Höfische Tragik: Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen 9783110307160, 9783110306972

This study refutes the notion that there could be no sense of tragedy in the Middle Ages because of the prevailing Chris

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German Pages 520 Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung: Höfische Tragik — ein anachronistischer Begriff
1. Problemstellung: Die unbekannte Gattung der Tragödie im Mittelalter
2. Forschungsstand: Die Scheu der germanistischen Mediävistik vor der Tragik
3. Konzeption der Untersuchung: Anwendung einer Methode statt Suche nach einem Objekt
II. Theorie: Tragödientheoretische, theologische und narratologische Grundlegung
1. Tragik und Tragödie: Plädoyer für ein poetologisches Verständnis
1.1 Faszination und Konfusion
1.2 Von der Poetik der Tragödie zur Philosophie des Tragischen
1.3 Historizität der Tragödie
2. Untragisches Christentum: Widerlegung eines Vorurteils
2.1 Tragödie und Christentum: Moralische Bedenken der Kirchenväter
2.2 Tragik und Christentum: Metaphysischer Vorbehalt der Forschung
2.3 Theologisch-narratologisches Paradigma: Der Sündenfall
3. Narratologie des Tragischen: Entwicklung eines Instrumentariums
3.1 Tragische ,histoire‘ und epischer ,discours‘
3.2 Die Struktur einer tragischen Handlung
3.3 Handlungsmotivation und Tragikkonzept
3.3.1 Kausale Tragikkonzepte
Die Hamartia bei Aristoteles
Der Affekt bei Seneca
3.3.2 Finale Tragikkonzepte
Fortuna und die göttliche Providenz bei Boethius
Der tragische Weltzustand bei Hegel
III. Analyse: Formen tragischen Erzählens in der höfischen Literatur
1. Tragische Schuld: Fehlverhalten und die Folgen
1.1 Erecs Fehlverhalten bei Hartmann von Aue
Handlungsstruktur: Vom angesehenen König zum rastlosen Fremden
Handlungsmotive: êre, minne und zorn
Forschungsdiskussion: Erecs untragische Schuld
Tragikkonzept: Erecs Fixierung
1.2 Parzivals Sünden bei Wolfram von Eschenbach
Handlungsstruktur: Zwischen Isolation und Integration
Handlungsmotive: tumpheit, strît und triuwe
Forschungsdiskussion: Tragische Schuld und christliche Erlösung
Tragikkonzept: Parzivals Hamartia
1.3 Kriemhilds Rache im ,Nibelungenlied‘
Handlungsstruktur: Von der Verehrung zur Zerstückelung
Handlungsmotive: Liebe, Macht und Rache
Forschungsdiskussion: Verbrechertragödie und Schicksalstragik
Tragikkonzept: Kriemhilds Leidenschaft
1.4 Tragische Schuld und theologischer Diskurs
2. Tragischer Konflikt: Die Lösung des Dilemmas
2.1 Rüdigers Treuekonflikt im ,Nibelungenlied‘
Handlungsstruktur: Von der Brautwerbung in den Heldentod
Handlungsmotive: Treue und Pflichten
Forschungsdiskussion: Facetten des Tragischen
Tragikkonzept: Rüdigers Entscheidung
2.2 Giburgs Sippenkonflikt bei Wolfram von Eschenbach
Handlungsstruktur: Von der verehrten Königin zur verhassten Konvertitin
Handlungsmotive: sippe, minne und Religion
Forschungsdiskussion: Tragische Weltsicht und schuldlose Schuld
Tragikkonzept: Giburgs unechtes Dilemma
2.3 Engelhards Pflichtenkollision bei Konrad von Würzburg
Handlungsstruktur: Vom anerkannten König zum ehrlosen Kindermörder
Handlungsmotive: triuwe, ere und Gott
Forschungsdiskussion: Legende statt Tragödie?
Tragikkonzept: Freundestreue um jeden Preis
2.4 Tragischer Konflikt und ethischer Diskurs
3. Tragische Liebe: Die Widerspruchsstruktur der Minne
3.1 Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke
Handlungsstruktur: Von der mächtigen Herrscherin zum menschlichen Staub
Handlungsmotive: Götter, minne und schände
Forschungsdiskussion: Wiedererzählen einer epischen Tragödie
Tragikkonzept: Unrehtiu minne
3.2 Tristans und Isoldes Trennung bei Gottfried von Straßburg
Handlungsstruktur: Vom Thronfolger zum Flüchtling
Handlungsmotive: Minne(-Trank), ere und aventiure
Forschungsdiskussion: Tristanminne und Tragikbegriff
Tragikkonzept: Die Dialektik von Tod und Leben
3.3 Medeas Verschwinden bei Konrad von Würzburg
Handlungsstruktur: Vom höchsten Ruhm zur verweigerten Erinnerung
Handlungsmotive: ere, minne und Strafe
Forschungsdiskussion: Fatalität und Fehlverhalten
Tragikkonzept: Niuwegerne minne
3.4 Tragische Liebe und literarischer Diskurs
IV. Fazit: Höfische Tragik - Literatur und Gesellschaft
Literaturverzeichnis
Quellen
Kataloge und Wörterbücher
Forschungsliteratur
Register
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Höfische Tragik: Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen
 9783110307160, 9783110306972

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 144

Regina Toepfer

Höfische Tragik Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen

De Gruyter

ISBN 978-3-11-030697-2 e-ISBN 978-3-11-030716-0 ISSN

0083-4564

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Diese Studie wurde im Wintersemester 2010/2011 als Habilitationsschrift am Fachbereich Neuere Philologien der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen. Für den Druck habe ich sie überarbeitet und gekürzt. Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle Andreas Kraß, der die Entstehung dieser Studie in vielfältiger Weise förderte. Besonders danken möchte ich auch Jan-Dirk Müller, Robert Seidel, Gyburg Uhlmann und Ulrich Wyss, die ebenfalls ein Gutachten für das Habilitationsverfahren erstellt und mir wertvolle Anregungen gegeben haben. Für die Hilfe beim Korrekturlesen danke ich Astrid Lembke, Michael Ott, Ninja Roth, Stefanie Schmitt und Daniel Zimmer. Für das Publikationsangebot und die Betreuung danke ich Manuela Gerlof, Daniel Gietz und vor allem Christina Riesenweber vom Verlag De Gruyter. Sowohl bei den Korrekturen als auch bei der Erstellung der Druckvorlage hat mich Sebastian Toepfer unterstützt. Nicht nur dafür danke ich ihm von Herzen. Berlin, im Dezember 2012

Regina Toepfer

Inhalt Vorwort ............................................................................................................................... V Inhalt................................................................................................................................. VII I. Einleitung: Höfische Tragik – ein anachronistischer Begriff.................................. 1 1. Problemstellung: Die unbekannte Gattung der Tragödie im Mittelalter ........ 2 2. Forschungsstand: Die Scheu der germanistischen Mediävistik vor der Tragik.............................. 9 3. Konzeption der Untersuchung: Anwendung einer Methode statt Suche nach einem Objekt .......................... 16 II. Theorie: Tragödientheoretische, theologische und narratologische Grundlegung ............................................................................... 22 1. Tragik und Tragödie: Plädoyer für ein poetologisches Verständnis .............. 22 1.1 Faszination und Konfusion ............................................................................ 22 1.2 Von der Poetik der Tragödie zur Philosophie des Tragischen ................ 30 1.3 Historizität der Tragödie................................................................................. 33 2. Untragisches Christentum: Widerlegung eines Vorurteils............................... 37 2.1 Tragödie und Christentum: Moralische Bedenken der Kirchenväter ..... 37 2.2 Tragik und Christentum: Metaphysischer Vorbehalt der Forschung ..... 42 2.3 Theologisch-narratologisches Paradigma: Der Sündenfall ....................... 45 3. Narratologie des Tragischen: Entwicklung eines Instrumentariums............. 50 3.1 Tragische ‚histoire‘ und epischer ‚discours‘ ................................................. 50 3.2 Die Struktur einer tragischen Handlung ...................................................... 55 3.3 Handlungsmotivation und Tragikkonzept .................................................. 61 3.3.1 Kausale Tragikkonzepte ........................................................................ 64 Die Hamartia bei Aristoteles ................................................................ 64 Der Affekt bei Seneca ........................................................................... 68 3.3.2 Finale Tragikkonzepte ........................................................................... 71 Fortuna und die göttliche Providenz bei Boethius .......................... 72 Der tragische Weltzustand bei Hegel ................................................. 77

VIII

Inhalt

III. Analyse: Formen tragischen Erzählens in der höfischen Literatur .................. 84 1. Tragische Schuld: Fehlverhalten und die Folgen .............................................. 84 1.1 Erecs Fehlverhalten bei Hartmann von Aue .............................................. 85 Handlungsstruktur: Vom angesehenen König zum rastlosen Fremden 85 Handlungsmotive: êre, minne und zorn ........................................................... 95 Forschungsdiskussion: Erecs untragische Schuld .................................... 104 Tragikkonzept: Erecs Fixierung .................................................................. 114 1.2 Parzivals Sünden bei Wolfram von Eschenbach ...................................... 123 Handlungsstruktur: Zwischen Isolation und Integration ....................... 124 Handlungsmotive: tumpheit, strît und triuwe ................................................ 133 Forschungsdiskussion: Tragische Schuld und christliche Erlösung ..... 142 Tragikkonzept: Parzivals Hamartia ............................................................. 152 1.3 Kriemhilds Rache im ‚Nibelungenlied‘ ...................................................... 161 Handlungsstruktur: Von der Verehrung zur Zerstückelung .................. 162 Handlungsmotive: Liebe, Macht und Rache ............................................. 167 Forschungsdiskussion: Verbrechertragödie und Schicksalstragik ......... 181 Tragikkonzept: Kriemhilds Leidenschaft .................................................. 189 1.4 Tragische Schuld und theologischer Diskurs ............................................ 199 2. Tragischer Konflikt: Die Lösung des Dilemmas ............................................ 211 2.1 Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘ ............................................. 211 Handlungsstruktur: Von der Brautwerbung in den Heldentod ............. 212 Handlungsmotive: Treue und Pflichten ..................................................... 219 Forschungsdiskussion: Facetten des Tragischen ...................................... 226 Tragikkonzept: Rüdigers Entscheidung ..................................................... 234 2.2 Giburgs Sippenkonflikt bei Wolfram von Eschenbach .......................... 242 Handlungsstruktur: Von der verehrten Königin zur verhassten Konvertitin ........................................................................... 243 Handlungsmotive: sippe, minne und Religion .............................................. 250 Forschungsdiskussion: Tragische Weltsicht und schuldlose Schuld..... 257 Tragikkonzept: Giburgs unechtes Dilemma ............................................. 267 2.3 Engelhards Pflichtenkollision bei Konrad von Würzburg ..................... 274 Handlungsstruktur: Vom anerkannten König zum ehrlosen Kindermörder........................................................................ 275 Handlungsmotive: triuwe, êre und Gott ....................................................... 283 Forschungsdiskussion: Legende statt Tragödie? ...................................... 293 Tragikkonzept: Freundestreue um jeden Preis ......................................... 300 2.4 Tragischer Konflikt und ethischer Diskurs ............................................... 310

Inhalt

IX

3. Tragische Liebe: Die Widerspruchsstruktur der Minne ................................ 322 3.1 Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke ........................................... 323 Handlungsstruktur: Von der mächtigen Herrscherin zum menschlichen Staub .............................................................................. 324 Handlungsmotive: Götter, minne und schande ............................................ 331 Forschungsdiskussion: Wiedererzählen einer epischen Tragödie ......... 343 Tragikkonzept: Unrehtiu minne ...................................................................... 351 3.2 Tristans und Isoldes Trennung bei Gottfried von Straßburg ................ 361 Handlungsstruktur: Vom Thronfolger zum Flüchtling........................... 362 Handlungsmotive: Minne(-Trank), êre und âventiure ................................. 369 Forschungsdiskussion: Tristanminne und Tragikbegriff ........................ 382 Tragikkonzept: Die Dialektik von Tod und Leben ................................. 390 3.3 Medeas Verschwinden bei Konrad von Würzburg ................................. 400 Handlungsstruktur: Vom höchsten Ruhm zur verweigerten Erinnerung ....................................................................... 402 Handlungsmotive: êre, minne und Strafe...................................................... 411 Forschungsdiskussion: Fatalität und Fehlverhalten ................................. 422 Tragikkonzept: Niuwegerne minne .................................................................. 429 3.4 Tragische Liebe und literarischer Diskurs ................................................. 438 IV. Fazit: Höfische Tragik – Literatur und Gesellschaft ......................................... 452 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 459 Quellen......................................................................................................................... 459 Kataloge und Wörterbücher .................................................................................... 464 Forschungsliteratur .................................................................................................... 464 Register ........................................................................................................................... 505

I. Einleitung: Höfische Tragik – ein anachronistischer Begriff Wohl kaum einem anderen aus einer literarischen Gattung abgeleiteten Begriff ist ein ähnlicher Erfolg beschieden wie dem ‚Tragischen‘, wird er doch unablässig zur Deutung der unterschiedlichsten Phänomene in Literatur und Philosophie, aus Alltagserfahrung und Lebenswelt herangezogen. Die Fülle an Publikationen zu der Gattung der Tragödie und der Thematik des Tragischen ist längst nicht mehr zu überschauen, und doch wächst ihre Anzahl weiterhin kontinuierlich. Diese Studie fügt also einerseits den zahllosen Aufsätzen, Sammelbänden und Monographien zur Tragik und Tragödie noch eine weitere Untersuchung hinzu, widmet sich aber andererseits durch die zeitliche Eingrenzung des Themas einem weitgehend unbekannten, ja scheinbar sogar abwegigen Forschungsgebiet. „Die Frage, ob es Tragik in mittelalterlicher Dichtung gibt, geben kann, ist, weil für unmittelalterlich und ein Scheinproblem gehalten, noch kaum gestellt worden“, fasst Werner Schröder den Forschungsstand der germanistischen Mediävistik zusammen und warnt: „Wer sie trotzdem aufrollt und sogar bejaht, begibt sich auf Glatteis.“1 Der Terminus ‚höfische Tragik‘ widerspricht nicht nur den Konventionen der Fachliteratur, sondern erscheint geradezu anachronistisch. Im Mittelalter könne es keine tragische Dichtung geben, lautet die communis opinio, da das mittelalterlich-christliche Weltbild keinen Raum für Tragik lasse. Dieser Konsens ist umso bemerkenswerter, da hinsichtlich des Begriffsverständnisses keineswegs Einigkeit besteht. Der kategorische Ausschluss mittelalterlicher Tragik und die Varianz der Definitionen stehen in einem seltsamen Spannungsverhältnis zueinander. Daher hat die Warnung, ein ‚Scheinproblem‘ zu behandeln, mich nicht etwa abgeschreckt, sondern vielmehr ermutigt, Formen des Tragischen in der höfischen Literatur zu untersuchen. Statt das Denkverbot zu akzeptieren, möchte ich zunächst nach den Prämissen der These vom untragischen Mittelalter fragen und auf diese Weise eine neue thematische Perspektive eröffnen. Meinen Ausgangspunkt bildet ein auffälliger Befund, der zu belegen scheint, dass das Erkenntnisinteresse dieser Studie auf einem Anachronismus basiert: die fehlende Kenntnis von Tragödien im Mittelalter. _____________ 1

Schröder, Über die Scheu vor der Tragik, S. 5.

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Einleitung

1. Problemstellung: Die unbekannte Gattung der Tragödie im Mittelalter Das Mittelalter wird in der Forschungsliteratur zur Tragödiengeschichte meist weiträumig ausgespart. Selbst in einschlägigen Publikationen, die Spuren einer historischen Auseinandersetzung mit dieser Gattung nachzuweisen suchen,2 wird das Mittelalter als ‚dunkles Zeitalter‘3 bezeichnet, das „wie ein unüberbrückbarer Abgrund“4 die antike Tragödie von ihren ersten humanistischen Imitationen trennt. Vom 5. bis zum 13. Jahrhundert werden Tragödien weder produziert noch rezipiert, stattdessen dominieren Inszenierungen christlicher Stoffe wie Passions-, Legenden- und Mysterienspiele die Bühnen.5 David E. R. George, der die deutschen Tragödientheorien bis zu Lessing behandelt, stellt dieses Defizit klar heraus: „Was von der tragischen Theorie […] überdauerte, bestand fort in einem dreifachen Vakuum: Über 15 Jahrhunderte lang wurden keine echten, ursprünglichen Tragödien mehr geschrieben, und die klassischen Tragödienautoren und der führende klassische Theoretiker waren so gut wie unbekannt.“6

Die fehlende mittelalterliche Rezeption der wichtigsten theoretischen Abhandlung zur Tragödie ist wenig überraschend, da die ‚Poetik‘ des Aristoteles schon in der Antike nur eingeschränkt verfügbar war. Als akroamatische oder esoterische Schrift von ihrem Verfasser für den internen Schulgebrauch gedacht, fristete sie „das Dasein eines Mauerblümchens“7 _____________ 2

3 4 5

6 7

Die erste Auseinandersetzung mit dem Thema unternahm 1890 Wilhelm Cloetta (Komödie und Tragödie, bes. S. 14–54), der die mittelalterlichen Spuren der Dramen zusammentrug. Sein Werk war die entscheidende Grundlage, auf die sich David E. R. George (Tragödientheorien, S. 15–41) bei seinem Überblick über die deutschen Theorien vom Mittelalter bis zu Lessing stützte. Erst durch Henry Ansgar Kelly (Ideas), wurden Cloettas Funde bedeutsam erweitert. Er legte 1993 eine umfangreiche Materialsammlung tragödientheoretischer Texte von Aristoteles bis in das Mittelalter vor, die für weitere Studien zur historischen Semantik heranzuziehen ist. Die einzelnen Autoren und Schulen werden in chronologischer Folge behandelt, wobei Kelly auf Ähnlichkeiten in den Tragödiendefinitionen hinweist, ohne diese systematisch auszuwerten. Die daraus resultierenden Wiederholungen und Unstimmigkeiten sind Programm: Erklärtes Ziel ist, die Vielfalt an mittelalterlichen Vorstellungen zu präsentieren (vgl. ebd., S. 218). Vgl. Kelly, Ideas, S. 67. Cloetta, Komödie und Tragödie, S. 1. Vgl. z.B. Borcherdt, Theater, S. 5–68; Fischer-Lichte, Geschichte, Bd. 1, S. 13–92; Kindermann, Theatergeschichte, Bd. 1, S. 207–392. Bezeichnend ist, dass Mancinelli (Rinascita, S. 327) die Wiederbelebung der Tragödie im deutschen Mittelalter mit ‚Dem Ackermann‘ beginnen lässt, weil sie den Gattungsbegriff von der dramatischen Form abhängig macht. George, Tragödientheorien, S. 18. Fuhrmann, Nachwort, S. 146. Das einzige (spät)antike Zitat der ‚Poetik‘ findet sich im 6. Jahrhundert n. Chr. bei dem Neuplatoniker Simplikios; weitere Zeugnisse der Auseinandersetzung mit dem Werk sind nach Fuhrmanns Aussage „unsicher und spärlich“ (ebd., S. 173). Vgl. auch Schmitt, Einleitung, S. 47f.

Problemstellung

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und konnte in den römischen Dichtungstheorien keine Wirksamkeit entfalten. Erst im 13. Jahrhundert wird die ‚Poetik‘, vermittelt über eine arabische Zwischenstufe, ins Lateinische übertragen. Als Textgrundlage dient Hermann Alemannus der im 12. Jahrhundert angefertigte Kommentar des arabischen Philosophen Averroës, in dem nur Exzerpte des Ausgangstexts enthalten sind.8 Diese den originalen Wortlaut vielfach entstellende Übertragung, die 1256 abgeschlossen worden ist, prägt die ‚Poetik‘-Rezeption bis in die Frühe Neuzeit. Als der wohl „bekannteste Aristoteles-Übersetzer seiner Zeit“, Wilhelm von Moerbeke, zwei Jahrzehnte später am päpstlichen Hof in Viterbo den Text aus dem Griechischen übersetzt, zieht er ebenso die lateinische Version seines Vorgängers heran wie der schwedische Gelehrte Matthias von Linköping am Anfang des 14. Jahrhunderts.9 Nach der geringen Zahl der überlieferten Handschriften zu schließen, haben ihre beiden Übersetzungen eine weit geringere Verbreitung als die des Alemannus gefunden, deren ungebrochene mittelalterliche Rezeption schließlich in dem Erstdruck von 1481 gipfelt.10 Die schlechte Überlieferungslage der aristotelischen Dichtungstheorie ändert sich jedoch wenig später, so dass die Gelehrten nicht länger auf die Version des Alemannus angewiesen sind. Die Wiederentdeckung der ‚Poetik‘ ist Teil des griechisch-italienischen Kulturtransfers, der sich, begünstigt durch die Kontakte zwischen Ost- und Westkirche, im 15. Jahrhundert vollzieht und durch die Emigration griechischer Intellektueller vor der drohenden osmanischen Invasion beschleunigt wird. Wie viele andere griechische Textquellen gelangt die dichtungstheoretische Schrift des Aristoteles auf diese Weise in das lateinische Abendland, wo sie dank neuer Sprachkenntnisse nun auch im Original rezipiert werden kann. Als die ‚Poetik‘ 1508 in griechischer Sprache bei Aldus Manutius in Venedig erscheint,11 beginnt auf dieser Grundlage eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text, von der die Kommentare von Francesco Robortello, Vincenzo Maggi und Bartolomeo Lombardi, Lodovico Castelvetro sowie Pietro Vettori zeugen.12 Im Gegensatz dazu sind von der selektiven lateinischen Rezeption des Aristoteles im hohen Mittelalter keine tragö_____________ 8 9 10

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Vgl. Kelly, Aristotle; ders., Ideas, S. 111–125; Kemal, Philosophical Poetics. Vgl. Minnis, Acculturizing Aristotle. Nach Kellys (Ideas, S. 117f.) Angaben stehen den zwei überlieferten Handschriften mit Wilhelms Übersetzung 24 mit der Version des Alemannus gegenüber. Zum Erstdruck vgl. Gesamtkatalog der Wiegendrucke, GW 2478 (Venedig: Philippus Petri, 22. Juni 1481). Aufgrund mangelnder Verfügbarkeit kann Manutius weder die ‚Poetik‘ noch die ‚Rhetorik‘ in seine erste große Aristoteles-Ausgabe von 1495–1498 aufnehmen, sondern fügt sie später dem ersten Band der ‚Rhetores Graeci‘ zu. Vgl. Hieronymus, Griechischer Geist, S. 165; Sicherl, Erstausgaben, S. 31, 314–319. Vgl. Kappl, Dichtungstheorie; Schmitt, Mimesis, S. 17–53; Stillers, Humanistische Deutung, S. 107–276.

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Einleitung

diengeschichtlichen Impulse ausgegangen. Die Erschließung der ‚Poetik‘, um die sich Alemannus, Willhelm von Moerbeke und Matthias von Linköping bemühten, gilt in der Forschung daher als „a lost opportunity“.13 Eine vergleichbare Wirkungsgeschichte wird den antiken Tragödien zuteil. Wie das theoretische Grundlagenwerk des Aristoteles geraten auch sie in Vergessenheit, obwohl für ihre Rezeption deutlich günstigere Ausgangsbedingungen bestanden hätten: Während die ‚Poetik‘ des Aristoteles bereits den Dichtungstheoretikern der römischen Antike unbekannt war, gehörte die Tragödie noch zu den gängigen literarischen Gattungen der Zeit. Vor allem Seneca zeichnete sich als produktiver Verfasser von Tragödien aus, indem er die Stoffe griechischer Dramen aufgriff und sie einer stoischen Interpretation unterzog.14 Dennoch fehlen im frühen Mittelalter nicht nur Spuren der Rezeption der drei großen griechischen Tragiker, Sophokles, Aischylos und Euripides, was durch die kulturelle Distanz und die sprachliche Hürde erklärlich ist, sondern es lassen sich ebenfalls keine Belege einer Auseinandersetzung mit ‚Seneca tragicus‘ finden. Die mangelnde Kenntnis antiker Tragödien und ihrer Autoren ist zum einen an der spät einsetzenden handschriftlichen Überlieferung abzulesen und zeigt sich zum anderen in den mittelalterlichen Lehrbüchern, Kommentaren und Poetiken. Als Konrad von Hirsau in seinem ‚Dialogus super auctores‘ die römischen Autoren und Gattungen vorstellt, weiß er keinen antiken Dramenautor namentlich anzuführen: Veniamus nunc ad romanos auctores Aratorem, Prudentium, Tullium, Salustium, Boetium, Lucanum, Virgilium et Oratium modernorum studiis usitatos, quia veterum auctoritas multis aliis, id est historiographis, tragedis, comicis, musicis, usa probatur, quibus certis ex causis moderni minime utuntur.15

Auch Konrads Hinweis auf ein nicht vorhandenes zeitgenössisches Interesse bzw. die fehlende Verfügbarkeit von bestimmten Autoren, zu denen er die Verfasser von Tragödien zählt, zeugt von dem mittelalterlichen Rezeptionsdefizit. Notker von St. Gallen kann in seinem Boethius-Kommentar immerhin noch den Namen eines griechischen Tragikers angeben, wenngleich er nicht weiß, ob die Gattung der Tragödie überhaupt im Lateinischen adaptiert worden ist: álso díu sínt. díu sophocles scréib apud grecos. […]. Úns íst áber únchúnt. úbe dehéine latini tragici fúndene uuérdên.16 Zwar bezeugt Johannes de Garlandia in seiner um 1220 entstandenen ‚Parisiana poetria‘, dass es auch eine lateinische Tragödie in der Antike gab, allerdings begrenzt er das klassische Gattungskorpus auf ein einziges Werk, _____________ 13 14 15 16

Kelly, Ideas, S. 111. Vgl. Schmitt, Leidenschaft. Conrad d’Hirsau, Dialogus super auctores, S. 95, Z. 735–739. Vgl. auch Cloetta, Renaissancetragödie, S. 1f. Notker, Boetius, zu lib. 2, pr. 2, S. 52, Z. 2–6. Vgl. auch Kelly, Ideas, S. 56.

Problemstellung

5

das zudem verloren gegangen sei: Vnica uero tragedia scripta fuit quondam ab Ouidio apud Latinos, que sepulta sub silencio non venit in vsum.17 Alle drei Textaussagen, die eine Zeitspanne vom 10. bis zum 13. Jahrhundert umfassen, dokumentieren, dass im Mittelalter keine antiken Tragödien als Gattungsmuster zur Verfügung stehen. Nur vereinzelt kursieren Zitate aus den Stücken Senecas, die Exzerpten und Florilegien entstammen.18 Diese Situation ändert sich, als die senecanischen Tragödien im 13. Jahrhundert wiederentdeckt werden. Auf diese Texte bezieht sich der dominikanische Enzyklopädist Vinzenz von Beauvais in seinem zunächst auf dreißig Bücher angelegten ‚Speculum historiale‘, dessen Erstfassung sich auf 1244 datieren lässt.19 Darin nennt er nicht nur die genaue Anzahl und die Titel der zehn Tragödien Senecas, sondern führt sogar Zitate aus sämtlichen Stücken an.20 Auch die Namen der griechischen Tragiker kann Vinzenz auf der Basis seines umfangreichen Quellenmaterials vervollständigen; allerdings bringt er Euripides, anders als Sophokles und Aischylos, nicht explizit mit Tragödien in Verbindung.21 Mit dem englischen Dominikaner Nicolas Trevet, der im Auftrag des Kardinals Niccolò Albertini di Prato zwischen 1314 und 1317 mehrere Kommentare zu den senecanischen Tragödien anfertigt, erreicht die Rezeption einen Höhepunkt; seine Erläuterungen zu ‚Medea‘, ‚Phaedra‘, ‚Octavia‘, ‚Troades‘, ‚Agamemnon‘, ‚Tyestes‘, ‚Hercules Oetaeus‘ und ‚Hercules furens‘ sind in verschiedenen Handschriften überliefert.22 Zeitgleich führt die Auseinandersetzung mit Senecas Dramen in Padua zu ersten Imitationsversuchen.23 Nachdem der Jurist Lovato Lovati einen etruskischen Kodex mit den Tragödien entdeckt und eine metrische Analyse der Jamben angefertigt hat, verfasst sein Schüler Albertino Mussato um 1314 ein Werk, bei dem er sich explizit auf Seneca als literarisches _____________ 17

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John of Garland, Parisiana Poetria, Kap. 7, S. 136, Z. 4–6. Übers. v. George, Tragödientheorien, S. 26: „Eine einzige Tragödie wurde einst bei den Lateinern von Ovid geschrieben; sie wurde schweigend begraben und kam nicht in Umlauf.“ Vgl. Brugnoli, Tradizione manoscritta; ders., Tragedie di Seneca; Kelly, Ideas, S. 58; Schmidt, Rezeption, bes. S. 59–71; Trillitzsch, Seneca tragicus; Zwierlein, Spuren. Vgl. Brincken, Vinzenz v. Beauvais. Vgl. auch Schmidt, Rezeption, S. 68–70. Vgl. Vincentius Bellovacensis, Speculum historiale, lib. 8, cap. 102, 113f. Zum Nachweis der einzelnen Zitate vgl. George, Tragödientheorien, S. 320, Anm. 47. Vgl. Vincentius Bellovacensis, Speculum historiale, lib. 3, cap. 33: Aeschilus autem tragaediarum scriptor casu mirabili mortuus fuisse legitur. lib. 3, cap. 40: Sophocles ad summam senectutem tragedias fecit […]. Euripidis probo sententiam, qui carentem libidinis infortunio dixit esse faelicem. Vgl. auch ebd., lib. 3, cap. 62. Vgl. Junge, Nicholas Trevet, S. 53–75; Lagioia, Introduzione, S. XXIV–XXXII; Roberti, Introduzione, S. 9–12. Vgl. Herrick, Italian Tragedy, S. 1–22; Tschiedel, Italienische Literatur, S. 78–91.

6

Einleitung

Vorbild beruft.24 Seine ‚Ecerinis‘ stellt Mussato im Vorwort in eine Reihe mit Senecas namentlich aufgeführten Tragödien, wobei die Verbrechen der Hauptfigur den gemeinsamen Anknüpfungspunkt bieten. Die grausamen Taten des Tyrannen Ezzelino seien mit denen Medeas und denen des Atreus vergleichbar, weshalb seine tränenreiche Geburt in keinem anderen Versmaß geschildert werden könne.25 Am Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts folgen Mussato mit Giovanni Manzini, Antonio Loschi und Gregorio Correr weitere Autoren, die die antike Gattung zu imitieren suchen. Ihre Tragödien basieren entweder wie Manzinis Bearbeitung des ‚Sturzes von Antonio della Scala‘ auf Themen der nationalen Geschichtsschreibung oder wie ‚Achilles‘ und ‚Progne‘ auf Stoffen der antiken Mythologie.26 Insgesamt wird Senecas Einfluss in Italien jedoch geringer bewertet, als man erwarten könnte, während er in anderen Ländern nahezu keine Rolle spielte.27 Die Werke Mussatos und seiner Dichterkollegen werden in der Forschung meist nicht mehr dem Spätmittelalter zugerechnet, sondern zu ‚Renaissanceschöpfungen‘ deklariert, die den Beginn einer neuen intensiven Auseinandersetzung mit der Tragödie einleiteten.28 Die Dramen Senecas werden im 15. Jahrhundert in den humanistischen Bildungskanon aufgenommen,29 wohingegen die Hinwendung zu den griechischen Tragödien mit zeitlicher Verzögerung erfolgt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts erscheinen die Erstausgaben einzelner Texte zunächst in Italien,30 bis we_____________ 24

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Vgl. Mussato, Ecerinis. Vgl. auch Cloetta, Renaissancetragödie, S. 5–76; Herrick, Italian Tragedy, S. 4–6; Kelly, Ideas, S. 135–143; Müller, Früher Humanismus, bes. S. 47–55; Tschiedel, Italienische Literatur, S. 80–84; Vries, Progne, S. 6–11. Der dramatische Charakter einer Tragödie gerät bei Mussato noch nicht in den Blick, vielmehr schließt sein Gattungsbegriff epische Texte ein. Zur Konzeptionsweise der ‚Ecerinis‘ vgl. Müller, Früher Humanismus, S. 65–68; Stäuble, Idea, S. 201; Tschiedel, Italienische Literatur, S. 84. Vgl. Correr, Progne; Loschi, Achilles. Vgl. auch Cloetta, Renaissancetragödie, S. 76–84 (zu Manzini), S. 91–147 (zu Loschi), S. 147–221 (zu Correr); Herrick, Italian Tragedy, S. 11–15 (zu Loschi), S. 15–21 (zu Correr); Tschiedel, Italienische Literatur, S. 85–88 (zu Correr); Vries, Progne. – Von Manzinis Tragödie ist nur ein einziger Chorgesang überliefert. Vgl. Kelly, Ideas, S. 143. Vgl. Cloetta, Renaissancetragödie; Kelly, Ideas, S. 193; Il teatro umanistico veneto; Müller, Früher Humanismus. – Ein gegenteiliges Urteil fällt Herrick (Italian Tragedy, S. 6): „[…] Mussato’s drama remains more medieval than neoclassical, for it is closer to allegory than to classical tragedy.” Zur Entwicklung der Tragödie vom 14. bis zum 16. Jahrhundert vgl. auch Herrick, Italian Tragedy; Stäuble, Idea, S. 206–219. So empfiehlt Aeneas Silvius Piccolomini in seiner Erziehungsschrift (De liberorum educatione, cap. 71, S. 222f.) die Lektüre von Tragödien, weist aber zugleich auf die spärlichen Textzeugnisse hin: Tragoedi quoque perutiles sunt, sed latinum hodie praeter Senecam […] nullum habemus, nisi Gregorium Corario Venetum, qui me iuvene Terei fabulam, quae apud Ovidium habetur, in tragoediam vertit. Vgl. auch Arnold, Enea Silvio. Die Werke von Sophokles erscheinen 1502, von Euripides 1503 und von Aischylos 1518. Vgl. Harlfinger, Graecogermania, S. 161; Sicherl, Erstausgaben, S. 291–309 (zu Euripides).

Problemstellung

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nige Jahrzehnte später das deutsche Zentrum des griechischen Antikedrucks, Basel, die führende Rolle übernimmt. An der Edition, der Übersetzung und der Kommentierung der griechischen Tragödien beteiligen sich bedeutende Gelehrte wie Desiderius Erasmus, Philipp Melanchthon und Joachim Camerarius.31 Die antiken Dramen werden nicht nur für die Lektüre erschlossen, sondern auch auf die Bühne zurückgebracht und im protestantischen Schultheater inszeniert.32 Die wachsende Vertrautheit der humanistischen Gelehrten mit der antiken Gattung der Tragödie wirkt sich produktiv auf die literarische Gestaltung eigener Werke aus. Im ‚Verzeichnis der im deutschen Sprachraum im 16. Jahrhundert erschienenen Drucke‘ sind über siebzig deutschsprachige Drucke historischen und religiösen, bevorzugt biblischen, Inhalts verzeichnet, die die Bezeichnung ‚Tragoedia‘ oder ‚Tragedia‘ im Titel tragen.33 Diese humanistische Hochphase der Tragödienproduktion steht in deutlichem Kontrast zu der fehlenden Konzeption vergleichbarer Stücke im Mittelalter. Zwar erwähnt Peter von Blois in den sechziger Jahren des 12. Jahrhunderts in einem Brief die Tragödie ‚De Flaura et Marco‘, die sein Bruder gedichtet habe.34 Doch welchen Beitrag Wilhelm von Blois, der als „the only certain author of a tragedy“35 im Hochmittelalter bezeichnet worden ist, tatsächlich geleistet hat, kann nicht mehr beurteilt werden; sein Werk ist nicht überliefert. Bekannt ist dagegen die Tragödie, die Johannes de Garlandia nach der einen verlorenen antiken Tragödie von Ovid als zweites, zeitgenössisches Exemplar der Gattung vorstellt:36 Der Text handelt von einer eifersüchtigen Wäscherin, die ihre Kollegin und deren Geliebten ermordet. Um ihre Schandtat zu verdecken, nimmt _____________ 31 32 33

34

35 36

Vgl. Harlfinger, Graecogermania, S. 161; Hieronymus, Griechischer Geist, S. 279–287. Zur europäischen Rezeption vgl. auch Hirsch, Printing Tradition. Vgl. Egli, Schauspiel; Harlfinger, Graecogermania, S. 164; Holstein, Reformation, S. 31–54; Skopnik, Schultheater; Washof, Bibel. Vgl. VD 16 A 5–A 7, A 1025, A 1026, B 5548, B 5549, B 5551, B 5552, B 5568, B 8981–B 8984, E 516, G 2696, G 2989, H 1510–H 1516, H 2577, J 1149, K 980, K 979, K 1002, K 1004, K 1008, K 1011, K 1428, L 1214, L 1215, M 6744, N 1386, P 243, R 2930, S 142, S 143, S 145, S 148–S 152, S 568–S 571, S 720, S 1599, S 5395, T 1818, T 1820, T 1822, T 1963, S 2293, W 949, Z 59, Z 60, ZV 2633, ZV 13548, ZV 16667, ZV 17849, ZV 18751, ZV 19689, ZV 22745, ZV 24156, ZV 24252, ZV 24377, ZV 24999 (= 73 Drucke). Vgl. Petrus Blesensis, Epistola 93, Sp. 292D: Nomen vestrum diuturniore memoria commendabile reddent tragoedia vestra de Flaura et Marco, versus de publice et musca, comoedia vestra de alda, sermones vestri, et caetera theologicae facultatis opera, quae utinam diffusius essent ac celebrius publicata! Vgl. auch Epistola 76, Sp. 235A: Illud nobile ingenium fratris mei magistri Willelmi, quandoque in scribendis comoediis et tragoediis quadam occupatione servili degenerans salutaribus monitis ab illa peremptoria vanitate retraxi […]. Kelly, Ideas, S. 97. Vgl. auch Cloetta, Komödie und Tragödie, S. 77, 120f. Vgl. John of Garland, Parisiana Poetria, Kap. 7, S. 136, Z. 6f.: Hec est secunda tragedia, cuius proprietates diligenter debent notari. Vgl. auch Cloetta, Komödie und Tragödie, S. 126f.; Kelly, Ideas, S. 100–102.

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Einleitung

sie den Tod zahlreicher Soldaten, unter denen sich auch ihr Bruder befindet, in Kauf. Während sich der Inhalt dieser Geschichte für eine Tragödie durchaus eignen mag, entspricht die Form nicht dem antiken Gattungskriterium: Statt im dramatischen ist der Text im epischen Modus gestaltet; in 126/128 Hexametern berichtet ein Erzähler von dem Handeln und Reden der Figuren. Wie diffus die Kenntnisse hinsichtlich der Gattung der Tragödie sind, zeigt ein weiteres Beispiel. In dem lateinischen Prosadialog ‚De casu Cesena‘ wird das Unglück der Bewohner von Cesena thematisiert, unter denen im Jahr 1377 ein Blutbad angerichtet worden ist. Selbst Ende des 14. Jahrhunderts sind die Vorstellungen, welche Merkmale die jeweilige Gattung kennzeichnen, so divergierend und variabel, dass der Text in einer Handschrift Coluccio Salutati zugeschrieben und als Tragödie bezeichnet wird, in einer anderen hingegen Petrarca zugewiesen und Komödie genannt wird.37 Dieser kurze Überblick über die Produktion und Rezeption von Tragödien belegt, dass sich die antike Gattung nur in eine negative Relation zum Mittelalter bringen lässt. Somit ist dem Urteil Wilhelm Cloettas uneingeschränkt zuzustimmen: „Wenn die Renaissance irgend eine dem Mittelalter unbekannte Dichtungsart erneuert hat, so war es sicherlich die Tragödie, und gewiss gehört diese zu denjenigen ihrer Errungenschaften, die von der weittragendsten Bedeutung für die Folgezeit waren.“38

Welche Schlussfolgerungen sind nun aus der mittelalterlichen Tragödiengeschichte für die Fragestellung dieser Studie zu ziehen? Dass im Mittelalter keine Dramen verfasst worden sind, die der antiken Gattung der Tragödie in formaler Hinsicht entsprechen, ist nicht zu bestreiten. Doch ist das Fehlen von Tragödien mit der Unmöglichkeit, tragisches Geschehen literarisch zu gestalten, gleichzusetzen? Eine solche Auffassung wird in der Mediävistik kaum vertreten.39 Nicht die fehlende Erfüllung eines antiken Gattungsideals, sondern die Übertragung eines modernen Begriffs, der auf anderen bewusstseins- und philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen basiert, bietet einen Angriffspunkt, Tragik im Mittelalter als anachronistisch zu disqualifizieren. Neuere Untersuchungen zu anderen Forschungsfeldern haben jedoch gezeigt, dass es eine Übertragung moderner Kategorien auf Texte der Vormoderne durchaus fruchtbar sein _____________ 37 38 39

Vgl. Cloetta, Komödie und Tragödie, S. 54–67; Kelly, Ideas, S. 194f. Cloetta, Renaissancetragödie, S. V. Selbst Kelly (Non-Tragedy, S. 114), der sich um die Rekonstruktion des historischen Verständnisses bemüht und sich auf die zeitgenössischen Tragikdefinitionen konzentriert, unterscheidet zwischen der Intention, eine Tragödie schreiben zu wollen, und dem tragischen Potential eines Textes: „If we are not allowed to call it a tragedy in intent, that is, as written in a genre of tragedy or drawing on medieval notions of tragedy, we are permitted to call it a tragedy in effect […].“

Forschungsstand

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kann.40 Denkbar wäre, dass die volkssprachliche Literatur des Mittelalters eigene Formen des Tragischen entwickelt hat. Solche Spezifika würden es erlauben, von einer höfischen Tragik zu sprechen.

2. Forschungsstand: Die Scheu der germanistischen Mediävistik vor der Tragik Tragische Elemente in der höfischen Literatur sind ein weitgehend unbeachtetes Untersuchungsobjekt geblieben, dessen Vernachlässigung in der Forschung nicht einmal als ein Defizit angesehen, sondern als sachlogisch betrachtet wird. Eine Erklärung bietet jedoch weniger die fehlende Überlieferung der Tragödien, vielmehr dominieren in der Diskussion metaphysische statt gattungsgeschichtlicher Argumente. Exemplarisch zeigt dies die bislang ausführlichste deutsche Studie, die sich mit dem Tragischen im höfischen Epos befasst. In ihrer 1938 abgeschlossenen und bei Hans Naumann angefertigten Dissertation, die ihren Entstehungskontext terminologisch nicht verleugnen kann, geht Katharina Bollinger von der These aus, dass die „Tragik der germanischen Welt […] Seinstragik, nicht Wertetragik“ sei und „im Metaphysischen, nicht im Psychologischen begründet“ liege.41 Diese Tragik könne nur in einer in sich geschlossenen Welt entstehen, die sich in einem Zustand ewiger Gefährdung befinde. Da durch den christlichen Glauben die Welt ihre innere Bedrohung verliere und der Untergang nicht mehr ihr letztes Schicksal sei, werde das Tragische im höfischen Epos abgewandelt, verlagert und schließlich aufgelöst. Einzig im ‚Nibelungenlied‘ liege ein Fall „echter Tragik“ vor, die aus einem bestimmten Lebensgefühl, dem „echt germanischen Pessimismus“, dass der Edle untergehen müsse, entwickelt werde.42 _____________ 40

41 42

Ausgehend von dem divergierenden Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit in der Vormoderne setzt sich Peter von Moos (Öffentliches, S. 3) grundlegend mit dieser Problematik auseinander und plädiert „für einen kontrollierten Anachronismus“. Er warnt davor, das Spannungsfeld von ‚Alterität‘ und ‚Modernität‘ einem archaisierenden, letztlich eher langweiligen Einheits- und Einzigkeitsmythos zu opfern (ebd., S. 82). Zu diesem Themenkomplex vgl. auch Brandt, Enklaven; Emmelius, Offen. – In einer jüngeren Studie zu Vergehen und Versehen in der Vormoderne modifiziert von Moos (Einleitung, S. 1) seine Formulierung und spricht nun „von einem intendierten heuristischen Anachronismus”. Wenngleich das Mittelalter kein Vokabular für kleinere Fehltritte kenne, müsse diese terminologische Lücke nicht die „Undenkbarkeit der Sache” (ebd., S. 33) bedeuten. – Für die Untersuchung von Strukturen des Tragischen in der Artusepik erhebt Guerin (Fall of Kings, S. 6.) eine ähnliche Forderung: „Rather than resisting the tendency to impose the modern reader’s preconceived concept of tragedy on such texts, it may be useful to ask whether there is not, in fact, something to be gained by comparing the two.” Bollinger, Das Tragische, S. 1. Bollinger, Das Tragische, S. 4.

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Einleitung

Auch in der Nachkriegsgermanistik wird die These von der untragischen Weltsicht der mittelalterlichen Autoren aufrechterhalten. Ähnlich wie Bollinger äußert sich Lutz Mackensen in einem 1955 publizierten Aufsatz, in dem er „Wesen und Grenzen des Mittelalters“ zu bestimmen sucht. Er argumentiert, dass „die Tragödie als Gattung Ausfluß einer ganz bestimmten Weltanschauung ist, die als pessimistisch bezeichnet werden muß.“43 Ein solches Weltbild, das den Menschen einer unbegreiflichen Macht ausliefere, sei seinem Wesen nach unchristlich, weshalb dem Mittelalter die Voraussetzungen für das Tragische fehlten. Wenn Mackensen das ‚Nibelungenlied‘ ebenfalls als Ausnahme gelten lässt, dann meint er – im Unterschied zu Bollinger – „nicht ein verspätetes Aufklingen altgermanischer Heldentragik“, sondern „die erste leiddunkle Stimme ‚moderner‘ Schicksalsverhaftung“ zu hören.44 In ihrer Grundannahme, dass das Mittelalter durch eine entschieden untragische Weltauffassung gekennzeichnet sei, stimmen jedoch beide Interpreten überein. Diese These findet auch in der Gegenwart noch viel Zustimmung, wie eine deutsche Monographie zur Theorie und Geschichte der Tragödie aus dem Jahr 1995 belegt. In einem Kapitel zum ‚Untragischen Mittelalter‘ beruft sich Hans-Dieter Gelfert zunächst auf den nicht näher ausgeführten Gemeinplatz, in der christlichen Glaubenswelt sei kein Platz für tragische Ambivalenz. Für einen gläubigen Christen bringe der Tod entweder das ewige Leben als verdienten Lohn für ein gottgefälliges Leben oder die ewige Verdammnis als Strafe für begangene Sünden. Das Charakteristikum des Tragischen, aufgrund des Übermaßes an Leid trotz Schuld bewundert zu werden, fehle in beiden Fällen. Dies wäre nur dann gewährleistet, wenn Gott das ewige Leben willkürlich, ohne Berücksichtigung des menschlichen Verhaltens verliehe. Da dies dem Glauben an einen gerechten und gütigen Gott widerspräche, sei eine dritte Option außer dem Tod eines Heiligen oder eines Sünders für den mittelalterlichen Menschen nicht vorstellbar.45 Die Überzeugung, dass es im Mittelalter keine Tragik geben könne, hat zu einer merkwürdigen Inkonsequenz in der literaturwissenschaftlichen Terminologie geführt. Einerseits lassen sich in der mittelhochdeutschen Literatur Situationen, Konstellationen und Figuren finden, für die ein wie auch immer definierter Begriff von Tragik angemessen erscheint. Bei der Interpretation einzelner Werke wird dieser Terminus in der Forschungsliteratur gerne aufgegriffen, um einen bestimmten Sachverhalt zu _____________ 43 44 45

Mackensen, Mittelalterliche Tragödien, S. 93. Mackensen, Mittelalterliche Tragödien, S. 102f. Vgl. Gelfert, Tragödie, S. 44–48.

Forschungsstand

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illustrieren.46 Andererseits ist eine prinzipielle Auseinandersetzung, die eine Definition des Tragischen zur Voraussetzung haben müsste, bisher meist vermieden worden; stattdessen wird das Argument weltanschaulicher Unmöglichkeit stereotyp wiederholt. Diese Spannung und der normierende Einfluss des Vorurteils vom untragischen Mittelalter lassen sich eindrucksvoll an den Arbeiten desjenigen Altgermanisten ablesen, der sich am häufigsten mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat. Werner Schröder hat sich über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren mit der Frage nach der Tragik in der deutschen Literatur des Mittelalters beschäftigt. Als erster Untersuchungsgegenstand erregte die „Tragödie Kriemhilts im Nibelungenlied“ seine Aufmerksamkeit. In der 1960/61 publizierten Studie werden zahlreiche tragödienrelevante Begriffe, wie z.B. unvermeidlicher Untergang, Erwartung der Katastrophe, das kommende Verhängnis, unheilschwangere Stimmung, tragische Zuspitzung und Schuld, Ausweglosigkeit der Lage sowie Zwang zum Handelnmüssen, verwendet;47 eine Erklärung, was unter Tragik zu verstehen ist, erfolgt jedoch nicht. Dieses Defizit beseitigt Schröder knapp zwanzig Jahre später, als er sich Wolframs Spätwerk zuwendet und dieses als ‚den tragischen Roman von Willehalm und Gyburg‘ bezeichnet. Diese Klassifikation wird mit der tragischen Situation, in der sich die Protagonistin befinde, begründet. Sie gerate zwischen die Fronten und werde aus Liebe zu Willehalm und dem Christengott schuldlos-schuldig am Tod ihrer Verwandten. Weil diese ungewollte Schuld an der göttlichen Gerechtigkeit zweifeln lasse, könne sie als tragisch gelten. Schröder folgert: „Dieser Versroman […] ist angefüllt mit Tragik, eine potentielle Tragödie […].“48 Mit dieser Argumentation gelingt es Schröder jedoch nicht, das vorherrschende Bild einer untragischen mittelalterlichen Weltanschauung zu erschüttern. Vielmehr stellt er 1992 mit seiner dritten Publikation, die der Liebesgeschichte zwischen Medea und Jason im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg gewidmet ist, seine bisherigen Arbeiten selbst in Frage. Anstatt sich noch einmal „auf Glatteis zu begeben“, will er nun „weniger risikoreich“ verfahren und erklären, wie und warum in der mittelalterlichen Dichtung der Tragik ausgewichen wird.49 Den im Vergleich zu den antiken Versionen geänderten Schluss der Medea-Episode im ‚Trojanerkrieg‘ führt Schröder auf eine „Scheu vor der Tragik“ zurück, die er als symptomatisch für die mittelalterliche Literatur betrachtet. Weil es nach christlicher Lehre keine tragischen Gestalten geben könne und das Leben _____________ 46 47 48 49

Wie überraschend oft der Begriff des Tragischen in verschiedensten Deutungen Erwähnung findet, wird die Analyse im dritten Kapitel dieser Studie zeigen, vgl. S. 84-451. Vgl. Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 48–156, hier S. 115, 118, 141, 144. Schröder, Tragischer Roman, S. 20. Schröder, Über die Scheu vor der Tragik, S. 5.

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Einleitung

aller Menschen, selbst des zur Hölle verdammten Sünders, in der Hand Gottes liege, entferne sich Konrad vom antiken Mythos.50 In seinem Resümee bestätigt Schröder den allgemeinen Vorbehalt: „Das tragische Potential, das der überlieferte Stoff barg, war offenbar für einen mittelalterlichen Dichter nicht ohne weiteres ausschöpfbar […].“51 Dennoch schließt Schröder mit dem Thema nicht ab, sondern fragt 2002 ein weiteres Mal nach der Tragik einer mittelalterlichen Erzählung.52 Im Fokus seines Interesses steht nun der rechtschaffene Meier Helmbrecht, dessen gleichnamiger Sohn sich von seiner bäuerlichen Herkunft lossagt, ein Leben als Raubritter führt und schließlich mit Blendung, Verstümmelung und Tod bestraft wird. In dem „breit ausgefächerte[n] VaterSohn-Drama“, das Schröder detailliert nachzeichnet, werde „der alte Helmbrecht zur tragischen Gestalt“: Er versuche vergeblich, seinen Sohn von einem Weg ins Verderben abzubringen und müsse ihn schließlich selbst verwerfen, um sich treu bleiben zu können. Seine frühere These von den tragikscheuen Dichtern des Mittelalters braucht Schröder auch angesichts dieser „Vater-Sohn-Tragödie“ nicht zu revidieren. Seine als Fragen formulierten Schlussbemerkungen suggerieren, dass Wernher der Gärtner „vor diesem Ausgang des Dramas zurückgeschreckt“ sei und die Erzählung „mit einer Exempel-Moral verkleidet und entschärft“ habe. Auch Wernhers ‚Helmbrecht‘ dient somit als ein Beleg dafür, dass die Dichter des Mittelalters das tragische Potential einer Erzählung nicht zu entfalten wissen, sondern der Tragik auszuweichen suchen. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Fritz Peter Knapp, als er 1987 den „Eintritt des Nibelungenliedes in die Welt der litterati“ untersucht und sich dabei aus gattungstheoretischer und rezeptionsästhetischer Perspektive mit Tragik beschäftigt. Knapp geht davon aus, dass die Verschriftlichung des Epos nur innerhalb des schulmäßigen, traditionellen Verständnisrahmens möglich gewesen sei, und diskutiert die Überformung des ‚Nibelungenlieds‘ anhand der literarischen Gattungen Tragoedia und Planctus. In einem ersten Schritt führt er mittelalterliche Tragödiendefinitionen an, um mit ihnen die Lösung von der dramatischen Darstellung zu begründen und epische Versgedichte als mögliche Tragödien anzuerkennen.53 Im zweiten Abschnitt setzt Knapp sich mit der Tragödientheorie des Aristoteles auseinander, nicht ohne auf ihre fehlende Bekanntheit im Mittelalter hinzuweisen, und entwirft ein Tragikkonzept, das durch schuldlose Schuld gekennzeichnet ist.54 Danach analysiert er die Aussagen _____________ 50 51 52 53 54

Vgl. Schröder, Über die Scheu vor der Tragik, S. 9. Schröder, Über die Scheu vor der Tragik, S. 26. Vgl. Schröder, Tragik des Vaters. Sämtliche Zitate finden sich auf S. 205. Vgl. Knapp, Tragoedia, S. 30–32. Vgl. Knapp, Tragoedia, S. 32–35.

Forschungsstand

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des Boethius, der die Tragödie als eine Klage interpretiert und durch einen Appell zur Verachtung Fortunas einem moralisierenden Verständnis Vorschub leiste.55 Vor diesem Hintergrund deutet Knapp im vierten und fünften Abschnitt die Veränderungen im Verschriftlichungsprozess des ‚Nibelungenlieds‘ als eine Moralisierung aus dem Geist des Boethius, die durch die Überlieferungsgemeinschaft mit der ‚Klage‘ verstärkt werde.56 Obwohl sich Knapp sehr reflektiert mit dem Begriff der Tragik auseinandersetzt und die antike ‚Poetik‘ ebenso wie die mittelalterliche Semantik in seine Überlegungen einbezieht, basiert seine Argumentation auf derselben weltanschaulichen Prämisse wie Schröders Interpretationen. So betont Knapp zwar, dass es sich bei dem ‚Nibelungenlied‘ um ein genuin tragisches Werk handle, führt dies jedoch auf den mangelnden christlichen Einfluss bei seiner Entstehung zurück. Nachdem er das Epos als ein gelungenes Beispiel für das aristotelische Tragikkonzept präsentiert hat,57 weist er auf die Differenz zwischen antiker Hamartia und mittelalterlichem Peccatum hin: „Christlichem Denken liegt vieles an dieser Konzeption ziemlich ferne, insbesondere die Auffassung von der tragischen Schuld.“ Einen potentiellen, aber im Mittelalter nicht genutzten Anknüpfungspunkt sieht Knapp in der Frage des irrenden Gewissens, gegen das niemand handeln könne, ohne zu sündigen. „Hier wird doch eine Möglichkeit echter Tragik auch und gerade im Rahmen des mittelalterlichen christlichen Weltbildes sichtbar,“58 erklärt er und verweist auf denjenigen, den sein irrendes Gewissen zur ewigen Verdammnis führt. Selbst diese hypothetische Konstruktion kann nach Knapp jedoch keine absolute Geltung beanspruchen, da die Tragik im Zusammenspiel von göttlicher Gnade und menschlicher Neubesinnung aufhebbar sei. Seine Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Im christlichen Kontext muss „das tragische, vom Evangelium Jesu Christi nahezu unberührte Heldenepos“59 domestiziert werden, um rezipierbar zu bleiben. Somit entpuppt sich Knapps These, die weltchronistische Moralisierung des ‚Nibelungenlieds‘ sei eine für die Verschriftlichung notwendige Bearbeitung eines Klerikers gewesen, als eine weitere Variante des Gemeinplatzes vom untragischen Mittelalter. In der neueren Forschung zum ‚Nibelungenlied‘ gibt es außer metaphysischen Vorbehalten noch einen weiteren, spezifisch fachgeschicht_____________ 55 56 57

58 59

Vgl. Knapp, Tragoedia, S. 35–39. Vgl. Knapp, Tragoedia, S. 39–44. Knapp, Tragoedia, S. 40: „Was in der Poetik über den tragischen Mythos, den Charakter und das Geschick der Helden, ihr Verhältnis zueinander, schließlich die Art ihrer Verfehlung gesagt wird, vermag […] auch das Nibelungenlied besser zu erhellen als so manche moderne Studie.“ Knapp, Tragoedia, S. 34. Knapp, Tragoedia, S. 44.

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Einleitung

lichen Grund, weshalb Formen des Tragischen bisher kaum untersucht worden sind. Die Vereinnahmung des Terminus durch die nationalsozialistisch geprägte Germanistik hat zu einer grundsätzlichen Abkehr von einem solchen Tragikverständnis geführt. So distanziert sich Jan-Dirk Müller in seiner einflussreichen Studie zum ‚Nibelungenlied‘ ausdrücklich von einer solchen Vorstellung: „Hier soll keine Schicksalsmetaphysik unseligen Andenkens, vielleicht gar Überbleibsel einer archaisch-germanischen Religiosität, revitalisiert werden […].“60 Aus Sorge, einen ideologisch belasteten Terminus zu benutzen und sich dem Vorwurf eines Anachronismus auszusetzen, wird der Begriff des Tragischen von vielen Mediävisten ganz vermieden. Im internationalen Vergleich erweist sich die Auffassung, im Mittelalter könne es keine Tragik geben, allerdings als eine deutsche Besonderheit: Die englischsprachige Forschung ist zu einer völlig anderen Einschätzung gelangt.61 Obwohl in ganz Europa in dieser Zeit keine Tragödien produziert und rezipiert worden sind, stellen zahlreiche mediävistische Studien Bezüge zum Tragischen her, sei es durch die Präsentation theoretischer Aussagen oder die Analyse literarischer Werke.62 Viele Beiträge widmen sich dem Thema „Medieval Tragedy“63 und untersuchen z.B. „The Tragedy of Knighthood“,64 „The Condemnation of Heroism in the Tragedy of Beowulf“,65 „Structure and Destructions in Arthurian Tragedy“66 oder „Chaucerian Tragedy“.67 Der Unterschied zwischen der angloamerikanischen und der deutschen Forschung hinsichtlich einer tragödientheoretischen Herangehensweise hängt nicht allein mit der Geschichte der Germanistik im Dritten Reich zusammen. Dass die angloamerikanische Forschung den Tragikbegriff für literaturwissenschaftliche Analysen zu nutzen weiß, ist primär _____________ 60 61

62 63 64 65 66 67

Müller, Spielregeln, S. 447. Eine ähnliche Divergenz zwischen dem deutschen Forschungskonsens und den Tendenzen der internationalen Mediävistik beobachtet von Moos (Öffentliches, S. 83) hinsichtlich der Auffassung eines mittelalterlichen Rechtspartikularismus und zieht daraus eine Schlussfolgerung, die sich auch auf das Thema der Tragik übertragen ließe: „Soll die viel beschworene Interdisziplinarität und Internationalität der Mittelalterforschung nicht ein flatus vocis bleiben, dann ist das Gespräch über derart divergierende nationale Wissenschaftstraditionen und Mittelaltermythen ein Gebot der Stunde.“ Zur Theorie vgl. v.a. Kelly, Aristotle; ders., Ideas. Vgl. Benson, Tragedy, S. 75–87; Caldwell, Ballad; Clough, Tragedy; Dickman, Tragedy; Farnham, Heritage; Kleinstück, Tragödie; Lumiansky, Concept. Clifton-Everest, Tragedy. Fajardo-Acosta, Condemnation. Guerin, Fall of Kings. Vgl. auch Fries, Structure; Kennedy, Re-Emergence; Matthews, Tragedy; Peck, Willfulness. Vgl. Kelly, Chaucerian Tragedy; Robertson, Chaucerian Tragedy. Vgl. auch Herold, Chaucer’s Tragic Muse.

Forschungsstand

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durch ein anders gelagertes Konzept des Tragischen zu erklären. Tragik wird in der englischsprachigen Literatur nicht metaphysisch verstanden, sondern das Tragödienverständnis der antiken ‚Poetik‘ bleibt der entscheidende Bezugspunkt. Daher ist es möglich, tragische Handlungselemente in der mittelalterlichen Literatur zu untersuchen, ohne diese wegen fehlender weltanschaulicher Bedingungen kategorisch auszuschließen. Die von Werner Schröder problematisierte Distanz mittelalterlicher Autoren gegenüber tragischem Erzählen erweist sich vor diesem Hintergrund weniger charakteristisch für die höfische Literatur als für ihre modernen Interpreten. Es scheint, als empfänden nicht die mittelhochdeutschen Dichter, sondern vor allem die germanistischen Mediävisten eine Scheu davor, sich mit dem Tragischen auseinanderzusetzen. Mittlerweile finden sich jedoch auch in der deutschen Forschungsliteratur vielversprechende Ansätze, das konkreten Werken zugrunde liegende Tragikkonzept zu analysieren. Zu verweisen ist hierbei besonders auf einzelne Studien zum Antikenroman und zur Heldenepik.68 Ausgehend von der literarischen Gestaltung des Nibelungenstoffs, vertritt Wolfgang Dinkelacker in einem 2006 erschienenen Aufsatz die Ansicht, dass der Terminus des Tragischen durchaus hilfreich sein kann, um wesentliche Eigenschaften des Epos zu erfassen. Dezidiert plädiert er dafür, wieder von Tragik zu sprechen, diesen Begriff aber auf die vorliegenden Erzählungen zu beschränken. Statt nach dem Wesen des Tragischen außerhalb von Kunst und Literatur zu fragen, sollten die innerliterarischen Charakteristika untersucht werden.69 Damit macht Dinkelacker auf den heuristischen Wert des Tragischen aufmerksam und regt dazu an, in der germanistischen Mediävistik eine Verfahrensweise zu erproben, die sich in der angloamerikanischen Forschung bereits bewährt hat: Die Kategorie der Tragik soll für die Textanalyse fruchtbar gemacht werden. Von einer neuen Offenheit, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, zeugen zwei interdisziplinäre Tagungen zu ‚Tragik vor der Moderne‘ (2010) und ‚Tragik und Minne‘ (2012). Klassische Philologen und Mediävisten unter_____________ 68

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Das tragische Potential der antiken Mythen und die veränderte Darstellung in der höfischen Dichtung beleuchten Hübner (Erzählform, S. 245–248, 261–263) und Kistler (Heinrich von Veldeke, S. 212–231), deren Studien an späterer Stelle vorgestellt werden, vgl. S. 349f. – Für die Heldenepik ist neben dem bereits zitierten Aufsatz Knapps (Tragoedia) auch ein Beitrag Gschwantlers (Heldensage, bes. S. 62–64) anzuführen. Er spricht sich dafür aus, Heldensage als tragoedia zu verstehen, wobei er seine Deutung nicht nur begriffsgeschichtlich, mit einer Formulierung des Domschulmeisters Meinhard, sondern auch inhaltlich zu legitimieren weiß: Den gemeinsamen Bezugspunkt von mittelalterlichem und modernem Tragikverständnis bildet für ihn die Sinnlosigkeit des Geschehens, wie sie im ‚Nibelungenlied‘ und der Dietrichepik zutage trete. Vgl. Dinkelacker, Spielregeln, bes. S. 69–71. Dabei schlägt er vor, „vielleicht besser […] von ‚tragödienhaft‘ zu sprechen“, da dieser Begriff innerliterarisch zu verstehen und weniger für Missverständnisse anfällig sei (ebd., S. 69).

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Einleitung

suchten an verschiedenen Fallbeispielen, welche Konzepte des Tragischen für die Literatur der Antike und des Mittelalters charakteristisch sind und inwiefern sich diese von genuin modernen Auffassungen unterscheiden.70 Meine Studie stellt also einerseits einen Gegenentwurf zu der bisher in der deutschen Forschung dominierenden Auffassung vom untragischen Mittelalter dar und könnte insofern für eine Provokation gehalten werden. Andererseits schließt sie an die angloamerikanische Literaturwissenschaft an, die den Begriff des Tragischen poetologisch versteht. Diese Verfahrensweise soll in der Analyse auf die Literatur des deutschen Mittelalters übertragen werden, wobei sich zugleich an mehrere Einzelinterpretationen der germanistischen Mediävistik anknüpfen lässt.

3. Konzeption der Untersuchung: Anwendung einer Methode statt Suche nach einem Objekt Die vorliegende Studie besteht aus einem theoretischen und einem analytischen Teil. Das erste Hauptkapitel soll die Voraussetzungen für die Untersuchung von Formen des Tragischen in der höfischen Epik schaffen. Zu Beginn erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Tragik‘ und ‚Tragödie‘, die ein breites Bedeutungsspektrum aufweisen und in der Literatur sehr unterschiedlich definiert werden. Bewusst werden in diesem Eingangskapitel verschiedene tragödientheoretische Positionen von der Antike bis zur Moderne kombiniert. Auf diese Weise soll verdeutlicht werden, dass die Begriffsvielfalt kein epochenspezifisches Phänomen ist, sondern sowohl im Mittelalter als auch in der Moderne divergierende Erklärungen miteinander konkurrieren (Kap. II.1.1). Nach diesem synchronen Überblick, der Ähnlichkeiten zwischen den Tragikdefinitionen verschiedener Zeiten sichtbar werden lässt, wird die historische Entwicklung dargestellt, um auf entscheidende Verschiebungen in der Theoriegeschichte aufmerksam zu machen; erst die diachrone Be_____________ 70

Die beiden Tagungen wurden von Gyburg Uhlmann und mir organisiert und von der DFG finanziert. An der ersten Tagung, die an der Freien Universität Berlin stattfand, beteiligten sich die Gräzisten Brigitte Kappl, Michael Krewet und Arbogast Schmitt, die Latinistin Christine Schmitz, der Romanist Rainer Stillers und die Altgermanisten Stephan Fuchs-Jolie, Manfred Kern, Kai Malcher, Katharina Philipowski, Elisabeth Schmid und Ulrich Wyss. Bei der zweiten Tagung an der Goethe-Universität Frankfurt referierten aus der Gräzistik Stefan Büttner, Nils Kircher, Arbogast Schmitt und Gyburg Uhlmann, aus der Latinistik Melanie Möller und Bernd Roling, aus der Romanistik Andreas Kablitz und Bernhard Huss, aus der Anglistik Andrew James Johnston und aus der Altgermanistik Ricarda Bauschke-Hartung, Dorothea Klein, Andreas Kraß, Regina Toepfer und Michael Waltenberger. Die Veröffentlichung der Beiträge ist in der Reihe ‚Studien zur Literatur und Erkenntnis‘ des Winter-Verlags geplant.

