f t

dieser sinn- u n d

richtunggebend

einen festen G r u n d zur V e r w i r k l i c h u n g seiner Existenz zu finden. D a m i t hat der Delphische Orakelspruch i m modernen Denken unserer Zeit seine neue Bedeutung gewonnen, indem er den Menschen fragen läßt: „ W a s b i n i c h u n d was soll i c h d u r c h m e i n Leben?" „ D e r Begriff des Lebens strebt

32

Der tragische Gegensatz

zu einer zentralen Stelle auf, i n der Wirklichkeit

u n d Werte,

metaphy-

sische w i e psychische, sittliche w i e künstlerische, i h r e n Ausgangspunkt u n d T r e f f p u n k t h a b e n " 1 . Das menschliche Lebewesen bewegt sich somit i n einem Bereich, der weder der Realität noch der Idealität angehört, jedoch m i t den M ö g l i c h k e i t e n beider Bereiche ausgestattet ist. D i e Folge hiervon ist, daß sich der Mensch stets i n den Bogen gegensätzlicher Pole gespannt sieht. D i e Tragödie seines Daseins gründet i n dem Erlebnis, daß die W e l t i n einen Dualismus aufgespalten ist, den das vernunftbegabte Lebewesen Mensch i m m e r wieder erneuert, i n d e m es v o n einem P o l zum anderen taumelt. I n der Erfassung der unendlichen M ö g l i c h k e i t e n des Menschen versuchte Nietzsche ein Menschenbild zu entwerfen, das sich i n der H y b r i s des Intellekts bis zum „ Ü b e r m e n s c h e n " steigert u n d dort m i t dem Begriff der absoluten Gottheit zusammenfällt. Bei dieser einseitigen Schau hat Nietzsche jedoch übersehen, daß es Dinge gibt, die dem Menschen nicht möglich sind. A n den Unzugänglichkeiten u n d I m p o n d e r a b i l i e n muß der kühnste Verstand versagen. N i c h t die ratio a l l e i n bestimmt das menschliche Dasein, auch das Irrationale greift f o r m e n d u n d gestaltend i n das Leben ein. W i r wissen, daß w i r sterblich sind u n d doch stellen w i r m i t V e r n u n f t u n d klarem Verstand die Frage nach der Unsterblichkeit. Dabei wechselt aber der Begriff „ s t e r b l i c h " logisch seine Bedeutung. W i r wissen, daß unser Körper, w i e alle Materie, der

naturwissenschaftlich-mechani-

schen Gesetzmäßigkeit unterworfen u n d somit vergänglich ist, u n d dennoch weiß der Mensch darüber hinaus u m einen geistigen Bereich, den er i m seelischen Leben berührt, der i h m die unvergänglichen Werte des Lebens aufzeigt, durch die er teilhat an dem transzendenten Reich des Unvergänglichen. Das Geschöpf Mensch steht auf G r u n d seiner Wesensstruktur i n einer K o n f l i k t s i t u a t i o n . A l s reines Lebewesen steht er i n einer naturalen Ordnung, er ist also a p r i o r i determiniert u n d lebt somit als zoologisches Gattungs- u n d Artwesen ex suae naturae lege f i n a l gesteuert. I n dieser Seinsf o r m erschöpft sich aber keineswegs das menschliche Dasein, es bewegt sich vielmehr noch i n einem anderen Raum als n u r i n dem der materiellvitalen Ordnung. D a der Mensch auch Vernunftwesen ist, verfügt er über einen seelischen Daseinsbereich, i n welchem er sich als subjektiv freies I c h erkennt u n d zu einem freien Geistwesen berufen f ü h l t . M i t dieser Feststellung treten i m menschlichen Bewußtsein schlagartig die tragischen Gegensätzlichkeiten des Lebens hervor. W i e i m m e r man auch die beiden Spannungspole bezeichnen w i l l , die tragische Problematik entzündet sich stets wieder v o n neuem ad i n f i n i t u m , w e n n man i n dialektischer Methode 1

Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, München 1918, S. 14.

Der tragische Gegensatz verfährt, denn der Mensch kennt n u r Probleme u n d keine gültigen Lösungen. A l l e Lösungen müssen als v o r l ä u f i g gelten u n d tragen i n sich schon den K e i m zur Spaltung i n ein weiteres duales Spannungsgefüge. I m Bewußtsein des Menschen steht das I c h als subjektives seelisches I n n e n dem objekthaften äußeren Leben m i t entgegengesetzten Inhalten, Ansprüchen und

Forderungen

gegenüber.

Intelligible

Vernünftigkeit

fordert

einen

zweckhaften JLebensvollzug, während die freie Geistigkeit des Menschen i n der »raison d u coeur« des Pascal die M ö g l i c h k e i t zu einem sinnvollen Leben verspürt. Es ergibt sich i n diesem Zusammenhang die Frage nach dem Sinn oder dem Zweck, ob ein sinnvolles Leben oder ein zweckhaftes Leben ( gelebt werden soll. I m Bereich der zoologischen Gattung w i r d sich natürlich alles nach eudämonistisch-utilitaristischen Zweckmotiven ziehen, die aber die Existenz des spezifisch menschlichen

voll-

Lebewesens

nicht .erfüllen, oft sogar das essentiell Menschliche vernichten u n d den Menschen ,zum intelligent-perfektionierten Tier werden lassen. H i e r zeigt sich ein Knotenpunkt der Probleme: Determinismus oder

Indeterminis-

mus, Freiheit oder Bindung. D a es Freiheit nur i m Geiste geben kann, w i r d also i m Räume der geistigen Person nicht nach dem Zweck, sondern nach dem Sinn des Lebens als letztem W e r t gefragt werden. A u c h v o n anderen Gesichtspunkten u n d Erwägungen ausgehend, f ü h l t der Mensch sein Dasein zwischen widerstreitenden Gegensätzen verlaufen. D i e Gegensätzlichkeit der Meinungen verwies schon i n der A n t i k e die Denker i n verschiedene Lager. N a c h der Auffassung des H e r a k l i t ist das Sein ein kontinuierliches Fließen. Diesem W e l t b i l d steht das der Eleaten gegenüber, die behaupten, daß das Sein das Eine, Ewige u n d Unveränderliche sei. Es ist entscheidend, daß diese alte Frage als Grunderlebnis u n d Grunderfahrung dem modernen Menschen die tragische Gewißheit bringt, daß er sich als Wesen der M i t t e zwischen jenen beiden Richtungen vorfindet. Das lebendige I c h erlebt das Dasein als etwas Verfließendes, als einen Prozeß, der i n k o n t i n u i e r l i c h e m A b l a u f stets Veränderungen, W a n d e l u n d Wechsel schafft. A u c h das I c h wandelt sich u n d erfährt Veränderungen, die als Entfaltung oder Entwicklung subjektiv u n d objekt i v wahrnehmbar sind. Jeder Mensch kann v o n sich sagen, daß er zu irgendeiner Zeit ein v ö l l i g anderer w a r als er jetzt ist, m i t anderen Gefühlen, U r t e i l e n u n d Gedanken, abgesehen v o n den objektiv feststellbaren Wandlungen, die die physischen Zustände der Lebensalter als K i n d heit, Jugend, Reife u n d A l t e r kennzeichnen. Der Mensch erfährt aber bei allem W a n d e l zugleich auch sein gleichbleibendes I c h als seine spezifisch menschliche M i t t e , das subjektive I n n e r l i c h k e i t u n d objektive W i r k l i c h keit umklammert. Obgleich das Leben i n der Zeit verläuft u n d somit endl i c h ist, verharrt doch etwas als eine letzte bleibende Instanz, eine durchhaltende K r a f t oder Energie, die man als Seele bezeichnen darf. 3 Bauer

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Der tragische Gegensatz

I n Anbetracht solcher Gegensätzlichkeiten f ü h l t sich das menschliche I n d i v i d u u m stets i n eine Zwischenposition versetzt, i n der es zwischen zwei L i n i e n w i e i n einem Niemandsland seine Heimat u n d damit sich selbst sucht u n d suchend begründen w i r d , w e n n es i n mutiger Bescheidung die i h m gemäße menschliche M i t t e wählt. D i e W i r k l i c h k e i t des Menschen k a n n nicht i n der extremen Ausrichtung nach einer Seite liegen, weder i n der Askese noch i m vitalen Lebensvollzug, nicht i m totalen Verzicht u n d nicht i n der Machtgier des besitz- u n d leistungswütigen Menschen; sie liegt vielmehr i m Ergreifen des einen und des anderen i n einem ,,nicht ausgeschlossenen D r i t t e n " . ,,Die gewöhnliche Vorstellung ist: H i e r ist die natürliche W e l t , dort die transzendente, einer von beiden gehören w i r an. Nein, w i r gehören einem dritten Unsagbaren an, von dem sowohl die natürlichen w i e die transzendenten Spiegelungen, Ausladungen, Fälschungen, Deutungen s i n d " 2 . M i t diesem dritten Unsagbaren meint Simmel den transzendenten Logos, den absoluten Ort metaphysischer Versöhnung aller Gegensätzlichkeiten, die letzte W i r k l i c h k e i t aller Dinge, die den Menschen trotz Verzweiflung i m Dasein hält. D i e Macht dieser transzendenten O r d n u n g schließt den Menschen m i t Liebe u n d Güte ein, sie ist somit k bei Simmel als eine metaphysische K r a f t innerhalb des Lebens zu verstehen. Daß Simmel dieser Macht nicht den Namen Gott gibt, kann damit erklärt werden, daß seine H a l t u n g einerseits kritisch i m Sinne Kants, andererseits als mystisch-künstlerisch zu verstehen ist. Vielleicht darf darum das Unsagbare bei Simmel so interpretiert werden, wie Faust es Gretchen auseinanderlegt, als diese i h n fragt, w i e er es m i t der Religion halte: „ N e n n ' s G l ü c k ! Herz! Liebe! Gott! I c h habe keinen N a m e n Dafür . Name ist Schall u n d R a u c h " 3 . D a r i n mag i m m e r h i n der Versuch gesehen werden, dem Menschen aus dem Z w e i f e l eines allgemeinen Vertrauensbruches den Weg i n eine Geborgenheit zu weisen, eine Geborgenheit, die allerdings der Mensch selbst als W e r t existentiell aufzufinden hat i n der Gewissens- oder Glaubensentscheidung, die zu t r e f f e n unumgängliche menschliche Aufgabe ist. Diesem Problem hat sich Peter W u s t gewidmet, u n d auch der v o n A l o y s W e n z l geprägte Begriff des ,,Weges v o n o b e n " 4 i m Sinne einer Entscheidung über letzte Fragen u n d Sinndeutung des Lebens führt i n jenen Be2

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 5. Goclhes Werke, Jubiläumsausgabe, 13. Band, Stuttgart - Berlin, S. 150, V. 3455-58. 4 Wenzl, Aloys: Philosophie als Weg, Leipzig 1939, S. 87: „ W i r gehen also in der Richtung, i n die uns die Einzelwege weisen, weiter, bis wir an jene Grenze gelangen, wo erst ein Weg von oben eine letztmögliche Antwort erhoffen lassen kann". 3

Der tragische Gegensatz

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reich, den Simmel als das unsagbare „ D r i t t e " bezeichnet. Simmeis Begriff des allumspannenden Lebens, das mehr ist als nur oben u n d unten, gut u n d böse, h e l l u n d dunkel, impliziert die Transzendenz jedes Lebensmomentes k r a f t seiner polaren Spannung. W e n n sich der Mensch i m tragischen Geschehen zur echt menschlichen Tat entzündet fühlt, lebt er i n die wahre Existenz h i n e i n als ein Werdender zum Sein. I n der Tragik waltet das Concretum des Cusaners. D i e Coincidentia oppositorum i n Gott d a r f somit umgekehrt als H i n w e i s u n d Versprechen darauf gelten, daß sich i n der tragischen Zwiespältigkeit des Menschenwesens die transzendente Kraft des Göttlichen bekundet, die den Menschen i n der Form der leidvoll-tragischen Verstrickung m i t dem Siegel des Göttlichen versehen hat. 2. Existentielle Gebrochenheit des Menschen Seit der Renaissance macht sich i n zunehmendem Maße eine Konzentration u n d H i n w e n d u n g zum Problem des Menschen geltend. Zunächst wurde diese E n t w i c k l u n g m i t dem Bewußtwerden der eigenen Kräfte u n d Möglichkeiten eingeleitet. Ein unbändiger Stolz trieb zur maßlosen Übersteigerung u n d Selbsteinschätzung, m i t dem Ergebnis, daß der Mensch mehr u n d mehr sich als Herr dieser W e l t zu f ü h l e n beginnt. Rationalismus u n d Z w e i f e l der A u f k l ä r u n g erheben Verstand u n d V e r n u n f t zum Herrscher u n d Beherrscher des Lebens. Das große Streben geht nach Erkenntnis, u n d gerade dabei werden wieder deren Grenzen sichtbar. W i e stets fehlen auch i n dieser rationalistischen Richtung nicht die antagonistischen Tendenzen eines Pascal, die i n ihrer Kontrarität Ausdruck lebendiger Geistesbewegung der Zeit sind. I m m e r h i n dauert es lange Zeit, ehe man sich nach einer metaphysik-feindlichen Ä r a wieder darauf besinnt, daß eben auch „das Herz seine Gründe hat, die der Verstand nicht k e n n t " . Das Zeitalter der Romantik bringt auf literarischem Gebiet eine deutliche Rückwendung u n d Besinnung auf das, was Goethe als „ u n e n d l i c h e N a t u r " bezeichnet. Gemeint ist damit jene Schicht, die nicht m i t der ratio zu bewältigen ist, die aber trotz ihrer emotionalen Basis nicht anti-rational ist, sondern irrational, das bedeutet, daß auch dieser Seinssphäre ihre eigene W i r k l i c h k e i t zukommt, aus der nicht allein das W u n d e r u n d das Heilige erstrahlen, sondern auch der harte, erbarmungslose Z u g r i f f des Schicksals u n d seiner uns d u n k l e n Mächte kommt. Das romantische Grunderlebnis der Zerrissenheit u n d des zwiespältigen Weltgefühls findet hauptsächlich i n der D i c h t u n g seinen Niederschlag u n d damit - da es sich u m emotionale Erfahrung handelt - seinen adäquaten Ausdruck. W i c h t i g scheint hier, daß das personale subjektive I c h u n d die seelische Innerlichkeit des Menschen m i t Entschiedenheit zum Gegenstand poetischer Aussage werden. M a n vergesse nicht, daß sich dabei nicht nur Gefühle aussprechen, sondern daß darüber hinaus der Mensch i n Selbstanalyse u n d Reflexion seiner existentiellen N o t A u s d r u c k verleiht. *

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Der tragische Gegensatz A u f philosophischem Gebiet n i m m t sich die sogenannte Lebensphilo-

sophie 5 dieser Problematik an. D i e Frage nach der Existenz des Menschen taucht nicht zum ersten M a l e i n der philosophischen Betrachtung auf, doch w i r d sie n u n radikaler, aus sich selbst heraus gestellt. Ein derart moderner Ansatzpunkt f i n d e t sich i n Simmeis W e r k zu einer Zeit, als die Existenzphilosophie noch nicht ihre verschiedenen Formungen gefunden Simmeis Denken, das a u f Erfassung der konkreten W i r k l i c h k e i t

hatte.

hinzielt,

erkennt i n der V i e l h e i t der Erscheinungen die Bedeutung der korrelativen M ö g l i c h k e i t e n zu einem Ganzen. Insofern bedeutet sein anthropologischer Ansatz eine A n t i z i p a t i o n einer Anthropologie, die den Menschen i m Brennpunkt u n d Widerstreit der verschiedenen, divergierenden Linien sieht. W o immer Denkbares geschieht, stellt es sich unter einem doppelten Aspekt dar. Das denkende Wesen produziert i m Denkprozeß I n h a l t e u n d Gebilde, die sich grundsätzlich i n verschiedenen Formen zeigen. Daraus d a r f man den Schluß ziehen, daß es eine Notwendigkeit des Geistes ist, die W e l t u n d ihre Erscheinungen i n Vielheiten zu zerlegen. W e n n aber i n dieser f ü r den menschlichen Geist typischen F u n k t i o n des Zerlegens ein Charakteristikum liegt, so bestätigt dies, daß er andererseits auch die Einheit aus der V i e l h e i t der Erscheinungen zu gewinnen sucht. Es stehen sich dann stets einander widersprechende Positionen gegenüber. Der nimmermüde I n t e l l e k t sucht f ü r diese Zerreißung den einheitlichen G r u n d oder er setzt an die sich stets weiter verzweigenden Fragen ein Absolutes als Schlußstein. W i e i m m e r aber die großen Denker verfahren, die A n t w o r t muß unbefriedigend u n d wenig überzeugend bleiben, da die Frage nach der Vielschichtigkeit des Seins nicht nur m i t den i m Bereich der V e r n u n f t u n d des Verstandes stehenden M i t t e l n zu lösen ist. O b w o h l die Gabe des Verstandes den Menschen auszeichnet u n d i h m die M ö g l i c h keit zur Erkenntnis der W e l t gibt, liegt doch gerade i n dieser Gabe d i e Gefahr, sie i m Leben zur emanzipierten Stellung i n die H y b r i s zu steigern, so daß statt geistiger V e r n ü n f t i g k e i t nur eine nach äußeren Gesichtspunkten abwägende Instanz das Leben dirigiert. Eine derart verabsolutierte V e r n u n f t kennt nicht die geistige Sehnsucht des Werterlebnisses u n d w i r d deshalb auch nur i n der Lage sein, utilitaristische N o r m e n aufzustellen, die - d u r c h eudämonistische M o t i v e bestimmt - einem Zweckautomatismus dienen, was aber nicht mehr als ,,Ethik" bezeichnet werden kann, da jede geistige Bezogenheit fehlt. Beachtet man dieses, dann erkennt man, daß eine Reaktion gegen die Verabsolutierung der V e r n u n f t i n Schopenhauers Philosophie des W i l l e n s deutlich w i r d . Der auf nichts mehr zurückführbare W i l l e w i r d als metaphysischer U r g r u n d des Seienden ange5 Lebensphilosophie nehme ich als terminus technicus zur historischen Fixierung der philosophischen Richtung. Die Sache betreffend, scheint mir der Ausdruck verwirrend und unscharf, da im Grunde genommen jede Philosophie im weiteren Sinne Probleme behandelt, die das Leben stellt.

Der tragische Gegensatz sehen. D a m i t treten W o l l e n u n d Fühlen als lebendige Seinswirklichkeiten neben Verstand u n d V e r n u n f t wieder i n ihre Rechte ein, aber zugleich w i r d auch m i t dieser Willensmetaphysik der wesentlichen Forderung nach Sinn u n d W e r t des Daseins nicht entsprochen, da der W i l l e nichts außerhalb seiner kennt. Es w i r d jedoch i m Vergleich zu den vorangehenden Philosophien nicht n u r erkenntnistheoretisch „ W a s ist das Leben?"

ge-

fragt, sondern vor allem „ W i e stellt es sich dar?" Bei diesem Weltaspekt, der den W i l l e n als metaphysischen G r u n d des Seins postuliert, muß das Leben i n a l l seinen Phasen sich als I n d i v i d u a t i o n eines b l i n d e n W i l l e n s zum Dasein darstellen u n d daher i n dumpfer Getriebenheit zu endlosem Leid u n d

Qual

bestimmt

sein.

So apodiktisch

auch

die

Philosophie

Schopenhauers durchgeführt ist, eine wichtige Seite des subjektiven Daseins bleibt dabei doch unberücksichtigt, die bei der konsequenten D u r c h f ü h rung

seines

pessimistischen

Standpunktes

notwendigerweise

wegfallen

mußte: Es ist die nicht zu leugnende Tatsache, daß dem Leid das Glück, dem Schmerz der Trost beigesellt ist. I m Gegensatz dazu zeigt Nietzsches Philosophie einen positiven Zug, indem dem Leben trotz des Leidens Sinn u n d W e r t zugestanden w i r d , denn Nietzsche sieht i n der „ Z u c h t des Leidens" das M i t t e l zur Steigerung des Lebens, die M ö g l i c h k e i t zur Bewährung u n d menschlichen Erhöhung. Diese Steigerung selbst ist Lebenswert u n d zugleich

höchster

Lebenszweck.

Leid u n d

Glück

sind somit

für

Nietzsche nicht eudämonistische Zustände, sondern Durchgangspunkte auf dem Wege zur H ö h e r e n t w i c k l u n g i n ein jeweiliges „ M e h r " als die vorhergehende Seinsstufe. Dieser Auffassung steht Simmel nahe, u n d seine dem Leben immanente Transzendenz lehnt sich stark an Nietzsches Konzeption der Lebenssteigerung an,· darum hebt Simmel bei Nietzsche als verdienstv o l l hervor, „ d a ß das Leben seinem eigenen Sinne nach u n d i n seinen innersten Energien die M ö g l i c h k e i t , Bestrebung, Gewähr dafür besitzt, zu vollkommeneren Formen, zu einem M e h r seiner selbst u n d über jedes Jetzt hinauszuschreiten

-

dies ist doch w o h l der große Trost u n d d i e

Unverlierbarkeit des modernen Geistes" 6 . Das „ M e h r " deutet bei Simmel auf eine metaphysische W i r k l i c h k e i t hin, die aber selbst den Charakter des Vorläufigen trägt u n d Immanenz m i t Transzendenz zur tragischen Formel verbindet. „ M e h r " ist mehr als das subjektive W e r d e n u n d mehr als das jeweilige objektive So-sein. Das „ M e h r " ist ein f ü r Simmeis Philosophie bezeichnender terminus technicus, den man m. E. eine mystisch-metaphysische Begriffsformel nennen könnte. Es d a r f darauf hingewiesen werden, daß sowohl Schopenhauers W e l t betrachtung wie auch die Nietzsches das Tragische als Grundstimmung des Daseins hervorhebt. Daß beide Philosophen den Versuch, eine Lösung aus der tragischen Daseinsverflechtung zu finden, i n gegensätzlichen H a l t u n 6

Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907, S. 15.

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Der tragische Gegensatz

gen zum A u s d r u c k bringen, mag die Bestätigung liefern, daß zwei sich widersprechende Standpunkte die M ö g l i c h k e i t der Gewinnung eines höheren, einheitlichen dritten Weges zulassen. Sei es n u n der tragisch-pessimistische Akzent bei Schopenhauer oder der tragisch-optimistische bei Nietzsche, so erweist sich gerade hiermit, daß das Tragische nicht als subjektive Färbung oder Gestimmtheit aufgefaßt werden darf, w e n n es u m die sachliche Erfassung des Problems gehen soll. Tragik liegt über Pessimismus u n d Optimismus, sie ist mehr als jene beiden Richtungen, da sie beide umschließt. I n diesem Sinne findet sich bei Simmel die M a c h t des Tragischen als M ö g l i c h k e i t des Mehr i n einem metaphysischen Lebensbegriff, der aus der Verfremdung, der Vereinseitigung des Daseins zu einer neuen Sicht des Kosmos hinzuführen geeignet ist. Der W e g aber zu einem einheitlichen W e l t b i l d geht von der ontologischen Betrachtung des Lebens aus u n d f ü h r t zur Selbstbesinnung u n d Selbstfindung des Menschen. Dabei hebt alle Besinnung m i t der Feststellung an, daß der Mensch i n Subjekt u n d Objekt zerfällt; er ist e i n existentiell gebrochenes Wesen. Es mag bei der Fülle u n d Mannigfaltigkeit der Menschenwesen zwar graduelle Unterschiede i n bezug auf die Gebrochenheit geben, aber es ist undenkbar, daß ein Mensch, so er sich Mensch nennt, nicht irgendwann einmal bemerkt, daß durch seine Existenz ein Bruch gehe. Diese ernste Feststellung ist w o h l die entscheidende, da durch sie der konstitutive G r u n d der geistigen Person gelegt ist; denn die Erkenntnis »jenes Bruches i n der Existenz birgt die Möglichkeit, eben das zu werden, was als unendliche Möglichkeiten i n uns latent verborgen liegt. D i e Seinsform des Menschen ist also derart angelegt, daß er immer i n der offenen Entscheidung steht. Menschliches Leben ist somit als Tendenz zu einem Z i e l zu definieren. Das bedeutet aber f ü r den Menschen die tragische Tatsache, daß er als etwas existiert, was er noch gar nicht ist, das zu werden er zwar die Möglichkeit, aber n i c h t die Gewißheit hat 7 . Eine Grundhaltung, die sich als sehnsüchtig strebende Tendenz kundtut, kann nur aus der Q u a l einer tiefen existentiellen Entzweiung hervorbrechen. D a der Mensch überdies noch ein vielschichtiges Wesen ist, verl ä u f t dieser Bruch durch alle Schichten seines Seins. D u r c h ein völliges Zurückziehen a u f die subjektive I n n e r l i c h k e i t kann keine H e i l u n g v o m Zwiespalt m i t dem objektiven Außen erwartet werden, denn w e n n das eine f o r t f ä l l t , verschwindet auch das andere, da beide korrelativ einander 7 Simmel: Grundfragen der Soziologie, Berlin und Leipzig 1920, S. 87: „ W i r fühlen in uns eine letzte Realität, die das Wesen unseres Wesens bildet und mit der sich dennoch unsere empirische Wirklichkeit nur sehr unvollkommen deckt - keineswegs nur ein über der letzteren schwebendes, phantasiehaftes Ideal, sondern in irgendeiner Form doch 'schon daseiend, wie mit ideellen Linien in unsere Existenz eingezeichnet, aber doch die Norm für diese enthaltend, der vollen Herausarbeitung und Ausgestaltung in dem Material unseres Daseins erst harrend".

Der tragische Gegensatz bedingen. Dementsprechend

schiene

die zielsuchende Tendenz

in

der

Seinsstruktur des Menschen auf einen hoffnungslosen Relativismus festgelegt, innerhalb dessen sich die lebendigen Energien des Seins i n richtungslosem, i n d i f f e r e n t e m Kräftespiel verschwenden. D a aber die drängende Tendenz zu einem M e h r sich i n Richtung auf die Transzendenz jedes Lebensvollzuges bewegt, konstituiert das Leben i n jedem i n d i v i d u e l len Grundakt der Entscheidung W e r t u n d Sinn seiner selbst. Der Mensch als menschliches

Lebewesen ist Z i e l u n d Zielender zugleich? er projiziert

das i n sich subjektiv vorgefundene B i l d i n die objektive Ebene der Inhalte u n d Erscheinungen, u m n u n durch den dynamischen V o l l z u g des H a n delns die Selbstauszeugung 8 seiner menschlichen Seinsgestalt zu v e r w i r k lichen. Dieser A k t der Selbstgewinnung u n d Selbstdarstellung kann n u r i n jenem „ D r i t t e n R a u m " geschehen, den Simmel als den freien Bereich der menschlichen Person annimmt. I n dieser A n n a h m e hat Simmel i n der Richtung M a x Schelers weitergedacht

der ebenfalls der M e i n u n g war,

daß das menschliche Leben nicht nur ein duales Gefüge der vitalen u n d geistigen Sphäre sein könne, sondern seinem Sinne nach auch „Bewegung" sei. Es muß also eine Dreiheit f ü r die menschliche Seinsstruktur gedacht werden, da »die Zweiheit zu starr gefaßt ist f ü r die Darstellung des menschlichen Lebewesens 9 . Für den kritischen Betrachter könnte der Versuch, einen solchen Trialismus anzunehmen, u m den Menschen i n den G r i f f zu bekommen, zu einer M i ß d e u t u n g des Problems führen. Es mag hier dazu erklärt werden, daß dies keineswegs eine bequeme Arbeitshypothese bedeutet, die die Lösung aller Polaritäten i n jenem „ D r i t t e n " erlaubt. Es handelt sich auch n i c h t u m die Hypostasierung i m Sinne eines Ausweichens i n ein drittes Lager, nur u m der dialektischen Methode zu genügen. Jener dritte Bereich liegt vielmehr über den relativen Gegensätzen u n d ist der metaphysische Raum, i n dem sich das Leben i n die Transzendenz aktualisiert. Es ist das Reich der Werte, w o die beschämende, erniedrigende Fessel der utilitaristischen Zweckgebundenheit f ä l l t u n d der Mensch der W ü r d e u n d Freiheit i n „ z w e c k f r e i e m " D e n k e n u n d H a n d e l n teilhaftig w i r d . Er besitzt daher die Möglichkeit, i n der existentiellen Berührung der Seinsgrenze durch das Wagnis der Entscheidung die Enge des Daseins zu sprengen u n d sich einer 8 Pfänder, Alexander: Die Seele des Menschen, Halle/Saale 1933, S. 3: „ W i e das leibliche Lebewesen, so ist auch das seelische ein sich im Laufe der Zeit von innen her selbst auszeugendes Gebilde, das nur existiert, indem es fortwährend von innen her sich stetig erneuert". 9 Stürmann, Josef: Systematische Anthropologie, München 1957, S. 130. Hier ist die Simmelsche Konzeption konsequent weiterentwickelt und folgendermar ßen formuliert: „Ein Dualismus scheint zu eng zu sein, da eine konstitutive Verbindung wescnsverschiedener Seinsmomente, nämlich des Materiellen und des Geistigen, auf zu große Schwierigkeiten stößt. Es ergibt sich somit praktisch ein Trialismus".

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Der tragische Gegensatz

transzendenten W e l t , die er fragend ahnt, sehnsüchtig vertrauend anheimzugeben, w e i l er glaubt, daß er i n dieser Transzendenz dem erlösenden Sein begegnet. 3.

Streit zwischen Leben u n d Form

W e n n es überhaupt möglich ist, das Wesentliche eines philosophischen Werkes i n schlagwortartiger Kürze u n d Prägnanz zu charakterisieren, so genügen die beiden Begriffe Leben u n d Form tatsächlich, die Philosophie Simmeis i n allgemeiner u n d zugleich präziser Weise zu umreißen. M i t diesem Gesamtbegriff ließe sich Gehalt u n d Wesen der Simmelschen Lebensphilosophie erfassen. Selbstverständlich w ü r d e dann, je nach Sachgehalt, dieser Schlüsselbegriff i n metaphorischem oder symbolischem Sinne zu verstehen sein. D a aber Simmel seine Philosophie i n kritischer Weise, abseits jeder spekulativen Absicht entwickelt, handelt es sich u m eine konkrete Benennung u n d eigene Terminologie, die sich als sehr leistungsfähig erweist, da m i t ihrer H i l f e die Dinge u n d i h r Strömen w i e unter einer geschliffenen Linse i h r geheimnisvoll wechselndes Spiel der Kräfte offenbaren. V o m Standpunkt der Logik aus läßt sich die tragische Gegensätzlichkeit zwischen dem Leben u n d seinen Formen nicht ohne weiteres akzeptieren. D a m i t hat es insofern seine Richtigkeit, als es sich u m eine Eifersucht oder besser gesagt u m einen metaphysischen Streit handelt, den H e r a k l i t „ d e n Vater aller D i n g e " nennt. Dieser polare A n t a gonismus birgt den Ausgangspunkt aller Tragik i m Bereich des Lebens, denn alles Geschehen strebt danach, v o m verfließenden Werdeprozeß i n einer festen Form zur Gestalt zu werden. Das Leben drängt aus dem W e r den zum Sein. H i n s i c h t l i c h des menschlichen Daseinsbereiches kann dieses Sein nur ein vorläufiges, unvollkommenes u n d vor allem zeitlich begrenztes sein, da der Mensch das Gefäß lebendiger, stets vorwärtsdrängender Impulse ist. Somit d a r f die Formel Leben und Form als Stachel des Antriebs f ü r alles Werdende u n d Seiende gelten, die zugleich die tragische Grundverfassung der W e l t ausdrückt. Außerdem verdeutlicht diese Formel, w i e i m Menschen das Sein i n dualer Gebrochenheit existent w i r d . D i e Existenz des Menschen stellt sich als habituelles u n d zugleich als dynamisches, akthaftes Sein dar. I m tragischen Zusammenschlag beider offenbart sich das Absolute, das allerdings das räum- u n d zeitbedingt^ I n d i v i d u u m vernichtet, i n d e m es seine Endlichkeit t r i f f t , aber zugleich das unzerstörbare Sein des I n d i v i d u u m s aus der Fessel des Zeitlichen i n die Transzendenz des absoluten Seins emporreißt. Goethes ,,Stirb u n d w e r d e " faßt i n poetischem Gewände die philosophische Deutung dieses Problems zusammen, v o n dem schon Schopenhauer behauptet, es sei das eigentliche Thema der Philosophie 1 0 . 10 Schopenhauer.· Parerga und Paralipomena, 3. Teil, Stuttgart o. J. (Cotta), Kap. X, § 139, S. 265.

Der tragische Gegensatz

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Simmel ergreift ein Kardinalthema der Philosophie, w e n n er die beiden Bereiche des idealen u n d realen Seins i n einem „Mehr-als-Leben" gleichsam über die A l t e r n a t i v f o r m e l emporhebt u n d gleichzeitig die K o n f l i k t e des Geschehens über sich hinaustreibt i n die Einheit der Transzendenz. Somit sieht er i m K o n f l i k t das Versprechen u n d die M ö g l i c h k e i t z u m „Mehr". A l l e s Lebendige kennzeichnet sich dadurch, daß es aus sich Lebendiges hervortreibt u n d Neues schafft. Es ist also seinem Wesen nach Bewegung u n d läßt sich auf allen Gebieten des Daseins beobachten. Allerdings muß das Geschaffene, das Gebilde, der I n h a l t i n einer Form zutage treten, die gemäß dem Wesen als Form i m Gegensatz zum schöpferisch quellenden Lebensstrom steht. Das aus dem Leben hervorgetriebene Gebilde folgt anderen Gesetzen als die lebendige, produzierende K r a f t u n d gerade dadurch tritt es zu jener i n f e i n d l i c h e n Widerspruch. Derartige Verfeindungen zwischen den Prinzipien der Form u n d denen des Prozesses lassen sich auf allen Gebieten des kulturellen Lebens nachweisen. D i e staatlichen, ö f f e n t l i c h e n Institutionen m i t ihren religiösen u n d gesellschaftlichen Formen, Kunst, Wissenschaft u n d Recht, alle diese Gebilde sind Schöpfungen, i n deren Gestalt die verschiedenen seelischen u n d geistigen Inhalte, Gefühle, Gedanken u n d Strebungen eine gültige Form gefunden haben. A u s der Strömung der Gedanken, aus der endlosen Kette mannigfacher Lebensinhalte erhebt sich das Geformte als Geschöpf u n d Gefäß, das nicht mehr dem Gesetz der verfließenden Zeit Untertan ist, sondern als zeitlos Seiendes dasteht. Es hat sich etwas aus dem Leben gebildet, das mehr als es selbst ist, das aber zugleich seinem Wesen nach anders ist u n d i n seiner Isoliertheit u n d Starre dem Leben gegenüber zu quälendem Zwang u n d Fremdheit werden kann, sobald es sich zeigt, daß die leidenschaftliche D y n a m i k der lebendigen Werdensenergie d u r c h die Form gehemmt w i r d . I n diesem Falle f ü h l t sich das Leben i n seiner freien Strömung durch den Zwang der Begrenzung behindert, denn es ist auch mehr als Form u n d strebt daher w i e d e r u m über diese hinaus. U m dem Lebendigen gerecht zu werden, bedarf es der R h y t h m i k fortgesetzter Grenzüberschreitungen, die als Lebensbewegung „ a u f jedem ihrer Abschnitte, auch w e n n dieser, m i t anderen verglichen, ein ärmlicherer, herabgesetzter ist, doch i n jedem Augenblick etwas hineinzieht, u m es i n i h r Leben zu v e r w a n d e l n " 1 1 . V o n hier aus erhebt sich wieder die Frage nach der Realität des Lebendigen, da es doch o f f e n s i c h t l i c h zwischen Bewegung u n d Verharren die Tendenz zeigt, über das j e w e i l i g Gegebene zu transzendieren. Es verfestigt sich i n der Form, prägt Gestalten, Inhalte u n d Ideen u n d strömt doch i n ständiger Lebenswelle weiter. D i e W i r k l i c h k e i t der lebendigen W e l t verlangt Kontinuität, u n d selbst i n den verfestigten Formen pulsiert die schöp11

Simmel: Lebensanschauung, S. 20.

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Der tragische Gegensatz

ferische Energie noch lange, da diese Formen als Gefäß f ü r jene Kräfte dienen. Somit liegt die W i r k l i c h k e i t des Lebendigen i n der dem Leben immanenten Bewegung zu transzendieren. Das Leben ist seinem Wesen nach Transzendenz, daher ist es auch m i t einem i h m immanenten W i d e r spruch behaftet, auf G r u n d dessen es sich i n der logischen Auseinanderlegung i n A n t i n o m i e n darstellen muß. Jene logischen Widersprüche läßt Simmel i n der metaphysischen Totalität des Lebens i n einer kontinuierlichen Linie als Einheit des Vielen aufgehen. D i e Einheitlichkeit alles Lebendigen zeigt sich dementsprechend i n der Form seiner Gegensätzlichkeiten. ,,Es ist das Wesen des Lebens, sein Führendes u n d Erlösendes, sein Gegensätzliches u n d Siegend-Besiegtes aus sich selbst zu erzeugen; es erhält u n d erhebt sich gleichsam auf dem Umwege über sein eigenes Erzeugnis, u n d daß dieses i h m gegenübersteht, selbständig u n d richtend

-

das ist eben seine eigene Urtatsache, ist die A r t , w i e es selbst l e b t " 1 2 . Simmel belegte seine philosophischen Erkenntnisse, indem er zeigt, wie diese Gedanken direkt aus den Gegebenheiten der s i n n l i c h vorgefundenen u n d psychisch erlebten Lebenswirklichkeit i n die Sphäre philosophischer Betrachtung hineinragen. Es sei hier i m Sinne Georg Simmeis auf einige Erscheinungen der jüngsten Gegenwart hingewiesen, die i n Parallelität zu den v o n i h m angeführten H i n w e i s e n zugleich als Beispiel dafür gelten dürfen, w i e gültig u n d aktuell Simmeis Ausführungen heute noch nach über 30 Jahren sind, ja, w i e sie erst i m Laufe der Zeit ihre Gültigkeit u n d Lebensnähe erweisen. D a es sich hierbei u m kulturphilosophische Betrachtungen handelt, möge besonders auf gewisse Erfahrungen auf dem Gebiet der K u l t u r , Kunst u n d Religion hingewiesen sein. Bei flüchtiger, oberflächlicher Beurteilung könnte man aus vielerlei Erfahrungen zu der Überzeugung gelangen, der Mensch unserer Zeit sei areligiös oder zumindest religiös i n d i f f e r e n t . D i e K i r c h e n m i t ihren religiösen Riten, K u l t e n u n d Zeremonien scheinen ihre Macht u n d K r a f t über die Gemüter i n zunehmendem Maße zu verlieren. M a n klagt über mangelnde religiöse Bereitschaft bei der Jugend unserer Tage. Dies mag viele Ursachen haben, a u f die hier nicht weiter eingegangen sei, da es an dieser Stelle u m die Religiosität als seelische Beschaffenheit geht, u n d i n dieser Sicht gesehen, erweist es sich als k a u m denkbar, daß eine große, wachsende A n z a h l von Menschen i n ihrer seelischen Struktur derartig geschädigt u n d entartet sein kann, daß etwa das „apriorische r e l i g a t u m " nicht doch irgendwie i n ihnen spräche. Es d a r f als sicher gelten, daß jedes lebendige G e f ü h l sich geltend zu machen sucht i n irgendwelchen Formen, die dem Ausmaß u n d der Intensität der inneren Bewegung entsprechen. I n diesem Sinne gelten auch die überlieferten religiösen Formen als Aus12

Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, S. 35.

Der tragische Gegensatz druck einer allgemein nachvollziehbaren Religiosität. Dennoch gibt es religiöse Seelen, die aus der lebendigen K r a f t echter religiöser Leidenschaft i n jenen Formen nicht Genüge f i n d e n können. D i e Intensität solcher Regungen empfindet i n jeder als endgültig festgelegten Form etwas Beengendes, einen Zwang. Z u w e i l e n stellen sich derartigen Gemütern auch die üblichen Ausdrucksformen geradezu als banale Verfremdungen jenes ursprünglich lebendigen religiösen Fühlens dar. Simmel verweist auf die Erlebnisse .der Mystiker, deren seelische Aufschwünge v o n einer K r a f t getragen waren, die keine Grenze der Form vertrug. D i e t i e f empfindende Seele, die m i t ihrem Gott ganz eins werden möchte, kann dies nur i n einer ekstatischen Bewegung erreichen. H i e r zeigt sich, daß aus Religiosität gegen die Form revoltiert w i r d . W e n n also ein Gottsucher i n „ketzerischen" W o r t e n seinen Gott zu fassen sucht, ist er damit noch kein Gottesleugner. Unsere gegenwärtige Situation dürfte sich allerdings etwas anders darstellen. W i r befinden uns i n einem fortgeschrittenen Stadium, da - w i e eingangs schon erwähnt - die Erschütterung zweier Kriege vieles zerbrochen u n d ausgehöhlt hat, was nicht mehr m i t lebendigen Inhalten ausgefüllt war. W i r befinden uns i n dem Zustand des Suchens, u n d unsere „ f r a g w ü r d i g e " Zeit fragt i n ihren Problemen auch nach Gott, oft unbewußt, aber dennoch spürbar. Diese Epoche d a r f als eine Zeit verstanden werden, da nach neuen Formen gesucht w i r d , die wieder zu gültigem Ausdruck u n d fester Behausung f ü r die modernen, veränderten Lebensimpulse werden sollen. So gesehen, ist unsere Zeit eine wahrhaft tragische Epoche, u n d Denker w i e Simmel sind i n der Lage, die K o n f l i k t e beobachten zu helfen, u m sie i n positiver Richtung zu beurteilen, als Symptome lebendiger, noch ungebändigter Kräfte, die nach neuer O r d n u n g streben. D i e Gedanken Simmeis mögen ebenso dazu beitragen, einige Erscheinungen innerhalb der Jugend zu deuten u n d uns den rechten Maßstab f ü r ein gerechtes U r t e i l f i n d e n helfen. I m allgemeinen möchte i c h als sicher annehmen, daß es zu allen Zeiten ein Jugendproblem gegeben hat, w e n n es auch nie i n solcher Deutlichkeit u n d Breite o f f e n k u n d i g w i r d w i e i n einer Kulturepoche, da der Mensch zum Knotenpunkt aller Probleme geworden ist. Ein B l i c k i n die Geschichte zeigt, daß Freiheitsbewegungen, Revolutionen, Reformen, besonders aber Neuerungen auf künstlerischem Gebiet hauptsächlich v o n jungen Menschen getragen wurden,· denn „ d i e Jugend hat die w u n d e r v o l l e Präsenz des ganzen Menschen i n jeder einzelnen Äußerung, w e i l i n i h r alles der Zukunft zudrängt, k e i n Vergangenes genug Schwergewicht besitzt, u m an seiner Stelle f i x i e r t zu s e i n " 1 3 . Immer setzt die Jugend die ganze drängende Lebenskraft f ü r eine Idee, ein Ideal, f ü r Werte u n d V o r b i l d e r ein, w e i l sie selbst noch i m Flusse des Wachseng 1

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 29.

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Der tragische Gegensatz

u n d Werdens ihre frischen Impulse dem Neuen, Werdenden zur Entwicklung u n d Entfaltung leiht. Heute gibt es zwar nur noch wenige festumrissene, t r a d i t i o n e l l fundierte

Zielrichtungen u n d Ideale, dafür aber eine

Fülle neuer aufstrebender Tendenzen auf allen Gebieten des Lebens. Teilweise haben sich alte Maßstäbe erhalten, haben sich den neuen Forderungen u n d Bedingungen angepaßt oder sind Kompromißverbindungen eingegangen. D i e ältere Generation zweier Weltkriege bewahrt zum T e i l noch Traditionswerte u n d hält sie lebendig; aber w i e v i e l Erschütterung, Enttäuschung u n d Verbitterung hat sich zu I n d i f f e r e n z oder Ressentiment verfestigt

u n d pessimistische Resignation erzeugt. Dazu kommt

noch

der

durchgreifende soziale Strukturwandel m i t seinen technischen u n d w i r t schaftlichen Aufschwüngen u n d Konjunkturen. A l l e diese die Gegenwart charakterisierenden Zeiterscheinungen lassen sowohl eine optimistische als auch eine pessimistische

Lebenseinstellung

erstehen.

In

dieser

wider-

sprüchlichen Situation steht der junge Mensch unserer Zeit. Er fragt u n d sucht nach Orientierung u n d gültigem, bestimmtem Halt. D i e innere N o t u n d Ungeborgenheit veranlassen die Jugend, kritisch p r ü f e n d alles i n bezug auf existentielle Gültigkeit u n d Selbstverbindlichkeit zu befragen, u m einen festen tragenden G r u n d f ü r die Relation von I c h u n d W e l t zu f i n den. Der junge Mensch v o n heute steht noch unter der A u s w i r k u n g eines tiefgreifenden Vertrauensverlustes u n d n i m m t darum nichts als sicher hin, ohne es auf seine V e r b i n d l i c h k e i t befragt zu haben. Manche w o l l e n d a r i n eine A r t ,,mal d u siècle" sehen, andere möchten dies als Ehrfurchtslosigkeit auslegen, doch handelt es sich vielmehr u m den besonders gearteten lebendigen A u s d r u c k jugendlicher D y n a m i k . Der junge Mensch hat nur das G e f ü h l u n d die Selbstgewißheit seiner eigenen Lebenskraft, der er zunächst als reinem Lebensausdruck folgt. Diese freien Kräfte zu b i n d e n u n d zu ordnen, ist Aufgabe der Pädagogik, die i n ihren derzeitigen Tendenzen das neuzeitliche Erziehungsideal

des „ m o b i l e n "

Menschen

an-

strebt. Dieses Ideal hat den allseitig wachen, stets beweglichen u n d d y namischen Menschen zum Ziel, einen Menschen, der jederzeit dem j u gendlichen Strömungsprozeß

des Lebens verbunden bleibt, o b w o h l

ihm

durch V e r n u n f t u n d Verstand darin feste Linien vorgezeichnet sind, die i h m die M ö g l i c h k e i t geben, aus dem Prozeß heraus i n Form u n d O r d n u n g sich i n freiem Entschluß als menschliche Person zu realisieren. D i e ungeheure pädagogische Schwierigkeit, dieses Z i e l zu erreichen, liegt i n der Tatsache, daß man nach zwei sich entgegenwirkenden Gesichtspunkten zu verfahren hat. „ D a s Erziehen pflegt u n v o l l k o m m e n zu sein, w e i l es m i t jedem einzelnen A k t e zwei entgegengesetzten Tendenzen zu dienen hat: dem Befreien u n d dem B i n d e n " 1 4 . 14

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 29.

Der tragische Gegensatz N u n d ü r f e n w i r f r e i l i c h nicht übersehen, daß sich die junge Generation vielfach irrt i n dem, was sie f ü r j u n g u n d neu hält, während es i n W i r k lichkeit nur d u r c h eine Propaganda derjenigen, die es i n ihrer

Jugend

vertraten, inzwischen aber alt geworden sind, als neu erscheint. So lautete der Propagandaruf des Faschismus: „Giovanezza", zu einer Zeit, da diejenigen, die i h n geprägt hatten, schon das Greisenalter erreicht hatten. ü b e r d e n k t man von hier aus die geistige Lage, so w i r d vor allem der ungeheure Zustrom zu den höheren Bildungsstätten die Überlegung nahelegen, darin i n gewissem Sinne ein positives Symptom der Zeit zu sehen, da nach W e r t e n gerungen, aus Erkenntnisfreude gestrebt, nach A n t w o r t e n u n d Seinserhellung gesucht w i r d . Neben dem W u n s c h nach Fachwissen drängt es die jungen Leute nach Begegnungen m i t geistigen Autoritäten, die durch die Integrität ihrer Persönlichkeit Menschheitswerte durch Sturm u n d W a n d e l der Zeit treu bewahrt haben u n d n u n berufen sind, diese weiterzureichen. H i e r liegt vor allem die Aufgabe der Philosophie, die Forderung nach Existenzerhellung u n d Seinsbegründung zu erfüllen i m Bemühen, der Jugend den dreifachen Weg der Weltdeutung zu zeigen: Erkenntnis der Dinge i n der Erfahrung, existentielle A u f f i n d u n g der menschlich-innerlichen M i t t e i m Selbsterlebnis u n d von hier aus als Z i e l den W e g zum letzten absoluten Seinsgrund. Dieser Dreischritt entspricht auch dem Trialismus der anthropologischen Gesamtwirklichkeit. D i e Gegnerschaft zwischen den Prinzipien des Lebendigen u n d der Form tritt nicht nur als Streit auf; oft zeigt sich zwischen den Gegensätzen eine Feindseligkeit, die man besser u n d treffender m i t dem W o r t „ E i f e r s u c h t " bezeichnet. Das Wesentliche an der Eifersucht ist doch w o h l dies, daß sie sich aus Haß u n d Liebe nährt, die beide Bedingungen ihrer sind. D e m Haß allerdings kommt jene autochthone Eigenständigkeit, wie sie die Liebe besitzt, nicht zu, denn er ist nur ihre Negation, u n d so d ü r f e n w i r der f e i n d l i c h e n Eifersucht die Liebe als Gegensatz zur Seite stellen. D i e griechische M y t h o l o g i e berichtet von begnadeten Sterblichen, die v o n den Göttern m i t Gaben reich beschenkt - vor allen anderen als Götterlieblinge ausgezeichnet waren, die aber auch m i t dieser Auszeichnung i n den tragischen Bannkreis der göttlichen Eifersucht gerieten, w o sie stets die Vernichtung traf. I n mythologisch-legendärer Verschleierung ist damit nichts anderes gesagt, als daß i n dem Maße, w i e aus dem v i t a l - d y n a m i schen Prozeß des Lebendigen e i n Geschöpf sich zur höchsten, reinsten Form emporhebt, zugleich die lebendige Strömung i n i h m verebbt u n d erstirbt. Das Göttliche, das unveränderliche Sein duldet i n seiner Ruhe nicht die Bewegtheit des Werdens. M a n denke zur Veranschaulichung dieses Gedankens z. B. an Totenmasken u n d vergleiche sie m i t dem A b d r u c k eines lebenden Gesichtes. Bei diesem Vergleich gewinnt man den Eindruck, daß die Totenmaske normativ, gefestigter u n d gültiger zum Be-

46

Der tragische Gegensatz

schauer spricht, w e i l sie die Form wiedergibt, i n die alle Regungen u n d Fluktuationen des Lebens geronnen sind, erstarrt, erstorben - tot, doch ganz M a ß u n d N o r m geworden. Es weht den Beschauer eine seltsame Ruhe u n d Erhabenheit an, die w o h l Erlösung von dem rastlosen Drängen ;und Bedrängtsein des Lebens bedeutet. I m Vergleich hierzu trägt eine Lebensmaske detaillierte, i n d i v i d u e l l differenzierte Züge, Zeichen flüchtiger Zeitmomente. V o n hier aus f ü h r t die philosophische Lebensdeutung i n den Bereich der Kunst, die als höchster Ausdruck des Menschenlebens auch dessen Tragik bezeugt, aus deren Spannung sie entstanden ist. I m Kunstwerk spricht sich das Wesen des Lebens i n einer Unmittelbarkeit u n d W a h r h a f t i g k e i t aus, w i e es sonst nirgends zu beobachten ist. Kunst ist immer wahr u n d echt, denn sie ist i n i h r e m reinen Selbstausdruck eine Totalität v o n Sein u n d Werden, die m i t verschiedenen Akzenten zur Formung gelangt ist. Dementsprechend zeigt die moderne Kunst unserer Tage eine starke Tendenz, Bewegung zur Darstellung zu bringen u n d den künstlerischen A f f e k t nicht mehr i n die Verfestigung gelangen zu lassen. Das Maß der Dinge liegt i n der Form ihrer Bewegung, d i e Linie dient nicht mehr zur Begrenzung einer Form, sondern n u r zum Ausdruck ihrer i n sich bleibenden Schwingung. Sie fügt sich weder dem Zwang der Form noch einem Gesetz der Mechanik, sie w i l l vielmehr ungehemmt dem Gesetz ihres eigenen i n d i v i d u e l l e n Kräftespiels folgen. So soll auch die Farbe nur die Aufgabe haben, den A u s d r u c k schöpferischer Unruhe malerisch umzusetzen. Dies ist eruptive, explosive Kunst, die nicht an der O b j e k t i v i t ä t der Dinge u n d ihrer Oberfläche Genüge findet, sondern i n die U r t i e f e des lebendigen Seins u n d seiner wechselnden Pulsationen dringen u n d davon ein „ B i l d " i n t u i t i v e n Schauens zur Darstellung bringen w i l l . W i r haben dann eine - w e n n man von unechten Bestrebungen, nur originell zu erscheinen, absieht - metaphysische Kunst? ihre Erscheinung ist die Formlosigkeit, denn sie w i l l das Leben darstellen i n seiner Totalität. „ V o n der Form als einem W e l t p r i n z i p außerhalb des Lebens, als einer Daseinsbestimmung einen Sinnes u n d eigener M a c h t ist nichts mehr übrig geblieben" 1 5 . D i e Modernität hält sich oft i n der Potenz transzendierender Kräfte aus Furcht, i n der Form u n d durch die Form dem Lebendigen untreu u n d zum Verräter zu werden. M i t der Leugnung der Form aber senkt sich w i e d e r u m eine Tragik auf das Leben, aus der es kein Entrinnen gibt. Essentiell strebt das Leben zu einem Z i e l u n d darum bedarf es des Maßes u n d der Form). So w i e H e r a k l i t hinter allem W e r d e n u n d Vergehen den Logos anerkennt, so hat auch Georg Simmel i n seinem Begriff eines höheren, absoluten Lebens eine Formel geschaffen, die neben der Bewegtheit des Lebens auch die O r d n u n g der Form einschließt. „ D i e Absolutheit dieses Anderen, die15

Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, S. 33.