Konzeption

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trachtungsweise offenbart den Paradigmenwechsel in der Moderne (Kap. II.1.2). Aus diesen Beobachtungen resultiert die Forderung nach einer historisch reflektierten Verwendung des Begriffs und nach einem poetologischen Verständnis des Tragischen, die diese Studie zu erfüllen sucht (Kap. II.1.3). Im zweiten Kapitel der theoretischen Grundlegung werden die theologisch-religionsphilosophischen Implikationen des Themas behandelt. Auf diese Weise soll dem verbreiteten Vorurteil, im Mittelalter könne es aufgrund der christlichen Weltanschauung keine Tragik geben, die Grundlage entzogen werden. Der scheinbar objektive Beweis, die fehlende Überlieferung von Tragödien, die zeitlich mit der Ausbreitung des Christentums zusammenfällt, lässt sich durch einen Blick auf die antiken Verhältnisse entkräften. Bereits zur Zeit der Kirchenväter ist die Tragödie eine überlebte Gattung, die für das Theaterwesen keine Rolle mehr spielt (Kap. II.2.1). Zudem ist zu fragen, inwiefern tatsächlich ein unvereinbarer Gegensatz zur vermeintlich optimistischen Weltsicht des Christentums besteht, wenn der Terminus der Tragik geschichtlichen Veränderungen unterworfen ist und in der Forschungsliteratur auch in diesem Punkt divergierende Auffassungen vertreten werden (Kap. II.2.2). Dass die christliche Literatur durchaus Potential für tragisches Erzählen bietet, zeigt die Geschichte des Sündenfalls, die sich theologisch-narratologisch als eine biblische Mustererzählung für ein tragisches Handlungsgeschehen deuten lässt (Kapitel II.2.3). Vor dem Hintergrund dieser kirchengeschichtlichen, religionsphilosophischen und exegetischen Beobachtungen erweist sich die These eines untragischen Mittelalters als kennzeichnend für die moderne Philosophie des Tragischen, die in weltanschaulichen Axiomen begründet liegt. Leitendes Prinzip dieser Studie ist dagegen eine Abkehr von einer metaphysischen Tragikvorstellung und eine Hinwendung zu einer Poetik tragischen Erzählens, wie sie an der literarischen Gestaltung mittelalterlicher Werke zu beobachten ist. Dennoch bleibt die Notwendigkeit einer theoretischen Fundierung bestehen, um Elemente in der höfischen Dichtung überhaupt als tragisch klassifizieren zu können. Daher wird im theoretischen Grundlagenkapitel eine Definition von Tragik entwickelt, die als Instrumentarium für die Analyse dienen soll. Dieses Tragikverständnis muss einerseits weit genug gefasst sein, um unterschiedliche literarische Formen verschiedener Epochen einzuschließen, und andererseits über eine umgangssprachliche Verwendung des Begriffs hinausgehen. Voraussetzung für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung ist ein Tragikkonzept, das weniger nach der Substanz oder dem Wesen des Tragischen fragt, als vielmehr textuelle Merkmale berücksichtigt.

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Einleitung

Im dritten Grundlagenkapitel wird eine Narratologie des Tragischen entworfen. Die Unterscheidung zwischen tragischer ‚histoire‘ und epischem ‚discours‘ liefert die theoretische Begründung, weshalb die Darstellung tragischen Handelns nicht auf die Gattung des Dramas beschränkt sein muss (Kap. II.3.1). Anschließend werden die strukturellen Merkmale einer tragischen Handlung erarbeitet, indem die Aufmerksamkeit auf die Wende des Glücks und den negativen Verlauf gerichtet wird (Kap. II.3.2). Dabei erweist sich die Handlungsmotivation als entscheidende Kategorie, um die Charakteristika bedeutender Tragikkonzepte von der Antike bis zur Moderne zu erfassen. Untersucht man die narrative Struktur der Tragödientheorien von Aristoteles, Seneca, Boethius und Hegel, zeichnen sich auffällige Unterschiede hinsichtlich der Motivierung des Unglücks ab (Kap. II.3.3). Durch eine Übertragung narratologischer Begriffe auf theoretische Texte können verschiedene Formen tragischen Handelns identifiziert werden, die sich auch als Maßstab für eine Klassifikation des Tragischen in literarischen Werken eignen. Ein narratologischer Ansatz bietet einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen tragödientheoretischen Interpretationen mittelalterlicher Literatur: Da es sich bei der Handlungsmotivation um eine grundlegende Kategorie des Erzählens handelt, besteht nicht die Gefahr, einen Text durch eine normative Tragikdefinition entgegen seiner eigentlichen Aussage zu deuten.71 Überdies zeichnet sich die Vorgehensweise, nach Motivierungsformen zu fragen, durch eine relative Offenheit aus; auf diese Weise kann der literarische Gestaltungsspielraum berücksichtigt und für die Untersuchung tragischen Handelns in der höfischen Epik fruchtbar gemacht werden. Die Motivierung des Unglücks lässt auf ein poetologisches Tragikkonzept schließen,72 ohne dass ein bestimmtes Verständnis des Tragi_____________ 71

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Als negatives Beispiel führt Kelly (Non-Tragedy, S. 108–110) die Forschungsgeschichte des mittelenglischen Versromans ‚Alliterative Morte Arthure‘ an (vgl. auch Lumiansky, Concept, S. 98–101). Die aristotelische ‚Poetik‘ gilt zahlreichen Autoren als Richtschnur, ob das Werk als Tragödie zu bezeichnen ist. Sie suchen nach einem Verbrechen, das Arthur begangen haben muss, damit sein Tod als selbstverschuldet gedeutet werden kann. In der Identifizierung und Bewertung dieses Vergehens differiert die Forschung erheblich. Benson (Tragedy, S. 83f.) erklärt, Arthur müsse nicht sterben, um der Gerechtigkeit Gottes zu genügen und für seine Sünden zu büßen, sondern weil er seine Sterblichkeit vergesse. Dagegen versteht Matthews (Tragedy, S. 115–150) Arthurs Tod als göttliche Strafe für sein sündiges Streben, die Welt zu erobern, und betrachtet den Text als eine vom Autor gezielt inszenierte Tragödie. Diese Untersuchungen verurteilt Kelly (Non-Tragedy, S. 93) nicht nur aufgrund des geringen Bekanntheitsgrads von Tragödiendefinitionen im Mittelalter, sondern vor allem, weil die Thesen mit einer normativen Theorie, statt mit den literarischen Strukturen begründet werden: „We must limit ourselves to the statements of causality, responsibility, or blame that are actually present in the text […].“ (ebd., S. 99). Das Verhältnis von Narratologie und Poetologie klärt Simon (Einführung, S. Vf.). Demnach kann der Begriff der Poetik in zweifacher Hinsicht verstanden werden, einerseits als eine „Poetik der Poetizität, die etwa danach fragt, was einen Text zum ästhetischen macht“,

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schen a priori vorausgesetzt werden muss. Diese Studie sucht daher nicht nach einem philosophischen Objekt, etwa einer tragischen Weltanschauung der höfischen Gesellschaft, sondern wendet eine literaturwissenschaftliche Methode an und analysiert die Motivationsformen tragischen Erzählens. Tragik in der höfischen Dichtung wird als ein dynamisches Prinzip verstanden, das narrativ zu entfalten ist. Der zweite, deutlich umfangreichere Teil der Untersuchung wendet sich der Literatur des hohen Mittelalters zu. Die vorherigen Überlegungen zu einer Narratologie des Tragischen werden in der Analyse erprobt. Der Schwerpunkt liegt auf der deutschsprachigen höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts,73 doch werden die lateinischen und punktuell auch die altfranzösischen Prätexte ebenfalls herangezogen. Mit Hilfe eines komparatistischen Ansatzes lässt sich prüfen, welche Veränderungen in der Inszenierung tragischen Handelns zu beobachten sind. Insgesamt werden acht Werke der höfischen Literatur untersucht, die innerhalb eines Zeitraums von gut hundert Jahren entstanden sind. Um 1170–74 beginnt Heinrich von Veldeke mit der Arbeit am ‚Eneasroman‘, der von seinen Zeitgenossen als Erstlingswerk der deutschen Literatur gerühmt wird.74 Den chronologischen Abschluss des Textkorpus bildet der ‚Trojanerkrieg‘, den Konrad von Würzburg in den 1280er Jahren verfasst.75 Diese beiden Antikenromane stecken zwar den zeitlichen Rahmen ab, sind aber hinsichtlich ihrer Gattungszugehörigkeit nicht repräsentativ. Neben den Texten mit antiker Stofftradition werden in dieser Studie auch Erzählungen aus dem Bereich der Heldenepik und sogar solche Werke analysiert, deren positive Teleologie kaum zu einer Untersuchung tragischen Handelns zu passen scheint: Artusromane und legendenhafte Erzählungen. Auf diese Weise soll ein möglichst breites Gattungsspektrum abgedeckt und eine neue Perspektive auf ‚kanonische‘ Autoren und ‚klassische‘ Werke der mittelhochdeutschen Literatur eröffnet werden. _____________

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und andererseits als eine „Poetik der Sujetfügung“, die auf die „Struktur der Narration, die Art und Weise, wie sich zunächst eine Erzählung von Begebenheiten aufbaut und wie sich ein solcher theoretisch erfassen läßt“, zielt. Grundsätzlich könnte eine Vielzahl von Texten untersucht werden. Beginnen ließe sich mit einem der frühsten Literaturzeugnisse in deutscher Sprache, dem ‚Hildebrandslied‘, und enden mit den frühneuhochdeutschen Prosaromanen. Auch ein Einbezug dramatischer Stücke, von den Geistlichen Spielen des Mittelalters bis hin zu den frühneuzeitlichen ‚Tragedien‘ wäre denkbar. Zu Gottfrieds von Straßburg Lob vgl. Tristan, V. 4726–4750. – Folgt man der Argumentation des Epilogs, der von einer neunjährigen Verzögerung der Fertigstellung berichtet, konnte Veldeke seinen Roman erst in den 1180er Jahren abschließen. Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 352,19–354,1. Vgl. auch Lienert, Antikenromane, S. 76f.; Wolff, Heinrich von Veldeke, Sp. 908f. Vgl. Lienert, Antikenromane, S. 120.

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Einleitung

Die analytische Untersuchung ist in drei Kapitel untergliedert, in denen jeweils ein zentrales Element tragischen Handelns im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Zuerst wird am Beispiel der Erzählungen von Erec, Parzival und Kriemhild der Aspekt der tragischen Schuld behandelt und der Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten der Figuren und den negativen Folgen erörtert (Kap. III.1). Anschließend geht es um die Klassifikation eines tragischen Konflikts. Der Zwiespalt, in dem sich Rüdiger von Bechelaren im ‚Nibelungenlied‘, Giburg in Wolframs ‚Willehalm‘ und Engelhard in Konrads gleichnamiger Erzählung befinden, wird ebenso beleuchtet wie die Lösung dieses Dilemmas (Kap. III.2). Das dritte Kapitel setzt sich mit der Konzeption einer tragischen Liebe auseinander, deren innere Widerspruchsstruktur zu Didos Selbstmord, Tristans und Isoldes Leid und zu Medeas Verschwinden im ‚Trojanerkrieg‘ führt (Kap. III.3). Während Aspekte der Schuld und des Konflikts für das Tragikverständnis in Antike und Moderne von grundlegender Bedeutung sind, gerät mit der Liebe ein eigenes Paradigma tragischen Erzählens in der Literatur des Mittelalters in den Blick. Alle drei Kapitel zu den Formen tragischen Erzählens in der höfischen Dichtung sind parallel aufgebaut. Zunächst wird die Handlungsstruktur skizziert, wobei die Wende des Glücks markiert und einzelne Stationen des unglücklichen Verlaufs herausgestellt werden. Mit diesem strukturellen Ansatz soll gezeigt werden, inwiefern sich der Handlungsverlauf für eine Untersuchung tragischen Erzählens eignet. Im nächsten Schritt werden die Motive, die das Handeln der Protagonisten entscheidend vorantreiben, analysiert. Nie ist das Unglück der Figuren auf eine singuläre Ursache zurückzuführen, vielmehr greifen verschiedene Einflüsse ineinander. Im Anschluss daran werden die Forschungspositionen, die sich mit Tragik explizit auseinandersetzen oder deren Beobachtungen inhaltlich anschlussfähig sind, vorgestellt und diskutiert. Welche Form der Motivierung ausschlaggebend für das Leid in der erzählten Welt ist, wird in einem letzten Schritt beantwortet. Anknüpfend an die eingangs entwickelte Narratologie des Tragischen, soll auf diese Weise das poetologische Tragikkonzept jedes Werks erfasst werden. In der Art und Weise, wie die mittelalterlichen Autoren das Unglück ihrer Figuren begründen, zeichnen sich sowohl Abweichungen als auch Übereinstimmungen mit den Tragikauffassungen anderer Epochen ab. Um zu prüfen, ob die erarbeiteten Charakteristika für die mittelalterliche Auffassung insgesamt kennzeichnend sind, erfolgt am Ende jedes Analysekapitels eine Verortung im zeitgenössischen Diskurs. Die Besonderheiten, die im Umgang mit Schuld, Konflikt und Liebe in der höfischen Epik beobachtet worden sind, werden zu theologisch-ethischen Stellungnahmen und zu anderen literarischen Werken des Mittelalters in Beziehung

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gesetzt. Der historische Diskurs kann als ein mögliches Korrektiv dienen, sollten die aus der Textanalyse gewonnenen Erkenntnisse primär eine moderne Perspektive spiegeln; entsprechen die literarischen Motivierungsformen des Unglücks jedoch der mittelalterlichen Vorstellungswelt, lässt sich von einem höfischen Tragikverständnis sprechen. Am Ende werden die Ergebnisse zusammengefasst und der Zusammenhang von Tragik, Literatur und Kultur in der höfisch-laikalen Gesellschaft des hohen Mittelalters thematisiert. Das Vorhaben, die deutsche Literatur des Mittelalters aus tragödientheoretisch-narratologischer Perspektive zu untersuchen, bleibt ein Experiment. Inwiefern diese Verfahrensweise gewinnbringend ist, zu einem vertieften Verständnis der Texte beiträgt und vielleicht gar eine neue Sinndimension höfischer Dichtung erschließen kann, wird abschließend zu beurteilen sein.

II. Theorie: Tragödientheoretische, theologische und narratologische Grundlegung 1. Tragik und Tragödie: Plädoyer für ein poetologisches Verständnis Um tragisches Erzählen in der deutschen Literatur des Mittelalters analysieren zu können, bedarf es einer theoretischen Auseinandersetzung mit der dieser Studie zugrunde liegenden Tragikdefinition. Im Folgenden werden zunächst die unterschiedlichen Erklärungen vorgestellt, die in den mittelalterlichen Etymologien für die Gattung der Tragödie und in den modernen Theorien für das Phänomen des Tragischen angeführt werden, um vor diesem Hintergrund den theoriegeschichtlichen Paradigmenwechsel in der Moderne zu thematisieren. Die methodische Konsequenz, die aus der historischen Variabilität des Begriffs gezogen wird, ist ein Plädoyer für ein poetologisches Verständnis des Tragischen. 1.1 Faszination und Konfusion Die Tragödie gilt als eine „Leitgattung der europäischen Literatur“,1 deren Rezeption und Produktion von dem in der griechischen Antike situierten „kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart“ reicht.2 Als Forschungsgegenstand, in der Aufführungspraxis und als Deutungsmodell lebensweltlicher Erfahrungen erfreut sie sich ungebrochener Beliebtheit. Antike wie moderne Tragödien gehören zum Standardprogramm der Schauspielhäuser, philosophiegeschichtliche und literaturwissenschaftliche Untersuchungen widmen sich dem Tragischen, und im journalistischen Bereich wird der Begriff geradezu inflationär gebraucht. Ein Fußballer, der trotz aller Anstrengungen nicht das Tor trifft, wird ebenso zum ‚tragischen Fall‘ erklärt wie ein beratungsresistenter Politiker.3 _____________ 1 2 3

Frick, Tragödie. Zimmermann, Europa. Vgl. z.B. Selldorf, Philipp: Vorteil für das Gemeinwesen. In: SZ 144 (26.6.06), S. 26: „Beim Spiel gegen Schweden hatte Michael Ballack die Rolle des tragischen Falls gemäß der fatalistischen Theorie: Unentrinnbar blieb er zum Scheitern verurteilt, obwohl er sich immer

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Aus dieser Popularität und der Vielzahl der Verwendungen resultieren Unstimmigkeiten im Verständnis des Begriffs.4 Während in der Alltagssprache jedes plötzliche Unglück als Tragödie bezeichnet werden kann, werden in der Forschungsliteratur vereinzelt so strenge Bedingungen zur Auflage gemacht, dass der Begriff nur auf eine kleine Anzahl antiker Werke griechischer Tragödienschreiber angewendet werden darf. Zwar warnen die meisten Autoren tragödientheoretischer Abhandlungen sowohl vor einem zu weiten, universalistischen als auch vor einem zu engen, formalistischen Tragödienverständnis, weil der Begriff dann aufgrund seiner Beliebigkeit entwertet oder aber zahllose als Tragödien deklarierte Werke ausgeschlossen würden. Dennoch endet die Übereinstimmung mit dieser gemeinsamen Ablehnung; selbst diejenigen Wissenschaftler, die ein tragisches Ereignis von einem traurigen abgrenzen, differieren hinsichtlich der Auffassung, ob eine unvermeidliche Katastrophe oder aber das Vermeidbare als besonders tragisch zu beurteilen ist. Hinsichtlich dieser Begriffskonfusion unterscheidet sich die Gegenwart kaum von der Vormoderne. Zwar benutzen nur wenige mittelalterliche Autoren den Terminus tragoedia, doch variiert die Bedeutung, die sie ihm zuschreiben, deutlich.5 Keiner von ihnen sucht eine konsistente Theorie zu entwickeln, vielmehr betrachtet die Mehrzahl die Tragödie als eine wenig bekannte literarische Gattung, die in Glossen und Kommentaren erklärt werden muss. Seinem übergeordneten Erkenntnisinteresse entsprechend leitet Isidor von Sevilla den Terminus zunächst etymologisch her. Die Verfasser würden Tragödiendichter genannt, weil die Sänger ursprünglich einen Bock, im Griechischen ‚tragos‘ genannt, als Preis für eine Aufführung erhalten hätten.6 Eine andere Begründung liefert Johannes Balbi von Genua, indem er eine Verbindung zwischen der Bezeichnung des Bocks und dem stinkenden Inhalt herstellt. Eine Tragödie sei ein Bocklob, ein Bockgesang oder ein stinkender Gesang und handle von den grausamsten Dingen, z.B. davon, wie jemand die eigenen Eltern töte oder seinen Sohn verspeise. Aus diesem Grund sei dem Tragiker ein Bock gegeben worden, nicht etwa, weil keine angemessenere Belohnung verfügbar gewesen sei, sondern um damit einen Hinweis auf den Gestank des Stoffes zu geben.7 _____________

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wieder aufs Neue gegen sein Schicksal stemmte.“ Fahrenholz, Peter; Stroh, Kassian: Stoiber lehnt Zeitplan für Rückzug ab. In: SZ 12 (16.1.2007), S. 1: „Ein CSU-Präsidiumsmitglied sagte über Stoiber: ‚Eine menschliche Tragödie.‘“ Vgl. Palmer, Tragedy; Profitlich, Tragödientheorie. Vgl. Kelly, Ideas, S. xiii. Vgl. Isidor, Etymologiae, VIII.7.5: Tragoedi dicti, quod initio canentibus praemium erat hircus, quem Graeci τράγος vocant. Vgl. Johannes Balbi: Catholicon. In: George, Tragödientheorien, S. 28f.: Tragedia. […] id est hircina laus vel hircinus cantus vel fetidus. Est enim de crudelissimis rebus. sicut qui patrem vel matrem

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Während einige Autoren als Inhalt der Tragödie Staatsaktionen und Geschichten von Königen angeben,8 handelt es sich nach Auffassung anderer um rühmende Kriegslieder, die heldenhafte Tote besingen.9 Ebenso wenig wie bezüglich der inhaltlichen Definitionen besteht darüber ein Konsens, ob der Begriff für eine obsolet gewordene Gattung reserviert ist. So wird die Tragödie einerseits als eine vergangene Form antiker Literatur dargestellt, wie Albertus Magnus formuliert: Tragoediae autem carmina sunt vituperationis quibus Antiquorum vituperia simpliciter inter villanos cantantur […].10 Andererseits wird der Begriff im übertragenen Sinne für allgemeine Erfahrungen und Ereignisse der jüngsten Vergangenheit gebraucht, etwa wenn Johannes von Salisbury das Leben des Menschen generell als tragisch deklariert.11 Ebenso bezeichnet Ekkehard von St. Gallen seine Klostergeschichte mit dem Blick auf einzelne traurige Abschnitte als tragedia nostra,12 oder erklärt Otto von Freising im Widmungsschreiben seiner ‚Chronik‘ an Kaiser Friedrich, in der Art einer Tragödie von einer Unglücksserie von Ereignissen zu berichten.13 Während die Differenzen der mittelalterlichen Kommentare aus den herangezogenen Quellen und teils deren entstellender Wiedergabe resul_____________ 8 9

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interficit. vel comedit filium vel e converso. et huiusmodi. Unde et tragedo dabatur hircus scilicet animal fetidum non quod non haberet aliud dignum premium sed ad fetorem materie designandum […]. Vgl. S. 25f., Anm. 21f. Vgl. die anonymen Kommentare zu Boethius ‚De consolatione philosophiae‘, lib. 2, pr. 2: Tragediae sunt carmina quae constant exemplis mortuorum hominum et deplorant miserias hominum. (Silk, Commentarius, S. 70, Z. 4–6) Tragedie sunt carmina que constant ex preliis mortuorum et deflent miserias hominum. (MS Heiligenkreuz 130, fol. 18v, zitiert nach Haring, Four Commentaries, S. 298). Vgl. auch Kelly, Ideas, S. 55, 72f. Albertus Magnus, De generatione et corruptione 1.1.8, S. 352. Übers.: Tragödien sind Lieder von Schandtaten, in denen die Schandtaten der Alten in einer einfachen Art zwischen Dörflern und Landsleuten gesungen werden. Vgl. auch Papias Vocabulista, S. 356: Tragoedia erat quicquid luctuosis carminibus describebant antiqui tragoedus uero cantor tragoediarum genus describentium erat qui cothurnis utebatur. – Dass mit diesem Begriff auch die zeitgenössische Gattung der Heldensage bezeichnet wird, zeigt Gschwantler (Heldensage, S. 42–50). Vgl. Johannes von Salisbury, Polycraticus 3.8, Sp. 489D: In eoque vita hominum tragoediae quam comoediae videtur esse similior, quod omnium fere tristis est exitus […]. – Zu der von Johannes vertretenen Variante des contemptus mundi vgl. von Moos, Lucans tragedia, S. 167–174. Vgl. Ekkehard IV., Casus Sancti Galli, Kap. 49, S. 110: Cuius rei seriem breviatim dicere ad traiediam nostram explicandam utile duxi. Kap. 64, S. 136: De Ungrorum quoque infortuniis tragedie nostre non piget ascribere. Vgl. auch Cloetta, Komödie und Tragödie, S. 140f. Vgl. Otto von Freising, Chronica, S. 4, Z. 21–24: Unde nobilitas vestra cognoscat nos hanc historiam nubilosi temporis, quod ante vos fuit turbulentia inductos ex amaritudine animi, ac ob hoc non tam rerum gestarum seriem quam earundem miseriam in modum tragoedie texuisse […]. Vgl. auch S. 10, Z. 22–24: […] monimenta preclara, in quibus non tam historias quam erumpnosas mortalium calamitatum tragedias prudens lector invenire poterit. – Auf die Parallelen zwischen der mittelalterlichen und der heutigen Begriffsverwendung, Geschichten menschlichen Elends als tragisch zu bezeichnen, weist Gschwantler (Heldensage, S. 41f.) hin. Zu Ottos negativem Geschichtsbild vgl. auch von Moos, Lucans tragedia, S. 147–161.

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tieren, ist die gravierendste Ursache für die Unterschiede in den modernen Tragödientheorien das ungeklärte Verhältnis von Tragödie und Tragik. Die jeweilige Definition hängt von der Grundentscheidung ab, ob das im 18. Jahrhundert aus dem Adjektiv ‚tragisch‘ abgeleitete und im 19. Jahrhundert zum ‚Modewort‘ avancierte Substantiv14 als ein ästhetisches Substrat, das der literarischen Gattung der Tragödie zugrunde liegt,15 oder als ein weltanschauliches, religiöses oder ethisches System, das in der Tragödie künstlerischen Ausdruck findet, angesehen wird.16 Anhänger dieser Auffassung werden das Tragische deduktiv aus dem allgemeinen Weltzustand herleiten,17 wohingegen die Befürworter jenes Verständnisses bei den überlieferten Tragödien ansetzen werden, um induktiv strukturelle Gemeinsamkeiten zu extrahieren.18 Probleme können aus beiden Vorgehensweisen erwachsen: Während eine aus philosophischen Überlegungen gewonnene Theorie dazu tendiert, Texte durch ein System zu vereinnahmen, besteht bei einer literaturorientierten Definition die Gefahr eines Zirkelschlusses:19 Kriterien des Tragischen müssen anhand von Werken erarbeitet werden, deren Auswahl bereits ein Verständnis des Tragischen voraussetzt. Die Fülle tragödientheoretischer Texte führt zu einer anhaltenden Produktion weiterer Literatur. Bei den Definitionsversuchen von Tragik und Tragödie lassen sich drei Hauptrichtungen unterscheiden, die den Fokus entweder auf den Helden, die Handlungskonstellation oder die Wirkung richten.20 Alle drei Elemente sind bereits in der im 4. Jahrhundert v. Chr. verfassten ‚Poetik‘ des Aristoteles enthalten, bestimmen die Diskussion bis in die Gegenwart und sind vereinzelt auch in den theoretischen Texten des Mittelalters zu finden. Von den für den Protagonisten gültigen Kriterien hebt Isidor die hohe Abstammung des Helden hervor und macht sie zum Kennzeichen, durch das sich die Tragödie von der Komödie unterscheide.21 Auf diese Aussage _____________ 14 15 16 17

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Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 21, Sp. 1142. Vgl. z.B. Kaufmann, Tragödie und Philosophie, S. 97. Vgl. Grenzmann, Über das Tragische, S. 168; Scheler, Phänomen, S. 151. Vgl. z.B. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 539: „Den allgemeinen Boden für die tragische Handlung bietet wie im Epos so auch in der Tragödie der Weltzustand dar […].“ Vgl. auch Mack‚ Ansichten, S. 29–40. Vgl. z.B. Boehm, ‚Tragik‘; Brereton, Principles; Krook, Elements. Zur Unterscheidung beider Arten vgl. auch Mandel, Definition, S. 10: „A derivative definition is one which postulates an a priori order, usually ontological, of which tragedy is an expression. […] Substantive definitions, on the other hand, begin with the work of art itself.“ Vgl. auch Krook, Elements, S. 5. Vgl. auch Palmer, Tragedy, S. 12. Vgl. Isidor, Etymologiae, VIII.7.6: Sed comici privatorum hominum praedicant acta; tragici vero res publicas et regum historias.

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beziehen sich die in seiner Nachfolge stehenden Lehrwerke wie das ‚Catholicon‘ von Johannes Balbi: Et differunt tragedia et comedia. quia comedia privatorum hominum continet facta. Tragedia regum et magnatum.22 Diese Statusfaktoren haben in der modernen Theorie an Bedeutung verloren, stattdessen rückt das Verhalten des Helden in den Mittelpunkt. Darauf machen Theoretiker wie Geoffrey Brereton aufmerksam, der in seiner Studie ‚Principles of Tragedy‘ das aus einer Fehlentwicklung resultierende und mit dem Untergang endende Leiden des Protagonisten als grundlegend für die Tragödie ansieht.23 In ähnlicher Weise stellen Oscar Mandel und Eva Figes das Scheitern des Helden heraus, welches er in seinem Bestreben, eine bestimmte Intention zu verwirklichen, selbst zu verantworten hat, weil er mit der vorgegebenen Welt in Widerspruch gerät.24 Für andere Autoren ist hingegen eine bestimmte Wirkung untrügliches Kennzeichen für tragische Phänomene. So bindet der Philosoph Walter Kaufmann die Tragödie einerseits an eine literarische Form, die konkrete Anforderungen erfüllen muss. Andererseits wird seiner Ansicht nach ein symbolisches Geschehen dargestellt, das ungeheures menschliches Leiden ins Zentrum rückt. Die Tragödie erinnere so an eigenes und allgemein menschliches Leid und entlasse die Zuschauer mit den Empfindungen, dass Leiden universell, Mut und Ausdauer darin bewundernswert und ein schlimmeres Schicksal als das eigene als erhebend erfahrbar seien.25 Richard H. Palmer erklärt in seinem ‚Analytical Guide‘ für die Tragödientheorien des 20. Jahrhunderts die zugleich als positiv und negativ charakterisierten psychischen Reaktionen gar zu einer conditio sine qua non einer Tragödie: „Tragedy is a dramatic form that stimulates a response of intense, interdependent, and inseparably balanced attraction and repulsion.“26 _____________ 22

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Johannes Balbi, Catholicon. Übers. v. George (Tragödientheorien, S. 29): „Tragödie und Komödie unterscheiden sich darin, daß die Komödie die Taten von Privatpersonen enthält, die Tragödie aber jene von Königen und großen Herren.“ Vgl. auch Vincentius Bellovacensis, Speculum doctrinale, lib. 3, cap. 110: comici priuatorum hominum praedicant acta. Tragici vero respublicas, ac regum historias. Vgl. Brereton, Principles, S. 116: „All the tragedies we have examined contain a hero, placed in varying relationships to a group, who always suffers, though in various ways and degrees, and always come [!] to final disaster as a result of something having gone wrong somewhere.“ Vgl. Mandel, Definition, S. 20: „A work of art is tragic if it substantiates the following situation: A protagonist who commands our earnest good will is impelled in a given world by a purpose, or undertakes an action, of a certain seriousness and magnitude; and by that very purpose or action, subject to that same given world, necessarily and inevitably meets with grave spiritual or physical suffering.“ Figes, Tragedy, S. 12: „Tragedy is in theatre the sad story of a central protagonist who, either deliberately or by accident, offends against the most fundamental laws of his society, those laws which are so basic as to be considered divine“. Vgl. Kaufmann, Tragödie und Philosophie, S. 97. Palmer, Tragedy, S. 120.

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Aufgrund fehlender Aufführungs- und Lektüreerfahrungen hat verständlicherweise kein mittelalterlicher Autor eine rezeptionsästhetische Tragödientheorie entwickeln können. Schon Isidors ‚Etymologien‘ enthalten einen Widerspruch, der das fehlende Wissen um die Inszenierung einer Tragödie im 6. Jahrhundert offenbart.27 Dennoch wird in einem Text des 12. Jahrhunderts die Wirkung, die ein literarisches Werk auf seine Rezipienten ausübt, dezidiert auf die Tragödie bezogen. Im ‚Speculum caritatis‘ wird ein Gespräch zwischen seinem Verfasser, Aelred von Rievaulx, und einem Novizen über die Liebe Gottes inszeniert. Aelred will den Unterschied zwischen tiefen und oberflächlichen Gefühlen verdeutlichen, die Literatur von der Gottes- und Nächstenliebe abgrenzen, und kommt in diesem Kontext auf die Tragödie zu sprechen: Cum enim in tragoediis uanisue carminibus quisquam iniuriatus fingitur, uel oppressus, cuius amabilis pulchritudo, fortitudo mirabilis, gratiosus praedicetur affectus; si quis haec uel cum canuntur audiens, uel cernens si recitentur, usque ad expressionem lacrymarum quodam moueatur affectu, nonne perabsurdum est, ex hac uanissima pietate de amoris eius qualitate capere coniecturam […]?28

Das Leiden eines herausragenden Protagonisten, mit dem die Rezipienten Mitgefühl empfinden, wird als charakteristisch für eine Tragödie dargestellt. Allerdings wertet Aelred diese Empfindungen nicht als reinigend, heilsam oder lehrreich, sondern disqualifiziert sie als unangemessen, leer und nichtig. Am stärksten Beachtung findet in den modernen Tragödientheorien nicht die tragische Wirkung oder der tragische Held, sondern das Handlungsgeschehen, das meist als eine antagonistische Grundkonstellation beschrieben wird. So betont Jürgen Söring die Prozesshaftigkeit des Tragischen, indem er eine paradoxe Gegenstrebigkeit von verantwortlichem Handeln und unberechenbarem Widerfahren konstatiert. Diese bestimmten den tragischen Vorgang und führten die Katastrophe herbei.29 Das unvermeidbare Scheitern eines Protagonisten, der sich in einer unlösbaren _____________ 27

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Einerseits erwähnt Isidor, dass der Erzähler nie direkt mit den Zuschauern spreche (vgl. Etymologiae, VIII, 7, 11), andererseits schreibt er, dass die Tragödiendichter vor den Augen des Publikums vergangene Ereignisse besangen (ebd., XVIII, 45), und erweckt so den Eindruck, es handle sich bei einer Tragödie eher um einen Gesang oder eine Rezitation als um eine szenische Darstellung. Zur Kritik vgl. Cloetta, Komödie und Tragödie, S. 19f.; George, Tragödientheorien, S. 24. Aelred Rievallensis, De speculo caritatis, 2.17.50 (= S. 90). Übers.: Wenn in der Tragödie oder nichtigen Stücken jemand verletzt oder unterdrückt dargestellt wird, dessen liebenswerte Schönheit, bewundernswerte Tapferkeit, hohes Ansehen gerühmt werden, wenn jemand, der dies entweder hört, wenn sie vorgetragen werden, oder sieht, wenn sie aufgeführt werden, durch diese Empfindung bis zum Ausbruch von Tränen gerührt wird, ist es nicht völlig absurd, sich aus diesem eitlen Mitleid heraus eine Meinung über die Qualität dieser Liebe zu bilden […]? Vgl. Söring, Tragödie, S. 10.

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Konfliktsituation befindet, dominiert den Tragikdiskurs der Gegenwart. Exemplarisch für die zahllosen tragödientheoretischen Aussagen, nach denen sich der tragische Held vor miteinander unvereinbare, aber notwendig zu realisierende Handlungsalternativen gestellt sieht,30 sei auf die Definition Walter Leschs im ‚Lexikon für Theologie und Kirche‘ verwiesen. Demnach sind Elemente des Tragischen „aus handlungstheoret[ischer] Sicht überall dort auszumachen, wo Entscheidungsträger u[nd] verantwortl[iche] Akteure auf einen Konflikt zw[ischen] gleichrangigen Werten treffen od[er] trotz bester Absichten wegen unvorhersehbarer Handlungsfolgen mit ihrem urspr[ünglichen] Plan scheitern […].“31

Im Unterschied zu den modernen Tragödientheorien spielen die Elemente des Konflikts oder der Kollision verschiedener Werte weder in der antiken ‚Poetik‘ noch in den mittelalterlichen Etymologien eine Rolle. Aussagen zur Struktur oder Handlungskonstellation einer Tragödie beschränken sich im Mittelalter meist auf den Verlauf, sofern sie sich nicht mit dem Hinweis auf den traurigen Stoff begnügen.32 Mehrere Autoren betrachten eine Handlung, die von einem glücklichen Ausgangspunkt zu einem traurigen Ziel führt, als kennzeichnend für eine Tragödie. Huius tragedie proprietates sunt tales: […] incipit a gaudio et in lacrimas terminatur, kommentiert z.B. Johannes de Garlandia und stimmt in diesem Urteil mit Johannes Balbi und Vinzenz von Beauvais überein.33 Als Ursachen für diese Entwicklung werden auch in der mittelalterlichen Literatur unterschiedliche Faktoren angeführt, die sich in der Frage nach der Schuld des Helden deutlich unterscheiden. So argumentieren Boethius, Geoffrey de Vinsauf und Nicolaus Trevet mit der Wankelmütigkeit oder der Gleichgültigkeit Fortunas, die bedeutende Personen unabhängig von deren Taten ins Unglück stürzt.34 Eine gegenteilige Auffassung lässt sich aus einer Bemerkung Isidors von Sevilla ableiten, die sich in ähnlicher Weise in den Schriften _____________ 30 31 32 33

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Vgl. z.B. Goldmann, Struktur, S. 402; Grenzmann, Über das Tragische, S. 167; Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 19. Lesch, Tragik, Sp. 162f. Vgl. Isidor, Etymologiae, VIII.7.6: Item tragicorum argumenta ex rebus luctuosis sunt; comicorum ex rebus laetis. Vgl. John of Garland, Parisiana Poetria, Kap. 7, S. 136, Z. 24–26. Übers. v. George (Tragödientheorien, S. 27): „Die Eigentümlichkeiten dieser Tragödie sind folgende: […] sie beginnt heiter und endet mit Tränen.“ Vgl. auch Johannes Balbi, Catholicon: Item comedia a tristibus incipit sed cum letis desinet. tragedia e contrario. Vincentius Bellovacensis, Speculum doctrinale, lib. 3, cap. 109: Tragaedia vero poesis, à laeto principio in tristem finem desinens. Ebd., lib. 3, cap. 110: Item Tragicorum argumenta ex rebus luctuosis sunt. Comicorum ex rebus laetis. Zu Boethius vgl. S. 72–77. Vgl. auch Geoffrey of Vinsauf, Documentum, S. 332: Tragedia carmen est in quo agitur de contemptu fortune, ostendens infortunia grauium personarum, et incipit a gaudio et finit in luctu […]. Nicolaus Trevet: Expositio super librum Boecii de consolatione. Vatican MS lat. 562, lib. 2, pr. 2, fol. 29. Zitiert nach Kelly, Ideas, S. 128: […] tragedias nihil aliud continebant quam mutabilitatem Fortune. Vgl. auch ebd., S. 98f.

Faszination und Konfusion

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Bernhards von Utrecht und Konrads von Hirsau finden lässt. Wenn Isidor erklärt, die Tragödie thematisiere antiqua gesta atque facinora sceleratorum regum luctuosa, wird das schuldhafte Vergehen des Figurenpersonals betont.35 Somit existieren sowohl in der Moderne als auch im Mittelalter unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Merkmale für eine Tragödie charakteristisch sind. Manche Autoren reagieren mit einer gewissen Hilflosigkeit oder Resignation auf die Vielzahl der Definitionsangebote. Bei dem Thema Tragik handle es sich um ein zu weites Feld, als dass es von einem Spezialisten überschaut werden könne, bemerkt Geoffrey Brereton.36 Nach Auffassung von Thomas Rice Henn kann es keine Definition der Tragödie geben, die sämtliche in der Weltliteratur auftretenden Varianten umfasst,37 und Dorothea Krook trifft angesichts des Fehlens allgemeingültiger Prinzipien gar die Aussage, es existierten ebenso viele Kriterien für das Tragische wie Tragödien.38 Aufgrund der Unmöglichkeit, den Begriff des Tragischen ausschließlich der Literatur vorzubehalten und von anderen Diskursen abzugrenzen, stellt K. Ludwig Pfeiffer den Nutzen gänzlich in Frage: „Als Terminus mit geregeltem, selbst einem historisch differenziert geregelten Gebrauch ist er nicht zu retten, weil zumindest die Interpretation tragischer Texte immer aktuellen Vorstellungen, ja Unterstellungen tragischer Potentiale entspringt.“39 Ist eine Auseinandersetzung mit Formen des Tragischen in der höfischen Literatur also von vornherein zum Scheitern verurteilt? Aus der geschilderten Begriffskonfusion ziehe ich drei gegenteilige Schlussfolgerungen: Zum einen steht die Vielzahl unterschiedlicher Tragödientheorien, die gerade nicht in einer schlichten Formel zusammengefasst werden können, in einem starken Kontrast zu der generalisierenden und simplifizierenden Behauptung, das Mittelalter sei ein untragisches Zeitalter. Wenn kein Konsens hinsichtlich einer Definition von Tragik besteht, kann ihre Negation wohl kaum allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Zum zweiten tritt die Notwendigkeit einer eigenen Verortung in der Theoriediskussion offen zutage. Ohne eine reflektierte Begründung, wie der Begriff des Tragischen hier verstanden wird, kann er nicht für eine Ana_____________ 35

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Vgl. Isidor, Etymologiae, XVIII.45: Tragoedi sunt qui antiqua gesta atque facinora sceleratorum regum luctuosa carmine spectante populo concinebant. Vgl. auch Bernard d’Utrecht, Commentum in Theodulum, S. 61, Z. 92f.: est tragicum, quo publicae res et potentum scelera depinguntur […]. Vgl. auch Conrad d’Hirsau, Dialogus super auctores, S. 76, Z. 154f.: […] tragicum quo publice res et gesta potentum scelerosa describuntur […]. Vgl. Brereton, Principles, S. vii. Vgl. Henn, Harvest, S. 282. Vgl. Krook, Elements, S. 1. – Gleichwohl muss Krook den Anspruch, grundlegende Elemente des Tragischen ausfindig zu machen, im Sinne ihrer eigenen Untersuchung als legitim anerkennen. Pfeiffer, Tragik, S. 370.

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Tragik und Tragödie

lyse herangezogen werden. Zum dritten birgt die Beobachtung, dass die Interpretation von Tragik und Tragödie von der jeweiligen Perspektive abhängig ist, nicht nur die Gefahr einer Sinnunterstellung, sondern auch die Chance einer Sinnerschließung. Das literarische Tragikkonzept eines historischen Autors kann auf diese Weise bestimmt werden. 1.2 Von der Poetik der Tragödie zur Philosophie des Tragischen Systematisieren lassen sich die zahllosen Tragödiendefinitionen auch durch eine diachrone Betrachtung. „Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen“,40 beschreibt Peter Szondi in seinem Essay ‚Versuch über das Tragische‘ prägnant die Entwicklung der deutschen Theoriegeschichte. Aristoteles bildet nicht nur den Ausgangs-, sondern auch den bleibenden Bezugspunkt, an dem sich die Tragödienforschung orientiert. Seine Autorität auf diesem Gebiet ist so bedeutend, dass die Geschichte der Tragödientheorie zurecht als Wirkungsgeschichte der ‚Poetik‘ gewürdigt wird.41 Die Tragödie steht im Zentrum dieser Abhandlung über die Dichtkunst,42 deren äußere Form, Handlungsaufbau, Charaktere, Sprache, Funktion und Wirkung beschrieben werden. Dabei nimmt Aristoteles zwar eine Wertung hinsichtlich der besten Tragödien vor, grenzt aber keine Werke aus dem Gattungskorpus aus. Seit der Frühen Neuzeit sind seine deskriptiven Aussagen jedoch normativ verstanden und in den Stand einer Regelpoetik erhoben worden. Aufmerksamkeit haben vor allem die durch die Tragödie zu erzielenden Reaktionen, fÒboj und œleoj, gefunden, die nach Aristoteles t¾n tîn toioÚtwn paqhm£twn k£qarsin bewirken sollen.43 Zentrale Fragen der Übersetzungs- und Interpretationsgeschichte sind mit diesen Ausdrücken verbunden: Sollen im Zuschauer Furcht und Mitleid, Schauder und Jammer oder Schrecken und Rührung hervorgerufen werden? Handelt es sich um eine Reinigung durch diese oder von diesen Empfindungen?44 Die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten, die in der Formulierung des 6. Kapitels der ‚Poetik‘ angelegt sind, werden in der Rezep_____________ 40 41 42 43 44

Szondi, Versuch, S. 7. Vgl. Mack‚ Ansichten, S. 11; Szondi, Versuch, S. 7. Der angekündigte zweite Teil über die Komödie ist nicht überliefert. Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b. Vgl. auch Fuhrmann, Nachwort, S. 146. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b. Fuhrmann (Nachwort, S. 161–166) hält die übliche deutsche Übersetzung von Phobos und Eleos als ‚Furcht‘ und ‚Mitleid‘ für irreführend und geradezu falsch. Stattdessen plädiert er für ‚Jammer‘ und ‚Schauder‘. Dagegen spricht sich Schmitt (Einleitung, S. 124f.; Kommentar, S. 476–510) in der jüngsten deutschen Version der ‚Poetik‘ wieder für die Begriffe ‚Furcht‘ und ‚Mitleid‘ aus.

Von der Poetik der Tragödie zur Philosophie des Tragischen

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tionsgeschichte entsprechend entfaltet. Im Späthumanismus und im Barock wird die Reinigung der Leidenschaften als Akt der Purgierung verstanden. Schädliche Affekte werden ausgeschieden und das menschliche Gemüt stabilisiert, so dass Schicksalsschläge besser ertragen werden können. In der Frühaufklärung wird der Akzent stärker auf den moralischen Zweck gelegt. Während Gottsched die These vertritt, jede Tragödie solle ein ‚Sittengesetz‘ veranschaulichen und den Zuschauer so zu einer sittlichen Besserung führen, grenzt sich Lessing sowohl von einem moralistischen als auch von einem rein emotionalen Verständnis ab. Er stellt die Mitleidsfähigkeit in den Mittelpunkt seiner Wirkungstheorie.45 Um 1800 verschiebt sich das Interesse von der Wirkung der Tragödie auf ihr Wesen.46 Schillers Position markiert diesen Übergang, wenn er die tragische Kunst als ein „Wechselspiel[] von Leidensprovokation und Bewahrung moralischer Unabhängigkeit im Akt sittlichen Widerstands“ begreift und über die Darstellung der sittlichen Freiheit in physischer Not von einem wirkungsästhetischen Konzept zu einer Struktur des Tragischen gelangt.47 In den tragödientheoretischen Äußerungen Schellings, Hegels und Schopenhauers verselbstständigt sich die Idee des Tragischen, die nicht mehr an eine literarische Gattung gebunden ist, sondern als kulturelles, ethisches und weltanschauliches Phänomen betrachtet wird. Statt der Tragödie gelten das Leben, der Mythos, das Unterbewusste und der Weltzustand als Erkenntnisquelle des Tragischen, das also metaphysisch begründet wird.48 Was sich von der Tragödie, „wenn auch verwandelt, so doch in ihrer Essenz unberührt in unsere Zeit herübergerettet“ hat, erläutert Georg Lukács, sei nicht ihre ästhetische Gestalt, sondern der tragische Gehalt.49 Indes ist anzumerken, dass die als überhistorisch charakterisierte Tragik erst seit dem 19. Jahrhundert den deutschen Tragödiendiskurs dominiert und keine Berührungspunkte zu vormodernen Theorien aufweist. Zwar lässt sie sich auf antike Stücke projizieren, dennoch entzieht sie sich gerade der normgebenden poetologischen Bezugsgröße; inselhaft ragt die Philosophie des Tragischen nach Szondis Urteil aus dem gewaltigen Einflussbereich des Aristoteles heraus.50 Die exzessiven philosophischen Reflexionen über das Wesen des Tragischen sind in der europäischen Rezeptionsgeschichte eine deutsche Besonderheit geblieben,51 was sich im _____________ 45 46 47 48 49 50 51

Vgl. Fischer-Lichte, Tragödie, S. 439f.; Profitlich, Tragödientheorie, S. 45–73. Vgl. Profitlich, Tragödientheorie, S. 121; Turk, Tragödienphilosophien, bes. S. 277f. Profitlich, Tragödientheorie, S. 88. Vgl. auch Fischer-Lichte, Tragödie, S. 440. Vgl. Mack‚ Ansichten, S. 12f., 105. Lukács, Theorie, S. 32. Vgl. Szondi, Versuch, S. 7. Vgl. auch Mann, Poetik, S. 316. Vgl. Fischer-Lichte, Tragödie, S. 438; Mack‚ Ansichten, S. 14.

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Tragik und Tragödie

Fehlen einer englischen oder französischen Entsprechung für den Begriff ‚Tragik‘ spiegelt.52 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Max Scheler und andere haben Tragik als einen Grundkonflikt definiert, sei es zwischen Freiheit und Notwendigkeit,53 zwischen gleichberechtigten sittlichen Kräften,54 als Widerstreit des Willens mit sich selbst,55 Auseinandersetzung zwischen Dionysischem und Apollinischem56 oder als Konflikt innerhalb positiver Werte und ihrer Träger.57 Gemeinsames Charakteristikum dieser im deutschen Idealismus entstandenen Theorien ist, wie Szondi herausstellt, ein dialektischer Prozess. Indem er diesen Grundzug ausfindig macht, ermöglicht er eine Wende von einem metaphysischen zu einem strukturalistischen Tragikverständnis. ‚Das‘ Tragische gibt es seiner Auffassung nach nicht, „nicht zumindest als Wesenheit. Sondern das Tragische ist ein Modus, eine bestimmte Weise drohender oder vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische.“58 Bisher hat sich vor allem die englische Forschung um eine Gattungsbestimmung der Tragödie bemüht,59 wohingegen die singulären deutschsprachigen Ansätze auf Kritik gestoßen sind.60 So wird z.B. Otto Manns Versuch, eine Poetik der Tragödie zu erstellen, als eine „modifizierte Normpoetik“ disqualifiziert.61 Diese Gefahr kann durch eine prozessuale oder situative Definition des Tragischen, wie sie Szondi bietet, vermieden werden. Ein solches Tragikverständnis lässt sich für eine Textanalyse fruchtbar machen, weil nicht ein metaphysisches System im Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht, sondern formale Strukturen. Eine Rückkehr zu einem poetologischen Tragikverständnis muss nicht bedeuten, dass philosophische Erkenntnisse als irrelevant abgetan werden. Mit seinem tragödientheoretischen ‚Versuch über Urteil und Spiel‘, der auf der hegelschen Vorstellung basiert, zeigt Christoph Menke, wie Grundzüge der Philosophie des Tragischen mit der ästhetischen Form der Tragödie verknüpft

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Vgl. Szondi, Versuch, S. 7. Vgl. Schelling, Philosophie, bes. S. 521–536, hier S. 521. Vgl. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 523. Vgl. Schopenhauer, Welt, S. 335. Vgl. Nietzsche, Geburt, S. 25, 103. Vgl. Scheler, Phänomen, bes. S. 158. Szondi, Versuch, S. 60. Von literarischen Werken ausgehend, gelangt Oscar Mandel (Definition, S. 95) zu einem ähnlichen Ergebnis: „tragedy is not a quality; it is a situation.“ Vgl. auch Gelfert, Tragödie, S. 161. Vgl. Breuer, Handlungsstrukturen; Mann, Poetik. Zur Kritik an Breuer vgl. die Rezension von Heinrich F. Plett. In: Poetica 21 (1989), S. 429–431. Mack‚ Ansichten, S. 71.

Historizität der Tragödie

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werden können.62 Das Tragische wird auf diese Weise wieder an den Text gebunden und der Blick für seine literarische Gestaltung geöffnet. Die skizzierte Besonderheit der deutschen Theoriegeschichte liefert nun die Erklärung, weshalb die germanistische und die angloamerikanische Mediävistik zu unterschiedlichen Erkenntnissen hinsichtlich tragischen Erzählens gelangt sind.63 Die im deutschen Sprachraum einflussreiche Position, im christlichen Mittelalter könne es keine Tragik geben, ist weniger aus einer eingehenden Prüfung der Textquellen erwachsen. Vielmehr beruht diese Auffassung auf den metaphysischen Vorbehalten, die wesentlich von der deutschen Theoriediskussion seit 1800 geprägt sind. Die ungebrochene Dominanz der Philosophie des Tragischen hat verhindert, dass das Thema in der germanistischen Mediävistik aufgegriffen wurde. Gerade im Vergleich mit der angloamerikanischen Forschung erweist sich eine Infragestellung der philosophiegeschichtlichen Prämissen des 19. und 20. Jahrhunderts und eine Hinwendung zu Formen des Tragischen in der höfischen Dichtung als überaus wünschenswert.64 1.3 Historizität der Tragödie Der Bezug auf die antike griechische Tragödie fehlt in nahezu keiner Tragiktheorie. Häufig stellt sie das Paradigma dar, an dem spätere Stücke gemessen und in ihrer Andersartigkeit als defizitär bestimmt werden. Schon August Wilhelm Schlegel bezeichnete die attische als die ‚reine Tragödie‘, der ein einzigartiger Ausgleich von freier Selbstbestimmung und äußerer Notwendigkeit gelinge. Sie sei ein verlorenes Ideal, in dem die Gattung ihre Vollendung gefunden habe und das trotz aller späteren Versuche römischer, französischer und deutscher Autoren nicht mehr erreicht werden konnte.65 Darauf rekurriert Walter Benjamin, als er sich mit dem Ursprung des deutschen Trauerspiels beschäftigt. Er betrachtet nicht das menschliche Leben, sondern den griechischen Mythos als Erkenntnisort des Tragischen und grenzt sich so dezidiert von einem überzeitlichen Verständnis tragischer Konzeptionen ab. Konstitutiv für die Tragödie, deren „Auseinandersetzung mit der dämonischen Weltordnung [...] der tragi_____________ 62 63 64

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Vgl. Menke, Gegenwart der Tragödie, bes. S. 8f. Zu seiner engen Orientierung an Hegel vgl. auch ders., Tragödie im Sittlichen. Vgl. S. 9–16. Vgl. auch Toepfer, Passion Christi. – Zum selben Schluss gelangt Dinkelacker (Spielregeln, S. 69f.) und empfiehlt, wieder an die Diskussionen des vorletzten Jahrhunderts anzuknüpfen, in dem über die Besonderheiten tragischer Dichtung nachgedacht worden sei. Vgl. Schlegel, Vorlesungen, bes. S. 83–93, hier S. 83. Vgl. auch Profitlich, Tragödientheorie, S. 132. Eine ähnliche Ansicht vertritt Hegel, vgl. S. 81f., Anm. 255 und 259.

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Tragik und Tragödie

schen Dichtung ihre geschichtsphilosophische Signatur“ gebe, seien das Opfer und die Sprachlosigkeit des Helden.66 Benjamin stellt die Einmaligkeit der Tragödie heraus, die sich von dem modernen Trauerspiel prinzipiell unterscheide und mit der Kultur der Griechen unwiederbringlich verloren gegangen sei. Noch stärker wird das Korpus tragischer Werke von Nietzsche eingeschränkt, der den Verfall der Gattung bereits bei Euripides ansetzt.67 Somit wird sogar einem Großteil der attischen Tragödien die Umsetzung einer Idee des Tragischen abgesprochen. Andere Autoren verwerfen ein so enges Verständnis von Tragik, teilen aber gleichwohl die Ansicht, dass der religiöse und historische Kontext über die Produktion von Tragödien entscheidet. Ausgehend von der Beobachtung, dass Tragödien in nur drei weit voneinander entfernten und verhältnismäßig kurzen Epochen verfasst worden seien, untersuchen sie mögliche Entstehungsbedingungen.68 Eher unspezifisch bleibt Geoffrey Breretons Begründung, dass die Unzufriedenheit mit der Umgebung eine Voraussetzung für die Tragödienproduktion darstelle. Tragisches Bewusstsein sei durch einen Konflikt zwischen realer und idealer Ordnung geprägt und könne in einer Gesellschaft entstehen, die sowohl ihren materiellen Wohlstand als auch das positive Grundgefühl verliere.69 Einen detaillierteren soziologischen Erklärungsansatz bietet Hans-Dieter Gelfert. Er beschreibt die Blütezeiten tragischer Dichtung als Epochen, in denen starke gesellschaftliche Spannungen zu einer gleichsam eruptiven Lösung führten. Der historische Ort der Tragödie seien Übergangsphasen von einer hierarchisch organisierten aristokratischen zu einer egalitären Sozialstruktur, in denen sich Menschen noch mit Helden identifizierten, aber schon misstrauisch gegenüber dem herausragenden Einzelnen seien.70 Rudolf Boehm wiederum argumentiert mentalitätsgeschichtlich, wenn er den Zusammenhang zwischen den großen Epochen der Tragödie und denen der abendländischen Philosophie herausstellt. Diese Parallelität könne kein Zufall sein, vielmehr rufe das philosophische Wissen als Abwehrreaktion die Tragödie hervor.71 _____________ 66 67 68

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Vgl. Benjamin, Ursprung, bes. S. 279–297, hier S. 288. Vgl. Nietzsche, Geburt, S. 75–81. Vgl. auch Kaufmann, Tragödie und Philosophie, S. 182– 185; Profitlich, Tragödientheorie, S. 200. Als entscheidend gelten Athen im 5./4. Jahrhunderts v. Chr., England, die Niederlande und Frankreich am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts und Deutschland an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Vgl. Boehm, ‚Tragik‘, S. 149f.; Brereton, Principles, bes. S. 65f.; Kaufmann, Voraussetzungen. Vgl. auch Gelfert, Tragödie, S. 26f. Vgl. Brereton, Principles, S. 68. Vgl. Gelfert, Tragödie, S. 24–26 u.ö. Ähnlich begreift auch Kaufmann (Voraussetzungen, S. 446) die tragischen Epochen als Zeiten des Umbruchs zwischen zwei sich ablösenden Weltsystemen. Vgl. Boehm, ‚Tragik‘, S. 149f.

Historizität der Tragödie

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Die Gegenwart hingegen, darin sind sich die Tragödientheoretiker des 20. Jahrhunderts weitgehend einig, erfüllt nicht die notwendigen Bedingungen für eine Produktion von Tragödien.72 In einem vielbeachteten Essay macht George Steiner den allgemeinen Wertezerfall, einen Glaubensverlust, die Verbindlichkeitseinbuße des Mythos, eine konsumierende Rezeptionshaltung und die fehlende kultische Einbindung für den „Tod der Tragödie“ verantwortlich.73 Diese mittlerweile zum Topos gewordene Wendung geht auf Nietzsche zurück, der den zum Selbstmord deklarierten Tod der Tragödie freilich bereits in die Antike verlegte. Die griechische Tragödie sei am Optimismus, Rationalismus und dem Glauben, dass der tragische Untergang vermieden werden könne und solle, zugrunde gegangen.74 Andere Autoren halten hingegen nicht den Rationalismus, sondern die Verzweiflung für das eigentliche Hindernis der Tragödie, da sich der Schrecken nicht auf die Bühne bringen lasse.75 Auch die Sinnlosigkeit des Opfers,76 das Fehlen jeglicher Schuld, Übersicht und Verantwortung77 oder die gesellschaftliche Situation und Veränderlichkeit des Schicksals werden als Gründe dafür angegeben, dass alles auf „eine Liquidierung der Tragödie“ hinauslaufe.78 Dieser Abgesang auf die Tragödie kommt jedoch keiner Negation des Tragischen gleich. Symptomatisch ist Friedrich Dürrenmatts Aussage: Auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich sei, sei das Tragische noch immer möglich; nur eigne sich die Komödie deutlich besser, das Tragische darzustellen und eine entsprechende Wirkung zu erzielen.79 All diese Deutungsansätze sind von der Philosophie des Tragischen insofern geprägt, dass sie die Tragödie zwar in ihrer konkreten Geschichtlichkeit begreifen, aber die Existenz einer außerliterarischen Idee _____________ 72 73 74 75 76

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Vgl. Profitlich, Tragödientheorie, S. 301–307. Vgl. auch Lönker, Verfall. Vgl. Steiner, Tod. Vgl. Nietzsche, Geburt, S. 75. Vgl. Kaufmann, Tragödie und Philosophie, S. 184. Hebbel (Trauerspiel, S. 388) erläutert, dass „ein tragisches Geschick in untragischer Form auftritt, wo auf der einen Seite wohl der kämpfende und untergehende Mensch, auf der anderen jedoch nicht die berechtigte sittliche Macht, sondern ein Sumpf von faulen Verhältnissen vorhanden ist, der Tausende von Opfern hinunterwürgt, ohne ein einziges zu verdienen.“ Vgl. Dürrenmatt, Theaterprobleme, S. 59f. Vgl. Brecht, Notate, S. 259. Vgl. Dürrenmatt, Theaterprobleme, S. 122f. – Erst in jüngster Zeit hat die Beurteilung der Tragödie als unzeitgemäße Gattung Widerspruch gefunden. Menke (Gegenwart der Tragödie, S. 107–109, 135, 150–157) vertritt nicht nur die Ansicht, dass der Gehalt der Tragödie bleibende Bedeutung habe, sondern behauptet gar die ‚Gegenwart der Tragödie‘ in einer neuen, nachmodernen Gestalt. Durch die im theatralen Spiel ermöglichte Selbstreflexion der Handlungsfreiheit kehre die Tragik in der Erfahrung der Ohnmacht des Spiels in veränderter Gestalt in die Praxis zurück.

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Tragik und Tragödie

des Tragischen postulieren.80 Dieses Tragische wird in den meisten deutschen Theorien als eine absolute Größe verstanden und führt so zu den normativen Aussagen, die Tragödie müsse konkrete Eigenschaften aufweisen bzw. sei ein unzeitgemäßes Genre. Begreift man Tragik hingegen als textgebundenes Phänomen, wird deutlich, dass ein statisches Interpretationsmodell unangemessen ist. Text und Kontext durchlaufen Entwicklungen und erfahren Modifizierungen, so dass tragisches Handeln in der Literatur unterschiedlich inszeniert werden kann. Einwände, die deutsche Dramentheorie habe das Vokabular der aristotelischen ‚Poetik‘ mit falschen Bedeutungen versehen, sind zwar aus der Perspektive klassischer Philologen berechtigt, nicht aber aus Sicht von Literarhistorikern, wie David E. R. George zurecht kritisiert. Aus der beobachteten Variabilität leitet er eine Forderung nach einer Theoriegeschichte ab, die die historische Bedingtheit der Tragödien beachtet.81 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Hans Robert Jauß, als er sich mit der Theorie der literarischen Gattungen des Mittelalters befasst und deren Andersartigkeit herausstellt. Zwischen den Gattungen der mittelalterlichen und der modernen Literatur, die in Auseinandersetzung mit dem Kanon der klassisch-humanistischen Ästhetik entstanden sei, bestehe keine anschaubare historische Kontinuität.82 Weil die neu entstehenden Literaturen in den Volkssprachen weder von dem humanistischen Prinzip strenger Nachahmung noch dem Kanon einer verbindlichen Poetik der lateinischen Literatur abhängig seien, schließe die moderne Systematik die Mehrzahl mittelalterlicher Gattungen aus; nicht alle Textsorten könnten mit den drei Grundformen der Dichtung, episch, lyrisch und dramatisch, beschrieben werden.83 Aufgrund dieser Beobachtungen spricht sich Jauß für eine Klassifikation aus, die historisch ausgerichtet ist. Zwar unterscheide sich der höfische Roman in der diachronen Perspektive wesentlich _____________ 80

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Szondi (Versuch, S. 53) betont, dass Benjamins Abkehr von einem überzeitlichen Begriff des Tragischen und seine Hinwendung zur konkreten literarischen Verfasstheit nicht zu einer Poetik der Tragödie zurückführt, sondern die Geschichtsphilosophie an ihre Stelle tritt: „Diese ist Philosophie, weil sie die Idee und nicht das Formgesetz der tragischen Dichtung erkennen will, aber sie weigert sich, die Idee der Tragödie in einem Tragischen gleichsam an sich zu erblicken, das an keine geschichtliche Lage gebunden wäre, noch auch notwendig an die Form der Tragödie, an Kunst überhaupt.“ Nach Menke (Tragödie im Sittlichen, S. 22, 41) sind solche Theorien des Tragischen als nachmetaphysisch zu bezeichnen, weil sie das Tragische nicht in der allgemeinen Verfassung des Seins situieren, sondern aus den Strukturen der geschichtlichen Welt herleiten. Vgl. George, Tragödientheorien, S. 13. Vgl. Jauß, Theorie, S. 357f. Vgl. Jauß, Theorie, S. 328. Ähnlich äußert sich Kuhn (Versuch über das 15. Jahrhundert, S. 142), vgl. auch ders., Versuch einer Literaturtypologie, bes. S. 142–151.

Tragödie und Christentum

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vom modernen Roman, doch weise er auf der synchronen Ebene Charakteristika auf, die ihn als solchen konstituierten.84 Dieser Ansatz, der für andere Formen höfischer Dichtung längst allgemeine Anerkennung gefunden hat, wird hier auf die Tragödie angewandt. In dieser Studie soll untersucht werden, welche Elemente des Tragischen für die höfische Literatur kennzeichnend sind. Auch wenn sich tragische Handlungen in der mittelalterlichen Epik schon in formaler Hinsicht von antiken und modernen Tragödien unterscheiden, könnten sie doch Gemeinsamkeiten aufweisen, die von einem spezifisch höfischen Tragikverständnis zeugen.

2. Untragisches Christentum: Widerlegung eines Vorurteils Die Auffassung, dass es im Mittelalter keine Tragik geben könne, basiert wesentlich auf theologisch-religionsphilosophischen Überlegungen. Diese stützen sich teils auf historische Beobachtungen, wenn die Unkenntnis der antiken Gattung und die daraus resultierende fehlende Adaptation im Mittelalter auf die Aversion frühchristlicher Autoritäten zurückgeführt werden. Teils ist die Argumentation weltanschaulich ausgerichtet, indem christliche Erlösung und tragische Vernichtung als polare Gegensätze verstanden werden. Beide Erklärungsstrategien, von denen vor allem die zweite für die germanistische Mediävistik bedeutsam geworden ist, sollen in diesem Kapitel auf ihre Plausibilität geprüft werden. Wenn sich zeigen lässt, dass Christentum und Tragik nicht unvereinbar sind, hat die Frage nach den Formen des Tragischen in der mittelalterlichen Literatur eine grundsätzliche Berechtigung. 2.1 Tragödie und Christentum: Moralische Bedenken der Kirchenväter Welche Ursachen für das Fehlen von Tragödien im Mittelalter verantwortlich sind, ist immer wieder diskutiert worden. Weitgehende Einigkeit besteht in der Forschung insofern, als der Untergang dieser Gattung in irgendeiner Weise mit dem Christentum zusammenhängen muss. Die zeitliche Parallelität zwischen dem Rückgang der Tragödienproduktion und der Ausbreitung der christlichen Religion scheint diese Schlussfolgerung nahezulegen. Anhand der Aussagen mehrerer Autoren der Alten Kir_____________ 84

Vgl. Jauß, Theorie, S. 331f. Zur Problematik vgl. auch Grubmüller, Gattungskonstitution. Nur ein historisch dynamischer Gattungsbegriff könne den volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters gerecht werden (S. 210).

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Untragisches Christentum

che lässt sich diese Vermutung bekräftigen; mit moralischen, aber auch mit rituellen Argumenten treten patristische Schriftsteller für die Abschaffung des Theaters ein. Ob diese These jedoch zu halten ist, wenn der historische Kontext ihrer Aussagen beachtet wird, soll im Folgenden beantwortet werden. Das fehlende Wissen über antike Tragödien wird bereits im Mittelalter thematisiert und ein möglicher Grund ausfindig gemacht. Zumindest ein mittelalterlicher Autor verweist auf die negative Haltung der Kirche gegenüber den antiken Dramen: Die tragedi, comici und andere Arten römischer Autoren würden nicht mehr studiert, weil die Kirche ihre falschen und eitlen Lehren nicht gutheiße, erläutert Konrad von Hirsau in dem ‚Dialogus super auctores‘.85 Mit dieser Einschätzung kann Konrad sich auf zahlreiche Äußerungen der Kirchenväter stützen. Energisch wenden sich bedeutende christliche Autoren von den frühchristlichen Apologeten bis zu den Kirchenlehrern gegen das zeitgenössische Theaterwesen.86 Ihre vernichtende Kritik richtet sich in gleicher Weise gegen das Theater wie gegen die Gladiatorenkämpfe, die Wagenrennen und den Agon. Die ausführenden Schauspieler, tragici cantores, Pantomimen, Mimen, Gaukler, Seiltänzer, Wagenlenker und Gladiatoren werden mit Verachtung gestraft, ihnen wird die Taufe verweigert und ein Berufsverzicht zur Bedingung für den Übertritt zum Christentum gemacht.87 Die einschränkenden Maßnahmen, die in mehreren Konzilsbeschlüssen ihren Niederschlag gefunden haben,88 dokumentieren jedoch nicht nur die kirchliche Ablehnung des Theaters, sondern zugleich die Widerstände der Gemeindemitglieder gegen solche Verbote. Die Argumente, die die Kirchenväter gegen das Theater vorbringen, zielen entweder auf die fehlende Moral oder auf die kultische Bedeutung. Vor allem Tertullian, der eine eigene Mahnschrift ‚De spectaculis‘ verfasst, begnügt sich nicht damit, die sittliche Verwerflichkeit der Spiele vor Augen zu führen, sondern stellt die Entstehung des gesamten Theaterwesens und die Inszenierung einzelner Stücke als genuin heidnisch dar. Ausgehend von der Herkunft der Spiele aus dem paganen Kult, bescheinigt Tertullian den zeitgenössischen Aufführungen einen idolatrischen Charakter. Sie seien Ausdruck des heidnischen Götzendienstes, von dem sich _____________ 85 86 87 88

Vgl. Conrad d’Hirsau, Dialogus super auctores, S. 95. Vgl. auch Kelly, Ideas, S. 70. Vgl. Baumeister, Theater; Dox, Idea; Henshaw, Attitude; Jürgens, Pompa diaboli; Schnusenberg, Verhältnis; Sennett, Religion; Weismann, Kirche. Vgl. Weismann, Kirche, S. 72–86, 104–107. Weismann (Kirche, S. 106) verweist auf die restriktiven Formulierungen in der ägyptischen Kirchenordnung (cap. 41), den Apostolischen Konstitutionen (VIII 32,9), den ‚Canones Hippolyti‘ (§ 67), dem ‚Testamentum domini nostri Jesu Christi‘ (II 2) sowie auf die Verlautbarungen des Konzils von Elvira (Can. 62) und des 2. Konzils von Karthago (Can. 63).