Der tragische Gegensatz ses Mehr, das es (i. e. das Leben) schafft oder i n das es sich hineinlebt, ist gerade die Formel u n d Bedingung des Lebens, das gelebt w i r d , es ist von vornherein

gar nichts anderes als das

über-sich-Hinausgreifen" 16.

Diese Tendenz, geprägte Formen aufzugeben u n d nach anderen zu suchen, ist nach O s w a l d Spengler besonders charakteristisch f ü r den abendländischen Kulturkreis,

den er deshalb i m Gegensatz zu dem nach Statik

strebenden antiken K u l t u r k r e i s als den dynamischen kennzeichnet. 4.

I n d i v i d u u m u n d Person i n der K o n t i n u i t ä t des Lebens

I m vorhergehenden Abschnitt wurde das tragische Moment an der unversöhnbaren Gegensätzlichkeit gezeigt, das sich als Streit zwischen dem Lebendigen u n d der Form offenbart. Diese tragische A n t i n o m i k des Lebens soll n u n unter besonderer Berücksichtigung des Menschen a u f ihre allgemeine Gültigkeit untersucht werden. W i l l man das Leben als Totalität begreifen, dann ist die Forderung nach Kontinuität unerläßlich, denn alles Lebendige verlangt das kontinuierliche Strömen unablässiger dynamischer Entfaltung u n d übergreifen seiner selbst. D a aber das Phänomen des kontinuierlichen Prozesses nur i n Formen zur Darstellung gelangen kann, ergibt sich f ü r den Intellekt die Problematik des Widerspruches, w i e sich das i n d i v i d u e l l e Gebilde zu jener Lebenskontinuität verhält. Es handelt sich i n diesem speziellen Fall u m das Allgemeine u n d u m das Individuelle, die i n der Empirie als entschiedene Gegensätze i n Erscheinung treten. D i e größte Schwierigkeit bei dieser Überlegung bietet das kausale Denken, das nach mechanischer Methode das Leben i n feste Formen staut u n d somit den einheitlichen V e r l a u f w i l l k ü r l i c h i n kleinere oder größere Abschnitte zerteilt, u m es erkennbar zu machen. A u f diese Weise erhält man Bildausschnitte, die w i e Momentaufnahmen einer Photographie zu werten sind; sie zeigen eine wissenschaftlich exakte u n d erkenntnistheoretisch nachprüfbare W i r k l i c h k e i t , aber nicht das Wesentliche ihres Lebendigseins. So wie i n der modernen Physik das Licht i n experimenteller Auseinanderlegung als W e l l e und Korpuskel empirisch nachweisbar wurde, ist auch das absolute Leben etwas, das Bewegung und dessen Gegensatz umfaßt. „ U n d darum erscheint die Transzendenz seiner selbst als der einheitliche A k t des Aufbauens u n d Durchbrechens seiner Schranken, seines Anderen, als der Charakter seiner Absolutheit - der die Auseinanderlegung i n verselbständigte Gegensätze sehr w o h l begreiflich m a c h t " 1 7 . D i e einzelnen Inhalte u n d Lebensabschnitte sind demnach nicht feste Daten einer Summe, sondern lediglich Seinsmomente, Durchgangsformen, die als Höhepunkte, W e l l e n kämme einer einzigen k o n t i n u i e r l i c h e n Lebensflutung zu verstehen sind. 10 17

Simmel: Lebensanschauung, S. 25. a. a. O., S. 19.

48

Der tragische Gegensatz

D a die Menschheit aus einer unendlichen, anwachsenden Z a h l v o n I n d i v i d u e n besteht, die alle i n sich u n d f ü r sich eine typische Seinsform innerhalb des Lebensstromes darstellen, muß das menschliche I n d i v i d u u m Züge tragen, die es zum determinierten merkmalstypischen Lebewesen stempeln, das die allgemeinen Eigenschaften u n d M e r k m a l e der Gattung aufweist. Es mag noch so verschiedenartig u n d mannigfaltig i n seiner seelischen u n d intellektuellen Beschaffenheit, i n seinen Fähigkeiten u n d Talenten sein, es repräsentiert doch stets die singuläre Darstellung der gesamten Gattung. H i e r bietet sich die Leibnizsche Monade als Analogie an, die i n ihrer Individualexistenz doch zugleich Spiegel des A l l s ist. Jener allgemeinen, objektiven Individualgestalt der Gattung stellt sich als Gegenpol das subjektive i n d i v i d u e l l e Ich-Bewußtsein gegenüber, das sich als selbständiges u n d autonomes Subjekt f r e i weiß, wobei dieses Wissen int u i t i v aus der U r t i e f e des Seins geschöpft w i r d u n d als vorwissenschaftliches Wissen A n s p r u c h auf Absolutheit hat, da es jenseits v o n W a h r h e i t u n d I r r t u m steht. I n dieser Seinsidee leuchtet jene metaphysische W a h r heit, die durch die Verstandeskategorien der Erkenntnis nicht zugänglich sein kann, da diese selbst schon aus der absoluten Lebensströmung als logische D e n k f o r m e n i n dualer Zerreißung den I r r t u m als Gegensatz der Wahrheit implizieren. Der W e g des I n d i v i d u u m s f ü h r t n u n über den allgemeinen Einzelrepräsentanten der Gattung zur Erfassung u n d Ausprägung der I n d i v i d u a l g e stalt getreu der Selbstidee, zur existentiellen Darstellung i n den Bereich des wahren Seins u n d damit zur eigenen i n d i v i d u e l l e n W i r k l i c h k e i t i m Geiste. Zugegeben, daß bei dieser Entscheidung zur geistigen Person das I n d i v i d u u m aus dem Seinsbereich naturaler Determination der Gattung herausfällt u n d sich schuldig macht, vielleicht sogar notwendigerweise schuldig werden muß, so gelten doch f ü r jene I n d i v i d u e n , die aus der I n n e r l i c h k e i t ihres Wesens einer höheren Seinsform i n der Totalität des absoluten Lebens sehnsüchtig entgegendrängen, Maße u n d Wertungen, die nicht dem Zweck-Mittel-Bereich des Arttelos angehören. Jede i n d i v i d u e l l e Erhebung zur W a h r h e i t des absoluten Seins, entweder i n dem mutigen A k t freier Entscheidung zur Tat oder durch gläubige Ergreifung des Schicksals, bringt tragisches Leid. Z w e i — f r e i l i c h exzeptionelle - Beispiele mögen angeführt sein, die bezeugen, wie die menschliche Person - das absolute, göttliche Sein berührend - der Tragik begegnen kann. Allerdings stehen die beiden Gestalten i n verschiedenen Welten, die sie weit voneinander trennen. Für beide dieser außergewöhnlichen Gestalten gilt der A u s r u f der {Cassandra, daß es schrecklich sei, ,,der W a h r h e i t sterbliches Gefäß zu sein". Sokrates n i m m t die Unabwendbarkeit des tragischen Geschickes an u n d trägt es i n mutiger H a l t u n g menschlicher Selbstbescheidung, denn er erkennt d a r i n die f ü r den Menschen bindende Wahrheit, daß eben die himmlischen Mächte auf die Fragen, die das gequälte Menschengeschlecht

Der tragische Gegensatz empört, verzweifelt, z w e i f e l n d u n d klagend an sie richtet, stumm bleiben. Der Mensch bleibt a u f sich selbst verwiesen. I n dieser sokratischen Selbstgewißheit liegt der Schlüssel zum wahrhaften Menschsein, das i n freiem Ergreifen des Schicksals dem Dasein Sinn u n d W ü r d e gibt. Diese W a h r heit hat Sokrates m i t dem Tode besiegelt u n d gibt damit ein großes Beispiel, das Leid anzunehmen u n d sich dadurch zu erhöhen. Der T o d des Sokrates bedeutet Seinsverwirklichung durch die Entscheidung zum Verzicht, sich durch Flucht dem Schicksal zu entziehen, eine Entscheidung, die nur i m Lichte eines transzendenten Logos liegen kann, i n dessen korrelativer Begegnung sich die menschliche I n n e r l i c h k e i t zur letzten Bewußtheit aufgerufen f ü h l t i n tragischer V o l l e n d u n g 1 8 . A l s zweite Gestalt, die das Leid des Daseins auf sich n i m m t , u m einen höheren W i l l e n zu erfüllen, möge Christus hier angeführt sein. Er muß das Erlösungswerk vollbringen als Bürge eines göttlichen W i l l e n s , d u r c h den der W e l t die Erlösungswahrheit zuteil werden soll. D a er als Sohn Gottes selbst Gott ist, k a n n er den Menschen n u r die Erlösung bringen, indem er selbst i n freiem Entschluß das Menschsein w ä h l t m i t a l l der Qual körperlicher u n d seelischer Pein: Verrat, Verzweiflung, Angst u n d Tod. Christus übernimmt dieses Leid f r e i w i l l i g ,

er handelt nicht

unter

dem Zwang des Schicksals. Dies Leiden u n d Sterben Christi bedeutet ein ungeheures Weltereignis, da er als Gott selbst Gesetz u n d Freiheit darstellt; dennoch beugt er sich seiner Sendung bedingungslos, w e i l er sich i h r verpflichtet f ü h l t i n der W a h r h e i t des Leidens, die das Kreuz kündet. D a m i t vollzieht Christus das göttliche Erlösungswerk, das er m i t dem T o d besiegelt. I n diesem O p f e r liegen V o l l e n d u n g u n d Beginn eines höheren Lebens, die aber stets m i t dem göttlichen Zeichen tragischen Leides versehen sind. A u c h i m Bereich des praktischen Lebens behält dies seine Gültigkeit. Selbst die menschlich bedingten u n d begrenzten Wagnisse des als w a h r Erkannten d u r c h hervorragende

Menschen haben,

symbolisch

gesprochen, das Kreuz i m Gefolge, d. h. ihre Verfechter werden verkannt, verlacht oder sogar geschmäht. Das Sich-stellen u n d Einsetzen f ü r

die

erlebte Aufgabe bedeutet vor allem Person-werden. Simmel gibt dieser Tatsache Ausdruck, i n d e m er darauf hinweist, daß das Reifen des I n d i viduums zum personalen geistigen Sein u n a u f h ö r l i c h m i t Tragik verkettet bleibt w i e i n einem Naturgesetz. ,,Die I n d i v i d u a l i t ä t löst sich (gleichsam dialektisch) als I n d i v i d u a l i t ä t gerade auf, i n d e m sie ihre höchste Stufe erreicht; denn das geschieht, i n d e m sie zum Gegenbild der Totalität w i r d , sich bis zur Totalität e r w e i t e r t " 1 9 . Je mehr sich also das I n d i v i d u u m aus der naturalen Determination f r e i macht, desto mehr w i r d es zur Person. 18 Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos, Hamburg 1960, S. 53: „Auch der Tod hat Patrizierhände, die vernichten und doch befreien". 19 Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 23.

4 Bauer

50

Der tragische Gegensatz

I n der Sphäre naturaler Begrenzung herrscht das K a l k ü l , die rational-ordnende V e r n u n f t gemäß ihren kategorialen apriorischen Formen. Diesem Seinsbereich ist aber ein transzendenter Bereich geistiger Potenzen mit eigenrechtlichen Gesetzen beigeordnet. I m Bereich der objektiven äußeren Erscheinungen der W e l t herrscht eine andere Ontologie als i n dem der subjektiv-seelischen I n n e r l i c h k e i t des Menschen. A u s diesem Grunde entzieht sich tragisches Geschehen jeder Berechenbarkeit, vielmehr w i r k t i n i h m die unbestimmbare rätselhafte K r a f t einer metaphysischen Ordnung, die Totalität bedeutet. Dies entzieht sich zwar dem G r i f f logischer Denkgesetze, doch ist damit nicht gesagt, daß i m Bereich des Tragischen Gesetzlosigkeit oder W i l l k ü r herrsche. Es handelt sich vielmehr u m ein Reich eigener irrationaler Gesetzlichkeit, das i n der Tragik evident w i r k s a m w i r d , da sich der Mensch aus dem determinierten Bereich i n die irrationaltranszendente Sphäre der Freiheit hineinbewegt. D a m i t vollzieht er den entscheidenden A k t existentieller Selbstbefreiung aus der Gebrochenheit des Daseins, aus dem er i n die Totalität des Seins entschwindet. A u f dieser Stufe des Geistes f ü h l t sich der Mensch i n die personale Einheit geführt. Dies geschieht, i n d e m er aus dem innersten Wesenskern sich gleichsam zur Peripherie seines Daseins streckt u n d so i n diesem Bogen weitgespannter Pole sich i n der Totalität des Seins umgreift. Das subjektive Wesen, das i n der seelisch-geistigen M i t t e des Menschen ruht, u n d d i e objektive A k t u a l i s i e r u n g i m Dasein verbinden sich i m Augenblick der tragischen Gegenwart zur zeitlosen personalen Einheit v o n I c h u n d W e l t . Dies bedeutet zugleich Erhöhung zur unbedingten Seinseinheit v o n Sinn u n d Wert. So konstituiert sich existentielles Sein i n der menschlichen Person u n d bringt das B i l d göttlicher Einheit zum Aufleuchten. I n diesem Fall erfährt der Mensch seinen höchsten Wert, i n d e m er als geistige Person, sterblich-vergänglich zwar, aber die Begrenzung des natural determinierten Lebens überschreitend, i n der V o l l e n d u n g zum Tode ein Gefäß ewiger, göttlicher W a h r h e i t w i r d . Personsein bedeutet, sich der O r d n u n g i m Sein zu verbinden u n d somit sich dem existentiellen Sinn des Daseins zu nähern. D i e W i r k l i c h k e i t der personalen Existenz liegt i n dem stets fortschreitenden Fluß des Lebens u n d dessen unendlichen Möglichkeiten des Werdens. H i e r w i r d i m H i n b l i c k a u f die K o n t i n u i t ä t klar, daß es i m absoluten Lebensbegriff keine Stetigkeit geben kajin. Selbst die i n d i v i d u e l l e Form ist nicht Stillstand, sondern vielleicht nur ein besonderer Modus der allgemeinen Lebensbeweguing. Zwischen dem Ein- u n d Ausatmen liegt jene Pause, die gleichsam die Lebenskräfte sammelt und. spannt, u m die neue Bewegung vorzubereiten,· auch das bedeutet Lebendigsein. D i e sichtbare Atembewegung ist nur die Erscheinung des k o n t i n u i e r l i c h e n Lebensodems; jenes Verhalten zwischen Systole u n d Diastole ist ebenso Ausdruck, ja sogar Bedingung des Lebendige^.

Der tragische Gegensatz 5.

51

D i e Tragik der Formzerstörung als Notwendigkeit des Geistes

D i e Geschichte gibt uns K u n d e v o n Gru^ndvorstellungen, deren geistesgeschichtliche Bedeutung f ü r diese oder jene Zeit maßgeblich war. So hatte jede Epoche ihre bestimmten Probleme, v o n denen manche gelöst wurden; aber vieles, was einst die Menschern bewog, Fragen zu stellen, ist auch noch f ü r den modernen Menschen unserer Zeit ein zwingendes Problem geblieben. Offenbar hängt der Bestand der W e l t nicht v o n der Lösung dieser oder jener Probleme ab, aber dennoch haben sie ihre Bedeutung, die nicht i m Zweck zu suchen ist, sondern i n ihrem Sinn. Eine Frage kann demnach sehr w o h l eignen Sinn i n sich haben, der unabhängig v o n der Beantwortung u n d v o n der Beantwortbarkeit ist. So ist zum Beispiel die Frage nach der persönlichen Unsterblichkeit empirisch nicht zu beantworten. Der Sinn dieses Problems liegt offenbar i n einem eigenen, unbestreitbaren metaphysischen W e r t , der i m M o m e n t des Frageiis den Fragenden bestimmt, noch unabhängig davon, ob es eine A n t w o r t gibt. Je weiter die geistige E n t w i c k l u n g geht, u m so mehr w i r d durch die intellektuelle Differenzierung der K o m p l e x der Probleme anwachsen u n d i n einer Fülle v o n Formen zur Ausprägung gelangen. A u s existentieller Bedrängnis zur Frage genötigt zu werden, bedeutet mehr als intellektuelle Tätigkeit, da nicht u m objektive Erkenntnisinhalte, sondern aus dem personalen Erlebnis u m den subjektiven Seinssinn fragend gerungen w i r d . A n a l o g zur Geistesproblematik sei wieder auf Bewegungen der modernen Kunst verwiesen, da sie i n sichtbarer Symbolik die Fragehaltung der Zeit aufzeigt. M a n dürfte darum diese Kunst m i t einigem Recht als metaphysische Zeichen- u n d Formensprache auffassen, denn ihre Gegenstände liegen jenseits des „ f o r m l i c h " Faßbaren. D i e Form dient als M i t t e l zu einem intendierten Zweck oder Ziel, a u f welche die geistige Bewegung zustrebt. I n der Lebenspraxis ergibt es sich, daß die M i t t e l sehr häufig ungeeignet sind, das Z i e l vollständig zu erreichen. D i e Potenz der geistigen Gehalte läßt sich nicht i n ihrer Gesamtheit i n begrenzte Formung bringen. Das geistige Leben a u f der Stufe der K u l t u r ist m i t der tragischen A n t i n o m i k behaftet, daß es als geistiges freies Sein keine zureichenden M i t t e l hat, u m sich adäquat i n der O b j e k t i v i t ä t der Form darstellen zu können, w e i l die Form endlich u n d begrenzt ist, das Leben aber, der erzeugende Geist ist seinem Wesen nach unendlich. I m genialen Menschen tritt zwar die M ö g l i c h k e i t auf, daß seine Schöpfungen die wunderbare H a r m o n i e eines Bereiches des Seins i n objektiver Gestalt vollendet zum A u s d r u c k bringen; daher erstrahlt aus dem Kunstwerk das B i l d des Absoluten, das den Beschauer ergreift, indem es echte W a h r h e i t u n d W i r k l i c h k e i t kündet. Das normale menschliche Lebewesen jedoch bleibt trotz seiner geistigen Seinsstruktur immer an die Bedingungen des Daseins gefesselt, die i h m nur beschränkte M i t t e l f ü r unendliche Ziele u n d Probleme gewähren. Der Mensch ist also auf G r u n d seiner dualen 4*

52

Der tragische Gegensatz

Seinsform die Darstellung des Tragischen. „ D a s Hingleiten unserer Existenz auf einer Skala, auf der jeder Teilstrich durch eine W i r k u n g unserer K r a f t und einer Preisgegebenheit an undurchdringliche Dinge u n d Mächte bestimmt ist, dieses Problem unserer Weltstellung - die sich i n der unlösbaren Frage nach der Freiheit des Menschen u n d der göttlichen Bestimmung religiös wendet - , läßt uns alle zu Abenteurern w e r d e n " 2 0 . Dies besagt, daß jedem A u s d r u c k menschlichen Geistes, jedem Erzeugnis, sei es i n der Form des subjektiven Handelns oder der objektiven M i t t e l , essentiell die M ö g l i c h k e i t des Verfehlens mitgegeben ist. Der Mensch der A n t i k e war sich jener Preisgegebenheit an übermenschliche Mächte u n d einer Unzulänglichkeit, die stets die M ö g l i c h k e i t des Versagens i n allem menschlichen T u n einschließt, t i e f bewußt. Er sah darin das W a l t e n 4 e r Moira, aus deren d u n k l e m Schoß das Schicksal steigt. D i e antike W e l t betrachtung m i t ihrem M y t h o s b e g r i f f das Schicksal als einheitliche Realität, als eine metaphysische Tatsache, die später den Menschen verlorenging, da diese i n steigendem Maße a l l e i n V e r n u n f t u n d Verstand als legitime M i t t e l zur Erkenntnis der Dinge betrachteten. D i e Formen des Erkennens sind jedoch subjektiv menschliche, d. h. begrenzte M i t t e l , gültig f ü r den menschlichen Daseinsbereich. Erkenntnisformen gestatten einen D e n k - u n d Erkenntnisvorgang i m methodischen A b l a u f , aber das schöpferische Sein, das Urphänomen des Lebendigen kann damit nicht begriffen werden, dazu bedarf es anderer Dimensionen, n ä m l i c h derer der M e t a p h y s i k ; ,,es w i l l sich i n ihr etwas aussprechen, was jenseits v o n Erkenntnis liegt u n d dieses M e h r oder Tiefer oder nur Anderes nur dadurch erkennbar macht, daß es die Wahrheit als solche v e r g e w a l t i g t " 2 1 . Der Erkenntnisdrang des Menschen ist Zeichen der sehnsüchtigen Grundtendenz des Lebens, das i n jeder Lebensäußerung danach strebt, über sich hinauszugreifen, u n d darum w i r d notwendigerweise jeder Form die tragische W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t u n d zugleich das Ungenügen als wesentlich immanenter Lebensausdruck i n n e w o h n e n 2 2 . Der hieraus unaufh ö r l i c h fließende Leidensquell ist vielgestaltig, was sich an den zahlreichen Formen u n d Institutionen der K u l t u r ablesen läßt, denn i n jeder K u l turgattung k o m m t das Leben zum Ausdruck. ,,,Leben' kann sich aber schlechterdings nicht anders äußern, als i n d e m es Gestalt gewinnt: ,an sich' ist es eine unfaßbare Potenz, sowohl der Anschauung als dem Denken e n t r i n n e n d " 2 3 . Diese Formulierung v o n G r a f Keyserling bringt i n ge20

Simmel: Philosophische Kultur, Leipzig 1911, S. 27. Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, S. 24. Das dem Leben immanente Prinzip des Sich-Steigerns erinnert an Nietzsches Lebensbegriff, doch unterscheidet sich der Simmeis dadurch, daß er umfassender ist, während Nietzsche nur innerhalb einer Richtung, der der subjektiven Lebenssteigerung verbleibt. Doch besteht zweifellos eine Anlehnung an Nietzsches amor fati. 23 Keyserling, Graf Hermann: Das Wesen der Intuition und ihre Rolle in der Philosophie, Logos Bd. I I I , 1912, S. 72. 21

22

Der tragische Gegensatz wisser A n l e h n u n g an Simmel die Überlegung zum Ausdruck, daß dem Leben i n seinem Grundakt eine Potenz von Kräften eignet u n d daß es i n ständiger D y n a m i k begriffen, i n die O b j e k t i v a t i o n drängt. Insofern liegt der Vergleich m i t Schopenhauers

„Willen"

u n d Bergsons ,,élan

vital"

nahe, jedoch besteht zu Simmeis Auffassung ein Unterschied i n bezug auf die Sinn- u n d Werthaftigkeit des Lebens. Simmeis Lebensdynamik

oder

Potenz bleibt nicht i n sich selbst w i e Schopenhauers W i l l e n s d y n a m i k , sondern ist essentiell transzendent gerichtet, strebt also a p r i o r i nach einem Wert, den das Leben sinnstiftend als Aufgabe vorfindet u n d realisieren w i l l . ,,Es f ä l l t auf die Vergegenständlichung des Geistes ein Wertakzent, der zwar i m subjektiven Bewußtsein entspringt, m i t dem dieses Bewußtsein aber etwas meint, was jenseits seiner l i e g t " 2 4 . So ist also Form zugleich auch Wertausdruck. D a nun, w i e i m vorhergehenden Abschnitt 4 dargelegt wurde, die Form i n tragischen Widerstreit m i t dem zeugenden Kräftestrom gerät, ergibt sich sogar eine tragische K o n f l i k t s i t u a t i o n ,

und

gerade auf wertethischem Gebiet. Es w i r d i n den folgenden K a p i t e l n noch zu zeigen sein, wie zuweilen die tragische Situation den Menschen zwingt, sittliche N o r m e n aus sittlichen M o t i v e n zu verleugnen, d. h. also objektiv ethische Formen zu brechen, damit der jeweils lebendige, subjektive A n r u f einer Sollensforderung i m Sinne echten menschlichen Seinsvollzuges e r f ü l l t werde. D i e gleichen Tendenzen zur Formzerstörung f i n d e n w i r auch auf anderen Gebieten, w i e schon erwähnt, ζ. B. i n den Formen der Religion, der Kunst u n d Erziehung, auf soziologischem u n d w i r t s c h a f t l i c h e m Gebiet. D i e Notwendigkeit der Formzerstörung ist zugleich Ausdruck des Lebendigen u n d Zeugnis seines Wertes. I m Zerbrechen alter Formen manifestiert sich das lebendige Sein i n seiner Treue zu sich selbst. Sobald eine Formgestalt nicht mehr die Adäquation des gemeinten Sinngehaltes zum Ausdruck bringt, tritt Verfremdung u n d schließlich der Bruch ein, der wieder dem ruhelosen Lebensrhythmus der geistigen Bewegung das Feld tragischen Kampfes einräumt. Es beginnt w i e d e r u m das Ringen nach Gestaltung, das unlösbar i n den Bogen dualistischer Problematik eingespannt bleibt. Dieser Prozeß, so sehr er auch den Schatten der Tragik auf das Leben w i r f t , w i r d bei Simmel als ein zu bejahender W e r t aufgefaßt. „ D e r W e r t braucht hierbei keineswegs immer ein positiver i m Sinne des Guten zu sein,· vielmehr die bloße formale Tatsache, daß das Subjekt ein Objekt hingestellt hat, daß sein Leben sich aus sich heraus verkörpert hat, w i r d als etwas Bedeutsames empfunden, w e i l gerade die Selbständigkeit des so v o m Geiste geformten Objekts die Grundspannung zwischen Prozeß u n d I n halt des Bewußtseins lösen k a n n " 2 5 . 24 25

Simmel: Philosophische Kultur, S. 252. a. a. O., S. 252.