Tragödie und Christentum

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die Christen in der Taufe doch losgesagt hätten. Die entscheidende Bekenntnisformel, allem Bösen zu widersagen (renuntio diabolo et pompae et angelis eius), schließe auch eine Abkehr von den Schauspielen ein, die dem Bereich des Teufels, seinem Blendwerk und seinen Engeln zuzurechnen seien.89 Daher begehe ein Christ, der diesen Spielen beiwohne, eine Sünde. Er breche das biblische Gebot, weil er sich in den Herrschaftsbereich der Dämonen begebe und Götzendienst leiste (Kap. 12f.). Mögliche Einwände, die Heilige Schrift verböte eine Teilnahme an Spielen nicht ausdrücklich, sucht Tertullian zu widerlegen, indem er das Thema im zweiten Teil seines Werks aus moralischer Perspektive behandelt. Statt der für Christen empfehlenswerten Stille, statt Milde, Ruhe und Frieden herrschten im Schauspiel Raserei, Wut, Zorn und Schmerz, die den Gläubigen von Gott entfernten (Kap. 15). Das Theater wird von dem lateinischen Kirchenvater als privatum consistorium impudicitiae (Kap. 17,1) bloßgestellt. Dass effeminierte Mimen-Schauspieler und Dirnen als Opfer öffentlicher Wollust auf der Bühne aufträten, unterlaufe jedes Scham- und Sittengefühl (Kap. 16f.). Aufgrund der Sinnlosigkeit des Wettstreits von Athleten im Stadion und der Grausamkeit der tödlichen Kämpfe im Amphitheater verböten sich derartige Besuche jedem vernünftig denkenden Menschen. Um wie viel mehr müssten dann Christen von derartigen Veranstaltungen Abstand nehmen, bei denen die einen zum Mord getrieben und die anderen Opfer öffentlichen Vergnügens würden (Kap. 18f.). Eindringlich appelliert Tertullian an alle Gläubigen, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen: Quot adhuc modis perorabimus, nihil ex his quae spectaculis deputantur placitum deo esse aut congruens servo dei quod deo placitum non sit? Si omnia propter diabolum instituta et ex diaboli rebus instructa monstravimus […], hoc erit pompa diaboli, adversus quem in signaculo fidei eieramus. Quod autem eieramus, neque facto neque dicto neque visu neque prospectu participare debemus.90

Ähnliche Vorbehalte gegen das Theater finden sich bei Lactanz, Ambrosius, Hieronymus, Cyprian, Salvian, Novatian und Augustinus,91 aber auch _____________ 89 90

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Vgl. Tertullian, De spectaculis, Kap. 4. Tertullian, De spectaculis, Kap. 24. Übers. v. Weeber: „Auf wie viele Arten sollen wir jetzt noch darlegen, daß nichts von dem, was mit den Schauspielen zu tun hat, Gott wohlgefällig ist oder daß sich für einen Diener Gottes nichts schickt, was Gott nicht wohlgefällig ist? Wenn wir aufgezeigt haben, daß all das um des Teufels willen eingerichtet und aus dem Arsenal des Teufels ausgerüstet ist […], dann wird das das Blendwerk des Teufels sein, dem wir im Zeichen des Glaubens abschwören. An einer Sache aber, der wir abschwören, dürfen wir uns weder in Wort noch Tat, weder durch direktes Zuschauen noch durch gedankliches Vorausblicken darauf beteiligen.“ So erklärt auch Augustinus (De civitate dei 2,8), dass die Bühnenspiele mit ihren Obszönitäten auf Befehl der Priester und zu Ehren der Götter aufgrund einer in Rom grassierenden Pest eingeführt worden seien. Allerdings wertet er den kultischen Ursprung der Spiele weniger als Beleg für ihre gefährliche Wirkung, sondern als einen Beweis für die Verderbtheit

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profane Autoren wie Tacitus, Plinius der Jüngere und Juvenal warnen vor einer verderblichen Wirkung, wie sie in Senecas Formulierung prägnant Ausdruck erhält: Nihil vero tam damnosum bonis moribus quam in aliquo spectaculo desidere; tunc enim per voluptatem facilius vitia subrepunt.92 Angesichts der scharfen Kritik, die das Theaterwesen insgesamt auf sich zieht, ist es umso bemerkenswerter, dass die Tragödie nur selten Erwähnung findet. Daraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dieser Gattung und ihrer Inszenierung werde eine größere Wertschätzung entgegengebracht. Vielmehr werden die Tragödien als weniger gefährlich angesehen, weils sie bereits weitgehend von der Bühne verdrängt sind.93 Schon zur Zeit des Kaisers Augustus ist das Interesse an Tragödien verloren gegangen. Zwar sind für das erste Jahrhundert nach Christus noch Aufführungen bezeugt, doch fehlt es für die Folgezeit an Nachweisen in profanen Quellen. Außer Tertullian, der den Tragödienschauspieler als einen Lehrling des Teufels schmäht, beziehen sich nur Cyprian, Novatian und Lactanz auf eine Inszenierung.94 Aus eigener Lektüre sind den Kirchenvätern nur wenige Tragödien, vornehmlich Senecas Stücke, bekannt.95 Die dennoch vorhandene Kritik richtet sich in erster Linie gegen den Inhalt der Tragödien, die die erwünschte Vorbildhaftigkeit vermissen ließen. Die relativ allgemein gehaltene Aussage des Augustinus in ‚De civitate dei‘, Tragödien seien voller rerum turpitudine,96 wird von Lactanz in den ‚Divinae institutiones‘ spezifiziert: Die tragischen Geschichten handelten von den unsauberen und inzestuösen Taten und Verbrechen der Könige.97 Statt diese schrecklichen Ereignisse in Vergessenheit geraten zu lassen, klagt Cyprian, stelle man sie in den Aufführungen als gegenwärtig

_____________ 92

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der römischen Götter. Schließlich müssten keusche Götter darüber zürnen, wenn in menschlichen Spielen solche abscheulichen Frevel zusammengelogen werden. Seneca, Epistola 7,2. Übers. v. Fink, Bd. 1, S. 31: „Nichts aber ist so verderblich für einen anständigen Charakter wie das müßige Herumsitzen während irgendeiner Schau. Dann nämlich schleichen sich beim Vergnügen leicht Laster ein.“ – Zu Parallelen in der moralischen Argumentation christlicher und nichtchristlicher Autoren vgl. Weismann, Kirche, S. 72–98. Vgl. Weismann, Kirche, S. 33–40. Vgl. Tertullian, De spectaculis, Kap. 23,4; Weismann, Kirche, S. 34. Vgl. Jürgens, Pompa Diaboli, S. xif. Vgl. Augustinus, De civitate dei, lib. 2, cap. 8, S. 62: Et haec sunt scaenicorum tolerabiliora ludorum, comoediae scilicet et tragoediae, hoc est fabulae poetarum agendae in spectaculis multa rerum turpitudine, sed nulla saltem, sicut alia multa, verborum obscenitate compositae […]. Vgl. Lactance, Divinae institutiones lib. 6, cap. 20, 28: Item tragicae historiae subiciunt oculis parricidia, et incesta regum malorum et coturnata scelera demonstrant. Vgl. auch Kelly, Ideas, S. 21. – Die Ausführungen in den mittelalterlichen Etymologien und Glossaren zum Inhalt der Tragödien lehnen sich somit eng an die Schriften der Kirchenväter an, vgl. S. 22–30.

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vor Augen, obwohl mittlerweile Jahrhunderte vergangen seien.98 Diese Beschäftigung mit schamlosen Taten wird nicht folgenlos bleiben, darin sind sich die patristischen Autoren einig, doch stellt sie eine ernsthafte Gefährdung für die sittliche Integrität der Gläubigen dar. Aus diesem Grund warnt etwa Basilius von Cäsarea in seiner Schrift ‚Ad adolescentes‘ vor paganen Erzählungen, die von Uneinigkeit, Familienzwist, Ehebruch und Buhlerei handeln. Der christliche Rezipient müsse sich davor hüten, unbemerkt Schlechtes in seine Seele aufzunehmen, denn, wenn man sich an böse Reden gewöhne, setze man diese auch leicht in die Tat um.99 Deswegen solle man sich vor der Tragödie in Acht nehmen, in der der Zorn gegen Feinde gerechtfertigt erscheine, argumentiert Basilius. Vielmehr sei es das Beste, überhaupt nicht in Zorn zu geraten, sondern diese verderbliche Leidenschaft mit der Vernunft zu zügeln (Kap. 4). Vor dem Hintergrund des Tenors der gesamten Schrift fällt diese Warnung umso mehr ins Gewicht: Selbst der griechische Kirchenvater, der die profane antike Literatur in die christliche Erziehung zu integrieren sucht, spricht sich also gegen die Rezeption der Tragödie aus.100 Besonders negativ äußert sich Tertullian über diese Gattung, indem er die Tragödien als cruentae et lascivae, impiae et prodigae verunglimpft und behauptet, sie stifteten zu Verbrechen und Wollust an.101 Die Möglichkeit, dass Tragödien als negative Exempel fungieren und eine abschreckende Wirkung entfalten können, scheint keiner der Kirchenväter in Betracht zu ziehen. Sie lassen nur positive Beispiele gelten und lehnen die antike Gattung aus moralischen Überlegungen ab. Die mögliche Schlussfolgerung, dass das Fehlen mittelalterlicher Tragödien mit der Ausbreitung des Christentums zusammenhängt, lässt sich dennoch nicht aufrechterhalten. Die Argumente, die die Kirchenväter vorbringen, sind nicht neu; auch profane Autoren kritisieren das Theaterwesen scharf, wenngleich sie sich primär gegen Missstände, weniger gegen die Aufführungspraxis schlechthin wenden.102 Ebenso sind die christlichen Warnungen vor der moralischen Gefährdung der Zuschauer bereits mehrere Jahrhunderte zuvor vorweggenommen worden: In Platon, der die Verbannung der Dichter aus dem idealen Staat fordert, um ihren korrum_____________ 98

Vgl. Cyprian, Ad Donatum 8: Cothurnus est tragicus, prisca carmine facinora recensere: de parricidiis et incestis horror antiquus expressa ad imaginem ueritatis actione replicatur, ne saeculis transeuntibus exolescat quod aliquando commissum est. Vgl. auch Weismann, Kirche, S. 74. 99 Vgl. Basilius, Mahnwort, Kap. 2. 100 Zur Interpretation von ‚Ad adolescentes‘ als Programmschrift der studia humanitatis vgl. Schucan, Nachleben; Toepfer, Pädagogik, S. 182–194. 101 Vgl. Tertullian, De spectaculis 17,7: Quodsi sunt tragoediae et comoediae scelerum et libidinum auctrices cruentae et lascivae, impiae et prodigae, nullius rei aut atrocis aut vilis commemoratio melior est: quod in facto reicitur, etiam in dicto non est recipiendum. 102 Vgl. Weismann, Kirche, S. 210.

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pierenden Einfluss auf die Bürger auszuschalten,103 haben die Kirchenväter einen prominenten Fürsprecher. Das überzeugendste Argument aber, weshalb die frühchristlichen Autoren nicht am Niedergang der Gattung schuld sein können, ist, dass die Tragödie die Hochphase ihrer Rezeption längst hinter sich gebracht hat und schon in Vergessenheit geraten ist. Diese Entwicklung wird durch die Ablehnung der christlichen Schriftsteller bestärkt; ob es ihnen auf diese Weise gelungen ist, „dem kranken Spielwesen den Todesstoß zu versetzen“,104 sei dahingestellt. Die repressive Einstellung der Kirche kann jedenfalls nicht als alleinige Ursache für das Fehlen der Gattung im Mittelalter gewertet werden. 2.2 Tragik und Christentum: Metaphysischer Vorbehalt der Forschung Die Frage nach den historischen Erscheinungsformen der Tragödie steht in Abhängigkeit zu ihrer Theoriegeschichte und wandelt sich mit ihr. Während die ablehnende Haltung der Kirchenväter in patristischen und theatergeschichtlichen Untersuchungen noch als Erklärung dafür dienen mag, weshalb im Mittelalter keine Tragödien produziert werden, spielt dieses Motiv in neueren tragödientheoretischen Abhandlungen kaum eine Rolle mehr. Der Fokus hat sich von der dramatischen Gattung auf die Idee des Tragischen verschoben. Anstelle ritueller und moralischer Argumente dominieren im 19. und 20. Jahrhundert metaphysische Begründungen, wie sie auch in der mediävistischen Forschungsliteratur zu finden sind. Tragik und Christentum werden als unvereinbare Gegensätze wahrgenommen, deren unterschiedliches Menschen- und Weltbild eine Entstehung von Tragödien im Mittelalter verhindert habe. Entscheidender Dreh- und Angelpunkt für den christlichen Glauben wie für die Frage nach einer christlichen Tragik ist die Auferstehung Jesu Christi. Dieses Ereignis, das das weltliche Leiden überwindet und die endgültige Vernichtung des Menschen im Tod verhindert, wird als Zeichen der immerwährenden Güte Gottes gedeutet. Aus dieser Heilserfahrung erwächst für den Gläubigen die Gewissheit, dass die Welt nach göttlichem Plan geordnet ist und der Einzelne erlöst werden kann. Auf diese Glaubensaxiome zielen die Theoretiker, die der christlichen Weltanschauung jedes Gespür für Tragik absprechen. Eine letztlich optimistische Religion wie das Christentum schließe den endgültigen Tod aus, meint etwa Geoffrey Brereton. Indem auf den Tod Christi die Auferstehung folgte, sei sein Opfer keine Katastrophe, sondern ein Triumph; niemals könnten christ_____________ 103 Vgl. Platon, Der Staat, 595a–608b. Vgl. auch Weismann, Kirche, S. 165. 104 Vgl. Weismann, Kirche, S. 212.

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liche mit tragischen Helden gleichgestellt werden.105 Durch das Christentum werde das Tragische besiegt, ausgelöscht und verschwinde, erklärt auch Hans Ehrenberg. Die Auferstehung komme der tragischen Erschütterung zuvor.106 Ähnlich argumentiert Karl Jaspers, wenn er christliche Erlösung und tragisches Wissen kontrastiert. Weil die eigene Erlösungsmöglichkeit die tragische Ausweglosigkeit vernichte, werde das Tragische unverbindlich. Der Mensch werde davon erregt, nicht aber betroffen. Weil dem Christen die Substanz des tragischen Wissens entgehe, gebe es keine eigentliche christliche Tragödie: „Alle Grunderfahrungen des Menschen sind als christlich nicht mehr tragisch. Die Schuld wird zur felix culpa, die die Erlösung möglich macht.“107 Besonders pointiert drückt Laurence Michel die Unmöglichkeit einer christlichen Tragödie aus: „Christentum ist nicht mit Tragödie in Einklang zu bringen; Tragödie bockt und scheut unter dem Christentum.“ Durch die Menschwerdung Christi, seine Auferstehung und Erlösung sei „der Gordische Knoten des Tragischen“ durchschnitten worden, daher finde sich nichts, was man vorbehaltlos zugleich als christlich und als Tragödie bezeichnen könne.108 Auch im ‚Lexikon für Theologie und Kirche‘ wird eine Spannung zwischen Tragik und christlicher Weltsicht, die weniger fatalistisch sei und das Individuum nicht als Spielball antagonistischer Kräfte sehe, konstatiert.109 Allenfalls eine episodische oder Teiltragödie sei im Christentum möglich, erklärt auch George Steiner, wenn es innerhalb eines grundsätzlichen Optimismus Augenblicke der Verzweiflung gebe.110 Neben diesen Positionen, die dem Christentum eine wirkliche Erfahrung von Zweifel, Schuld, Leid und Angst absprechen, gibt es in der Forschung jedoch auch gegenteilige Stimmen. So wirft Dietrich Mack den Vertretern eines untragischen Christentums vor, das Wesen des Christlichen auf eine naive, optimistische Gläubigkeit einzuschränken. Der Christ sei gerade nicht optimistisch determiniert, sondern dem Wagnis der Freiheit ausgesetzt, das die Möglichkeit tragischen Scheiterns immer einschließe. Die immanenten Spannungen würden also nicht kompensiert, sondern tiefster Zweifel, größte Verfehlung, Leid, Kampf, Unglauben und scheinbare Sinnlosigkeit blieben auch im christlichen Bereich bestehen.111 Die Ansicht, dass der erlöste Mensch den Grundspannungen des Lebens aus_____________ 105 106 107 108 109 110 111

Vgl. Brereton, Principles, S. 51f. Vgl. Ehrenberg, Tragödie, Bd. 2, S. 3, 9. Jaspers, Vollendung, S. 12. Michel, Möglichkeit, S. 206, 208. Vgl. Lesch, Tragik, Sp. 162. Vgl. Steiner, Tod, S. 365f. Vgl. Mack‚ Ansichten, S. 128.

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gesetzt bleibe, teilt Wilhelm Grenzmann, für den das „Aufheben des Gegensätzlichen in der Ewigkeit […] kein Aufheben der Tragik in der Zeit“ bedeutet.112 Andere Autoren halten beide ‚Weltanschauungen‘ nicht nur für vereinbar, sondern stellen eine Affinität des Christentums zum Tragischen heraus113 oder betrachten die Situation des Christen in der Welt sogar als besonders tragisch. Nach dem Verständnis der protestantischen Theologie ist die Situation des Menschen in der Welt von einer grundsätzlichen Gottesferne geprägt, die nur durch göttliche Initiative überwunden werden kann. Diese Kluft zwischen der religiösen Bestimmung des Menschen für ein Leben mit Gott und der Unmöglichkeit, dieses Ziel aus eigenem Antrieb zu erreichen, beschreibt Eva Bartsch in der Erfahrung des Gläubigen als „genuin tragisch“. Erst im Moment der Gottesbegegnung werde die Tragik, die die Existenz des Menschen von Natur aus präge, als solche erkannt und gleichzeitig in der unmittelbaren Beziehung zu Gott aufgehoben.114 Ernst Gerhard Rüsch hingegen betrachtet das tragische Scheitern als einen wesentlichen Teil der Begegnung des Menschen mit Gott. Nur im Zerbrechen des eigenen Willens, wenn der Mensch mit seinen besten Bestrebungen scheitere, werde klar, was der wirkliche Wille Gottes sei. Da Gottes Entscheidungen nicht zu beeinflussen seien und der Mensch ihnen ausgeliefert bleibe, könne man nicht sagen, das Tragische und das Christliche hätten nichts miteinander zu tun. Das Tragische sei nicht etwa eine Erfahrung des Menschen außerhalb des Glaubens, vielmehr sei es dem Glauben immanent.115 Wilhelm Grenzmann wiederum verschiebt den Akzent vom einzelnen Gläubigen zur erlösungsbedürftigen Menschheit. Seines Erachtens hat sich das Tragische im Christentum sogar verstärkt, weil die Welt zwar zum Heil aller geschaffen sei, aber viele Menschen verloren gingen.116 Die Literatur zum Verhältnis von Tragik und Christentum ließe sich beliebig ergänzen, doch die unterschiedlichen Grundpositionen sind durch die Textauswahl markiert. Mehrere Autoren behaupten eine generelle Unvereinbarkeit von Christlichem und Tragischem117 oder vertreten die Ansicht, das Tragische habe durch den christlichen Glauben eine starke Ab_____________ 112 Grenzmann, Über das Tragische, S. 173. 113 Nach Mack (Ansichten, S. 127) ist das Christliche „ein der göttlichen Transzendenz bedürftiger Existenzvollzug“, worin seine „unverkennbare Affinität zum Tragischen“ begründet liege. Michels (Möglichkeit, S. 197) beschreibt die Tragödie und das Christentum als „Verbündete im Kampf gegen den Rationalismus und die Macht des positiven Denkens“. 114 Vgl. Bartsch, Tragödie, S. 9, 54f. 115 Vgl. Rüsch, Problem, S. 122, 126f. 116 Vgl. Grenzmann, Über das Tragische, S. 173. 117 Vgl. auch Büchler, Über das Tragische, S. 103–126; Ernst, Möglichkeit, S. 123f.; Körner, Tragik, S. 71f.

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schwächung erfahren. Andere erklären Tragik innerhalb des Christentums hingegen nicht nur für möglich,118 sondern geradezu für charakteristisch. Gemeinsam ist allen vorgestellten Theorien, dass sie ein außerliterarisches Phänomen des Tragischen voraussetzen. Da sich in der Forschung kein Konsens hinsichtlich des Verhältnisses von Tragik und Christentum abzeichnet, ist zu bezweifeln, dass sich das christliche Weltbild überhaupt als Argument für die These eines untragischen Mittelalters eignet. Schließlich wird die Existenz eines christlichen Typus einer Tragödie nicht einmal von allen modernen Theoretikern bestritten. Zudem werden metaphysische Vorbehalte sekundär, wenn man das Tragische poetologisch betrachtet. Statt Tragik länger als ein weltanschauliches Konkurrenzmodell zum Christentum aufzufassen, erscheint es daher sinnvoller, den Blick für literarische Strukturen des Tragischen zu öffnen, die sowohl in profanen als auch in religiösen Texten zu finden sind. 2.3 Theologisch-narratologisches Paradigma: Der Sündenfall Erzählungen, in denen hochgestellte Figuren vom höchsten Glück in tiefstes Unglück stürzen, aus kleinen Vergehen schreckliche Konsequenzen erwachsen oder Intention und Realisation menschlichen Handelns in einem Spannungsverhältnis stehen, finden sich nicht nur in der griechischen Mythologie, sondern auch in der jüdisch-christlichen Tradition. Ein solches Handlungsmuster liegt mehreren biblischen Geschichten, wie zum Beispiel dem Lebensweg des Königs Saul (1 Sam 9,1–31,13) oder dem Fall Hiobs (Ijob 1,1–42,17), zugrunde. Eine solche Entwicklung betrifft nicht nur einzelne Protagonisten oder beschränkt sich auf wenige Episoden. Vielmehr ist schon die biblische Urgeschichte, die die Entstehung des Menschen und die Beschwerlichkeit seiner Existenz zu begründen sucht, durch eine ähnliche Konstellation gekennzeichnet. In der jüdischen und in der christlich-dogmatischen Interpretation ist diese Begebenheit zum ‚Sündenfall‘ stilisiert und als grundlegend für die menschliche Situation erklärt worden.119 Dieser durch eine Sünde ausgelöste Sturz ins Unglück kann, wie im Folgenden gezeigt werden soll, als theologisch-narratologisches Paradigma für eine tragische Handlung dienen.120 Eine historische _____________ 118 Vgl. auch Schneider, Theologie, S. 735: „Das Dasein des Christen ist von seinem Innersten her dramatisch, ja tragisch. […] Freilich ist auch im Christentum eine ausweglose Tragik möglich: die Verdammnis, der unwiderrufliche Verlust des Heils.“ 119 Vgl. Westermann, Genesis, S. 37f. 120 Vgl. auch Kraß, Geschriebene Kleider, S. 64. Er vertritt die Ansicht, die biblische Erzählung vom Sündenfall changiere zwischen Komödie und Tragödie: „Den tragischen Zug verdankt sie ihrem fatalen Ende, den komischen Zug der spielerischen Exposition.“

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Bestätigung für diese Lesart findet sich in der Frühen Neuzeit, als nach der Wiederentdeckung der antiken Gattungen im Humanismus die tragödienaffinen Elemente der Erzählung erkannt werden. So verfasst Hans Sachs eine ‚Tragedia von schöpfung, fal und außtreibung Ade auß dem paradeyß‘, in der er die biblische Perikope dramatisch gestaltet.121 Die Bibel vereint zwei Schöpfungserzählungen: Die erste, die jüngeren Datums ist und der Priesterschrift entstammt, schildert die Erschaffung der Welt als Ganzes (Gen 1,1–2,4a). Dagegen richtet die zweite, die dem Jahwisten zugeschrieben wird, den Fokus auf die Erschaffung des Menschen und seine Lebensordnung (Gen 2,4b–25).122 In dieser Erzählung formt Gott den Menschen aus der Erde des Ackerbodens, lässt ihn durch das Einhauchen des Atems lebendig werden und setzt ihn dann in einen neuangelegten Garten. Als Gott dem Menschen nach mehreren Fehlversuchen ein passendes Gegenüber zugeführt hat, ist die Schöpfungshandlung abgeschlossen, die ideale Ausgangsvoraussetzungen bietet: Mann und Frau bilden eine Einheit, die durch kein Schamgefühl getrübt wird (vgl. Gen 2,25); sie leben in einem Garten, der köstliche Früchte spendet, und sollen diesen pflegen, ohne sich um die Bewässerung sorgen zu müssen (vgl. Gen 2,10). Dennoch ist die folgende Katastrophe, die zum Verlust des glücklichen Ausgangszustandes führt, bereits vorbereitet: In der Mitte des Gartens stehen zwei besondere Bäume, von denen einer von Gott mit einem Verbot belegt worden ist. Vom Baum der Erkenntnis dürfe der Mensch nicht essen, da er sonst sterben werde (vgl. Gen 2,17). Dieses Motiv, das zunächst unberücksichtigt bleibt, wird in der nächsten Episode wieder aufgegriffen.123 Dabei geht die Initiative, die zur Übertretung des Verbots führen wird, nicht von den beiden Protagonisten aus, sondern wird der Schlange übertragen, die als Verkörperung des Bösen und der Verführung fungiert. Gleichwohl werden Frau und Mann dadurch nicht entlastet, sondern sind für ihr Verhalten weiterhin verantwortlich. Auf die Frage der Schlange, ob Gott ihnen den Genuss aller Früchte vorenthalten habe, zeigt sich die Frau gut informiert. Sie weiß sowohl von der Erlaubnis, Früchte zu essen, als auch von der einzigen Ausnahme und den negativen Folgen, die bei einer Überschreitung drohen. In ihrer direkten Wiedergabe der Aussage Gottes weitet die Frau das Speiseverbot aus: Bereits die bloße Berührung der Früchte bringe Verder_____________ 121 Vgl. Sachs, Tragedia. – Das auf das Jahr 1548 datierte Werk erscheint erstmals 1558 in einer von Christoph Heußler in Nürnberg gedruckten Sammelausgabe, vgl. VD 16 S 142. – Auf die starke Abhängigkeit dieses Stücks von Hieronymus Zieglers lateinischem Drama ‚Protoplastus‘ weist Washof (Bibel, S. 143–146) hin. Vgl. auch Murdoch, Schöpfung. 122 Vgl. Westermann, Genesis, S. 13–15. Zur Darstellung des biblischen Schöpfungsberichts in Literatur und Kunst vgl. auch Kern, Genesis. 123 Der Jahwist hat zwei ursprünglich selbstständige Erzählungen über das Motiv des Baums der Erkenntnis verknüpft. Vgl. Westermann, Genesis, S. 31f.

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ben (vgl. Gen 3,3). Dennoch gelingt es der Schlange, die Frau zum Essen zu bewegen. Sie stellt Gottes Verbot als einen Versuch dar, Wissen vorzuenthalten, und verspricht einen ungeahnten Erkenntnisgewinn. Der Wunsch, wie Gott zu werden, lässt die Frau mögliche Gefahren vergessen: „Da sah die Frau, daß es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, daß der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.“ (Gen 3,6) Die erhoffte Erkenntnis stellt sich zwar unmittelbar ein, bringt aber unliebsame Entdeckungen mit sich: „Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren.“ (Gen 3,7a) Dieses Wissen zerstört zunächst die bislang unversehrte Einheit von Mann und Frau, die nun ihre Nacktheit durch einen Schurz aus Feigenblättern voreinander verbergen wollen. Anschließend wirkt es sich auf ihr Verhältnis zu Gott aus, vor dem sie sich zu verstecken suchen. Dieser Versuch, die endgültige Katastrophe aufzuhalten, beschleunigt diese jedoch. Nicht die gegessenen Früchte, sondern ihr Wissen um die eigene Nacktheit verrät die Menschen. Als Gott den Mann zur Rede stellt, muss dieser sein Vergehen gestehen. Sein Verweis auf die Frau reicht ebenso wenig als Entschuldigung aus wie ihr Versuch, die Schuld der Schlange zuzuschieben; alle Beteiligten werden gestraft und müssen die Folgen ihrer Tat tragen. Gott vertreibt die Menschen aus dem Garten und verhindert eine Rückkehr, indem er den Weg mit einem Flammenschwert bewachen lässt (vgl. Gen, 3,24); anstelle der köstlichen Früchte der Bäume sind sie nun auf die Pflanzen des Ackerbodens angewiesen, der auch Disteln und Dornen hervorbringt. Das sorglose Leben endet mit viel Mühsal; die Frau muss unter Schmerzen gebären und sich unterordnen, der Mann schweißtreibende Arbeiten verrichten, um Nahrung zu beschaffen. Die schlichte Erzählweise des biblischen Textes beschränkt sich vollständig auf die Darstellung der einzelnen Handlungsereignisse, ohne das Geschehen zu kommentieren. Der paradiesische Ausgangszustand, der handlungsauslösende Dialog, die Überschreitung des Verbots, die Reaktionen von Mann und Frau und die von Gott verhängten Sanktionen werden neutral geschildert. Die Bewertung des Vergehens der beiden Figuren bleibt dem ranghöchsten Protagonisten vorbehalten. Wie die Menschen ihre Vertreibung aufnehmen, ob sie ihre Schuld bekennen und ihr Verhalten bedauern, berichtet der Text nicht. Diese relative Offenheit bietet Raum für unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten.124 Fest steht, dass die katastrophale Wendung von den Figuren selbst ausgelöst worden _____________ 124 So deuten z.B. Hegel und Bloch die Geschichte des Sündenfalls als Emanzipation der Menschheit aus selbstverschuldeter Abhängigkeit. Vgl. Jauß, Mythe, S. 30.

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ist, da sie Grenzen überschritten und Regeln missachtet haben. Doch welche Motivation ihrem Scheitern zugrunde liegt, ist damit noch nicht beantwortet. Handelt es sich um einen Fall von menschlicher Hybris, sich nicht mit dem Vorhandenen zufrieden geben zu können und wie Gott sein zu wollen? Oder ist es für den Menschen überhaupt nicht möglich, das Gebot zu beachten, und das Verweilen im Paradies somit von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Die traditionelle kirchliche Lesart setzt bei der ersten Variante an, wohingegen narratologische Überlegungen die zweite Option stützen. Aus theologisch-dogmatischer Sicht war der Mensch für ein Leben in Heiligkeit und Gerechtigkeit bestimmt, bevor er die ursprüngliche Gemeinschaft mit Gott durch seine Sünde selbst zerstört und so den gnadenhaften Urstand unwiederbringlich verloren hat.125 Erzähllogisch betrachtet, verlangt das Motiv eines Verbotes jedoch geradezu nach seiner Infragestellung und Übertretung.126 Zudem sind die Theatralität und die besondere spielerische Exposition der Sündenfallerzählung zu beachten, wie Andreas Kraß ausführt. In seiner Lektüre erscheint das Paradies als „Guckkastenbühne“, in der Gott als Regisseur fungiert und Kulissen, Requisiten, Figuren und Rollen verteilt. Nachdem er das Verbot aufgestellt habe, lasse er einen Gegenspieler auftreten und verfolge interessiert den Ausgang seines Experiments. Dann wandle er sich vom freundlichen älteren Herrn in den über das Menschenpaar urteilenden Richter.127 Demnach ist Gen 3,1–24 als eine von Gott arrangierte Versuchungsgeschichte zu lesen, die die beiden Protagonisten nicht bestehen. In der Rezeptionsgeschichte bleibt das theologisch-dogmatische Verständnis bis in die Moderne dominierend. Mit Eva, der ersten Gebärerin, beginnt Giovanni Boccaccio in ‚De claris mulieribus‘ seine über hundert Lebensbeschreibungen mythologischer, biblischer und historischer Frauengestalten.128 Der jüdisch-talmudischen und der griechisch-christlichen Tradition folgend, schildert er Evas unübertreffliche Schönheit, die von Gott selbst geschaffen wurde und die Wonnen des Paradieses genoss.129 _____________ 125 Vgl. Evangelischer Erwachsenenkatechismus, S. 313f.; Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 396–400, 416. 126 Vgl. Frenschkowski, Tabu. – Jauß (Mythe, S. 30) erklärt, dass „mit ästhetischer Lizenz“ auch die „fürwitzigste aller Fragen“ gestellt werden könne, nämlich ob Gott den Menschen etwa nur scheinbar eine Gehorsamsprobe auferlegt habe, um ihnen so den Weg der Geschichte zu weisen. – Auch die literarische Allusion, die Gottfried in dem huote-Exkurs des ‚Tristan‘ unternimmt, kennzeichnet ein solches Verständnis: ez ist ouch noch mîn vester wân: / Êve enhaete ez nie getân / und enwaere ez ir verboten nie. (17.947–17.949) Zu den Interpretationsschwierigkeiten der Verse vgl. Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 163f. 127 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 64. 128 Vgl. Boccaccio, De claris mulieribus, S. 22–25. – Zur Motivgeschichte vgl. auch Schwarz, Eva. 129 Vgl. auch Schüngel-Straumann, Eva.

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Der Grund für ihre Vertreibung wird von Boccaccio klar benannt und die Fallhöhe deutlich exponiert: In weiblichem Leichtsinn glaube Eva dem Verführer und meine in ihrer Torheit, noch höher steigen zu können. Nachdem sie ihren leicht beeinflussbaren Mann überredet habe, brächen sie gemeinsam das Gesetz und stürzten durch ihre blinde Waghalsigkeit sich selbst und das gesamte Menschengeschlecht aus dem ewigen Frieden in angstvolle Mühe und armseligen Tod, aus dem freudvollen Heimatland unter Dornen, Erde und Stein.130 Leichtsinn, Torheit und Waghalsigkeit leisten also Evas Wunsch, ihren paradiesischen Status noch zu steigern, Vorschub. Auslöser für ihren Sturz ist nach Boccaccios Darstellung somit die menschliche Hybris. In der Theologiegeschichte sind aus der Sünde des ersten Menschenpaares schon früh Konsequenzen für die ganze Menschheit abgeleitet worden. „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod“, erklärt Paulus im Römerbrief (Röm 5,12). Augustinus entwickelt daraus die Vorstellung, dass mit den Folgen der Ursprungssünde Adams zugleich der damit verbundene Schuldzustand auf die gesamte Menschheit übergehe. Diese Lehre von der Erbsünde wird zum verbindlichen Glauben der Kirche, die eine allgemeine Sündhaftigkeit und Schuldverfallenheit des Menschen voraussetzt.131 Von dieser Auffassung, die die Situation des einzelnen Menschen als schuldlos-schuldig begreift, ergeben sich wiederum Bezugspunkte zu modernen Tragiktheorien, wie in einigen Interpretationen aufgezeigt wird. Die Situation des Menschen gilt in der Erfahrung des Gläubigen als tragisch, weil sie sich auf den Abfall des Menschen von Gott gründet.132 Einerseits werde der Mensch in der Welt persönlich schuldig, andererseits sei er in einer logisch undurchschaubaren Weise in Schuldzusammenhänge verstrickt, kommentiert Ernst Gerhard Rüsch. Indem die Bibel und der christliche Glauben den gefallenen Menschen nie völlig schuldlos erscheinen ließen, zeige sich im Handeln des Einzelnen ein solches Ineinander von Gemeinschuld und Einzelschuld, von Fluch und Verantwortung, wie es für das Tragische kennzeichnend sei.133 Die Vereinbarkeit von Tragik und Christentum liegt für die Befürworter dieser These also im Sündenfall begründet. _____________ 130 Vgl. Boccaccio, De claris mulieribus, S. 24: […] et in legem agentes, arboris boni et mali poma dum gustassent, temerario ausu seque genusque suum omne futurum ex quiete et eternitate in labores anxios et miseram mortem et ex delectabili patria inter vepres glebas et scopulos deduxere. 131 Vgl. Evangelischer Erwachsenenkatechismus, S. 327–333; Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 401–406, 417. Vgl. auch den Artikel ‚Erbsünde, Erbsündenlehre‘. In: LThK 3 (1995), Sp. 743–749. 132 Vgl. Bartsch, Tragödie, S. 9. 133 Vgl. Rüsch, Problem, S. 123.

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Die Textanalyse und die Rezeptionsgeschichte von Gen 2,4–26 zeigen, dass die Erzählung vom Sündenfall Anknüpfungsmöglichkeiten für verschiedene Tragikvorstellungen bietet. Das fatale Ende, das selbstzerstörerische Begehren, die weibliche Hybris, das notwendige Scheitern, die menschliche Schuldverfallenheit oder das individuelle Dilemma, Gottes Gebot zu kennen und nicht halten zu können, dürften sich für die Gestaltung einer Tragödie eignen. Sowohl aus poetologischer als auch aus philosophischer Perspektive lassen sich im Handlungsgerüst der biblischen Erzählung Elemente des Tragischen erkennen.134 Die Geschichte vom Sündenfall kann geradezu als ein theologisch-narratologisches Paradigma für eine tragische Handlung dienen. Selbst wenn antike Tragödien mehrere Jahrhunderte nicht mehr rezipiert werden können, bleibt der biblische Mustertext doch stets verfügbar. Formen tragischen Erzählens sind demnach im christlichen Mittelalter durchaus zu finden.

3. Narratologie des Tragischen: Entwicklung eines Instrumentariums Im theoretischen Kapitel wurden bisher die Voraussetzungen geschaffen, um die Frage nach den Formen des Tragischen in der mittelalterlichen Literatur stellen zu können. Demnach rechtfertigen weder das christliche Weltbild noch das Fehlen der antiken Gattung die Annahme, dass es im Mittelalter keine Tragik geben könne. Angesichts der Vielfalt möglicher Tragikdefinitionen und deren historischer Veränderlichkeit wurde die Notwendigkeit betont, ein textbezogenes Tragikverständnis zur Grundlage der Untersuchung zu machen. Diese Forderung soll nun umgesetzt und ein Instrumentarium entwickelt werden, mit dessen Hilfe Motivierungsformen des Unglücks analysiert werden können. 3.1 Tragische ‚histoire‘ und epischer ‚discours‘ Für die Untersuchung des Tragischen wird in dieser Studie ein narratologischer Zugang gewählt, statt die prominenten Ansätze der Dramenanalyse und Rezeptionsästhetik zu übernehmen. Dieser Methodenwechsel lässt sich mit der Gattungsform der höfischen Epik legitimieren. Da aus _____________ 134 Ähnlich äußert sich Frye (Analyse, S. 214), der sich mit seinen Überlegungen allerdings auf eine bestimmte literarische Bearbeitung bezieht: Seines Erachtens versucht Milton mit ‚Paradise Lost‘ nicht nur, „eine Tragödie unter vielen zu schaffen, sondern geradezu den archetypischen mythos der Tragödie nach seinem Verständnis darzustellen.“

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dem Mittelalter keine Tragödien im dramatischen Modus überliefert sind, erscheint es wenig sinnvoll, sich an literarischen Konventionen der Weimarer Klassik oder des modernen Theaters zu orientieren.135 Auch auf die Anwendung der rezeptionsästhetischen Methode wird verzichtet,136 obwohl diese durchaus Aufschlüsse über ein höfisches Tragikverständnis geben könnte. Ausschlaggebend für diese methodische Entscheidung ist der Primat der Handlung, auf den Aristoteles als Initiator der tragödientheoretischen Auseinandersetzung mit Dichtung aufmerksam macht. Seines Erachtens sind „die ‹einzelnen› Handlungen und der Mythos ‹als Einheit dieser Handlungen› das Ziel der Tragödie […].“137 Da die spezifische Wirkung der Tragödie nur zu erzielen ist, wenn eine bestimmt Handlungskonstellation vorliegt,138 muss diese an erster Stelle untersucht werden. Ein narratologischer Ansatz erscheint für eine solche Analyse in mehrfacher Hinsicht besonders geeignet, da er sowohl den Inhalt als auch die Art der Darstellung berücksichtigt und verschiedene Formen tragischen Erzählens zu klassifizieren hilft. Schon die elementare Unterscheidung zwischen Diskurs und Geschichte erweist sich für die Frage nach einem höfischen Verständnis des Tragischen als erkenntnisfördernd. Sie trägt dazu bei, die grundsätzliche Möglichkeit epischer Tragik zu begründen, und liefert einen ersten Anhaltspunkt, tragisches Erzählen genauer zu erfassen. Erzähltheoretische Studien betonen den fundamentalen Unterschied zwischen dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘ von narrativen Texten und trennen das Erzählte, die erzählte Welt und Geschichte auf der einen Seite, von dem Erzählen, dem erzählerischen Medium und den verwendeten Mitteln der Darstellung auf der anderen Seite.139 Tzvetan Todorov, der für diese Unterscheidung im Rückgriff auf den russischen Formalismus die Begriffe ‚histoire‘ und ‚discours‘ einführt, definiert die in einem Text erzählte Geschichte als „une certaine réalité, des événements qui se seraient passés, des personnages qui, de ce point de vue, se confondent avec ceux de la vie réelle.“ Grundlegend für seine Definition ist, dass dieselbe ‚histoire‘ auf verschiedene Arten vermittelt werden kann, wie Todorov am Beispiel einer Verfilmung und eines Zeugenberichts veranschaulicht. Die Frage _____________ 135 Vgl. z.B. Asmuth, Dramenanalyse. 136 Dass eine solche Fragestellung für die Untersuchung mittelalterlicher Werke fruchtbar sein kann, hat Barthel (Empathie) jüngst für den ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach gezeigt. Vgl. auch Störmer-Caysa, Mitleid. 137 Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1450a. In der Übersetzung wird, sofern nicht anders angegeben, die Version von Schmitt zitiert, für das griechische Original wird die Ausgabe von Fuhrmann herangezogen. 138 Zur Wirkung der Tragödie und den notwendigen Voraussetzungen vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 9 und 13, 1452a–1453a. 139 Vgl. Genette, Erzählung, S. 15–20; Martinez, Einführung, S. 20; Nünning, Erzähltheorie.

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nach der jeweiligen Präsentationsform zielt auf den ‚discours‘, der durch einen Erzähler gekennzeichnet ist: „A ce niveau, ce ne sont pas les événements rapportés qui comptent mais la façon dont le narrateur nous les a fait connaître.“140 Diese Differenzierung zwischen Inhalt und Vermittlung ist, vor allem wenn das Erzählte auf den engeren Begriff des Handlungsgeschehens beschränkt wird,141 von entscheidender Relevanz für die Untersuchung von Formen des Tragischen in der höfischen Dichtung. Wenn narrative Texte im Hinblick auf ‚histoire‘ und ‚discours‘ analysiert werden können, dann stellt sich die Frage, auf welcher Ebene Tragik anzusiedeln ist: Ist sie von handlungsfunktionalen Elementen oder von der Art der Darstellung abhängig? Dies kann in Auseinandersetzung mit verschiedenen Tragödientheorien, die sich weitgehend auf Aristoteles stützen, beantwortet werden. In seiner ‚Poetik‘ liefert der griechische Philosoph in vielfacher Hinsicht einen differenzierten Beitrag zu einer Erzähltheorie. Tragische Elemente ordnet er einerseits eindeutig der Ebene der ‚histoire‘ zu, andererseits macht er ihre besondere Wirkung vom ‚discours‘ abhängig. Wenn für Aristoteles das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie der Mythos ist, stellt er die Bedeutung der Handlungsstruktur heraus, die bestimmte Bestandteile wie Peripetien und Wiedererkennungen aufweisen soll und der andere Elemente wie die Charaktere untergeordnet sind.142 Während der Mythos-Begriff hier eine literarische Gestaltung voraussetzt, fasst Aristoteles ihn wenig später weiter und bezieht ihn auf die Erzählstoffe, die sich für eine Tragödie eignen. Die besten Tragödien würden aus einer kleinen Anzahl von Geschlechtern zusammengesetzt, wie z.B. über Alkmeon, Ödipus, Meleager, Thyestes und Telephos und wer sonst noch Schreckliches erlitten oder getan habe.143 Der überzeugendste Beweis für diese Beobachtung sei, dass sich derartige Tragödien bei den dramatischen Wettkämpfen als die tragischsten erwiesen, wenn sie erfolgreich aufgeführt würden. Damit bindet Aristoteles das erzählte Tragische an das tragische Erzählen. Zwar ist eine geeignete ‚histoire‘ Voraussetzung für eine Tragödie, doch entfaltet sie ihre Wirkung am besten in dem ihr eigenen ‚discours‘, wenn der Erzähler die Figuren selbst sprechen lässt.144 Diese Rückbindung an die Darstellungsweise lässt das Drama zwar zur besten, keineswegs jedoch zur einzigen Kunstform für tragische Lite_____________ 140 Todorov, Catégories, S. 126. 141 Todorovs Begriff der ‚histoire‘ ist weiter gefasst und schließt das gesamte Kontinuum der erzählten Welt ein, wohingegen der russische Formalist Tomaševskij (Theorie, S. 218) bei seinem ‚fabula‘-Begriff nur die handlungsrelevanten Teile berücksichtigt. 142 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1450a. 143 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a. 144 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 3, 1448a.

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ratur werden. Dies wird in der ‚Poetik‘ bei dem wiederkehrenden Vergleich von Tragödie und Epos deutlich. Die Tragödie sei dem Epos überlegen, argumentiert Aristoteles, denn sie enthalte alles, was auch jenem eigen sei. Sie könne dessen Versmaß und Melodik verwenden, zeichne sich jedoch durch Eindringlichkeit, eine geringere Ausdehnung und eine konzentrierte Art der Darstellung aus und erzeuge somit besser die gewünschte Wirkung.145 Obwohl die Gegenüberstellung zugunsten der Tragödie ausfällt, wird dem Epos die Möglichkeit tragischen Erzählens durchaus zugestanden. Zwar unterscheide sich das Epos durch sein Metrum, den Bericht, die Ausdehnung des Handlungsgefüges und die unbeschränkte Zeit, doch weise es die gleichen Handlungselemente wie die Tragödie auf und könne dieselbe tragische Wirkung, d.h. fÒboj und œleoj, hervorrufen.146 Wiederholt verweist Aristoteles dabei auf Homer, dessen ‚Ilias‘ er als episches Vorbild für die Komposition einer tragischen Handlung präsentiert.147 Die in der ‚Poetik‘ behandelten Parallelen zwischen Tragödie und Epos belegen, dass bereits nach antiker Auffassung die Darstellung des Tragischen nicht ausschließlich an den dramatischen Modus gebunden bleibt, sondern auch episch entfaltet werden kann. Das Verhältnis von Inhalt und Form des Tragischen beschäftigt noch in der Gegenwart die Tragödientheoretiker. Die möglichen Eckpunkte der Diskussion markieren die Positionen Walter Kaufmanns und Richard H. Palmers, von denen jener die dramatische Gestalt zur unverzichtbaren Bedingung erklärt, wohingegen dieser sich vollständig auf den Inhalt konzentriert. „Was eine Tragödie zu einer Tragödie macht, ist nicht, was dargestellt, sondern wie es dargestellt wird“,148 meint Kaufmann und spricht sich somit klar für die Priorität des ‚discours‘ aus. Palmer hingegen erkennt selbst in bloßen Handlungselementen noch eine Tragödie und trennt so die poetische Form von der tragischen ‚histoire‘: „If we purged Oedipus Rex of all the emotional effect inherent solely in its poetry and left the bare skeleton of character, action, and language, we would still have a tragedy, albeit not as great a one.“149 _____________ 145 Vgl. Aristoteles, Poetik, übers. v. Fuhrmann, Kap. 26, bes. 1462b: „Wenn sich nun die Tragödie in allen diesen Dingen auszeichnet und überdies noch in der von der Kunst angestrebten Wirkung […], dann ist klar, daß sie dem Epos überlegen ist, da sie ihre Wirkung besser erreicht als jenes.“ – Vgl. auch Schwinge, Gattungsdifferenz. 146 Aristoteles vermerkt an keiner Stelle ausdrücklich, dass das Epos fÒboj und œleoj hervorrufen solle, setzt dies aber am Ende voraus: „Epos und Tragödie sollen ja nicht ein beliebiges Vergnügen hervorrufen, sondern das erwähnte […].“ (Aristoteles, Poetik, übers. v. Fuhrmann, Kap. 24, 1462b). 147 Vgl. auch Schmitt, Kommentar, S. 680f. 148 Kaufmann, Tragödie und Philosophie, S. 88. 149 Palmer, Tragedy, S. 160.

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Die meisten Forschungspositionen liegen zwischen diesen Auffassungen. Dem Epos wird zwar eine tragische Wirkung zugestanden, doch nur in abgeschwächter Weise. Die vorgebrachten Argumente lassen sich weitgehend auf die von Aristoteles benannten Unterschiede zwischen Epos und Tragödie zurückführen. Entweder nehmen sie mit der Ausdehnung des Handlungsgeschehens die ‚histoire‘ oder durch die Art der Darstellung den ‚discours‘ in den Blick und schließen daraus auf die jeweilige Wirkungsintensität.150 Während in der Tragödie die Katastrophe zentral ist, bleibt sie in den größten Romanen eine Episode.151 Im Hinblick auf den Umfang des Erzählten führt Emil Staiger aus: „Dem Epiker fehlt die Konsequenz. Seine Welt ist nicht gefestigt. Deshalb kann sie nicht zerbrechen. Seine Vergeßlichkeit beschützt ihn vor jeder Erkenntnis, die tödlich wäre. Wenn etwas einstürzt, so reißt der Sturz nicht gleich das ganze Gebäude mit. Denn die Teile sind selbständig. Er blickt das Fatale staunend an und wendet sich dem Nächsten zu.“152

Aldous Huxley wiederum verweist auf die im Epos erzählten Banalitäten des Alltags wie Hunger und Schlaf, wohingegen die dem Realismus nicht verpflichtete Tragödie „chemically pure“ sei und deswegen kathartisch wirken könne.153 Aufgrund ihrer Gegenwärtigkeit ist die Tragödie auch nach Ansicht Friedrich Schillers dem Epos überlegen. Indem der Epiker seinen Gegenstand als vergangen darstelle und eine Erzählerfigur berichten lasse, werde eine Distanz zwischen dem Erzählten und dem Rezipienten aufgebaut. Im Vergleich zur unmittelbaren Erzählweise des Dramatikers, die nicht im epischen Präteritum und ohne Einmischung eines Dritten vonstatten gehe, werde die tragische Wirkung gemindert.154 Aus diesem kurzen Überblick folgt, dass tragische Handlungen nicht auf die Gattung der Tragödie beschränkt sind, sondern auch im Epos _____________ 150 Die Differenz von Epos und Drama behandelt auch Hegel in seinen ‚Vorlesungen über die Ästhetik‘. Er stellt die stärkere Abhängigkeit des Menschen im Epos heraus, da in diesem „die Umstände und äußeren Zufälle in dem gleichen Maße als der subjektive Wille“ gälten und der Einzelne „nicht nur frei aus sich und für sich selber“ handle, sondern „mitten in einer Gesamtheit“ stehe (S. 363). Das Epos sei durch seine Breite und Episodenhaftigkeit gekennzeichnet, weshalb der unmittelbare Handlungsfortgang immer wieder unterbrochen und aufgehalten werde (S. 384). Das Geschehen ereigne sich „innerhalb einer nationalen Gesamtheit und deren substantieller Totalität“, welche „eine Mannigfaltigkeit von Charakteren, Zuständen und Ereignissen mit in die Darstellung hineintreten“ ließe (S. 389f.). All diese Beobachtungen führen dazu, dass Hegel das Drama als genuine Ausdrucksform des Tragischen betrachtet: „[D]ie dramatische Poesie [ist], ihrer ganzen Darstellungsweise nach, allein befähigt, das Tragische in seinem totalen Umfange und Verlaufe zum Prinzip des Kunstwerks zu machen und vollständig auszugestalten.“ (S. 526) 151 Vgl. Kaufmann, Tragödie und Philosophie, S. 95; Palmer, Tragedy, S. 137f. 152 Staiger, Grundbegriffe‚ S. 186. 153 Vgl. Huxley, Tragedy, S. 98–101. 154 Vgl. Schiller, Über die tragische Kunst, S. 388. Vgl. auch Mann, Poetik, S. 30f.

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vorkommen können. Zwar kann die Wirkung durch die dramatische Präsentationsform gesteigert werden, doch ist Tragik nicht allein von der Ebene des ‚discours‘ abhängig. Vielmehr müssen in der ‚histoire‘ bestimmte Textstrukturen vorgegeben sein, um eine Tragödie verfassen zu können. Aus diesen erzähltheoretischen Überlegungen ist daher derselbe Schluss zu ziehen wie aus den tragödien- und religionsgeschichtlichen Beobachtungen: Das Fehlen der Gattung der Tragödie im Mittelalter ist nicht mit dem Nichtvorhandensein tragischer Erzählungen gleichzusetzen. Eine tragische ‚histoire‘ kann durchaus im epischen ‚discours‘ präsentiert werden.155 Dabei lässt sich die von den Tragödientheoretikern beklagte Schwäche des Epos hinsichtlich der Rezeptionslenkung als eine Stärke für das Erkenntnisinteresse dieser Studie begreifen: Die zwischengeschaltete Instanz, die das Erzählte auf der Ebene der Geschichte präsentiert, kann ein tragisches Handlungsgeschehen kommentieren und interpretieren. Hierin liegt die besondere Chance, das Tragikkonzept höfischer Werke narratologisch zu erschließen. 3.2 Die Struktur einer tragischen Handlung Auf der Ebene der ‚histoire‘ sind genauere Aussagen über tragische Erzählungen zu treffen. Wie für jeden narrativen Text gilt auch für eine epische Tragödie, dass sie nicht statisch auf einem Punkt verharren darf. Vielmehr muss sie eine Entwicklung nehmen, die über eine chronologische Reihung einzelner Ereignisse hinausgeht. Erhoben wird diese Forderung erstmals von Aristoteles, der in der ‚Poetik‘ notwendige Bedingungen für die Komposition einer guten Tragödie formuliert. Ein gelungenes Werk müsse ein in sich geschlossenes und ganzes Geschehen nachahmen, das einen Anfang, eine Mitte und ein Ende habe. Während ein Anfang nicht notwendigerweise auf etwas anderes folgen dürfe, aber ein weiteres Ereignis auslöse, müsse die Mitte sowohl selbst auf etwas folgen als auch etwas anderes nach sich ziehen. Das Ende hingegen folge zwar mit Notwendigkeit auf ein Ereignis, aber nach ihm dürfe nichts mehr entstehen.156 Diese Bestimmung der Grundkategorien von Ganzheit wirke sehr formal, erläutert Arbogast Schmitt in seinem Kommentar zur ‚Poetik‘. _____________ 155 Diese Ansicht teilt auch Hegel. Obwohl er die Überlegenheit des Dramas betont, räumt er ein, dass die tragische Anschauungsweise, „wenn zwar in geringerem Grade, ihre Wirksamkeit auch über die anderen Künste vielfach ausdehnt.“ (Vorlesungen, Bd. 3, S. 526). Als gelungenes Beispiel führt Hegel das ‚Nibelungenlied‘ an: „[…] die ganze Kollision [ist], aller epischen Breite zum Trotz, eher dramatisch-tragischer als vollständig epischer Art […].“ (ebd., S. 405f.) 156 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 7, 1450b. Vgl. auch Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 488f.; Schmitt, Teleologie.

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Deshalb hätten viele Interpreten den Eindruck gewonnen, es handle sich um ein „Strukturgesetz der Reihung von Ereignissen beliebiger Art“. Dagegen stellt Schmitt klar, dass Aristoteles diese logische Bestimmung nicht auf eine beliebige Ordnung von Begebenheiten, sondern ausdrücklich auf die Handlung beziehe. Diese dürfe nicht irgendwo anfangen, wie es sich gerade bei dem natürlichen Ablauf von Ereignissen ergebe, sondern müsse auf ein bestimmtes Handlungsgeschehen konzentriert sein.157 Weil Aristoteles die Ganzheit der Handlung zur Bedingung für eine qualitativ wertvolle literarische Darstellung macht, überrascht es wenig, dass er anderen Kompositionsprinzipien eine Absage erteilt. Die zeitliche Abfolge oder eine einzelne Figur können seines Erachtens weder in der Tragödie noch im Epos eine funktionale Einheit stiften und dürfen daher nicht als Kriterien für die Zusammengehörigkeit einer Handlung gelten.158 In der modernen Erzähltheorie hat diese grundlegende Einsicht des Aristoteles einen Niederschlag gefunden, indem dort zwischen einem Geschehen (‚story‘) und einer Geschichte (‚plot‘) systematisch unterschieden wird: „We have defined a story as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality“, hält Edward Morgan Forster fest und expliziert: „If it is in a story we say ‚and then?‘ If it is in a plot we ask ‚why?‘“159 Diese allgemeinen Strukturen literarischer Handlung lassen sich für bestimmte Textgruppen und Erzählschemata spezifizieren.160 Der Versuch, aus empirischem Anschauungsmaterial die Handlungsstruktur einer Tragödie zu extrahieren, stößt schnell auf unüberwindbare Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu Gattungen wie dem russischen Zaubermärchen oder der mittelalterlichen Brautwerbungsdichtung werden zu viele Werke aus ganz unterschiedlichen Epochen unter der Bezeichnung ‚Tragödie‘ geführt.161 Aus einer repräsentativen Auswahl ein kleinschrittiges Erzählschema abzuleiten, ist daher nicht möglich. Zudem unterliegen solche strukturalistischen Untersuchungen der Gefahr, so detaillierte Schemata _____________ 157 Vgl. Schmitt, Kommentar, S. 362. 158 Den Gegensatz zwischen einer additiven Darstellungsweise und einer – wenn auch polyphonen – Handlungseinheit verdeutlicht Aristoteles im 23. Kapitel der ‚Poetik‘ (1459a–b) an der Gegenüberstellung Homers mit dem Dichter der ‚Kyprien‘ und der ‚Kleinen Ilias‘, vgl. dazu Schmitt, Kommentar, S. 674–687. – Auch Hegel (Vorlesungen, Bd. 3, S. 386f.) erklärt, dass weder ein Individuum als solches noch die bloße zeitliche Reihenfolge als ästhetische Kriterien genügen könnten. Erst das abgerundete Ganze einer Handlung verleihe Kunstwerken ihre Schönheit und Würde. 159 Forster, Aspects, S. 82f. – Dass auch in der Geschichtsschreibung literarische Formen genutzt werden, legt Hayden White (Metahistory) offen. 160 Vgl. Martinez, Erzählschema. 161 Vgl. Kiening, Arbeit am Muster; Propp, Morphologie; Schmid-Cadalbert, Brautwerbungsdichtung; Siefken, Formen.

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zu entwerfen, dass kaum ein Text sämtliche Aspekte erfüllt. Jan-Dirk Müller warnt dezidiert vor einer Textanalyse, bei der die konkrete literarische Gestalt dem Strukturmuster nachgeordnet wird. Ein solcher ‚Strukturrealismus‘ könne dazu führen, dass die Besonderheit jedes einzelnen Textes nur als „Oberflächenabweichung von oder Oberflächenübereinstimmung mit der erudierten Tiefenstruktur“ beschrieben würde, wodurch ein solches Verfahren in die Nähe einer petitio principii gerate.162 Aus diesen Gründen wird in der vorliegenden Untersuchung eine andere Vorgehensweise gewählt.163 Die allgemeine Struktur narrativer Texte dient als Ausgangsbasis, um die Charakteristika tragischen Erzählens darin zu integrieren. Auf diese Weise kann ein Schema entwickelt werden, das einerseits keine zu enge Tragikdefinition voraussetzt und andererseits die besondere Struktur einer tragischen Handlung berücksichtigt. Näheren Aufschluss über das formale Grundgerüst einer Tragödie bietet erneut die antike ‚Poetik‘. Kennzeichnend für jede Tragödie sind demnach die Herstellung von Verwicklungen (dšsij) und deren Auflösung (lÚsij),164 zu deren Bestandteilen bei einer komplizierten Handlung (mÚqoj peplegmšnoj) Wiederkennung (¢nagnwrismÒj) und Peripetie (peripete…a) gehören.165 Über ein Ausschlussverfahren gelangt Aristoteles zu der besten Zusammensetzung einer Tragödie: Eine gelungene Handlung dürfe nicht vom Unglück ins Glück, sondern müsse vielmehr vom Glück ins Unglück umschlagen.166 Die Struktur der Tragödie lässt sich somit als die Wende von einem glücklichen Anfangsstadium zu einem unglücklichen Zielpunkt beschreiben. _____________ 162 Müller, Höfische Kompromisse, S. 32f. Als negatives Beispiel verweist Müller auf Simon (Einführung), dessen Studie er zugleich als den „profundesten und anregendsten Beitrag einer strukturgeschichtlichen Analyse des höfischen Romans“ würdigt. 163 In ihrer Reduktion auf das formale Grundgerüst weist diese Methode Gemeinsamkeiten mit Whites Argumentation auf, der die Tragödie neben der Romanze, der Komödie und der Satire zu den vier archetypischen Erzählformen zählt. White (Metahistory, S. 22) lehnt sich bei diesen Grundformen an Fryes (Analyse, S. 212f.) Unterscheidung an. Dieser identifiziert „zwei vereinfachende Formeln“, die zur Definition des Begriffs ‚Tragödie‘ häufig gebraucht worden seien. Während nach der einen Position alles Tragische auf die Allmacht eines außerhalb des Menschen liegenden Schicksals zurückzuführen sei, begründe die andere das Wesen der Tragödie mit der Verletzung des menschlichen oder des göttlichen Sittengesetzes. 164 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 18, 1455b. Auf diese Unterscheidung rekurriert Gustav Freytag (Technik des Dramas, S. 93): „Der Bau des Dramas soll diese beiden Gegensätze des Dramatischen zu einer Einheit verbunden zeigen, Ausströmen und Einströmen der Willenskraft, das Werden der Tat und ihrer Reflexe auf die Seele, Satz und Gegensatz, Kampf und Gegenkampf, Steigen und Sinken, Binden und Lösen.“ 165 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1452a, vgl. auch Kap. 6, 1450a. 166 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1452b–1453a.

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Diese Minimaldefinition kann natürlich noch nicht genügen, um der komplexen Dichtungstheorie des Aristoteles gerecht zu werden.167 Überdies ist dieses strukturelle Kriterium einer Wende ins Unglück in der Theoriegeschichte nicht einmal unumstritten geblieben. So lässt Hans-Dieter Gelfert nur die Stücke als Tragödien gelten, die mindestens mit der psychischen Vernichtung, in aller Regel aber mit dem physischen Untergang eines Menschen enden.168 Andere vertreten die Ansicht, das Leid könne auf frühere Phasen beschränkt sein.169 Nicht einmal alle griechischen Tragödien, argumentiert Walter Kaufmann, nähmen eine unglückliche Wende.170 Auch wenn über die Dauer und das Ausmaß des Unglücks keine Einigkeit herrscht, ist allen Definitionen gemeinsam, dass sich in der Tragödie eine Ausgangssituation negativ verändert. Diese Entwicklung kann mit Gustav Freytag als ‚fallende Handlung‘ charakterisiert werden,171 unabhängig davon, ob sie sich auf das gesamte Stück oder eine Episode bezieht.172 Relativ gesehen findet in einer tragischen Erzählung eine negative Veränderung statt, sei es eine Wende ins oder eine Steigerung des Unglücks. Ein erzähltheoretisches Modell, mit dem sich diese Struktur tragischen Erzählens beschreiben lässt, bietet Jurij M. Lotmans Raumsemantik. Er bezeichnet die Grundstruktur eines narrativen Textes, die die Handlung in ihrer Gesamtheit umfasst, als Sujet. Notwendige Bestandteile eines Sujets sind für ihn ein semantisches Feld, das in zwei komplementäre Untermengen geteilt ist. Die Grenze zwischen diesen Teilfeldern muss unter normalen Bedingungen unüberwindbar sein, wohingegen sie sich für den Protagonisten als durchlässig erweist. Eine sujethafte Erzählung liegt dann vor, wenn der Held die Grenze zwischen den gegensätzlichen Teilräumen überschreitet. Diese Grenzüberschreitung vollzieht sich zum einen topologisch im Raum der erzählten Welt, zum anderen semantisch durch wertende Gegensätze, die mit den topologischen verbunden sind, und zum dritten topographisch, so dass die topologische und die semantische Ebene in der Darstellung konkretisiert werden. Nicht eine bloß topographi_____________ 167 Die ‚Poetik‘ hat die Interpreten seit der Renaissance vor große Schwierigkeiten gestellt. Viele dieser Verständnisprobleme lösen sich jedoch, wenn die Schrift im Kontext anderer aristotelischer Werke gedeutet wird, wie Schmitt (Einleitung, bes. S. 45f.) darlegt. 168 Vgl. Gelfert, Tragödie, S. 11. 169 Vgl. z.B. Mandel, Definition, S. 99, 158; Profitlich, Vorbemerkung, S. 13 (mit weiterer Literatur). 170 Vgl. Kaufmann, Tragödie und Philosophie, S. 66. 171 Vgl. Freytag, Technik des Dramas, S. 116. 172 Die Episode nimmt in der Erzähltheorie eine Zwischenstellung zwischen der Ebene des Ereignisses und der der Geschichte ein. Sie ist eine in sich relativ geschlossene Teil- oder Nebenhandlung (‚subplot‘), die in einen größeren narrativen Zusammenhang gehört. Vgl. auch Martinez, Einführung, S. 110.