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Der tragische Gegensatz

Betrachtet man m i t dem Maßstab dieser Philosophie gewisse Anzeichen auflösender Tendenzen innerhalb des Kunst- u n d Kulturschaffens des 20. Jahrhunderts, dann zeigt es sich, daß Simmel i n weitblickender Vorausschau durch seine Gedankengänge einen w e r t v o l l e n Beitrag zur Deutung künstlerischen Schaffens dieses Jahrhunderts geleistet hat. D i e V i e l fältigkeit k u l t u r e l l e n Gestaltens, soweit dieses sich nicht mehr an traditionsgemäße, konventionelle N o r m e n hält, zeigt auch auf literarischem Gebiet die Neigung, m i t dem bewußt angewandten M i t t e l der Formauflösung u n d Formzerstörung zu operieren. D i e romantische Seelenzerrissenheit von einst w i r d nicht mehr i n w o h l k l i n g e n d e n Weltschmerzharmonien gepflegt. D i e tragischen Widersprüchlichkeiten, die Diskrepanz zwischen Realität u n d Idealität, von Verstand u n d G e f ü h l werden i n dissonantischen Klängen u n d Kontrasten ausgedrückt, die jede gewohnte Schranke der t r a d i t i o n e l l e n Formgebung sprengen. I n der L y r i k waltet statt der strengen metrischen R h y t h m i k der freie Akzent, der den inneren Rhythmus u n d die Bewegung des dichterischen Affektes wiedergeben w i l l . Reime begrenzen nicht mehr so sehr die Verse, freier sprudelt, hämmert oder auch stolpert das W o r t , das oft auch nicht mehr als V e h i k e l eines Gedankens; dient, sondern magisch beschwörend, m i t suggestiver Gewalt Seelenzustände erweckt, Stimmungen zaubert, allein durch Klang u n d Klangfarbe der Silben. D i e formvollendeten, wohlgestalteten Gedichte v o n einst sind v o n einem anderen Lebensgefühl getragen, i n ihnen atmet immer noch wohltuende poetische Besinnung; die Unrast u n d hektische Getriebenheit des heutigen Lebens jedoch vermögen sie nicht adäquat wiederzugeben. Das heftige Aufeinanderprallen, das klare Bewußtwerden der Gegensätze sucht sich unmittelbarer auszusprechen. D i e Dichter künden die l e i d v o l l e Tragik, so w i e sie erlebt w i r d , i n a l l ihrer Bitternis, ihrem Schmerz u n d ihrer erhabenen Unentrinnbarkeit. D i e Poesie v o n T. S. Eliot zum Beispiel zeigt den K a m p f der ungelösten Spannungen u n d w i r d gerade dadurch dem ewigen A u f t r a g der Dichter u n d Sänger gerecht, v o n einer metaphysischen Einheit zu künden, deren transzendente Kräfte den D i c h t e r n aller Zeiten den M u n d öffneten. Formung u n d Formzerstörung werden i m Grunde genommen aus den gleichen Q u e l l e n gespeist, u n d so mag hier ein W o r t v o n H e r a k l i t dieses Kapitel beschließen: ,,Der W e g h i n a u f u n d der W e g hinab ist ein u n d derselbe".

III. Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten 1.

Realität u n d Idealität

Jeder Mensch w i r d immer wieder vor die Frage gestellt, was er als real oder ideal erachten w i l l . D i e A n t w o r t a u f diese Frage k o m m t einer Entscheidung gleich u n d hat ihre Basis jeweils i n der menschlichen Person selbst. Dies bedeutet, daß das menschliche Leben zwischen diesen beiden Kategorien v o n Realität u n d Idealität verläuft, sobald die reflektierende V e r n u n f t es zum Gegenstand objektiver Betrachtung macht. D i e beiden Bereiche s i n d das dialektische Ergebnis intellektueller Analyse u n d ankern i n einer W i r k l i c h k e i t u n d Einheit, die nur i m subjektiven Erlebnis des v i v o hic et nunc liegen kann. U m i n existentiellem Sinne real zu werden, bedarf der Mensch der Bewährung i m tragischen Erlebnis, das i h m aus einer Reihe unerläßlicher K o n f l i k t e zwischen N a t u r u n d Geist erwächst, denn ,,Er ist das Wesen, i n dem sich der Geist verselbständigt zu einem ichbewußten Subjekt, i n dem Sein u n d Sollen sich wiederbegegnen u n d das der A h n u n g des Absoluten wieder bedürftig w i r d . U n d er ist zugleich das Wesen, das die Stufen des Seins verbindet, indem es beides, N a t u r wesen u n d Geistwesen zugleich i s t " 1 . I n einem solchen Wesen t r i f f t die Idee des Menschen als Sehnsucht nach dem idealen Sein auf die Realität des artdeterminierten Gattungssingulums u n d konstituiert den existentiellen G r u n d k o n f l i k t des menschlichen Lebewesens. Innerhalb der Philosophie versuchte man, das Problem i n verschiedenen Denkweisen zu lösen, u m den quälenden Dualismus abzuschütteln, doch alle Versuche blieben unbefriedigend. Einen beachtlichen Vorstoß, einen Weg aus der K o n f l i k t s i t u a t i o n zu finden, unternahm die Psychologie. M i t H i l f e der sogenannten „ T i e f e n p s y c h o l o g i e " glaubte man eine Erklärung f ü r menschliche Tragik gefunden zu haben. Menschliche Konfliktsituationen und seelisches Leiden, verursacht durch die Verwundungen des Daseins, glaubt man auf finale Funktionszusammenhänge zurückführen zu können, deren Ursachen etwa i n verdrängten Komplexen, die selbst sehr verschiedener A r t sein können, zu f i n d e n sein sollen. Bei solchem Verfahren kann es leicht geschehen, daß die teleologische Reihe beliebig w i l l k ü r l i c h verlängert w i r d bis zu einem Endzweck, den die tatsächliche seelische Bewegung i n ihrer Eigentlichkeit gar nicht erreichen wollte, falls man der menschlichen Psyche Freiheit zugesteht. M i t der Vielschichtigkeit des Seelischen k a n n gefähr1

Wenzl, Aloys: Philosophie als Weg, S. 163.

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Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten

licher M i ß b r a u c h getrieben werden, i n d e m i h r durch „Bewußtmachung" Zweckinhalte aufgezwungen werden, die dem i n d i v i d u e l l e n Telos f r e m d sind. So w u r d e die „ N e u r o s e " der Schlüssel zur Beurteilung u n d Erklärung von Seelenzuständen, u n d bei aller Ernsthaftigkeit des Bemühens., das dem Ethos des Helfens entsprang, erstand die Gefahr, daß man a u f diese Weise gerade das Wesentliche des Menschen als lebendige Totalität verfehlte. Bei dem Bemühen, die Verhaltungsweisen des Seelenlebens genau zu analysieren, unterließ man es aber vor allem, die Grenze anzugeben, w o sich deutlich Krankes v o n Gesundem scheidet. M a n scheint außerdem oft nicht genügend i n Betracht zu ziehen, daß der Mensch gerade an seinen K o n f l i k t e n zu sich selbst f i n d e n kann, daß der Zwiespalt notwendig u n d f ö r d e r l i c h ist, u m daraus i n A h n u n g der echt menschlichen Aufgabe die Einheit der existentiellen V e r w i r k l i c h u n g zu finden. D e r Mensch ist nicht einfach Sklave seines „Unterbewußtseins", sondern m i t freiem W i l l e n beschenkt. I n der Sicht der Jung-Adlerschen Psychologie ist das Dasein des Menschen nur traurig, es fehlt i h m aber die Größe echtem Tragik, die dem Menschen die M ö g l i c h k e i t seiner W ü r d e gibt. „ N i c h t das gibt dem ü b e r w e l t l i c h e n u n d Gegenweltlichen seinen tragischen Zug, daß die W e l t es nicht vertragen kann, es bekämpft u n d vielleicht vernichtet - dies wäre traurig oder empörend - , sondern daß es - als Idee u n d Träger der Idee - die K r a f t seines Entstehens u n d Bestehens aus eben dieser W e l t gesogen hat, i n der es keinen Platz f i n d e t " 2 . Der vital-teleologische Triebmechanismus einer einseitigen Tiefenpsychologie versucht, die lebendig-seelische Bewegtheit auf Schemen zu reduzieren, die zum großen T e i l i n i n d u k t i v e r Methode aus Hypothesen gewonnen wurden. Dabei bleibt die geistige Sphäre weitgehend unberücksichtigt u n d w i r d gerne ausgeklammert. Das vereinfacht zwar das Problem erheblich, kostet aber den Preis, den Menschen zu einem Lebewesen werden zu lassen, dem die M ö g l i c h k e i t sittlicher Verantwortung u n d freier Entscheidung fehlt. D i e menschliche W i r k l i c h k e i t k a n n kaum durch wissenschaftliche Analyse bewiesen werden, sie läßt sich nur jeweils i m subjektiven Erlebnis aufweisen. „ E i n e w i r k l i c h e wissenschaftliche Grundlage f ü r den Zusammenhang typischer leiblicher u n d seelischer M e r k m a l e liegt noch nicht vor. V ö l l i g w i r d sich, Gott sei Dank, auch eine Berechnung des Seelischen nie durchführen lassen. Der Geist weht wo er w i l l " 3 . Simmel hat richtig erkannt, daß durch die Psychologie schwere Fehlbeurteilungen u n d Fehldeutungen bei der Erfassung der seelischen Beschaffenheit des Menschen sich ergeben müssen u n d bietet i n dieser Richtung einen f r ü h e n Ansatz zu einer notwendigen u n d aufbauenden K r i t i k an den als Dogmen verstandenen Behauptungen der Psychoanalyse i m weitesten Sinne. Einer solchen K r i t i k muß eine grundlegende moderne 2 3

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 72. Wenzl, Aloys: Zeit und Zeitgeist zweier Generationen, S. 19.

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten Anthropologie vorausgehen, die Simmel leider nicht mehr unternehmen konnte. D i e bereits erwähnte „Systematische A n t h r o p o l o g i e "

v o n Josef

Stürmann dürfte diesem Mangel inzwischen weitgehend abgeholfen haben, wenngleich sie eine bei Simmel nicht vorhandene pessimistische A t t i tüde aufweist. D a Simmel seiner geistigen Anlage nach sich mehr dem Prozeß als dem Inhalt verpflichtet f ü h l t , erscheint i n seiner Deutung das Problem von Idealität u n d Realität als Ganzes i n die Tatsache des Lebens verflochten. D i e Idee des Sittlichen als objektiver I n h a l t geht unmittelbar aus dem Leben hervor u n d w i r d erst durch das Bewußtsein i n objektive Formen gebracht. Simmeis Ideen s i n d somit nicht wie bei Plato ein metaphysisches Sein per se, nicht die Immanenz des Weltgeistes w i e bei Hegel; Simmeis Idealität entsteigt dem Leben i n ständigem Prozeß. A u f diese Weise entstehen auch die objektiv-sittlichen Forderungen, die das sittliche Subjekt als ideelle Gewissensaufrufe i n der Form innerer A n r u f e treffen, aus dem subjektiven Wesenskern der ethischen Person. Es ist also eine autonome Ethik, die dem Menschen m i t der Verantwortung f ü r sich u n d sein T u n zugleich die Entscheidung u n d W a h l zu seinem menschlichen Sein i n die Hände legt. Der Mensch, der sich als einheitliche lebendige Realität i m Dasein erlebt, weiß u m Ideen, die als reine Geistesforderungen nicht ohne Schwierigkeiten m i t der Lebenseinheit i n Einklang zu bringen sind. W i l l man die sittlichen Ideale i n ihrer reinen Idealität bestehen lassen, dann entsteht die Frage nach der sicheren Verankerung dieser ethischen Inhalte. (Darauf kommen w i r später noch zu sprechen.) Daraus muß sich ein W i d e r s p r u c h ergeben. Simmel mühte sich m i t der Lösung dieses Problems vergeblich. Für i h n ist der K o n f l i k t zwischen Realität u n d Idealität eine tragische Funktion, durch die das Leben sich realisiert u n d an W e r t gew i n n t . Flier auf dem Gebiet der Ethik könnte man dem tragischen K o n f l i k t zwischen dem Sein u n d dem Sein-sollen i n bezug auf die Existenz des Menschen sogar entelechialen Charakter zusprechen. I n dieser Konzeption f ä l l t Simmeis Begriff des Tragischen eine positive Aufgabe i m menschlichen Dasein zu. 2.

D i e tragische Situation des I n d i v i d u u m s i m Schnittpunkt mehrerer Forderungen

W i e i n dieser A r b e i t schon verschiedentlich dargelegt wurde, ist der Mensch ein vielschichtiges Wesen, dessen Existential i n der Form dualer Spannung liegt; ebenso zeigt sich auf sittlichem Gebiet notwendigerweise der gleiche tragische Zwiespalt. Diese Tatsache bringt i m praktischen Leben Situationen hervor, die ausweglos scheinen u n d jede Annahme des Bestehens einer ganzheitlich eindeutigen moralischen W e l t als absurd erscheinen lassen. Das mag seinen G r u n d d a r i n haben, daß der Mensch i n

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Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten

sich als Potenz des Lebens den Zugang zu vielen W e l t e n birgt, sei es die künstlerische, wissenschaftliche, religiöse oder die materiell-physische. Es ist einzusehen, daß sich m i t a l l diesen Gebieten mannigfache Berührungspunkte u n d Widersprüche untereinander i n dem lebenden Subjekt ergeben können, die f ü r das I n d i v i d u u m das Problem des richtigen Handelns u n d Verhaltens entstehen lassen. Dazu kommt noch die eigenartige, typisch menschliche Erfahrung, derzufolge die an uns gestellten Forderungen auch als unser A n s p r u c h an die W e l t auftreten. D i e Bewegung verläuft also i n zweifacher Richtung u n d w i r f t damit die weitere Frage nach W e r t u n d Recht, Sinn u n d Zweck auf. Ein A n s p r u c h w i r d i m H i n b l i c k auf seine Berechtigung u n d Rechtmäßigkeit darauf befragt werden, ob u n d w a r u m er zu Recht besteht u n d w e n n ja, f ü r wen, d. h. ob subjektiv f ü r m i c h oder ob objektiv f ü r die Sache. I m Widerstreit gegensätzlicher u n d sich ausschließender Ansprüche u n d Forderungen muß p r i n z i p i e l l die Frage nach der Notwendigkeit des Handelns an sich gestellt werden, u n d man w i r d vielleicht durch die vorläufige Überlegung über die Notwendigkeit des Handelns überhaupt versucht sein, dem K o n f l i k t aus dem Wege zu gehen. A b e r auch dieses W ä h len zwischen Passivität u n d A k t i v i t ä t bedeutete nur die Entscheidung f ü r den M o d u s eines Verhaltens. Es handelt sich immer u m eine Stellungnahme i m aktiven oder i m passiven Sinne. I n allem menschlichen T u n offenbart sich die Stellung des Subjekts bzw. der Standort der Person. I m H a n d e l n u n d Sich-stellen f i n d e n Sein u n d Sollen der menschlichen Person ihre Fundierung. H i e r w i r d klar, daß sich Sittlichkeit nicht i n angebbaren objektiven Inhalten oder Gesetzen festlegen läßt. D a r u m ist auch i n Simmeis allumfassenden Begriff des k o n t i n u i e r l i c h e n Lebens die Ethik als Sollen m i t eingeschlossen als „ p r i m ä r e Kategorie". Das menschliche Lebewesen hat die Gewißheit des v i v o als unverrückbare W i r k l i c h k e i t u n d mit dieser W i r k l i c h k e i t hat es zugleich die Gewißheit des Sollens. Dieses Sollen stellt eine primäre Lebenspotenz dar, die sehnsüchtige Tendenz ist u n d dabei das Subjekt zugleich m i t dem Objekt umklammert. I n d e m das Sollen verspürt w i r d , zeigt sich i n der Richtung der zu ergreifenden u n d ergriffenen objektiven sittlichen Sollensforderung die moralische Qualität der Person. Kritische Stimmen w o l l e n darin einen Mangel sehen, daß Simmel i n seiner Philosophie keine fest umrissenen M o r a l p r i n z i p i e n u n d sittlichen N o r men angibt. Dies ist aber aus seinem dem Leben, dem W e r d e n v e r p f l i c h teten Philosophieren verständlich. M a n kann den freien Lebensprozeß nicht i n vorher geprägte Formen leiten, ebensowenig lassen sich Inhalte ethischer N a t u r vorwegnehmen u n d diese dann dem kontinuierlichen Lebensstrom aufzwingen. A l l e s Lebendige ist i n d i v i d u e l l u n d kann darum stets nur sein eigenes, i h m gemäßes H a n d e l n auf seine i n d i v i d u e l l e Weise geltend machen u n d zur Geltung bringen. H i e r setzt n u n der schärfste Ein-

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten w a n d gegen Simmeis Lebensphilosophie ein, i n d e m behauptet w i r d , daß angesichts jener i n d i v i d u e l l e n Ethik eine klare Wertbestimmung sittlichen Verhaltens unmöglich gemacht sei. Es mag zugegeben sein, daß man objektive Werte als fest u n d klar definierte Begriffe i n der verworrenen Landschaft der M o r a l als Z i e l u n d H a l t haben möchte,· jedoch entspricht es mehr der Idee v o n der W ü r d e des autonomen Menschen, w e n n man i h m die M ö g l i c h k e i t zugesteht, als f r e i verantwortliches Lebewesen selbst das i h m notwendige Maß u n d Gesetz aufzufinden. D u r c h die A u f f i n d u n g der jeweils gesollten Forderung erfährt sich das I n d i v i d u u m als sittliche Person. I n d e m der Mensch die V e r b i n d l i c h k e i t des Sollens f ü r sich anerkennt, beugt er sich zugleich i n Freiheit jener metaphysischen Ordnung, der er als seinem „ i n d i v i d u e l l e n Gesetz" folgt. Bei dieser autarken Ethik ist die „ F o r m " , die A r t u n d Weise des Handelns i n d i v i d u e l l . D i e zu erfüllende P f l i c h t , die aus dem Sollensruf f r e i w i l l i g ergriffen w i r d , gilt aber i n diesem Augenblick als Gesetz des absoluten Sollens, w e i l der Vollziehende dadurch einen ideellen W e r t realisiert. Diese von Simmel entworfene Ethik darf als A n w e i s u n g zu verstehen sein, die dem Menschen die M ö g l i c h k e i t gibt, sein unsterbliches Sein zu begründen oder zu verfehlen. So redet Simmel nicht der W i l l k ü r das W o r t , sondern er weist den M e n schen auf seine freie Selbstverantwortlichkeit hin. „Freiheit des Geistes ist Bindung durch den Geist, w e i l jede Freiheit zugleich Herrschaft bedeut e t " 4 . Simmeis „ i n d i v i d u e l l e s Gesetz" ist zugleich f r e i u n d notwendig. Es gewährt Freiheit, insofern es dem Menschen i n jeder persönlichen Schicksalslage - die oft genug v o n ganz bestimmten i n d i v i d u e l l e n Umständen herbeigeführt sein mag, w i e sie vielleicht nie wieder i n dieser Ausprägung v o r k o m m t - gestattet, diese Lage zu seiner sittlichen Bewährung u n d persönlichen Werterhöhung i n einer f ü r i h n maßgeblichen Handlungsweise wahrzunehmen. Sonst wäre das H a n d e l n n u r noch bedingt f r e i u n d an eudämonistische M o t i v e geknüpft. „ D e n n das wäre ein A b b r u c h jener Freiheit, die i n jeder Situation zu entscheiden hat, was sie gerade i n dieser als s i t t l i c h notwendig anerkennen w i l l " 5 . Bei den vorhergehenden Darlegungen erscheint Simmeis i n d i v i d u e l l e Handlungsethik teils v o n einer W e r t i n t u i t i o n nach M a x Scheler u n d teils durch die metaphysische Sublimierung des K a n t s c h e n kategorischen I m perativs geprägt zu sein. Eine sittliche Leitlinie aber w i r d nicht klar sichtbar? eine materiale W e r t e t h i k lehnt Simmel i n seiner letzten philosophischen Phase ab u n d der Konsequenz eines sittlichen Gesetzes i m Sinne Kants t r i t t er nicht bei. A l s naheliegend drängt sich hier eine kurze Betrachtung der Situation des Menschen auf, der sein H a n d e l n v o r n e h m l i c h unter den beherrschen4 5

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 19. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, S. 161.

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Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten

den Zwang des planenden, berechnenden Intellektes stellt. V o m Zwang erfaßt, v o m W i l l e n nach Perfektion u n d Fortschritt versklavt, vernimmt er nur schwer den inneren R u f des Sollens, da dieser aus jener Seinsschicht q u i l l t , die nicht zur V e r w i r k l i c h u n g endlicher, materieller Zwecke nützl i c h u n d geeignet ist. D i e „ m o d e r n e " Psychologie m i t ihrer Psychotechn i k leistet dieser materialistischen Tendenz utilitaristischer M o t i v i e r u n g Hilfestellung, denn sie bringt den Menschen zur Feststellung seiner Nutzbarkeit u n d Rentabilität a u f den Materialprüfstand der verschiedenen psychologischen Tests 6 . Der Nutzwert, nicht der sittliche W e r t des Menschen steht i m besonderen Interesse der Gegenwart. I n der Sucht, jedes Risiko einer Fehlinvestierung zu vermeiden, ist aber das Risiko des totalen Selbstverlustes m i t allem, was das Leben sinn- u n d w e r t v o l l macht, gegeben. Es ist w o h l verständlich, daß es bei einer Menschenbeurteilung d u r c h „Tests" wenig Platz f ü r die Liebe geben kann, die H o f f n u n g w i r d leicht als eitle Phantasterei gedeutet, u n d der Glaube bleibt der Konvention halber nur noch innerhalb der Religion anerkannt. Dabei sind diese d r e i christlichen Tugenden vor allem als Kräfte u n d Qualitäten der Seele zu werten, die i n ihrer Idealität dennoch der Lebenswirklichkeit angehören, also w i r k l i c h sind, d. h. w i r k e n können, ohne deren Bestehen manch bedeutender Erfolg, manch entscheidende Erfindertat nicht zustande gekommen wäre. D i e weitverbreitete H a l t u n g des Menschen unserer Zeit ist überdies noch dadurch gekennzeichnet, daß eben i n Verkennung der Lebenstotalität das Sollen nur als ideeller Bereich aufgefaßt w i r d , der dem praktischen Leben u n d seiner W i r k l i c h k e i t konträr gegenübersteht. Dies ist die geistige Situation, i n der Simmeis Gedanken eine bessere Einsicht v e r m i t t e l n können, u n d gerade heute zeigt es sich, daß seine Philosophie keineswegs als überholt der Vergangenheit angehört, sondern durch ihren inneren Reichtum u n d Gehalt berufen erscheint, auch i n unserer Zeit ihre Bedeutung zu bekunden, w e i l sie imstande wäre, den Menschen wieder zu sich selbst zurückzuführen. 3.

Sollen als Forderung u n d A n s p r u c h

Simmeis Ausführungen zum Problem des sittlichen Handelns w o l l e n die Ethik als Seinsweise begreifen, die - ebenso w i e das Erkennen - eine Form darstellt, m i t welcher das Leben sich als werthaft u n d s i n n v o l l realisiert. D a das Ganze i n einen weiten metaphysischen Lebensbegriff eingefügt ist, hat Simmel die Kategorie des Sollens gesetzt i n Angleichung 6 Der apodiktische Anspruch eines Tests auf charakterologische Gültigkeit ist unhaltbar, da die daraus experimentell gewonnenen Erfahrungen nur den Wert sekundärer Reaktionen haben können, über die primäre Erfahrung verfügt allein die Testperson, und ihre Erfahrung kann nicht mit Sicherheit für andere Personen zugänglich gemacht werden. Außerdem werden die gewonnenen psychologischen Ergebnisse mit bereits vorhandenen allgemeinen Folgerungen ausgewertet.

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten an die k o n t i n u i e r l i c h strömende D y n a m i k des Lebens. Es entspricht also das Sollen jener auf dem Gebiet der Erkenntnis vertretenen Annahme des „ D r i t t e n Bereiches". I n einer gewissen A n l e h n u n g an Kant darf man das Sollen dem formalen P f l i c h t b e g r i f f zur Seite stellen, da i n beiden Begriffen jede V e r k n ü p f u n g m i t einem subjektiven Wollensträger oder objektiven I n h a l t vermieden w i r d . P f l i c h t u n d Sollen haben ihre V e r b i n d l i c h k e i t nur i n ihrem Eigenwert. Aus dem Bewußtsein jenes Sollens, das das menschliche I n d i v i d u u m jeweils als Forderung verspürt, entspringt auch die Überzeugung, daß die W e l t u n d das Dasein eine moralische Bedeutung haben müssen. Das menschliche Lebewesen berührt durch das Sollen jene transzendente Ordnung, die dem menschlichen Sein überlegen ist. Der freie W i l l e bleibt erhalten, aber die Forderung - unabhängig von ihrer Realisierung - bleibt ebenso unausweichlich bestehen. Daraus läßt sich vielleicht am besten eine Erklärung f ü r das Phänomen der Reue gewinnen, das als seinerzeit negiertes, w e i l nicht erfülltes Sollen i n der Seele als eigenständiges Reich autochthoner Gesetzlichkeit w e i t e r w i r k t u n d v o n hier aus unauslöschlich seinen Schatten auf den subjektiven Lebensbereich, wirft. Diese Sollenskategorie ist der Struktur ihrer Potenz nach doppelpolig u n d trägt dadurch ganz die antithetischen Züge der Simmelschen Lebensu n d Weltanschauung. Der Mensch w i r d als O r t jener Sollensimpulse aus zwei Richtungen getroffen, die seine sittliche Lage existentiell m i t dem Zeichen der Tragik versehen. Das Sollen t r i t t n ä m l i c h - w i e vorne schon erwähnt - a) als sittliche Forderung, die an uns gestellt w i r d , auf u n d b) auch als A n s p r u c h v o n uns an die W e l t w i r k l i c h k e i t . D i e Linie verläuft somit auf das Subjekt zu u n d v o n diesem zum Objekt. Das bedeutet, daß die W e l t , w e n n sie eine moralische Bedeutung haben soll, ebenfalls i n die Sollenskategorie einbezogen ist. A l s logische Konsequenz dieser Simmelschen Konzeption ergibt sich, daß auch v o n dieser Richtung des Objekts ein A n s p r u c h besteht, den das s i t t l i c h bewußte Subjekt d e u t l i c h vernimmt u n d darauf es sich gründet trotz der W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t der W e l t , die es nicht enträtseln kann, da es nicht aus sich heraus i n die O b j e k t i v i t ä t zu f a l l e n vermag. D i e zahlreichen Religionen, u n d innerhalb der Philosophie die Theodizee, zeugen von diesem gerechtfertigten A n s p r u c h einer seinsollenden sittlichen W e l t . Das Sollen als ethischer Begriff mag zu unbestimmt erscheinen, zumal der W e r t einer Ethik gerne i n einem festumrissenen Gesetz gesehen w i r d , das Simmel offenbar nicht zu geben gewillt ist, w e i l sich f ü r die Sittlichkeit schwerlich eine N o r m aufstellen läßt, insofern man sie i m Bereich des Lebens beläßt u n d nicht, w i e Kant es i n seiner formalen Ethik tut, aus dem Lebenszusammenhang i n Abstraktionen herauslöst. Allerdings besagt der kategorische I m p e r a t i v i m Grunde genommen ähnliches w i e Simmeis

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Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten

Kategorie des Sollens, n ä m l i c h so zu handeln, w i e es sein soll, damit dieses H a n d e l n als Gesetz gelten könnte. Kritische Stimmen vermissen bei Simmeis Ausführungen über die Ethik vor allem gewisse Moralgesetze u n d sittliche Prinzipien. Simmel äußert sich darüber folgendermaßen: „ A u c h sind diese angebotenen Moralgesetze immer Verbegrifflichungen von Inhalten, die als Sollen erlebt sind, vor denen aber die Lebenszukunft i n ihrer ganzen Unberechenbarkeit liegt; denn da auch das Sollen ein Leben ist, so sind seine Gestaltungen so wenig vorauszusagen w i e die des als w i r k l i c h erlebten Lebens" 7 . Das Sollenserlebnis des Subjekts ist somit gleichsam als Grundlage aufzufassen, auf welcher überhaupt erst der Bau sittlicher Forderungen sich zu erheben vermag. H i e r möge zur Verdeutlichung eine Erfahrung aus der Pädagogik angeführt werden. Es galt als bewährtes pädagogisches Rezept, den Schüler bei seiner Ehre zu fassen. Diese Praxis scheint heute vielfach zu versagen, u n d die Erzieher klagen darüber, daß jene Instanz der „ E h r e " , an die sie erfolgreich zu appellieren gewohnt waren, einfach nicht mehr greifbar, vielleicht nicht mehr vorhanden ist, zumindest aber nicht mehr ausgeprägt u n d tragfähig genug zu sein scheint, u m darauf eine Forderung aufzubauen. Was hier als Ehrbegriff vorausgesetzt wurde, ist die Form des als Ehre objektivierten Sollens. D i e pädagogische Aufgabe lautet deshalb, einen Begriff zu finden, der den jungen Menschen i n seiner I n n e r l i c h k e i t t r i f f t , damit i h m dort i m subjektiven Erlebnis der Korrelation v o n I c h u n d W e l t das Wissen aufgeht, was er ist u n d was er sein soll. Versucht man, das Wesen des Sittlichen durch empirisch festgelegte Begriffe zu fassen, so w i r d man - w i e dargelegt - damit der eigentlichen Sache k a u m gerecht werden können, denn Sittlichkeit w i r d v o n Simmel nicht i n einem vorbestimmten W e r t gesehen, der durch das H a n d e l n erst zu realisieren wäre. Für Simmel bedeutet Sittlichkeit eine Beschaffenheit, ein Sein der Seele, das sich am H a n d e l n zeigt u n d dadurch v o n sich aus wählt u n d entscheidet, was an Inhalten zu v e r w i r k l i c h e n gesollt w i r d . „ D i e H a n d l u n g geht nicht a u f den I n h a l t des pflichtmäßigen Wollens, sondern auf das pflichtmäßige W o l l e n des I n h a l t s " 8 . I n dieser Formulierung läßt sich unschwer der Einfluß Kants erkennen. Bei dem Problem der idealen Forderungen drängt sich eine merkwürdige Erfahrung auf, die auch Simmel hervorhebt, daß n ä m l i c h Ideale des M e n schen, w i e es Freiheit u n d Sittlichkeit sind, manchmal ihrem I n h a l t nach empirisch leichter i n ihrer Negation faßbar zu sein scheinen. Ä h n l i c h ist es m i t der Weisheit u n d der W a h r h e i t bestellt, die empirisch nur als Grenzen erfahrbar sind, was dem Weisen i n der Erfahrung der docta 7 8

Simmel: Lebensanschauung, S. 153. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, S. 161.

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten ignorantia aufgeht. Das Nichtwissen bedeutet ein Wissen u m die menschliche Erkenntnisgrenze u n d i m p l i z i e r t die M ö g l i c h k e i t , diese zu überschreiten. I n dieser Richtung f i n d e t sich auch bei Schopenhauer die aufschlußreiche Überlegung über das Wesen des Moralischen. „ D i e Buddhaisten gehen, infolge ihrer tieferen ethischen u n d metaphysischen Einsichten, nicht von Kardinaltugenden, sondern v o n Kardinallastern aus, als deren Gegensätze oder Verneinungen allererst die Kardinaltugenden auftret e n " 9 . So ist es möglich, das schlechthin Unsittliche b e g r i f f l i c h zu definieren, w i e Simmel es darlegt als: „Jenes entschiedenste Schema der U n sittlichkeit: den Menschen ausschließlich als M i t t e l zu b e n u t z e n " 1 0 . 4.

Die sittlichen Forderungen und ihre Wertung in bezug auf ethische Quantität und Qualität

Jeder Stellungnahme liegt eine W e r t u n g zugrunde. D a das Sich-stellen durch das Sich-entscheiden nach dem i n d i v i d u e l l e n Gesetz der Person i m Sinne einer Sollensentscheidung vollzogen w i r d , muß diese Tendenz qua Sollen an einem bestimmten Punkt an einer f ü r das I n d i v i d u u m bezeichnenden u n d bezeichneten Stelle innerhalb des Lebens eine A u f g i p f e l u n g zu einem W e r t erfahren. I n einer a u t o n o m - i n d i v i d u e l l e n Ethik, w i e sie Simmel zu entwerfen versucht, kann es schwerlich objektiv festgesetzte Werte geben. Simmel erkennt den W e r t i n der V e r w i r k l i c h u n g der Person selbst. D a r i n liegt allerdings eine Gefahr, i n einen hoffnungslosen Solipsismus zu geraten. D i e hierauf anspielende K r i t i k ist berechtigt u n d nicht von der H a n d zu weisen. Simmel hat dies /selbst gesehen u n d schwer ,um Klärung gerungen. M a n übersehe aber nicht, daß Simmel bestrebt ist, die tragischen Zwiespältigkeiten des Lebens zusammenzuführen, u n d so gelten auch die Gegensätze von I n d i v i d u e l l e m u n d A l l g e m e i n e m nur als zeitbedingte paradoxe Formen einer zeitlosen metaphysischen Lebenseinheit. Insofern also das menschliche Lebewesen sich i n den antithetischen Spannungsbereich der Entscheidung geführt weiß, ist i h m stets die Aufgabe u n d die M ö g l i c h k e i t gewiesen, daß durch diese Antithese u n d i n i h r das echt Menschliche geboren werde u n d so als W e r t zur Realisierung gelangt. I m Entscheidungsmoment w i r d das Seinsverhältnis des Menschen i n bezug auf seine metaphysische Seinsgestalt f i x i e r t . Dies bedeutet, daß die sittliche Entscheidung als D e f i n i t i v u m endgültig u n d unauslöschlich das Existential des Menschen bestimmt, so w i e etwa der Bildhauer m i t jedem Meißelschlag die d e f i n i t i v e n Züge der zu formenden Gestalt aus dem Stein herauslöst. D i e H a n d l u n g bedingt somit das Sein, u n d darum impliziert die sittliche 9

Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Dritter Teil, Kap. V I I I , § 109, S. 188. 10 Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, S. 158.

64

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten

Tat zugleich das Gericht. Der Mensch, der seinem Sein nach s i t t l i c h gerichtet ist, e r f ü l l t die ethischen Forderungen, i n d e m er sein H a n d e l n nach ihnen richtet. D a d u r c h entsteht f ü r den Menschen die tragische Situation, daß Sein u n d H a n d e l n sich korrelativ bedingen. H i e r bewegt sich Simmel an der Grenze eines ethischen Relativismus, dem er durch den metaphysischen Begriff des absoluten Lebens dialektisch zu entkommen sucht. ,,Die eigentliche große Tragik des Sittlichen: w e n n man nicht das Recht zu dem hat, zu dem m a n die P f l i c h t h a t " 1 1 . M i t dieser knappen aphoristischen Formel ist meines Erachtens die menschliche K o n f l i k t s i t u a t i o n i n ihrer existentiellen Zuspitzung aufgezeigt. D e m subjektiven pflichtgemässen Sollen steht hier der Begriff des Rechts m i t einem doppelten Akzent gegenüber, der dadurch das Recht i n eine zwiefache Forderung aufzuspalten scheint: Recht als geltendes Recht u n d zugleich als moralisch verpflichtendes Recht i m Sinne einer auch objektiven Sollensforderung. Subjektivität u n d O b j e k t i v i t ä t berühren sich so i n einem einzigartigen personalen tragischen W e r t k o n f l i k t ; denn das objektiv gültige Recht steht oft zugleich der N o t w e n d i g k e i t eines subjektiven Müssens gegenüber. Das I n d i v i d u u m erfährt i n seinem sittlichen Sein zwei Forderungen: Recht u n d Pflicht, wobei Recht sowie P f l i c h t f r e i anerkannt u n d als gesollt empfunden werden. Recht u n d P f l i c h t sind ideale Forderungen, die beide die sittliche O r d n u n g repräsentieren u n d i m Dasein mitunter i n i n d i v i d u e l l e n K o m p l i k a t i o n e n als Gegensätze auftreten, durch die der Mensch i n die tragische Verstrickung gerät, zwei gleichberechtigten Forderungen sollensmäßig verpflichtet zu sein. I n beiden Fällen (Recht u n d Pflicht) verspürt der Mensch den A n s p r u c h sittlicher Forderungen als Sollen, das gewollt w i r d , auch w e n n dieses grundsätzlich metaphysische Müssen dem W i l l e n i n einer besonderen Situation entgegensteht. Das w ü r d e bedeuten, daß dieses imperative, dem I n d i v i d u a l w i l l e n vorgesetzte Sollen trotz unverminderten Willenswiderstandes doch i n irgendeiner Form - die w i r zwar nicht immer durchschauen - v o n diesem W i l l e n bejaht w i r d . Für diesen eigenartigen seelischen Vorgang fehlt jede anschauliche Deutung, w e i l er i n seiner psychischen Bewegtheit nicht i n die Einheit des Bewußtseins zu fassen ist. Daraus ergibt sich ein circulus vitiosus, der i n dem oben erwähnten Zitat offenbar P f l i c h t u n d Recht i n zwei gegensätzliche Elemente zerlegt, obgleich andererseits Recht u n d P f l i c h t eine einheitliche W u r z e l haben sollten. Es besteht ein nicht zu leugnender logisch-psychologischer W i d e r s p r u c h i n der Überlegung, daß ein Sollen vorher gewollt u n d dennoch verneint werden kann. Dieses G e f ü h l t r i f f t jedoch oft tatsächlich die wahre seelische Zuständlichkeit, obgleich es sich weder m i t logischen noch m i t psychologischen Begriffen deckt, ,,die ideale Forderung an den W i l l e n , innerhalb seines W o l l e n s nicht mehr er selbst zu sein, eine W i r k 11

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 20.

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten lichkeit zu werden, die nicht seine eigene, sondern die eines Sollens ist, dessen Inhalte ihre W ü r d e ganz jenseits alles W o l l e n s oder N i c h t - W o l l e n s s t e l l e n " 1 2 . Eine derartige K o n f l i k t s i t u a t i o n kann darum wegen ihrer rätselhaften dunklen, ganz i n d i v i d u e l l e n Ausprägung als Schicksal schlechthin definiert werden (s. S. 85, Ζ. 1 - 7),

das das menschliche Lebewesen er-

fährt, da es, je mehr es sich i n die personale Einheit hineinlebt, desto eher von der differenzierten V i e l f a l t der ethischen Forderungen getroffen w i r d . Ein solches Lebewesen gerät leicht i n den Brennpunkt mehrerer Forderungen, die jedoch untereinander k e i n einheitliches Zentrum zu haben scheinen, so daß eine oft die andere ausschließt, w e i l beide logisch oder praktisch nicht vereinbar u n d m i t seinsollenden M i t t e l n nicht zu erreichen sind. Gleichgültig, w i e auch immer der K o n f l i k t f a l l gelagert sein mag, die Entscheidung ist allein dem Subjekt aufgegeben. Folglich dürfte es nur schwer möglich sein, v o n außen her ohne weiteres eine H a n d l u n g nach ihrem sittlichen W e r t oder U n w e r t zu beurteilen, da man die subjektive innere B e f i n d l i c h k e i t des Menschen nicht kennt. V o m objektiven I n h a l t läßt sich nicht ablesen, ob dieser aus Sittlichkeit oder v o m Telos nach dem Nutzquantum bestimmt wurde. H i e r besteht offensichtlich ein Nexus, der die Tragik der sittlichen Situation des Menschen auf einzigartige Weise i n der Berührung v o n Subjekt u n d Objekt, von A u ß e n u n d I n n e n aufzeigt. Simmel erkennt i n der Kategorie des Sollens den Ort, der als

Gewissen

bezeichnet w i r d . Kritisch ergänzend soll hier versucht werden, auf den Begriff des Gewissens i n einer Zwischenbetrachtung näher einzugehen. M i t dem „ i n d i v i duellen Gesetz" wäre auch ein individuelles Gewissen gegeben, das i n d i v i duelle Merkmale i n bezug auf seine besonderen Möglichkeiten trägt u n d zugleich die allgemeine Seinsstruktur des Menschlichen aufweist. Diese Instanz des Gewissens ist also das Organ des Sollens. Es ist auf jeden Fall mehr als ein psychosomatischer Apparat, i n dessen Automatismus eine Dominante eingebaut wäre. Dies würde aber sogleich die Frage nach jener apriorischen Dominante auf w e r f en. Eine andere Auffassung von der Struktur des Gewissens besteht i n der Hypothese, den existentiellen Bruch des Menschen bis i n den Bereich des Gewissens zu verlegen. D a m i t würde das Sollen i n das duale Spannungsgefüge einbezogen sein u n d somit i n Zielgebung u n d geistige Sinn-Wert-Tendenz sich verzweigen. Diese beiden Sollensakzente wären dann i n der apriorischen Seinsverfassung des Subjekts angelegt. D i e metaphysische Sollenskategorie ist aber nach Simmeis Ansicht mehr als dies u n d muß als „ D r i t t e r Bereich" einer absoluten O r d nung demnach eine einheitliche, umfassende Instanz sein. Bei letzterer Betrachtungsweise ist der Dualismus zwar nur u m eine Stufe 12

5 Bauer

Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, S. 177.

erweitert

66

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten

worden, aber damit scheint eines klar zu werden: D i e Zuständigkeit des Sollens bei der Gewissensentscheidung, das sowohl das eudämonistischutilitaristische Q u a n t u m als auch die Realisierung sittlicher Qualität v i r tuell i n sich trägt. A u c h hier ersteht m. E. wieder die Gefahr eines Relativismus i n bezug a u f den Handelnden, aber dem Wesen der Sittlichkeit gemäß muß die ethische Qualität

nach dem zeitlosen

metaphysischen

Wert u n d nicht nach dem zeitlich-endlichen Q u a n t u m fragen. ,,Nicht nur jeden Menschen, sondern auch jedes D i n g so behandeln, als wäre es ein Selbstzweck — das gäbe eine kosmische E t h i k " 1 3 . So äußert sich Simmel i n seinem nachgelassenen W e r k u n d eröffnet damit eine umfassende Perspektive des sittlichen Problems. Es war i h m nicht mehr vergönnt, diese i n aphoristischer Aussage niedergelegten Gedanken zu eingehender p h i l o sophischer Darstellung zu bringen. D a r u m sei auf den oben zitierten Ausspruch noch kurz eingegangen. Diese „kosmische E t h i k " trägt den charakteristischen Zug des zweckfreien Handelns u n d stellt sich an die Seite des zweckfreien Denkens. Ein solches H a n d e l n hat seine Spitze i m actus purus amoris 1 4 u n d liegt außerhalb des menschlichen Bereiches, aber dennoch f ä l l t

ein Abglanz auf die menschliche Daseinssphäre durch

jene

Handlungsweise, die als höchste Darstellung des Sittlichen uns i m aufopfernden

Handeln

begegnet.

Das

Opfer

kennt

keinen

egoistischen

Zweck, aber es hat stets einen W e r t u n d einen Sinn i n u n d durch sich selbst. Weitere Formen dieser Ethik kennen w i r i n der christlichen Liebe, die nichts begehrt u n d auch i n der Freundschaft, die als zweckfreie, selbstgenugsame Seelenhaltung stets als hoher sittlicher W e r t gerühmt u n d geachtet wurde. Der Sollensruf des Gewissens w i r d v o n der sittlich bewußten Person vernommen u n d ermächtigt den freien W i l l e n zum Handeln. I n der Korrelat i o n v o n Sollen u n d H a n d e l n erkennt sich das I n d i v i d u u m w i e i n einem Spiegel, d a r i n es die ins Transzendente führende Linie seiner Seinsgestalt erblickt. I m Wissen seines Sollens u n d i n der Erfüllung dieses Anrufes liegt die Selbstauffindung. D i e Erkenntnis dieser Gewißheit kann Glück bedeuten, denn der Mensch begegnet sich, er schaut sein Gesicht, u n d damit weiß er u m sein existentielles Sein. A b e r ebenso erkennt der Mensch durch das Gewissen, w e n n er seine ideelle Linie verfehlt hat u n d er sich als Z e r r b i l d begegnet. Dieses Wissen w i r d i h m zur Q u a l ; denn er hat gegen das i n d i v i d u e l l e Gesetz seines existentiellen Seins verstoßen u n d ist so zum Verräter an sich u n d dem Sinn seines Seins geworden. 13

Simmel: Fragmente tmd Aufsätze, S. 20. Schon in der altindischen Veda und der altgriechischen Philosophie (Empedoklcs) wird die Liebe als kosmisches Prinzip angesehen, durch dessen einigende Kraft sich die polaren Gegensätze der Welt versöhnen. 14

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten 5.

67

Tragik des Seins i n subjektiv-unvollkommenem So-sein i m Verhältnis zur gesollten O r d n u n g

D e m außenstehenden, objektiven Betrachter bleibt nichts anderes übrig, als sich an empirische Gegebenheiten zu halten, u m v o n diesen äußerlich wahrnehmbaren Punkten einen Zugang zur Erfassung der inneren Beschaffenheit des Menschen zu erlangen. So gesehen, dient die Tat als Anhaltspunkt u n d gilt, an ihren objektiven Inhalten gemessen, als K r i t e r i u m des individuellen

So-seins. Diese M ö g l i c h k e i t ,

den wesentlichen Wert,

w i r k l i c h sittliche Person erfassen zu können, ist jedoch

die

unvollkommen

genug u n d bietet keine sichere Grundlage. Betrachtet man ζ. B. die Erfolge eines Politikers, die Vorzüge einer wissenschaftlichen oder sozialen Tat, caritative oder künstlerische Leistungen, so w i r d man ihnen schwerlich sittliche Bedeutung absprechen wollen, denn sie v e r w i r k l i c h e n

immerhin

moralische Werte, i n d e m sie dem Gemeinwohl, dem Recht u n d der Sicherheit,

der Nächstenliebe

und

der

Schönheit

dienen.

Sie mögen

gewiß

pflichtgemäß „ g u t " sein, aber dennoch bleibt es fraglich, ob man aus diesen objektiven Tatsachen auf Sittlichkeit der Gesinnung schließen darf. Dies wäre erst der Fall, w e n n m i t dem objektiven I n h a l t der Tat zugleich der A u s d r u c k einer Selbstfindung aus der Spontaneität innerer sittlicher D y n a m i k sollensmäßig intendiert u n d vollzogen wäre. A l l e

Handlungen

stellen zwar Ausschnitte einer gesamten moralischen W e l t dar, deren einheitliche Ordnung aber keineswegs allen Menschen gleicherweise erlebnismäßig bewußt w i r d ; ein großer T e i l unter ihnen begnügt sich m i t einem relativen Dualismus, daß es notwendigerweise eben zwei gleichberechtigte sittliche Möglichkeiten geben kann. Eine solche relative Ethik ist zwar bequemer, sie befreit v o n der Last letzter menschlicher Entscheidung, verwischt aber die Tragik, die i n der notwendigen Entscheidung liegt. Menschliches H a n d e l n zeigt also immer nur einen partiellen T e i l dessen, was das Subjekt an sich ist. Das So-sein eines I n d i v i d u u m s setzt sich demnach w i e ein Mosaik aus Fragmenten zusammen. Das Gesamtbild, die Totalität der Person aber ist n u r zu fassen i n ihrer bewegten Lebensströmung. I n bezug auf das Problem der Ethik w ü r d e dies bedeuten, daß auch die Sittlichkeit als autochthone Gesamtheit des k o n t i n u i e r l i c h strömenden Lebensquells sich i n der Linie steten Sollens darstellt. Simmel nennt dies eine „bewegliche A b s o l u t h e i t " u n d bringt diesen Begriff m i t der Goetheschen Auffassung v o n dem „ewigen, beweglichen Gesetze der N a t u r " i n Zusammenhang. D u r c h die Einbeziehung des Sittlichen i n den kontinuierlichen Prozeß des Werdens hat Simmel offenbar versucht, eine Einheit f ü r die Vielheit sittlicher Forderungen zu finden. Diese bewegliche Ethik kann somit nur als fließende Ganzheit i m Vollzug der Person verstanden werden. Der W e r t sittlichen Handelns liegt nicht i m I n h a l t oder Zweck, sondern i n der i n d i v i d u e l l e n Gesinnung des Handelnden. I n dieser Kon5*

68

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten

zeption besteht zwischen Simmeis Auffassung u n d Kants „ g u t e m W i l l e n " eine Gemeinsamkeit; dennoch bleibt i n bezug auf Simmel das Problem ungelöst, da er die Festlegung eines allgemeingültigen sittlichen Gesetzes nicht anerkennt. H i e r wiederholt sich der tragische Grundzug der Simmelschen Philosophie selbst, wonach Leben u n d Form antithetische Pole sind. Sittlichkeit als Leben der Seele u n d Gesetz als feste Form verstanden, lassen das ethische Problem bei Simmel i n eine Sackgasse verlaufen. A l s eine gewisse Rechtfertigung f ü r diese Widersprüche, die man nicht unwidersprochen hinnehmen kann, mag das positive Bemühen Simmeis gewertet werden, der W a h r h e i t so nahe w i e möglich zu kommen, indem er es vermeidet, sich an ein starres Schema zu verlieren, u m dem fieri, das i n die Transzendenz strebt, noch Raum zu lassen. N a c h Simmeis beweglichem Gesetz des Sittlichen gehört dazu auch die Einbeziehung v o n Stimmungen, Gefühlen, ja v o n Flüchtigkeiten, w i e ζ. B. ein gutes W o r t , verständnisvolles Schweigen, ein aufmunternder Blick. O f t ist eine unbedeutende Geste ein Händedruck

Zeichen höherer Sittlichkeit, als je ein M o -

ralprinzip zu formulieren imstande wäre. Das So-sein des menschlichen

Lebewesens erscheint i n seinem Dasein.