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sche Bewegung im Raum der erzählten Welt, sondern die Überschreitung einer klassifikatorischen, d.h. auch topologisch und semantisch codierten Grenze ist nach Lotman notwendige Bedingung für einen narrativen Text.173 Diese allgemeine Struktur narrativer Texte ist folgendermaßen für tragisches Erzählen zu spezifizieren: Die notwendige Grenzüberschreitung des Protagonisten zwischen den komplementären Teilräumen ist hier in ihrer Richtung festgelegt. Der Weg des Helden muss auf der topologischen Ebene von ‚oben‘ nach ‚unten‘ bzw. aus der ‚Höhe‘ in die ‚Tiefe‘ führen, mit denen die semantischen Oppositionen vom ‚Glück‘ zum ‚Unglück‘ oder von der ‚Freude‘ zum ,Leid‘ verbunden sind.174 Beispielsweise lässt sich die Entwicklung der Dido-Handlung in Veldekes ‚Eneasroman‘ raumsemantisch als eine Bewegung aus der höfischen Umgebung über die soziale Isolation in der Kemenate in die unmenschliche Unterwelt beschreiben. Während Karthagos Herrscherin auf dem Höhepunkt ihres Glücks in einer offenen Liebesbeziehung mit Eneas an ihrem Hof lebt, stürzt sie ihre Trennung ins Unglück. Sie zieht sich in ihr Gemach zurück, verriegelt die Tür und begeht Selbstmord. Dadurch überschreitet Dido eine Grenze, die für Lebende normalerweise nicht zu überwinden ist, und gelangt in einen als Vorhölle beschriebenen Raum der Unterwelt. Auf dem topographischen, semantischen und topologischen Tiefpunkt angekommen, bereut sie ihre Tat.175 Mit Lotmans Modell der Raumsemantik lässt sich die Handlungsstruktur einer tragischen Erzählung demnach so charakterisieren, dass der Held oder die Heldin durch die Überschreitung einer Grenze von einem semantisch und topologisch positiv zu einem negativ codierten Teilraum gelangt. Die Wende ins Unglück ist nach Aristoteles zwar die beste Form der Tragödie, nicht aber die einzige. Im 13. Kapitel der ‚Poetik‘ behandelt er noch eine zweite Variante einer Tragödie, die von manchen für die beste gehalten werde. Diese zeichne sich durch einen doppelten Handlungsverlauf aus, indem Gute und Böse ein entgegengesetztes Ende fänden. Die einen würden für ihr vorbildliches Verhalten belohnt, wohingegen die anderen für ihre Schlechtigkeit eine Strafe erhielten. Aristoteles reflektiert, dass ein solcher Handlungsausgang dem Geschmack des Publikums am meisten entspreche, weshalb sich auch manche Dichter nach diesen Wün_____________ 173 Vgl. Lotman, Struktur, S. 338. 174 Während eine Überschreitung topographischer Grenzen in den Tragödien des 17.–19. Jahrhunderts aufgrund der als verbindlich betrachteten Lehre der drei Einheiten (der Handlung, des Ortes und der Zeit) nur im Ausnahmefall stattfindet, ist das Epos nicht an diese Regel gebunden. – Zur Forderung nach der Einheit des Ortes, die Aristoteles im 16. Jahrhundert durch Lodovico Castelvetro zugeschrieben wird, vgl. Fuhrmann, Nachwort, S. 176; Kappl, Dichtungstheorie, S. 176. 175 Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 64,38–78,34, 99,7–40.

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schen richteten.176 Dieses „laienhaft[e] Verständnis von Tragödie“177 weist Aristoteles zurück und verteidigt auch Euripides gegen eine solche Kritik. Als empirischen Beweis führt er die dramatischen Wettkämpfe an, bei denen sich im Unglück endende Tragödien als die tragischsten erwiesen. Ein Handlungsausgang mit einem guten Ende für den Helden erzeuge hingegen weniger eine tragödienspezifische Wirkung, sondern eine solche, die für die Komödie charakteristisch sei. Zweierlei Konsequenzen sind aus der Argumentation des Aristoteles für die hier verfolgte Fragestellung zu ziehen: Erstens genügt das strukturelle Merkmal einer Wende ins Unglück noch nicht, um eine Erzählung als tragisch zu klassifizieren; es müssen weitere Kriterien hinzukommen, die diese helfen zu bestimmen. Zweitens müssen Geschichten der höfischen Dichtung, die für einen vorbildlichen Protagonisten gut enden, für eine Untersuchung tragischen Erzählens nicht grundsätzlich beiseite gelegt werden.178 Vielmehr können diese, obwohl sie im Hinblick auf eine tragische Wirkung nur als zweitrangig gelten, auch aus einer tragödientheoretischen Perspektive betrachtet werden. Aufgrund dieser Voraussetzung finden bei der Textanalyse im zweiten Hauptteil dieser Studie nicht nur solche Gattungen Berücksichtigung, die mit dem Untergang des Kollektivs enden oder in denen der Tod des Helden stoffgeschichtlich vorgegeben ist. Außer Werken aus dem Bereich der Heldenepik und der Trojaliteratur werden auch höfische Romane aus dem Artuskreis und legendenhafte Erzählungen beleuchtet, die sich durch eine positive Teleologie auszeichnen. Teils beschränkt sich die Untersuchung auf die Episode eines Werks, wie im Fall Rüdigers, Didos oder Medeas. Eine solche Orientierung an Teilstrukturen ist der mittelalterlichen Ästhetik durchaus angemessen, die die Kategorie der ‚Ganzheit‘ nicht kennt, wie Jan-Dirk Müller festhält.179 Da die von Aristoteles an den homerischen Epen geschätzte „‚polyphon[e]‘ Handlungseinheit, in der mehrere Handlungen miteinander eine funktionale Einheit bilden,“180 in der mittelalterlichen Literatur keine Entsprechung findet, kann bereits die Analyse einer einzelnen Episode für die Frage nach einem höfischen Tragikverständnis erhellend sein. _____________ 176 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a. – Selbst Hegel (Vorlesungen, Bd. 3, S. 550) räumt ein, dass der tragische Ausgang nicht jedesmal einen Untergang der Individuen erfordere und der Knoten auch durch einen deus ex machina zerschlagen werden könnte. 177 Schmitt, Kommentar, S. 438. 178 Zur selben Schlussfolgerung gelangt Frye (Analyse, S. 209): „Der Begriff der Tragödie darf jedoch weder auf Dramen beschränkt bleiben noch auf Handlungen, die in einer Katastrophe enden.“ 179 Müller (Höfische Kompromisse, S. 39, 461) führt daher den Begriff der ‚Erzählkerne‘ ein. 180 Schmitt, Kommentar, S. 686.

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3.3 Handlungsmotivation und Tragikkonzept Nicht jede Erzählung, in der der Weg des Protagonisten vom Glück ins Unglück führt, ist nach dem einhelligen Urteil der Theoretiker tragisch. Die Frage, welche zusätzlichen Bedingungen erfüllt sein müssen, lenkt den Blick auf das erzähltheoretische Element, das ein Geschehen von einer Geschichte unterscheidet und sinnhafte Zusammenhänge herstellt: die Motivierung. In mittelalterlichen Erzählungen scheint die kausale Logik, die Aristoteles zur grundlegenden Kategorie einer Handlung deklariert, oft nicht berücksichtigt. Ereignisse sind aus dem Zusammenhang nicht immer erklärbar und stehen teils unverbunden nebeneinander. Dass es sich bei dieser Kohärenzproblematik um eine Eigentümlichkeit mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Erzählkunst handelt, die nicht am aristotelischen Maßstab gemessen und mit dichterischem Unvermögen gleichgesetzt werden darf, hat Clemens Lugowski herausgestellt.181 Er setzt sich in seiner 1931 eingereichten Dissertation ‚Die Form der Individualität im Roman‘ erstmals systematisch mit verschiedenen Motivierungsarten in der Vormoderne auseinander. Motivation definiert Lugowski als „den Zusammenhang zwischen Motivierendem und Motiviertem.“ Der besondere Akzent liege dabei auf dem Motivierten, das „irgendwie“ vorbereitet werden müsse. Aus diesem Grund spricht Lugowski bei einer solchen Verknüpfung, bei der ein Ereignis durch ein anderes ausgelöst werde, von einer „vorbereitende[n] Motivierung“.182 Am Beispiel der Romane Jörg Wickrams revidiert er die Auffassung, ein vormoderner Autor habe schlecht und ungenügend motiviert, wenn sich das Geschehen zu plötzlich, zu abrupt oder zu isoliert ereigne. Vielmehr werde die erzählte Welt von „einer völlig andersgearteten“ Motivierung zusammengehalten, die er als „Motivation von hinten“ bezeichnet.183 In ihr dominiere das Ergebnismoment, dem alle Handlungselemente zu- und untergeordnet seien.184 Schon in einem frühen Stadium der Erzählung sei das Ergebnis präsent, weshalb die „wirkliche ‚Entwicklung‘ der Dinge entkräftet, entwertet“ werde. Hinter dieser „bloß physi-

_____________ 181 Vgl. Lugowski, Form. – Erst in den letzten beiden Jahrzehnten hat die Studie angemessene Beachtung gefunden, vgl. Martinez, Doppelte Welten, S. 15–20; ders., Formaler Mythos. Vgl. auch Gerok-Reiter, Erec; Müller, Verfallsgeschichte; ders., Clemens Lugowski. 182 Lugowski, Form, S. 66–68. 183 Lugowski, Form, S. 68, vgl. auch S. 66. 184 Lugowski, Form, S. 79: „Die strenge ‚Motivation von hinten‘ kennt keinen direkten Zusammenhang zwischen konkreten Einzelzügen am Leibe der Dichtung; der Zusammenhang geht immer über das Ergebnis […].“

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schen Realität“ ruhe absolut gesichert „die ‚metaphysische‘ Sphäre zeitlosen Seins“.185 Diesen Ansatz hat Matias Martinez in seiner 1996 veröffentlichten Studie ‚Doppelte Welten‘ aufgegriffen und entfaltet.186 Die ‚Motivation von hinten‘ artikuliere sich in unterschiedlicher Weise, weshalb Lugowskis Begriff zu differenzieren sei: Das Geschehen könne sowohl motiviert werden, indem die von hinten bewegende Kraft innerhalb der erzählten Welt angesiedelt sei, als auch durch die Beachtung formal-ästhetischer Prinzipien, die in der Verantwortung des Autors stünden. Diese Art der Motivation, in der das dargestellte Geschehen mit Bezug auf ein geschlossenes Plot-Schema beschrieben wird, nennt Martinez kompositorisch. Jene, in der eine übergeordnete, metaphysische Instanz das Handlungsgeschehen in einer Providentiawelt lenkt, bezeichnet er als final.187 Beide Unterarten der ‚Motivation von hinten‘ können konvergieren, wohingegen die kausale und die finale Motivierung einander ausschließen. Die beiden Motivationstypen innerhalb der erzählten Welt hält Martinez für grundsätzlich unvereinbar, da sie divergierende ontologische Aussagen über die Ursache von Ereignissen machten: „Der Handlungshorizont kann nicht zugleich offen und geschlossen, die kausale Beeinflußbarkeit der Zukunft nicht zugleich möglich und unmöglich sein.“188 Das Thema der Handlungsmotivation hat in der Mediävistik einige Aufmerksamkeit gefunden und zu einer produktiven Auseinandersetzung mit Aspekten textueller Kohärenz geführt.189 Für eine Untersuchung des Tragischen sind die Motivationsarten dagegen noch nicht fruchtbar gemacht worden. Dabei treten gerade in der Weise, wie das Unglück des Helden begründet wird, deutliche Diskrepanzen zwischen verschiedenen Tragikauffassungen zutage. Während in der Antike das Fehlverhalten des _____________ 185 Lugowski, Form, S. 73. Weil dieses reine Sein während des gesamten Verlaufs immer da sei, gebe es keine Ungewissheit hinsichtlich des Ausgangs und sei die Spannung des ‚Ob überhaupt‘ aufgehoben (vgl. S. 80). 186 Vgl. Martinez, Doppelte Welten, S. 27–30. 187 Martinez (Doppelte Welten, S. 29) präzisiert das Verhältnis zwischen der kompositorischen und der finalen Form: „Sie sind nicht nur verschiedene Motivationen, sondern als Motivation verschieden.“ – Kritik an dieser Unterscheidung, die nicht aufrechtzuerhalten sei, übt dagegen Meincke (Finalität, S. 116–138). 188 Martinez, Doppelte Welten, S. 28. – Dagegen hält Lugowski (Form, S. 68) ein Ineinander beider Motivationsarten für möglich. 189 Vgl. z.B. Bernreuther, Motivationsstruktur; Bleumer, Motivation; Gubatz, Frage; Meincke, Finalität; Müller, Motivationsstrukturen; Schultz, Mark; ders., Tristan. Thematisiert wurden in der Mediävistik vor allem die Inkohärenzen des ‚Nibelungenlieds‘, wobei sich drei verschiedene Interpretationsweisen unterscheiden lassen: ein historisch-deskriptiver, ein psychologisch-kausaler und ein poetologischer Ansatz, bei dem kontiguitäre und metonymische Zusammenhänge beachtet werden oder das Paradigma Vorrang vor dem Syntagma erhält. Vgl. Schulz, Fremde Kohärenz; Toepfer, Enterbung, S. 66–76.

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Helden im Mittelpunkt steht, verschiebt sich der Akzent in der Moderne auf die unvermeidbare Kollision gegensätzlicher Interessen. Vier Tragödientheorien, nämlich die ‚Poetik‘ des Aristoteles, Senecas Dialog ‚De ira‘, die Schrift ‚De consolatione philosophiae‘ von Boethius und Hegels ‚Vorlesungen über die Ästhetik‘, werden im Folgenden darauf hin untersucht, welche Motivationsart ihr Tragikkonzept kennzeichnet. Möglich wird diese Vorgehensweise, indem die theoretischen Texte mit Hilfe narratologischer Termini gedeutet werden. Die Verknüpfungsformen und Begründungsmechanismen der Modelle werden analysiert und den in der Erzähltheorie etablierten Motivationstypen zugeordnet.190 Durch die Beschränkung auf diese Tragödientheorien soll keineswegs der Eindruck erzeugt werden, dass in der Moderne ein einheitliches Tragikverständnis vorgeherrscht hätte oder im Mittelalter eine konsistente Tragödientheorie entwickelt worden wäre.191 Die Konzentration auf vier Beispiele verschiedener Epochen ermöglicht es jedoch, historisch variierende Formen des Tragischen zu identifizieren. Die Auswahl der einzelnen Theorien legitimiert sich durch ihre rezeptionsgeschichtliche Bedeutung. Aristoteles und Hegel können zweifellos als die einflussreichsten Theoretiker der Tragödiengeschichte gelten, Seneca hat mit seiner Tragödienkonzeption spätere Autoren nachhaltig beeinflusst, und der Beitrag des Boethius übertrifft den anderer mittelalterlicher Autoren signifikant. Die Engführung von Handlungsmotivation und Tragikkonzept soll dazu beitragen, die Charakteristika der einzelnen Tragödientheorien narratologisch zu erfassen und ein literaturwissenschaftliches Instrumentarium für die spätere Textanalyse zu gewinnen.

_____________ 190 Die von Matias Martinez entwickelte Typologie gehört zum literaturwissenschaftlichen Grundvokabular. Vgl. Martinez, Doppelte Welten; ders., Einführung, S. 111–119; ders., Motivierung. Dagegen beschäftigt sich Gérard Genette (Erzählung) in seiner erzähltheoretischen Abhandlung ausschließlich mit dem Diskurs. – Ein anderes Modell entwirft James A. Schultz anhand der beiden mittelhochdeutschen Tristanromane (vgl. Mark; Tristan), indem er vier Motivationsarten (‚story motivation‘, ‚narrator motivation‘, ‚actional motivation‘, ‚recipient motivation‘) unterscheidet. Diese bindet er an den Begriff der diegetischen Kohärenz, so dass nur solche Handlungszusammenhänge beschreibbar sind, die einer kausalen Logik folgen. Zur Kritik vgl. Bleumer, Motivation, S. 39, Anm. 4; Toepfer, Enterbung, S. 66, Anm. 11. 191 Schmitt (Einleitung, S. 54) weist darauf hin, dass die Einheitsvorstellungen der Frühen Neuzeit von ‚der‘ Antike, bei der die aristotelische ‚Poetik‘ als Kommentar zu Horaz oder Cicero verstanden wurde, im Verlauf der Interpretationsgeschichte destruiert worden seien. – Dass viele der kategorischen Unterscheidungen zwischen der antiken und der modernen Tragikauffassung ebenso ihrer Berechtigung entbehren, zeigt Radke (Tragik).

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3.3.1 Kausale Tragikkonzepte Nach Lugowskis Ansicht erwartet „der unbefangene Leser eines Romans“, dass ein Geschehen ausreichend motiviert und aus einem Zusammenhang heraus zu verstehen ist.192 Die ‚vorbereitende Motivierung‘ entspricht jedoch nicht nur den Erwartungen und Gewohnheiten moderner Rezipienten, sondern auch den Kriterien der antiken Tragödientheorien: Das Unglück steht bei Aristoteles wie bei Senecea in einem kausalen Zusammenhang mit dem Verhalten des tragischen Helden. Die Hamartia bei Aristoteles Schon die Erläuterungen des Aristoteles zur Struktur einer Handlung zeigen, dass seine Tragödientheorie auf den Kategorien logischer Kausalität und narrativer Kohärenz basiert. In der Forderung, eine in sich geschlossene und ganze Handlung darzustellen, bei der die einzelnen Ereignisse natürlicher- oder notwendigerweise aufeinander folgen, wird die kausale Motivierung zum zentralen Handlungsgesetz erklärt. Über die Prinzipien der Notwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit (kat¦ tÕ e„kÕj À tÕ ¢nagka‹on) werden die Ursache und die Folge von Ereignissen in einen engen Zusammenhang gestellt.193 Im Hinblick auf die Wirkung der Tragödie spitzt Aristoteles diese grundsätzlichen Überlegungen zu, indem er die kausale Handlungslogik auf einen Teilbereich begrenzt und das intentionale Figurenhandeln in den Mittelpunkt seiner Tragikdefinition rückt.194 Mit der Frage, welche Kriterien eine Tragödie erfüllen muss, um Furcht und Mitleid zu erregen, setzt sich Aristoteles im 13. Kapitel der ‚Poetik‘ auseinander. Dezidiert grenzt er sich von verschiedenen Versionen des Handlungsverlaufs und der Figurenkonzeption ab, bevor er durch ein dreiteiliges Ausschlussverfahren zur optimalen Struktur einer Tragödie gelangt. In einem ersten Schritt erklärt Aristoteles, dass man in einer Tragödie nicht zeigen dürfe, wie völlig integre Helden einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebten. Vor dem Hintergrund weiterer aristotelischer Schriften, vor allem der ‚Nikomachischen Ethik‘, lässt sich präzisieren, was Aristoteles unter einem charakterlich tadellosen Menschen (™pieik»j) _____________ 192 Lugowski, Form, S. 66, vgl. auch S. 79. 193 Aristoteles, Poetik, Kap. 7, 1451a. 194 In der modernen Erzähltheorie wird der Begriff der Motivierung nicht immer von dem Figurenhandeln abhängig gemacht. Während Propp (Morphologie, S. 75) damit nur die Beweggründe und Intentionen der Figuren bezeichnet, bezieht Martinez (Doppelte Welten, S. 22f.) auch „nichtintendierte Handlungsfolgen, Handlungsgemengelagen und Geschehnisse ohne Beteiligung intentionsbegabter Agenten, kurz: die Gesamtheit von Ereignissen, die in einem kausalen Zusammenhang stehen“ in seine Überlegungen ein.

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versteht.195 Ein solcher lässt sich in seinem Handeln grundsätzlich von einer weitsichtigen Vernunft leiten, er gibt nicht einer spontanen Begierde nach, aus der negative Folgen erwachsen können, sondern behält das wirklich Angenehme im Blick. Wenn ein solcher Held trotz seiner umsichtigen und vernünftigen Verhaltensweise ins Unglück stürzt, kann er für diese Entwicklung nicht verantwortlich gemacht werden. Sein Sturz wird durch äußere Umstände herbeigeführt, sei es durch andere Menschen oder durch Naturkatastrophen, die ihn ohne eigenes Verschulden treffen. Eine solche Handlung sei nicht für eine Tragödie geeignet, argumentiert Aristoteles in der ‚Poetik‘, weil sie gegen das allgemeine Sittlichkeitsgefühl verstoße. Denn sie sei weder furchtbar noch bemitleidenswert, sondern eine Zumutung für jedes menschliche Empfinden.196 In einem zweiten Schritt beurteilt der Dichtungstheoretiker eine Handlung, in deren Verlauf verbrecherische Menschen einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben, ebenfalls als ungeeignet für eine Tragödie. Diese Kritik kann jedoch kaum bedeuten, dass Aristoteles alle verbrecherischen Taten von der Bühne verbannen wollte. Die angeführten Beispiele Medeas und Klytemnästras belegen, dass mit Absicht begangene Verbrechen durchaus Handlungselemente griechischer Tragödien sein können. Unter Bezugnahme auf weitere Schriften des Aristoteles stellt Arbogast Schmitt daher klar, dass unter den sittlich Verkommenen nicht diejenigen zu verstehen sind, die mit bewusster Absicht eine schwere Übeltat begehen.197 Vielmehr ziele diese Bezeichnung auf solche Charaktere, die grundsätzlich nicht wissen, was wirklich gut ist, sich nur um ihren eigenen Willen kümmern, jeder spontanen Lust folgen und diese mit jedem Mittel umzusetzen suchen. Eine Entwicklung, bei der eine solche Figur vom Unglück ins Glück gerät, deklariert Aristoteles zur untragischsten aller Möglichkeiten, weil sie weder Mitleid noch Furcht erwecke und nicht einmal als human gelten dürfe. An dritter Stelle wird auch dem Handlungsverlauf eine Absage erteilt, bei dem ein Verbrecher eine Wende ins Unglück erfährt. Zwar werde dies als Sieg der Menschlichkeit empfunden, errege aber weder Furcht noch Mitleid. Weshalb auch diese Handlungsversion keine tragische Wirkung erzeugt, begründet Aristoteles damit, dass Mitleid nur mit demjenigen entstehe, der unverdient leide. Furcht hingegen empfinde man nur, wenn der tragische Held einem selber ähnle. Aus diesem Grund sei ein Geschehen, _____________ 195 Vgl. Schmitt, Kommentar, S. 437. Zum sittlich Vollkommenen, der – anders als in der Interpretationsgeschichte oft dargestellt – nie als Protagonist einer attischen Tragödie auftritt, vgl. ebd., S. 444–446. 196 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1452b. 197 Vgl. Schmitt, Kommentar, S. 446–450.

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bei dem ein böser Mensch ins Unglück stürze, weder bemitleidenswert noch furchterregend. Erst nachdem Aristoteles diese drei Handlungsmodelle als ungeeignet dargestellt hat, kommt er auf die beste Form der Tragödie zu sprechen. Diese verortet er, ausgehend von der Konzeption eines mittleren Helden, im Bereich zwischen den genannten Extremen: „So bleibt also ein Charakter, der zwischen diesen ‹beiden› liegt, übrig. Von dieser Art ist derjenige, der weder durch charakterliche Vollkommenheit und Gerechtigkeit herausragt, noch durch Schlechtigkeit und Bösartigkeit ins Unglück gerät, sondern wegen eines bestimmten Fehlers zu Fall kommt […].“198

Mit seiner Schlussfolgerung, der tragische Held müsse einen Fehler begehen, der ihn ins Unglück stürzt, setzt Aristoteles nicht nur die eigene Forderung nach einer in sich schlüssigen, kausallogischen Handlung um. Zugleich weist er dem Protagonisten mit dem Begriff der ¡mart…a selbst die Verantwortung für diese Entwicklung zu, ohne sie auf sekundäre Ursachen zurückzuführen.199 Ein Unglück, das durch Gewalt, Schicksalsschläge jedweder Art und ohne jedes eigene Verschulden zustande kommt, wird in der ‚Poetik‘ nicht als tragisches Handeln gewertet. Wie Schmitt darlegt, ist für Aristoteles eine Schicksalstragödie überhaupt keine Tragödie, sondern eine Geschichte von schrecklichen Ereignissen, die der Verantwortung der Figuren entzogen sind.200 In Bezug auf die Handlungsmotivierung lässt sich somit eindeutig festhalten, dass das Unglück eines tragischen Helden in der aristotelischen Tragödientheorie kausal begründet ist und auf eigenes Fehlverhalten zurückgeführt werden muss. Dennoch stehen Ursache und Folge nicht in einem adäquaten Verhältnis zueinander, worauf Aristoteles durch die verworfene dritte Handlungsoption aufmerksam macht. Nur ein solcher Handlungsverlauf vermag Mitleid zu erregen, bei dem das Unglück des Protagonisten nicht als gerecht und angemessen empfunden wird. Schmitt kommentiert, dass Aristoteles mit dem Konzept der Hamartia das Handeln von solchen Menschen beschreibt, die im Allgemeinen danach streben, das wirklich Gute zu tun, sich aber in einer besonderen Situation davon abbringen lassen. Weil sie ihre intentionale Handlungsweise auf eine augenblickliche _____________ 198 Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a. 199 Die Deutung der tragischen Hamartia ist in der Altphilologie kontrovers diskutiert worden, vgl. den Forschungsüberblick bei Cessi (Erkennen, S. 1–48) und Lurje (Suche). – Zur „A v e r s i o n g e g e n d i e V e r q u i c k u n g v o n D i c h t u n g u n d M o r a l “, wie sie fast die gesamte philologische Interpretationsgeschichte der ‚Poetik‘ seit dem 19. Jahrhundert prägt, vgl. Schmitt, Kommentar, S. 440–443. Vgl. auch ders., Moral der Tragödie. 200 Schmitt (Kommentar, S. 444) weist darauf hin, dass dieses Urteil in dem Handlungsbegriff begründet liegt, den Aristoteles in der ‚Eudemischen Ethik‘ und der ‚Nikomachischen Ethik‘ entfaltet. Handeln heiße für ihn, selbst die Ursache für eine Veränderung zu sein. Vgl. auch Schmitt, Wesenszüge.

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Lust richten, wird ihr freier Blick eingeschränkt. Ihr Denken fixiert sich auf einen einzelnen Aspekt, so dass sie von ihrer generellen Verhaltenstendenz und von den verbindlichen Werten abweichen.201 Aus diesem Grund, nicht aber wegen einer grundsätzlichen Verdorbenheit oder einer Gleichgültigkeit gegenüber dem wirklich Guten, begehen die Protagonisten einer Tragödie einen Fehler. Die daraus erwachsenden Folgen bringen ihnen ein Unglück, das sie wegen ihres grundsätzlichen Strebens nach dem Guten nicht verdient haben.202 Eine Bestätigung findet diese Interpretation in der Forderung des Aristoteles, lieber bessere als schlechtere Charaktere darzustellen und die Größe der Verfehlung zu akzentuieren: „Notwendigerweise muss also ein kunstgemäß konstruierter Mythos eher einfach als doppelt sein, wie manche verlangen, und darf nicht vom Unglück ins Glück umschlagen, sondern im Gegenteil vom Glück ins Unglück, aber nicht durch ein vorsätzliches Verbrechen, sondern wegen eines schweren Fehlers, der entweder von jemandem begangen wurde, wie er ‹eben› beschrieben worden ist, oder ‹sonst› eher von einem Besseren als von einem Schlechteren.“203

Die doppelte Erwähnung und die definitionsähnliche Formulierung belegen, dass Aristoteles die Hamartia als das zentrale Element einer tragischen Handlung betrachtet und sein Tragikkonzept kausal mit dem Fehlverhalten des Protagonisten begründet. In der griechischen Literatur sind einschlägige Beispiele zu finden, mit denen sich das aristotelische Tragikverständnis veranschaulichen lässt. Dazu gehören etwa Antigones Hybris, soziale Regeln nicht zu achten, die sie vor ihrem Tod beweint, Ödipus’ grundlose Verfluchung des Mörders von Laios, mit der er letztlich sich selbst trifft, und Hektors Entscheidung, sich Achill im Kampf zu stellen, obwohl er um dessen Unbesiegbarkeit weiß.204 Der Umschlag vom Glück ins Unglück wird jeweils durch ein fehlerhaftes Figurenhandeln ausgelöst. Nur die Hamartia, deren schreckliche Folgen das Maß des begangenen Fehlers übersteigen, nur das Fehlverhalten, das vorher abzusehen gewesen wäre und nicht wieder gutzumachen ist, können als tragisch gelten. _____________ 201 Als Gegenentwurf zu einem tragischen Helden deutet Schmitt (Kommentar, S. 474f.) die Figur des klugen Odysseus, der stets das große Ganze im Auge behält und dafür auch eine aktuelle Lust bezwingt. 202 Vgl. Schmitt, Kommentar, S. 438, 451–458, 472–474. – Schmitt veranschaulicht den Unterschied zwischen der Haltung eines sittlich Verdorbenen und einer Hamartia u.a. am Beispiel der Medea des Euripides. Zwar begehe diese mit dem Mord ihrer Kinder Akte der Ungerechtigkeit, doch liege dieses Verhalten nicht in der Verdorbenheit ihres Charakters begründet, sondern ihre Verfehlung resultiere aus dem Zorn, den sie über das erlittene Unrecht empfinde (vgl. ebd., S. 452). 203 Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a. 204 Vgl. Schmitt, Bemerkungen; ders., Menschliches Fehlen; ders., Selbständigkeit, S. 94–96.

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Der Affekt bei Seneca Senecas tragische Helden entsprechen der aristotelischen Figurenkonzeption kaum. Statt einem mittleren Helden, der zwischen Unschuld und Bosheit zu verorten ist, werden verbrecherische Figuren entworfen.205 Dennoch liegt den Tragödien des bekanntesten lateinischen Dramatikers ebenfalls ein kausales Handlungsmodell zugrunde. Seneca macht den Sturz ins Unglück und die Mutation zum Bösewicht nämlich von einer willentlichen Zustimmung der Hauptfigur abhängig, deren Handeln durch einen leidenschaftlichen Affekt außer Kontrolle gerät. Diesen Zusammenhang zwischen Intention und Eskalation betont Seneca auch in seinen theoretischen Schriften. Zwar hat er keine Poetik der Tragödie verfasst, doch erläutert er die stoische Affektkonzeption, die für seine Dramen charakteristisch ist, in philosophischen Dialogen.206 Im Dialog ‚De ira‘ stellt Seneca die Wut als schlimmste aller Leidenschaften dar.207 Anschaulich schildert er die Symptome und Auswirkungen der Wut, die ganzen Städten und Völkern den Untergang bringe.208 In Abgrenzung zu anderen Philosophen betont Seneca, dass die Wut weder natürlich noch nützlich sei.209 Sie zeuge nicht von Pflichtbewusstsein, Tapferkeit oder Größe, vielmehr sei sie zügellos, rachsüchtig, unbezähmbar und gemeingefährlich. Dabei beschränkt sich der stoische Autor nicht darauf, vor diesem Übel zu warnen, sondern erteilt auch therapeutische Ratschläge. Seneca zeigt seinem Adressaten Novatus auf, wie eigene Wut vermieden oder überwunden werden kann und welche Maßnahmen zur Beruhigung anderer Menschen bei einem Wutanfall ergriffen werden müssen.210 Eindringlich rät Seneca dazu, einen so verderblichen Affekt möglichst ganz aus dem eigenen Leben zu verbannen. Den Versuch, ihn unter Kontrolle zu bringen, nachdem er bereits von der Seele Besitz ergriffen habe, beurteilt der Autor als äußerst schwierig. Die menschliche Vernunft sei nur so lange mächtig, wie sie von den Affekten abgesondert sei. Sobald sie sich mit ihnen vermischt habe, verliere sie ihre Einflussmöglichkeiten _____________ 205 Vgl. Pack, Fate; ders., Guilt. 206 Zur Rezeption der Dialoge im Mittelalter vgl. Reynolds, Medieveal Tradition; Wildberger, Nachwort, S. 318. 207 In Anlehnung an Wildbergers Übersetzung verwende ich für ira den neuhochdeutschen Begriff ‚Wut‘, auch um eine Verwechslung mit dem mittelhochdeutschen Begriff ‚zorn‘ auszuschließen, vgl. S. 102. 208 Vgl. Seneca, De ira, bes. 1.2.1. 209 Zum Gegensatz zwischen der stoischen Affektkonzeption und der klassisch-griechischen Denkweise vgl. Schmitt, Leidenschaft, S. 576. 210 Zu den therapeutischen Vorschlägen vgl. Seneca, De ira, 2.18–3.43. Zur Datierung und Adressierung vgl. Wildberger, Nachwort, S. 301.

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und könne die Affekte nicht mehr mäßigen.211 Eindringlich warnt Seneca vor dem Irrglauben, man könne die Wut wie ein Kriegsgerät in die Hand nehmen, um sich zu einer bestimmten Tat anzutreiben, und sie anschließend wieder beiseitelegen.212 Dieser Affekt warte nicht darauf, geführt zu werden, sondern übernehme selbst die Führung. Seneca kontrastiert den harmlosen Anfang der Leidenschaft mit ihrem rasanten Verlauf und veranschaulicht diese Entwicklung durch einen Vergleich. Wie ein Körper bei einem Sturz in die Tiefe nicht mehr über sich selbst bestimmen könne und vom eigenen Gewicht in die Tiefe gerissen werde, bestehe bei diesem Affekt keine Möglichkeit mehr zur Umkehr. Das Geschehen entwickle eine eigene Dynamik und lasse keine Zeit zum Besinnen und Bereuen. Notwendigerweise müsse man dahin gelangen, wohin zu gelangen man hätte vermeiden können.213 Aufgrund der dem Affekt inhärenten Gefahr rät der Stoiker dazu, den allerersten Wutreiz sofort von sich zu weisen und ihn schon im Keim zu ersticken.214 Vertreten lässt sich eine solche Auffassung nur, wenn die Wut kein unwillkürlicher Affekt ist und von der menschlichen Verfügungsgewalt abhängig bleibt. Mit dieser Problematik setzt sich Seneca im zweiten Buch von ‚De ira‘ auseinander. Er diskutiert, ob die Wut aufgrund eines Urteils oder aufgrund eines Dranges einsetzt, d.h. ob es sich um eine bewusste oder um eine unbewusste innere Bewegung handelt. Dass die Wut durch eine äußere Erscheinung geweckt wird, sei es durch die Beobachtung eines tatsächlichen oder eines vermeintlichen Unrechts, steht seines Erachtens fest. Fraglich sei jedoch, ob die Wut sofort auf die Erscheinung eintrete oder nur mit Zustimmung der Seele einsetze. Diese zweite Option bejaht Seneca und erklärt sie zur gängigen Lehrmeinung seiner philosophischen Schule: „Wir Stoiker vertreten die Ansicht, dass Wut für sich allein nicht wagt, irgendetwas zu tun, sondern nur mit Billigung der Seele.“215 Die Richtigkeit seiner These begründet der Autor von ‚De ira‘ mit der Komplexität eines affektiven Prozesses und der Steuerungsfunktion der Vernunft. Ohne die Zustimmung der Seele könnte kaum eine Verbindung zwischen der Erscheinung eines erlittenen Unrechts und der Entwicklung eines Racheverlangens hergestellt werden. Zudem wäre die Wut nicht durch die Vernunft zu kontrollieren, falls sie ohne menschlichen Willen entstünde.216 Auf diese Weise unterscheidet Seneca die Wut von solchen _____________ 211 212 213 214 215

Vgl. Seneca, De ira, 1.7.2f. Vgl. Seneca, De ira, 1.17.1. Vgl. Seneca, De ira, 1.7.4. Vgl. Seneca, De ira, 1.8.1. Seneca, De ira, 2.1.4. Übers. v. Wildberger: Nobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante […]. – Zur stoischen Affekttheorie vgl. auch Vogt, Stoische Theorie. 216 Vgl. Seneca, De ira, 2.1.4 und 2.2.1.

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Bewegungen, die unkontrollierbar und unvermeidbar sind. Als Beispiele für solche unwillkürlichen Reaktionen führt er unter anderem den Schauder an, der durch Spritzer kalten Wassers hervorgerufen wird, oder den Schwindel, der sich bei einem Blick in einen jähen Abgrund einstellt. Während diese Art der Bewegungen der menschlichen Macht entzogen sei und nicht durch die Vernunft verhindert werden könne, handle es sich bei der Wut um eine willentliche Störung der Seele. Seneca differenziert dabei zwischen dem ersten Impuls, der selbst den weisesten Menschen widerfahre, und der Willensentscheidung, sich diesem zufälligen Stoß zu überlassen. Nur diese mit Zustimmung des Geistes erzeugten Bewegungen lässt Seneca als eigentliche Affekte gelten, alles andere betrachtet er nur als den Anfang oder das Vorspiel vor dem eigentlichen Affekt.217 Seine Überlegungen fasst Seneca in einem dreistufigen Handlungsmodell zusammen, in dem die Entstehung, das Wachstum und die Eskalation des Affekts beschrieben werden: est primus motus non voluntarius, quasi praeparatio affectus et quaedam comminatio; alter cum voluntate non contumaci, tamquam oporteat me vindicari cum laesus sim, aut oporteat hunc poenas dare cum scelus fecerit; tertius motus est iam impotens, qui non si oportet ulcisci vult sed utique, qui rationem evicit.218

Folgende Aspekte sind somit für das Handlungsmodell, das sowohl Senecas Affekttheorie als auch seinen Tragödien zugrunde liegt, charakteristisch: Der tragische Held wird in einer Situation gezeigt, in der er sich über ein vorausgegangenes Ereignis empört. Nicht das erfahrene Unrecht, sondern der Umgang des Protagonisten mit diesem Geschehen steht im Fokus der Aufmerksamkeit. Seine Entscheidung, dem Affekt zu folgen und sich zu rächen, stürzt ihn ins Unglück. Durch die Hingabe an die Leidenschaft wird die Katastrophe vom Protagonisten selbst ausgelöst, so dass eine kausale menschliche Ursache ausfindig zu machen ist. Seneca betont damit in ähnlicher Weise wie Aristoteles die Eigenverantwortlichkeit des Helden und die Vermeidbarkeit seines Unglücks. Nachdem der Protagonist sich jedoch seinem Affekt überlassen hat, verliert er seine Handlungsautonomie und reißt die Wut alle anderen menschlichen Werte und Bindungen mit sich in den Abgrund. _____________ 217 Vgl. Seneca, De ira, 2.2.1–4. Vgl. auch Abel, Propatheia-Theorem; Wildberger, Nachwort, S. 311. 218 Vgl. Seneca, De ira 2.4.1. Übers. v. Wildberger: „Es gibt eine erste Bewegung, die nicht willentlich ist und gewissermaßen eine Vorbereitung des Affekts, so etwas wie eine Drohgebärde, und eine zweite mit einer nicht verbissenen Willensentscheidung, etwa, dass es richtig ist, dass ich mich räche, da ich verletzt wurde, oder dass es richtig ist, dass dieser Mann hier eine Strafe erleidet, da er ein Verbrechen begangen hat. Die dritte Bewegung hat schon keine Macht mehr über sich selbst. Sie will Vergeltung üben, nicht falls das richtig ist, sondern unbedingt, und hat die Vernunft unter ihre Kontrolle gebracht.“

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In ‚De ira‘ veranschaulicht Seneca an vielen historischen Einzelfällen, wie die Wut Herrscher dazu veranlasste, ihre Macht zu missbrauchen. Zugleich weiß er aber auch positive Beispiele anzuführen, in denen sich einzelne Machthaber durch ihre Affektkontrolle auszeichneten.219 In seinen Tragödien setzt Seneca diese Problematik literarisch in Szene. In der ‚Medea‘ führt er vor, wie sich die tragische Heldin der Wut hingibt und die Ordnung der Welt immer mehr verkehrt, bis sie schließlich die eigenen Kinder ermordet. Schon bei ihrem ersten Auftritt schürt die Protagonistin bewusst ihre Wut, bis ihre Vernunft von der Leidenschaft hinweg gerissen wird.220 Explizit legt Seneca seiner Medea das Signalwort der Dialogschrift in den Mund, als diese ihr Racheverlangen anstachelt: accingere ira teque in exitium para / furore toto.221 Das senecanische Tragikkonzept besteht demnach darin, dass sich der Protagonist willentlich seinem Affekt hingibt und damit jeden Einfluss über sein weiteres Verhalten verliert. Dass die Verantwortlichkeit des tragischen Helden auch in dem zweiten Tragödienmodell der Antike betont wird, zeigt sich sowohl an der Voraussetzung einer willentlichen Zustimmung als auch an der möglichen Vermeidbarkeit des Geschehens. Mit den geeigneten Maßnahmen, so betont Seneca in ‚De ira‘, lasse sich die Wut unterdrücken oder zumindest mindern und schließlich ganz beseitigen.222 Unvermeidlich und der eigenen Kontrolle entzogen ist das Geschehen erst, nachdem der Affekt die Vernunft einmal entmachtet hat. Die Kausalität ist also auch für das stoische Tragikkonzept Senecas kennzeichnend. 3.3.2 Finale Tragikkonzepte In der Moderne werden die kausalen Tragikvorstellungen durch ein finales Modell abgelöst. Der Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen wird in Frage gestellt, wenn der tragische Held seinen Untergang nicht aufhalten oder vermeiden kann. Diese Veränderung in der Motivierung ist bemerkenswerterweise schon bei Boethius zu beobachten. In ‚De consolatione philosophiae‘ ist der Protagonist einer metaphysischen Instanz hilflos ausgeliefert, ohne sein Leid durch eigene Initiative überwinden zu können. Hinsichtlich der Handlungsmotivation erfolgt somit bereits in der Spätan_____________ 219 Zu den negativen Exempeln vgl. Seneca, De ira, 3.14–21, zu den positiven 2.32f., 3.11.4, 3.12.5f., 3.22f. 220 Vgl. Seneca, Medea, V. 1–55. Vgl. auch Schmitt, Leidenschaft, bes. S. 583. 221 Vgl. Seneca, Medea, V. 51f. Übers. v. Häuptli: „Der Zorn sei deine Waffe: sei in voller Wut / zum Mord bereit.“ 222 Kontrollieren lässt sich der Affekt freilich erst, wenn er seine Hochphase bereits überwunden hat, vgl. Seneca, De ira, 2.29.1 und 3.39.2.

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tike bzw. im frühen Mittelalter eine maßgebliche Verschiebung, auf der die Tragödientheorien der Moderne basieren. Fortuna und die göttliche Providenz bei Boethius Im Unterschied zu seinen Vorgängern ist Boethius weder als Dichtungstheoretiker noch als Dramatiker bekannt. Sein tragödientheoretischer Kommentar erfolgt beiläufig im Rahmen eines fiktiven Gesprächs. Der Ich-Erzähler, dessen Leid autobiographische Züge aufweist,223 begegnet der personifizierten Philosophie, die den gemütskranken Dichter als Ärztin zu heilen sucht.224 Der Dialog, in dem Prosa und metrische Partien wechseln, behandelt banale Lebensweisheiten und komplexe Themen philosophischer Theologie, die mit wachsendem Schwierigkeitsgrad entfaltet werden. Ungeachtet dieses besonderen literarischen Konzepts ist die Aussage, die Boethius im zweiten Buch von ‚De consolatione philosophiae‘ über die Tragödie trifft, von entscheidendem Belang. Wird seine Anmerkung vor dem Hintergrund des gesamten Werks gedeutet, dann lässt sich auf ein umfassendes Tragikkonzept schließen, das in seiner Komplexität die tragödientheoretischen Aussagen mittelalterlicher Glossare und Etymologien weit übersteigt.225 Boethius erwähnt die Tragödie im Kontext der Klage, die der Erzähler gegen Fortuna richtet. Von allen Freunden verlassen, Folter und Tod fürchtend, hadert er mit seinem Geschick, zu Unrecht gefangen genommen und angeklagt worden zu sein.226 Seine Gesprächspartnerin dagegen betrachtet Fortunas plötzliche Verhaltensänderung, die dem Klagenden ohne einen triftigen Grund ihre Gunst entzogen hat, als wenig überraschend. Die Philosophie erklärt die Unbeständigkeit zum eigentlichen Kennzeichen Fortunas, zu ihrer Natur und ihrem Wesen. Mit den Verlockungen falscher Glückseligkeit täusche sie, bevor sie ihre Treulosigkeit offenbare und ihr wahres Gesicht zeige. Sie erweise sich nicht nur als wankelmütig und wechselhaft, indem sie Könige zu Staub trete und Unterlegene emporhebe, sondern auch als grausam und unerbittlich; sie sei für Tränen blind und gegenüber Bitten taub. Wie hilflos der einzelne _____________ 223 Zu den autobiographischen Elementen vgl. Gigon, Einführung, S. 323–326, vgl. auch S. 307–311. Zur literarischen Gestaltung vgl. Curley, Consolation; Lerer, Boethius. 224 Vgl. Courcelle, Consolation, S. 17–28; Gruber, Erscheinung; ders., Kommentar, S. 32–35. 225 Zur intensiven mittelalterlichen Rezeption des Boethius vgl. Courcelle, Consolation, S. 239–332; Frakes, Fate; Glauche, Schullektüre, S. 142 (Index); Glei, Boethius Christianus?; Hoenen, Boethius; Minnis, Medieval Boethius; Sassen, Boethius. 226 Neben der Philosophie als Ärztin ist das Bild des ins Gefängnis geworfenen Gerechten eines der literarisch geprägten Hauptmotive, wie Gigon (Einführung, S. 312f.) herausstellt.

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Mensch der Macht Fortunas ausgeliefert ist, verdeutlicht die Philosophie am Bild des rollenden Rades, das nicht aufzuhalten ist: Tu vero volventis rotae impetum retinere conaris? Wer dennoch meine, sie von ihrem Vorhaben abbringen zu können, entpuppe sich, wie ihre tadelnde Anrede des Erzählers zeigt, als törichtester aller Menschen (omnium moralium stolidissime).227 In einem nächsten Schritt lässt Boethius die Philosophie die Position Fortunas einnehmen und diese selbst zu ihrer Verteidigung ansetzen. Dabei greift sie nicht nur die bereits vorgebrachten Argumente auf und erklärt ihre Unbeständigkeit zu einem Naturgesetz.228 Sie führt dem Erzähler auch vor Augen, überhaupt keinen Anspruch auf Reichtum und Ehre zu haben, da ihm diese nur zeitweilig verliehen seien. Vor allem aber entfaltet Fortunas Sprecherin die im Bild des Rades angelegte Deutung und präsentiert sich selbst als Urheberin eines zunächst aufwärts, dann aber abwärts gerichteten Bewegungsablaufs.229 Der vom Erzähler als tödlicher Ernst erfahrene Wechsel des Glücks stellt sich aus Fortunas Perspektive als ein Spiel dar, für das sie alleine die Regeln formulieren kann: Haec nostra vis est, hunc continuum ludum ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus. Ascende, si placet, sed ea lege, ne, uti cum ludicri mei ratio poscet, descendere iniuriam putes.230

Aufstieg und Fall eines Menschen, wie sie für Fortunas Handlungsweise charakteristisch sind, werden an zwei einflussreichen historischen Persönlichkeiten exemplifiziert. Kroisos, der König der Lyder, lehrte die Kyrer erst das Fürchten, landete dann jedoch auf dem Scheiterhaufen. So geriet er selbst in eine bejammernswerte Lage, bis er, die Wechselhaftigkeit Fortunas einmal mehr demonstrierend, durch den Regen vom Flammentod errettet worden sei. Ebenso wird das Beispiel des gefangenen Königs Perseus angeführt, über dessen Unglück Paulus Tränen vergoss. In diesem Argumentationszusammenhang, als Fortunas willkürliche Verhaltensweise thematisiert wird, findet auch die Tragödie Erwähnung: Quid tragoediarum

_____________ 227 Boethius, Trost der Philosophie, lib. II, p. 1, Z. 59–61. 228 Fortuna zieht eine Parallele zum Wechsel der Tages- und Jahreszeiten sowie zum Meer, das sich mal ruhig, mal stürmisch verhalte. Ebenso wenig wie die Naturgewalten erklärt sie, Beständigkeit wahren zu können (vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. II, p. 2, Z. 21–29). 229 Zur Motivgeschichte vgl. Courcelle, Consolation, S. 113–158; Doren, Fortuna; Foehr-Janssens, Fortune; Haug, O Fortuna; Kirchner, Fortuna; Müller, Fortuna; Schilling, Rota Fortunae (mit ausführlichen Literaturangaben). Vgl. auch Vollmer, Fortuna Diagrammatica. 230 Boethius, Trost der Philosophie, lib. II, p. 2, Z. 29–33. Übers. v. Gegenschatz: „Dies ist unsere Macht, dies ununterbrochene Spiel spielen wir, wir drehen das Rad in kreisendem Schwunge, wir freuen uns, das Tiefste mit dem Höchsten, das Höchste mit dem Tiefsten zu tauschen. Steige aufwärts, wenn es dir gefällt, aber unter der Bedingung, daß du es nicht für ein Unrecht hältst, herabzusteigen, wenn es die Regel meines Spieles fordert.“

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clamor aliud deflet nisi indiscreto ictu fortunam felicia regna vertentem?231 Mit dieser rhetorischen Frage wird die Tragödie als eine inhaltlich und formal definierte literarische Gattung vorgestellt; sie thematisiert im Gestus der Klage, wie Fortuna nach eigenem Gutdünken Menschen vom Glück ins Unglück stürzt. An späterer Stelle wird die Problematik menschlichen Leidens, die für den Ich-Erzähler in seiner Situation der Gefangenschaft existentielle Bedeutung hat, noch einmal verhandelt, ohne jedoch Fortunas Beteiligung zur Sprache zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt ist der Dichter, den die Philosophie zu Beginn ihres Gesprächs in einem Zustand tiefen Leids und geistiger Umnachtung vorgefunden hat,232 in seinem Genesungsprozess bereits weit fortgeschritten. Daher kann sie ihm anspruchsvollere Lehren zumuten, die seine Heilung aufgrund ihrer größeren medizinischen Wirksamkeit beschleunigen sollen. Die Philosophie offenbart dem Erzähler, dass alles in der Welt, die Entstehung, die Entwicklung und die Bewegung sämtlicher natürlicher Dinge, eine göttliche Ursache habe und von einer metaphysischen Instanz geordnet, geformt und zum Guten gelenkt werde.233 Den möglichen Einwand, den ihr Gesprächspartner erheben könnte, nimmt die Philosophie selbst vorweg. Er werde nun sicher argumentieren, dass nichts unbilliger sein könne, als dass guten Menschen bald Glückliches, bald Widriges und ebenso schlechten Menschen bald Erwünschtes, bald Verhasstes zuteil werde.234 In der Antwort auf diese Frage nach der Ursache des Unglücks zeichnet sich ein entscheidender Unterschied zur Dichtungstheorie des Aristoteles ab. Während dieser es als inhuman und untragisch bezeichnet, wenn sittlich vorbildliche Menschen ins Unglück stürzen, überantwortet Boethius alles einer göttlichen Instanz. Zudem zieht er das menschliche Urteilsvermögen in Zweifel, die grundsätzliche Sinnhaftigkeit eines Geschehens erkennen zu können. Mit einer Reihe rhetorischer Fragen führt die Philosophie vor Augen, dass die Menschen kaum über eine solche Weisheit verfügen, andere richtig zu bewerten; ihre Urteile divergieren häufig, und sie sind – im Gegensatz zu Gott – nicht in der Lage, die innere Beschaffenheit der Seele wahrzunehmen. Statt Tun und Ergehen in einen eindeutigen Handlungszusammenhang zu stellen, argumentiert die Philo_____________ 231 Boethius, Trost der Philosophie, lib. II, p. 2, Z. 39f. Übers. v. Gegenschatz: „Was beweint der Weheruf der Tragödien anderes als das Schicksal, das mit seinem Schlage ohne Unterschied glückliche Reiche umstürzt?“ 232 Auffallenderweise betrachtet sich der Erzähler zu Beginn des Gesprächs nur als unglücklich, nicht aber als krank. Erst die Philosophie öffnet ihm die Augen für sein eigentliches Leiden, um nach ihrer Diagnose mit einer Therapie zu beginnen. Vgl. auch Gigon, Einführung, S. 320. 233 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. IV, p. 6, Z. 21–26, 96f. 234 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. IV, p. 6, Z. 103–105.

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sophie kasuistisch. Jeder Mensch werde seiner Tugend, Veranlagung und Stärke gemäß behandelt, was im Einzelfall zu völlig unterschiedlichen Konsequenzen führe. Das Unglück eines Gerechten könne aus göttlicher Perspektive dazu dienen, jemanden zu prüfen, ihn nicht träge werden zu lassen, seine Geduld zu stärken und ihn zur Tugend zu führen. Auf der anderen Seite könne das Glück eines bösen Menschen den Sinn haben, ihn selbst von seiner Schlechtigkeit abzubringen oder andere zu strafen.235 Vor diesem Hintergrund ist auch Fortunas Handeln neu zu bewerten. Denn eine bestimmte Ordnung umfasse alles, so stellt die Philosophie gegenüber dem Erzähler auf der nun von ihm erreichten Wissensstufe klar. Gerade das Verhalten, das vorher für Fortuna als charakteristisch galt, wird im Reich der Vorsehung für nicht existent erklärt. Weil Gott alles auf das Gute hin lenke und ordne, gebe es weder blinde Willkür noch einen Zufall. Was mit dem letztgenannten Begriff beschrieben wird, ist in der Definition der Philosophie nichts anderes als das unerwartete Ergebnis eines Zusammentreffens von Ursachen in dem, was zu irgendeinem Zweck unternommen wurde. Dass sich die Ursachen jedoch auf diese Weise zusammenfügten, bewirke jene Ordnung, die aus einer unvermeidlichen Verknüpfung hervorgehe (inevitabili conexione procedens) und ihren Ursprung in der Vorsehung habe.236 Alles Geschehen ist somit Teil der göttlichen Ordnung, das durch eine Verkettung der Schicksalsnotwendigkeit (per fatalis seriem necessitatis) zustande kommt.237 Vorsehung und Schicksal sind nämlich keine Gegensätze, so erfährt der Erzähler und mit ihm die Leser, sondern zwei Seiten einer Medaille. Betrachte man die Ordnung der Welt aus der Position der höchsten Gottheit, erläutert die Philosophie, handle es sich um die Vorsehung (providentia); bezogen auf die in der Zeit geordneten und bewegten Dinge spreche man dagegen von Schicksal (fatum). Daher sei alles, was aus menschlicher Perspektive als Schicksal interpretiert werde, auch der Vorsehung unterstellt.238 Die scheinbar willkürlichen Schläge Fortunas, über die der Erzähler anfangs bitter klagte, erweisen sich nun als sein Schicksal, das ihm von Gott zugedacht ist. Diese grundlegende Erkenntnis von der göttlichen Lenkung des Geschehens bedeutet jedoch nicht, dass sich der Sinn eines solchen Unglücks dem betroffenen Menschen auch erschließen muss. Nicht zufällig spricht die Philosophie davon, dass es sich um ein staunenswertes Wunder handle und von dem Wissenden, also von Gott, getan _____________ 235 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. IV, p. 6, Z. 106–191. 236 Boethius, Trost der Philosophie, lib. V, p. 1, Z. 58, vgl. auch lib. IV, p. 6, Z. 195–198 (zur Willkür); lib. V, p. 1, Z. 19–60 (zum Zufall). 237 Boethius, Trost der Philosophie, lib. IV, p. 6, Z. 206f. 238 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. IV, p. 6, Z. 26–62.

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werde, worüber die Unwissenden bestürzt seien.239 Diese Bestürzung der Menschen, die in der literarischen Gattung der Klage Ausdruck findet, bietet einen möglichen Ansatzpunkt, das Tragikverständnis des Boethius zu präzisieren: Eine tragische Handlung liegt demnach dann vor, wenn ein Menschen ins Unglück stürzt, ohne dass er sich einer Schuld bewusst ist und dem Geschehen eine sinnvolle Erklärung abgewinnen kann. Selbst wenn sich diese Entwicklung aus der Perspektive der göttlichen Vorsehung als gut und angemessen erweist, bleibt dieses tiefere Verständnis dem Menschen aufgrund seiner beschränkten Sicht verschlossen. Da eine metaphysische Instanz, die man auf einer geringeren Wissensstufe für die launische Fortuna hält und auf einer höheren als die göttliche Vorsehung erkennt, für diese Entwicklung verantwortlich ist, liegt dem Tragikkonzept des Boethius ein final motiviertes Handlungsmodell zugrunde.240 Wie komplex diese Bezüge zwischen dem Handeln der Figuren und dem Wirken einer metaphysischen Macht sein können, wird deutlich, als Boethius das Verhältnis zwischen der Freiheit des Willens (arbitri libertas) und der Kette des Schicksals (fatalis catena) beschreibt. Nachdem der IchErzähler von der Ordnung der Welt durch die göttliche Vorsehung erfahren hat, erkundigt er sich, ob die Menschen überhaupt noch freie Entscheidungen treffen könnten.241 Nur wenn diese Prämisse gegeben sei, würden der göttliche Lohn für die Guten und die Strafe für die Bösen nicht als äußerste Unbilligkeit erscheinen. Andernfalls hätten sie ihre Taten ja nicht aus freiem Willen begangen, sondern seien von der sicheren Notwendigkeit dazu gezwungen worden.242 Die Philosophie bejaht die menschliche Willensfreiheit und betont, dass das Vorauswissen Gottes keine zwingende Ursache zukünftiger Ereignisse sei.243 Den Einwand _____________ 239 Boethius, Trost der Philosophie, lib. IV, p. 6, Z. 125–127: Hic iam fit illud fatalis ordinis insigne miraculum, cum ab sciente geritur, quod stupeant ignorantes. 240 Die philosophisch-theologische Erklärung des Weltgeschehens stimmt weitgehend mit der Interpretation der Faustinianlegende überein, die Matias Martinez (Martinez, Doppelte Welten, S. 15) als Paradigma einer finalen Motivation anführt. Nur im ersten Teil der Erzählung, als fast alle Unternehmungen der Protagonisten scheitern, erscheine das Geschehen durch blinde Kontingenz bestimmt. Im weiteren Verlauf enthüllten sich die traurigen Zufälle einer vermeintlichen Fortunawelt als göttliche Fügung, „Faustinians Unglück als inszeniertes Lehrstück von Gottes Allmacht.“ Somit verwandelten sich im Rückblick die „Bruchstücke einer ziellosen, endlos perpetuierbaren Ereignisfolge […] in eine übergeordnete Handlung, die das Geschehen zu einem sinnvollen Ganzen macht.“ – Zum Verhältnis von Providenz und Kontingenz vgl. auch Frick, Providenz; Imdahl, Kontingenz. 241 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. V, p. 2, Z. 2–5: Sed in hac haerentium sibi serie causarum estne ulla nostri arbitrii libertas, an ipsos quoque humanorum motus animorum fatalis catena constringit? – Vgl. auch Chadwick, Boethius, S. 239–247; Gegenschatz, Freiheit; Huber, Vereinbarkeit; Regen, Praescientia. 242 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. V, p. 3, Z. 88–95. 243 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. V, p. 4, Z. 13–15.

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einer Determination entkräftet sie, indem sie die zeitlichen Kategorien der Menschen für ungültig gegenüber der göttlichen Instanz erklärt. Die Voraussicht, mit der Gott alles erkenne, sei nicht als ein Vorherwissen einer etwaigen Zukunft, sondern als ein Wissen von einer niemals entschwindenden Gegenwart aufzufassen.244 Während die Ereignisse, bezogen auf das göttliche Schauen, mit Notwendigkeit einträten, bestehe für den Menschen eine grundsätzliche Freiheit, seine Entscheidung zu treffen. Weil Gott sowohl den Vorsatz als auch dessen Änderung oder Durchführung als etwas Gegenwärtiges erkenne, stellten Willensfreiheit und Vorsehung keine Gegensätze dar.245 Deshalb verliere das menschliche Handeln nicht seine Bedeutung, so argumentiert die Philosophie, und stünden Tun und Ergehen in einem Zusammenhang.246 Eine numinose Erklärung setzt empirische Handlungsfolgen nicht zwangsläufig außer Kraft, ordnet diese aber einer finalen Bestimmung unter. Strukturell gesehen besteht das Tragikverständnis des Boethius in dem final motivierten Widerspruch zwischen figurengebundener Wahrnehmung und Erzählrealität. Inhaltlich handelt es sich um einen Sturz ins Unglück, der zwar vom Verhalten der literarischen Figuren nicht völlig unabhängig ist, für den aber letztlich eine höhere Instanz verantwortlich bleibt. Hinsichtlich der Unmöglichkeit des Menschen, sein Leiden zu verhindern, weist das mittelalterliche Tragödienmodell Übereinstimmungen mit den modernen Theorien auf. Der tragische Weltzustand bei Hegel Hegel nähert sich der Tragödie systematisch, als er sie im dritten Teil seiner ‚Vorlesungen über die Ästhetik‘ im Kontext der dramatischen Poesie beschreibt. Wie Aristoteles setzt er sich grundsätzlich mit dieser Gattung auseinander, um seinen Schülern ihr Prinzip und die historische Entwick_____________ 244 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. V, p. 6, Z. 68–73. 245 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. V, p. 6, Z. 120–128. 246 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lib. V, p. 6, Z. 171–177: Quae cum ita sint, manet intemerata mortalibus arbitrii libertas, nec iniquae leges solutis omni necessitate voluntatibus praemia poenasque proponunt. Manet etiam spectator desuper cunctorum praescius deus, visionisque eius praesens semper aeternitas cum nostrorum actuum futura qualitate concurrit bonis praemia, malis supplicia dispensans. – Ob es der Philosophie gelungen ist, den Erzähler zu überzeugen, bleibt offen. Von dem mit großer Sorgfalt aufgebauten Gesprächsrahmen, der in allen vier Büchern in Erinnerung gehalten wird, ist am Ende keine Rede mehr. Zwar wird man nicht erwarten, dass der Ich-Erzähler seine Gefangenschaft nun als gerechtfertigt beurteilen sollte. Für die Philosophie wäre es jedoch ohne Weiteres möglich, den Erfolg ihrer Therapie abschließend zu diagnostizieren. Stattdessen endet die Schrift mit einer lebenspraktischen Anleitung, die in der 2. Person Plural formuliert ist und sich somit an alle Rezipienten richtet. – Zur Problematik des abrupten Endes vgl. auch Gigon, Einführung, S. 367f.; Tränkle, Abschluß.

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lung zu erklären.247 Als dramatisch lässt Hegel nur solche Handlungen gelten, in denen zwei individuelle Charaktere einander entgegentreten, die jeweils einen bestimmten Zweck verkörpern. Weil die Bestrebungen der einzelnen Charaktere einander widersprächen, lasse sich eine intendierte Handlung nicht einfach realisieren, sondern es ergäben sich Hindernisse, Verwicklungen und Gegensätze. Auf den ersten Blick scheint Hegels Dramentheorie kausal motiviert. Der deutsche Philosoph erklärt das zielgerichtete Figurenhandeln, das er auch als Leidenschaft oder Pathos bezeichnet, zur grundlegenden Bedingung für ein Drama.248 Schnell macht er jedoch klar, dass die Entwicklung der Handlung nicht allein auf das Streben der Figuren zurückzuführen ist: „[D]ie Entscheidung über den Verlauf und Ausgang der Verwicklungen und Konflikte [kann] nicht in den einzelnen Individuen liegen, die einander entgegenstehen, sondern in dem Göttlichen selbst als Totalität in sich“. Hegels Argumentation, das Göttliche sei als ursächliche Instanz für den Handlungsverlauf verantwortlich, deutet auf eine finale Motivierung hin. Seine allgemeinen Erläuterungen zum Drama spezifiziert Hegel für die Tragödie, wobei er mit den treibenden Beweggründen des Handelns und der daraus abzuleitenden Figurenkonzeption beginnt. Den wahrhaften Inhalt tragischen Handelns liefere für die Zwecke, die die tragischen Charaktere ergriffen, die „im menschlichen Wollen substantiellen, für sich selbst berechtigten Mächte“. Zu diesen zählt Hegel die Familienliebe der Gatten, Eltern, Kinder, Geschwister und das Staatsleben, den Patriotismus der Bürger sowie den Willen der Herrscher. Echte tragische Figuren zeichneten sich durch die Besonderheit aus, dass sie nicht durch „eine vielfache, episch auseinander gelegte Totalität“ gekennzeichnet seien. Vielmehr machten sie sich nur eine der genannten Mächte zu eigen, gingen mit dieser eine untrennbare Synthese ein und stünden für sie mit ihrem ganzen Sein ein. Weil die Figurenkonzeption konsequent auf dieses _____________ 247 Ebenso wie die antike ‚Poetik‘ stellen die ‚Vorlesungen über die Ästhetik‘ die Forschung vor Verständnisschwierigkeiten, da sie nicht schriftlich bearbeitet und für die Veröffentlichung vorbereitet wurden. – Zu den Zweifeln an der Authentizität, der textkritischen Problematik und der Konzeption der ‚Ästhetik‘, die Hegels Schüler Heinrich Gustav Hotho auf der Grundlage von Vorlesungsmitschriften rekonstruierte und gemäß seines kulturpolitischen Interesses entfaltete, vgl. Gethmann-Siefert, Einführung, S. 13–24. Eine Differenzierung zwischen Hegels und Hothos Gedanken, die Gethmann-Siefert zurecht fordert (ebd., S. 24–28), ist im Kontext dieser Studie nicht möglich. 248 Hegel (Vorlesungen, Bd. 3, S. 387) unterscheidet dabei das bloße Geschehen von einer intentionalen Handlung. Während ein Blitz, der einen Menschen erschlägt, einen äußeren Vorfall darstelle, handle es sich bei der Eroberung einer feindlichen Stadt um die Erfüllung eines beabsichtigten Zwecks.

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Ziel hin ausgerichtet werden soll, erteilt Hegel „bloßen Zufälligkeiten der unmittelbaren Individualität“ eine Absage.249 Durch einen Vergleich der tragischen Helden mit Skulpturen, denen ebenfalls individuelle Züge fehlten, gelangt Hegel zur Feststellung, „das eigentliche Thema der ursprünglichen Tragödie sei das Göttliche“. Erläuternd fügt er hinzu, dass es sich nicht um das Göttliche handle, wie es den Inhalt des religiösen Bewusstseins als solchen ausmache, sondern wie es in der Welt in Erscheinung trete: „In dieser Form ist die geistige Substanz des Wollens und Vollbringens das Sittliche.“ Auf diese Weise definiert Hegel das Sittliche als „das Göttliche in seiner weltlichen Realität, das Substantielle“, das sich im Handeln der Figuren konkretisiere.250 Nachdem er Transzendenz und Immanenz über das Verständnis des Sittlichen eng verknüpft hat, kann er beide Ebenen in seine Argumentation einbeziehen und dem Tragischen eine metaphysische Deutung geben, ohne die Instanz des Göttlichen personalisieren zu müssen. Die tragische Kollision, die im Zentrum seiner Theorie steht und notwendigerweise zu einer tragischen Lösung führt, begründet Hegel mit dem „Prinzip der Besonderung“. Diesem sei alles unterworfen, was aus der göttlichen Totalität in die „reale Objektivität“ hinaustreibe. Die sittliche Substanz, die eine „Totalität unterschiedener Verhältnisse und Mächte“ bilde, sei nur in der „abstrakten Idealität“ eine konkrete Einheit. Beim Übergang „zur realen Wirklichkeit und weltlichen Erscheinung“ werde dieser Einklang aufgehoben. Ihre bloße Unterschiedenheit verkehre sich in Entgegensetzung und Kollision, indem die einzelnen Mächte von individuellen Charakteren ergriffen würden.251 Die einseitige Isolation einer sittlichen Macht, die eine Figur zum Maßstab allen Handelns macht, muss nach Hegels Ansicht notwendigerweise das entgegengesetzte Pathos gegen sich aufreizen und dadurch unausweichliche Konflikte herbeiführen. Diese Erklärung von der Vereinzelung sittlicher Mächte in der realen Welt bildet den transzendentalen Hintergrund der hegelschen Theorie, in der _____________ 249 Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 521f. – Nur die antike Tragödie verwirklicht nach Hegels Auffassung den substantiellen ursprünglichen Typus, worin sie sich von der Komödie und von der modernen Tragödie unterscheide (vgl. ebd., S. 543, 556–560). 250 Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 522. 251 Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 522f. – Im Gegensatz zu anderen Theoretikern lehnt Hegel es ausdrücklich ab, die für eine tragische Handlung notwendige Kollision ins Innere einer Figur zu verlegen. Die Inszenierung eines Zwiespalts in ein und demselben Individuum führe viel Missliches mit sich, da hier die sittliche Berechtigung fehle: „Denn die Zerrissenheit in entgegengesetzte Interessen hat zum Teil in einer Unklarheit und Dumpfheit des Geistes ihren Grund, zum Teil in Schwäche und Unreifheit.“ (S. 563). Zwar räumt er ein, dass auch ein gefestigter Charakter in einen Gewissenskonflikt geraten könne, doch rät er, „subjektive Tragik“ ganz zu vermeiden.