Was erkenntnismäßig als Da-seiendes wahrgenommen w i r d , muß somit ein fragmentarisches B i l d des subjektiv menschlichen So-seins zum Ausdruck bringen. D o c h ist letzteres i m H i n b l i c k auf das metaphysische Sein der menschlichen Lebenstotalität Stückwerk. Meiner M e i n u n g nach soll Sittlichkeit als eine virtuelle Seinsqualität verstanden werden, die sich i n jedem Daseinsmoment durch die Chance der Entscheidung werdend realisiert. A l s eine Qualität des Seins ist aber der Bereich des Sittlichen m i t einer i h m immanenten transzendierenden Tendenz versehen, die, der ratio des Subjekts unbewußt, besonders i m Gewissenskonflikt wißbar w i r d u n d sich somit i m i n t u i t i v e n Wissen u m einen Seinslogos i m Sinne des somatischen göttlichen D a i m o n i o n s offenbart. So ist also jedem menschlichen H a n d e l n die doppelt tragische Aufgabe gewiesen, die Forderung der Sittlichkeit i n dem Sinne zu erfüllen, daß sich objektives T u n m i t dem subj e k t i v e n So-sein zu einem wahren sittlichen Sein eine. I n dieser Einigung liegt höchstes menschliches Glück, das allein erstrebenswert ist. D a r u m spricht auch Sokrates i n seinem Gebet an Pan u n d die Götter die folgende Bitte aus: ,,Ο lieber Pan u n d i h r Götter, die i h r sonst hier zugegen seid, verleihet mir, schön zu werden i m Innern, u n d daß, was i c h Äußeres

habe, dem I n n e r n be-

freundet s e i " 1 5 . 15

Piaton: Phaidros, Rowohlt Klassiker, 4. Bd., 1958, S. 60.

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten 6.

Frage nach der Einheit (Gültigkeit u n d Festigkeit)

zwischen den ideellen Forderungen u n d dem empirischen Sein Das empirische Sein macht sich als unser Dasein kenntlich; dieses aber bietet sich i n einer V i e l f a l t von Erscheinungen u n d Erfahrungen dar. Dieser Vielheit gegenüber sieht sich das I n d i v i d u u m i n die Lage versetzt, nach einem einheitlichen M a ß zu suchen. Bei solchem Bemühen, dem wechselvollen, w i l l k ü r l i c h wandelbaren Dasein m i t a l l seinen l e i d v o l l e n Z u f ä l l e n u n d launenhaften Begünstigungen einen Sinn abzugewinnen, haben sich zwei p r i n z i p i e l l e Haltungen herausgebildet, v o n denen jede i n einer t y p i schen Weltanschauung ihren Niederschlag gefunden hat: Pessimismus u n d Optimismus. Der Pessimist teilt das menschliche Dasein i n zwei Rubriken ein, ähnlich einer kaufmännischen Bilanz v o n Soll u n d Haben, u n d stellt dabei fest, daß die Rubrik des Sollens bei weitem nicht der des Habens entspricht. D e m I n h a l t nach entspricht das Haben durchaus nicht den A n forderungen

des Sollens. Demgegenüber steht die optimistische W e l t a n -

schauung, die i n dieser W e l t trotz a l l den W i d e r w ä r t i g k e i t e n des Daseins doch die beste aller möglichen W e l t e n erblickt. Es mag dahingestellt sein, i n w i e w e i t jene beiden Weltaspekte v o n einem bestimmten psychischen Reaktionstypus der Menschen vertreten werden, deren Seele jeweils eine bestimmte A f f i n i t ä t

zur positiven oder negativen Beurteilung der Lebens-

erscheinungen hat. Zwischen diesen extremen Haltungen versucht Simmel einen neuen Standpunkt zu gewinnen, der die Gegensätze i n einer Einheit zu versöhnen trachtet, zumindest aber die M ö g l i c h k e i t einer höheren Einheit als gegeben sieht, i n welcher die Lebensmomente nicht mehr m i t den Plus- u n d Minuszeichen versehen sind. Simmel läßt beide Reihen v o n gegensätzlichen Lebensmomenten bestehen; er gesellt aber dem Leid i n einer fortlaufenden Linie auch das G l ü c k zu u n d läßt i m kontinuierlichen Strom des Lebens die Kategorie des Trostes mitfließen, die w o h l das Leid bestehen läßt, aber zugleich auch die M ö g l i c h k e i t seiner Ü b e r w i n d u n g i n der höheren Erkenntnis des menschlichen Sinnvollzuges i m Sich-stellen zum Leid eröffnet. Somit ist menschliche Tragik bei Simmel nicht etwas, das dem Leben f r e m d oder feindl i c h wäre, es ist vielmehr das Seinsollende der menschlichen Existenz u n d Ausdruck der Totalität des Seins. D a m i t hat Simmel den pessimistischen Radikalismus Schopenhauers überwunden, aber er steht i n weltanschaulicher H i n s i c h t den antiken Tragikern nahe, die i n ihren Tragödien maßloses menschliches Leid darstellen, das bis an die Grenze des Ertragbaren i n ergreifender Klage von den grausamen W u n d e n des Daseins spricht. Formen tragischen Geschickes gibt es heute noch ebenso w i e damals. Empörung u n d Rebellion aber fruchten nichts. Es kommt darauf an, das unfaßbare Leid noch nach menschlichem Maß zu fassen, d. h. i n menschlicher Bescheidung u n d Selbstbesinnung aus der K r a f t der Innerlichkeit

70

Die sittlichen Forderungen und der Konflikt der Pflichten

das Maß zu f i n d e n u n d damit sich selbst m i t menschlichem A d e l zu krönen. I n diesem Sinne gilt bei Simmel die gemessene Haltung angesichts der l e i d v o l l e n Tragik des Lebens als notwendiges, unerläßliches Sollen. Simmel f ü h r t uns durch seine Philosophie i n die Tiefen des Seins u n d enthüllt uns das geheimnisvolle Wissen einer W a h r h e i t , deren W i r k l i c h keit nicht i n der Erfahrung u n d nicht durch die ratio vermittelt werden kann, sondern nur i m Leben selbst sich offenbart. Der Mensch erscheint bestimmend u n d mitbestimmend, sowohl f ü r das Maß seines Leides als auch f ü r die A r t seiner Überwindung. D i e Einheit muß demnach innerhalb der i n d i v i d u e l l e n menschlichen Person gesucht werden u n d nicht außerhalb ihrer. Dieses I n d i v i d u e l l e aber kann nur das echt Menschliche sein, das den allgemeinen G r u n d f ü r echtes Miteinandersein u n d Verständnis bietet. Dies ist der Weg aus der solipsistisehen Isolation, aus der Kontaktlosigkeit u n d gegenseitigen Abgeschlossenheit des Menschen, w i e w i r sie gerade auch heute erfahren. M i t dieser Erkenntnis hat uns Simmel ein bedeutendes Vermächtnis hinterlassen. Eine Philosophie, die solches lehrt, ist keine leere Esoterik u n d verdient es nicht, als eine unzulängliche Philosophie ,,bloßer Impressionen" bezeichnet zu werden, w i e Fabian 1 6 es tut. Simmel versucht auf neuen Wegen, durch seine eigene A r t zu fragen, den Menschen über sich selbst zum Q u e l l letzter Dinge zu führen. Sein Philosophieren wurde u n d w i r d durch die Zeit bestätigt.

16 Fabian, Wilhelm: Kritik der Lebensphilosophie Georg Simmeis, .Breslau 1926. Dieser Kritik, eine Art „polemischen Vorspiels" nach W. Fabians eigenen Worten, fehlt m. E. vor allem ein objektiver Standpunkt, der die Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Kritik sein muß. A n den wenigen Stellen, da eine Kritik Simmeis berechtigt wäre, wird durch die intolerante Art des Argumentierens eher der Eindruck erweckt, Fabian streite in eigener Sache als im Interesse objektiver Wissenschaftlichkeit.

IV. Wertkriterien 1.

Sehnsucht des Geistes nach einer ü b e r i n d i v i d u e l l e n W e r t w e l t

A l s Faust i m Begriffe ist, den B u n d m i t dem Teufel zu schließen, treffen die beiden Partner eine Abmachung, deren Bedingung merkwürdigerweise der schlaue, listige Satan nicht zu durchschauen scheint, denn sonst hätte er dem Pakt w o h l niemals zugestimmt. Faust verschreibt sich dem Bösen unter dem Vorbehalt: ,,Werd' i c h zum Augenblicke sagen: Verweile doch! d u bist so schön, . . . D a n n magst d u m i c h i n Fesseln schlagen . . , " 1 Dahinter steckt mehr als ein Trick oder eine List. D i e drei Verszeilen b i l d e n den A n g e l p u n k t des gesamten Dramas, denn sie haben eine tiefere Bedeutung als die, den Teufel zu überlisten. Satan ist nicht v o n dieser W e l t , er ist das personifizierte böse Prinzip u n d gehört einer anderen Sphäre an, i n welcher die U n - O r d n u n g u n d chaotische Gesetzlosigkeit herrscht. Faust aber ist ein Mensch u n d i n dieser Seinsform erlebt er sich i n der Bedrängnis existentieller Sehnsucht, die, solange er lebendig ist, i n i h m w i r k e n u n d leben, seine menschliche Qualität charakterisieren u n d begründen u n d dadurch seine Seele v o r dem Sieg des Bösen bewahren w i r d . Niemals kann dieses sehnsüchtige Wesen zum Augenblicke sagen, er möge verweilen, denn das würde besagen, daß i n diesem betreffenden Moment der Stillstand aller Sehnsüchte bewirkt wäre, u n d Stillstand ist das Ende alles Lebendigen, das Dauer braucht. Stillstand löscht auch die Zeit aus. Der W e r t des Daseins aber kann nur i n einem K o n t i n u u m ersehnt werden, d a r i n liegt die Chance des Menschen u n d der W e r t des Lebens, daß es eben seinem innersten Wesen nach Unruhe ist. D a aber die geistige Sehnsucht des menschlichen Lebewesens nicht durch Erfüllung von Eigensüchten gestillt werden kann, da sie geistig, also unbegrenzt ist, w i r d das m i t diesem Cachet versehene Lebewesen zugleich m i t unendlichem Leiden beschattet sein. D i e Sehnsüchte des naturalen Lebewesens sind stillbar, da sie als Getriebenheiten innerhalb der Grenzen des A r t wesens auftreten u n d i n demselben Raum i h r Z i e l haben. Geistige Sehnsucht dagegen entspringt einem über-naturalen Bereich, der nur der freien geistigen Person offensteht. Diese geistige W e l t kennt keine Zielsetzungen i m ü b l i c h e n pragmatischen Sinne, sie e r f ü l l t die v o n i h r Gezeichneten m i t 1

1706.

Goethe: Faust L Festausgabe 5. Band, Leipzig 1826-1926, S. 109, V. 1699 ff.,

72

Wertkriterien

gläubigem Vertrauen, daß dem, der ,,immer strebend sich b e m ü h t " , die Erlösung durch die V e r w i r k l i c h u n g i n einer transzendenten W e l t zuteil werden w i r d . Sofern aber Sucht nach materieller Erfüllung statt Sehnsucht nach W e r t u n d Sinn den W e g bestimmt, ist die Gefahr gegeben, daß der Mensch ,,in Fesseln geschlagen", seiner Freiheit depraviert, als un-menschliches Wesen Sinn u n d W e r t des Daseins verwirkt. ,,Die U h r mag steh'n, die Zeiger fallen, es sei die Zeit f ü r m i c h v o r b e i ! " Dies ist die Verdeutlichung der oben dargelegten philosophischen Gedanken i n poetischem Kleide. Aus den vorhergehenden Ausführungen soll ersichtlich werden, daß wie bei Bergson die ,,durée", bei Blondel die „schöpferische A k t i v i t ä t " , bei Simmel der Wert des Lebens i n einer transzendierenden D y n a m i k gesehen w i r d . Simmel ist aber nicht bei dem Dynamismus stehengeblieben, u n d wenn er auch keine Wertskalen m i t festen Zielspitzen u n d Wertstufen angeben konnte (in konsequenter D u r c h f ü h r u n g seiner Philosophie des W e r dens), so erblickt er dennoch den W e r t alles Drängens u n d Strebens i n einem „ M e h r " , das als ü b e r i n d i v i d u e l l e r „ D r i t t e r Bereich" der Werte das I n d i v i d u u m aus dem freien Subjektraum über sich hinauszuführen vermag. Dies f ü h r t nicht nur zur Erfassung des eigenen Wesensgrundes, sondern bedeutet zugleich auch liebende Begegnung m i t dem, was mehr ist als Ich, m i t dem Anderen. I n dieser Linie liegt w o h l der v o n Simmel gemeinte W e r t , das „ M e h r " , auch w e n n er es nicht näher u n d präziser definiert. Es kann daher kaum bestritten werden, daß selbst i n einer Philosophie des strömenden Lebens bindende Richtungsweiser auf einen werthaften Werdensvollzug gegeben sind, indem der W e r t i m I n d i v i d u u m gesehen w i r d , das aus der K r a f t seines eigenen I c h zu der Persönlichkeit w i r d , die - zur Verantwortlichkeit aufgerufen - sich i n Freiheit sittliche N o r m e n geben kann. A l l e r d i n g s stellt eine solche Wertkonzeption weit größere Anforderungen an das menschliche I n d i v i d u u m , denn zur W e r t f i n d u n g u n d Selbstfindung gehören Bescheidung u n d M u t . Der Mensch muß sich vor dem . „ M e h r " einerseits tapfer zu bescheiden wissen u n d andererseits v o l l Vertrauen das zu ergreifen versuchen, was er zur V o l l e n d u n g seiner ideellen Seinsgestalt als unerläßlichen W e r t erfährt. 2.

Dualismus: bonum - malum

I n zahllosen Kosmogonien, M y t h e n u n d Theogonien vieler Rassen u n d V ö l k e r tritt ein Grundthema zutage, das zu allen Zeiten die Menschen zum Nachdenken veranlaßt hat. D i e Grunderfahrung v o n Gut u n d Böse, durch die das menschliche Dasein i m ganzen genommen beherrscht w i r d , tritt bald i n der Form personifizierter Lichtgottheiten u n d v o n Dämonen des D u n k l e n auf oder i n Geschöpfen, die m i t den Mächten der Finsternis, den T e u f e l n oder Todesgöttern, ihren ewigen K a m p f auszutragen haben.

Wertkriterien Ein kosmischer Antagonismus tut sich darin kund, der bei Empedokles durch Kräfte w i e Haß u n d Liebe die Grundelemente des Seins darstellt. Seit Aristoteles u n d Plato haben sich fast alle Philosopheme auf irgendeine Weise diesem Problem gewidmet, wenn auch nicht immer so grundsätzlich, w i e es bei Thomas v o n A q u i n u n d andererseits bei Jakob Böhme zu f i n d e n ist. I n der Scholastik war das Problem besonders m i t

dem

theologischen Interesse v e r k n ü p f t , m i t der Frage nach dem Ü b e l i n der W e l t i m Zusammenhang m i t der Existenz Gottes. Es ist klar, daß i m absoluten Gottesbegriff der Scholastik die Person Gottes Ausdruck des höchsten Seins war. Demzufolge konnte diesem höchsten, einheitlichen Sein Gottes nur das A t t r i b u t des Guten zukommen. Das führte zu der Aufstellung des A x i o m s o m n e ens est bonum. V o n hier aus soll n u n der Versuch unternommen werden, dieses alte philosophische Problem i m Zusammenhang m i t der Lebensphilosophie unter besonderer Beachtung der Simmelschen Konzeption zu erhellen. Bei der W e i t e des Problems soll die Erörterung sich hauptsächlich auf die dem Thema dieses Kapitels geltenden Wertauffassungen beschränken. Innerhalb der Lebensphilosophie w i r d das Leben - besonders bei Simmel als A b s o l u t u m gesetzt. D a r u m kommt i h m als absolutes Sein das A t t r i b u t des scholastischen A x i o m s zu: das bonum. Dennoch ist damit die Frage nach dem Übel, dem Bösen nicht gelöst u n d bedarf einer Stellungnahme. W e n n das Absolute ein bonum ist, dann kann es nicht zugleich das Böse als ein selbständiges, i h m entgegenstehendes Prinzip enthalten,· das Böse könnte lediglich als Defizienz aufgefaßt werden, das innerhalb der Erscheinung der W e l t zutage tritt. Gut u n d Böse sind nur jeweilige Qualitäten, die i n den Formen des kreatürlichen So-seins ihren Niederschlag f i n den. I m U r g r u n d des Seins aber ruhen sie gleichsam als Velleitäten u n d Möglichkeiten des absoluten Lebens, dessen D y n a m i k des k o n t i n u i e r l i c h e n Werdens die M ö g l i c h k e i t besitzt, i n jedem M o m e n t unter dem Zeichen des Guten oder des Bösen existent zu werden. A b e r aufgrund der Schaffenspotenz des Lebendigen ist die M ö g l i c h k e i t gegeben, das ü b e l i n ein bonum zu wenden. Das Böse muß daher eher als Privation des ens bonum aufgefaßt werden. D i e sich hieraus ergebende Weltanschauung einer antithetischen D i a l e k t i k 2 bildet bei Simmel den Grundzug seines Lebensdynamismus. D a die antithetischen Glieder i n einem fließenden Prozeß sich vollziehen, fehlt das Bindeglied, das die entscheidende Synthese schafft. D a r i n kann man einen schwachen Punkt i n der Simmelschen Philosophie sehen, jedoch möchte ich dazu bemerken, daß gerade dieses fehlende 2 Beim Vergleich mit Hegels Dialektik erweist es sich, daß bei diesem Philosophen Thesis und Antithesis in der Synthesis aufgehoben werden. Simmeis Dialektik dagegen läßt die Gegensätze in ihrer tragischen Polarität bestehen,· Thesis und Antithesis werden lediglich von dem „Dritten" als der Synthesis umklammert.

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Wertkriterien

Bindeglied durch den Sollensakt des I n d i v i d u u m s i m Sinne einer existentiellen Seinsentscheidung jeweils zu schaffen gefordert w i r d . D i e Spontaneität, m i t welcher sich das Böse aus dem Lebensstrom aktualisieren kann, hat ihren Sitz i m dynamischen Getriebe der menschlichen Subjektivität u n d ist A u s d r u c k des freien W i l l e n s . Ein selbständiges, außerhalb des Lebens stehendes Prinzip des Bösen würde die menschliche Freiheit i n Frage stellen u n d das I n d i v i d u u m v o n der Selbstverantwortung entbinden. Dadurch, daß der Mensch m i t freiem W i l l e n bedacht ist, w i r d i h m die Bürde der selbstverantwortlichen Seinsbegründung als Preis f ü r seine Freiheit aufgegeben. Bei Sartre erscheint der Mensch deshalb ,,zur Freiheit v e r d a m m t " . Simmel aber deutet diese Position des Menschen als existentiell tragische Situation, die zur Bewährung des echt Menschlichen führen soll. A l l e r d i n g s muß zugegeben werden, daß Simmel w o h l kaum die Möglichkeit der totalen Seinsverfehlung i n Betracht gezogen hat, was aber eine pessimistische Interpretation seiner Konzeption durchaus zulassen würde. Diese Seinsverfehlung läge dann vor, w e n n durch den M i ß brauch des freien W i l l e n s der Mensch würdelos w i r d u n d sich nicht dem Sein nähert, sondern - aus dem Sein herausbrechend - i n die A n o n y mität des Nicht-seins, also aus der O r d n u n g i n das leere Chaos fällt. Simmel hat diesen Gedanken als radikale Konsequenz von Sein u n d N i c h t sein außer Betracht gelassen. G r u n d dafür dürfte die von Leibniz beeinflußte Überlegung sein, daß jedes Geschöpf, so vor allem natürlich der Mensch, ein Spiegel des ewigen Seins ist, das i n i h m entelechial w i r k t . I n die Totalität des Lebens einbezogen, gelten Gut u n d Böse als Glieder einer Summe, als Einzelheiten u n d als aus dem Lebenskontinuum herausgelöste ,,entvitalisierte" Begriffe, (denen allenfalls e i n , , N o c h - n i c h t " auf dem jWege zum absoluten Sein zukommt. ,,Darum soll aber nicht etwa das Leben i n ein wertindifferentes Jenseits von Gut u n d Böse gestellt werden. Aber das Wesen der Werte v o m Leben her gesehen ist n u n ein ganz anderes, als wenn sie an seine Auskristallisierungen geheftet s i n d " 3 . Simmel leugnet also nicht die Werte, die dem Leben Sinn verleihen. W e n n er sich auch nicht genauer über das W e r t p r o b l e m ausspricht, so soll hier doch i n deduktiver Methode dem nachgegangen werden, was, innerhalb der Simmelschen Philosophie verbleibend, als W e r t anzusprechen ist. Zunächst ließe sich allgemein feststellen, daß alles, was dem Leben, seiner Förderung u n d Höherentwicklung, seiner Einheit dient, gut u n d w e r t v o l l ist. Das wäre eine D e f i n i t i o n nach pragmatischem Sinne, wie Simmel i n seiner früheren Periode - W i l l i a m James vorwegnehmend argumentierte. I n seiner letzten Phase philosophischen Denkens, die als W e n d e zur Metaphysik zu verstehen ist, dürfte i h m eine pragmatische Wertsetzung nicht mehr genügt haben. Der metaphysische Lebensbegriff 3

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 20.

Wertkriterien

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Simmeis erfordert Wertqualitäten i m Sinne eines geistigen Wertreiches, w i e es M a x Scheler i n seiner W e r t e t h i k darlegt. Lebenswerte, durch die das menschliche Dasein zu sinnvoller Existenz w i r d , lassen sich nur i m jeweils i n d i v i d u e l l - s i t t l i c h e n A k t der Person verwirklichen. Das menschliche Lebewesen kann nur durch Stellungnahme u n d mutigen Einsatz unter freier Übernahme selbst eines tragischen Risikos der Bedrohung eines wertleeren Daseins entgehen. Sich-stellen bedeutet seinsmäßige Entscheidung zum Sein. D a m i t ergeht an den Menschen der A u f r u f zur A k t i v i t ä t , zu tätigem H a n d e l n durch die sittliche Tat. Daß Fichte die Trägheit f ü r das radikale Böse des Menschen hält, liegt ganz i n diesem Sinne: ,,denn die Starrheit erscheint m i r immer mehr die entscheidende Negation unseres Lebenswertes" 4 . D i e Trägheit des Herzens ist es also, die den M e n schen v o m wahren Menschsein trennt u n d i h n i n eine künstliche A k t i v i tät einer maschinellen Betriebsamkeit u n d eines Automatismus drängt, der jeden Eros des menschlichen Miteinanderseins zerstört u n d die Menschen i n beziehungslose, sich fremde Singularitäten isoliert. 3.

D i e Ausweglosigkeit der sittlichen Lage

D i e Tragik, die i n der Unzulänglichkeit menschlichen Handelns liegt, rührt v o n der Erfahrung her, den sittlichen Forderungen nie ganz genügen zu können. Für die ganz i n d i v i d u e l l e Schicksalsbedingung einer ethischen Situation scheint manchmal das i n h a l t l i c h f i x i e r t e Handlungsgebot einen unerträglichen Zwang, eine Härte mitzubringen, die mehr als Unrecht denn als seinsollende gerechte Forderung erlebt w i r d : summum ius summa iniuria. Der subjektive W e r t ist m i t der objektiv geforderten H a n d l u n g nicht oder nicht ganz i n Übereinstimmung zu bringen. Z u w e i l e n erfährt das Wertbewußtsein des Menschen die als sittlich anerkannten Inhalte als fremde Abstraktionen, es wendet sich gegen diese vor allem dann, w e n n sie durch äußere Einflüsse (Mißbrauch, Heuchelei, W i l l k ü r u n d Gewalt) fragwürdig, ja sinnleer geworden zu sein scheinen. Wertungen sind somit — w i e jede andere Form - dem W a n d e l unterworfen, w e n n man sie i n dem teleologischen Zweckbereich zu M i t t e l n erniedrigt. M a n w i r d zugeben müssen, daß ζ. B. die Heldenauffassung eine entscheidende W a n d lung erfahren hat, was sich i n der Literatur schon seit Ende des 19. Jahrhunderts durch das Fehlen der zentralen H e l d e n f i g u r bemerkbar machte. W e n n die heutige Jugend vor allem Skepsis u n d Mißtrauen f ü r ehemalige Wertauffassungen hegt, dann w i r d m i t aller Deutlichkeit klar, daß ein tiefgreifender W a n d e l die Struktur dieser Begriffe verändert hat. Dabei sind sie keineswegs wertlos geworden, sie sind vielmehr fragwürdig i n bezug auf den an ihnen gefühlten Sollenswert - was zum T e i l auch soziologisch bedingt ist. Solche veränderten, sinnleer gewordenen Begriffe haben 4

Simmel: Fragmente und Aufsätze, S. 13.