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die Legitimität der Handlungsintention zugleich gewürdigt und ob ihrer Einseitigkeit problematisiert wird: „Das ursprünglich Tragische besteht nun darin, daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld geraten.“252

Als Beispiel für die Einseitigkeit des Pathos, das den eigentlichen Grund der Kollision bilde, führt Hegel die ‚Antigone‘ des Sophokles an. Weil die Hauptfiguren selbst in der Gewalt dessen stünden, wogegen sie ankämpften, verletzten sie, was sie ihrer eigenen Existenz gemäß ehren sollten. So gehorche Antigone, obwohl sie selbst Königstochter und Hämons Braut sei, Kreons Gebot nicht. Ebenso wenig respektiere dieser die Heiligkeit des Bluts, die er als Vater und Gatte beachten müsste. Beiden Charakteren sei somit das immanent, wogegen sie sich erhoben hätten. Daher würden beide an dem gebrochen, was zu ihrem Dasein gehöre.253 Das Unrecht, das eine Figur begehen muss, wenn sie eine berechtigte sittliche Macht zu verwirklichen sucht, bezeichnet Hegel als einen Widerspruch, der keine dauerhafte Gültigkeit beanspruchen und „nicht als das Substantielle und wahrhaft Wirkliche“ gelten könne. Sein eigentliches Recht finde er nur darin, sich als Widerspruch aufzuheben, worin die Unvermeidbarkeit des Handlungsausgangs begründet liege: „So berechtigt als der tragische Zweck und Charakter, so notwendig als die tragische Kollision ist daher drittens auch die tragische Lösung dieses Zwiespalts.“ Die einseitige Besonderheit müsse aufgehoben werden, was nur mit dem Untergang der Charaktere möglich sei; diese könnten als Verkörperung der sittlichen Macht nicht von ihr ablassen, ohne sich selbst aufzugeben. Auch das Ende der tragischen Handlung bindet Hegel in sein metaphysisches Tragikkonzept ein, indem er die Katastrophe als eine Rückkehr zum ungeschiedenen Ausgangsstadium interpretiert: Durch die tragische Lösung stelle „die ewige Gerechtigkeit […] die sittliche Substanz und Einheit mit dem Untergange der ihre Ruhe störenden Individualität“ wieder her.254 Indem der Gegensatz der vereinzelten sittlichen Mächte innerhalb der _____________ 252 Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 523. 253 Vgl. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 544, 549f. – In der antiken Deutung stürzt Antigone dagegen aufgrund einer Hamartia ins Unglück, vgl. Schmitt, Bemerkungen. 254 Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 524. – Nach Hegels Ansicht unterscheiden sich die dramatische und die epische Form des Tragischen darin insofern, dass im ersten Fall „das Individuum als Person“, im zweiten hingegen „der Mensch in seiner Sache“ gerichtet erscheine. Während im Epos „die Größe der Sache zu groß“ sei (S. 364), zerstörten die Individuen sich in der Tragödie „durch die Einseitigkeit ihres gediegenen Wollens und Charakters“ (S. 527).

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Welt nach einer Auflösung verlangt, steht der Untergang der Figur von Anfang an fest. Hegels Tragödientheorie basiert somit auf einem finalen Motivierungsmodell. Kausale Handlungszusammenhänge spielen dementsprechend eine weniger relevante Rolle, werden jedoch nicht gänzlich außer Kraft gesetzt. Dies deutet sich in dem Begriff der Schuld an, mit dem Hegel operiert. Bei seinen späteren Erläuterungen zum Unterschied zwischen der antiken und der modernen dramatischen Poesie255 erhebt er das „Prinzip der individuellen Freiheit und Selbständigkeit oder wenigstens die Selbstbestimmung, für die eigene Tat und deren Folgen frei aus sich selbst einstehen zu wollen“, ausdrücklich zur Bedingung „wahrhaft tragischen Handeln[s]“. Ein „wahrhaft tragisches Leiden“ werde über die handelnden Figuren nur „als Folge ihrer eigenen, ebenso berechtigten als durch ihre Kollision schuldvollen Tat verhängt“, für die sie mit ihrem ganzen Sein einzustehen hätten.256 Die Möglichkeit der Charaktere, Entscheidungen zu treffen und selbst die Verantwortung für das Geschehen zu übernehmen, beschränkt Hegel allerdings durch die vorgegebene Handlungskonstellation und ordnet so die kausale Motivierung dem finalen Typus unter.257 In diesem Kontext präzisiert Hegel auch seine früheren Ausführungen und fordert dazu auf, die „falsche Vorstellung von Schuld oder Unschuld“ bei tragischen Konflikten beiseite zu lassen. Einerseits würden die Figuren von einem Pathos getrieben, das sittlich berechtigt sei und jede andere Verhaltensweise für sie – als Verkörperung eben dieses Pathos – ausschließe. Andererseits führe ihr Pathos die Figuren zu verletzendem Handeln und lasse sie am entgegengesetzten Pathos schuldig werden. Aus diesem Grund sind tragische Helden für Hegel ebenso schuldig wie unschuldig. Mit dieser Auffassung unterscheidet er sich deutlich von den antiken Tragödientheoretikern. Während die aristotelische Konzeption der Hamartia und die stoische Affekttheorie ein vermeidbares Fehlverhalten _____________ 255 Die wichtigsten Differenzen zwischen der modernen und der antiken Tragödie bestehen nach Hegel (Vorlesungen, Bd. 3, S. 537f.) in der Subjektivität, der Breite der Partikularität und der Berücksichtigung des Inneren: „Dadurch machen sich hier im Unterschiede der einfachen Konflikte, wie wir sie bei den Alten finden, die Mannigfaltigkeit und Fülle der handelnden Charaktere, die Seltsamkeit immer neu durcheinandergeschlungener Verwicklungen, die Irrgewinde der Intrige, das Zufällige der Ereignisse […] geltend.“ 256 Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 534, 526. 257 Vgl. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 537f.: „Dieser scheinbar losgebundenen Partikularität unerachtet muß aber dennoch auch auf diesem Standpunkte, soll das Ganze dramatisch und poetisch bleiben, auf der einen Seite die Bestimmtheit der Kollision, welche sich durchzukämpfen hat, sichtlich herausgehoben sein, andererseits muß sich, hauptsächlich in der Tragödie, durch den Verlauf und Ausgang der besonderen Handlung das Walten einer höheren Weltregierung, sei es als Vorsehung oder Schicksal, offenbar machen.“

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voraussetzen, wird der hegelsche Held entlastet: Seine Schuld ist determiniert, weil er einen bestimmten, sittlich berechtigten Zweck verkörpert.258 Wenn Hegel diese Argumentation entfaltet, wird die finale Ausrichtung seiner Tragikauffassung noch deutlicher. Der Philosoph führt die Notwendigkeit des Ausgangs auf das Walten einer höheren Instanz zurück, wobei er in ähnlicher Weise wie Boethius von der „Vernünftigkeit des Schicksals“ spricht und die Kontingenz als Handlungsmotivation einer Tragödie ausschließt.259 Dann allerdings grenzt Hegel sich nicht nur von der Vorstellung ab, dass „ein blindes Schicksal, d.h. ein bloß unvernünftiges, unverstandenes Fatum“, den Handlungsverlauf einer Tragödie entscheide, sondern erteilt zugleich der Deutung von einer „selbstbewußte[n] Vorsehung“ eine Absage. Stattdessen verweist er auf eine nicht näher identifizierbare, numinose Macht, die „höchste Gewalt, die über den einzelnen Göttern und Menschen steht“. Diese dulde es nicht, dass die „einseitig verselbständigenden und dadurch die Grenze ihrer Befugnis überschreitenden Mächte sowie die Konflikte, welche hieraus folgen, Bestand erhalten.“260 Hegels Tragiktheorie ist also final motiviert, weil er das Unglück der Figuren auf ein übergeordnetes Prinzip zurückführt, durch das vereinzelte sittliche Mächte notwendigerweise kollidieren und untergehen. Reduziert auf ihre narrative Struktur lassen sich die Tragödientheorien von Aristoteles, Seneca, Boethius und Hegel trotz ihrer Variabilität aufeinander beziehen und miteinander vergleichen. Wenn die Kategorie der Handlungsmotivation als Kriterium für die Form des Tragischen gewertet wird, können zwei Grundmodelle identifiziert werden, die vor allem hin_____________ 258 Im 19. Jahrhundert gewinnt das Kriterium der Unvermeidbarkeit zunehmend an Bedeutung, womit die Tendenz der Entschuldung des tragischen Helden eng verknüpft ist. So vermerkt etwa Hebbel 1843 in seinem Tagebuch, der Dichter dürfe jeden Charakter zugrunde gehen lassen, müsse aber zugleich zeigen, dass der Untergang unvermeidlich sei: „Dämmert noch die leiseste Möglichkeit einer Rettung auf, so ist der Poet ein Pfuscher.“ (Vgl. Hebbel, Tagebücher, Nr. 2776, S. 269). Ähnlich macht Schelling in der 1802/03 gehaltenen Vorlesung (Philosophie, S. 523) die Notwendigkeit des Übels zur Bedingung für eine Tragödie und betont die Unvermeidlichkeit der schuldhaften Verstrickung: „Dies ist das höchste denkbare Unglück, ohne wahre Schuld durch Verhängnis schuldig zu werden.“ Beide Aspekte, die Unentrinnbarkeit und das Paradoxon der schuldlosen Schuld, sind auch Bestandteil der Tragikdefinition Max Schelers (Phänomen, bes. S. 163). Überall dort, wo der Untergang durch die Anwendung geeigneter Mittel hätte vermieden werden können oder die Schuldfrage klar zu beantworten sei, fehle der Charakter des Tragischen. In der Philosophie dominiert Hegels Konzept bis in die Gegenwart, was sich z.B. an Menkes Differenzierung (Tragödie im Sittlichen, S. 25–32) zwischen der tragischen Notwendigkeit und dem traurigen Zufall zeigt. 259 Weil in der modernen Tragödie „der tragische Ausgang“ oft eine Folge „unglücklicher Umstände und äußerer Zufälligkeiten“ sei, die sich „ebenso hätten anders drehen und ein glückliches Ende“ nehmen können, betrachtet Hegel (Vorlesungen, Bd. 3, S. 566) diese als wenig gelungen und der antiken Tragödie unterlegen. 260 Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 547.

Handlungsmotivation und Tragikkonzept

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sichtlich der Aspekte der Schuld und der Notwendigkeit deutliche Differenzen aufweisen. Die kausal motivierten Tragikkonzepte von Aristoteles und Seneca erheben das Fehlverhalten des Helden zur konstitutiven Bedingung, weisen ihm selbst die Schuld zu und betrachten das Unglück als vermeidbar. Schon im Mittelalter wird der für die antiken Theorien charakteristische Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen aufgelöst und durch ein finales Handlungsmodell ersetzt.261 Der Untergang des Protagonisten ist nach Auffassung von Boethius und Hegel unvermeidlich. Boethius ordnet die menschliche Schuld der göttlichen Vorsehung unter, die durch ihre Dienerin Fortuna Menschen ohne eigene Beteiligung ins Unglück stürzt. Mit dem Prinzip der Besonderung des Göttlichen liefert auch Hegel eine metaphysische Erklärung für die notwendige Kollision zweier gegensätzlicher Bestrebungen, ohne jedoch länger von einer übergeordneten personalen Instanz auszugehen. Seine Tragiktheorie basiert auf der Vorstellung der schuldlosen Schuld der Charaktere, die gleichberechtigte sittliche Werte verkörpern und daher notwendigerweise zugrunde gehen. Die Tragödientheorien markieren ein Spannungsfeld des Tragischen, das zwischen Kausalität und Finalität, Schuld und Schuldlosigkeit, Vermeidbarkeit und Unausweichlichkeit, Willensfreiheit und Zwang, Eigenverantwortung und Schicksal, menschlicher Selbstbehauptung und gottgewollter Vernichtung changiert. Schon in den theoretischen Abhandlungen, noch vielmehr aber bei der literarischen Gestaltung können sich verschiedene Motivierungsarten überlagern.262 Ein tragischer Ausgang ist selten auf eine einzelne Ursache zurückzuführen, sei es das Schicksal, ein göttlicher Einfluss oder ein menschlicher Fehler, sondern es ist mit Komplikationen und Verwerfungen zu rechnen. Wie das Unglück der Protagonisten im konkreten Einzelfall begründet wird und welches Tragikmodell dominiert, soll im Folgenden an neun Erzählungen der höfischen Literatur untersucht werden.

_____________ 261 Die Entwicklung, die Lugowski (Form) für die Gattungsgeschichte des Romans veranschlagt, ist auf die Tragödie daher nicht zu übertragen: Während Lugowski die ‚Motivation von hinten‘ als Spezifikum für vormoderne Erzählungen betrachtet, ist sie sowohl für mittelalterliche als auch für moderne Tragikvorstellungen charakteristisch. 262 Martinez (Doppelte Welten, S. 32–36, bes. S. 34) vertritt ein teleologisches Geschichtsmodell, wenn er betont, dass erst die moderne Literatur mit solchen Vorstellungen spiele und widersprüchliche Textsignale setze. Auf diese Weise konstruiere sie eine „paradoxe Motivationsstruktur“ in der erzählten Welt, durch die sich die Wahrnehmung wie bei einem Vexierbild schlagartig ändern könne.

III. Analyse: Formen tragischen Erzählens in der höfischen Literatur 1. Tragische Schuld: Fehlverhalten und die Folgen Der Aspekt der Schuld ist eine grundlegende Kategorie für die Bewertung einer tragischen Handlung. Mit ihr wird nicht nur das Ursache-WirkungsVerhältnis in den Blick genommen und die Motivierung des Unglücks beleuchtet, sondern es zeigen sich zugleich wesentliche Differenzen verschiedener Tragikkonzepte. Im Gegensatz zu den Formen des Tragischen ist das Kriterium der Schuld in der mediävistischen Forschung bereits intensiv diskutiert worden. Die Frage, inwiefern eine Figur für ihr Unglück verantwortlich ist, lässt sich grundsätzlich für jeden Handlungsverlauf stellen, dem eine negative Entwicklung zugrunde liegt. Exemplarisch werden im Folgenden drei Werke der höfischen Epik herangezogen, in denen das (Fehl-)Verhalten der Protagonisten im Zentrum des literarischen Interesses steht. Dies spiegelt sich sowohl in den Kommentaren des Erzählers als auch in den Reflexionen der Figuren und schlägt sich zudem in anhaltenden Forschungsdebatten nieder. Durch die Wahl von drei Erzählungen, in denen die Protagonisten eine divergierende Haltung einnehmen und sich in ihrer Erkenntnisfähigkeit unterscheiden, soll ein möglichst breites Spektrum an Handlungsoptionen berücksichtigt werden. Der auf die Schuld der Figuren gerichtete Fokus ermöglicht es, auch einen Text aus der Gattung des Artusromans einzubeziehen. Der Chronologie folgend, beginnt die Untersuchung mit dem ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, bevor sie sich dem ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach und dem ‚Nibelungenlied‘ zuwendet. Kriemhilds Anteil am kollektiven Untergang wird ebenso diskutiert wie das Verhalten der männlichen Hauptfiguren der beiden höfischen Romane. Von der Art, wie ein Sturz ins Unglück motiviert und die Schuldfrage beantwortet wird, werden Rückschlüsse auf ein höfisches Tragikkonzept gezogen.

Erecs Fehlverhalten bei Hartmann von Aue

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1.1 Erecs Fehlverhalten bei Hartmann von Aue Die Entscheidung, einen Artusroman zum Untersuchungsgegenstand des Tragischen zu nehmen, erscheint auf den ersten Blick verwunderlich. Die positive Teleologie des Romans, der mit der erfolgreichen Individuation des Helden endet, widerspricht den Erwartungen an den Handlungsverlauf einer tragischen Erzählung ebenso wie die Inszenierung von höfischer Freude, festlicher Geselligkeit und ritterlichem Ruhm. Selbst wenn der Protagonist im ersten Teil des Romans zu großen weltlichen Ehren gelangt und ihm am Ende der gesamten Handlung sogar ewige Seligkeit versprochen wird, hat sein Glück jedoch innerhalb der Erzählung keinen dauerhaften Bestand. Vielmehr nimmt der Weg des jungen Erec nach einem verheißungsvollen Beginn eine überraschende Wende, bei der der Held all sein Ansehen verliert. Wie sein Vorgänger Chrétien de Troyes, dessen altfranzösischer Roman ‚Erec et Enide‘ der ersten deutschen Version eines Artusromans zugrunde liegt, widmet Hartmann von Aue einen Großteil seiner Erzählung den Entbehrungen seines Helden. Diese negative Entwicklung bietet den Ansatzpunkt, die Motivierung des Unglücks im Artusroman zu untersuchen und daraus Rückschlüsse für ein Tragikverständnis zu ziehen. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei Erecs Fehlverhalten, das sich nicht nur auf die berühmt-berüchtigte Szene des Verligens in Karnant beschränkt. Das Erkenntnisinteresse dieser Studie ermöglicht sowohl, den vortrefflichen Artusritter aus einer ungewöhnlichen Perspektive wahrzunehmen, als auch den Aventiuren des zweiten Kursus mehr als eine strukturelle Bedeutung abzugewinnen.1 Handlungsstruktur: Vom angesehenen König zum rastlosen Fremden Erec wird als unerfahrener Junge in den Roman eingeführt.2 Als der unvollständig überlieferte Text einsetzt, befindet er sich in der Gesellschaft der Königin und ihrer Frauen, statt mit König Artus und seinen Rittern einen Hirsch zu jagen. Der Versuch des jungen Protagonisten, im Namen der Königin aufzutreten und ihr Recht einzufordern, misslingt. Auf seine Frage nach dem Namen eines fremden Ritters erhält Erec nicht die gewünschte Auskunft, vielmehr wird er von einem Zwerg vor den Augen der Königin ebenso mit der Peitsche geschlagen wie zuvor eine ihrer Hof_____________ 1

2

Zur Struktur des Artusromans grundlegend vgl. Kuhn, Erec. Vgl. auch Mertens, Artusroman, S. 49–63; Simon, Einführung, S. 1–34. Zur Kritik vgl. Schmid, Weg mit dem Doppelweg. Zu Erecs Entwicklung vgl. auch die genderspezifische Deutung von Klein, Geschlecht.

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damen. Diese entehrende Behandlung kann Erec nicht hinnehmen, weshalb er den fremden Ritter unbewaffnet verfolgt. Eine günstige Gelegenheit, seine Ehre wiederherzustellen, bietet sich bei einem Wettkampf in Tulmein, wo der Ritter für seine Freundin den Schönheitspreis beanspruchen will. Mit der Hilfe seines armen, aber edlen Gastgebers kann Erec die fehlenden Voraussetzungen für den ritterlichen Kampf kompensieren. Er erhält eine Rüstung, Waffen und die an Schönheit nicht zu überbietende Tochter des Edelmanns, Enite,3 der er im Fall seines Siegs die Ehe verspricht. Trotz fehlender Übung gelingt es dem Protagonisten, den gefürchteten Ritter Iders im Zweikampf zu überwinden und so seine Schande zu tilgen. Gemeinsam mit Enite kehrt Erec zum Artushof zurück, wo er ob seiner Heldentat und seiner schönen Begleiterin allgemeine Bewunderung findet. Artus selbst richtet ihr Hochzeitsfest aus, das das verliebte Paar kaum erwarten kann. Auf dem anschließenden Turnier tut sich Erec auch unter den Artusrittern hervor. Während andere noch schlafen, betritt er als erster den Kampfplatz. Den ganzen Tag ist er an verschiedensten Stellen im Einsatz, er allein verhilft der unterlegenen Partei zum Sieg und verlässt als letzter die Turnierstätte. In der Artusgesellschaft erlangt er auf diese Weise höchste Anerkennung: Êrec der tugenthafte man / wart ze vollem lobe gesaget. (2811f.)4 Seine herrschaftliche Erhöhung steht hingegen noch aus. Nachdem Erec sich seiner Auszeichnung als Artusritter würdig erwiesen hat, kehrt er nach langer Zeit ins Land seines Vaters zurück. Über den Anblick seines Sohnes und dessen schöner Frau ist der alte König Lac so erfreut, dass er die beiden schon zu seinen Lebzeiten zu Königen macht: er vuorte si heim ze Karnant unde gap dô sîn lant in ir beider gewalt, daz er ze künege waere gezalt und daz si waere künegîn: er hiez si beide gewaltic sîn. (2918–2923)

Damit hat die Handlung für den jungen Protagonisten ihren Höhepunkt erreicht: Unter großen Anstrengungen hat er ein erstrebenswertes Ziel verwirklicht, einen Aggressor gestraft, in Kämpfen gesiegt, eine Frau gewonnen, Ruhm erworben und eine Landesherrschaft übertragen bekommen. Doch der Roman endet nicht mit diesem Märchenschluss, vielmehr gerät der angesehene junge König in eine tiefe Krise. Unmittelbar nach der Krönung und Herrschaftsübergabe berichtet der Erzähler von einer _____________ 3 4

Zu Enites Schönheit vgl. Schulze, Âmis unde man, S. 17–23. Als Textgrundlage dient die von Albert Leitzmann herausgegebene und von Kurt Gärtner besorgte ‚Erec‘-Ausgabe.

Erecs Fehlverhalten bei Hartmann von Aue

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Verwandlung des Helden, wodurch die Fallhöhe klar markiert wird.5 Während Erec vorher biderbe unde guot (2924) gewesen sei, ritterlîche stuont sîn muot (2925), verändere er nun völlig seine Gewohnheiten. Besonders deutlich wird dies an seinem neuen Tagesprogramm, das in auffälligem Kontrast zu seinem unermüdlichen Einsatz beim Turnier des Artushofes steht. als er nie würde der man, / alsô vertreip er den tac. (2935f.) Erec verbringt fast den ganzen Tag im Bett, nur der Kirchgang und die Mahlzeiten unterbrechen das Liebesspiel mit seiner Frau. Weil der Protagonist keine gesellschaftliche Bestätigung mehr sucht und ausschließlich an Bequemlichkeit interessiert ist, ändert sich das Urteil der Umgebung über ihn: Êrec wente sînen lîp grôzes gemaches durch sîn wîp. […] unz daz er sich sô gar verlac daz niemen dehein ahte ûf in gehaben mahte. (2966–2973)

Unzufrieden verlassen die Ritter und Knappen den Hof, so dass Erec in ein ähnliches Stadium wie vor seiner ritterlichen Bewährung zurückfällt und auf männliche Gesellschaft verzichten muss. Während seine frühere Abwesenheit bei der Jagd der Artusritter jedoch mit seiner Jugend zu erklären war, gibt es für seinen Verzicht auf ehrenwerte Betätigung in Karnant keine plausible Entschuldigung. Daher stürzt Erec in seinem Ansehen tiefer als je zuvor; Männer und Frauen betrachten ihn als verdorben (2982), und seine einstige Wertschätzung verkehrt sich ins Gegenteil. Sein gesamtes Umfeld leidet unter diesem Zustand, weil ein wesentliches Element herrschaftlicher Existenz und höfischer Geselligkeit verloren geht: sîn hof wart aller vreuden bar / unde stuont nâch schanden (2989f.). Anders als die Provokation durch den Peitschenschlag des Zwergs stellt die Schande nun nicht nur Erecs ritterliche Ehre in Frage, sondern legt das Versagen eines Herrschers offen. Nachdem frühere Gefährten den Hof schon verlassen haben und fremde Ritter den Ort wegen seines schlechten Rufes meiden, wenden sich auch Erecs Gefolgsleute von ihm ab. Sie verfluchen die jetzige Situation, wobei sich ihr Zorn in erster Linie auf Enite richtet. si sprâchen alle: ‚wê der stunt / daz uns mîn vrouwe ie wart kunt! / des verdirbet unser herre.‘ (2996–2998) Enite bemerkt den Ärger des Hofes und nimmt sich den itewîz (3001) sehr zu Herzen. Erec, der sich für die heimliche Klage seiner geliebten Frau viel aufmerksamer zeigt als für die Unmutsäußerungen der Gesellschaft, stellt sie zur Rede. Als er von ihrem Kummer erfährt, reagiert Erec unverzüglich. er sprach: ‚der ist genuoc getân.‘ (3052), ohne jedoch sein Vorha_____________ 5

Vgl. auch Mertens, Artusroman, S. 58.

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ben zu erklären.6 Er heißt Enite aufstehen, ihr bestes Kleid anlegen und verlangt zwei Pferde. Nachdem Erec sein Ansehen als Herrscher eingebüßt hat, verzichtet er darauf, sich förmlich von seinem Gefolge zu verabschieden.7 Stattdessen erteilt er Aufträge, die über die geplante Dauer seines Ritts hinwegtäuschen. Ebenso wie der Protagonist auf eine seinem Status angemessene Abreise verzichtet, verhindert er jede Möglichkeit einer weiteren Kontaktaufnahme durch seine Frau. Zwar fordert er Enite auf, ihn zu begleiten, befiehlt ihr aber, unter Androhung, sie andernfalls zu töten, vorauszureiten und ihn nicht anzusprechen.8 Von der Gesellschaft ob seines Lebenswandels verachtet, seine Landesherrschaft heimlich verlassend und seine Frau gewaltsam von sich fernhaltend, geht Erec sozial isoliert auf eine Reise ins Ungewisse. Erecs Distanzierung von Enite, deren Liebe das Zentrum und den Sinn seines Lebens in Karnant bildete, verstärkt sich in den folgenden Aventiuren. Wiederholt bricht Enite das Gebot ihres Mannes, indem sie ihn vor einer Gefahr warnt. Erec rügt seine Frau scharf für ihr Verhalten, mit dem sie ihre unverbrüchliche Treue und Liebe offenbart. Zwar sieht er von ihrer Tötung ab, erniedrigt sie aber, indem er die höfische Dame zum Pferdedienst zwingt: ich enwil iuwer ze knehte / ze dirre reise niht entwesen (3276f.). Nach der zweimaligen Begegnung mit Räubern, die von Erec geschlagen werden, muss Enite zunächst drei, dann acht Pferde führen.9 Gezielt achtet Erec darauf, ihr die Anstrengung nicht zu erleichtern: er liez ez durch ir swaere (3579). Die Größe ihres Leidens, zu dem ihr Mann sie verdammt hat, kommt besonders deutlich in dem Vergleich mit einer Seele im Fegefeuer zum Ausdruck. Analog zu deren Erlösung von den Höllenqualen wird Enites Erleichterung beschrieben, als sie endlich vom Pferdedienst entbunden wird (vgl. 3650–3653). Die Trennung von Erec ist damit jedoch noch nicht beendet, sondern wird bei ihrer ersten Übernachtung neu inszeniert. Erec duldet keine Annäherung und hebt ihre in Karnant exzessiv ausgelebte Tisch- und Bettgemeinschaft auf. Getrennt von ihm _____________ 6

7

8

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Ein deutlicher Unterschied zur altfranzösischen Vorlage besteht darin, dass Chrétiens Erec seinen Tadlern sofort Recht gibt (vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, V. 2572f.), wohingegen Hartmanns Protagonist kein Schuldbewusstsein zeigt. Zur unterschiedlichen Darstellung insgesamt vgl. Kellermann, Bearbeitung. Wiederum verändert Hartmann die Ausgangsszene. Bei Chrétien (vgl. Erec et Enide, V. 2612–2761) machen sich die Protagonisten mit Hilfe von Bediensteten bereit, verabschiedet sich Erec von seinem Vater und brechen die beiden vor den Augen und unter den Tränen des gesamten Gefolges auf. Hartmann hat Erecs Worte im Vergleich zu Chrétien (vgl. Erec et Enide, V. 2764–2772) deutlich verschärft. In der französischen Version soll Enide nur schweigen, wenn Erec sie nicht vorher anspricht, und ihr wird nicht gedroht, dass sie andernfalls ihr Leben aufs Spiel setzt. – Vgl. auch Scholz, Kommentar, S. 754. Kuhn (Erec, S. 34) spricht bei dem wiederholten Auftritt der Räuber von einem „epischen Doppelpunkt“.

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muss Enite im Gasthaus ihre Mahlzeit einnehmen und schlafen. Selbst als sie sein Leben rettet, indem sie zum Schein auf das Liebesangebot eines Grafen eingeht, erntet sie nur harsche Kritik für ihren Bruch des Redeverbots. Wie in der gestörten Liebesbeziehung offenbart sich Erecs defizitäres Stadium in den Begegnungen mit anderen Figuren. Statt sich ehrenvoll mit Rittern in Turnieren zu messen, muss sich Erec im Wald gegen Räuber verteidigen. Als sich die Möglichkeit einer standesgemäßen Unterbringung bietet, lehnt Erec die Einladung eines Grafen ab. Er hält sich und Enite für so unhovebaere (3636), dass er eine Unterkunft in der Stadt vorzieht. Nachdem zunächst Erec eine Begegnung im höfischen Rahmen verweigert hat, bricht wenig später der Graf die ritterlichen Konventionen. Durch Enites Schönheit um seinen Verstand gebracht, will er dem Fremden die Frau rauben. Noch in der Dunkelheit bricht der König ohne Hof auf, um sich und seine Frau vor dem Übergriff eines Grafen zu schützen. Auf der Flucht wird das Paar jedoch verfolgt, so dass sich Erec mit Waffengewalt zur Wehr setzen muss. Auch das nächste Zusammentreffen mit einem ihm ebenbürtigen Ritter verläuft konfliktgeladen. Zwar grüßt der andere Mann Erec zunächst höflich, fordert ihn dann aber zum Zweikampf heraus. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Protagonist auf seiner Fahrt keine ritterliche Ehre erlangt. Die ausgefochtenen Kämpfe wurden ihm aufgezwungen und dienten der Selbstverteidigung gegen unwürdige Gegner.10 Die erste Gelegenheit, ehrenvoll mit einem Ritter zu kämpfen, lehnt Erec jedoch ab: ir sult ez durch got tuon / und mich mit gemache lân, / wan ich habe iu niht getân. (4359–4361) Seine Bitte begründet er mit dem weiten Ritt und den bereits erlittenen Anstrengungen. Als sein Gegenüber insistiert, stellt sich Erec notgedrungen dem Kampf. Erst nach seiner Verwundung schlägt der Held den kleinen, aber wehrhaften Ritter zurück, der ihn schon für einen Feigling gehalten hat, und siegt. Bereitwillig unterwirft sich sein Gegner und gibt sich als Guivreiz le petit, König von Irland, zu erkennen. Durch den Zweikampf hat Erec einen edlen Freund gewonnen, sich aber zugleich eine schwere Wunde zugezogen.11 Die Einladung an einen Hof nimmt der Protagonist zwar diesmal an, begrenzt seinen Aufenthalt aber _____________ 10 11

Vgl. auch Bumke, Erec, S. 107; Ohly, Heilsgeschichtliche Struktur, S. 81; Scholz, Kommentar, S. 888f. Mehrere Autoren betonen, dass Erecs Wunde sein defizitäres Stadium markiere. Vgl. z.B. Bumke, Erec, S. 45; Schulze, Âmis unde man, S. 33; Wapnewski, Hartmann von Aue, S. 48. – Eine andere Deutung entwickelt Hasebrink (Erecs Wunde, S. 6), der den zweiten Kampf mit Guivreiz als eine Umkehrung des durch die erste Auseinandersetzung hergestellten Überlegenheitsverhältnisses interpretiert. Auf diese Weise werde eine auf Gleichheit basierende Freundschaft ermöglicht und der „Konfiguration des Kampfes mit dem Freund erst ihre spezifische poetische Form“ verliehen.

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auf eine Nacht. Obwohl Guivreiz seine Gäste länger bei sich behalten möchte und Erecs Verwundung eine Verlängerung empfehlen würde, bleibt der Held bei seiner Entscheidung und erklärt: ichn var nâch gemache niht: / swaz ouch mir des nû geschiht, / dar ûf ahte ich niht vil, / wan ich dar nâch niht werben wil. (4576–4579) Dasselbe Motiv führt Erec wenig später gegenüber den beiden Artusrittern an, die er im Wald trifft. Obwohl er seine Identität nicht preisgibt, wird Erec erkannt, woraufhin Artus eigens Boten nach ihm ausschickt. Zwar beteuert der Held seine Ergebenheit, erklärt jedoch auch gegenüber seinem Freund Gawein: ich hân ze disen zîten / gemaches mich bewegen gar. (4977f.) Nur durch eine List gelingt es Gawein, Erec doch zum König zu führen. Als der Protagonist das Artuslager erblickt, kritisiert er den Freund und erläutert, weshalb er den Aufenthalt vermeiden wollte. Wer zum Hof komme, müsse hochgestimmt sein und an der Freude teilhaben können, wozu er momentan nicht in der Lage sei. Stattdessen beschreibt Erec sich als müede unde wunt / und sô unhovebaere / daz ich wol hoves enbaere (5063– 5065). Nachdem die Artusgesellschaft seine Anwesenheit erzwungen hat, verbringt Erec dort die Nacht und lässt sich auch die Pflege der Königin gefallen, die seine Wunde mit einem Zauberpflaster kuriert und für Enites Wohlbefinden sorgt. Die ehrenvolle Behandlung bringt ihn jedoch nicht dazu, sein Urteil zu revidieren und sich als vollwertiges Mitglied der höfischen Gesellschaft zu fühlen. Da seine Wunde geheilt scheint, können ihn am nächsten Morgen keine Bitten und Listen zu einem längeren Aufenthalt bewegen; zum großen Bedauern des Königs setzen Erec und Enite ihre Reise fort.12 Gleichwohl zeichnet sich nach den Begegnungen mit den beiden Königen, Guivreiz und Artus, von denen Erec erstmals nach seinem Verligen in Karnant wieder Wertschätzung erfahren hat, eine Veränderung in seinem Verhalten ab. Während ihn zuvor stets Enite vor Gefahren warnen musste, nimmt Erec nun selbst ein Geräusch wahr.13 Dabei handelt es sich nicht um eine eigene Bedrohung, sondern um Hilferufe, die einem anderen gelten.14 Der am Vortag noch kampfmüde Held entschließt sich sogleich, die Ursache herauszufinden und Beistand zu leisten, wendet sich aber zuvor seiner Frau zu. Schon bei seiner Verwundung zeigte sich Erec empfänglich für Enites Sorge und tröstete sie, statt länger _____________ 12 13 14

Später bestätigt sich Erecs Einschätzung, dass er die Freude der Artusgesellschaft stören wird. Der König ist über seinen Aufbruch so betrübt, dass er die Jagd abbrechen lässt. Fisher (Räuber, S. 363f.) sieht in dieser Episode den Wendepunkt, mit dem Erecs Rückkehr zur Vernunft beginne. Die Bedeutung von Erecs altruistischem Verhalten wird in der Literatur betont. In seinem freiwilligen Eintreten für andere überwinde er eine Stufe, die „ganz durch persönliche, egoistische Motive“ geprägt gewesen sei. Vgl. Oh, Aufbau, S. 42; Scholz, Kommentar, S. 829f., 889. Vgl. auch Campbell, Act of Mercy; Kraß, Mitleidsfähigkeit, S. 291–298.

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zu tadeln. Nun kümmert er sich bereits vor seiner Aventiure um ihren Verbleib. Erec informiert seine Frau über sein Vorhaben, befiehlt ihr zu warten und hilft ihr beim Absteigen vom Pferd. Alleine geht Erec der Angelegenheit nach und befreit den grausam misshandelten Ritter Cadoc aus der Hand zweier Riesen. Der Kampf mit den Bewohnern der Gegenwelt hat Erec jedoch so zugesetzt, dass sich seine Wunde wieder öffnet. Er kann nur mit Mühe zurückreiten und stürzt vor seiner Frau zu Boden, daz er lac vür tôt. (5738) Enite sieht das Ende ihrer Liebe und ihres Lebensglücks gekommen; sie bricht in eine verzweifelte Totenklage aus, die im Entschluss zum Selbstmord gipfelt.15 Nur das plötzliche Erscheinen des Grafen Oringles hält sie davon ab, sich in Erecs Schwert zu stürzen. Von Enites Schönheit beeindruckt, will er die trauernde Witwe heiraten und führt sie gemeinsam mit ihrem aufgebahrten Mann auf seine Burg Limors. Obwohl Enite ihr Einverständnis verweigert, lässt Oringles noch am selben Tag die Hochzeitszeremonie vollziehen. An dieser Stelle ist die Handlung für die beiden Protagonisten an ihrem Tiefpunkt angekommen. Der einst ruhmreiche Ritter wurde in einem nicht notwendigen Kampf so schwer verwundet, dass er seinen Verletzungen erlegen scheint. Noch nicht unter die Erde gebracht, ist seine Frau bereits der Gewalt eines anderen Mannes ausgeliefert. Auch für Enite bedeutet Erecs angenommener Tod den größtmöglichen Verlust. Schon am Tag ihrer Hochzeit bestand ihre einzige Sorge darin, ihn einmal entbehren zu müssen. Selbstlos hat sie auf der Aventiurefahrt wiederholt den eigenen Tod in Kauf genommen, um sein Leben retten zu können. Nun scheinen alle Bemühungen vergeblich und ihre Hoffnung auf Versöhnung nach einer ersten Annäherung gescheitert. Der Roman endet jedoch nicht an dieser Stelle und enthält keinen Tragödienschluss, selbst wenn die Zeit der Entbehrung und das Unglück der Protagonisten noch andauern. Von Enites Schreien, die Oringles gefügig zu machen sucht,16 wird der scheintote Erec wieder zum Leben erweckt. in des tôdes wâne, / und doch des tôdes âne (6590f.), vernimmt er Enites Stimme. Er erwacht wie aus einem bösen Traum und wundert sich, was geschehen ist. Als er erneut Enites Klage hört, springt er auf und stürzt ihr zu Hilfe. Die Hochzeitsgesellschaft erschrickt bei dem Auftreten des tot geglaubten Mannes. Noch in _____________ 15 16

Zu Enites Totenklage vgl. Czerwinski, Glanz, S. 408–415; Knapp, Enites Totenklage; ders., Selbstmord, S. 174–177; Koch, Trauer, S. 175–194. Die Aussage ist in zweifacher Weise lesbar und in jeder Hinsicht gültig: Einerseits will der Graf Enite zur Tischgemeinschaft zwingen, andererseits benutzt sie Oringles als Werkzeug. Sie versucht, ihn so sehr in Rage zu versetzen, dass er sie erschlägt, um auf diese Weise ihren geplanten Selbstmord doch realisieren zu können. – Zu Enites Handeln in dieser Szene vgl. auch Czerwinski, Glanz, S. 416–422.

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blutige Binden gehüllt, wütet dieser mit dem Schwert und erschlägt den Burgherrn. Weil alle Anwesenden fliehen, können Erec und Enite die Burg ungehindert verlassen. Durch dieses Erlebnis, das Enites Treue über Erecs vermeintlichen Tod hinaus erwiesen hat, wird die Distanzierung des Paares endgültig überwunden. Erec entschuldigt sich bei seiner Frau für die auferlegten Mühen, woraufhin sie ihm erleichtert und froh vergibt. Im Unterschied zu seinem Liebesverhältnis ist die Position des Helden in der Gesellschaft noch nicht geklärt. Erec ist der ellende herre (6873), der sich vor der Bevölkerung in Oringles’ Einzugsbereich in Acht nehmen muss. Als Erec eine Gruppe von Reitern hört, will er sich diesen entgegenstellen, um nicht als Feigling zu gelten. Der von ihm gesuchte Kampf endet jedoch erstmals nicht mit einem Sieg.17 Aufgrund seiner großen körperlichen Erschöpfung unterliegt Erec, und nur Enites beherztes Eingreifen rettet sein Leben. Dank ihrem Mitleidsappell merkt Erecs Gegner, wen er vor sich hat, und gibt sich selbst zu erkennen. Zum zweiten Mal hat der Held mit Guivreiz gekämpft, der ihn diesmal eigentlich unterstützen wollte. Erec ist nach dieser Auseinandersetzung so geschwächt, dass sie eine Nacht im Freien verbringen müssen, bevor sie gemeinsam zur Burg des kleinen Königs reiten können. Dass sein Gast sich noch am Leben befindet, werten Guivreiz und sein Gefolge nicht als Selbstverständlichkeit: wan im vil dicke swebete sîn lîp in selher wâge, als ûf des meres wâge ein schefbrüchiger man ûf einem brete kaeme dan ûz an daz stat gerunnen. (7061–7066)

Erec ist nun bereit, so lange am Hof zu verweilen, bis seine Wunde verheilt ist. Obwohl er sehr gut versorgt wird, bedrückt es ihn, warten zu müssen. Durch einen anschaulichen Vergleich macht der Erzähler deutlich, wie wenig sich Erec in der höfischen Umgebung zuhause fühlt. Als ob er sich in einem Wald, âne obedach, / eine âne allen gemach (7246f.), befinde und ungeschützt Wind und Wetter ausgesetzt sei, so dränge es den Helden weiterzuziehen. Ebenso offenbart sich in seinem gedehnten Zeitempfinden, dass Erec seine Abreise kaum erwarten kann; die vierzehn Tage seines Aufenthalts kommen ihm wie mehrere Jahre vor.18 _____________ 17 18

Dass eine Niederlage eines Helden für den Chrétienschen Romantypus außergewöhnlich ist, stellt Scholz (Kommentar, S. 886f.) heraus. Auch für den Rezipienten verzögert sich die Zeit bis zu Erecs endgültigem Aufbruch. Als die Protagonisten schon im Begriff sind, die Burg zu verlassen, widmet Hartmann über 500 Verse der Beschreibung von Enites Pferd, statt die nächste Aventiure zu erzählen. Zu Hartmanns Erzähltechnik allgemein vgl. See, Narrative Digressions; Worstbrock, Dilatatio materiae.

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Nach Erecs Genesung setzt das Paar seine Reise fort, wobei es von seinem Gastgeber begleitet wird. Weil sie an einer Kreuzung den falschen Weg nehmen, gelangen sie nicht zum Aufenthaltsort des König Artus,19 sondern zu der prächtigen, aber bedrohlichen Burg Brandigan. Nachdem Guivreiz voller Sorge zur sofortigen Umkehr geraten hat, häufen sich die unheilsverkündenden Anzeichen. Erec jedoch lässt sich nicht abschrecken und ist fest entschlossen, die gefährliche Aventiure mit dem Namen Joie de la curt zu wagen. Die Stadtbevölkerung und die Burgbewohner, der Burgherr und die achtzig trauernden Witwen, die von den vergeblichen Bemühungen zahlreicher Ritter zeugen, betrauern ihn deshalb schon zu Lebzeiten. Obwohl alle Beteiligten Erec davor warnen, sich mit dem starken Ritter im Baumgarten zu messen, verzagt er nicht. Vielmehr glaubt Erec, nun völlig unverhofft am Ziel seiner Reise angekommen zu sein. Rückblickend bekennt er, seinen bisherigen Weg orientierungslos zurückgelegt zu haben: ich weste wol, der selbe wec gienge in der werlde eteswâ, rehte enweste ich aber wâ, wan daz ich in suochende reit in grôzer ungewisheit, unz daz ich in nû vunden hân. (8520–8526)

In Erecs eigener Interpretation zählen die zuvor bestandenen Kämpfe nicht. Erst in Brandigan meint er eine angemessene Prüfung gefunden zu haben, durch die er seinen ehrlosen Zustand überwinden kann und sein Unglück eine Wende erfährt.20 Weil Erec die Joie de la curt-Aventiure als ein genaedeclîchiu dinc (8537), ein wunschspil (8530) oder ein saelic spil (8538) bezeichnet und ihr so heilsgeschichtliche Bedeutung verleiht, ist die falsche Richtungsentscheidung auch als der Saelden wec (vgl. 8521) gedeutet worden.21 Dass Erec ungeachtet seiner vorherigen Siege nicht davon ausgeht, denselben ehrenvollen Status wie vor seinem Verligen zu besitzen, geht aus seiner Argumentation klar hervor. Gegenüber seinem sorgenvollen Gastgeber betont der Protagonist die ungleichen Voraussetzungen, die der Ritter im Baumgarten und er selbst mitbringen. Während sein Gegner _____________ 19 20

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Wie der Plan, zum Artushof zu reiten, zustande kommt und inwiefern er mit Erecs drängendem Streben nach Ritterschaft in Einklang zu bringen ist, lässt der Text offen. Damit stellt die Aventiure aus der Sicht des Protagonisten seine eigentliche Bewährungsprobe dar, womit sie unabhängig von Kuhns (Erec, S. 35f.) allegorischer Deutung, in der Beziehung von Mabonagrin und seiner Freundin spiegele sich das defizitäre Ausgangsstadium von Erec und Enite, für die Entwicklung der Handlung von entscheidender Relevanz ist. – Ähnlich äußert sich Fisher (Erecs Schuld, S. 162); die Schlussbegegnung sei „das einzige Abenteuer, für das Erec geistig und seelisch richtig vorbereitet ist“. Der Tenor der Rede bleibt selbst dann erhalten, wenn man dieser Konjektur nicht folgen mag. Vgl. auch Scholz, Der hövesche got.

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Tragische Schuld

großen Ruhm genieße, verfüge er selbst kaum mehr über Ansehen: an lobe ich bin verdorben / unz an disen tac. (8553f.) Das Urteil, das der Hof in Karnant über ihn gefällt hat, besitzt in Erecs Augen immer noch Gültigkeit. Den Kampf betrachtet der Held nun als eine einmalige Chance, seine geringe Ehre zu vermehren, wohingegen ihr vollständiger Verlust nicht schwer ins Gewicht fällt. Schon zuvor hat Erec Guivreiz erklärt, dass ihn die drohende Lebensgefahr nicht ängstlich stimmt: sleht er mich, sô bin ich tôt: / daz ist der werlde ein ringiu nôt (8046f.). Erec argumentiert in Brandigan ausschließlich als Ritter, der nach Aventiure sucht und dem Ehrerwerb höchste Priorität einräumt. Wenn er seinem eigenen Leben keinen höheren Stellenwert zuschreibt als dem seines Gegners, zeigt dies, dass er seinen früheren sozialen Status als König für verloren hält. Was Erec als sein größtes Glück betrachtet, interpretiert der Ritter Mabonagrin, der im magisch begrenzten Baumgarten auf seine Gegner wartet, konträr. Er kündigt Erec ein vil leidez spil (9046) an, weil sein Kopf bald die letzte freie Stange neben denen seiner Vorgänger schmücken werde. Bis zu diesem Kampf, der über Leben, Ehre und Glück entscheidet, ist der Handlungsausgang offen. Die Geschichte könnte einen anderen Ausgang nehmen, wenn Erecs bei seinem Versuch der Krisenbewältigung scheiterte und in der erbitterten Auseinandersetzung stürbe. Der endgültige Sturz ins Unglück bleibt jedoch aus, und der Handlungsverlauf nimmt eine positive Wende. Mit dem Sieg über Mabonagrin wird aus dem gescheiterten Helden ein sich bewährender Ritter, der sein Glück in der Fremde erkämpft hat. Diese veränderte Situation spiegelt sich auch in der Wertschätzung seiner Umgebung. Erec, der zeitweilig als völlig verdorben galt, wird als Heilsbringer gepriesen; selbst der unterlegene Mabonagrin dankt ihm für seine Erlösung. Wie Erecs Versagen zum Verlust der höfischen Freude führte, wird diese durch seinen Erfolg erneuert. Nicht nur in Brandigan wird die Freude wiederhergestellt, auch am Artushof mehrt Erec durch seine Rückkehr und die Überführung der achtzig schönen Witwen die allgemeine Freude.22 Ebenso geschieht Erecs Heimkehr nach Karnant ze vreuden sînem lande (10055), ohne dass von der vorherigen Unzufriedenheit noch etwas zu spüren wäre. Seine Krönung allerdings muss nach dem vorherigen Verlust des königlichen Status noch einmal vollzogen werden,23 bevor Erec die Herrschaft von seinem gerade verstorbenen Vater übernehmen und als vorbildlicher Landesvater und Friedensfürst wirken _____________ 22 23

Czerwinski (Glanz, S. 444) betont, der defizitäre Held reintegriere sich nicht in die höfische Gesellschaft, sondern er restituiere sie aktiv und selbstständig. Zur doppelten Krönung und ihrer Problematik vgl. Scholz, Kommentar, S. 991–994.

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kann.24 Nun hat das Glück, das der Protagonist gemeinsam mit seiner geliebten Frau genießt, dauerhaften Bestand und wird nicht einmal mehr innerweltlich begrenzt: Die Erzählung schließt mit dem Ausblick, dass Erec und Enite später von Gott das ewige Leben verliehen wird. Obwohl Hartmanns ‚Erec‘ einen glücklichen Ausgang nimmt, stehen die Krise und die daraus erwachsende Leidenszeit doch im Zentrum, so dass die Erzählung für eine Untersuchung von Motivierungsformen des Unglücks herangezogen werden kann. Handlungsmotive: êre, minne und zorn Erecs Handeln wird zu Beginn des Romans wesentlich durch sein Streben nach Ehre, seine Scham angesichts einer entwürdigenden Behandlung und die Sorge um die Wiederherstellung seines Ansehens bestimmt.25 Den Peitschenschlag des Zwergs empfindet er als schlimmste Demütigung seines Lebens, für die er sich besonders schämt, weil die Königin und ihre Frauen Zeugen dieser unêre (107) geworden sind. Mehrfach betont der Erzähler, dass Erec mit grôzer schame (110) reagiere. Auch seine Gesichtsfarbe und die Rede an die Königin lassen erkennen, wie sehr ihm diese Schande zu schaffen macht. schamvar (112) erklärt Erec, sich vor seiner Rehabilitation nicht mehr in der Gegenwart der Königin aufhalten zu können, und stellt sogar seine Daseinsberechtigung in Frage: und enweiz zwiu mir daz leben sol, / ez ensî daz ich mich des erhol / daz mir vor iu geschehen ist. (126–128) Sein gekränktes Ehrgefühl zwingt ihn, den fremden Ritter zu verfolgen. Obwohl Erec noch nicht weiß, wie er sein Leid rächen kann, sucht er nach einer Möglichkeit. Als sich ihm in Tulmein eine solche Gelegenheit bietet, gesteht er Enites Vater die erfahrene Schande. Er beklagt, grôz laster muoste ich dô vertragen (488), und begründet die Aventiurefahrt mit seiner Intention, daz ich ez gerechen mac (491). Weil Erec auf die Unterstützung des Koralus angewiesen ist, betont er: an iu stât gar mîn êre (585). Welchen großen Wert der Protagonist seinem Ansehen beimisst, wird auch bei der Beschreibung des Zweikampfes deutlich; Leben und Ehre werden untrennbar miteinander verknüpft. Der Erzähler berichtet, dass Erec und Iders ein vil hôhez phant (840) einsetzen: ez galt ze gebenne dâ zehant / minner noch _____________ 24

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Damit unterscheidet sich das Ende von Hartmanns Roman deutlich von dem Chrétiens, der seinen Schluss artuszentriert gestaltet. Vgl. auch Bertau, Deutsche Literatur, Bd. 1, S. 565f.; Schulze, Âmis unde man, S. 43f. Mit der Bedeutung der Ehre als Handlungsmotiv und ihrem negativen Pendant, der Schande, beschäftigen sich viele Forschungsbeiträge. Vgl. z.B. Fisher, Courtly Hero; Krause, Scham, S. 204–207; Maurer, Leid, S. 42–50; Uhle, Todesproblem, S. 29–35, 71f.; Yeandle, ‚schame‘, S. 113–115.

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mêre / wan beide lîp und êre. (841–843) Die am Vortag erlittene Schmach ist nicht nur die Ursache des heftigen Gefechts, sondern dient zugleich als besonderer Antrieb. Erecs Kräfte verdoppeln sich, weil er daran denkt, was ihm ze schanden und ze leide (933) geschah, woraufhin er Iders bezwingen kann. Anschließend ruft der Protagonist das Initialereignis in Erinnerung und fordert seinen Gegner auf, sich in gleicher Weise zu schämen. Als Iders schließlich am Königshof öffentlich seine Schuld und Niederlage bekennt, ist Erecs Ehre vollständig wiederhergestellt. Erec begnügt sich jedoch nicht damit, seine Schande zu tilgen und seinen früheren Status zurückzuerlangen. Auch nach dem Sperberwettkampf gilt der Ehrgewinn als zentrales Motiv seines Handelns. Vor dem Turnier am Artushof überlegt der Held genau, wie er dar sô kaeme / als sînem namen gezaeme (2250f.). Durch sorgfältige Vorbereitungen sucht er, seine fehlende Erfahrung zu kompensieren, und will einen ungünstigen Eindruck unbedingt vermeiden: er vorhte den langen itewîz. (2258) Erecs Bemühungen sind erfolgreich; am Ende des Turniers loben ihn alle Anwesenden ob seiner Tüchtigkeit und stellen ihn als leuchtendes Vorbild dar: des er immer êre hât (2535). Mit der Einschätzung der Unvergänglichkeit seines Ruhms täuscht sich jedoch die Artusgesellschaft. Erec, der bis zu seiner Heimkehr so sehr auf seinen Ruf bedacht war, kümmert sich in Karnant nicht mehr um sein Ansehen. Weil er aller êre […] verphlac (2969f.), schlägt sein Lob ins Gegenteil um: daz man im ê sô wol sprach, / daz verkêrte sich ze schanden (2985f.). Wie bei der Provokation durch den Zwerg spielt sich Erecs Ehrverlust vor den Augen der Öffentlichkeit ab, doch beklagt diesmal nicht der Protagonist, sondern seine Umgebung das Geschehen, das zudem dem Entehrten selbst anzulasten ist: in schalt diu werlt gar (2988). Somit trifft nun genau das Urteil auf Erec zu, vor dem er sich einst fürchtete, doch ohne dass er sich seiner Schande überhaupt bewusst ist. Nur Enite vernimmt den itewîz (3001f.) und empfindet tiefes Bedauern. Erecs Werteempfinden, seine Wahrnehmung und seine Planungskompetenz werden durch sein Verligen nachhaltig erschüttert. Während er die ihm zugefügte Schmach immer wieder beklagte, hüllt er sich bei der selbst verursachten Schande in Schweigen. Sowohl die Motive für seinen Ausritt als auch der Grund für sein Verhalten gegenüber Enite liegen im Dunkeln. Statt die Wiederherstellung seiner Ehre zum Programm seiner Aventiurefahrt zu erheben, verheimlicht er der Hofgesellschaft sein Vorhaben. Auch die Präsentationsweise des Erzählers dient eher dazu, das Erklärungsdefizit herauszustellen, als es zu beseitigen. Mit dem Maßstab der Ehre scheint der Protagonist seine gesamte Orientierung einzubüßen, wie sein späteres Bekenntnis nahelegt. Erec ist nâch âventiure wâne (3111) aufgebrochen, ohne genau zu wissen, wonach er sucht und was er erreichen

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will.26 Dass er die Herausforderung des kleinen Königs zum einzigen ehrenvollen Kampf der ersten Triade des zweiten Kursus nicht annehmen will, passt wenig zur Intention, Abenteuer bestehen zu wollen, und dokumentiert Erecs Antriebs- und Planlosigkeit. Bis er nach Brandigan gelangt, spielen Schamempfinden und Ehrgefühl als Leitkategorien seines Handelns kaum eine Rolle. Erst in der Joie de la curt-Aventiure sind Erecs Entscheidungen wieder ebenso von der Furcht vor Schande und dem Streben nach Ehre geprägt wie zu Beginn des Romans. Schon beim Anblick der Burg verhindert seine Sorge, als Feigling gelten zu können, die sofortige Umkehr. Auf die Warnung von Guivreiz, der ihm genauere Informationen gerne vorenthalten würde, entgegnet Erec: ich müeste mich wol immer schamen, / solde ich vürhten ichn weiz waz. (7989f.) Als sie in der Burg eingekehrt sind, reflektiert der Protagonist erstmals, in welchem desolaten Zustand sein Ansehen sich bis jetzt befunden hat: Er kontrastiert mîne kranken êre (8556) mit dem großen Ruhm des Ritters im Baumgarten und erklärt, mîn êre enwege ringe (8549). Erecs Hoffnung, mit dieser Aventiure unübertrefflichen Ruhm zu gewinnen, bestätigt der Burgherr implizit, als er ihn vor der Aussichtslosigkeit seines Vorhabens warnt. Wenn es einen Ritter gäbe, der Mabonagrin besiegen könnte, des êre würde staete, / unde würde ouch erkant / über elliu disiu lant / vür alle ander man (8803–8806). Weil sich ihm eine Möglichkeit bietet, seinen schlechten Ruf in Ruhm zu verwandeln, sieht Erec sich am Ziel seiner Reise angekommen. Der Wunsch, Ehre zu gewinnen und Schande zu vermeiden, bleibt im Zweikampf gegenwärtig. Als Mabonagrin ihm einen heftigen Schlag auf den Kopf versetzt, schmerzen schade und schame (9223) den Protagonisten so, dass er Oberhand gewinnt. Erecs Einschätzung, sich mit einem Sieg vollständig rehabilitieren zu können, erweist sich als zutreffend. Nachdem der Held seinem starken Gegner ein schadelôse schande (9584) zugefügt hat, werden ihm die größten Ehren entgegengebracht. Das Urteil der Burggesellschaft in Brandigan fällt eindeutig aus, ritter, gêret sî dîn lîp! / […] / wis gevreuwet und geprîset, / aller ritter êre! (9669–9574), und auch am Artushof wird ihm der êren krône (9891) zugesprochen. Erecs weiteres Leben gelingt, weil er seine Leitprinzipien nicht mehr aufgibt: niht sam er ê phlac, / dô er sich […] verlac, / wan er nâch êren lebete (10.122–10.124). Weshalb der vorbildliche Artusritter seine Ehre überhaupt vergessen konnte, beantwortet der Text klar. Erec verliegt sich aus Liebe zu seiner Frau. Seit er Enite beim Vorhaben, seine Ehre nach dem Peitschenschlag wiederherzustellen, kennengelernt hat, stellt ihre Beziehung ein zentrales Handlungsmotiv des Romans dar. Bei der ersten Begegnung des Paares _____________ 26

Zum wân bei Hartmann vgl. Bauer, Nâch âventiure wâne.

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lenkt der Erzähler die Aufmerksamkeit auf Enites Schönheit, die durch ihre zerschlissene Kleidung hindurch strahlt. Auf das Geheiß ihres Vaters kümmert sie sich um das Pferd ihres Gastes, was Erec genau bemerkt und Mitleid mit ihr empfindet: Êrecken muote ir ungemach. (342) Weil eine schöne Frau unverzichtbare Bedingung für seinen Racheplan ist, bittet Erec seinen Gastgeber darum, dass ihn Enite zum Sperberwettkampf begleiten darf. Zur großen Überraschung und Freude von Koralus verspricht Erec als Gegenleistung, Enite im Fall seines Erfolgs zu heiraten: ob mir alsô gelinge / daz mir der sige belîbe, / sô nim ich si ze wîbe (513–515).27 Für Enite beansprucht der Protagonist den Schönheitspreis und vertritt ungeachtet ihrer armseligen Kleidung öffentlich die Ansicht: hien ist niemen schoener dan ir sît (688). Dass Enite für Erec mehr bedeutet als die Möglichkeit, Iders herauszufordern, wird beim Zweikampf deutlich. Nicht nur der Gedanke an die erlittene Schmach, sondern auch der Blick auf seine neugewonnene amîe stärkt Erec im Kampf. Nach dem Sieg erfolgt eine erste körperliche Annäherung, wenn daz kint vrouwe Ênîte (1317) den Helden gemäß höfischem Brauch in seinem Schoß ausruhen lässt. Auf ihrem Ritt zu König Artus verdichten sich die Gefühle der Protagonisten füreinander. Nachdem ihre gegenseitige Aufmerksamkeit und eine erste Zuneigung bereits in Szene gesetzt geworden sind, beginnt bei einem intensiven Blickwechsel auf der Heide ihre Liebe.28 Erec und Enite schauen sich immer wieder an, gefallen sich gegenseitig immer besser und sind ganz von Liebe erfüllt: dô wehselten si vil dicke die vriuntlîchen blicke. ir herze wart der minne vol: si gevielen beide ein ander wol und ie baz unde baz. dâ envant nît noch haz ze blîbenne dehein vaz: triuwe und staete si besaz. (1490–1497)

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Welche Motive Erec zu diesem Angebot veranlassen, ist in der Forschung umstritten, vgl. den Überblick von Scholz, Kommentar, S. 646f. – Zwar ist an dieser Stelle noch nicht von Liebe die Rede, doch werden Erecs Anteilnahme und sein Interesse an Enite schon in Szene gesetzt. Scholz (Kommentar, S. 675) ist zwar zuzustimmen, dass Erec Enites Attraktivität nicht erst jetzt bewusst wird (gegen Gottzmann, Artusdichtung, Bd. 1, S. 73), doch kann nicht von einem Stadium der sich steigernden Liebe gesprochen werden. Statt eine unbewusste Liebe zu unterstellen, obwohl der Erzähler den Begriff minne vermeidet, sollte besser zwischen der inneren Disposition der Protagonisten für die Liebe und ihrem tatsächlichen Anfang auf der Heide unterschieden werden.

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Am Artushof, wo Enite von der Königin neu eingekleidet wird und größte Bewunderung findet,29 verstärken sich die Empfindungen der Protagonisten. Enites engelgleiche Schönheit und Güte bewirken, daz Êreckes gemüete / vil herzenlîche nâch ir ranc. (1845f.) Der Held sehnt sich nach dem körperlichen Vollzug ihrer Liebe und kann es kaum erwarten, bis es Abend wird. Enite empfindet heimlich dasselbe Verlangen, so dass nur die fehlende Gelegenheit die beiden davon abhält, ein vil vriuntlîchez spil (1856) zu beginnen. Der Erzähler liefert eine Erklärung für dieses Verhalten und führt es auf das Wirken der Minne zurück: dâ was der Minnen gewin: / diu Minne rîchsete under in / und vuocte in grôzen ungemach. (1858–1860) Nur wenn ihre Liebe eine sexuelle Erfüllung findet, das machen beide Protagonisten in ihrer Gedankenrede deutlich, können sie jemals wieder froh werden. Als ob die Darstellung ihrer Leidenschaft nicht schon aussagekräftig genug sei, stellt der Erzähler eigens heraus, dass es sich um eine andere Liebe als die eines Kindes zur Mutter handle. Die Hochzeit beendet Erecs und Enites Leid, wobei mit dem Ausblick auf ihr langes Zusammenleben noch einmal die Intensität ihrer Zuneigung betont wird: ir wunsch wart volleclîche wâr, / wan zwei gelieber wurden nie (2207f.). Bei der ersten Trennung des Paares, als Erec zum Turnier der Artusgesellschaft aufbricht, wird ihre gegenseitige Liebe mit dem Motiv des Herzenstausches inszeniert.30 Während der vil getriuwe man beim Abschied ir herze vuorte […] mit im dan, bleibe das seine bei seiner Frau zurück, versigelt in ir lîbe (2364–2367). Auf dem Turnier dominiert zwar Erecs Streben nach Ruhm, gleichwohl gerät seine Liebe zu Enite nicht völlig in Vergessenheit.31 Am Ende fordert Erec einen Ritter zu einem letzten Zweikampf durch sîner âmîen êre (2769) auf. Ehre und Liebe stehen für Erec somit am Artushof noch nicht in einem Konkurrenzverhältnis,32 was sich erst an seinem eigenen Königshof ändert. Die Minne gewinnt dort so sehr an Gewicht, dass der Held andere Werte aus den Augen verliert. Während Erec und Enite in der Artusgesellschaft die ersehnte Liebesvereinigung nach den vorgesehenen Tageszeiten _____________ 29

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Durch die Einkleidung der Königin wird Enite besonders ausgezeichnet. Wie Erec erst mit seiner Rückkehr an den Artushof vollständig rehabilitiert ist, wird Enites Armut dort überwunden. – In der Forschung wird Erecs frühere Ablehnung eines Kleiderwechsels unterschiedlich interpretiert, vgl. Scholz, Kommentar, S. 677. Hartmann verschiebt Chrétiens Herzensmotiv (vgl. Erec et Enide, V. 4194) vom Ritt zum Artushof auf die erste Trennung des Paares und wandelt es vom Raub zum Tausch. – Vgl. auch Quast, Ehe, S. 169f.; Scholz, Kommentar, S. 717. Vgl. auch Scholz, Kommentar, S. 724. Anders sieht dies zeitweilig bei Enite aus. Ihre Reaktion, als sie von Erecs Ruhm erfährt, ist zunächst zwiegespalten. Einerseits freut sie sich über sein Ansehen, andererseits schmerzt sie der Gedanke, ihn ob seiner Kühnheit verlieren zu können, bis ihre Freude letztlich siegt (vgl. 2826–2851).