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Wertkriterien

i n der Vergangenheit zahlreiche Menschen vor die tragische W a h l gestellt, die wahren Werte des echt menschlichen Mutes i n der Treue zu sich u n d ihrem Sollensruf zu beweisen, i n d e m sie sich f r e i w i l l i g unter das tragische Gesetz eines transzendentalen Logos stellten. Simmel hat dieses Problem i n seinem nachgelassenen W e r k „Fragmente u n d Aufsätze" nur andeutungsweise skizziert, aber dessen philosophischer Gehalt ist durch die Tatsächlichkeiten einer Ä r a , die Simmel nicht mehr erleben mußte, bestätigt worden. Dies zeigt wiederum, daß die Gegenwart erst durch das Studium der Vergangenheit verständlich u n d begriffen werden kann. D a r u m darf Simmeis philosophisches Fragen f ü r die existentiellen Probleme der Gegenwart als sinnerhellend u n d zeitnah gelten, was Simmel zu seiner Zeit oft als „ m o d e r n " bezeichnet hat. Grundsätzlich, d. h. existentiell ist die sittliche Lage des Menschen durch Tragik gekennzeichnet. W i e schon früher dargelegt, stehen Ordnungen gegen Ordnungen, Pflichten stehen gegeneinander u n d verpflichten doch i n gleicher Weise. D i e objektiven Werte der W e l t u n d die subjektiven des I n d i v i d u u m s stellen ohne Einschränkung ihre Forderungen nach Realisierung, u n d der Versuch, durch Abwägung das Übergewicht eines Wertes nach Zweckmäßigkeit, N ü t z l i c h k e i t oder sogenannter Vernünftigkeit ermitteln zu wollen, muß unbefriedigend u n d unzureichend ausfallen, w e i l ja dennoch auf der anderen Seite ein nicht erfülltes Sollen seine Forderung aufrechthält. Zuweilen erleben w i r sogar, daß die mahnende Stimme unerfüllter sittlicher Pflichten m i t u m so größerer imperativer u n d kategorischer Insistenz uns heimsucht, je eher w i r geneigt sind anzunehmen, w i r hätten uns „ v e r nünftigerweise" f ü r die objektiv kleinere Pflichtversäumnis entschieden. I m sittlichen Bereich der W e r t e gilt nicht der objektive Effekt, der Erfolg oder das größere N u t z q u a n t u m der größtmöglichen Zahl, sondern allein die metaphysische, wahre Qualität des subjektiv-seelischen Seins der handelnden Person. D i e existentielle W i r k l i c h k e i t ist dadurch auffindbar, daß das menschliche Lebewesen sehnsüchtig a u f das Höhere gerichtet ist, das bei Simmel als „ M e h r " jedes jetzige M o m e n t überwölbt. Der wertbewußte Mensch w i r d daher stets an einem Ungenügen leiden, wogegen das wertindifferente, wertblinde Lebewesen v o n solcher existentiellen Tragik nicht genötigt w i r d . Unruhe, verursacht durch Reste unerfüllter Sollensansprüche, ist A u s d r u c k lebendiger Geistigkeit, u n d diese U n r u h e des Herzens ist das tragische M a ß des Menschseins u n d sein metaphysisches Schicksal. Das Scheitern am P f l i c h t e n k o n f l i k t ist existentielle Notwendigkeit m i t Freiheit, da der Mensch durch seine kosmischc Stellung dem determinierten Reich naturaler Notwendigkeit u n d dem unendlichen geistigen Raum subjektiver Freiheit angehört. Entscheidet er sich n u r f ü r die Sicherheit i n der determinierten Naturalordnung, dann verfällt er der Gefahr, den geistigen Raum seiner Freiheit leer u n d u n e r f ü l l t zu lassen, was zur Folge hätte, damit seine menschliche Seinsmöglichkeit v e r w i r k t zu haben. D i e existentielle

Wertkriterien Tragik des Menschen liegt darin begründet, daß er bei a l l seinem H a n d e l n stets i n der M ö g l i c h k e i t des Schuldigwerdens steht. Diese existentielle „ S c h u l d " kann nicht philosophisch weiter erfaßt werden; hier öffnet sich das Tor kontemplativer Spekulation über Tod, Erlösung u n d Unsterblichkeit. „ D i e s e n Rest zu begleichen, ist Sache des Glaubens, der Gnade. Er zeichnet die Grenze, an der, jenseits des Gebietes der Philosophie, die Quellen der Religion entspringen" 5 .

5

Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, S. 177.

V. Tragik: Metaphysische Kategorie 1.

Tragik als M ö g l i c h k e i t der Freiheit

Der letzte Abschnitt dieser Arbeit soll die i n den vorhergehenden p i t e l n entwickelte existentielle Tragik des Menschen, w i e sie auf dem den der Philosophie Simmeis erwächst, i n Zusammenfassung der daraus ergebenden metaphysischen Probleme bezüglich der Thematik Tragischen ergänzend abschließen.

KaBosich des

D i e Überlegungen über die dem P f l i c h t e n k o n f l i k t immanente Tragik leiten unmittelbar zum Thema dieses Kapitels hin. Es war die Rede v o n N o t wendigkeit u n d Freiheit, ferner v o n zwei korrelativ aufeinander verwiesenen Bereichen. I n dem einen herrscht Notwendigkeit, i m anderen Freiheit; beide aber müssen keine Gegensätze sein. I n der jeweiligen Gegenwart w i r d eine bloß naturale Notwendigkeit bewußt als Bedingung der Freiheit. Eine solche Präsenz erlebt der Mensch als Einheit v o n Gegebenheit u n d Idee, anders ausgedrückt: v o n N a t u r u n d Geist. Notwendigkeit bedeutet Determination, die aber ihre Grenze haben kann, w e n n i m tragischen M o m e n t sich der Umschlag zur Freiheit, zur Transzendenz des Geistes vollzieht. Tragik ist somit m. E. die Befreiung aus der naturalen Begrenzung i n die Bindung des Geistes. Innerhalb der menschlichen A r t determination gilt zwar N o t w e n d i g k e i t als Zwang, i m Bereich der verantwortungsbewußten Person aber w i r d sie als transzendent-metaphysische Grenze erkannt, m i t wert- u n d sinnschaffenden M ö g l i c h k e i t e n den Weg i n die Freiheit weisend. ,,Und der Gedanke leuchtet uns auf, ob der letzte Sinn unserer Freiheit n i c h t der ist, uns i n sein sollender Weise zu b i n d e n " 1 . Es soll damit klar werden, daß Freiheit u n d Notwendigkeit n i c h t als sich ausschließende Gegensätze, sondern als Korrelate des geistigen Logos zu gelten haben. Der bei Simmel durchgehend erwähnte Begriff des , , M e h r " deutet auf diesen Logos hin, der auch m i t jenem metaphysischen Begriff des „ D r i t t e n Bereiches" die transzendente geistige O r d n u n g meint. Der Gegensatz der Freiheit ist n i c h t so sehr i m Zwang (als vielmehr i m u t i l i taristischen Zweck) zu sehen, wie Simmel angibt. Tatsächlich w i r d i m praktischen Leben der Mensch sein T u n u n d H a n d e l n zunächst durch Vernunftmotive, Konventionszugeständnisse, Nutzeffekte u n d Zweckmäßigkeit leiten lassen. D a aber jedes geistig mündige I n d i v i d u u m i n sich deutlich die M ö g l i c h k e i t eines W i l l e n s spürt, der i h m freies Entscheiden sichert, 1

Wenzl, Aloys: Philosophie der Freiheit, München 1947, S. 19.

Tragik: Metaphysische Kategorie

79

kann dieser W i l l e n u r A u s d r u c k seiner persönlichen Freiheit sein, die jedem Menschen als Spielraum seines geistigen

Wuchses gegeben ist. So-

bald das menschliche Lebewesen v o m Zweck als Zwang spricht, hat es damit die innere Qualität seines freien W i l l e n s geleugnet. H i e r d u r c h ist aber die entscheidende menschliche Seinswirklichkeit mitgeleugnet, denn die Existenzform des Menschen ist die einzige, die sich der .vital-teleologischen Zwecke entwinden k a n n d u r c h den freien W i l l e n s a k t eines unabhängigen Geistes. Zwang durch Zweck ist n i c h t anders denn als menschliche „Feigh e i t " zu verstehen u n d soll dazu dienen, dem Menschen zur Entschuldigung u n d Rechtfertigung vor sich u n d der als beschämend erlebten Seinsinsuffizienz zu verhelfen. M a c h t man aber m i t dem Begriff des „ Z w a n g e s " ernsthaft den Versuch, schuldhaftes H a n d e l n des Menschen zu erklären, dann ist jede Diskussion über Freiheit illusorisch, denn w e n n

solcher

Zwang herrscht, dann gibt es nur die M ö g l i c h k e i t der Selbstverleugnung u n d Selbstaufgabe; dies wäre aber das totale Scheitern am personalen Menschsein, an der existentiellen Aufgabe des Menschen i m Dasein. D u r c h das Sich-stellen zum freien W i l l e n nehme i c h meine Freiheit wahr, u n d nur so kann i c h real werden. Zweckintensionen, die das menschliche Lebewesen f u n k t i o n a l i n ihren Dienst nehmen, sind Naturabläufe, die aber jvom Bereich des Geistes ermächtigt u n d überragt werden sollen. Diese Problemverknüpfung v o n Freiheit u n d Notwendigkeit beruht eigentlich auf einer Verquickung verschiedener Ebenen, wobei Notwendigkeit v o n der psychologischen, d. h. praktisch empirischen, Freiheit von der anthropologischen Ebene begriffen zu werden pflegt. D i e psychologische Seite w i r d v o m lebenden Subjekt realer empfunden als das rein ideal erfaßte Problem der Freiheit, das i n der Lebenspraxis i n der Sehnsucht bewußt, aber nicht so leicht erfahrbar w i r d w i e die vermeintliche N o t w e n digkeit. U n d doch ruht i n diesem konkreten Notwendigen der Funke metaphysischer W i r k l i c h k e i t , die tatsächlich Freiheit ermöglicht, sobald sie aus dem geistigen Bereich freier Spontaneität gewollt w i r d . Was n u n das menschliche Frei-sein anbelangt, muß dabei ein Doppeltes beachtet werden, das an sich das Problem erst schwierig macht. Es ist a) die personale Freiheit des I n d i v i d u u m s , seine innere Unabhängigkeit u n d b) die Freiheit der Anderen, die es vielleicht unerläßlich macht, die eigene Freiheit zu beschränken. Dies hat aber echte innere Freiheit zur Voraussetzung. „ D a n n w i r d die Freiheit des Menschseins der Kern aller seiner Möglichkeiten i n der Führung durch die Transzendenz, durch das Eine zu seiner eigenen E i n h e i t " 2 . Somit k a n n Freiheit nur i n der Einheit des menschlichen Seins als A u s d r u c k einer Transzendenz begründet liegen, denn sie stellt ein Werterlebnis innerhalb des i n d i v i d u e l l e n Lebens dar, das dem menschlichen Lebewesen die Ganzheit des Daseins zum Bewußtsein bringt. I n dem 2

Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube, S. 63.

80

Tragik: Metaphysische Kategorie

korrespondierenden Erlebnis von Ganzheit u n d Einheit gelangt die i n d i viduelle

Seinsgestalt

des

Menschen

erst

zur

realen

Existenz.

Dieses

Existentwerden aber ist m i t einem Wagnis verbunden, das w i e d e r u m unerläßliche

Bedingung der Freiheit ist. Der entscheidende Weg zur Freiheit

f ü h r t demnach durch das Wagnis der W a h l , u n d damit vollzieht sich i m Augenblick der Entscheidung der W e r t des Frei-seins u n d zugleich w i r d die geistige Person offenbar. ,,Die v o r z ü g l i c h e n Menschen' aber vollziehen oder erkennen die Einheit

des f ü r das Leben Erforderlichen u n d des

an sich W e r t v o l l e n ; denn sie stehen gleichsam an dem W u r z e l p u n k t , an dem die Lebenswirklichkeit u n d der Lebenswert sich noch nicht getrennt haben, u n d darum ergreifen sie i n allen Entfaltungen des Lebens das ,Unerläßliche', sichert

-

d . h . dasjenige, was seinen Bestand überhaupt u n d

zentral

u n d nicht etwa seinen schönen Luxus oder das v o n anderen

Kategorien Wünschenswerte

-

als ,das Beste' " 3 . W e r jedoch v o m natu-

ralen Z w e c k - M i t t e l - A u t o m a t i s m u s des Daseins determiniert ist, kann nicht wagen, w i r d nie die Konsequenz seines Menschseins i n der Freiheit kennenlernen. Diese menschliche Insuffizienz ist A u s d r u c k innerer

Gesetz-

losigkeit, insofern als j a Freiheit unerläßliche Bindung durch Werte bedeutel. N i m m t man von hier aus Bezug auf die Sollenskategorie bei Simmel, dann ergibt sich bei solcher Betrachtung, daß der Mensch d u r c h (das Sollen einen A n r u f erfährt, der f ü r i h n nur i n dem Maße b i n d e n d ist, i n dem er Freiheit besitzt. Zieht man i n Betracht, daß Simmel durch die Realität des Tatsächl i c h e n angeregt, daran seine tiefschürfenden A n a l y s e n k n ü p f t u n d auf diese Weise w e i t getrennte Gegensätze i n einer Einheit zu denken versucht, so könnte man sein gesamtes Philosophieren einen einzigen großen Versuch nennen. Seine Metaphysik gleicht dem künstlerischen A u s d r u c k v o n H e l l - D u n k e l u n d ließe sich als mystischer Realismus bezeichnen. Seine Metaphysik soll eine W e l t d e u t u n g ermöglichen, i n der das Zusammensein aller Gegensätze i n einer Seins-Ganzheit mündet. W e l c h e m Gegenstand auch immer Simmeis Denken sich zuwendet, stets t r i f f t man auf eine A p o r e t i k , die i m allumfassenden Lebensbegriff i m Sinne einer analogia entis zur Ruhe kommt. Simmel spürt an jedem Ding, i n jedem M o m e n t die M ö g l i c h k e i t zur transzendierenden Synthese m i t seinem Gegensatz. Leider bringt diese Metaphysik des M ö g l i c h e n einen relativistischen Zug i n Simmeis Philosophie, doch äußert er sich i n einem Brief an H e i n r i c h Rickert darüber, i n d e m er erklärt, daß er gerade auf eine unendliche Relativität als positives metaphysisches W e l t b i l d hinziele, das m i t Skeptizismus ebensowenig zu t u n habe w i e etwa der physikalische Relativismus Einsteins 4 . 3 4

Logos, Bd. I I I , 1912, S. 23 (Simmel: Die Wahrheit und das Individuum). Gassen-Landmann: Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin 1958, S. 119.

Tragik: Metaphysische Kategorie Das Unfaßhare, Unzugängliche des Lebens, das scheinbar

81 Unsubstan-

tielle seiner werdend-vergänglichen Inhalte u n d Formen hat dennoch eine M i t t e u n d ein Ganzes, dessen letzter Sinn u n d W e r t i m geistigen Leben zu suchen ist, dessen letzter Z i e l p u n k t jedoch v o n Simmel

unbenannt

bleibt. 2.

D i e Qualität der geistigen Person

Simmeis philosophisches Fragen kreist stets u m die Begriffe v o n Einheit u n d Vielheit. D i e Fülle der Erscheinungen veranlaßt ihn, nach dem U r grund jenes Pluralismus zu forschen, der die W e l t i n ein paradoxes, verwirrendes Netz von gegenseitig verknüpften, konvergierenden, sich ergänzenden u n d widersprechenden Tatsächlichkeiten verwebt, darin der Mensch gefangen ist u n d w i e ein verirrtes Wesen einer anderen W e l t sehnsüchtig suchend d u r c h die „ M a s c h e n " der Dinge zum Licht der A l l - E i n h e i t des Seins drängt. I n der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, i m ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, war dieses Netzwerk entscheidend durch die aufstrebende Massengesellschaft des fortschrittsfreudigen Industrialismus u n d der sozialen Problematik gekennzeichnet. Innerhalb der Gesellschaft drohen i n d i v i duelle W e r t e verlorenzugehen; ausschlaggebend w i r d i n zunehmendem Maße das Quantum: an Material, Menschen, Erfolg, Zweck, Nutzen. D a lenkt Simmel seine Aufmerksamkeit der menschlichen Person zu, dem I n d i v i d u u m , das unauswechselbar u n d einmalig ist, v o n dem gefordert w i r d : „Sei, was der A n d e r e n i c h t ist, was ausschließlich du sein kannst, w e i l die absolute, reale w i e ideelle Struktur des Seins auf dem Fürsichsein u n d der Einzigkeit i n d i v i d u e l l e r Wesen . . . beruhe" 5 . M i t dieser Forderung ist aber zugleich das tragische Schicksal der i n d i v i d u e l l e n Person umrissen, denn die Masse schätzt nicht den Wert, der sich i n der Qualität der Person realisiert. A b e r gerade das Personsein ist nur dem Menschen möglich u n d grundlegendes M e r k m a l seiner bevorzugten Stellung i m Kosmos. W i e alle großen Geister i n t u i t i v e r Schau hat Simmel damit z u k u n f t deutend ein Thema angeschlagen, das f ü r uns heute noch die gleiche Problematik besitzt. D i e gesellschaftliche Entwicklung hat zu einem merkant i l istischen Industriemechanismus v o n weltumspannender Bedeutung geführt, dessen Ausmaß Simmel nicht ahnen konnte. Seine Überlegungen v o n damals aber, die die Bedeutung der menschlichen Person betonen, erweisen sich auch heute noch als gültig. D i e menschliche Person ist ein Paradoxon,· sie hebt sich durch ihre Qualität v o n der Masse ab, sticht hervor u n d w i r d zum Reizzentrum i n positivem u n d negativem Sinne, d . h . die Masse braucht sie u n d lehnt sie 5

Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, S. 161.

6 Bauer

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Tragik: Metaphysische Kategorie

zugleich ab. Daraus ergibt sich ein doppeltes Selektionsprinzip, dem einerseits ein Bedürfnis nach gesellschaftsformenden Personen u n d andererseits ein W i d e r s t a n d gegen sie zugrunde liegt. D i e geistige Person steht jenseits bzw. über jenem Utilisationsprinzip der Masse, w e i l sie v o n unauswechselbarer Prägung u n d i m Innersten lebendig ist, was nach Simmeis A u f f a s sung i n der „ A t t i t ü d e " wahrzunehmen ist. A t t i t ü d e aber bedeutet eigene Stellungnahme u n d ist das Gegenteil v o n Indifferenz, denn diese w ü r d e die Menschen verfremden u n d sie v ö l l i g zusammenhanglos machen. Existentielle Einsamkeit aber r u f t wieder zum Miteinandersein, zu einer Solidarität des Menschlichen auf. I n der Einsamkeit der geistigen Person liegt das tragische metaphysische Leid des Fürsich-seins; die Einsamkeit des bloßen Gattungswesens dagegen ist Quelle v o n kreatürlichem Leid. Beide Extreme f ü h r e n zur Auflösung. Das Dasein verlangt aber Ganzheit u n d V e r w i r k l i c h u n g einer Gemeinschaft v o n Personen. Simmel erkennt das tragische Siegel der Person i n der „Einsamkeit des i n d i v i d u e l l e n Lebens", die m i t dem M a ß der Selbstbesinnung wächst, u n d i n dem Bewußtsein jener tiefen Seinsschicht, die das I n d i v i d u u m m i t niemandem teilen kann u n d auch nicht mitteilen kann, i n der es also ganz auf sich verwiesen bleibt. Ein solches unabhängiges, leidbewußtes Leben hat seine eigene Geltung i m Geiste. I n dieser geistigen D y n a m i k bewegt es sich, aus der Sphäre des Rationalen herausgehoben, i n jenem „ D r i t t e n " , das Simmel als Saum des G ö t t l i c h e n berührte, w e n n er dafür auch aus mystischer Ehrfurcht u n d menschlicher Bescheidung keinen Namen mehr zu nennen vermochte. A n diesem Punkte philosophischen Denkens macht Simmel H a l t ; Kant dagegen setzt i n aller Bestimmtheit das Unsterblichkeitspostulat. Das Problem der Person w i r f t meiner M e i n u n g nach zugleich die A u t o r i tätsfrage auf, die eng damit zusammenhängt. Träger der A u t o r i t ä t kann nur die Person sein. Diese aber ist f ü r Simmel ein Mensch, der sich beherrscht nach dem i n sich vorgefundenen personalen Gesetz seines Seins. A l s Repräsentant dieser seinsgesetzlichen Bindung kann er auch f ü r die Allgemeinheit normgebend wirken. D i e W i r k s a m k e i t der A u t o r i t ä t beruht auf einer Korrelation zwischen subjektiver W e r t a u f zeigung u n d objektiver Wertrepräsentation. Das bedeutet, daß i m geistigen Bereich der I n d i v i d u e n zwar v i r t u e l l e Persönlichkeitswerte angelegt sind, die aber aus eigener Kraft, also autonom, n i c h t v o n allen realisiert werden können u n d darum des Vorbildes der Autoritätsperson bedürftig sind, u m sich an ihrem W e r t zu eigener Realisierung zu entzünden. So hebt also die Person absolute menschlich-sittliche Werte ans Licht. Das Geheimnis des Personseins ist demnach an das geistige Sein gebunden, das Sinnerfüllung, aber nicht Z w e c k e r f ü l l u n g bedeutet. D a r u m können auch reine Fach-, d. h. Zweckautoritäten keine echte A u t o r i t ä t s w i r k u n g hervorbringen. Das hat f ü r die Pädagogik die praktische Konsequenz, daß trotz umfassenden Wissens nur

Tragik: Metaphysische Kategorie der

Pädagoge menschenbildende A u t o r i t ä t

für

83

die Jugend darstellt,

in

dem sie geistige Werte v e r w i r k l i c h t sieht, unter deren Erweckung sie sich selbst zur Person w e r d e n f ü h l t . Fachautoritäten werden v o n der Zeitentw i c k l u n g u n d dem Wissensfortschritt überwunden, die A u t o r i t ä t der echt menschlichen Person ist unantastbar u n d zeitlos. D i e gewisse Sonderstellung, die aber eine solche Person innerhalb der Masse einnimmt, hat ein soziologisches Problem zur Folge, das wieder zu der Problematik

der

Elitenbildung h i n f ü h r t , i n dessen Brennpunkt heute vor allem die U n i v e r sitäten u n d Hochschulen stehen. D i e Renaissancedevise „ W i s s e n selbst ist M a c h t " ist doppeldeutig, sie besagt einerseits, daß Wissen etwas Reales, also ein W e r t an sich ist, andererseits, daß es ein M i t t e l zur M a c h t ist. Heute gilt diese Doppeldeutigkeit auch noch, aber der Akzent liegt mehr auf dem Wissen als M i t t e l zur Macht. D i e neue „ W i r t s c h a f t s e l i t e "

mit

ihrem materialistischen Zweckdenken kann aber n u r dann zur repräsentanten, kulturtragenden Elite werden, w e n n sie sich unter die geistige 6 Wertidee der Bildung stellt. Diese hat zum Ziel, i n hohem Maße menschliche Qualitäten u n d Fähigkeiten zu entwickeln, denn nur diese sind k u l turschaffende Kräfte. D i e Formung v o n Eliten vollzieht sich v o r n e h m l i c h unter einer Leitidee, die ein entsprechendes Persönlichkeitsbild anstrebt. Simmel erwähnt als A u s w i r k u n g des Merkantilismus den anwachsenden Strom zu den Universitäten. Seine Ausführungen hierüber sind i n der Gegenwart höchst aktuell. Simmel hat -

w i e bedeutende Denker oft -

eine

E n t w i c k l u n g vorausgeahnt, die noch anhält, an deren Ende ein neues Persönlichkeitsideal stehen w i r d , das Werte i m Sinne der Humanitas

ver-

körpern muß. Simmel hat die Bedeutung u n d die Gefahr seines Zeitalters erkannt, i n d e m er immer wieder i n seinen philosophischen Ausführungen den Begriff der Seele i m Sinne v o n I n n e r l i c h k e i t erwähnt u n d auf die Bedeutung der menschlichen Qualität hinweist, als wollte er vor der drohenden A u f l ö s u n g dieser Begriffe e i n d r i n g l i c h warnen, w e i l m i t dem W e r t des Menschen auch er selbst zugleich verlorenginge. Simmel dürfte ähnlich w i e Scheler -

-

das neue Menschenideal i n der Einheit v o n „ M a c h t

u n d B i l d u n g " gesehen haben, so w i e es i n der A n t i k e v o n Piaton gefordert wurde. 6 Wenzl, Aloys: Philosophie als Weg, Graz 1956, S. 148: „ U n d man scheint über dem erkennenden und wollenden Geist auch die ,Gefühlsseite' des Geistes zu vergessen.· Erkenntnisfreude, Gerechtigkeitsgefühl, Güte und Mitleid, Reue und Scham sind Blüten des Geistes, ,Geistgefühle', die nicht psychoanalytisch ,aus' Naturgefühlen zu erklären, sondern nur metaphysisch zu deuten sind". So verstanden, bedeutet Geist vor allem das Zusammensein von Möglichkeiten der Seele, sich von den Dingen und Ereignissen zu distanzieren, frei, autonom sich zu beherrschen, ferner ein Teilnehmen und Teilhaben an den sittlichen Werten, die Fähigkeit, Werthaftes zu erleben und zu vollziehen, Selbstverantwortung mit selbstkritischer Stellungnahme.

6*

84

Tragik: Metaphysische Kategorie 3.

Tragik als Schicksal

Schicksalsstunden sind Entscheidungsstunden, v o n Tragik

durchwaltet.

Was v o n außen auf den Menschen zukommt u n d i h n als Schicksal t r i f f t , w i r d v o n der Person stets als geistiges, personales, inneres Geschehen erlebt. Das v o m Schicksal heimgesuchte I n d i v i d u u m mag sich noch so sehr gegen das objektive Geschehnis wehren, es kann dieses dennoch nicht abschütteln, w e i l es auf geheimnisvolle Weise seinem Leben verhaftet, sogar an die Eigenheit seines Wesens geknüpft zu sein scheint.

ja

Dem

Schicksalsmoment, das sich aus dem Strom des Lebens als Katastrophenereignis herauslöst, ist der Mensch unverschuldet ausgeliefert,

aber es

zeigt sich bei dem als Schicksal ergriffenen Moment, daß es doch aus dei; i n d i v i d u e l l e n Lebensströmung erstanden ist u n d m i t dieser i n einem gewissen Zusammenhang steht. Der Mensch charakterisiert i n seinem Schicksal sein Verhältnis zum Absoluten. Dieses Verhältnis kann i n einer kämpfenden oder duldenden H a l t u n g zum A u s d r u c k gebracht werden, i n jedem Falle aber

-

i n Resignation oder Rebellion

-

bleibt ein Spielraum an

Freiheit erhalten. Schicksal ist Grenze u n d markiert den metaphysischen W e g des menschlichen Geistes. Diese Grenze, die hier als Schicksal gemeint ist, hat bei Simmel eine zweifache Bedeutung. Einmal gibt sie die M ö g l i c h k e i t zur Transzendenz, zum anderen aber f ü h r t sie zur Einheit, zur Formung. D a r i n wurde ein W i d e r s p r u c h gesehen, der besonders beim Todesproblem deutlich w i r d , da ja der T o d auch Grenze u n d Former zugleich ist. D i e Schwierigkeit, die i n diesem W i d e r s p r u c h sich auftut, rührt daher, daß Simmel versucht, die beiden Kategorien v o n Sein u n d W e r d e n i n einer Einheit zu sehen, die aber nicht logisch ausdrückbar ist, sondern nur i n der Paradoxie ihren H i n w e i s auf das metaphysische A b s o l u t u m gibt. Schicksal i n bezug zum menschlichen Leben ist eine formende Macht. Es bestimmt den Menschen, es läßt i h n i m verfließenden Lebensstrom als Person existent werden. D u r c h das Schicksal w i r d der Mensch gleichsam aus der Zeitlichkeit des Werdens i n das überzeitliche Sein gehoben. Insofern Schicksal Grenze i m transzendierenden Lebensstrom darstellt, hat es f u n k t i o n a l e n Charakter u n d ist i n den Prozeß miteinbezogen als M ö g l i c h keit menschlicher Bewährung i n subjektivem Seinsvollzug. Der moderne Schicksalsbegriff, w i e er seit Schopenhauer aufgefaßt w i r d , hat seine metaphysische W u r z e l i n der anthropologischen Grundverfassung des menschlichen Subjektes selbst. Das selbstverantwortliche Lebewesen hat aber damit die Möglichkeit, das Schicksal selbstschöpferisch zu überwinden, i n d e m es seine eigene subjektive Begrenzung aufhebt u n d sich der objektiven Linie seiner i d e e l l vorgezeichneten Seinsgestalt nähert. D i e A u f f i n d u n g dieser Linie, die m i t Selbst-findung verbunden ist, geschieht unter dem tragischen H a u c h der Schicksalsberührung, w e i l dadurch die Spannungspole v o n Subjekt u n d Objekt zur Einigung drängen, was n u r i m

Tragik: Metaphysische Kategorie

85

Sinnvollzug menschlicher Entscheidung geschieht. Z u diesem wertschaffenden Schicksalsvollzug steht das Sollen i n notwendiger Beziehung, da es subjektiven u n d objektiven W e r t aufzeigt. I m Schicksal w i r d hinter der Kategorie des Sollens die Notwendigkeit eines metaphysischen Müssens evident. D i e an dem Gesollten empfundene

notwendige

Gesetzlichkeit

einer verpflichtenden, transzendenten O r d n u n g umreißt die existentielle Seinsgestalt des Menschen. Schicksal stellt sich dem Menschen als Bedrohung dar, die eine paradoxe Situation schafft, denn sie t r i f f t v o n außen auf das Subjekt, während dieses korrelativ aus seiner Wesensmitte darauf antwortet. Dieser Kreuzungspunkt beider Richtungen ergibt die Grenzsituation des Tragischen, dessen K o n f l i k t stets darin liegt, daß die Bedingung der apriorisch-metaphysischen

Wirklichkeit

i m Subjekt selbst be-

gründet ist. I n dieser Situation tritt das menschliche Lebewesen existent i e l l i n den aus i h m selbst erwachenden Lichtkreis der

metaphysischen

W i r k l i c h k e i t . Der W e g des Menschen f ü h r t i n der schicksalhaft derten existentiellen Selbstentscheidung notwendig i n die Tragik,

geforweil

durch die metaphysische Relation von existentiellem Sein u n d der Begegnung m i t dem schicksalhaften Sein der Mensch die Sinnvollendung erfährt oder aber i n die Sinnlosigkeit u n d Wertleere des Daseins entgleitet. Der Mensch aber, der sich i n der Tragik vollendet, tritt aus dem zeitbedingten Dasein des Lebens ins Licht des überzeitlich gültigen Seins.

(Möglicher-

weise steht dieses geistige Reich dem Lichte der Platonischen Idee nahe.) Parallel hierzu stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Todes der die absolute Situation des Lebens ist - u n d nach Unsterblichkeit. U n sterblichkeit jedoch bedeutet nicht ewig dauerndes Leben, sondern ist der Zustand der Seele, der i m Leben als Beglückung verstanden w i r d . Bei Simmel ist Unsterblichkeit aphoristisch angedeutet u n d seine Stellung dazu ist nicht widerspruchslos. Bei dem mutigen Versuch, diese letzten metaphysischen Fragen zu erhellen, ist es Simmel aber gelungen, das Vertrauen zu wecken, daß der T o d ein Charisma birgt, das jeder menschlichen Seele das Versprechen gibt, zur V o l l e n d u n g berufen zu sein. Simmeis Todesbeg r i f f ist Integration v o n Vergehen u n d Werden, Zeit u n d Ewigkeit. So findet denn die Frage nach Unsterblichkeit, die sich hier anschließt, eine mystische Beantwortung: „ D a s jenseitige Leben hat sich auf die reine Funktion zurückgezogen,· es hat keinen Gegenstand mehr, sondern ist das bloße Selbst, das i n sich beschlossene Leben dieses Selbst (das nur symbolisch i n jenen Einzelfunktionen ausgedrückt wird) geworden - das W e g f a l l e n des Objektes ist f ü r dieses reine „ L e b e n " des I c h hier dadurch vermittelt, daß dieses I c h das A l l i s t " 7 . Es entsprach Simmeis philosophischer Haltung, die Frage nach dem Unangebbaren zu stellen, allerdings bezahlt er dafür den Preis widersprüchlicher begrifflicher Formulierungen. 7

Simmel: Lebensanschauung, S. 115.

86

Tragik: Metaphysische Kategorie

Hätte Simmel weniger „ u n l o g i s c h " philosophiert, würde er vielleicht i n seinem Todesbegriff

nur

die notwendige

Grenze

eines

transzendenten

Weges gesehen haben, dann wäre das aber eine leere Transzendenz gewesen. 4.

Tragik als notwendige Paradoxe v o n Einheit u n d V i e l h e i t

Das menschliche D e n k e n bewegt sich i n seinen Grundzügen zwischen den beiden Aspekten v o n Einheit u n d Vielheit m i t dem Unterschied, daß die Akzentuierung wechselt. Für die griechische Weltauffassung stand der Seinslogos außer Frage. V o n hier aus wurde auf die Vielheit der Erscheinungen hingewiesen, u n d man suchte nun, diese i n Beziehung zur Seinseinheit zu bringen. Das Charakteristikum der Philosophie des ausklingenden 19. Jahrhunderts w i r d i n der Wende zum Objekt gesehen. M a n richtet den geistigen Blick auf die objektiven Erscheinungen, auf die V i e l f a l t v o n Dingen, Ereignissen, aber auch auf Gefühle u n d Erlebnisse als Gegenstände der Betrachtung. Diese objektive Betrachtung läßt die V i e l f a l t zu bewußten Tatsächlichkeiten werden, die jedem menschlichen Lebewesen als konkrete Lebensgegebenheiten erfahrbar sind. Diese V i e l h e i t beschäftigt Simmel vor allem. Der Pluralismus der W e l t m i t seinem Wechselspiel an Zufälligkeiten weist i h n auf die Notwendigkeit der Einheit hin, die seiner M e i n u n g nach i n einem ewigen, zeitlosen Sein liegen muß. N a c h diesem einheitlichen Seinsgrund fragt Simmel i n a l l seinen philosophischen Problemen u n d hält daran fest, auch w e n n er i h n nur als Paradoxon des Werdens f ü r gegeben annehmen kann. Nicolaus v o n Cues hat diese Einheit i n Gott gesehen,· bei Spinoza bestand die letzte Einheit aller Wahrnehmungen i n der göttlichen Substanz: deus sive natura. Simmel verbindet m i t diesem Denken seine A n n a h m e eines „ D r i t t e n " , das er nicht genauer bezeichnet, w e i l er vielleicht ähnlich Spinoza der M e i n u n g ist, daß D e f i n i t i o n Negation bedeutet. H i e r tut sich einer der schwierigsten Widersprüche i n Simmeis D i a l e k t i k auf. Das Sein, das A n sich alles Seienden, w i r d i m Sinne der Platonischen Idee als grundlegendes A b s o l u t u m gedacht, demgegenüber bestehen aber die f r e i wandelbaren Vielheiten der i m Leben erscheinenden Elemente. A u c h i n bezug a u f das Problem des b o n u m - m a l u m ergibt sich die gleiche widersprüchliche Problematik. Was bei Spinoza sub specie aeternitatis gesehen, nur gut sein kann, erscheint auch i n Simmeis allumgreifender Totalität des absoluten Lebens als ens bonum, u n d alles andere sind n u r M o d i oder Q u a l i t ä t e n dieses Einen. Simmel sucht das sich wandelnd-werdende Seiende der i n d i v i d u e l l e n Vielheiten aus dem Sein hervorgehen zu lassen. Das menschlich Seiende u n d seine Handlungen sind empirisch, ursächlich u n d i n der Zeit naturgesetzlich determiniert; dies alles aber steht i n engem Zusammenhang m i t einem fundamentalen metaphysischen Sein, das durch nichts anderes außer sich bestimmt werden kann. So sieht denn Simmel i n der V a r i a b i l i -

Tragik: Metaphysische Kategorie tat

der

menschlich - individuellen

letztinstanzlichen Wechsel

seiner

Seins,

das

verschiedenen

87

Erscheinung nur Modifikationen

sich im

Menschen,

Möglichkeiten

als

angelegten

dem

eines

auf

einen

Wesen,

offen-

bart. Die Aporetik, die in der zeitlichen Erscheinung zum Austrag gelangt, reicht bis in den letzten Seinsgrund, „ d e n n unser Sein steht fest, es ist das Zeitlose in uns, u n d an i h m haftet die Verantwortlichkeit, an i h m fühlen wir das Böse, das sich uns an uns offenbart, unserem tiefsten G r u n d entsprossen, den keine Reue erreichen u n d k e i n einzelnes W o l l e n umgestalten k a n n u n d das doch die W u r z e l aller Reue u n d alles einzelnen W'ollens i s t " 8 . Simmel bringt hier i n der Form eines ontologischen Widerspruches das Schicksal existentieller Tragik zum Ausdruck. D i e Verantwortlichkeit f ü r ein prinzipielles Sein, das nicht redressierbar ist, setzt „ F r e i h e i t " der Verantwortung voraus u n d legt doch zugleich das U n w i d e r r u f l i c h e

der

sittlichen Tat fest, i n d e m selbst die Reue nicht mehr imstande ist, Geschehenes zu ändern. D i e Reue q u i l l t aus dem zeitlosen Seinsgrund u n d kann somit an den i n der Zeit f i x i e r t e n Inhalten nicht wirken. N a c h dieser Auffassung sind ζ. B. alle zufälligen Erscheinungen, Ereignisse u n d Situationen, alle Mächte des Schicksals nicht an sich, sondern sie werden korrelativ bestimmt u n d f i n d e n i h r Existential durch die Seinseinheit des I n d i v i d u u m s , i n welchem sie durch das Bewußtsein zur konkreten Erlebnisdarstellung gelangen. Simmel weist damit über das Zufällige des Daseins u n d des menschlichen Lebens hinaus auf ein übergeordnetes Seinsprinzip, das durch alle Akte, Inhalte, Dinge u n d Ereignisse hindurchgeht. I n der Situation des Tragischen w i r d dem Menschen i n der Zeitlichkeit bewußt, was er i n der Transzendenz ist u n d es w i r d i h m i n der Entscheidung seines freien W i l l e n s zur Gewißheit. Simmel versucht so Erleben u n d Tat zur Einheit zu binden u n d möchte vermeiden, daß das Leben als Ganzheit i n leeren Prozeß u n d Inhalte gespalten w i r d . D a r u m stellt er dem operari sequitur esse das esse sequitur operari zur Seite. D i e Tat w i r k t darum auf den Seinsgrund zurück, aus dem sie aufstieg. Diese Auffassung v o m tiefsten Urgrund, dem alles entsproßt, gemahnt an die mystische Schau Jakob Böhmes, i n welcher die Dinge der W e l t dem d u n k l e n „ U n - g r u n d , den M ü t t e r n " entsteigen. Diese dem logischen D e n k e n unzumutbare Problematik i n ihrer widerspruchsv o l l e n Formulierung d a r f meines Erachtens nur als von Simmel symbolisch gemeint betrachtet werden, denn hier begibt er sich auf den Boden mystisch-religiöser Spekulation, u m i n das Wesen der Dinge außerhalb des Eingesperrtseins i n der logischen O b j e k t i v i t ä t einzudringen. V o n hier ergeben sich A n k n ü p f u n g s p u n k t e zur Phänomenologie u n d Wesensschau einerseits, andererseits w i r k e n Simmeis Widersprüche befruchtend u n d anregend a u f religionsphilosophischem Gebiet. Das Geheimnis des Lebens 8

Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, S. 183.

88

Tragik: Metaphysische Kategorie

versucht Simmel i n dem unsagbaren Absoluten, i n jenem „ D r i t t e n " zu fassen. Jeder Rest v o n Schuld u n d Reue findet i n diesem D r i t t e n seine Lösung u n d Erlösung. Simmeis philosophische W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t e n lenken hier die Aufmerksamkeit vieler christlicher Religionsphilosophen auf die religiöse A n t w o r t . Was somit dem menschlichen Lebewesen nicht gegeben, sondern nur aufgegeben ist, f i n d e t durch die V e r m i t t l u n g von Gnade auf höherer Ebene seine versöhnende Einheit. Der Mensch vermag nicht, sich aus eigener K r a f t zu erlösen, dies muß ein Anderer f ü r i h n vollbringen, der alle Schuld auf sich n i m m t . Der Begriff des vermittelnden D r i t t e n f i n d e t i n der Bibel, i m A l t e n u n d Neuen Testament seinen Ausdruck i n der Gestalt des Mittlers u n d Erlösers. Simmel hat durch seine metaphysische Problemstellung nicht nur wegbereitend f ü r die Philosophie der Existenz, sondern auch anregend auf die Religionsphilosophie gewirkt; so bekundet Erich Przywara dankbar den Einfluß Simmeis auf seine denkerische Entwicklung.

Schlußbetrachtung W i r sind am Ende der Darlegungen angelangt, die uns zunächst das Problem des Tragischen a u f breiter Ebene aufrollen ließen, u m uns dann i m weiteren V e r l a u f i n detaillierten Untersuchungen einzelnen speziellen Fragen des tragischen Grundproblems zuzuwenden. Dabei w u r d e i n der Trennung v o n I n h a l t u n d Form eine metaphysisch-ontologische Methode Simmeis sichtbar, wobei Simmel i n Analogie zu Kant v o n dem G r u n d m o t i v ausgeht, demzufolge alle Erfahrung an Inhalten, Erlebnissen, Trieben u n d Gefühlen gemäß apriorischen Grundkategorien zur Formung gelangt. Diese Grundkategorien des Geistes umfassen aber auch die apriorische Grundverfassung

des Menschen,

die

in

den sogenannten

anthropologischen

Grundakten v o n Sollen u n d W o l l e n , v o n Sucht u n d Sehnsucht sich ausdrückt. Diesem methodischen Prinzip von Form u n d I n h a l t begegnen w i r bei Simmel immer wieder i n allen philosophischen Einzelproblemen. Der sich daraus ergebende Relativismus w i r d zu einem Korrelativismus,

der

sich zu einem umfassenden metaphysischen Prinzip entwickelt, das an der Problematik des Tragischen am deutlichsten wahrnehmbar u n d nachweisbar ist. Simmel betont die lebendige Korrelation, durch welche er die Gefahr

eines hoffnungslos

einseitigen Subjektivismus u n d

Skeptizismus

bannen möchte. Er löst die Begriffe u n d Inhalte nicht auf, u m der Skepsis u n d dem N i h i l i s m u s zu dienen, sondern u m die lebendigen Elemente substantieller Werte gegen die Einseitigkeit des skeptischen Relativismus zu sichern. Simmeis Relativismus ist als Wechselwirksamkeit zu denken, die als kosmisches Prinzip i n seiner Metaphysik eine zentrale Stelle einnimmt. M i t diesem metaphysischen Begriff des Korrelativen dürfte Simmel einen bedeutsamen U m s c h w u n g i n der Anthropologie angebahnt haben, die i n der Folgezeit v o n Josef Stürmann ganz i n Simmeis Auffassung weiterentwickelt wurde,· aber auch alle anderen modernen

kritisch

Anthropolo-

gien d ü r f t e n v i e l aus Simmeis Gedanken geschöpft u n d durch sie entscheidende Anregung erfahren haben. Bevor i n wenigen Sätzen das Bleibende an Simmeis Philosophie noch einmal zusammengefaßt werden soll, bedarf es zunächst noch eines H i n weises auf den Begriff ,,modern". Das W o r t „ m o d e r n " erfordert eine Erklärung u n d Deutung, da es nicht ohne weiteres aus sich selbst einen d e f i n i t i v e n I n h a l t gibt. Insofern es nicht bei jeweiliger Erwähnung innerhalb des Textes näher präzisiert wurde, ist es seinem Sinne nach ein mehrdeutiger Begriff. I n allgemeiner Bedeutung soll er vor allem Simmeis ge-

90

Schlußbetrachtung

dankliche Hinterlassenschaft m i t den gegenwärtigen Zeitproblemen verbinden u n d a u f die Parallelität der Problemstellung sowie der historischsoziologischen Zeitströmung der Gegenwart hinweisen. I n speziellem Sinn soll „ m o d e r n " besagen, daß es sich u m aktuelle, gültige Lebensfragen des 20. Jahrhunderts handelt u n d meint damit den spürbaren Vertrauensbruch, die Bedrohung, die geistige Not, die Frage u n d Suche nach innerem u n d äußerem H a l t , nach H o f f n u n g u n d Glauben. D i e erkenntnistheoretische Richtung der Gegenwart kann überwiegend als kritisch-realistisch bezeichnet werden. A u c h f ü r Simmeis Denken t r i f f t dies i n gewissem Sinne zu, denn er befragt i n kritischer Haltung die Tatsächlichkeiten des real Gegebenen nach ihrem Wesen u n d ihren korrelativen Beziehungen zu der Gesamtheit des Seins. D i e Fülle u n d V i e l f ä l tigkeit des Lebens m i t seinen i n d i v i d u e l l e n Entfaltungen u n d Formen, der Pluralismus der Erscheinungen, a l l dies verdichtet sich i n der Rätselhaftigkeit des Tragischen zur absoluten W i r k l i c h k e i t u n d bildet das Kernproblem kritischer Analysen. I n d i v i d u u m , Person, Freiheit u n d Schicksal beschäftigen Simmeis rastlos suchenden Geist; i m M i t t e l p u n k t steht immer der Mensch. I n diesem Bemühen, die menschliche M i t t e aufzufinden u n d aus dem G e w i r r der Gegensätze, Polaritäten u n d Paradoxien herauszuschälen, w u r d e Simmel zu einem maßgeblichen Wegbereiter der modernen Existenzphilosophie. Simmel, Scheler, Husserl bestimmen weitgehend diese Denkrichtung der Gegenwart. Der Einfluß des geistigen Erbes Simmeis ist bei Heidegger wahrnehmbar, u n d auch i m Denken v o n K a r l Jaspers f i n d e n sich verwandte Züge. Simmel war ein Wegbereiter u n d Anreger, der nicht so sehr durch ein System, als durch die K r a f t u n d Originalität seines Philosophierens v o n weitreichender W i r k u n g war, die aber zum größten T e i l a n o n y m blieb. So mögen auch Litt u n d Spranger die fruchtbare E i n w i r kung der Simmelschen Philosophie erfahren haben, u n d man kann sogar behaupten, daß ein gewisser Einfluß bis zu Ortega y Gasset reicht, der, wie Simmel, f ü r seine philosophischen Darlegungen die essayistische Form bevorzugt. I n der christlich-katholischen Existenzphilosophie ist der kritisch-dialektische Gegensatz, das existentielle H a u p t m o t i v Simmeis, von Romano G u a r d i n i weitergeführt worden, dessen 1925 erschienenes W e r k „ D e r Gegensatz" ebenfalls dem Thema einer philosophischen Deutung des Lebendig-Konkreten gilt. D e n f ü r Simmel charakteristischen philosophischen Terminus des „ D r i t ten Reiches", den Begriff der versöhnenden metaphysischen Synthese, habe i c h i m Text dieses Buches sprachlich i n „ B e r e i c h " verändert, da „ D r i t t e s R e i c h " heute i m Sinne der unseligen politischen Epoche Deutschlands verstanden w i r d u n d eine Verhöhnung bedeuten würde, w e n n man bedenkt, daß Simmeis gesamter Nachlaß an philosophischen Schriften u n d

Schlußbetrachtung Aufsätzen i n jener Ä r a vernichtet wurde, die den Namen seines höchsten metaphysischen Begriffes trug. D o c h über a l l diesem weht der unsterbliche Geist Simmeis, der uns i m H i n b l i c k a u f die U n v o l l k o m m e n h e i t e n der W e l t u n d des Menschen das tröstliche Vermächtnis schenkt, daß i m metaphysischen Reich eines transzendenten Logos die mögliche, erlösende Versöhnung aller Gegensätze zur letzten W i r k l i c h k e i t des Seins gelangen kann. M i t diesem Vermächtnis aber ergeht zugleich der A n r u f , das Menschliche zu bewahren, das die W e l t i n liebendem M i t e i n a n d e r zusammenzuhalten vermag, denn das gemeinsame Leid existentieller Tragik i m Dasein verpflichtet alle Menschen gleichermaßen zum M i t l e i d e n .

Literaturverzeichnis Α. Werke von Georg Simmel Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907. Philosophische Kultur. Gesammelte Essays. Leipzig 1911. Das Problem der religiösen Lage. (In: Weltanschauung, hrsg. von FrischeisenKöhler). Berlin 1911. Die Wahrheit und das Individuum, Logos I I I , 1912. Mélange de philosophie relativiste, Paris 1912. Kant. 16 Vorlesungen, gehalten an der Berliner Universität, Berlin 1913 (3. Aufl.). Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze. München 1917. Der Konflikt der modernen Kultur, München 1918. Rembrandt, Leipzig 1919 (2. Aufl.). Kantstudien, Bd. 24, 1919. Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft). Leipzig 1920 (2. Aufl.). Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. München 1922. (2. Aufl.). Die Religion. Frankfurt/Main 1922 (3. Aufl.). Schulpädagogik. Vorlesungen. Osterwieck/Harz 1922. Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre. Hrsg. von Gertrud Kantorowicz. München 1923. über die Freiheit, Logos XI, 1923. Kant und Goethe, Leipzig 1916 (3. Aufl.). Hauptprobleme der Philosophie, Berlin 1950 (7. Aufl.). Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Marg. Susman, hrsg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957. B. Uber Georg Simmel Adler, Max: Simmeis Bedeutung für die Geistesgeschichte, Wien 1919. Bohner, Hellmut: Untersuchungen zur Entwicklung der Philosophie Simmeis, Diss., Freiburg 1930. Fabian, Wilhelm: Kritik der Lebensphilosophie Simmeis, Breslau 1926. Gassen, Kurt und Landmann, Michael: Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin 1958. Gerson, Hermann: Entwicklung der ethischen Anschauung bei Simmel, Diss., Berlin 1932. Landmann, Michael: Konflikt und Tragödie. Zur Philosophie Georg Simmeis. Zeitschr. f. Philos. Forschung 6. 1951/52. Müller, Herwig: Simmel als Deuter und Fortbildner Kants, Diss., Leipzig 1935. Müller, Horst: Lebensphilosophie und Religion bei Georg Simmel, Berlin 1960. Susman, Margarete.· Die geistige Gestalt Georg Simmeis, Tübingen 1959. Tromnau, Erich: Simmeis Schopenhauerauffassung, Diss., Königsberg 1927.

Literaturverzeichnis

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