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ausgerichtet haben, beschränken sie ihr Liebesspiel in Karnant nicht auf die Nacht. Vielmehr bleibt Erec morgens bis zum Beginn des Gottesdienstes im Bett liegen, daz er sîn wîp trûte (2938), und zieht sich nach dem Essen sofort wieder zurück: mit sînem wîbe er dô vlôch / ze bette von den liuten. / dâ huop sich aber triuten. (2949–2951) Dort hält sich Erec solange auf, unz er ze naht ze tische gie (2953), woran im Tagesablauf die – in der Erzählung nicht mehr erwähnte – eigentliche Schlafenszeit anschließt. Ursache für Erecs gesellschaftsfeindliches Verhalten ist die Beziehung zu seiner Frau, wie der Erzähler unmissverständlich feststellt: die minnete er sô sêre (2968), dass er seine Ehre aufs Spiel setze. Auch das Urteil der Gesellschaft deckt sich mit der wiederholten Begründung des Erzählers, dass der Protagonist durch sîn wîp jegliches Ansehen verliere (2967, vgl. 2970, 10.123). Enite steht im Mittelpunkt der höfischen Klage. Wäre sie nicht an den Hof gekommen, dessen sind sich Erecs Leute gewiss, hätte sich ihr Herr nicht negativ verändert. Aufgrund seiner sozialen Isolation kann der Held nur durch Enite von seinem schlechten Ruf erfahren. Ans Licht gelangt Erecs Schande am Ort seines Fehlverhaltens. nâch ir site (3013) haben sich die Protagonisten mitten am Tag in ihre Kammer zurückgezogen. Erec liegt im hellen Sonnenschein in den Armen seiner Frau, als diese an die Verachtung des Hofes denken und tief seufzen muss. Mit Enites Geständnis endet die intime Abgeschiedenheit des Paares abrupt und wird der liebevolle Umgang empfindlich gestört.33 Erecs neues Verhalten unterscheidet sich grundlegend von seiner früheren Achtsamkeit gegenüber seiner Frau und muss ihr ebenso rätselhaft erscheinen wie der Hofgesellschaft Erecs Wandel vom ehrenvollen Ritter zum liebestollen Ehemann. Die triuwe und die staete, die das Minneverhältnis der beiden einst auszeichneten, scheint nur Enite zu bewahren, die ihrem Mann ungeachtet aller Drohungen und Demütigungen bedingungslos zugetan ist. Erec hingegen treibt die Trennung von seiner Frau immer weiter. Er distanziert sich räumlich von ihr, indem er erst die Gemeinschaft beim Ritt, dann bei Tisch und schließlich im Bett aufkündigt. Er verbietet ihr jede Kommunikation und bestraft sie für ihren Ungehorsam hart, statt ihren Liebesdienst zu würdigen. Auf die Fragen, weshalb die edle Dame die Arbeit eines Pferdeknechts verrichten muss, betont Erec zwar, dass ihr ungemach seine Berechtigung habe, ohne jedoch einen konkreten Grund anzugeben: jâ enist ez doch niht getân / garwe âne sache. (3591f.) Erst bei seiner Versöhnung mit Enite weiß der Protagonist gegenüber sich selbst ein Motiv zu benennen: ez was durch versuochen getân / ob si im waere ein rehtez wîp. (6781f.) _____________ 33

Cormeau (Hartmann von Aue, S. 188) betont, dass es sich bei der Vertrauenskrise primär um eine Krise des Zweifelnden handle, „dem im Erkenntnisschock in Karnant mit der Sicherheit über sich selbst und sein Handeln auch die Sicherheit in der Minne zerbricht.“

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Auch wenn Erec sich nun in der indirekten Gedankenrede rehte âne wân (6780) sein eigenes Verhalten erklären kann, ist diese späte Begründung nicht ganz einsichtig.34 Vielmehr signalisiert der Erzähler mit den Wendungen, diu swaere spaehe / und diu vremde waehe (6772f.), sein Unverständnis, bevor er von seiner übergeordneten Position aus Erecs früheres Urteil revidiert: âne sache habe der Protagonist seiner Frau diese Strapazen auferlegt (vgl. 6771–6775).35 Während Erec sich sowohl in seinem Ehrverlangen als auch in seinem Minneverhalten als veränderlich gezeigt hat, findet er in Enite ein wîp unwandelbaere (6791). Als der Held dies erkennt, bringt er seine Beziehung wieder in Ordnung. Er hebt die Trennung auf und bittet Enite, daz si wolde vergeben / als ungeselleclîchez leben / unde manege arbeit (6796–6798). Zur vollständigen Liebeseinheit findet das Paar in der Nacht, als es gemeinsam unter einem Baum im Wald lagert, wobei der Erzähler ausdrücklich das Ende des unbescheiden hazze[s] würdigt (7099).36 Dass sich das Streben nach Ehre und das Verlangen nach Minne nicht ausschließen müssen, beweist die Joie de la curt-Episode, in der die beiden Handlungsmotive in Einklang gebracht werden. In der Nacht erfreuen sich Erec und Enite an ihrer Liebe, ohne dass sich der Protagonist von seinem Kampfvorhaben abbringen lässt. Die Minne übt nunmehr keine schädliche, sondern eine förderliche Wirkung auf Erecs Ritterschaft aus, wie er Enite tröstend erklärt. Der Gedanke an sie verleihe ihm so viel Tapferkeit, dass er den Gegner selbst dann besiegen könne, wenn er keine eigenen Voraussetzungen mitbrächte: wan iuwer guote minne / die sterkent mîne sînne (8870f.). Wie schon beim Wettstreit mit Iders bewahrheitet sich Erecs Einschätzung im Kampf gegen Mabonagrin, der bis zum Mittag andauert. Nur weil ihre Frauen ihnen beistehen, versichert der Erzähler, könnten beide Ritter immer wieder Kraft schöpfen. Während Mabonagrin seine Freundin direkt anschauen kann, genügt Erec schon der Gedanke an _____________ 34

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Scholz (Kommentar, S. 873) weist darauf hin, dass die Beweggründe für Erecs Handlungsweise möglicherweise nicht nur für Enite und für die Rezipienten „im dunkeln lagen […], sondern sogar seiner eigenen Ratio nicht zugänglich waren und daß er erst jetzt, im nachhinein, sein Verhalten auf einen vernünftigen Grund zurückführen zu können vermeint“. Einer solchen Deutung zufolge wäre Erecs Weg dann nicht nur einer der Rehabilitation, sondern auch einer der Bewusstwerdung. Scholz (ebd., S. 880) hält fest: „Nichts deutet darauf hin, daß Erec Enite bewußt einer Probe unterzieht […].“ Die Bedeutung des Begriffs âne sache ist in der Forschung viel diskutiert worden, die Erklärungen wechseln zwischen ‚ohne Begründung‘ oder ‚ohne Grund‘. Wenig Zustimmung hat dagegen Cramers (Soziale Motivation, S. 110) Interpretation gefunden, es handle sich um einen juristischen Akt, „der nicht einfach von einer Privatperson aus eigener Machtvollkommenheit vollzogen werden“ könne. Einen Überblick bieten: Scholz, Kommentar, S. 871–873; Welz, Kabale und Liebe, S. 16f. Schulze (Âmis unde man, S. 39) macht darauf aufmerksam, dass es sich um eine Anspielung auf die erotische Pastourellensituation handelt.

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Enite, um durch ihre Liebe gestärkt zu werden.37 Mit seinem Sieg erfährt Erec die Vereinbarkeit von Minne und Ehre, auf deren Ausgewogenheit er künftig achtet und so ein vollkommenes Glück findet. Während die Beweggründe, die zu Erecs Kampfeinsatz in Tulmein, am Artushof und in Brandigan und zu seinem Verzicht auf ritterliche Betätigung in Karnant führen, klar zu identifizieren sind, bleiben bei seinem Verhalten gegenüber Enite einige Fragen offen. Erst spät reflektiert der Protagonist sein Tun, ohne dass seine Rechtfertigung, er habe seine Frau auf die Probe stellen wollen, völlig zu überzeugen vermag. Ob sich für Enites Redeverbot und die Strafen nicht andere Motive als das einer Versuchung anführen lassen, die ein planvolles Handeln Erecs voraussetzen würde, ist in der Forschung intensiv diskutiert worden.38 Selbst wenn an einen mittelalterlichen Text keine modernen Forderungen narrativer Kohärenz gestellt werden sollten und sich nicht bei jedem Figurenhandeln eine eindeutige Motivation erkennen lässt, so ist die Anwesenheit einer Dame bei der Aventiurefahrt ein zu auffälliges Element, um nicht nach möglichen Gründen zu fragen. Eine Erklärung für Erecs seltsames Verhalten gegenüber seiner Frau dürfte der Affekt des Zorns bieten, der im Handlungsverlauf mehrfach erwähnt wird. Zwar ist der mittelhochdeutsche Begriff zorn anders als im Neuhochdeutschen nicht generell mit einer moralisch zweifelhaften Gefühlsbewegung gleichzusetzen; er kann ebenso den engagierten Einsatz im Kampf oder allgemein einen Streit, eine Auseinandersetzung mit Taten oder Worten bezeichnen.39 Doch charakterisiert diese Art von zorn vor allem Erecs Verhältnis zu seinen Kampfpartnern,40 wohingegen der negativ konnotierte Affekt, der als plötzlicher Unwille oder Wut zu interpretieren ist und eine handlungsrelevante Funktion besitzt, sich vornehmlich gegen Enite richtet. Noch als Enite sich der Liebe ihres Mannes vollkommen sicher sein kann, fürchtet sie seinen Zorn und verheimlicht ihm deshalb die Unzufriedenheit der Hofgesellschaft. Von Erec zur Rede gedrängt, offenbart sie ihm schließlich ihr Wissen, allerdings mit gedinge, / daz er ir daz gehieze, / daz erz âne zorn lieze. (3047–3049) Falls Enite auf diese Weise nur einen verba_____________ 37

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Für eine entscheidende Differenz, die auf die gestärkte innere Bindung Erecs und seiner Frau hindeute, hält dies Schulze (Âmis unde man, S. 41; ähnlich auch Quast, Ehe, S. 175), während Hrubý (Moralphilosophie, S. 206) die Gegenüberstellung zweier abweichender Minnekonzepte zu erkennen meint. Vgl. z.B. Schmid, Band der Ehe, S. 111–113. – Dagegen sieht Willson (Adventure, S. 164) keinen Anlass, an dieser Aussage zu zweifeln. Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 16, Sp. 90–107; Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, Sp. 1150f. Vgl. auch Müller, Spielregeln, S. 203–208; Ridder, Kampfzorn. – Ein solches positives Verständnis schließt Seneca in ‚De ira‘ explizit aus. Vgl. die Auseinandersetzung mit Iders, dem Grafen, Keie, den Riesen, Oringles und Mabonagrin (V. 760, 4207, 4704, 5505, 5521, 6620, 9082).

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len Streit ausschließen wollte, wäre ihre Bedingung erfüllt. Zudem verschweigt der Erzähler, in welchem Gemütszustand sich Erec befindet. Seine Reaktionen zeigen hingegen seinen Unmut deutlich, indem er Enite ein Redeverbot auferlegt und ihre Zustimmung erzwingt: dise kumberlîche spaehe / muoste si geloben dô. / wan si vorhte sîne drô (3103–3105). Nachdem Erec seine Frau für die erneute Übertretung seines Gebots harsch getadelt hat, identifiziert Enite seine Gefühlsregung. Sie führt Erecs Reaktion auf den Affekt des zorns zurück, den sie nun freiwillig auf sich nimmt: noch dulde ich baz iuwern zorn, / dan iuwer lîp waere verlorn, / swaz mir nû von iu geschiht (3416–3418). Dieses Motiv greift Erec auf und setzt seine Frau weiter unter Druck, sollte sie ihre Pflichten als Pferdeknecht nicht erfüllen: wirt einez verlorn, / ir müezet dulden den zorn (3436f.). Auch der Erzähler begründet etwas später Erecs ungewöhnliche Entscheidung, getrennt von Enite zu essen und zu schlafen, mit seinem Zorn: diz was iedoch ein wunder, / daz er durch deheinen zorn / im den muot hete erkorn / daz er ein sô schoene wîp meit. (3955–3958) Die Ursache für die Entstehung dieses Affekts sieht der Erzähler ausschließlich in Enites Ungehorsam auf der Aventiurefahrt, wohingegen ihr Verhalten in der Kemenatenszene nicht in den Blick gerät: wan er verbôt daz ir munt ze sprechenne iht ûf kaeme, swaz si vernaeme, als ich iu ê gesaget hân. doch enhete siz niht verlân: dâ mite hete si in verlorn, sô daz er ir durch den zorn ze geselleschefte niht phlac, wan er sunder âz und lac. (3963–3971)

Erecs Ärger steigert sich, als seine Frau unmittelbar hintereinander zwei weitere Male sein Verbot bricht, um ihn vor den Entführungsabsichten und der Verfolgung des Grafen zu warnen: sîn zorn wart grôz und ungemach / und unsenfter dan ê (4263f.). Doch zieht der Affekt für Enite keine größeren Folgen als eine verbale Züchtigung nach sich. Auch wenn die endgültige Versöhnung noch ausbleibt, verändert sich Erecs Verhalten nach der Flucht vor dem namenlosen Grafen. Seine Einstellung ist nicht länger von seinem Zorn geprägt, und er sucht seine Frau nicht mehr durch Pferdedienst oder demonstrative Trennung zu demütigen.41 Auf seiner Reise wird Erec vom tadellosen Ritter Gawein belehrt, welche negativen Konsequenzen aus dem Zorn erwachsen können. Nachdem der Protagonist die Einladung des Königs zweimal abgelehnt hat und sich nun überlistet fühlt, macht er Gawein massive Vorwürfe und beschuldigt _____________ 41

Enites Leiden dauert jedoch noch an. Erst mit der Versöhung ist diu swaere spaehe (V. 6772) beendet, die Enite unz an den tac (V. 6774) erdulden muss.

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ihn einer missetât (5047). Der Gescholtene hingegen versucht, den Ärger seines Freundes zu beschwichtigen: Gâwein den zorn mit güete rach. (5068) Zunächst macht er Erec auf den zugrunde liegenden Affekt aufmerksam, indem er bittet: herre, senftet iuwern zorn. (5070) Dann betont er ihre Freundschaft und stellt ihm seine weitere Entscheidung frei, macht aber zugleich darauf aufmerksam, dass der Zorn seine Urteilsfähigkeit einschränke. Mit einer allgemeinen Sentenz weist Gawein darauf hin, dass derjenige, der sich vom Affekt hinreißen lässt, seine Übereilung gegenüber einem Freund später bereuen werde: wirt im ein teil ze zorne gâch, / er verstât sich rehtes dar nâch / und hât in lieber dan ê. (5074–5076) Diese Argumentationsstrategie führt zum gewünschten Erfolg. Es gelingt Gawein, Erec versöhnlich zu stimmen. Nach dieser Belehrung spielt der Zorn als negativer Affekt im Handlungsverlauf keine Rolle mehr; der Begriff wird nur noch verwandt, um Erecs heftigen Einsatz im Kampf zu charakterisieren. Forschungsdiskussion: Erecs untragische Schuld In der umfangreichen und kontinuierlich wachsenden Forschungsliteratur zu Hartmanns ‚Erec‘ werden die verschiedensten Deutungsansätze vertreten, diskutiert und verworfen, nur die Kategorie des Tragischen sucht man vergeblich.42 Das in der deutschen Ideengeschichte der Moderne dominierende metaphysische Tragikkonzept hält Literaturwissenschaftler in doppelter Hinsicht davon ab, bei dem Artusroman mit einem Tragikbegriff zu operieren: Zum einen kann Erec kaum als ein Held betrachtet werden, der ohne eigenes Verschulden notwendigerweise ins Unglück stürzt. Zum anderen wird in der Erzählung kein pessimistisches Weltbild entworfen, vielmehr erscheint der Weg der beiden Hauptfiguren von der göttlichen Gnade erleuchtet. Vor allem im zweiten Teil häufen sich die Indizien, die auf die Lenkung eines gütigen Gottes hindeuten, so dass der märchenhafte Schluss weltanschaulich-religiös legitimiert wird. Erecs Leid auf der zweiten Aventiurefahrt lässt sich dementsprechend mit Hilfe eines christlich-mittelalterlichen Interpretationsmodells erklären, dem die „unauflösbare Interdependenz von Strafe und Schuld“43 zugrunde liegt. _____________ 42

43

Die wenigen Ausnahmen beziehen sich auf Enite. So bezeichnet Thoran (Enîtes schuld, S. 260) das Dilemma der weiblichen Hauptfigur, ob sie Erec warnen und damit ihr eigenes Leben riskieren oder besser sein Gebot erfüllen und schweigen solle, als einen „nahezu tragischen konflikt“. – Nach Ansicht von Hrubý (Problemstellung, S. 352) wiederum steigert sich das Schuldbewusstsein der altfranzösischen Protagonistin in ihrer Totenklage „zu der Höhe einer wahrlich tragischen Erkenntnis“. Vgl. auch Firestone, Boethian Order, S. 121 (zitiert S. 122, Anm. 109). Cramer, Soziale Motivation, S. 98.

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Die Frage, worin Erecs Schuld besteht bzw. was sie ausmacht, ist in der Forschung umstritten.44 Wenig Resonanz gefunden hat Hugo Kuhns Deutung, der den ‚Erec‘ im „architektonischen Sinne“ als einen „Thesenroman“ versteht und daraus eine subjektive Schuldlosigkeit des Protagonisten ableitet: „Es gibt darum nur einen Schematismus, keine Charaktere, nicht Schuld und Sühne.“ Wenngleich Kuhn einschränkt, zumindest nicht im Sinne moderner psychologischer Subjektivität, so mindert er den Anteil der Hauptfigur doch deutlich: „Die Schuld Erecs ist objektiv: sie wird ihm nicht psychologisch zugerechnet – sie ‚geschieht‘ ihm.“45 Im Unterschied zu Kuhns strukturalistischem Ansatz vertreten die meisten Interpreten die Auffassung von Erecs subjektiver Schuld, die sie anthropologisch, moralisch, religiös, sozial, politisch oder auch psychologisch begründen. Im Zentrum dieser Deutungen steht Erecs Verligen in Karnant, doch schon in der Gewichtung dieser Szene lässt sich keine Einigkeit erzielen. Ist Erecs ständiger Rückzug ins eheliche Schlafgemach sein eigentliches Vergehen oder nur das Symptom einer tiefer liegenden Krise, die es in der Vorgeschichte ausfindig zu machen gilt? Für beide Positionen lassen sich Vertreter finden, die Erecs Fehlverhalten jeweils unterschiedlich bewerten. Einige Interpreten kritisieren, die minne des Helden sei sündhaft, weil sie nicht nur, wie in der paulinischen Ehelehre vorgesehen, als remedium concupiscentiae diene, um das fleischliche Begehren im Zaum zu halten. Da die Begierde in Erecs Beziehung zu Enite zum Selbstzweck werde, sei sein sexuelles Verlangen verwerflich, meint etwa Jürgen Wolf.46 Ganz auf den Trieb reduziert erscheint die Minne in Irmgard Gepharts psychoanalytischer Lesart. Sie beschreibt Erecs Verligen als „hemmungslos aneinanderhingegebenes Wohlleben zwischen Genuß und Bequemlichkeit“, das aus einer „gesellschaftsfeindlichen Triebhaftigkeit“ und der mangelnden Überführung einer Fremd- in eine Selbstkontrolle resultiere. Während die Begierde der Protagonisten vor der Hochzeit durch die Institution des _____________ 44

45 46

Deutlich mehr Aufmerksamkeit gefunden hat Enites mögliche Schuld, die als crux interpretationis beurteilt worden ist (vgl. Cramer, Soziale Motivation, S. 97). Die Spannweite der Urteile reichen von einer engagierten Verteidigung einer der „reinsten Frauengestalten in Mittelalter und Neuzeit“ (Kuhn, Erec, S. 48) über eine Differenzierung zwischen ihrer subjektiven Unschuld und objektiven Daseinsschuld (vgl. z.B. Hrubý, Problemstellung, S. 354f.) bis hin zu ihrer Anklage und einem Schuldspruch. Enite wird vorgeworfen, dass sie ihren Mann nicht zur ritterlichen Betätigung angehalten oder sich am Liebesspiel „allzu willig“ beteiligt habe (vgl. Mayer, Vil vriuntlîchez spil, S. 15). Mehrfach wird auch ihr Schweigen in Karnant problematisiert und als Vertrauensmangel oder strafwürdiges Vergehen gewertet, vgl. Bußmann, Sprache; Quast, Ehe, S. 166; Thoran, Enîtes schuld, S. 262; Welz, Kabale und Liebe, S. 14. Kuhn, Erec, S. 46f. Vgl. Wolf, Einführung, S. 59. Zum kirchlich-kanonistischen Diskurs vgl. Haug, Höfische Liebe, S. 17–20. Nach Bumkes (‚Erec‘, S. 106) Ansicht scheint die Liebe der Protagonisten fast „eine Parodie auf die zeitgenössische Ehe-Theologie“ zu sein.

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Hofes im Zaum gehalten worden sei, breche sich „nun das Triebleben des Paares im eigenen Herrschaftsbereich Raum“. Ursache für Erecs Fehlverhalten ist nach Gepharts Ansicht ein „kaum beherrschbare[s] kreatürliche[s] Begehren[]“, das die Hauptfiguren erst dann steuern könnten, nachdem sich die „Fremdherrschaft zu verinnerlichter Selbstherrschaft“ gewandelt habe.47 Ursula Schulze hingegen kritisiert zu Recht Deutungen, die die sexuelle Komponente der Minne generell als schuldhaft werten. Zwar betrachtet auch sie das Verligen als „Konsequenz der allmählich wachsenden erotischen Faszination“, betont jedoch, dass die erotische Dimension keinesfalls diskriminiert werde. Vielmehr zeige Hartmann die „verhängnisvolle Wirkung“ der Liebe „für den Fall, dass sie andere Persönlichkeitskomponenten dominiert.“ Die Destruktion der ritterlichen Persönlichkeit sei nicht das Ergebnis „einer starken oder grundsätzlich problematischen Bindung, sondern der totalen Fixierung von Bewußtsein und Verhalten auf minne und gemach.“ Auf diese Weise gerate der Zweck, um dessentwillen die Ehe geschlossen wurde, die Wiederherstellung der Ehre, in Vergessenheit, was in die Isolation und zum Verlust der gesellschaftlichen Anerkennung führe. Schulze unterscheidet klar zwischen der sinnlich erfüllten Liebe, die positiv zu sehen ist, und der völligen Konzentration: „In der Übersteigerung wird ein Wert […] zum Unwert.“48 Andere Interpreten legen den Akzent stärker auf Erecs mangelnde Erfüllung höfisch-ritterlicher Normen. Wenn man die Gültigkeit dieser Normen nicht in Frage stellen wolle, argumentiert Dieter Welz, dann sei das Verhalten der Liebenden strafwürdig. Weil das Eigenrecht des Individuums dem Recht der höfischen Gesellschaft untergeordnet sei, müsse die asoziale Lebensführung als Verstoß gegen das höfische Lebensideal verstanden werden. Erec sei „fraglos schuldig, da er sich am Allgemeinwohl versündigt“ habe.49 Im Versagen der Protagonisten erkennt H. B. Willson eine Parallele zum biblischen Sündenfall und vergleicht die verlorene Gottebenbildlichkeit des gefallenen Menschen mit dem beschädigten Idealbild der Ritterlichkeit in Hartmanns Roman. Durch das Verligen falle Erec gemeinsam mit seiner Frau aus dem Stand der höfischen Gnade, werde das vollkommene Bild eines Ritters in ihm zerstört und müsse es durch eine Phase des Leidens wiederhergestellt werden.50 _____________ 47 48

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Gephart, Unbehagen, S. 45f., 101f. Schulze, Âmis unde man, S. 21–23. Ähnlich äußern sich Hrubý (Moralphilosophie, S. 200) und Wapnewski (Hartmann von Aue, S. 46). Jener betont, dass „[n]icht die Art der Minne […], sondern das moralische Problem“ im Zentrum stehe, dieser erklärt: „Es kann ein Verhalten, das in sich einen Wert darstellt, zum Unwert werden durch unmâze […].“ Welz, Kabale und Liebe, S. 9f. Vgl. Willson, Sin and Redemption, S. 8.

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Erecs politisches Fehlverhalten als Herrscher und die negativen Folgen für seinen Hof betonen wiederum Joachim Bumke, Peter Czerwinski und Peter Wapnewski. Wie gefährlich Erecs Untätigkeit sei, zeigt der erstgenannte Autor an dem textinternen Vorwurf, der Protagonist verhalte sich so, als ob er niemals ein Mann geworden wäre. Hierbei handelt es sich nach Bumkes Auffassung um den schlimmsten Vorwurf, den man gegen einen Herrscher erheben konnte. Erec gelte als effeminiert, von seinen Begierden beherrscht und komme seiner Verantwortung für das Gemeinwesen nicht mehr nach.51 Während Bumke allgemein mit der Vernachlässigung von Herrscherpflichten argumentiert, problematisieren die beiden anderen Interpreten Erecs mangelnde Erfüllung seiner Repräsentationsaufgaben. So stellt Czerwinski die Ungleichheit heraus, wie der Protagonist seine Frau im Unterschied zu den übrigen Hofbewohnern behandle. Durch „das Übermaß, mit dem er die ehrende Nähe nur eines, eines singulären Körpers“ suche, enthalte er den anderen seine eigene Gegenwart, aber auch die seiner schönen Frau vor. Dezidiert wendet sich Czerwinski gegen ein Verständnis, die sündhafte Minne oder die persönliche Bequemlichkeit der Hauptfigur seien am Verfall des Hofes schuld. Erecs unhöfische Maßlosigkeit bestehe nicht in der „moralisch bedenkliche[n], ‚sexuelle[n]‘ eines Mannes“, sondern in der „ständisch verwerfliche[n], ‚politische[n]‘ eines Landesherrn“. Der Protagonist bringe die vermittelnde höfische Ehrbalance nicht durch seinen übermäßigen Genuss, sondern durch „die Isolation solchen Genusses gegen den Hof“ aus dem Gleichgewicht.52 In ähnlicher Weise betrachtet Wapnewski nicht das Nachgeben gegenüber der Macht des einen höfischen Wertebereichs als solchem oder die unmâze in der Liebe als „die eigentliche Schuld“ Erecs in „ihrer tiefsten Schicht“, sondern die Folgen: Indem Erec den höfischen Wert der Minne von der Welt absondere und ihn „in den isolierten Raum selbstbefangener Ichhaftigkeit“ sperre, statt ihn auf die der vreude bedürftige Gesellschaft zu übertragen, mache er sich schuldig.53 Auch Silvia Ranawake grenzt sich von den Deutungen ab, die Erecs Minne als Ursache für das Fiasko in Karnant anführen. Statt die Verfehlung des Protagonisten auf einen Bereich zu beschränken, betont sie, dass Erecs Krise alle Aspekte seines Lebens betreffe. Ranawake versteht Erecs Verligen im Sinne von Trägheit, einer problematischen Taten- und Antriebslosigkeit, die mit der Sünde der acedia als Wurzel allen Übels in Verbindung stehe. Aufgrund seiner Trägheit scheue sich Erec vor jeder Anstrengung, so dass seinem Lebensstil berufliche, gesellschaftliche und _____________ 51 52 53

Vgl. Bumke, Erec, S. 99. Czerwinski, Glanz, S. 382, 388f. Wapnewski, Hartmann von Aue, S. 50.

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religiöse Verpflichtungen zum Opfer fielen. Die Folgen dieses Verhaltens seien gravierend: „Diese alle Lebensbereiche betreffende Pflichtvergessenheit stellt die ganze soziale und persönliche Existenz Ereks in Frage.“ Zwar betont Ranawake, dass Erecs Verfehlung nicht mit der Sünde der acedia gleichzusetzen sei, da er in erster Linie in der gesellschaftlichen und nicht in der religiösen Sphäre versage. Dennoch erübrige es sich, nach einer anderen Schuld zu suchen; Hartmann thematisiere in seinem Artusroman „die umfassende Gefahr, die die geistige Erschlaffung für den Menschen als Individuum wie als Glied der Gesellschaft darstellt“.54 Alle bisher vorgestellten Forschungspositionen konzentrieren sich auf Erecs Streben nach gemach, das sie aus unterschiedlichen Gründen als problematisch werten. Doch muss der „Konnex zwischen Verfehlung und Buße“ nach Ansicht Thomas Cramers nicht an der Oberfläche liegen, weshalb er Erecs Verligen nur für eine „äußere Manifestation einer tiefer liegenden und zuvor angelegten Verfehlung“ hält. Eine solche Verfehlung meint Cramer in Erecs Wahl seiner Frau zu entdecken, die aus sozialen und religiösen Gesichtspunkten nicht toleriert werden könne. Zwar sei Enite von ihrer Herkunft gleichrangig, stehe aber wirtschaftlich nicht auf gleicher Stufe und sei somit keine standesgemäße Partie. Mit der Entscheidung, dieser Frau die Ehe zu versprechen, handle der Protagonist nicht nur gegen die Gepflogenheiten der adeligen Gesellschaft, sondern verstoße zugleich gegen die göttliche Bestimmung. Dass Erec die Armut von Enites Familie einfach ignoriere, sei nicht nur „eine nonchalante Handhabung sozialer Regeln, sondern eine Mißachtung der von Gott gesetzten Weltordnung“. Weil die Protagonisten eine Ehe außerhalb des Systems der göttlichen Ordnung geschlossen hätten, sei diese zum Scheitern verurteilt. Das Verligen sei somit, folgert Cramer, „nicht Substanz seines Fehlverhaltens“, sondern „Symptom einer verborgenen Krankheit, der bewußten Mißachtung der von Gott verhängten Sozialordnung.“55 Während Cramer Erecs Fehlverhalten in der Vorgeschichte auf eine Einzelentscheidung zurückführt, unterstellen andere Interpreten Erec generell eine unvollkommene oder gar falsche Einstellung. So meint Robert E. Lewis, „that Erec’s dalliance with Enite is not sudden and uncharacteristic behavior, but that it is the culmination of a series of mistakes, miscalculations, misunderstandings, and misjudgements […].“56 Auch Joachim Bumke wertet das Verhalten des Protagonisten nach seiner Entehrung durch den Peitschenschlag alles andere als positiv. Bei seinem Aufbruch scheine Erec nur an sich selbst zu denken, ohne zu bemerken, dass die _____________ 54 55 56

Ranawake, Versäumnis des Helden, S. 19–21, 27f. Cramer, Soziale Motivation, S. 99f., 104f. Zur Kritik vgl. Fisher, Erecs Schuld, S. 160f. Lewis, Knightly Imperfections, S. 152.

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Beleidigung der Königin schwerer wiege als die Schmach eines juncherren. Seine Reaktion wird als „Selbstbezogenheit und Rücksichtslosigkeit“ disqualifiziert.57 In anderen Deutungen wird Erecs fehlende Bewaffnung problematisiert, die eine sofortige Vergeltungsaktion verhindert. Die Waffenlosigkeit wird als „unsoziale[s] Verhalten“ und ein „unritterliches Handeln“58 beurteilt, das Erecs Versagen als Ritter offenbare.59 Weil es sich um eine Verletzung der „Ordnung des Rittertums“ handle, sei darin eine Schuld zu erkennen.60 Dass der Protagonist dennoch „völlig unbesonnen“ seinem Gegner nachfolge und er sich „der außerhöfischen Welt […] vertrauensselig“ preisgebe, wird ebenfalls seinem Schuldkonto angelastet.61 Tadelnswert erscheint in der Forschung ebenso Erecs Entscheidung, Enite vor dem Wettkampf in Tulmein nicht von ihrem Onkel neu einkleiden zu lassen. Seine Weigerung ist als „trotzige Anmaßung“ interpretiert worden, mit der er die mittelalterliche Anschauung von der Bedeutung des Äußeren einer Person „selbstherrlich“ ignoriere. In „geradezu skandalöser Weise“ argumentiere Erec „mit selbstgesetzten, überheblichen Ordnungsvorstellungen“ und schlage das Angebot nach seinem Sieg über Iders sogar zum zweiten Mal „hartnäckig“ aus.62 Damit setze sich der Held nicht nur über gültige Werte der mittelalterlichen Gesellschaft hinweg, sondern handle auch auf Enites Kosten selbstsüchtig.63 Schließlich wird Erecs Teilnahme am Artusturnier nicht in der gesamten Forschungsliteratur als vorbildlich gewertet. Zwar beweise Erec seine ritterliche Überlegenheit, doch wirke seine Handlungsweise zugleich „übertrieben und überzogen“. Er scheine „ganz versessen“ darauf, alle zu übertreffen, und werde „von überzogenem Ehrgeiz“ angetrieben. Dies gipfele in der „törichte[n] Unbesonnenheit“, dass er unvollständig gerüstet in den Kampf reite.64 Vor allem das Vergessen des Helms, das für einen höfischen Ritter ungewöhnlich ist, aber auch seine Tapferkeit demonstrieren kann, wird negativ beurteilt. Das Verhalten gilt als Beweis seines „Ungestüms“, insofern Erec „jugendlich unüberlegt“65 oder gar „immature, […] impetuous, foolhardy, and precipitate“ handle.66 Weil dem Protago_____________ 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Bumke, Erec, S. 23. Gottzmann, Artusdichtung, S. 68. Vgl. Classen, Schweigen, S. 29. Vgl. auch Lewis, Knightly Imperfections, S. 152. Ohly, Heilsgeschichtliche Struktur, S. 61. Vgl. Nayhauss-Cormons-Holub, Kampfszenen, S. 43. Zur Kritik vgl. Scholz, Kommentar, S. 628. Cramer, Soziale Motivation, S. 104. Vgl. Lewis, Knightly Imperfections, S. 154. Zur Kritik vgl. Scholz, Kommentar, S. 651. Bumke, Erec, S. 33. Nayhauss-Cormons-Holub, Kampfszenen, S. 63. Lewis, Knightly Imperfections, S. 155. Zur Kritik vgl. Scholz, Kommetar, S. 722.

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nisten die Einsicht fehle, bei seinem Vorhaben scheitern zu können, sei seine Handlungsweise „immoderate and inconsistent“.67 Gemeinsam ist den Deutungen, die Erec im ersten Kursus eine falsche Einstellung bescheinigen und sein Fehlverhalten in Karnant als logische Folge betrachten, dass sie die Handlung im Sinne eines Entwicklungsromans verstehen. Der Erfolg am Ende des zweiten Kursus wird deutlich höher gewertet als der (Schein-)Erfolg des ersten. So zeigen nach Bumkes Auffassung die „Unklugheiten“, zu denen Erec im Anfangsteil verleitet werde, wie weit er von der Besonnenheit des vorbildlichen Herrschers am Schluss noch entfernt sei.68 Auch Christoph Cormeau erwägt, dass Erec auf seinem Aventiureweg bis Karnant den Kodex höfischen Verhaltens nur „klischeehaft-äußerlich“ praktiziere, wohingegen er seinen Verpflichtungen im zweiten Teil vollständig nachkomme. Der Unterschied zwischen seinem Handeln im ersten und im zweiten Kursus entspreche dem zwischen „bloßer Kopie und wirklicher Aneignung einer Rolle“. Vor allem sein Verhalten am eigenen Königshof erscheint Cormeau rückblickend als „Mangel an ausreichender Erkenntnis über Situation und ethische Postulate“.69 Ebenso umstritten wie die Bewertung von Erecs Verligen und seiner Vorgeschichte ist sein Handeln nach der Offenbarung im Schlafgemach. Stellt sich bei ihm sofort ein Schuldbewusstsein ein und versteht er seine Aventiurefahrt als Sühne, oder bleibt er uneinsichtig und vergrößert mit seiner Reaktion seine Schuld? Die erste Position, dass der Held „schlagartig sein Versagen in seiner ganzen Tragweite“ erkenne und „die Stadien der Verfehlung, Buße und Restitution“ fast übergangslos aufeinander folgten, vertritt Ranawake.70 Darin stimmt sie mit Hugo Kuhn überein, der seine These von Erecs objektiver Schuld mit dessen unverzüglicher Bereitschaft zur Buße begründet: Weil dem Protagonisten seine Schuld nicht psychologisch zugerechnet werde, „sieht er sie […] ja auch augenblicklich ein und nimmt freiwillig die Sühne auf sich.“71 Gegenteiliger Auffassung ist Friedrich Maurer, der das Verhalten des Protagonisten nicht als bereitwillige Sühne, sondern als uneinsichtige Abwehrreaktion deutet. Nachdem Erec von seinem schlechten Ruf erfahren habe, verfalle er „in Trotz“ und mache sich dadurch erst recht schuldig.72 _____________ 67 68 69 70 71 72

Firestone, Boethian Order, S. 120. Vgl. Bumke, Erec, S. 33. Cormeau, Hartmann von Aue, S. 191f. Ranawake, Versäumnis des Helden, S. 34. Kuhn, Erec, S. 46f. Maurer, Leid, S. 44. Auch für Fisher (Erecs Schuld, S. 162) leitet Erecs Reaktion in Karnant eine „Periode der Desorientierung“ ein.

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Von entscheidender Relevanz für die Beurteilung von Erecs Handlungsweise bei und nach dem Aufbruch von seinem Königshof ist vor allem sein Umgang mit Enite. Manche Autoren versuchen, die „brutale Willkür“73 des Helden psychologisch zu ergründen. Dass derjenige, dem eine Bewährung auferlegt ist, glaubt, diese von seiner Partnerin fordern zu müssen, spricht nach Peter Wapnewskis Ansicht nicht für ein reflektiertes Handeln: „Dem modernen Verständnis scheint hier ein typischer Fall von Verdrängung vorzuliegen.“74 In eine ähnliche Richtung zielt Albrecht Classens Deutung, der Held sei zwar bemüht, seine Schande zu kompensieren, projiziere sein Schuldbewusstsein aber auf seine Frau. Weil diese ihm ihr Wissen vorenthalten habe, obwohl sie für sein Vergehen mitverantwortlich sei, lasse Erec sie für seine Schuld büßen.75 Laut Eva Willms lässt das Verhalten des Protagonisten klar darauf schließen, dass er in seiner Liebe gekränkt ist. Statt nachzufragen, Meinungen auszutauschen, gemeinsam zu klagen oder sich zu beraten, gebe es überhaupt keine Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Enite mehr. Der „eben noch zärtliche Liebhaber und Gatte“ breche den Bericht seiner Frau, den er selbst eingefordert habe, „schroff und lieblos“ ab.76 Besonders ausführlich äußert sich Dieter Welz zu dieser Beziehungsproblematik. Er führt die „seelische[n] Grausamkeiten“, die Erec zeitweilig verübe, auf sein „traumatische[s]“ Erlebnis in Karnant zurück. Weil der Protagonist erfahren müsse, wie seine Frau körperlich von ihm abrücke und innerlich Abstand nehme, erleide er eine „seelische Kränkung eigener Art“. Bereits zuvor habe er „seine Verletzlichkeit und Überempfindlichkeit in Ehrensachen“ unter Beweis gestellt und somit gezeigt, dass er „nicht nur als robuster Haudegen, sondern auch als sensibler Mensch höfischen Zuschnitts“ zu charakterisieren sei. Auf das Geständnis seiner Frau reagiere er deshalb „schwer enttäuscht und rachsüchtig“. Aus psychoanalytischer Perspektive sei diese Handlungsweise allzu verständlich: „[D]en Helden [beherrscht] so etwas wie Schuldangst fortan geradzu [!] zwanghaft und mit erzähllogischer Zwangsläufigkeit. Die Angst vor weiteren Übertretungen der objektiv für ihn gültigen Kulturnormen nimmt demnach in dem Augenblick überhand, da Erec sich plötzlich allein gelassen sieht und subjektiv verraten fühlt.“

Welz interpretiert die Hauptfigur in Hartmanns Roman als eine „Verkörperung der autoritären Persönlichkeit“, die für eine kompromisslose Durchsetzung der gültigen Regeln sorgen wolle und dabei zu einer „affektiven Unbeherrschtheit und zwanghaften Strenge“ neige. In Erecs autori_____________ 73 74 75 76

Wapnewski, Hartmann von Aue, S. 47. Wapnewski, Hartmann von Aue, S. 52. Vgl. Classen, Schweigen, S. 32. Willms, Erecs und Enîtes Ausfahrt, S. 67.

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tärem Gebaren zeige sich „eine mimosenhaft empfindliche Reaktion“ auf die gesellschaftliche Kritik an seinem Fehlverhalten, die ihn aus dem Mund seiner Frau besonders hart treffe und zum „Verlust des Selbstwertgefühls“ führe.77 Weniger an einem pathologischen Krankheitsbild als am höfischen Verhaltenskodex ist Rodney W. Fisher interessiert. Seiner Ansicht nach stellt Enites Behandlung ein zweites Vergehen dar, das Erec erkennen müsse, bevor er überhaupt sein Verligen büßen könne. Die späte Erklärung, er habe seine Frau auf die Probe stellen wollen, sei der Versuch einer Rationalisierung, der seine Schuld jedoch nicht mindere. Fisher kommentiert: „Erecs Fehlurteil und die sich daraus ergebende Mißhandlung Enitens bezeugen […] eine nicht weniger ernstliche Unreife im ritterlichen Verhalten als seine Vernachlässigung der sozialen Pflichten in Karnant.“ Als Enite seine Gebote missachte, wisse er „seiner Frustration“ nur „in tobender Wut“ Luft zu machen. Der Protagonist sei derart desorientiert, dass er lediglich „einem primitiven Drang“ nachgeben könne, um „seine männliche Autorität“ durchzusetzen. Weil Fisher Enites Behandlung als eine „unberechtigte, nicht zu rechtfertigende Besessenheit“ wertet, spricht er Erec in zweifacher Hinsicht schuldig: Es handle sich um ein „doppeltes Vergehen, sein verligen und seine Misshandlung Enitens“.78 Vertritt man die Ansicht, dass Erecs Fehlverhalten nicht mit dem Aufbruch von Karnant endet, stellt sich die Frage nach dem Zeitpunkt einer Besserung. Übereinstimmung herrscht bei den Anhängern dieser These darin, dass erst nach der Zwischeneinkehr am Artushof eine Veränderung feststellbar ist. Ob der entscheidende Erkenntnisgewinn jedoch bereits in der Begegnung mit Cadoc, bei Erecs Erwachen auf Limors oder erst nach dem Kampf mit Guivreiz erfolgt, ist strittig. Fisher setzt Erecs Wandel am frühsten an. In der Cadoc-Episode beginne Erec, „aus den Verstrickungen seiner selbstauferlegten geistigen und körperlichen Qual“ hervorzukommen.79 Bumke hingegen betrachtet Limors als den Tief- und Wendepunkt der Handlung, in deren Verlauf Erec „tief hinein in die Schande und noch tiefer“ gelangt sei,80 bis er schließlich als tot gelten müsse. Sein Lernprozess als Ehemann sei erst abgeschlossen, als er verstehe, dass willkürliche Gewalt nicht zu rechtfertigen sei, und er sich bei Enite entschuldige. Maurer wiederum hält den verlorenen Kampf gegen Guivreiz für die entscheidende Wende. Er betont, dass Erecs Unglück nicht von Gott verhängt sei, sondern in seiner eigenen Schuld begründet liege. Weil ihm bei seiner Niederlage die äußerste Unehre zuteil würde, sei nun der Tiefpunkt er_____________ 77 78 79 80

Welz, Kabale und Liebe, S. 18f. Vgl. Fisher, Erecs Schuld, S. 165, 169, 171f. Fisher, Erecs Schuld, S. 171. Bumke, Erec, S. 103.

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reicht. Erecs größtes Leid interpretiert Maurer als „Buße für seinen Trotz, seine Maßlosigkeit, seinen Hochmut“.81 Der Forschungsüberblick zeigt, dass fast alle Interpreten Erecs Leid auf sein eigenes Versagen, sei es durch eine falsche Haltung, eine einseitige Gewichtung von Werten oder fehlende Erkenntnis, zurückführen. In jedem Fall ist Erec selbst für sein Unglück verantwortlich und hätte es durch ein situationsadäquates Handeln vermeiden können. Dieser kausale Handlungszusammenhang zwischen Tun und Ergehen steht dem modernen Tragikverständnis diametral entgegen und erklärt den Verzicht auf tragödientheoretisches Vokabular in den Forschungsbeiträgen. Mögliche Bezüge, die sich zu gängigen Vorstellungen des Tragischen herstellen ließen, werden im Handlungsverlauf widerlegt. Weder ist Erec der Macht der Minne völlig ausgeliefert und wird zum Opfer seiner Leidenschaft, noch gerät er in einen unlösbaren Konflikt zwischen Liebe und Ritterschaft,82 bei dem er notwendigerweise ins Unglück stürzt. Stattdessen zeigen sowohl sein Turniereinsatz am Artushof als auch seine Königsherrschaft am Ende, dass sich liebevolles und ehrenhaftes Verhalten vereinbaren lassen. Ebenso wird der Eindruck von Anstrengung, Schmerzen und Leid, der auf der Aventiurefahrt zu dominieren scheint, schließlich überwunden. Selbst die grausamen Qualen des geschändeten Cadoc oder die tiefe Trauer der achtzig Witwen verwandeln sich am Artushof in Freude. Eine negative Weltsicht liegt dem Roman zweifellos nicht zugrunde. Während finale Tragikmodelle also ungeeignet sind, die Motivierung des Unglücks zu erklären, werfen die kausalen Tragikkonzepte der Antike ein erhellendes Licht auf das Handlungskonzept des Romans. Im Unterschied zur Philosophie des Tragischen kennen die antiken Theorien sehr wohl einen tragischen Helden, der durch eigenes Verschulden ins Unglück gerät, wobei die besondere Wirkung der Tragödie gerade aus der Vermeidbarkeit der Katastrophe resultiert. Anknüpfend an das poetologische Konzept des Aristoteles, kann nicht nur Erecs Sturz ins Unglück begründet, sondern auch sein erfolgreicher Aufstieg als eine ins Positive gewendete Entsprechung erklärt werden.

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Vgl. Maurer, Leid, S. 44–46. Zum Konflikt als Grundproblem des Romans vgl. Wapnewski, Hartmann von Aue, S. 46. Kritik an einer solchen Deutung übt Cormeau (Hartmann von Aue, S. 191). Der harmonische Ausgleich der Werte zwischen ritterlicher Aktivität und Minne sei nur vordergründig die Lösung für Erecs Problem, weil sie weder dem Wechselverhältnis des Paares noch der engen Verbindung beider Werte gerecht werde.

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Tragikkonzept: Erecs Fixierung Erec erreicht den Höhepunkt seines Ansehens im ersten Kursus dadurch, dass er sich stets richtig und angemessen verhält. Selbst als er von dem Zwerg geschändet wird, reagiert er nicht überstürzt, sondern reflektiert, zu welchem Ergebnis sein Handeln führen könnte. Weil er sich unbewaffnet nicht gegen den fremden Ritter zur Wehr setzen kann, gibt er dem Affekt des Zorns nicht unüberlegt nach und verzichtet auf die sofortige Umsetzung seines Rachewunschs.83 Ausdrücklich würdigt der Erzähler diese Handlungsweise als rational und angemessen, daz er wîslîchen / sînem zorne kunde entwîchen. (100f.) Statt sich von einer Leidenschaft beherrschen zu lassen, überlegt Erec immer wieder, wie er sich am besten verhalten soll, bevor er einen Entschluss in die Tat umsetzt. Er bedenkt, dass es zu lange dauern würde, eine Rüstung zu holen, oder erwägt, wo er am besten unentgeltlich und ungestört in Tulmein übernachten kann.84 Ausführlich zieht der Protagonist Erkundigungen über den bevorstehenden Wettstreit, seinen Gegner und die Lage seines Gastgebers ein,85 bevor er einen Plan entwickelt, wie er sich für die erlittene Schmach rächen kann. Dabei behält Erec nicht nur das eigene Leid im Blick. Die schwierige Situation des Koralus, der seine Tochter aufgrund seiner Armut nicht standesgemäß verheiraten kann, weiß er richtig zu deuten und zeigt Mitgefühl mit Enite, die sich mit seinem Pferd abmüht.86 Sorgsam achtet Erec darauf, dass alle notwendigen Vorbereitungen bis zum nächsten Morgen abgeschlossen sind. Wiederholt mahnt er Koralus, alles zu bedenken, und bittet ihn, die Rüstung prüfen zu dürfen.87 In der Auseinandersetzung mit Iders erweist sich Erec als umsichtiger und besonnener Kämpfer. Vorausschauend spart er einen Teil seiner Kraft und den alten Speer seines Schwiegervaters zunächst auf. Mitfühlend tröstet er Enite, die ob des harten Zweikampfes in Tränen ausgebrochen ist. Überlegt verzichtet er darauf, den am Boden liegenden Gegner _____________ 83

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Auf die Bedeutung dieser Szene weist auch Gephart (Unbehagen, S. 19) hin: „Erec hat […] einen Zorn- und Racheimpuls, aber […] er ist Herr seiner selbst und läßt sich nicht zu unbedachten Taten hinreißen.“ Daraus leitet sie die Schlussfolgerung ab, dass „Affektkontrolle als Selbstkontrolle […] offenbar zum […] Verhaltensrepertoire des Artusritters“ gehört. Vgl. auch Czerwinski, Glanz, S. 362. Zum wiederholten Gebrauch des Verbs gedenken vgl. V. 150, 257f., 264. Zu Erecs überlegtem Frageverhalten, das sich in drei Stufen gliedert und stets ein größeres Maß an Vertrautheit voraussetzt, vgl. V. 447–449: den wirt er vrâgen began / waz der schal von den liuten / möhte bediuten; V. 457–459: dô vrâgete er aber vürbaz / von dem ritter maere / ob er weste wer er waere; V. 471: mit vrâge er vürbaz kam / unz im der wirt tete erkant / wiez umbe in selben was gewant. Vgl. V. 342: Êrecken muote ir ungemach; V. 445f.: Êrecken muote vaste / sîn schade […]. Vgl. V. 511, 582, 584, 614–617.

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zu erschlagen, um sich keinen unehrenhaften Vorteil zu verschaffen; stattdessen springt er selbst vom Pferd und lässt Iders aufstehen.88 Dass es dem jungen Helden schließlich gelingt, den erfahrenen Ritter zu schlagen, ist nicht nur seiner Stärke, sondern vor allem seiner Strategie zuzuschreiben. In der ersten Aventiure handelt Erec nie affektgesteuert, sondern reflektiert stets die Konsequenzen seines Tuns und trifft auf dieser Grundlage die richtigen Entscheidungen. Mit seinem Sieg über Iders ändert sich Erecs kluges Verhalten ebenso wenig wie mit dem Beginn seiner Liebe zu Enite. In Tulmein denkt er daran, der Königin Genugtuung zu verschaffen, indem er den Provokateur zu ihr schickt. Er nimmt vorweg, wie sich Koralus fühlen wird, wenn er nicht mehr zu ihm zurückkehrt, und lehnt daher die Einladung des Burgherrn dankend ab. Obwohl Erecs Herz von der Liebe zu Enite erfüllt ist, achtet er gewissenhaft darauf, sein Versprechen gegenüber der Königin einzuhalten. Statt die Reise zu unterbrechen und eine Verzögerung in Kauf zu nehmen, reitet er mit seiner Begleiterin nach dem intensiven Blickwechsel zügig zum Artushof, wan er gelobet hâte / ze komenne an dem selben tage. (1499f.) Am Ziel angekommen, vergisst der Protagonist die bedrückende Situation seines Schwiegervaters nicht, sondern sucht diese durch Geschenke zu bessern. Ausdrücklich wird er vom Erähler für seine Umsicht gelobt: dô gedâhte der tugentrîche / Êrec vil ritterlîche / an sînes swehers armuot (1806–1808). Erecs Reflexionen über das richtige Verhalten finden im Rahmen des Artusturniers eine Fortsetzung. Schon vor Beginn des Turniers stellt der Protagonist zahlreiche Überlegungen an, was für seinen Ruhm förderlich sein könne. Als ihn Artus freigebig unterstützt, weil Erec eigene Mittel zur Ausrüstung fehlen, ist er sorgsam darauf bedacht, die Hilfsbereitschaft des Königs nicht über Gebühr zu beanspruchen. Eingedenk der materiellen Einschränkung bemüht sich Erec, die gegebenen Voraussetzungen möglichst sinnvoll zu nutzen. Auch bei den unmittelbaren Vorbereitungen erweist sich der herre junc unde wîs (2331) als vorbildlich. Er vertraut sich bei der Frühmesse Gott an, mit dessen Unterstützung er schließlich siegt. Die gesamte Verhaltensweise des Protagonisten im ersten Kursus wird vom Erzähler wie von der höfischen Gesellschaft, der Burgbevölkerung in Tulmein, dem Königspaar sowie den Rittern und Damen des Artushofs, als tadellos gewürdigt. Für die Kritik, wie sie in der Forschungsliteratur an Erecs vermeintlichem Egoismus, Ehrgeiz und einer Missachtung der göttlichen Ordnung geäußert wurde, bietet die Präsentationsweise der Erzählung keinen Anhaltspunkt. Auch die Liebe zu Enite wird im ersten Kursus _____________ 88

Wolf (Einführung, S. 52) interpretiert Erecs erbarmen gegenüber seinem besiegten Gegner, der selbst keine Gnade walten lassen wollte, in diesem Sinne: Der Protagonist erweise sich hier einmal mehr als „Prototyp des affektkontrollierten, zivilisierten Ritters.“

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keineswegs disqualifiziert, vielmehr wird Erec durch die Schönheit seiner Geliebten zusätzlich ausgezeichnet. Somit lässt sich der glanzvolle Aufstieg des Helden im ersten Teil des Romans als eine Empfehlung für eine umsichtige und überlegte Handlungsweise lesen. Die Krise des Protagonisten beginnt in dem Moment, als Erec diese Besonnenheit vermissen lässt und nicht mehr die Konsequenzen seiner Taten bedenkt. Weil der Held sich in Karnant nur noch auf seine Liebe zu Enite und ihre gemeinsame Behaglichkeit konzentriert, verliert er alles andere aus den Augen. Seine gesamte Klugheit, die er zuvor immer wieder unter Beweis gestellt hat, richtet er nur noch auf diesen einen Aspekt aus: dô kêrte er allen sînen list an vrouwen Ênîten minne. sich vlizzen sîne sinne wie er alle sîne sache wante zuo gemache. (2929–2933)

Die Fokussierung auf Enite bewirkt eine Veränderung seines Verhaltens, dessen negative Folgen sofort sichtbar werden. Ursache für diesen Ehrverlust ist nicht, dass Erec generell seine Denk- und Handlungsfähigkeit eingebüßt oder sich zu einem schlechteren Menschen gewandelt hat, sondern dass er einen Aspekt verabsolutiert und die Zusammenhänge nicht mehr berücksichtigt. Angekündigt scheint Erecs Fehler bereits am Artushof, als der Erzähler die Macht der Minne herausstellt und einen – in der Forschung aufmerksam registrierten – Vergleich mit einem hungrigen Habicht vornimmt.89 Erec und Enite sehnen sich nach einer körperlichen Erfüllung ihrer Liebe, doch fehlt ihnen noch die Gelegenheit zur Umsetzung. Dabei ergehe es ihnen nicht anders, dan einem habeche, der im sîn maz / von geschihte ze ougen bringet, / sô in der hunger twinget (1863–1865). Dieses Bild ist sowohl dazu geeignet, das Begehren des Paares zu demonstrieren, als auch Erecs Verligen zu veranschaulichen. Der vorher weitblickende Protagonist fixiert sich nun auf die Liebe, für die er seine hohe Position aufgibt und in die Tiefe stürzt. Zum Verhängnis wird Erec jedoch keinesfalls die Art seiner Minne, etwa weil ihr ein sexuelles Jäger-Beute-Schema zugrunde liegt oder ihn ein triebhaftes Verlangen steuert,90 sondern allein deren einseitige Fokussierung, die ihn alle anderen Verpflichtungen vergessen lässt.91 _____________ 89

90 91

Hartmann ersetzt Chrétiens Bild eines dürstenden Hirsches und hungrigen Sperbers (vgl. Erec et Enide, V. 2027–2032) durch den Habicht und verwendet es nicht erst im Kontext der Hochzeitsnacht. Zu den Deutungen dieses Bildes vgl. Scholz, Kommentar, S. 697f. Einen Bezug zum Verligen stellt auch Ruberg (Bildkoordinationen, S. 556f.) her. Gegen Dallapiazza (Emotionalität, S. 180) und Gephart (Unbehagen, S. 41). Vgl. auch Hrubý, Moralphilosophie, S. 200; Schulze, Âmis unde man, S. 22f.

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Betrachtet man Erecs Fixierung als seinen entscheidenden Fehler, wird deutlich, dass dieser mit Enites Geständnis nicht beendet ist. Der Protagonist reaktiviert nicht seine Reflexionsfähigkeit und stellt genaue Überlegungen an, wie er seine Ehre wiedergewinnen könne. Vielmehr bleiben die konkreten Motive und Ziele seines Handelns, über die er im ersten Kursus stets Rechenschaft abzulegen wusste, bei seinem Aufbruch von Karnant unbekannt. Stattdessen schlägt Erecs Verhalten ins andere Extrem um: Die ausschließliche Ausrichtung auf Enite und sein Hang zur Bequemlichkeit verkehren sich zu einer völligen Distanzierung und einer unermüdlichen Rastlosigkeit. So verweigert der Protagonist seiner Frau jede Form von Gemeinschaft, demütigt sie und gibt er sich dem Affekt des Zorns hin. Enites Mühsal lässt ihn ungerührt, weil er sich nur auf seine Wut konzentriert, statt ihre positiven Beweggründe zu erkennen. Dass Erecs Behandlung seiner Frau nicht angemessen ist, führt die Reaktion seiner Aventiuregegner deutlich vor Augen.92 Selbst eine außerhalb der höfischen Welt angesiedelte Figur, ein unehrenhafter Räuber, muss sich über den seltsamen Knecht wundern und darf Erec für sein Verhalten tadeln: man sol si im nemen, daz ist reht (3331). Auch der Erzähler betont die Unrechtmäßigkeit von Enites Pferdedienst, wobei sein Lob der Protagonistin implizit zu einer Kritik an ihrem Mann gerät: swie verre ez wider vrouwen site / und wider ir reht waere, / si leit ez âne swaere (3445–3447). Dass solche Strapazen keiner höfischen Dame zuzumuten sind, problematisieren sowohl der erste Graf als auch sein Knappe, ohne jedoch eine Änderung von Erecs Verhalten zu bewirken oder eine befriedigende Auskunft über seine Motive zu erhalten. Die deutliche Kritik des Erzählers wie seiner Figuren fällt auf Erec zurück, der sich uneinsichtig und unritterlich verhält. Von der Vorbildlichkeit, die er auf seiner ersten Aventiurefahrt an den Tag gelegt hat, ist er noch weit entfernt. Weil Erec das ungemach zu seinem Leitprogramm erhebt, gibt er dem Drängen seines Freundes Guivreiz nicht nach, bis zu seiner Genesung bei ihm zu bleiben, und schlägt er auch die Einladung des Königs Artus aus. Als er gegen seinen Willen doch in das Artuslager gelangt ist, verhindert Gaweins Warnung, dass Erec sich in seinem Zorn zu einem unüberlegten Verhalten hinreißen lässt. Die Notwendigkeit, die Konsequenzen des Handelns zu bedenken, um es nicht später bereuen zu müssen, wird Erec in diesem Gespräch wieder in Erinnerung gerufen. Wenngleich diese Erkenntnis nichts am Bewusstsein des Helden ändert, unhovebaere (5064) zu sein, konzentriert er sich seit dieser Belehrung nicht mehr ausschließlich auf das eigene Unglück. Er ist wieder aufnahmefähig für das Leid anderer, wie die Begegnung mit Cadoc zeigt. Es ist kaum ein Zufall, dass Erec sich _____________ 92

Vgl. auch Fisher, Erecs Schuld, S. 168.

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erst mit Enite versöhnt, nachdem er seine Fixierung auf die eigene Schande gelöst und seine Fürsorglichkeit erneut unter Beweis gestellt hat. Nirgends zeigt sich deutlicher, dass Erec Enite Unrecht getan und somit einen weiteren Fehler begangen hat, als an seiner Vergebungsbitte. Während Chrétiens Protagonist erklärt, seiner Ehefrau nun zu verzeihen und ihre bösen Worte nicht länger übel zu nehmen,93 lastet Hartmann Erec die alleinige Schuld an. Wie der Erzähler bereits mehrfach bemerkt hat, gibt es keinen Grund, der eine solche Behandlung Enites rechtfertigen würde.94 Auch Erec gesteht nach seinem Erwachen aus dem todähnlichen Schlaf auf Limors ein,95 dass er sich gegenüber seiner Frau falsch verhalten hat. Dass er sein Handeln an dieser Stelle als eine Probe deutet, ist weniger für sein Verhältnis zu Enite als für sein Selbstverständnis von Belang.96 Entscheidend an dieser Deutung ist nicht, dass sie alle Unklarheiten hinsichtlich Erecs Motivation beseitigt, sondern dass der Protagonist sich nicht länger von einem Affekt leiten lässt. Er weiß seinem Verhalten eine rationale Erklärung abzugewinnen und aktiviert somit wieder seine Reflexionsfähigkeit. Nachdem Erec seine Fixierung auf einen Teilaspekt seiner Beziehung zu Enite überwunden hat, gibt er nach dem zweiten Kampf mit Guivreiz auch seine strikte Ablehnung gegenüber jeder Form von gemach auf und gelangt zu einem differenzierten Urteil. Zwar ist der völlige Verzicht auf ritterliche Betätigung schändlich, wie er in Karnant erfahren musste. Ebenso kann aber auch ihre Verabsolutierung in Schande führen, weil die mit einem Kampf verbundenen Gefahren nicht berücksichtigt werden. Obwohl Erec weiß, dass er durch seine Wunde benachteiligt ist, harte ringe ist mîn kraft (6884), will er sich dem anrückenden Heer stellen, um nicht als Feigling zu gelten: nû enwil ich ân wer / alsô zagelîchen / ûzem wege niht entwîchen. (6881–6883) Zu Recht stellt Gerhard Wolf heraus, dass Erec nach der Erfahrung des Verligens nun am anderen Ende der Handlungsskala angekommen ist. Er spricht bezeichnenderweise davon, dass der Held ‚verrittert‘ sei.97 Zwar registriert Erec seine körperliche Schwäche, zieht _____________ 93 94 95 96 97

Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, V. 4882–4893. Vgl. Hartmann von Aue, Erec, V. 3103, 6772f., 6778. Zur Wortbedeutung Limors und möglichen Bezügen zur Totenwelt vgl. Scholz, Kommentar, S. 850. Schließlich ist diese Begründung nur in der Gedankenrede formuliert, worauf Jones (Empathy, S. 304) hinweist. Vgl. auch Scholz, Kommentar, S. 879. Vgl. Wolf, Verborgene Kalküle, S. 239. – Ähnlich versteht Wapnewski (Hartmann von Aue, S. 49) Erecs Niederlage als symptomatisch für seine gesamte bisherige Reise: Sie demonstriere, „daß auch in Ereks Aventiurenweg unmâze war, Hingabe an das Extrem, notwendige Einseitigkeit vielleicht – als Gegengewicht zur Einseitigkeit der maßlosen Liebe –, aber doch Einseitigkeit. […] Wer nur liebt um des Liebesgenusses willen scheitert wie der, der nur um der Kampfeslust willen kämpft.“ Ebenso meint Tax (Zum Symbolischen,

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aber aus dieser Erkenntnis keine Konsequenzen für ein situationsadäquates Handeln. Während Chrétiens Protagonist die Begegnung mit den Rittern gerne vermeiden würde und ihnen nur mangels Alternative entgegenreitet, da kein geeigneter Zufluchtsort zu finden ist,98 geht Hartmanns Hauptfigur blindlings das Risiko einer gewalttätigen Auseinandersetzung ein. Der Preis für diesen unbesonnenen Kampfeswillen könnte kaum höher sein: Im Unterschied zu seinem französischen Vorgänger, der nach seiner angemessenen Vorüberlegung nicht in Lebensgefahr gerät,99 wäre Hartmanns Erec erschlagen worden, hätte sich Enite nicht schützend über ihren Mann geworfen. Erst als Erec unterliegt, sieht er ein, dass er sich falsch verhalten hat. Statt über seine Wunden oder über die erlittene Schande zu klagen, bedauert er zutiefst, diesen Kampf provoziert zu haben. Den Sieg seines Freundes betrachtet er als angemessene Strafe für seinen Unverstand: swelh man toerlîche tuot, wirts im gelônet, daz ist guot. sît daz ich tumber man ie von tumpheit muot gewan sô grôzer unmâze daz ich vremder strâze eine wolde walten unde vor behalten sô manegem guoten knehte, dô tâtet ir mir rehte. (7010–7019)

Diese Figurenrede ist eine eigene Zutat des mittelhochdeutschen Autors, der auf diese Weise die Schuld, aber auch die späte Selbsterkenntnis seiner Hauptfigur exponiert.100 Erec übt eine deutliche Selbstkritik, indem er die negative Handlungsfolge auf sein eigenes Fehlverhalten zurückführt. Ohne seine frühere Verwundung überhaupt zu erwähnen, stellt er seine Verhaltensweise als eine Selbstüberschätzung dar. Einen Weg außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets, alleine gegen eine Gruppe gut gerüsteter Rit_____________ S. 290f.), dass Erec „durch sein pausenloses Kämpfen ohne Ausgleich durch Teilnahme am Leben der höfischen Gesellschaft, durch seine überhebliche Selbstisolierung ins genauso zügellose Gegenteil seines früheren verligen umgeschlagen war.“ Vgl. auch Jones, Changing Tack, S. 231f.; Ohly, Heilsgeschichtliche Struktur, S. 81; Quast, Ehe, S. 172; Scholz, Kommentar, S. 888–890. 98 Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, V. 4939–4959. 99 Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, V. 4977–4982. Erecs Verhalten wird jedoch auch von Chrétien nicht idealisiert. Der Erzähler hält den Protagonisten für töricht, weil er sich nicht zu erkennen gibt und gleich den Kampf aufnimmt, vgl. V. 4972f.: de rien nule ne l’areisone, / ne Erec ne li sona mot; / […]. 100 Bei Chrétien bekennt sich dagegen Guivrez schuldig und bittet um Verzeihung, während Erecs fehlende Namensnennung nicht mehr thematisiert wird, vgl. Erec et Enide, V. 5052– 5054: „Amis, relevez sus, / de cest forfet quites soiez, / quant vos ne me conoissoiez.“

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ter verteidigen zu wollen, hätte ihm als ein unmögliches Unterfangen erscheinen müssen. Dummheit und Maßlosigkeit stehen für Erec in einem engen Zusammenhang, weil eine reflektierte Beurteilung der Situation ein solches aussichtsloses Handeln hätte verhindern können.101 Da Erec sein eigenes Verhalten in der Retrospektive differenziert und richtig zu deuten weiß, bekennt er sich zu seiner Schuld und nimmt seine schmähliche Niederlage bereitwillig als Buße an: mîn buoze wart ze kleine, / dô ich alters eine / iuwer aller êre wolde hân: / ich solde baz ze buoze stân. (7020–7023) Erecs erneuerte Fähigkeit, überlegt und angemessen zu handeln, zeigt sich am Ende der Episode, als er zwei Wochen bei Guivreiz bleibt. Obwohl sich der Protagonist nichts mehr wünscht, überstürzt er seinen Aufbruch nicht mehr. Er bezwingt seine Ungeduld und wartet, bis seine Wunde verheilt ist.102 Den Fehler, sich auf einen Aspekt zu fixieren, einem Affekt nachzugeben und die möglichen Konsequenzen einer Tat außer Acht zu lassen, begeht Erec nicht mehr. Die letzte Aventiure ist als ein Gegenentwurf zu Erecs Fehlverhalten im Mittelteil des Romans zu lesen, da der Held nun stets richtig handelt. Sein wundersamer Sieg gelingt ihm, weil er seine vorherigen Fehler vollständig vermeidet und wieder ebenso aufmerksam, klug und besonnen handelt wie zu Beginn. So holt Erec beim Anblick der Burg Brandigan genaue Erkundigungen ein, weshalb Guivreiz diesen Ort unbedingt meiden möchte. Er lässt sich von der diffusen Warnung nicht abschrecken, sondern will die genaue Ursache erfahren, um überlegt entscheiden zu können. Weil sich im Baumgarten weder wilde Tiere noch ein Drache befinden, sondern nur ein Ritter von außergewöhnlicher Stärke, beschließt Erec, die Aventiure zu wagen. Obwohl sich die bedrohlichen Anzeichen mehren, lässt er sich von der Furcht der anderen Beteiligten nicht anstecken, was der Erzähler lobend hervorhebt und einer reflektierten Haltung zuschreibt: Êrec der muotveste / bedâhte sich vroelîch und wol, / alsam der unverzagete sol (8119–8121).103 Auf Brandigan zeigt sich der Protagonist offen für den Schmerz anderer, statt sich ausschließlich mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen zu beschäftigen. Er empfindet tiefes Mitleid mit den trauernden Witwen und hofft auf Gottes Hilfe, um Enite ein ähnliches Schicksal zu ersparen. _____________ 101 Die These, dass es sich nur um einen schoenen list Erecs handle, um Guivreiz zu beruhigen und ihre Freundschaft nicht zu gefährden (vgl. Jones, Changing Tack, S. 239f.; Scholz, Kommentar, S. 889), ist nicht plausibel, da der Kampf sehr wohl vermeidbar gewesen wäre. Vielmehr wird verdeutlicht, dass eine einseitige Konzentration in letzter Konsequenz in die Niederlage führt. 102 Dies erklärt, weshalb Erecs drängender Wunsch nach Ritterschaft bei der gemeinsamen Reise zum Artushof keine Rolle mehr spielt. Wichtiger als die Kohärenz in der Figurenintention ist, dass sich Erec nicht mehr von einem Affekt beherrschen lässt. 103 Zu Erecs mutiger Gesinnung vgl. auch V. 8171, 8425–8427, 8838.

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Bevor er sich auf die Joie de la curt-Aventiure einlässt, versucht er, alle verfügbaren Informationen zu erhalten. So bringt er seinen Gastgeber durch eine List dazu, ihm mehr zu offenbaren, als diesem lieb ist. Dass Erec bei seinem Vorhaben nicht tollkühn, sondern klug handelt, zeigt sich nach Ansicht des Erzählers an seinen nächtlichen Sorgen. Wer sich nicht fürchte, sei kein vollkommener, sondern ein törichter Mensch (vgl. 8619– 8624). Ebenso negativ wie das Fehlen jeglicher Furcht wäre die Feigheit zu beurteilen, von der Erec ebenfalls freigesprochen wird. Übrig bleibt das vernünftige Mittelmaß, die rehtiu vorhte (8626),104 die der Bewahrung des eigenen Lebens dient und der gefährlichen Situation angemessen ist. Auf den schwierigen Zweikampf bereitet sich der Held genauso sorgfältig wie einst auf den Sperberwettkampf und das Artusturnier vor: er tete als die wîsen tuont (8633). Er steht zeitig auf, bittet Gott in der Frühmesse um Beistand, empfängt das Abendmahl und fastet beim Essen. Weder vom unheilbeschwörenden Gerede der Leute noch von den gepfählten Köpfen im Baumgarten lässt Erec sich beeindrucken, sondern er befragt den Burgherrn, wiez hier umbe waere getân. (8778) Enites Ängste versucht er, mit rationalen Argumenten zu mindern,105 und spricht ihr Trost und Zuversicht zu. Als Erec schließlich dem riesenhaften Ritter gegenübersteht, lässt er sich von dessen Aussehen und Drohungen nicht in die Flucht schlagen. Zugleich vermeidet er den Fehler der Selbstüberschätzung, indem er beim Kampf auf Gottes Hilfe vertraut.106 Weil der Held die möglichen Chancen und Risiken genau abgewogen hat, über gute kämpferische Voraussetzungen verfügt, sich gewissenhaft vorbereitet und der göttlichen Gnade überantwortet, kann er schließlich den Sieg erringen. Für die Frage nach der Motivierung des Unglücks lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Tun und Ergehen stehen in Hartmanns erstem Artusroman in einem engen Zusammenhang. Dass Erec sein Ansehen in Karnant verliert, zahlreiche Strapazen auf der Reise erleiden muss, verwundet und beinahe getötet wird, ist auf sein eigenes Versagen zurückzuführen. Mehrfach begeht Erec denselben Fehler, indem er sich auf einen singulären Aspekt fixiert, sei es seine Liebe zu Enite, seinen Zorn oder sein Streben nach Ritterschaft, ohne die damit verbundenen Konsequenzen zu reflektieren. Gerade Erecs zweimaliges Schuldbekenntnis gegenüber Enite und Guivreiz, das Hartmann neu eingeführt hat, zeigt, dass _____________ 104 Zu diesem Begriff und seiner Bedeutung vgl. auch Uhle, Todesproblem, S. 124–128. 105 So weist er darauf hin, dass er noch lebendig vor ihr stehe. Zwar sei der Ausgang des Kampfes ungewiss, doch dürfe er mit Gottes Hilfe auf Sieg hoffen, zumal ihre Liebe ihm Kraft spende (vgl. V. 8839–8873). 106 Vgl. auch Tax, Zum Symbolischen, S. 295. – Nach Brunners (Hartmann von Aue, S. 111) Ansicht zeichnet sich Erec durch seine Frömmigkeit auch später am eigenen Königshof als vorbildlicher Herrscher aus.

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dem Protagonisten die Verantwortung für seine gestörte Liebesbeziehung und seine unehrenhafte Niederlage zugeschrieben wird. Damit liegt dem ‚Erec‘ ein kausales Handlungsmodell zugrunde, das sich zwar deutlich von den modernen Tragikvorstellungen unterscheidet, aber Gemeinsamkeiten mit den antiken Tragödientheorien aufweist. Im Vergleich zur Auffassung des Boethius ist auffällig, dass die metaphysische Instanz, die die erzählte Welt lenkt, nicht zur Motivierung des Scheiterns herangezogen wird. Gott wird als Begründung nur in Anspruch genommen, wenn Erecs Vorhaben glücken. Schon die ersten überlieferten Verse nennen zwei Leitbegriffe, vrümekeit und saelden (V. 3), die für Erecs Handeln charakteristisch sind. Seine eigene Vorbildlichkeit und der Segen Gottes stehen in einem reziproken Verhältnis, das sich stets begünstigend für den Protagonisten auswirkt.107 Sämtliche Erfolge, die er dank seiner Tatkraft erzielt, werden zusätzlich mit der göttlichen Unterstützung erklärt.108 Als exemplarisch kann die Aussage des Erzählers gelten, als Erec den Tiefpunkt seines Unglücks durchlebt hat und seine Situation sich zu wandeln beginnt: nû hete in an der genâden sant / ûz kumbers ünden gesant / got und sîn vrümekeit (V. 7070–7072). Während Gott für den positiven Ausgang entscheidend mitverantwortlich ist und er Erec zu seinen ehrenvollen Taten die nötige saelde schenken muss, wird das Leiden des Helden nie mit dem Willen Gottes in Verbindung gebracht. Das metaphysische Weltbild, in dessen Rahmen die Erzählung eingebettet ist, zeigt einen helfenden Gott, keinen, der Anlass zum Zweifeln bietet und den Protagonisten ohne einsichtigen Grund ins Unglück stürzt.109 Ein final motiviertes Tragikkonzept ist bei Hartmann von Aue somit nicht zu finden. _____________ 107 Zur Rolle Gottes als Heilsspender vgl. Kuhn, Hartmann als Dichter, S. 78. Zum Verhältnis göttlicher Gnade und menschlicher Tüchtigkeit vgl. auch Hrubý, Moralphilosophie, S. 210. 108 Schon beim Abschied von der Königin macht Erec den positiven Ausgang seines Vorhabens von der Zustimmung Gottes abhängig: ist daz mich got sô gêret / daz er mîn heil mêret (V. 138f., vgl. auch V. 490f.). Gegenüber Iders führt Erec seinen Sieg auf die Unterstützung Gottes zurück: doch hât mir got die saelde gegeben (973). Beim Turnierkampf betont der Erzähler: zwô genâde vuocten im daz: / saelde und grôze werdekeit, / die hâte got an in geleit. (V. 2437– 2439) In Limors wird es als Fügung Gottes interpretiert, dass Erec sein Pferd zurückerhält, so dass er und Enite fliehen können (vgl. V. 6713, 6725). In der Joie de la curt-Aventiure wird Erecs Gottvertrauen in seinen Reden vor dem Kampf in Szene gesetzt und sein späterer Sieg als von Gott geschenkte Erlösungstat gepriesen (vgl. V. 9582–9587, 9669–9678). 109 Die einzige Figur, die in eine solche Situation gerät, ist Enite. Ihr Leid wird jedoch gerade nicht als eine göttliche Prüfung legitimiert, sondern Erec angelastet. Dagegen steht Gott Enite in besonderer Weise bei und sorgt dafür, dass sie bei dem Pferdedienst nicht zu Schaden kommt und ihren Selbstmord nicht durchführen kann (vgl. V. 3460f., 6117, 6123, 6130). Missverständlich ist Firestones (Boethian Order, S. 121) Kommentar zu Enites Tötungsversuch: „At this point Hartmann tells us that the apparent tragedy is God’s will […].“ Wie die Autorin selbst ausführt, wird das Erscheinen von Oringles auf diese Weise begründet. Nicht Erecs Ohnmacht, sondern Enites glückliche Rettung entspricht also dem Willen Gottes.

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Dagegen können bestimmte Episoden des Romans im Sinne der antiken Theorien als tragisch gelten. Die Art, wie Hartmann das Leid seines Protagonisten im zweiten Kursus motiviert, entspricht weitgehend dem kausalen Handlungsmodell der Antike. Wenngleich hinsichtlich der Anforderungen an die Geschlossenheit der Handlung und die einheitliche Konzeption eines Charakters nicht zu nivellierende Differenzen bestehen, so ist Erec für sein Ergehen ebenso verantwortlich wie der tragische Held in der ‚Poetik‘ des Aristoteles. Nicht etwa aufgrund einer generellen Schlechtigkeit, sondern wegen eines verständlichen Fehlers stürzt Erec ins Unglück; die möglichen Folgen seines Verhaltens hat er nicht ausreichend beachtet. Aufgrund der besonderen Akzentuierung, die Hartmann im Vergleich zu seiner Vorlage vorgenommen hat, lässt sich gar von einem poetologischen Tragikkonzept sprechen. Indem Erec selbst seine Schuld bekennt und bedauert, wird die kausale Motivation des Unglücks herausgestellt. Im Unterschied zu den antiken Tragödien begnügt sich der mittelalterliche Artusroman freilich nicht damit, ein abschreckendes Beispiel zu geben und die verheerenden Folgen eines Fehlverhaltens darzustellen.110 Hartmann von Aue zeigt an Erecs doppeltem Aventiureweg zudem, wie das Unglück durch kluge Überlegung und angemessenes Verhalten gewendet oder ganz vermieden werden kann. Während die Motivierung des Unglücks den antiken Tragikvorstellungen entspricht, ist Erecs Verhalten bei der Bewältigung der ersten und zweiten Krise antitragisch.111 1.2 Parzivals Sünden bei Wolfram von Eschenbach Im Unterschied zu Hartmanns ‚Erec‘ wird der Weg des Protagonisten in Wolframs ‚Parzival‘ in der Forschungsliteratur häufig als tragisch klassifiziert. Obwohl die Geschichte ebenfalls positiv endet, sind mit Parzivals Handeln verschiedene Implikationen verbunden, die Assoziationen einer modernen Tragikvorstellung wecken. Anlass dazu bietet vor allem die Annahme einer schuldlosen Schuld des Helden. Parzival verstößt gegen die Normen der Artusgesellschaft und erfüllt die Erwartungen der Gralsgesellschaft nicht, ohne jedoch deren Regeln zu kennen. Da Parzival durch sein Fehlverhalten ebenso wie Erec in eine tiefe Krise gerät, die eine Rehabilitierung erfordert und am Ende überwunden _____________ 110 Vgl. auch Wapnewski (Hartmann von Aue, S. 51), der es als die „kritische Programmatik“ des Romans bezeichnet, dass in ihm „eine Warnung vor der Verabsolutierung dieser höfischen Ideologie“ gegeben werde. 111 Erec weist dabei Gemeinsamkeiten mit dem homerischen Odysseus auf, der mögliche Fehler aufgrund seiner weitsichtigen Perspektive vermeidet, was Schmitt (Kommentar, S. 474f.) als antitragisch wertet. Vgl. auch S. 67, Anm. 201.

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wird, lässt sich Wolframs Werk auf die Struktur des arthurischen Romans beziehen.112 Allerdings weist der ‚Parzival‘ so große Abweichungen vom Schema des Doppelwegs auf, dass der Nutzen einer solchen strukturellen Interpretation in Zweifel gezogen worden ist. Statt die einzelnen Stationen dieses Verlaufs, den ehrenvollen Gewinn einer Frau und einer Landesherrschaft, den Verlust des Ansehens und die Wiederherstellung und Überbietung des früheren Status, zu adaptieren, scheint Wolfram die Symbolstruktur aufzulösen.113 Die Verbindung von Artus- und Gralsthematik führt zu einem zeitlich versetzten Ehrverlust in beiden Gesellschaften, und die notwendige Wiedergutmachung wird nicht narratologisch entfaltet; statt Parzivals Kämpfen wird die Aventiurefahrt des tadellosen Artusritters Gawan dargestellt. Entscheidend für das Erkenntnisinteresse dieser Studie ist wiederum die Krise des Helden, deren Ursache und Folgen. Wie Hartmanns Erec gerät Wolframs Parzival in tiefes Leid, das sich zwar nicht als endgültig erweist, sein Gewicht deswegen aber nicht verliert.114 Anders als im ersten deutschen Artusroman beschränkt sich Parzivals Fehlverhalten nicht auf den innerweltlichen Bereich, sondern sein Handeln wird auch religiös gedeutet und als Sünde bezeichnet. Ausgehend von der vieldiskutierten Frage nach Parzivals Schuld, soll erneut das Tragikkonzept eines mittelalterlichen Autors untersucht werden. Handlungsstruktur: Zwischen Isolation und Integration Das Leben des Helden beginnt nicht standesgemäß. Weil seine Mutter Herzeloyde fürchtet, ihr Sohn könne das gleiche Schicksal wie sein Vater Gahmuret erleiden und im Kampf sterben, zieht sie sich mit wenigen Gefolgsleuten in einen Wald, zer waste in Soltâne (117,9), zurück und lässt das Rittertum vor ihm verborgen halten.115 Auf diese Weise wird der Junge an küneclîcher fuore betrogn (118,2), wie der Erzähler im einzigen kritischen Kommentar zu Herzeloydes fragwürdigen Erziehungsmethoden anmerkt. In der Waldeinsamkeit bleibt dem Jungen als einzige seiner adeligen Her_____________ 112 Vgl. Kuhn, Erec; Mertens, Artusroman, S. 49–63. 113 Diese These vertritt Walter Haug, indem er gegen die strukturellen Interpretationen Kurt Ruhs und Dagmar Hirschbergs Stellung bezieht. Vgl. Haug, Symbolstruktur; ders., Literaturtheorie, S. 155–159; Hirschberg, Erzählstruktur; Ruh, Höfische Epik, Bd. 2, S. 55–139, vgl. bes. das Strukturschema, S. 88, 138. 114 Zur Leidproblematik vgl. Maurer, Leid, S. 115–167; Mertens Fleury, Leiden lesen; Schwietering, Parzivals Schuld, S. 51. 115 Als Textgrundlage dient die von Eberhard Nellmann herausgegebene Ausgabe des Klassikerverlags.

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kunft gemäße Beschäftigung die Jagd.116 Zugleich weckt der Gesang der Vögel in ihm eine unbekannte Sehnsucht, die der Knabe nicht einzuordnen weiß, des twang in art und sîn gelust. (118,28) Das defizitäre Wissensstadium, in dem sich Parzival aufgrund der isolierten gesellschaftlichen Lage befindet, wird bei seiner ersten Begegnung mit Rittern anschaulich inszeniert. Anknüpfend an die religiöse Unterweisung seiner Mutter, die ihm Gott mit Hilfe von Lichtmetaphorik beschrieben hat, hält er die unbekannten Männer aufgrund ihrer glänzenden Rüstung für göttliche Wesen. Trotz Parzivals Torheit erkennt Karnahkarnanz die edle Abstammung des Jungen an seiner nicht zu überbietenden Schönheit und bescheinigt ihm: ir mugt wol sîn von ritters art. (123,11)117 Nach dieser Unterredung kennt Parzival nur noch einen Wunsch: Er will zu König Artus reisen, um auch Ritter zu werden. Herzeloyde, die mit Schrecken erfahren muss, dass ihr Erziehungsziel gescheitert ist, versucht mit einer letzten List, ihn von dem Vorhaben abzubringen. Sie gibt ihrem Sohn eine denkbar ungeeignete Ausstattung für den geplanten Aufenthalt am Artushof, ein schlechtes Pferd und die Kleidung eines Narren,118 da sie hofft, er werde so abgewiesen und kehre zu ihr zurück. Zudem versieht die Mutter den Jungen mit verschiedenen Ratschlägen, die er bei seiner Reise getreu befolgen wird, doch ohne den Sinn zu erfassen. Dass ihre vestimentäre Isolierungsstrategie ebenso versagt wie die der Anachorese, erfährt Herzeloyde nicht mehr; nach Parzivals Abreise sinkt sie tot zu Boden. Auf seinem Weg zu Artus trifft Parzival auf zwei Frauen, von denen er die eine, Jeschute, gewalttätig überfällt, um gemäß der Empfehlung seiner Mutter von einer Dame Kuss und Ring zu erhalten. Gegenüber der anderen, Sigune, zeigt er sich hingegen empfänglich für ihr Leid und bietet seine Hilfe an. Erst von ihr, die sich als seine Kusine zu erkennen gibt, erfährt der Held seinen Namen und seine Abstammung. Da Sigune ihm offenbart, sunder valschen list / die rehten wârheit, wer du bist (140,23f.), markiert das Treffen eine wichtige Station auf seinem Weg aus dem sozialen Ödland hin zur Integration in die höfische Gesellschaft. Parzivals Auftritt am Artushof ist durch seine mangelnde Beherrschung höfischer Umgangsformen gekennzeichnet.119 Doch sind die Ap_____________ 116 Vgl. auch Yeandle, Commentary, S. 51. 117 Zu Parzivals Schönheit und deren Schilderung mit transzendentalen Lichtbegriffen, vgl. Cessari, Der Erwählte; Hahn, Parzivals Schönheit; Kraß, Geschriebene Kleider, S. 179–185. 118 Zur Bedeutung der Einkleidungsszenen, die den Individuationsweg des Helden markieren, vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 121–132. Vgl. auch Raudszus, Zeichensprache, S. 100– 138. 119 Schon vor der Ankunft entschuldigt der Erzähler mit einem intertextuellen Verweis das Verhalten seines Protagonisten, dem anders als Gottfrieds Tristan keine vorbildliche Erziehung zuteil geworden sei, in zôch nehein Curvenâl: / er kunde kurtôsîe niht (144,20f.). – Dass

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pelle des Erzählers an seine Figuren, den Jungen freundlich aufzunehmen, erfolgreich. Obwohl sein äußeres Erscheinungsbild, die armselige Kleidung und die bäuerlichen Waffen, für einen anderen Empfang sorgen sollten, wird Parzival höflich begrüßt. Seine Schönheit erregt sowohl bei dem Ritter Ither, der vor der Stadt auf eine Reaktion des Königs wartet, als auch bei der um Artus versammelten Hofgesellschaft Bewunderung. Durch die Begegnung mit Ither hat sich Parzivals Wunsch nach Ritterschaft konkretisiert: Er möchte Ithers Rüstung haben. Nachdem Artus seine Einwilligung erteilt hat, gelingt es Parzival überraschend schnell, sein Ziel zu erreichen. Er tötet Ither, der den lästigen Jungen mit dem Schaft einer Lanze zurückgestoßen hat, mit seinem auf der Jagd erprobten Gabilot. Sobald Parzival die begehrte Rüstung erhalten hat, bricht er auf, ohne sich von Artus mittels Schwertleite in den Ritterstand heben zu lassen;120 die Hofgesellschaft bleibt in Trauer und Leid zurück.121 Mit den äußeren Attributen eines Ritters ausgestattet, gelangt Parzival nach einem langen Ritt zu Gurnemanz, der sich als houbetman der wâren zuht (162,23) seiner annimmt. Die Entwaffnung des Protagonisten löst bei seinen Helfern zwiespältige Gefühle aus. Voller Entsetzen müssen sie sehen, dass ihr Gast sich durch seine Unterkleidung als Narr zu erkennen gibt. Zugleich zeigt sich seine Schönheit, die von allen gepriesen wird. Durch die Unterweisung des Gurnemanz gelingt es Parzival, die Defizite im höfischen Verhalten zu beseitigen, die durch seine Kindheit in der Wildnis entstanden sind: dar nâch wart wilder muot vil zam. (170,8) Der Held wird über religiöse und soziale Angelegenheiten informiert, zum Besuch des Gottesdienstes angehalten, zu Milde, Güte, Demut und mâze im Handeln wie im Reden aufgefordert sowie in die Waffenkunst und den Minnedienst eingeführt.122 Vor allem bei der Einübung in das Kampfverhalten erweist sich Parzival als vorbildlicher Schüler, dessen erbliche Anlagen zum Vorschein kommen: den twanc diu Gahmuretes art / und an geborniu manheit (174,24f.). Zeichen der Überwindung seiner Unwissenheit im gesellschaftlichen Verhalten ist, dass Parzival sich nicht länger weigert, die Narrenkleidung abzulegen. Indem Gurnemanz Ithers Beinamen, der rote Ritter, auf Parzival überträgt, erkennt er ihn ungeachtet des fehlenden In_____________ auch das Verhalten der Mitglieder des Artushofes nicht unproblematisch ist, zeigt sich vor allem an Keie. Eine grundlegende Kritik leitet Hasty (Beyond the Guilt Thesis) daraus ab. 120 Eichholz (Kommentar, S. 229) interpretiert Parzivals Einkleidung „als formlose Entsprechung zu Percevals Schwertleite bei Gornemant“. Damit wird Parzivals Ritterwerdung eng mit Ithers Tötung verknüpft. Vgl. auch Bumke, ‚Schwertleite‘; Groos, Parzival’s ‚swertleite‘; Nellmann, Kommentar, S. 541. 121 Cunneware und Antanor wurden seinetwegen von Keie geschlagen, und die Königin Ginover beklagt mit ihren Hofdamen Ithers Tod. – Zu Ithers ambivalenter Darstellung vgl. Schu, Abenteuer, S. 265. 122 Vgl. auch Hennig, Gurnemanzlehren; Nellmann, Kommentar, S. 547f.

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itiationsritus als Ritter an. Die Namensgebung markiert, dass Parzival den erstrebten Status erreicht hat, und begründet seine ritterliche Identität, wobei Ithers Tötung präsent gehalten wird.123 Sein neues höfisches Handeln dokumentiert sich abschließend darin, dass Parzival nicht mehr wie am Artushof überstürzt aufbricht, sondern sich formgerecht verabschiedet. Als er von Gurnemanz wegreitet, wird seine Individuation als vollendet dargestellt; Verhalten und Aussehen stimmen nun überein: ritters site und ritters mâl / sîn lîp mit zühten fuorte (179,14f.). Auf seiner Reise gelangt der Protagonist zur Stadt Pelrapeire, deren Bevölkerung unter einer Belagerung leidet und schwer vom Hunger gezeichnet ist. Auf die Bitte der Königin Condwiramurs, deren mit Glanzmetaphorik geschilderte Schönheit eng auf Parzivals Ausstrahlung bezogen ist, erklärt sich der Held zur Hilfe bereit. Als Parzival die Verteidigung der Stadt gelungen ist, bitten ihn die Königin und die Bürger zu bleiben. Schon bevor das Eheversprechen öffentlich abgelegt wird, erfüllt Parzival die Funktion eines Landesherrn, indem er die Warenladung eines Schiffes maßvoll verteilt. Nachdem die Ehe in der dritten Nacht nach der Hochzeit vollzogen und auch der um Condwiramurs werbende Aggressor im Zweikampf besiegt wurde, hat Parzival ein Ziel erreicht, das den Endpunkt einer erfolgreichen Sozialisation markieren könnte: Der törichte Junge ist zum Ritter geworden, hat sich im Kampf bewährt, Ehre, eine Frau und ein Land gewonnen. Mit seiner neuen Verantwortung weiß Parzival klug umzugehen und Liebe und Herrschaft in Einklang zu bringen. Er lässt das verwüstete Land wieder aufbauen, sorgt für höfische Freude und übt sich in Freigebigkeit. Er nimmt an Turnieren teil, sichert die Grenzen des Landes gegen Feinde und genießt weiten Ruhm. Seiner Frau ist er ebenso von Herzen zugetan wie sie ihm: ir minne stuont mit sölher kraft, / gar âne wankes anehaft. / […] er was ir liep, als was si im. (223,3–7) Trotz dieses Idealzustandes bricht Parzival wieder auf, um sich, wie er Condwiramurs erklärt, nach seiner Mutter zu erkundigen und um âventiure zu suchen, damit er Minnedienst leisten könne. Im Liebesschmerz um seine Frau versunken, gerät der Protagonist am Ende seines ersten Reisetages in ein unwirtliches Gebiet, wo ihn ein königlicher Fischer auf seine Burg einlädt. Dort wird Parzival ein herrschaftlicher Empfang bereitet, über den er sich in mehrfacher Hinsicht wundert, ohne den Sinn der einzelnen Handlungen zu erfassen. Er erhält einen _____________ 123 Inwiefern dies einer negativen Wertung des Helden gleichkommt, ist in der Forschung umstritten. Nellmann (Kommentar, S. 546f.) spricht sich gegen eine pejorative Verwendung aus, eine gegenteilige Auffassung vertritt Roßkopf (Traum, S. 192–202). Ebenso werden unterschiedliche Urteile über die rote Rüstung, sei es als „Dingsymbol für Parzivals sündiges Rittertum“ (Raudszus, Zeichensprache, S. 112) oder als „Zeichen ritterlicher Vollkommenheit“ (Kraß, Geschriebene Kleider, S. 125) gefällt.

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prächtigen Mantel als persönliche Leihgabe der Königin und wird in unmittelbarer Nähe des schmerzgeplagten Burgherrn platziert. Er erlebt das Klagen der Hofgesellschaft angesichts einer blutbefleckten Lanze und eine feierliche Prozession mit dem Gral. Er nimmt an einer wunderbaren Speisung teil und bekommt von seinem Gastgeber ein Schwert mit dem Hinweis verliehen, dass ihm dies einst selbst gehört habe. Beide Gaben sind von hohem symbolischen Wert;124 der königliche Mantel kennzeichnet den Erwählten und das Schwert seine Herrschaftsgewalt, die vom leidenden König Anfortas gleichsam auf seinen Nachfolger übertragen zu werden scheint. Parzival freilich erkennt die Bedeutung der Situation nicht. Bemüht, den Ratschlag seines Lehrers Gurnemanz zu beherzigen, beobachtet er nur und bleibt stumm: durch zuht in vrâgens doch verdrôz. (239,10) Schon am nächsten Morgen, nachdem Parzival in seiner luxuriösen Schlafstätte einen Alptraum durchlebt und daraus auf eine drohende Gefahr geschlossen hat, ändert sich seine Einstellung.125 Sein Vorsatz, den Burgherrn mit Waffengewalt zu unterstützen, lässt sich jedoch nicht in die Tat umsetzen. Sein Gastgeber ist mitsamt dem Gefolge verschwunden, so dass der am Vorabend aufmerksam verpflegte Gast sich sogar selbst die Rüstung anlegen muss. Als Parzival der Spur der Vermissten folgen will, wird sein Zugang zur Gralsburg abgeschnitten. Ein Knappe zieht hinter ihm die Zugbrücke hoch und verflucht ihn, weil er seinen Gastgeber nicht gefragt habe. Der bisher für Parzival so erfreuliche Handlungsverlauf, der bis hin zu seiner symbolischen Inthronisation als Gralskönig führte,126 wendet sich. Nun beginnt für den Helden die flustbaer[e] zît (248,7), wie der Erzähler ankündigt. Das Bewusstsein, welche Chance er bei seinem Aufenthalt auf der Gralsburg verspielt hat, stellt sich bei Parzival erst allmählich ein. Nachdem er die Spur der Gralsgesellschaft verloren hat, wiederholen sich die Stationen von Parzivals Weg aus der Waldeinsamkeit. Zunächst trifft er Sigune, die hocherfreut von seinem Besuch auf Munsalvaesche hört und ihm wichtige Informationen über die Gralsgemeinschaft und ihren König, Parzivals Onkel Anfortas, erteilt. Sie stellt ihm das höchste Glück, die größte Herrlichkeit und irdische Seligkeit vor Augen, die ihm zuteil wür_____________ 124 Nach Mersmann (Besitzwechsel, S. 136) ähnelt der Vorgang einer Abdankung, wohingegen Parzivals Beschenkung „Züge einer Designation“ trage. Vgl. auch Kordt, Kommentar, S. 143–145; Nellmann, Kommentar, S. 584; Schröder, Parzivals Schwerter, S. 122f. 125 Zur Bedeutung des Traums vgl. Kordt, Kommentar, S. 180f.; Speckenbach, Über den Traum, S. 180f., 192. Nach Ansicht von Schmitz (Traum, S. 82) stellt der Traum „einen natürlichen Einbruch dunkler Ahnungen dar, die nur Unbestimmtes und Vages andeuten“. Mehr noch als Herzeloydes Drachentraum sei dieser Traum daher „p s y c h o l o g i s c h zu deuten“. Zur Bedeutung von Träumen in der mittelalterlichen Literatur allgemein vgl. Haag, Traum; Kruger, Dreaming; Paravicini Baggiani, Träume. 126 Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 66.

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den, hâstu vrâge ir reht getân. (254,30) Sigunes enthusiastische Rede beschreibt jedoch keinen Ist-Zustand, sondern ist für Parzival nur noch eine Projektion. den wunsch ûf der erden (254,26) hat er nicht erreicht. Sein Leid resultiert aus der Diskrepanz zwischen der möglichen Glücksfülle und der fehlenden Realisation, noch viel mehr aber aus der sozialen Ächtung, die sein Versagen auf der Gralsburg nach sich zieht. Auf sein Eingeständnis, ich hân gevrâget niht (255,1), reagiert Sigune mit Klage und Empörung. Sie verflucht Parzival und unterbindet jegliche Kommunikation, indem sie sich genauso wie der Knappe auf Munsalvaesche weigert, ihm eine weitere Auskunft zu erteilen.127 Seine Ehrung in der Artusgesellschaft steht Parzival dagegen noch bevor. Nachdem er sich im Kampf gegen Jeschutes Ehemann erneut als erfolgreicher Ritter erwiesen hat,128 beschließt der König seine Aufnahme in die Tafelrunde. Das Zusammentreffen zwischen Parzival und den Artusrittern verläuft jedoch nicht konfliktfrei, obwohl sich diese auf die Suche nach jenem begeben haben. Der Protagonist befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einer Art Trance, in die ihn drei Blutstropfen im Schnee versetzt haben.129 Er fühlt sich an seine geliebte Frau erinnert und empfindet eine doppelte Sehnsucht, die seinen weiteren Weg stets begleiten wird: sîn pensieren umben grâl / unt der küngîn glîchiu mâl, / iewederz was ein strengiu nôt (296,5–7). Weil sie den in sich gekehrten Fremden für einen Provokateur halten, versuchen zwei Ritter der Tafelrunde vergeblich, ihn zu bezwingen. Erst Gawan gelingt es, die Situation gewaltlos zu beenden. Er erkennt den Unbekannten, löst Parzival aus seiner Liebesstarre und bringt ihn zu Artus. Der König begrüßt ihn freundlich, erinnert jedoch auch an die traurigen Umstände seines ersten Besuchs, ir habt mir lieb und leit getân (308,12); aufgrund seiner vielen positiven Taten wird ihm Ithers Tötung vergeben.130 Parzival erhält einen Ehrenplatz an der Tafel und findet ob seiner Kraft und Schönheit allgemeine Bewunderung: man und wîp im wâren holt. (311,29) Somit wird Parzival die höchste Anerkennung der Artusgesellschaft zuteil, nachdem er aus der Gralsgemeinschaft ausgestoßen und von ihren Mitgliedern einer Untat bezichtigt worden ist. Die unterschiedlichen Bewertungen des Helden in den beiden Gesellschaften kollidieren, als die

_____________ 127 Zu Sigunes Verfluchung und Wolframs Änderungen vgl. Backes, Stellenkommentar, S. 46– 51. 128 Zur Jeschute-Episode vgl. Backes, Stellenkommentar, S. 52–138. 129 Zu dieser vielfach interpretierten Szene vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 72f. (mit weiteren Literaturhinweisen); ders., Blutstropfen; Garnerus, Kommentar, S. 33–53. 130 Zu den „zwiespältigen Gefühlen“, mit denen Artus ihm begegnet, vgl. auch Garnerus, Kommentar, S. 230f.

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mit zahlreichen Attributen der Hässlichkeit ausgestattete Gralsbotin Cundrie naht und die arthurische Festidylle zerstört.131 Cundries Fluch trifft die gesamte Artusgesellschaft. Mit drastischen Worten wendet sie sich zuerst an den König, der mit der Berufung eines Unwürdigen seinen eigenen Ruhm vernichtet habe. Anschließend wirft sie Parzival Falschheit, Untreue und fehlendes Erbarmen vor und kontrastiert seine trügerische Schönheit mit ihrer äußeren Hässlichkeit. Ihre Beschuldigungen, mit denen sie Parzival nicht nur innerhalb der anwesenden Ritterschaft, sondern auch innerhalb seiner Familie als Versager bloßstellt, gipfeln in der Behauptung, er sei zur ewigen Verdammnis bestimmt: gein der helle ir sît benant / ze himele vor der hôhsten hant (316,7f.). Der Artushof reagiert angesichts der Vehemenz der Vorwürfe merkwürdig verhalten. Neben der Klage über Parzivals Schmähung herrscht Freude, weil seine vortreffliche familiäre Abstammung publik geworden ist. Während die Anwesenden den Helden zu trösten suchen, steht für ihn außer Frage, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Nachdem ein strenge schärpf gerich (330,10) gegen ihn ergangen ist, muss er seine befleckte Ehre wiederherstellen. Er hofft, die Huld der Artusritter durch Ruhm wiedergewinnen zu können: swenne ich her nâch prîs genim, / sô habt mich aber denne dernâch. (330,14f.) Anders als die Protagonisten der Artusromane Hartmanns von Aue verlässt Parzival die Hofgesellschaft auf die Offenbarung seines Versagens hin nicht heimlich, sondern beachtet bei seinem Abschied die höfischen Konventionen. Förmlich löst er seine Verbindung zu den Rittern der Tafelrunde, bis er seine Schande wiedergutgemacht habe: ir gâbt mir alle geselleschaft, / die wîle ich stuont in prîses kraft: / der sît nu ledec, unz ich bezal / dâ von mîn grüeniu freude ist val. (330,17–20) Der Aufhebung der weltlichen Gemeinschaft lässt Parzival die der geistlichen folgen. Durch Gawans Segenswunsch an die Existenz Gottes erinnert, sagt sich der Protagonist von diesem los, weil er sich als unzuverlässiger Beistand erwiesen habe. nu wil i’m dienst widersagn: / hât er haz, den wil ich tragn. (332,7f.) Völlig auf sich gestellt, macht sich Parzival auf den Weg und verschwindet, am Tiefpunkt seiner sozialen Integration angelangt, vorerst aus der Geschichte.132 Als der Fokus der Aufmerksamkeit wieder auf den Haupthelden gerichtet wird, erwähnt der Erzähler zurückliegende Kämpfe und berichtet von wachsendem Ruhm. Parzival dagegen bleibt es vorbehalten, die Er_____________ 131 Zu Cundries Hässlichkeit vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 76f.; Nellmann, Kommentar, S. 618 (jeweils mit weiteren Literaturhinweisen). 132 Die Erinnerung an Parzival wird aufrechterhalten, indem sich seine und Gawans Wege kreuzen. Diese Verknüpfung der beiden Handlungsstränge gilt als eine entscheidende Neuerung, die Wolfram an Chrétiens ‚Perceval‘ vorgenommen hat. Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 142–145; Mergell, Wolfram von Eschenbach, Bd. 2, S. 246f.

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folglosigkeit seines eigentlichen Strebens zu konstatieren. daz ist noch ungeschehn (441,14), gesteht er Sigune, die sich bei einem erneuten Zusammentreffen erkundigt, ob er den Gral wiedergefunden habe. Seine Cousine ist nun zur Vergebung bereit, ruft jedoch noch einmal in Erinnerung, welches unüberbietbare Glück ihm bei seinem Aufenthalt auf Munsalvaesche entgangen ist. Viel stärker als bei ihrem vorherigen Gespräch ist sich Parzival nun der Folgen seines Nichthandelns auf der Gralsburg bewusst und klagt, daz ich hoehern kumber trage / danne ie man getrüege. / mîn nôt ist zungefüege. (442,6–8) Von Sigune auf die richtige Spur hingewiesen, nähert er sich zeitweilig dem Gralsbereich an, müht sich aber vergeblich. Kurz darauf begegnet der Protagonist einer Gruppe von Pilgern, deren Herr demselben Stand wie er selbst angehört, sich in Kleidung und Haltung jedoch deutlich unterscheidet. Der ins Büßergewand gehüllte, zu Fuß gehende Kahenis und der in seiner roten Rüstung reitende Parzival bilden einen wirksamen Kontrast, der die religiöse Desorientierung des Protagonisten zum Ausdruck bringt. Kahenis stellt nicht nur Parzivals Verhalten gegenüber Gott in Frage, sondern belehrt ihn auch über die Heiligkeit des Tages und den Sinn des Karfreitagsgeschehens. Probeweise überlässt Parzival sein Pferd der Führung Gottes und gelangt zum Einsiedler Trevrizent, bei dem er nach Aussage des Pilgers Vergebung finden könne.133 Demzufolge beginnt Parzival seine Rede mit einer Bitte und einem Bekenntnis: hêr, nu gebt mir rât: / ich bin ein man der sünde hât. (456,29f.) Vierzehn Tage verbringt der Protagonist bei Trevrizent, dem er seinen Kummer klagt und von dem er über das Wesen Gottes unterrichtet wird. Vom Einsiedler, der sich als sein Onkel und als Bruder des Gralskönigs zu erkennen gibt, erfährt er die Geschichte des Leidens des Anfortas. Auf diese Weise wird Parzival in die Regeln der Gralsgesellschaft eingeweiht und über die Bedingungen ihrer Erlösung informiert. Seinem frommen Onkel gesteht er seine Vergehen, die Abwendung von Gott sowie den Leichenraub an Ither, bevor Trevrizent ihn über das wahre Ausmaß seiner Sünden aufklärt. Er hat nicht nur in Ither einen Verwandten umgebracht, sondern ist auch für den Tod seiner Mutter verantwortlich. Zuletzt muss Parzival gar bekennen, der enttäuschende Erlöser von Munsalvaesche zu sein: der deheine vrâge sprach, / daz bin ich unsaelec barn: / sus hân ich, hêrre, missevarn. (488,18–20) Auf dieses Geständnis antwortet Trevrizent überraschend nachsichtig, indem er Parzival zur maßvollen Klage aufruft und ihn vor Verzweiflung warnt. Am Ende des Aufenthalts erklärt sich Trevrizent bereit, die Sünden seines Neffen auf sich zu nehmen und vor Gott _____________ 133 Zum Motiv des ungelenkten Pferderitts vgl. Blank, Determination, S. 216–219; Ohly, Pferde, S. 359f.

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für seinen Wandel zu bürgen. Parzivals selbst gewählte Isolation von Gott wird damit überwunden, nicht aber sein Unglück beendet. Kämpfend setzt Parzival seinen Dienst für den Gral und seine Frau fort, obwohl er von seinem Onkel über die Unmöglichkeit seines Unternehmens informiert worden ist. Wieder gerät er aus dem Blickfeld des Erzählers, bis er auf den zweiten Handlungsträger des Romans trifft. Als Parzival bemerkt, gegen wen er sein Schwert erhoben hat, wirft er es sofort aus der Hand und bedauert das Geschehene zutiefst: „unsaelec unde unwert / bin ich“, sprach der weinde gast. (688,22f.) In ihrer Klage beschwören Gawan und Parzival ihr metaphorisches Einssein, das sie zur gemeinsamen Rückkehr zur Artusgesellschaft veranlasst. Obwohl mittlerweile mehr als fünf Jahre vergangen sind, scheut sich Parzival noch immer, vor den höfischen Damen zu erscheinen. Seine Scham verkehrt sich jedoch schnell in Freude, als er von allen ehrenvoll begrüßt wird. Der förmlichen Aufkündigung der Artusgemeinschaft entspricht seine feierliche Wiederaufnahme in die Tafelrunde, die Parzival selbst erbittet. Nun ist er öffentlich rehabilitiert, kann seinen unbestrittenen Ruhm am Hof durch einen weiteren Zweikampf noch mehren, so dass seine Reintegration in die Artusgesellschaft abgeschlossen sein müsste. Parzival kann sich jedoch am höfischen Fest nicht erfreuen. Vielmehr wird ihm der Gegensatz zwischen dem Liebesglück der anderen und dem eigenen Kummer schmerzlich bewusst: sol ich mit den ougen freude sehn / und muoz mîn herze jâmers jehn, / diu werc stênt ungelîche. (732,23–25) Weil er den Gral nicht gefunden hat und seine Sehnsucht nach Condwiramurs ungestillt ist, geht er erneut auf Distanz zur Artusgesellschaft und bricht heimlich auf. Trotz vieler Mühen ist es Parzival nicht gelungen, den Zustand des Leidens zu beenden. ich pin trûrens unerlôst (733,16), hält der Protagonist fest. Das Unglück dominiert somit über weite Strecken des Romans. Erst bei Parzivals letztem Kampf setzt die entscheidende Wende ein,134 die für ihn ebenso überraschend erfolgt wie für die Rezipienten. Erstmals gerät der Held in ernsthafte Bedrängnis, zumal sein Schwert zersplittert und nur der Edelmut seines Gegners die sichere Niederlage oder gar den möglichen Tod verhindert. Der Abbruch des Kampfes erweist sich jedoch als glückliche Fügung, die der Erzähler dem Eingreifen Gottes zuschreibt; der drohende Brudermord wird auf diese Weise abgewendet. Gemeinsam mit seinem älteren Halbbruder Feirefiz kehrt Parzival freiwillig in das Lager des Königs zurück, wo seine endgültige Erhöhung eingeleitet wird. Die Gralsbotin Cundrie erscheint ein zweites Mal vor Artus, bittet weinend Parzival um Verzeihung und verkündet seine Berufung zum _____________ 134 Zu seinen Kämpfen vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 149f.; Jones, Parzival’s Fighting; Zutt, Parzivals Kämpfe.

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Gralskönig. Während sie Parzival einst der ewigen Verdammnis anheim stellte, preist sie ihn nun als Heilsbringer: wol dich des hôhen teiles, / du krône menschen heiles! (781,13f.) Auf der Gralsburg, wo Parzival sehnlichst erwartet wird, erweist er sich nun seines Amtes als würdig. Er stellt die Erlösungsfrage, erbittet aber zuvor Gottes Hilfe.135 Seine neue Stellung offenbart sich ebenfalls in seinem veränderten Verhältnis zu Trevrizent. Ihre Positionen als Heiliger und Sünder sind bei dem erneuten Zusammentreffen vertauscht, da nicht mehr Trevrizent für Parzivals Sünden bürgt, sondern jener diesen um Vergebung für seine Lüge bittet.136 Als Condwiramurs Parzival mit einem ihrer Zwillingssöhne auf die Gralsburg begleiten darf, scheint die Handlung nach einer langen Zeit der Entbehrung und des Leidens glücklich beendet. Durch die angefügte Erzählung von Parzivals Sohn Loherangrin, dessen Integration in die höfische Gesellschaft scheitert und der zur Gralsburg zurückkehren muss, verleiht Wolfram seinem Roman jedoch nachträglich den Charakter eines offenen Schlusses.137 Handlungsmotive: tumpheit, strît und triuwe Parzivals Weg, der so erfolgreich beginnt, ihn aber danach ins Unglück führt, ist maßgeblich durch eine Eigenschaft bestimmt, die einem idealen Helden fehlen sollte: seine tumpheit.138 Diese resultiert aus seiner isolierten Kindheit und wird bei verschiedenen Begegnungen inszeniert. Bei fast allen Handlungen, die der Protagonist bis zu seinem Aufenthalt bei Gurnemanz vollzieht, dokumentiert sich seine völlige Bezogenheit auf seine Mutter, ohne dass er die Bedeutung ihrer Lehren zu erfassen weiß. Ihre Worte beachtend, hält er Ritter für eine göttliche Erscheinung, vermeidet die Überquerung eines schattigen Bächleins und fällt über die wehrlose Jeschute her. Gemäß ihrem Ratschlag grüßt er – stets mit dem Verweis: sus riet mîn muoter (138,8) – alle Menschen und bittet den grauhaarigen Gurnemanz, ihn zu unterrichten.139 Auf die Frage, wer er sei, weiß Parzival _____________ 135 Nach Ruh (Höfische Epik, Bd. 2, S. 130) ist die „Magie der Frage […] völlig der Fürbitte gewichen“, diese sei es, „die das Wunder bewirkt.“ Vgl. auch Nellmann, Kommentar, S. 775. 136 Dieser Rollenwechsel bietet eine Möglichkeit, Trevrizents sogenannten Widerruf unabhängig vom Aussagegehalt zu interpretieren. Zu einem der umstrittensten Probleme des Textes vgl. Groos, Trevrizent’s ‚Retraction‘; Herberichs, Erzählen; Schirok, Ich louc; Schuhmann, Reden, S. 176–191. 137 Vgl. Bumke, Offener Schluß; Knapp, Wirklichkeit, S. 362f. 138 Zu diesem Motiv vgl. auch Bumke, Blutstropfen, S. 100–109; Haas, Parzivals tumpheit; Rupp, Funktion. 139 Zum Grüßen im Namen der Mutter vgl. auch 142,9f., 145,9, 147,19f., 147,30–148,3, 163,25. Zu weiteren Verweisen auf den mütterlichen Rat vgl. 162,29–163,2, 169,11.

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zunächst keine andere Antwort zu geben, als die Kosenamen seiner Mutter zu wiederholen: bon fîz, scher fîz, bêâ fîz (140,6). Seine Unkenntnis des höfischen Verhaltenskodexes, die sich schon bei seiner Ankunft am Artushof zeigt, wird bei seiner Auseinandersetzung mit Ither besonders deutlich. Die Beschreibung des Kampfes und des eigentlichen Akts der Tötung fallen vergleichsweise kurz aus, wohingegen Parzivals grôziu tumpheit (156,24) ausführlich vorgeführt wird. Weder ist er in der Lage, dem Toten die Rüstung abzunehmen, noch kann er diese ohne Hilfe anlegen. Explizit weigert Parzival sich, die von der Mutter erhaltene Narrenkleidung auszuziehen. Zudem muss er darüber belehrt werden, dass ein Wurfspieß im Ritterkampf verboten ist. Als wäre Parzivals Verhalten nicht schon aussagekräftig genug, nutzt Wolfram jede Gelegenheit, ihn als tumbe oder mit witzen kranc zu bezeichnen.140 Parzival selbst wird sich später diese Deutung zu eigen machen und sowohl den Übergriff auf Jeschute als auch den Leichenraub an Ither mit seiner früheren Torheit erklären.141 Der Aufenthalt bei Gurnemanz markiert hinsichtlich seiner defizitären Erziehung einen Wendepunkt, wie das unterschiedliche Auftreten des Protagonisten bei der Begrüßung und beim Abschied veranschaulicht. Während sich Parzival zu Beginn aufgrund falscher Vorstellungen weigert, vom Pferd zu steigen, weiß er nach der Belehrung des Gurnemanz, welche Vorzüge einen Ritter wirklich auszeichnen. Auch verzichtet Parzival darauf, sich ständig auf den mütterlichen Rat zu berufen, nachdem sein Gastgeber ihn zurechtgewiesen hat: ir redet als ein kindelîn (170,10). Angesichts der veränderten Verhaltensweisen hebt der Erzähler die Relevanz von Parzivals Lehrmeister für seine Sozialisation hervor: sîn manlîch zuht was im sô ganz, / sît in der werde Gurnamanz / von sîner tumpheit geschiet (188,15–17). Ob das Urteil des Erzählers im weiteren Handlungsverlauf Gültigkeit behält, ist jedoch fraglich. Nach seiner Belehrung durch Gurnemanz wechselt Parzival primär die autoritative Instanz, mit deren Ratschlägen er seine Handlungen legitimiert. Wie er zunächst fast alle Taten auf die Empfehlungen seiner Mutter zurückführte, überprüft er diese nun anhand seines neuen ritterlichen Maßstabs. Besondere Bedeutung für die weitere Entwicklung gewinnt dabei Gurnemanz’ Ermahnung, auf die eigenen Worte zu achten, keine überflüssigen Fragen zu stellen und mit Hilfe der Sinne zu urteilen, die sich in dem Gebot zusammenfassen lässt: irn sult niht vil gevrâgen _____________ 140 Vgl. der tumbe (155,19; vgl. 149,6, 161,6.17.25, 162,1), grôziu tumpheit (156,24, vgl. 142,13, 163,21), an witzen laz (144,11), wîsheit der umberuchte (155,28), ûz tumben witzen (162,28), mit witzen kranc (169,15). 141 Gegenüber Orilus entschuldigt er sein Verhalten mit den Worten: ich was ein tôre und niht ein man, / gewahsen niht pî witzen. (269,24f.) Vor Trevrizent erklärt Parzival: ich [was] an den witzen toup (475,5f.).

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(171,17).142 Schon in Pelrapeire orientiert sich Parzival an diesem Leitsatz, der sich nach einem Moment der Irritation auch bewährt. Ohne dass der Protagonist fragen muss, schildert Condwiramurs ihre Notlage und bittet ihn um Hilfe. Als Parzival die gleiche Maxime jedoch auf Munsalvaesche beherzigt, enttäuscht er die in ihn gesetzten Hoffnungen. Es besteht heute ein weitgehender Forschungskonsens, dass Wolfram mit der unterlassenen Frage keine grundsätzliche Kritik an Gurnemanz’ ‚äußerlicher‘ Erziehung üben wollte.143 Vielmehr wendet Parzival den Rat inadäquat an, weil er die Kommunikationssituation nicht richtig deutet.144 Erst als Cundrie Parzivals Versagen vor der Artusgesellschaft öffentlich gemacht hat, stellt sich bei ihm die Erkenntnis ein, dass die Lehre des Gurnemanz keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Im weiteren Handlungsverlauf verzichtet Parzival auf die Befolgung von Ratschlägen, selbst als sie ihm eine unumstrittene Autoritätsperson erteilt. Die Gralssuche setzt er fort, obwohl Trevrizent ihn nicht nur über die Vergeblichkeit seines Tuns informiert, sondern ihm sogar Dummheit vorwirft: ir jeht, ir sent iuch umben grâl: / ir tumber man, daz muoz ich klagn. / jane mac den grâl nieman bejagn (468,10–12). In einem anderen Punkt übernimmt Parzival jedoch Trevrizents Einschätzung. Anders als der Erzähler begrenzt dieser den Begriff der tumpheit nicht auf ein bestimmtes Entwicklungsstadium, sondern verwendet ihn generell für Fehlverhalten. So entgegnet der Einsiedler auf das Geständnis seines Neffen, sich von Gott abgewendet zu haben: swer iuch gein im in hazze siht, / der hât iuch an den witzen kranc. (463,2f.) Noch bevor Trevrizent weiß, dass es sich bei Parzival um den unberufenen Gast auf Munsalvaesche handelt, bewertet er dessen Verhalten zweimal als Torheit: sît im sîn tumpheit daz gebôt / daz er aldâ niht vrâgte (484,28f., vgl. 473,13). Parzival greift diese Deutung auf, als er sich schließlich zu seinem Versäumnis auf der Gralsburg bekennt und seinen Onkel bittet, mîne tumpheit (488,15) zu beklagen. Nach der Einkehr bei Trevrizent spielt das Motiv der Torheit keine Rolle mehr, jedoch nimmt der Erzähler bei Parzivals letztem Kampf gegen Feirefiz noch einmal darauf Bezug. Er begründet das Zersplittern der Waffe mit dem Willen Gottes, der den Protagonisten nicht länger Nutzen aus seinem Leichenraub ziehen lassen wolle. Das Schwert identifiziert er _____________ 142 Zu Wolframs besonderer Formulierungsweise vgl. Hennig, Gurnemanzlehren, S. 320. 143 Diese Position vertrat u.a. Weber (Parzival, S. 222, vgl. auch S. 53). Zur Widerlegung dieser Auffassung vgl. Hennig, Gurnemanzlehren, S. 332; Nellmann, Kommentar, S. 583. 144 Auf der Gralsburg werde der Protagonist nicht als Gast, sondern als der Erwählte empfangen, argumentiert Hennig (Gurnemanzlehren, S. 331), woraus eine Verpflichtung zur Frage resultiere. – Wie wenig Parzival seine Sprache angemessen einzusetzen weiß, zeigt sich bereits zuvor. Er missversteht den Scherz, den sich ein redespaeher man (229,4) mit ihm erlaubt, und muss von einer gewaltsamen Reaktion abgehalten werden. Vgl. auch Mertens, Parzivals doppelte Probe.

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als jenes, das Parzival Ithêre nam, / als sîner tumpheit dô wol zam (744,17f.).145 An prominenter Stelle wird noch einmal eines der Leitmotive für Parzivals Handeln in Erinnerung gerufen. Da das Schwert des roten Ritters metonymisch auf die der Unwissenheit des Helden zuzuschreibende Tötung Ithers verweist, erscheint das Urteil, „der letzte rest“ von Parzivals tumpheit werde getilgt,146 nicht unberechtigt. Durch die plötzliche Unterbindung des Bruderkampfes wird dem Streben ein Ende bereitet, das Parzivals Handeln grundsätzlich kennzeichnete. Der vom Vater vorgeprägte Drang, nach Aventiure zu suchen,147 offenbart sich bereits in dem ahnungslosen Knaben. Er geht auf Jagd, fühlt sich vom Gesang der freien Vögel seltsam berührt und reagiert unerschrocken auf eine unbekannte Herausforderung. Als er vor der Begegnung mit den Rittern zum ersten Mal das Geräusch des Hufschlags hört, mutmaßt er, es könne der Teufel sein, vor dem ihn die Mutter nachdrücklich gewarnt hat. Statt ihre Angst zu teilen, ergreift er erwartungsfroh seinen Wurfpfeil, um es mit dem Bösen aufzunehmen: wan wolt et nu der tiuvel komn / mit grimme zorneclîche! / den bestüende ich sicherlîche. (120,18–20) Seine Furchtlosigkeit kommt erneut zum Tragen, als er keinerlei Bedenken hegt, sich mit Ither zu messen. Während Artus und Keie um die tödliche Gefahr wissen, fordert Parzival unbekümmert die rote Rüstung und lässt sich auch von Ithers Stoß nicht einschüchtern. Der Wunsch zu kämpfen, veranlasst Parzival wiederholt, auf den neu erworbenen gesellschaftlichen Status zu verzichten und allein in die Fremde zu ziehen. Schon bei Gurnemanz könnte die Handlung erfreulich enden, weil sein Lehrer ihn mit seiner Tochter verheiraten möchte. Obwohl Parzival sich zu dieser hingezogen fühlt, lehnt er dankend ab: er wolt ê gestrîten baz, / ê daz er dar an wurde warm, / daz man dâ heizet frouwen arm. (177,2–4) Selbst nach seiner Heirat können ihn seine Liebe und die Verpflichtungen als Landesherr nicht davon abbringen, wie sein Vater Gahmuret aufzubrechen. Von den doppelten Motiven, die Parzival gegenüber seiner Frau anführt, wird nur eins im Handlungsverlauf realisiert. Der Vorsatz, die Mutter zu suchen, spielt keine Rolle mehr, wohingegen die Intention, Condwiramurs durch âventiure (223,23) zu dienen, selbst dann

_____________ 145 Zum auffälligen Befund, dass Parzival an dieser Stelle nicht mit dem Geschenk des Anfortas kämpft, vgl. Nellmann, Kommentar, S. 760. Vgl. auch allgemein Schröder, Parzivals Schwerter. 146 Vgl. Ehrismann, Über Wolframs Ethik, S. 450. – Dagegen argumentiert Bumke (Blutstropfen, S. 101), Parzival bleibe bis zum Schluss im Zustand der tumpheit. 147 Haugs Auffassung (Parzival ohne Illusionen, S. 203), die Gahmuret-Handlung als „eigentliche[n] Schlüssel zum Roman“ zu verstehen, lässt sich hiermit begründen.

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nicht an Bedeutung verliert, als die Sehnsucht nach seiner Frau von der nach dem Gral überlagert wird.148 Mit seiner Verfluchung am Artushof wird Parzivals Streben, das schon zuvor auf den Waffendienst ausgerichtet war, zur Passion. ine wil deheiner freude jehn, / ine müeze alrêrst den grâl gesehn (329,25f.). Parzival macht die Erfüllung seiner Liebe vom Erfolg der Gralssuche abhängig, wodurch das Dienstverhältnis zu Condwiramurs zugleich profitiert und leidet. Weil er schildes ambet umben grâl (333,27) leistet, kann der Protagonist seiner Frau unzählige Siege widmen. Zugleich wird er um den verdienten Minnelohn gebracht, da er das endgültige Ziel lange nicht erreichen kann. ich waen bî sînen zîten / ie dechein man sô vil gestreit (390,10f.), versichert der Erzähler seinen Rezipienten. Wenig später bestätigt Parzival dieses Urteil mit eigenen Worten. Freimütig räumt er gegenüber Trevrizent eine gestörte Gottesbeziehung ein und erklärt, was er zum sinnstiftenden Inhalt seines Lebens gemacht hat: ichn suochte niht wan strîten (461,8). Selbst die Information, niemand könne den Gral erringen, wenn er nicht vom Himmel dazu berufen sei, erschüttert Parzivals Überzeugung nicht. Vielmehr betont er seine unermüdliche Kampfbereitschaft: ich streit ie swâ ich strîten vant (472,5). Wenn der Waffendienst als eine Möglichkeit angesehen werden könne, des lîbes prîs / unt doch der sêle paradîs zu bejagen (472,1–3), so sei sein Streben stets darauf ausgerichtet gewesen (vgl. sô was ie rîterschaft mîn ger 472,4). Aufgrund seiner großen kämpferischen Erfolge müsse er mit der Berufung zum Gral belohnt werden, sofern got an strîte wîse (472,8) sei. Trevrizent lässt sich auf diese Argumentation nicht ein und warnt Parzival vor der Sünde des Hochmuts. Dann jedoch schildert er die Gralsgemeinschaft in Analogie zu Parzivals Auffassung als wird[e] bruoderschaft (473,5), die den Gral mit Waffengewalt verteidige. Zudem erwähnt Trevrizent, dass es doch einmal einem Unberufenen gelungen sei, die Burg zu erreichen. Aufgrund dieser widersprüchlichen Aussagen über die Relevanz von Kämpfen im Gralsbereich ist es wenig verwunderlich, dass der Protagonist seinen Versuch, den Gral zu erstrîten, fortsetzt. Parzival stellt sein Konzept, den Kampf als Weg zum Heil zu betrachten, erst in Frage, als er bei der Suche nach âventiure auf Gawan trifft. aller saelden mir gebrast, / daz mîner gunêrten hant / dirre strît ie wart bekant (688,24– 26), klagt Parzival, nachdem er seinen Gegner erkannt hat. Statt des erhofften Ruhms hat ihm sein Kampf unerwartetes Unheil beschert: ich hân mich selben überstriten / und ungelückes hie erbiten. (689,5f.) Ein grundlegender Gesinnungswandel erfolgt allerdings auch nach dem Freundeskampf nicht, vielmehr stürzt sich Parzival noch zwei weitere Male auf jeden Rit_____________ 148 Vgl. 467,26–30: mîn hôhstiu nôt ist umben grâl; / dâ nâch umb mîn selbes wîp / […] / nâch den beiden sent sich mîn gelust. Vgl. auch 389,10–12.

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ter, der sich ihm als Gegner bietet.149 Im Unterschied zu seinem Zweikampf mit Gawan macht Parzival sich auch keine Vorwürfe, das Schwert gegen seinen Bruder erhoben zu haben. Klagend äußert sich allein der Erzähler über die unselige Auseinandersetzung; Danksagungen über den vermiedenen Brudermord bringt vor allem Feirefiz seinen Göttern entgegen. Die ambivalente Bedeutung, die Parzivals strît für die Entwicklung der Handlung zukommt, wird bei seiner Berufung zum Gralskönig ganz deutlich. Die beiden gegensätzlichen Urteile, die bei seiner Einkehr bei Trevrizent miteinander konkurriert haben, werden noch einmal gegenübergestellt, nun aber in vertauschten Positionen. Für die Ansicht, Parzival habe sein Ziel dank eigener Bestrebungen erreicht, bürgt zuerst Cundrie. Sie verkündet vor der Artusgesellschaft: du hâst der sêle ruowe erstriten / und des lîbes freude in sorge erbiten. (782,29f.) Parzival weist diese Deutung jedoch zurück und verwirft seine frühere Auffassung. Statt sich auf seine eigenen Verdienste zu berufen, bekennt er sich vor Gott als schuldig und verweist auf dessen heilstiftendes Handeln: bin ich vor gote erkennet / sô daz mîn sündehafter lîp, / […] / sô hât got wol zuo mir getân. (783,6–10) Nun übernimmt er Trevrizents Lehrposition und unterrichtet die Anwesenden, daz den grâl ze keinen zîten / niemen möht erstrîten, / wan der von gote ist dar benant. (786,5–7)150 Sein Onkel ist hingegen durch Parzivals Berufung eines Anderen belehrt worden. Zwar betont er: ez was ie ungewonheit, / daz den grâl ze keinen zîten / iemen möhte erstrîten (798,24–26). Dennoch sei Parzival das schier Unmögliche gelungen: groezer wunder selten ie geschach, / sît ir ab got erzürnet hât daz sîn endelôsiu Trinitât / iwers willen werhaft worden ist. (798,2–5)151 Demnach ist der Held selbst für sein Glück verantwortlich, indem er in seinem Streben nie nachgelassen und seine Erlösung von Gott erzwungen hat. Bis zum _____________ 149 Vgl. auch Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 213; Hasty, Beyond the Guilt Thesis, S. 365f.; Zutt, Parzivals Kämpfe, S. 188. – Für Haug (Parzival ohne Illusionen, S. 213f.) setzt dagegen nach dem Gawan-Kampf ein Umbruch ein. In der älteren Forschung wurde die Einkehr bei Trevrizent als Wende im Sinne der christlichen conversio gedeutet. Parzivals weiterer Weg ist nach diesen Interpretationen durch Demut, Reue und Buße bis hin zu seiner Begnadung gekennzeichnet. Vgl. z.B. Mockenhaupt, Frömmigkeit, S. 110f.; Mohr, Ritterliche Schuld, S. 155f.; Schwietering, Parzivals Schuld, S. 51. 150 Knapp (Wirklichkeit, S. 360) hebt hervor, dass Parzival diese Einsicht erst formuliert, als er ihr nicht mehr zuwider handeln kann. 151 Über Parzivals Erfolg bei der Gralssuche wurde in der Forschung intensiv diskutiert. Nach Bertau (Deutsche Literatur, Bd. 2, S. 1023) hat Parzival „der göttlichen Gnade seine Bedingungen oktroyiert“. Andere Autoren negieren einen ‚Heilsautomatismus‘ und betonen die völlige Abhängigkeit von Gottes Gnade (vgl. Knapp, Wirklichkeit, S. 360; Mertens, Parzivals doppelte Probe, S. 334f.; Zutt, Parzivals Kämpfe, S. 198). Nellmann (Kommentar, S. 771) sucht zwischen beiden Positionen zu vermitteln. Bedingung dafür, dass man den Gral erstrîten könne, sei die Berufung durch Gott. Ähnlich argumentieren Swisher (zorn, bes. S. 407) und Wapnewski (Wolframs Parzival, S. 162f.).

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Schluss stehen beide Auffassungen, die unterschiedliche Motivationsmodelle repräsentieren, unverbunden nebeneinander.152 Die Kausalität, die Parzivals Handeln den Vorrang einräumt, konkurriert mit der Finalität, die seine Berufung, zu der er durch sein familiäres Erbe bestimmt ist, der höheren Macht Gottes zuschreibt.153 Während die tumpheit des Protagonisten negativ konnotiert ist und seine Suche nach strît ambivalent dargestellt wird, ist das dritte zentrale Handlungsmotiv zwar grundsätzlich positiv zu werten, trägt aber ebenso zum Unglück bei. Bereits im Prolog kündigt Wolfram von Eschenbach an, ein maere wil i’u niuwen, / daz seit von grôzen triuwen (4,9f.). Mit der Angabe dieser Thematik erteilt er all jenen Interpretationen indirekt eine Absage, die den im Prolog erwähnten zwîvel als Schlüsselbegriff des Romans verstehen.154 Wie seine Mutter, die als Inkorporation der triuwe präsentiert wird, stellt der junge Parzival bei aller tumpheit immer wieder seine Treue unter Beweis. Herzeloydes Hinweise befolgt er genau und bewahrt ihre Lehre selbst dann noch im Herzen, als Gurnemanz ihn zum Schweigen aufgerufen hat, was der Erzähler ausdrücklich als Beleg seiner Treue anführt, als noch getriwem man geschiht. (173,10) Mitfühlend erkundigt der Protagonist sich nach Sigunes Kummer, woraufhin diese ihm attestiert: du bist geborn von triuwen (140,1). Ebenso fasst er nach seinem Alptraum den Entschluss, die Wünsche seines Gastgebers auf der Gralsburg mit triuwen (246,13) zu erfüllen, ohne dass dies mehr im Bereich seiner Möglichkeiten liegt. Nachdem Parzivals Treue durch Sigunes Verfluchung massiv in Frage gestellt worden ist, wird sie auf der Handlungsebene neu inszeniert. Angesichts der drei Blutstropfen im Schnee gerät er in eine Liebesstarre, bei der der Erzähler betont: von sînen triwen daz geschach. (282,23) Dem Vorwurf seiner Untreue, der in der Gralshandlung erhoben worden ist, wird das Bild Parzivals als eines wahrhaft Liebenden gegenübergestellt: er pflac der wâren minne / gein ir gar âne wenken (283,14f.). Gemäß der Lehre des Gurnemanz (vgl. 172,7–12) muss ein solcher Mann als getreuer und vorbildlicher Ritter gelten. _____________ 152 Groos (Romancing the Grail, S. 241) hebt hervor, dass Wolfram nicht mit einer Stimme spricht, und charakterisiert dies als „discursive multiplicity“. – In der Feirefiz-Handlung werden die unterschiedlichen Auffassungen – diesmal im Hinblick auf das christliche Sakrament der Taufe – noch einmal kontrastiert. Feirefiz ist wie sein Bruder sofort dazu bereit, sein Heil und Liebesglück zu erkämpfen, wird jedoch belehrt, dass beides nur durch Treue gegenüber Gott zu gewinnen ist. 153 Zu den verschiedenen Handlungsmodellen vgl. auch Ernst, Formen, S. 188; Schu, Abenteuer, S. 323f.; Schuhmann, Reden, S. 176–188. 154 Vor allem Haug (Literaturtheorie, S. 159f.; Symbolstruktur, S. 508f.) spricht sich dagegen aus und begründet dies mit der rhetorischen Tradition des Prologs. Einen Überblick über die Deutungen bietet Nellmann (Kommentar, S. 445–447). Vgl. auch Brackert, Zwîvel.

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Wenig später wiederholt Cundrie jedoch Sigunes Beschuldigung und verschärft die Anklage deutlich: ir vil ungetriwer gast! / sîn nôt iuch solt erbarmet hân (316,2f.). An dieser Stelle ergreift der Erzähler explizit Partei für seine Hauptfigur und verteidigt diese gegen alle Vorwürfe der Treulosigkeit: den rehten valsch het er vermiten (319,8). Dennoch wird das Motiv der Treue zur Ursache weiteren Fehlverhaltens, wobei sich die Problematik verlagert. Weil Parzival der Untreue bezichtigt wird, sich aber keines Verstoßes bewusst war, richtet sich sein Zorn gegen denjenigen, der ihm als Inbegriff der Treue geschildert worden ist:155 Parzival sagt sich von Gott los.156 Dabei wiederholt er den Vorwurf des Versagens und implizit der Treulosigkeit, der ihm von Seiten der Gralsgesellschaft gemacht worden ist, und überträgt diesen mit einer analogen performativen Wirkung auf Gott. Auf dessen Beistand will Parzival nicht länger vergeblich warten und empfiehlt auch Gawan, auf den sichereren Schutz der Liebe zu vertrauen: dâ nem ein wîp für dich den strît: / […] / ir minn dich dâ behüete. (332,10–14) Über die zwischenmenschliche Liebe bleibt Parzivals triuwe selbst bei seiner Dienstaufkündigung gegenüber Gott erhalten, wird aber auf einen innerweltlichen Aspekt beschränkt. In seiner unstillbaren Sehnsucht nach Condwiramurs und seiner unermüdlichen Suche nach dem Gral offenbart sich seine triuwe immer wieder. Die distanzierte Haltung gegenüber Gott behält Parzival, bis er von Kahenis nachdenklich gestimmt und von Trevrizent ein weiteres Mal über das Wesen Gottes belehrt wird. Gegenüber dem pilgernden Ritter erneuert der Protagonist zunächst seine Anklage, indem er die eigene Dienstbereitschaft und Standhaftigkeit mit der Wankelmütigkeit und Unzuverlässigkeit Gottes kontrastiert: ich diende eim der heizet got, ê daz sô lasterlîchen spot sîn gunst übr mich erhancte: mîn sin im nie gewancte, von dem mir helfe was gesagt: nu ist sîn helfe an mir verzagt. (447,25–30)

Da Kahenis und seine Familie jedoch den von herzen minnent (450,19), dem er Hass entgegenbringt, wird Parzival zum Überprüfen seiner Position angeregt. Dezidiert verweist der Erzähler in dem Moment, als er die religiöse _____________ 155 Herzeloydes kurze Glaubensunterweisung beinhaltete zwei wesentliche Differenzkriterien: die Lichtmetaphorik und den Aspekt der Treue. So kontrastierte sie den Teufel, der ist swarz, untriwe in niht verbirt (119,26), mit Gott. Zu dessen Charakteristika gehörten, noch liehter denne der tac (119,19) zu sein und Unterstützung zu gewähren: sîn triwe der werlde ie helfe bôt (119,24). 156 Zu seinem Verständnis, Gott sei eine Art Feudalherr, dem ein Vasall bei fehlender Gegenleistung seine Treue aufkündigen kann, vgl. Nellmann, Kommentar, S. 622. Dass Parzival dabei keinerlei Zweifel an der Existenz Gottes hegt, betont Schröder (Ritter, S. 234).

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Dimension der triuwe wieder aktualisiert, auf Parzivals mütterliche Abstammung: sît Herzeloyd diu junge / in het ûf gerbet triuwe, / sich huop sîns herzen riuwe. (451,6–8) Bemerkenswerterweise entschließt sich der Held erst dann, sein Pferd der Führung Gottes zu überlassen, nachdem er seinen Blick zurück zu den Pilgern gerichtet und sich an der Schönheit der Töchter von Kahenis erfreut hat. Auf diese Weise wird sein Vertrauen, dass edle Frauen einen Ritter schützen und ihm den rechten Weg weisen können, inszeniert und seine Motivation, es noch einmal mit Gott zu versuchen, begründet. Besonders empfänglich muss Parzival daher auch für Trevrizents Begrüßung sein, der an seine Ehre als Minneritter appelliert: sît ir rehter minne holt, / sô minnt als nu diu minne gêt, / als disses tages minne stêt (456,18–20). Auf dieser Gesprächsgrundlage ist eine Verständigung möglich. Bereitwillig bekennt Parzival dem Einsiedler, ein Sünder zu sein, und klagt sein Leid. Noch immer betrachtet er Gott als Urheber seines Unglücks, ist mîn manlîch herze wunt, / […] / des gihe ich dem ze schanden, / der aller helfe hât gewalt (461,16–23). Diese Unterstellung kann Trevrizent nicht widerspruchslos gelten lassen. Er fordert von Parzival Gottvertrauen und entwirft ein Gottesbild, das mit Herzeloydes früherer Lehre übereinstimmt. Trevrizents Glaubensbekenntnis mündet in den Appell, in dem Parzivals oft bezeugte Treue auf seinen Schöpfer bezogen und zur permanenten Aufgabe erklärt wird: sît getriwe ân allez wenken, / sît got selbe ein triuwe ist (462,18f.). Obwohl es dem Einsiedleronkel gelingt, Parzival von der Sinnlosigkeit, ja Schädlichkeit seines Zorns zu überzeugen, ist die Ursache des Unglücks damit nicht geklärt. Vielmehr argumentiert Trevrizent in dem Aufruf, nu kêret iwer gemüete, / daz er iu danke güete (467,9f.), mit demselben Kausalzusammenhang zwischen Tun und Ergehen, dessen Diskrepanz zu Parzivals Auflehnung geführt hat. Weil Gott derjenige ist, der nihtes ungelônet lât (467,14f.), fällt es dem Protagonisten schwer hinzunehmen, daz ich durch triwe kumbers pflac. (467,18) Dennoch akzeptiert Parzival die Katechese, ohne die Zuverlässigkeit Gottes je wieder in Frage zu stellen.157 Zugleich würdigt Trevrizent die Treue, die Parzival stets bewahrt hat, und schreibt der Liebe zu seiner Frau gar eine heilsrelevante Funktion zu:158 wert ir erfundn an rehter ê, / iu mac zer helle werden wê, / diu nôt sol schiere ein ende hân (468,5–7). Neben der Suche nach dem Gral ist Parzivals Treue gegenüber Condwiramurs die zweite Konstante, die seinen Weg kennzeichnet. Unter den vielen Rittern, die Orgeluses Schönheit verfallen, bleibt allein Parzival standhaft. Beim arthurischen Fest weiß er sich trotz seiner Wiederaufnahme in die Tafelrunde nicht zu vergnügen, weil er sich _____________ 157 Vgl. auch Knapp (Wirklichkeit, S. 360) gegen Huby (Parzivals ‚Entwicklung‘, S. 267f.). 158 Vgl. auch Schumacher, Auffassung der Ehe, S. 224.

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nach Condwiramurs sehnt und sich von keiner anderen Dame trösten lassen will. grôz triwe het im sô bewart / sîn manlîch herze und ouch den lîp (732,8f.), bescheinigt ihm der Erzähler, als der Held sein trauriges Liebesgeschick beklagt. Parzivals große Treue wirkt sich bei seinem letzten Zweikampf mit Feirefiz positiv aus. In appellativen Kommentaren fordert der Erzähler Parzival auf, die Hilfe der Instanzen in Anspruch zu nehmen, denen er bisher treu gedient habe. Dazu zählen nicht nur der Gral und die Minne, deren Bedeutung für das Leben des Helden außer Frage steht, den was er beiden diensthaft / âne wanc mit dienstlîcher kraft (737,29f.), sondern auch Gott. Der Erzähler informiert nun, der getoufte wol getrûwet gote / sît er von Trevrizende schiet (741,26f.). Dementsprechend rät er Parzival: er solte helfe an den gern, / der in sorge freude kunde wern. (741,29f.) Nachdem sich Gott beim vermiedenen Brudermord tatsächlich als treuer Retter erwiesen hat, kann der Erzähler die Treue als urchristliche Eigenschaft präsentieren, die die Christen durch die Taufe mit ihrem Herrn verbindet:159 der touf sol lêren triuwe, / sît unser ê diu niuwe / nâch Kriste wart genennet: / an Kriste ist triwe erkennet. (752,27–30) Im Motiv der triuwe konvergieren schließlich kausale und finale Handlungsmotivation. Nach einer langen Zeit des Unglücks erreicht Parzival durch sein unermüdliches Streben, das ein Wesenszug der ererbten Treue ist, sein Ziel, das ihm der getreue Gott gewährt. Forschungsdiskussion: Tragische Schuld und christliche Erlösung In der Forschungsliteratur ist der Begriff der Tragik verschiedentlich mit Parzivals Schicksal in Verbindung gebracht worden, wobei die Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit seines Handelns betont werden. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Parzival ohne es zu wollen und zu erkennen, Böses tut und Schuld auf sich lädt. Während sein Verhalten von Sigune und Cundrie scharf verurteilt und im 9. Buch von Trevrizent negativ bewertet wird, hält sich der Erzähler auffällig mit Schuldzuweisungen zurück. Erst in Trevrizents Figurenrede werden die Verwandtschaftsbeziehung von Parzival und Ither und die Erlösungsbedingungen der Gralsgesellschaft aufgeklärt; negative Handlungsfolgen wie Herzeloydes Tod oder das verlängerte Leiden des Anfortas werden in der Retrospektive offenbart. Weil Parzivals Verfehlungen nicht aus sittlicher Bosheit resultierten, seien sie „ins Tragisch-kaum-Vermeidbare gewandt“, argumentiert Gott_____________ 159 Aufgrund ihrer Reinheit und Treue sind auch Belakane und Feirefiz auf Christus hingeordnet; sie werden als proto-christlich dargestellt. Vgl. 28,14–17, 752,23–26.

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fried Weber.160 Auch in der neueren Literatur wird die Diskrepanz zwischen fehlendem Bewusstsein und schuldhaftem Handeln konstatiert und mit Hilfe tragödientheoretischer Termini beschrieben. So hebt Volker Mertens im Hinblick auf Parzivals Verhalten auf Munsalvaesche hervor, dass er zwar „subjektiv unschuldig“ sei, die „objektive Folge“ jedoch die Fortdauer der Schmerzen für den Gralskönig bedeute. Walter Haug wiederum spricht vom Paradoxon einer „schuldlose[n] Schuld“.161 Ähnliche Überlegungen veranlassten bereits Otto Georg von Simson zur Anmerkung, dass Parzivals Schuld „im tragischen, nicht im ethischen Sinne“ zu verstehen sei.162 Welche Handlungen als tragisch zu klassifizieren sind und wie Parzivals Taten im Einzelnen gewichtet werden müssen, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet.163 Da der Erzähler und die verschiedenen Figuren sein Verhalten kontrovers bewerten, hängt die Entscheidung wesentlich davon ab, welcher Sprechinstanz die größte Glaubwürdigkeit zugebilligt wird.164 Während Trevrizents Aussagen aufgrund seines Widerrufs in jüngerer Zeit in Frage gestellt werden, galt er lange als unbestrittene Autoritätsperson in Bezug auf Parzivals Sünden. In chronologisch inversiver Reihenfolge finden diese im Gespräch mit dem Neffen Erwähnung: Parzivals Auflehnung gegen Gott, das Versagen des Unbekannten auf der Gralsburg, die Tötung Ithers und der Tod der Mutter. Wie jede dieser Sünden in der Forschungsliteratur Vertreter gefunden hat, die ihre besondere Schwere hervorheben, variieren die Urteile, inwiefern dem Protagonisten eine Schuld angelastet werden darf. Handelt es sich um notwendige, subjektiv schuldlose und damit tragisch schuldhafte Taten, oder hätte Parzival sich anders verhalten können und wäre seine Schuld – dem modernen Tragikverständnis der Interpreten widersprechend – vermeidbar gewesen? Für eine weitgehende Schuldlosigkeit Parzivals, der die erzählte Welt in ihrer „tiefen und schweren Tragik“ kennenlernen müsse, setzt sich Friedrich Maurer ein.165 Er grenzt die einzigen Sünden, die Parzival bewusst begehe, nämlich sich von Gott abzuwenden, die kirchliche Gemeinschaft aufzugeben und die freudige Einstellung gegenüber der Welt gegen eine kummervolle einzutauschen, von allen vorherigen Taten ab und stellt die Auflehnung gegen Gott als Reaktion auf sein unverschuldetes Leid _____________ 160 161 162 163

Weber, Parzival, S. 53. Mertens, Artusroman, S. 124; Haug, Literaturtheorie, S. 158. Von Simson, Über das Religiöse, S. 220. Einen neueren Überblick über die Diskussion der Schuldfrage bieten Bumke (Wolfram von Eschenbach, S. 128–130) und Schröder (schildes ambet, S. 60–68). 164 Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 126; Schu, Abenteuer, S. 299. 165 Maurer, Parzivals Sünden, S. 303. Zu den übrigen Zitaten vgl. S. 305f., 313f., 316, 333.

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dar. Das Unbefriedigende an Trevrizents Vorhaltungen sei, argumentiert Maurer, dass es sich sowohl beim Tod der Mutter und der Tötung Ithers als auch bei der versäumten Frage um unwissentlich und unwillentlich begangene Taten handle. Dass Parzival gegen den Wunsch seiner Mutter Ritter werden wolle, dürfe nicht als Sünde betrachtet werden: „Was die Mutter wollte, war unnatürlich. Eine Schuld Parzivals kann hier nicht gesucht werden.“ In der Auseinandersetzung mit Ither meint Maurer gar eine Entwicklung zu beobachten, deren „Zwangsläufigkeit an den Streit der Königinnen im Nibelungenlied“ erinnere. Wolfram bezeichne ihn an dieser Stelle ebenso wenig als schuldig wie auf der Gralsburg. Parzival unterlasse die Frage nicht etwa aus einem Mangel an erbärmde oder triuwe, sondern nur, weil er zur richtigen Entscheidung und Erkenntnis noch nicht reif genug sei und obwohl er die beste Absicht und lauterste Gesinnung habe. Erst dieses Missverhältnis zwischen Intention und Ergehen führe den Protagonisten in eine zwîvel-Situation, in der er sich von Gott lossage. In der Unbegreiflichkeit dessen, wie es möglich ist, dass Parzival trotz besten Wissens so schwere Fehler begangen habe und in solches Leid komme, werde der „Ansatz zur Tragik“ spürbar. Vehement wendet sich Peter Wapnweski gegen diese Deutung, wobei er Maurers Tragikbegriff als ‚unchristlich‘ disqualifiziert. Schicksal und Tragik meldeten sich dort, wo die Fähigkeit des Menschen aufhöre, sein Unglück selbst zu verschulden. An Parzivals Schuld gebe es jedoch nichts zu bezweifeln: Sein „Sturz ist nach mittelalterlicher Vorstellung das zweite Glied einer Kausalkette, deren erstes ‚Sünde‘ heißt. Daß hier nicht Tragik klassisch-antiker oder germanischer Observanz noch ein Hiobschicksal dargestellt wird, liegt klar zutage.“166 Um seine These zu belegen, greift Wapnewski die von Maurer genannten Aspekte im Einzelnen auf und setzt mit seiner Kritik bei Parzivals fehlendem Bewusstsein an: „[…] abgesehen […] von manchem andern muß man doch fragen, wie denn der rabiate Aufbruch gegen den ausdrücklichen Willen der Mutter noch als ‚unwissentliche und unwillentliche‘ Sünde verstanden, wie denn die Tötung Ithers auf gleiche Weise interpretiert werden kann! […] hier ist zu reden nur vom vierten und vom fünften Gebot: Parzival hat seine Mutter böslich verlassen; Parzival hat Ither getötet.“

Die Plausibilität seiner Auffassung verstärkt Wapnewski mit einer Reihe von Suggestivfragen, in denen er mit Wahrscheinlichkeiten operiert. Herzeloyde habe Parzival kaum den Dekalog verheimlicht, so dass er die Gebote, die Eltern zu ehren und den Nächsten nicht zu töten, kennen müsse. Abgesehen davon sollte das „instinktive Ethos selbst primitiver Naturvölker“ ein Kind vor solcher Ahnungslosigkeit schützen. Zwar gesteht Wap_____________ 166 Wapnewski, Wolframs Parzival, S. 75, für die übrigen Zitate vgl. S. 81f.

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newski dem Protagonisten aufgrund seiner vielbeschworenen tumpheit mildernde Umstände zu, doch lehnt er es nachdrücklich ab, diese zwuo grôzen sünden zu bagatellisieren. Wissentlich und willentlich habe Parzival den roten Ritter getötet und sich des Mordes schuldig gemacht, nur stelle sich das Wissen um die doppelte – und bei der Mutter nicht intendierte – Tötung von Verwandten erst später ein. Ähnlich wird die Schuldfrage von Benedikt Mockenhaupt beurteilt, der Parzivals Verantwortlichkeit für Herzeloydes Tod hervorhebt. Obwohl der Protagonist nicht ahne oder gar wolle, dass sein Losreißen den Tod der Mutter verursache, werde ihm dies als Sünde angerechnet „und zwar mit vollem Recht.“ Auf das Verhalten der Hauptfigur bei Chrétien bezugnehmend, räumt Mockenhaupt zwar ein, dass Wolfram Percevals „krasse […] Roheit“ gemildert habe.167 Dieser schaute sich nach wenigen Schritten um, sah seine Mutter ohnmächtig daliegen, als sei sie tot umgefallen, und ritt trotzdem davon.168 Percevals Schuld, ohne triuwe, ja gegen sie zu handeln, bleibe jedoch in der deutschen Version erhalten, betont Mockenhaupt. Parzivals Sünde bestehe genau darin, dass die „ichbezogene Härte seines triebhaften Handelns“ für triuwe keinen Raum mehr lasse. Das Verhalten des Protagonisten vor dem Hintergrund von Herzeloydes früherer Betroffenheit beurteilend und es mit seinem Versagen auf Munsalvaesche parallelisierend, klagt Mockenhaupt an: „Parzival hatte doch bemerkt, daß sein bloßes Bekanntwerden mit dem Rittertum eine lange Ohnmacht der Mutter zur Folge hatte und daß ihr nachher noch sein ausführlicher Bericht tiefsten Schmerz bereitete – kein Wort des Verständnisses oder der Teilnahme kommt über seine Lippen. Schon hier versäumt er die Mitleidfrage. Er kennt nur sein Verlangen. Hätte er triuwe gehabt, so hätte er nimmer den […] Ausritt mit der Rücksichtslosigkeit betrieben und vollzogen, die nun seine erste Sünde ausmacht.“

Wenngleich Mockenhaupt davor warnt, „über einen Knaben von besten Anlagen“ den Stab zu brechen, liege unzweifelhaft ein Verstoß gegen die triuwe vor. Dieser gehe aus „naturhaft selbstischem Trieb“ hervor, weshalb Parzival vor Gott die volle Verantwortung trage. Volker Mertens kann dagegen in Parzivals Aufbruch von Herzeloyde ebenso wenig wie Maurer eine Schuld erkennen. Der Tod der Mutter sei Wolframs Helden nicht anzurechnen, markiere nur seinen ersten Schritt auf dem Weg ins ritterliche Leben, an dessen Beginn sein eigentliches Verbrechen stehe. Parzivals Verhalten gegenüber dem roten Ritter, den Wolfram zu einem Verwandten gemacht hat, bewertet Mertens als ein „schlimme[s] Vergehen“.169 Damit knüpft er an Wolfgang Mohrs Urteil an, der _____________ 167 Mockenhaupt, Frömmigkeit. Dieses sowie die folgenden Zitate stammen von S. 66f. 168 Vgl. Chrétien de Troyes, Perceval, V. 620–630. 169 Vgl. Mertens, Artusroman, S. 115, 118.

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Ithers Tötung in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt und die menschliche Schuld als Hauptthema des Werks betrachtet.170 Mohr erblickt im Verwandtschaftsmotiv das Verbindende aller drei Sünden Parzivals. Ithers Totschlag betrachtet er als paradigmatisch und führt ihn auf Wolframs persönliches Anliegen zurück, als Ritter den „tragischen Kampf unter Verwandten“ thematisieren zu wollen. Eine Abstufung zwischen schwereren bewussten und leichten ungewollten Sünden liegt nach Mohrs Auffassung nicht vor. Vielmehr würden gerade die Sünden zum Problem, die Parzival aus tumpheit begangen habe. Nur „unter ritterlich-weltlichem Aspekt“ schienen für diese Taten „mildernde Umstände zu gelten“. Als Wolfram sie jedoch durch Trevrizents Rede „unter göttlichen Aspekt“ stelle, käme „ihre ganze Schwere zu Tage.“ Ungeachtet der subjektiv empfundenen Schuldlosigkeit ist der Protagonist somit vor Gott durch seine objektive Schuld als Sünder überführt. Das Konzept der schuldlosen Schuld gewinnt vor allem für Parzivals Scheitern auf Munsalvaesche an Bedeutung. Cundries harsche Vorwürfe stehen in deutlichem Kontrast zum Bemühen des Helden, sich angemessen zu verhalten, und der Hilfsbereitschaft gegenüber seinem Gastgeber. Dementsprechend hat Julius Schwieterings Interpretation, der Parzival die versäumte Frage am schwersten anlastet, wenig Zustimmung gefunden. Schwietering deutet Parzivals Weg zum Gral religiös als „Weg der Verschuldung und Sünde und des Bewußtwerdens der Verfallenheit an die Sünde“.171 Mit der unterlassenen Mitleidfrage verletze der Protagonist wie beim Tod der Mutter und dem Kampf mit Ither „nicht nur die triuwe von Mensch zu Mensch an empfindlichster Stelle, sondern unmittelbar die Gottestriuwe.“ Schwietering kritisiert die Forschung, weil sie „der Schuld Parzivals nicht den ganzen Ernst religiöser Schwere beigemessen“ habe. Eine entschuldigende Erklärung lässt er nicht gelten: „Ob und wie immer man die schuldhaften Einzelhandlungen Parzivals begründen mag, […] es sind ernst zu nehmende Sünden, Sünden von vollem Gewicht.“ Die Mehrzahl der Interpreten lenkt die Aufmerksamkeit hingegen auf die besonderen Umstände von Parzivals Aufenthalt auf der Gralsburg. Bei dieser Strategie, den Protagonisten gegen den Vorwurf der Untreue und des fehlenden Mitleids zu verteidigen, können sie sich auf die eindeutige Stellungnahme des Erzählers stützen (vgl. 319,8). Zudem insistiert auch Trevrizent nicht auf der besonderen Schwere der Sünde: die sünde lâ bî dn andern stên (501,5).172 Wichtiger als die in jüngster Zeit aufgeworfene Frage, _____________ 170 Vgl. Mohr, Ritterliche Schuld, S. 148. Zu den übrigen Zitaten vgl. S. 155, 157, 160, 156 (nach Reihenfolge der Zitate). 171 Schwietering, Parzivals Schuld, S. 51. Zu den übrigen Zitaten vgl. S. 51f., 56, 58. 172 Entgegen der üblichen Deutung betont Nellmann (Kommentar, S. 701f.), dass Trevrizents Formulierung nicht zwingend bedeute, dass die Sünde für ihn weniger Gewicht als die bei-

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was Parzival von dem Gralsgeschehen zu sehen bekommt und ob er überhaupt in die Lage versetzt wird, die richtige Schlussfolgerung zu ziehen,173 ist für eine textadäquate Bewertung der Aspekt seiner ritterlichen Erziehung. Wolfram lässt keinen Zweifel daran, dass der Gedanke an die Lehren des Gurnemanz für Parzivals Schweigen ausschlaggebend ist. Aus diesem Grund lastet Gottfried Weber Parzival sein Versagen auf der Gralsburg nicht vollständig an. Zwar handle Parzival gegen das christliche Ethos des Mitleids, doch resultiere dies aus „höfischem Verstricktsein“ und sei aufgrund der engen Ausrichtung auf seinen Lehrer kaum vermeidbar: „Die Schuld des Helden ist zu tragischer Brechung gemildert durch die fragwürdige Relativität der Gurnemanzischen Erziehung […].“174 In der Diskussion, inwiefern Parzival für sein Versagen auf Munsalvaesche verantwortlich gemacht werden kann, nähert sich Peter Wapnewski einem solchen Tragikkonzept an, das er bei Maurer stark kritisiert. Während er diesem vorwirft, Parzivals Schuld bei Herzeloydes und Ithers Tod nicht anzuerkennen und das Geschehen zu Unrecht als unvermeidbar, schicksalhaft und tragisch zu interpretieren, geht er selbst von einer Zwangsläufigkeit des Scheiterns aus, setzt diese nur zu einem späteren Zeitpunkt an und begründet sie neu. Der Protagonist versagt nach Wapnewskis Ansicht nicht, weil er die Lehren von Gurnemanz nicht situationsgerecht anzuwenden weiß. Vielmehr ist es ihm auf Munsalvaesche nicht einmal möglich, das Richtige zu tun, da sich seine vorherigen Taten restriktiv auf seine Handlungsoptionen auswirken: „Parzival sündigt dadurch, daß er sündig ist.“ Sein Nichtfragen diene nur als eine Bestätigung dafür, dass er den Gral zwar gemäß seiner Prädestination finden, ihn aufgrund seiner Sünde aber nicht erringen könne. „E r h a t d e n G r a l bereits verloren, bevor er ihn durch sein Schweigen verl i e r t . “175 Wapnewski wertet Parzivals Aufbruch von der Mutter und seinen Kampf mit Ither als schwere Sünden und verknüpft sie kausal mit seinem Versäumnis auf der Gralsburg. Die „an sich ‚gute‘ Regel“ verwandle sich in der Hand des Sünders „in ein Vehikel der Sünde“. Dementsprechend erklärt Wapnewski Parzivals Versagen mit seiner „Sündhaftigkeit in tiefester Verstrickung“, die der Protagonist nicht überschauen und schon gar nicht auflösen könne.176 _____________ 173 174 175 176

den anderen habe. Da er den Gralsbesuch schon mehrfach angesprochen habe, brauche er nun nicht mehr darauf zurückzukommen. Dies erörtert Green (Parzival’s failure, S. 155–174), der die Strategie des Erzählers beleuchtet, den Lesern mehr Informationen als Parzival zu liefern, um sie auf seine Seite zu ziehen. Weber, Parzival, S. 221, 43, 222 (nach Reihenfolge der Zitate), vgl. auch S. 53. Wapnewski, Wolframs Parzival, S. 95. Für die übrigen Zitate vgl. S. 96f. Unter Bezugnahme auf die Sünden-, Buß- und Gnadenlehre des Augustinus deutet Wapnewski (Wolframs Parzival, S. 99f.) Parzivals sündhaften Zustand als Reat, den nur Gott verhängen und aufheben kann.

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Wapnewski macht sich damit die Deutung zu eigen, die Chrétien seinen Einsiedler geben lässt. Percevals Scheitern wird ausdrücklich mit seinem rücksichtslosen Verhalten gegenüber seiner Mutter begründet: Por le pechié que tu en as / T’avient que rien n’en demandas / De la lance ne del graal, / Si t’en sont avenu maint mal, klärt der Einsiedler seinen Gast auf und betont: Pechie[z] la langue te trencha […].177 Dass ein solcher ‚Schuldautomatismus‘ im mittelhochdeutschen Roman fehlt, gesteht Wapnewski freimütig ein. Wolfram verzichte jedoch nur auf „das Vordergründig-Mechanische“ dieses Prozesses, wohingegen Sünde und Strafe weiterhin eng aufeinander bezogen blieben: „[D]ie Kettenfolge von Sünde und wieder Sünde, von Sündenfolge und tieferem Sturz in das Leid der Sünde ist nicht minder konsequent als bei Chrétien […].“178 Wenngleich Wapnewski den Begriff der Tragik meidet, so erhält auch bei ihm Parzivals Versagen auf der Gralsburg den Charakter des Notwendigen und Unvermeidlichen.179 Werden in der Forschung bei der Bewertung von Parzivals Taten auf dem Weg bis Munsalvaesche verschiedene Auffassungen vertreten, so herrscht in der Beurteilung seiner Auflehnung gegen Gott weitgehende Einigkeit. Während Chrétiens Perceval Gott schlicht vergisst, erhebt sich Parzival im Zorn gegen ihn.180 Diese bedeutende Änderung Wolframs wird meist als Sünde klassifiziert, bei der vor allem hinsichtlich ihrer Gewichtung Unterschiede auftreten. Allein Gottfried Weber bezeichnet die Auflehnung des Protagonisten gegen Gott als tragisch, wobei er den Akzent nicht auf das Bewusstsein des Helden, sondern auf die „relative Berechtigung“181 seiner Empörung legt: „[D]ie Gottabwendung ist […] tragisch gezeitigt […] durch das Urgefühl des Eigenrechtes der geschaffenen Wesenheit.“ Parzival hasse Gott, weil er denke, dieser verwerfe „sein Eigenwollen und seine immanente menschlich-natürliche Eigengesetzlich_____________ 177 Chrétien de Troyes, Perceval, V. 6399–6409. Übers. v. Olef-Krafft: „Wegen dieser Sünde war es dir unmöglich, nach Lanze und Gral zu fragen; deswegen wurdest du von mancherlei Übel heimgesucht. […] Die Sünde schnitt dir das Wort ab […].“ 178 Wapnewski, Wolframs Parzival, S. 112. 179 Dieser Gedanke wird von Otto Georg von Simson (Über das Religiöse, S. 217f.) ausgeführt, der das christliche Vokabular gegen tragödientheoretische Termini eintauscht. Das eigentümliche Verhältnis, in dem das Religiöse zum Tragischen stehe, zeige sich ganz deutlich, als Parzival sein Schicksal inmitten der Festfreude des Artushofes ereile: „Vor die entsetzt verstummenden Ritter und Damen tritt die Furiengestalt der Cundri und unerbittlich wie die griechischen Eumeniden verkündet sie Parzival seine Schuld und sein Verhängnis.“ 180 Vgl. Chrétien de Troyes, Perceval, V. 6217–6237: Perchevax, ce nos dist l’estoire, / Ot si perdue la miemoire / Que de Dieu ne li sovient mais. / […] / Tot ensi cinc ans emploia / N’onques de Dieu ne li sovint. Übers. v. Olef-Krafft: „Wie unsere Vorlage berichtet, hatte dieser sein Gedächtnis so vollständig verloren, daß ihm nicht einmal mehr Gott in den Sinn kommt. […] Derart verbrachte er fünf Jahre ohne den geringsten Gedanken an Gott.“ 181 Weber, Parzival, S. 222. Zu den übrigen Aussagen vgl. S. 53, 51, 222 (in der Reihenfolge der Zitate).

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keit schlechthin“. In „tragischer Schuld“ kündige er seinen Dienst einem Herrn auf, von dem er sich in seiner menschlichen Eigenständigkeit und Würde missachtet fühle. In anderen Deutungen fällt das Urteil weniger verständnisvoll aus. Mehrere Autoren halten wie Friedrich Maurer den Gotteshass für die Sünde, in der Parzivals „eigentliche Schuld“ bestehe.182 Ob der Protagonist nach der für Missverständnisse anfälligen Glaubensunterweisung durch Herzeloyde und der auf die Frömmigkeitspraxis konzentrierten Einführung durch Gurnemanz überhaupt über ein angemessenes religiöses Wissen verfügt, wird nicht problematisiert. Heinrich Hempel betont etwa, dass das zentrale Vergehen des Helden nicht die Unterlassung der Frage, sondern sein Auftrotzen gegen Gott sei.183 Dabei handle es sich nicht nur um Gotteszweifel im gewöhnlichen Sinne, sondern weit schwerwiegender um Hass und Untreue gegenüber dem Schöpfer. In dem Moment, als Parzival sein Vertrauensverhältnis zu Gott bewusst aufkündige und damit gegen den „eigensten Lebenssinn jedes mittelalterlichen Christen“ aufbegehre, beginne das „eigentliche Schuldproblem“ des Romans.184 Geht man davon aus, dass Parzival bis zu seiner Dienstaufkündigung gegenüber Gott keine Schuld nachzuweisen ist, muss eigens geklärt werden, weshalb er für seine vorherigen Sünden angeklagt werden kann. Die Vertreter dieser These greifen gerne auf weltanschauliche Deutungsmodelle zurück. Vor allem religiöse Interpretationen sind beliebt, in denen die Situation des Protagonisten auf die der Menschheit nach dem Sündenfall bezogen wird. Wolfram wolle im ‚Parzival‘ thematisieren, dass sich jeder Mensch in schlimmste Schwierigkeiten verwickeln und aufs Schwerste versagen könne, erläutert Maurer: „[J]ene schicksalhaft-zwangsläufige Leidverflochtenheit und jenes unvermeidbare Versagen und Schuldigwerden“ deutet er im Rahmen theologischer Vorstellungen von der generellen Unzulänglichkeit des Menschen und der Mangelhaftigkeit der Welt, die in der Erbsünde begründet lägen.185 Ähnlich äußern sich Peter Wapnewski und Joachim Bumke. Der erstgenannte meint, dass Wolfram die „dem Leben immanente Sündnotwendigkeit am Beispiel eines nach menschlichen Maßen makellosen Men_____________ 182 183 184 185

Maurer, Parzivals Sünden, S. 343. Hempel, ‚zwivel‘, S. 184. Hempel, ‚zwivel‘, S. 178, 186. Vgl. auch Murdoch, Parzival, S. 156. Maurer, Parzivals Sünden, S. 335f. Kritisch setzen sich mit Maurers Begriff der Erbsünde, den er von Augustinus herleitet, Wapnewski (Wolframs Parzival, S. 75–84) und Blank (Mittelalterliche Dichtung, S. 135–137) auseinander. Dieser kritisiert, dass jede Verfehlung nach Maurers Deutung nur noch poena peccati, kein peccatum wäre, was der kirchlichen Lehre völlig widerspreche. – Auf welche theologischen Vorstellungen sich Wolfram bei Trevrizents Sündenlehre stützt, ist nicht eindeutig geklärt. Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 130.

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schen“ darstellen wollte.186 Die „fast unvermeidliche Verstrickung in die Sünde“ betont der zweite Autor. Parzival erscheint nach Bumkes Ansicht nicht so sehr als individueller Sünder, sondern als „Typus für die Sündhaftigkeit des Menschen“.187 Diese Perspektive vertieft Brian Murdoch, indem er Parallelen zwischen der biblischen Sündenfallgeschichte und Wolframs Roman aufzeigt. Er argumentiert, Parzivals Abfall von Gott sei seine einzige Sünde, durch die er zugleich Adams Abwendung von seinem Schöpfer wiederhole. Alle anderen Sünden erwüchsen aus der Unkenntnis, die eine Folge der Erbsünde sei, und könnten nicht vermieden werden. Dennoch entschuldige ihn dies nicht, vielmehr werde das existentielle non posse non peccare des gefallenen Menschen gezeigt.188 Kritik an diesen theologisch-anthropologischen Deutungen übt Will Hasty, da er Parzivals besondere Situation als Ritter nicht berücksichtigt findet. Zwar stimmt er zu, dass das Vergehen und die Schuld des Protagonisten nicht nur die Probleme eines isolierten Individuums spiegeln, fordert aber auf, diese sozial statt religiös zu interpretieren; Parzivals Handlungen seien in Bezug auf die höfische Gesellschaft zu werten.189 Eine Verbindung zwischen diesen beiden Aspekten sucht Volker Mertens herzustellen, indem er zunächst die Bedingungen des Rittertums beschreibt und diese dann auf das Menschsein überträgt. Im ‚Parzival‘ erscheine die Ritterschaft als „unausweichlich notwendige Lebensform“, die zugleich „mit Schuld ebenso notwendig“ verknüpft sei. Damit stehe das Rittertum „symbolisch für die Situation des Menschen in der Welt schlechthin, der durch die Erbsünde […] immer schon erlösungsbedürftig ist.“190 Während sich viele Autoren davor hüten, in einem theologischen Kontext mit dem Tragikbegriff zu operieren, muss Hasty bei seinem sozialgeschichtlichen Ansatz weniger Bedenken hegen und kann „the dangerous and often tragic possibilities associated with knighthood“ erwähnen.191 Theologische Erbsündenlehre und metaphysische Tragödientheorie weisen Analogien auf, die sich im Vokabular zeigen.192 Die Notwendigkeit, schuldig zu werden, die Unvermeidbarkeit des Scheiterns und die Zwangsläufigkeit des Geschehens kennzeichnen sowohl die Situation des gefallenen Menschen gemäß christlicher Theologie als auch die des gestürzten Helden gemäß modernem Tragikverständnis. Ob die unlösbare Verstrickung des Protagonisten der Ursünde des ersten Menschenpaares _____________ 186 187 188 189 190 191 192

Wapnewski, Wolframs Parzival, S. 113. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 129. Vgl. Murdoch, Parzival, S. 156, 149 (nach Reihenfolge der Zitate). Vgl. Hasty, Beyond the Guilt Thesis, bes. S. 354f. Mertens, Artusroman, S. 133. Hasty, Beyond the Guilt Thesis, S. 356. Vgl. auch S. 42–45.

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oder einem numinosen Schicksal zugeschrieben werden muss, ist für das Unglück auf der Handlungsebene sekundär. Allerdings endet Wolframs ‚Parzival‘ nicht im Leid, sondern mit der Erhöhung des Helden, was sich problemlos in die religiösen Deutungen integrieren lässt, wohingegen man mit der weltanschaulichen Tragikdefinition in Argumentationsnöte gerät. Selbst die Autoren, die von einer tragischen Schuld des Helden überzeugt sind, interpretieren diese nun als Zeichen seiner Gnadenbedürftigkeit und betrachten sie durch die christliche Erlösung als überwunden. Wolfram breche „den Ansatz zur Tragik in der Wurzel“ ab, kommentiert etwa Maurer, nachdem er Parzivals Leid vor seinem Aufenthalt bei Trevrizent als tragisch klassifiziert hat.193 Ähnlich bewertet Weber den Handlungsverlauf: „Was […] in keimhafter Geballtheit an tragischen Möglichkeiten aufdämmert“, gestalte Wolfram nicht aus, sondern überführe die Erzählung in ein harmonisches Ende. Auf diese Weise werde er „zum Ueberwinder der tragischen Weltsicht“, merkt Weber an und rühmt den Verfasser des ‚Parzival‘ als „allseitige[n] Befreier der mannigfach verstrickten tragischen Seele seiner Zeit.“194 Ohne den „tragischen Begriff der Schuld“ in Frage zu stellen, aber ihn auf das „Mysterium der Erlösung“ beziehend, interpretiert von Simson Parzivals Weg. Indem der Protagonist unwissentlich schuldig werde, zeige er die Hinfälligkeit allen menschlichen Bemühens, das nicht von Gnade erleuchtet werde. Aber „das Unzulängliche, das Tragische der menschlichen Existenz“ sei für Wolfram „zugleich Vorbereitung, ja Vorahnung der Gnade.“ Sein Roman veranschauliche, dass auch der edelste Mensch ohnmächtig sei und der göttlichen Erlösung bedürfe.195 Der Forschungsüberblick macht deutlich, dass in der Frage nach Parzivals Schuld divergierende Positionen vertreten werden, die sich auf das Verständnis des Tragischen auswirken. Während in der Bewertung der einzelnen Vergehen und der Verantwortlichkeit des Protagonisten große Unterschiede bestehen, eint die zugrunde liegende tragödientheoretische Vorstellung die Interpreten. Die Prämisse von Parzivals tragischer Schuld ist, dass er trotz seiner hervorragenden Anlagen notwendigerweise scheitert. An dieser Tragikauffassung kann in verschiedener Hinsicht Kritik geübt werden, ohne sie gleich als unmittelalterlich diskreditieren zu müssen. Zu diskutieren ist erstens, ob Parzival wirklich als idealer Held dargestellt ist. Noch gravierender ist zweitens die Frage, inwiefern die einzelnen Handlungen unumgänglich sind. Schon wenige Beobachtungen belegen, dass Parzival stets andere Optionen zur Verfügung stünden: König Artus _____________ 193 Maurer, Parzivals Sünden, S. 334. 194 Weber, Parzival, S. 107, 106, 108 (nach der Reihenfolge der Zitate). 195 Von Simson, Über das Religiöse, S. 214, 225.

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bietet ihm an, ihn zum Ritter zu machen, so dass er Ither nicht töten müsste; Parzival überlegt auf der Gralsburg, wie er sich verhalten soll, und entscheidet sich dann, keine Fragen zu stellen; Gawan wird unmittelbar nach Parzival angeklagt, ohne gegenüber Gott in Zorn zu geraten. Allein Herzeloydes Tod ist unvermeidbar, wenn man den Wahrheitsanspruch ihres Drachentraums beachtet; allen weiteren Ereignissen nimmt Wolfram jedoch die Zwangsläufigkeit, die sie bei Chrétien besitzen. Kritisch ist drittens der Erkenntnisgewinn zu werten, den die metaphysische Tragikvorstellung der Moderne bietet, um die Ursachen von Parzivals Scheitern zu verstehen. In der Frage nach der Handlungsmotivation gelangen die Interpreten, die mit dem Begriff der tragischen Schuld argumentieren, kaum über ein allgemeines, weltanschauliches Deutungsmodell hinaus. Wenn sich die Erklärung für Parzivals Unglück im problematischen Zustand der Welt erschöpft, in der jeder Mensch notwendigerweise scheitern muss, bleibt die spezifische Motivierungstechnik des Romans unberücksichtigt. Zudem wird Parzivals Schuld mystifiziert, da auf der Handlungsebene – anders als bei seiner göttlichen Erwählung – keine übergeordnete Macht identifiziert werden kann, die für sein Leid verantwortlich ist.196 Diese Einwände legen nahe, dass ein finales Tragikmodell für die Deutung von Wolframs Roman weniger geeignet ist. Das kausal angelegte Tragödienverständnis der Antike kann sich dagegen wie schon bei Hartmanns ‚Erec‘ als hilfreich erweisen, um den Sturz des Protagonisten ins Unglück zu begründen. Tragikkonzept: Parzivals Hamartia Die aristotelische Charakterisierung eines tragischen Helden, der weder makellos noch bösartig sein darf,197 weist bemerkenswerte Übereinstimmungen mit dem Prolog des ‚Parzival‘ auf. Mit einem ungewöhnlichen Bild sucht Wolfram von Eschenbach die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu gewinnen. Er erwähnt einen Mann, der zugleich gesmaehet unde gezieret / ist (1,3f.), weil seine feste Gesinnung sich parrieret […] / als agelstern varwe tuot. (1,4–6) In der Auslegung dieses Vergleichs wird die Vermischung von positiven und negativen Elementen entfaltet. Der elsternfarbige Mensch habe an beidem Anteil, des himels und der helle. (1,9)198 Wenngleich aus den ersten Versen des Prologs nicht eindeutig hervorgeht, dass sie auf den Protagonisten des Romans zu beziehen sind, so wird bei seiner ersten _____________ 196 Zur Kritik vgl. Hasty, Beyond the Guilt Thesis, S. 359f. 197 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a. Vgl. auch S. 66. 198 Zum Elsterngleichnis vgl. auch Schröder, Ritter, S. 231–234.

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Vorstellung, er küene, traeclîche wîs (4,18), deutlich, dass der Held nicht in jeder Hinsicht als tadellos gilt.199 Die in der Forschung umstrittenen Handlungskategorien des Wissens und Wollens verlieren für die Frage nach der Tragik Parzivals an Bedeutung, legt man die aristotelische Tragödientheorie zugrunde. In der antiken ‚Poetik‘ werden mehrere Möglichkeiten intentionalen Figurenhandelns unterschieden, ohne eine absolut zu setzen. Demnach kann sich eine Handlung einerseits mit Wissen und Einsicht des Handelnden vollziehen, so wie Medea bei Euripides ihre Kinder tötet. Andererseits ist es möglich, dass sich die Einsicht erst danach einstellt und der Handelnde das Schreckliche seines Tuns – wie Ödipus bei Sophokles – zu spät erkennt. Aber ebenso kann eine Person, die aus Unkenntnis etwas Furchtbares zu tun beabsichtigt, noch rechtzeitig Einsicht erlangen. Denn eine Tat führe man entweder aus oder nicht, so hält Aristoteles fest, und zwar wissentlich oder unwissentlich. Von den genannten Optionen gehören Parzivals Handlungen zu denen, die Aristoteles für eine Tragödie am geeignetsten erachtet: „Noch besser ist es, in Unkenntnis zu handeln, nach der Tat aber zur Erkenntnis zu kommen. Denn daran ist nichts Frevlerisches, und die Wiedererkennung bewirkt eine Erschütterung.“200 Die grundlegende Motivation, dass der tragische Held wegen eines großen Fehlers einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt, wird durch die fehlende Einsicht also keineswegs aufgehoben. Vielmehr trägt die späte Erkenntnis dazu bei, die tragische Wirkung zu intensivieren. Statt den Protagonisten einer Tragödie durch unbekannte Umstände zu entlasten, legt Aristoteles den Akzent auf das auslösende Fehlverhalten, aus dem die negativen Konsequenzen resultieren. Ein solches kausales Handlungsmodell liegt auch Wolframs ‚Parzival‘ zugrunde. In jeder Situation, bei der in der Forschungsliteratur die Schuldlosigkeit des Protagonisten erwogen oder gar beschworen wurde, liegt ein problematisches Verhalten vor, das Erecs Handeln in Hartmanns Artusroman nicht unähnlich ist. Die verschiedenen Taten des Helden, die im Nachhinein als Sünde klassifiziert werden, basieren auf einer Hamartia, die mehrfach wiederholt und variiert wird: Parzival konzentriert sich bei seinem Handeln nur auf einen einzelnen Aspekt und begeht so immer wieder einen schwerwiegenden Fehler. Ein Missverständnis wäre es jedoch, dem Protagonisten generell eine schlechte Gesinnung, etwa die Liebe zu sich _____________ 199 Zudem wird das Merkmal des elsternfarbigen Menschen, unverzaget mannes muot (1,5), Parzival mehrfach zugesprochen. Vgl. Nellmann, Kommentar, S. 447. – Seine hervorragenden Anlagen, Mut, Stärke und Schönheit, widersprechen einer tragödientheoretischen Deutung in keiner Weise. Auch Aristoteles (Poetik, Kap. 15, 1454b) betont, dass ein Dichter keine durchschnittlichen, sondern bessere Menschen darstellen solle. 200 Aristoteles, Poetik, Kap. 14, 1454a.

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selbst, den Stolz auf eigene Leistung, ritterlichen Ehrgeiz oder weltliche Gelüste,201 zu unterstellen. Vor allem das wichtige Motiv der Scham belegt, dass Parzival die Fähigkeit, richtig und falsch zu unterscheiden, nie grundsätzlich verliert.202 Auffälligerweise hebt der Erzähler diese Eigenschaft des Helden gerade dann hervor, als seine Redlichkeit durch Cundries Anklage am stärksten in Frage gestellt worden ist: und dennoch mêr im was bereit / scham ob allen sînen siten. (319,6f.)203 Statt die lange anhaltende Schulddiskussion unter der thematischen Rubrik der Tragik fortzusetzen und Parzivals Verhalten mit einer „habituelle[n] Wahrnehmungsschwäche“ oder ähnlichem zu entschuldigen,204 lässt sich die aristotelische Tragikdefinition hermeneutisch fruchtbar machen. Sie kann zu der Untersuchung anregen, wie Parzivals Hamartia in einer konkreten Situation inszeniert und sein Scheitern motiviert wird. Wenn die isolierte Kindheit und die fehlende Erziehung des Protagonisten seine Handlungsweise plausibel erscheinen lassen, so erfüllt Wolfram auch in dieser Hinsicht eine Forderung des Aristoteles, ohne dass er je Zugang zur ‚Poetik‘ hätte erhalten können. Nach Auffassung des griechischen Theoretikers dient die Dichtung dazu, darzustellen, „dass es einem bestimmten Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukommt, Bestimmtes zu sagen oder zu tun.“205 Zwar erweist sich ein Held aufgrund seiner individuellen Disposition für ein bestimmtes Fehlverhalten besonders empfänglich, er unterliegt aber keiner Determination und bleibt somit stets für sein Handeln verantwortlich.206 Parzivals Konzentration auf einen singulären Aspekt, durch den er alles andere aus den Augen verliert, zeigt sich bei seinem Aufbruch von Herzeloyde deutlich. Schon bei der Begegnung mit Karnahkarnanz musste _____________ 201 Vgl. z.B. Swisher, Necessity, S. 264; Wapnewski, Wolframs Parzival, S. 82, 87; Weber, Parzival, S. 42f. 202 Schon im Prolog wird die Relevanz der Scham betont, die die Grundlage für alle Tugenden bilde: scham ist ein slôz ob allen siten (3,5). In ähnlicher Weise erklärt Gurnemanz: ir sult niemer iuch verschemn. / verschamter lîp, waz touc der mêr? (170,16f.) Zur Bedeutung vgl. auch Nellmann, Kommentar, S. 450. 203 Im Handlungsverlauf offenbart sich Parzivals sittliches Gefühl mehrfach, z.B. als er sich zu seinem Versagen auf Munsalvaesche bekennt (vgl. 488,5: getorst ichz iu vor scham gesagn) oder nicht zur Artusgesellschaft zurückzukehren wagt (vgl. 696,4f.: ich scham mich noch sô sêre, / ungern ich gein in kêre). 204 Nach Bumke (Blutstropfen, S. 77) resultiert die Schwäche aus seiner Kindheit in der Wildnis. 205 Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1451b. 206 Haug (Handlungsschematik, S. 59) kritisiert Bumkes (Blutstropfen, bes. S. 78–81, 104f.) Ansatz, Parzivals Handeln mit den Erziehungsdefiziten seiner Kindheit zu entschuldigen. Es liege keine „individuell an bestimmten Lebensumständen hängende Prädisposition des Helden“ vor. Stattdessen begründet Haug Parzivals Scheitern auf Munsalvaesche mit dem Strukturschema, ohne der Handlungsmotivierung in der erzählten Welt Bedeutung beizumessen.

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sich dieser über das Verhalten des Jungen wundern, der ihm eine Antwort schuldig blieb und stattdessen selbst ausgiebig Fragen stellte. So drängend war Parzivals Wunsch, Ritter zu werden, dass er nicht einmal die Erklärung abwarten konnte, was einen solchen ausmacht, sondern sofort über den Weg einer Umsetzung informiert werden wollte.207 Als Herzeloyde vor Schreck über Parzivals Begehren in Ohnmacht fällt, erkundigt sich der Junge – anders als zuvor bei der Tötung der Vögel – nicht mitleidsvoll nach dem Grund ihrer Bestürzung. Seine Rede kreist ausschließlich um das Rittertum. Parzivals völlige Fixierung auf dieses Ziel kommt auch in der Änderung zum Ausdruck, die Wolfram beim Abschied des Jungen gegenüber seiner Vorlage vorgenommen hat. Der fehlende Blick des Jungen auf seine tote Mutter dient weniger dazu, die Rohheit der Szene abzumildern, sondern sein unbedingtes Streben nach Ritterschaft darzustellen. Die unmittelbaren Folgen seines Aufbruchs nimmt Parzival in Wolframs Version nicht einmal wahr, so eilig hat er es, zu Artus zu gelangen (vgl. 128,15). Als Trevrizent ihn später über den Tod seiner Mutter aufklärt, bedauert Parzival dies zutiefst. Nicht einmal die Erfüllung seines größten Wunsches könne ihn über diesen Verlust hinweg trösten: waer ich dan hêrre übern grâl, / der möhte mich ergetzen niht (476,16f.). In der Begegnung mit Ither wiederholt Parzival seinen Fehler, indem er seine Perspektive wiederum auf einen Aspekt beschränkt.208 Diesmal achtet er nur auf die Rüstung des roten Ritters, ohne die mit seinem Begehren verbundene Problematik zu erkennen. Schon bevor der Protagonist am Artushof eintrifft, gilt sein Denken der prächtigen Rüstung. Diese erscheint ihm als Inbegriff des Rittertums, wan ez stêt sô rîterlîche. (148,18) Auf die freundliche Begrüßung des Königs reagiert Parzival ungestüm, stellt dessen Hilfsbereitschaft in Frage und drängt darauf, zum Ritter gemacht zu werden. Er empfindet ein gedehntes Zeitgefühl und klagt, ihm kämen die wenigen Tage seit dem Gespräch mit Karnahkarnanz wie ein Jahr vor. Dies dokumentiert, dass das Streben nach Ritterschaft für ihn oberste Priorität besitzt.209 Nachdem Parzival erklärt hat, dass er Ithers _____________ 207 Vgl. 123,4–6: du nennest ritter: waz ist daz? / hâstu niht gotlîcher kraft, / sô sage mir, wer gît ritterschaft? 208 Diese Deutung hilft auch, Parzivals ungebührliches Verhalten gegenüber Jeschute zu verstehen. Er sieht in ihr nur die Möglichkeit, einen Kuss zu erlangen, ohne auf ihren Widerstand zu achten. Selbst wenn er die Lehre der Mutter missverstanden hat, könnte ihn die Reaktion der Dame zum Nachdenken über sein gewalttätiges Vorgehen anregen. – Parzival wird für diesen Fehler jedoch nicht gestraft, sondern darf die negativen Folgen wiedergutmachen. Die einzige Leidtragende bleibt für lange Zeit Jeschute. 209 Eine ähnliche Auffassung vertreten Groos (Romancing the Grail, S. 69) und Mertens (Artusroman, S. 115). Sie führen Parzivals Versagen auf eine verkehrte Wertehierarchie zurück, in der ritterlicher Ruhm Vorrang vor allen anderen Werten erhält. Während Mertens seine Deutung auf Parzivals Weg bis zum Aufenthalt bei Gurnemanz begrenzt, erklärt die falsche Prioritätensetzung für Groos auch Parzivals Verhalten auf der Gralsburg.

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Rüstung erkämpfen will, weist Artus auf die drohenden Konsequenzen hin, wobei er vor allem um das Leben des Jungen fürchtet. Für Parzival spielt der Gedanke an den Tod dagegen weder bei seinem Aufenthalt am Artushof noch bei seiner Herausforderung des roten Ritters eine Rolle. Zielorientiert setzt Parzival sein Vorhaben um, wohingegen Ither sich bei seinem Schlag bemüht hat, ihm keine ernsthafte Verletzung zuzufügen. Der Knabe erlegt den roten Ritter wie ein Tier bei der Jagd im heimatlichen Wald und gelangt so auf schnellstem Weg zum Erfolg. Hat er beim Zusammentreffen mit der trauernden Sigune noch Mitgefühl gezeigt, so verliert das Leid des Todes für Parzival hier jede Bedeutung, da er nur die rote Rüstung fokussiert. In einem Resümee hält der Erzähler den Ausgang der Episode fest und benennt die Ursache für Ithers Tod: sîn harnasch im verlôs den lîp: / dar umbe was sîn endes wer / des tumben Parzivâles ger. (161,4– 6) Die Torheit des Protagonisten, die in der Auseinandersetzung mit dem roten Ritter neu aktualisiert worden ist, bietet eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Sein Begehren ist nachvollziehbar, ohne toleriert werden zu können. Da die Folgen irreversibel sind, wird sich Parzival später vergeblich wünschen, seine Tat ungeschehen machen zu können: sît dô er sich paz versan, / ungerne het erz dô getân. (161,7f.) Als die Prolepse des Erzählers im weiteren Handlungsverlauf eintrifft, bestätigt Parzival diese Deutung. Er verweist gegenüber Trevrizent auf seine eingeschränkte Perspektive, genam ich ie den rêroup, / sô was ich an den witzen toup (475,5f.), ohne seine Verantwortlichkeit in Frage zu stellen: ez ist iedoch von mir geschehn (475,7). Nachdem Parzival zu später Einsicht gelangt ist, offenbart ihm Trevrizent das wahre Ausmaß seines Vergehens. Er muss erfahren, mit Ither sogar [s]în eigen verch erslagn zu haben (475,21). In analoger Weise scheitert Parzival auf Munsalvaesche, weil er sich einseitig auf einen Ratschlag konzentriert, ohne konträre Hinweise zu beachten und mögliche Folgen zu bedenken. Weil er von Gurnemanz belehrt worden ist, dass Ritterschaft nicht nur im Tragen einer Rüstung besteht, strebt er danach, sich auch im Reden und Handeln als vorbildlicher Ritter zu beweisen. Zwar bemerkt Parzival auf der Gralsburg genau die rîcheit unt daz wunder grôz (239,9), dennoch hält er sich durch zuht (239,10) zurück. Seine gute Absicht steht dabei außer Frage, zumal er hofft, anhand eigener Beobachtungen herauszufinden, wiez dirre massenîe stêt. (239,17) Die Bemühungen der Gralsgesellschaft zielen freilich in die entgegengesetzte Richtung; indem Anfortas seinen Gast aufnimmt, ihn die geheimnisvolle Prozession schauen und am wunderbaren Mahl teilnehmen lässt, versucht er, ihn zum Fragen zu animieren. Parzival ist jedoch für diese Signale, vor allem für die bedeutsame Schwertgabe, nicht empfänglich, da er einen

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Teilaspekt der Ritterlehre verabsolutiert.210 Nur weil er seinen Fehler später einsieht, kann Parzival ihn schmerzlich bereuen: daz er vrâgens was sô laz, / do’r bî dem trûregen wirte saz, / daz rou dô groezlîche / den helt ellens rîche. (256,1–4) Zu Recht gelangt er zu der Erkenntnis, dass sich die Schweigeempfehlung des Gurnemanz nicht als allgemeingültiger Maßstab eignet, wie er gegenüber der Artusgesellschaft betont: sô mac sîn râten niht sîn ganz (330,3). Dieses Urteil fällt freilich auf Parzival selbst zurück, da er auf der Gralsburg ebenso wenig wie beim Abschied von der Mutter und bei der Auseinandersetzung mit Ither die Situation in ihrer Gesamtheit betrachtete. Statt ein differenziertes Urteil zu fällen, verfolgte der Protagonist wiederum nur ein konkretes Anliegen und achtete diesmal ausschließlich auf seine ritterliche Bewährung durch höfische zuht. Parzivals Handlungen sind vor dem Hintergrund der antiken Tragödientheorie als tragisch zu werten, weil er durch eigenes Fehlverhalten ins Unglück stürzt. Obwohl seine Taten aufgrund seiner Abstammung und Erziehung verständlich sind, handelt es sich dennoch um große Fehler. Dass Parzival dabei sogar eigenen Verwandten Schaden zufügt, trägt nach Aristoteles dazu bei, die tragödienspezifische Wirksamkeit zu erhöhen. Wenn Feinde oder Personen, die wenig miteinander zu tun haben, einander Leid zufügten, errege dies viel weniger Betroffenheit als bei engen Familienangehörigen. Nach solchen Fällen, in denen sich das schwere Leid innerhalb von Naheverhältnissen ereigne, solle man Ausschau halten.211 Auch ohne die antike ‚Poetik‘ gekannt zu haben, beherzigt Wolfram dieses Prinzip, indem er neue Verwandtschaftsbeziehungen knüpft und seine Hauptfigur mit dem getöteten Ritter und dem leidenden Burgherrn versippt. Von dem Fehlverhalten, das Parzival im Umgang mit seinen Verwandten an den Tag legt, zieht auf der Handlungsebene jedoch nur sein Versagen auf der Gralsburg für ihn selbst negative Konsequenzen nach sich. Er wird nicht nur aus der Gralsgemeinschaft ausgeschlossen, sondern verliert auch den neugewonnenen Platz in der Artusgesellschaft. Das plötzliche Unglück, das Parzival mit Cundries Auftritt ereilt, könnte zunächst den Eindruck erwecken, dass das Geschehen einem finalen Tragikmodell entspricht. Die Reaktion des Helden zeigt jedoch, dass eine andere Form der Motivierung für Wolframs Roman charakteristisch ist: Parzival beklagt in dieser problematischen Situation nicht etwa den unverdienten Schicksalsschlag, sondern begehrt gegen die metaphysische Instanz der erzählten Welt auf. Damit begeht er einen weiteren schwerwiegenden Fehler, der eine Gemeinsamkeit mit seinen vorherigen Taten _____________ 210 Müller (Kleine Katastrophen, S. 324, Anm. 19) betont, dass es sich um ein ethisches Defizit handle, das als „Konsequenz einer starren Fixierung auf einen höfischen Verhaltenscodex“ auftritt. 211 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 14, 1453b.

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aufweist, obwohl nun nicht seine Beziehung zu anderen Menschen betroffen ist: Parzival sieht nur noch einen Aspekt, sein unverdientes Unglück, und hadert deshalb mit Gott. Seinen guten Willen, Anfortas zu erlösen, hat der Protagonist bereits mehrfach bekundet, ohne ihn mehr in die Tat umsetzen zu können. Stattdessen ist er von Cundrie scharf angeklagt und einer Untat beschuldigt worden. Diese Diskrepanz zwischen seiner positiven Intention und dem negativen Resultat lässt Parzival die Allmacht Gottes in Frage stellen. Weil er von ihm keine Hilfe erfahren hat, meint er, auch Gott keinen Dienst mehr leisten zu müssen. Seine Abwendung ist vor dem Hintergrund der geschehenen Ereignisse ebenso erklärlich wie seine vorherigen Fehler, jedoch ebenso wenig zu entschuldigen. Trevrizent äußert sich dazu unmissverständlich; Parzivals Gotteshass sei nicht akzeptabel und könne ihm nicht nur innerweltlich Unglück bescheren: welt ir saelde niht verliesen. / lât wandel iu für sünde bî. (465,12f.) Bis zur Einkehr bei seinem Onkel setzt der Protagonist ausschließlich auf die eigene Kampfkraft, statt auf göttliche Unterstützung zu hoffen. Über die vermeintliche Untreue Gottes empört, begeht er denselben Fehler wie zuvor, einen Aspekt einseitig zu gewichten, was diesmal mit einer Selbstüberschätzung verbunden ist. Ausdrücklich warnt Trevrizent seinen Neffen vor der Sünde der Selbstüberschätzung: ir müest aldâ vor hôchvart / mit senften willen sîn bewart. (472,13f.) Mit einer prägnanten Formel skizziert Trevrizent, welche Entwicklung ein solches Verhalten nehmen wird: hôchvart ie seic unde viel (472,17). Dies zeige das abschreckende Beispiel des Anfortas, der gegen die Regeln der Gralsgesellschaft verstoßen hat und unter den Folgen erbärmlich leiden muss.212 Aus der Perspektive der aristotelischen Tragödiendefinition ist es wenig überraschend, dass der Protagonist in Wolframs Roman ins Unglück stürzt, nachdem er mehrfach gravierende Fehler begangen hat.213 Jede einzelne dieser Taten könnte genügen um eine Wende von Parzivals Glück herbeizuführen und sein dauerhaftes Leid zu begründen, wie der Fall des Anfortas belegt. Erstaunlicher hingegen ist, dass Parzivals Weg ihn am _____________ 212 Dass Anfortas einen größeren Fehler als Parzival begangen hat, muss bezweifelt werden. Weder handelt es sich bei der kiusche um den höchsten Wert, der selbst die triuwe gegenüber Gott übersteigt, noch verändert die Kategorie des Wissens die Bewertung wesentlich. Vielmehr besteht eine Parallele zwischen Parzivals Handeln und dem seines Onkels: Auch Anfortas kennt in seinem Streben nur das Ziel seiner Verwirklichung, ohne damit einhergehende Probleme zu berücksichtigen. Er stellt seine Minne über die strikten Regeln der Gralsgesellschaft und kann deshalb der hôchvart beschuldigt werden, für die er grausam bestraft wird. – Auch Bumke (Wolfram von Eschenbach, S. 91) betont, dass Parzivals Verfehlungen mit denen seines Onkels im Zusammenhang stehen. 213 Auch das Missverhältnis zwischen Schuld und Strafe, das viele moderne Interpreten irritiert hat, wie Müller (Kleine Katastrophen, S. 324) bemerkt, ist aus antiker Perspektive kaum verwunderlich.

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Ende wieder in die Freude führt, zumal Einsicht und Handeln bei ihm weiterhin keine Einheit bilden. Obwohl er bei Trevrizent sein Handeln als falsch erkannt und bereut hat, lernt er daraus wenig. Er setzt sein Kämpfen fort und ist völlig auf den Gral fixiert. Mehrfach gerät er in die Gefahr, erneut einen Verwandten in den Tod zu schicken und sein Unglück so zu vergrößern. Beim Kampf gegen Gawan zeichnet sich insofern eine Änderung ab, dass Parzival nun immerhin in der Lage ist, die Rufe der arthurischen Boten zu hören und richtig zu deuten. Er erkennt erstmals die drohenden Konsequenzen einer Tat, bevor er sie ausgeführt hat. Seine völlige Ausrichtung auf den Kampf, die ihn dazu veranlasst hat, gegen den Freund die Waffen zu erheben, ordnet Parzival nun selbst seinem früheren Fehlverhalten zu: sus sint diu alten wâpen mîn / ê dicke und aber worden schîn. (689,1f.)214 Sein Unglück erfährt damit jedoch keine Wende und ist von Parzival alleine auch nicht zu überwinden. Durch seine ruhmreichen Siege gelingt es ihm zwar, die Artusgesellschaft zu beeindrucken, die schon bei Cundries Auftritt Verständnis für seine missliche Situation aufgebracht hat. Seinem Ziel ist Parzival jedoch trotz seines unermüdlichen Strebens nicht wesentlich näher gekommen, wie er in seiner Klagerede beim Artusfest resümiert. Ebenso wenig wie Parzival seine Trauer und sein Leid kämpfend beseitigen kann, hat er die Möglichkeit, die Folgen seiner Hamartia ungeschehen zu machen. Weder kann er die Mutter oder Ither wieder zum Leben erwecken noch durch eigene Initiative Anfortas von seinem Leiden befreien und die Erlösung der Gralsgesellschaft erzwingen. Dass Parzival schließlich doch zum Gral gelangt und gar zum neuen König ernannt wird, ist weniger seinem Verdienst als der Gnade Gottes zuzuschreiben. got wil genâde an dir nu tuon (781,4), verkündet Cundrie bei seiner Berufung.215 Das Unglück des Protagonisten, das er selbst zu verantworten hat, wird durch den Eingriff von oben, den Akt eines deus ex machina, plötzlich zum Guten gewendet.216 Ein solcher Handlungsausgang gehört nach Aristoteles zwar nicht zur besten Art der Tragödie, sondern ist eher der Komödie eigen und stellt ein Zugeständnis an die Zuschauer dar.217 Dies ändert jedoch nichts daran, _____________ 214 Vgl. auch Harms, Kampf, S. 157. 215 Nach Müllers (Kleine Katastrophen, S. 325) Auffassung schließt die Bewältigung der Krise des klassischen Artusromans „immer auch ein Stück voraussetzungslosen Glücks“ ein, das providentielle Implikationen habe. Gott selbst stelle sicher, dass der Held in die höfische Gesellschaft zurückfinden und seinen Fehltritt korrigieren könne; „er gibt Parzival die unvorhersehbare Gnade, noch einmal Gelegenheit zur Frage zu haben“. 216 Knapp (Wirklichkeit, S. 362) betont die Gewaltsamkeit, „mit der ein deus ex machina lächelnd alles zum Guten wendet.“ – Ähnlich wird auch im ‚Engelhard‘ der Handlungsausgang motiviert, vgl. S. 292 und 299. 217 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a. Vgl. auch S. 59f.

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dass die Motivierung von Parzivals Sturz ins Unglück mit Hilfe des kausalen Tragödienkonzepts des Aristoteles interpretiert werden kann. Auch das Ende des Romans verharmlost das frühere Fehlverhalten des Helden nicht; vielmehr bleibt die Gefahr einer Hamartia für ihn bestehen, selbst als er in das Amt des Gralskönigs berufen ist. Deutlich wird dies daran, dass sowohl Cundrie als auch Trevrizent ihren neuen Herrn, dem sie ehrerbietig huldigen, zugleich zu einem bestimmten Verhalten anhalten. Die Gralsbotin verspricht Parzival nicht nur das Ende seines Leidens, sondern weist auch darauf hin, dass er das Heil verspielen wird, sofern er nicht auf eine ausgewogene Handlungsweise achtet: dîn riwe muoz verderben. / wan ungenuht al eine / dâ engît dir niht gemeine (782,22f.). Eine ähnliche Warnung klingt in Trevrizents Worten an, als er Parzival auffordert, genau den Fehler zu vermeiden, den Anfortas als Gralskönig begangen hat und dadurch kläglich gescheitert ist: sich hât gehoehet iwer gewin. / nu kêrt an diemuot iwern sin. (798,29f.)218 Wie Wolfram von Eschenbach den unglücklichen Handlungsverlauf motiviert und welche Form des Tragischen im ‚Parzival‘ zu finden ist, zeigt sich durch den Vergleich mit seiner Vorlage besonders deutlich. Während Percevals Leid bei Chrétien aus einer Initialsünde resultiert, ist diese Verkettung im mittelhochdeutschen Werk aufgelöst. Auf diese Weise verliert das Versagen des Protagonisten seine Zwangsläufigkeit, vielmehr muss er für jede seiner Taten die Verantwortung übernehmen. Indem Parzival nicht nur der Tod der Mutter, sondern noch ein weiterer Verwandtenmord angelastet wird, er darüber hinaus die Mitleidsfrage auf der Gralsburg versäumt, und er schließlich sogar Gott verklagt, wird sein Eigenanteil an dem erfahrenen Unglück verstärkt. Statt eine unvermeidbare Verstrickung herzustellen und den Protagonisten schuldlos schuldig werden zu lassen, inszeniert Wolfram sein Fehlverhalten in jeder Episode neu. Parzival begeht immer wieder Fehler, weil er sich einseitig auf einen Aspekt konzentriert, ohne mögliche Folgen seines Tuns zu bedenken.219 Somit steht Wolframs Handlungsmodell den antiken Tragödientheorien weitaus näher als den finalen Tragikkonzepten von Boethius oder Hegel: Parzivals Leid ist kausal motiviert; er stürzt nicht aufgrund einer metaphysischen Bestimmung ins Unglück, sondern wegen einer menschlichen Hamartia. _____________ 218 Somit erhält Knapps (Wirklichkeit, S. 368) Beobachtung nicht erst durch die LoherangrinHandlung ihre Gültigkeit: „Als heil kann die Welt auch zur Regierungszeit des neuen Gralskönigs jedenfalls nicht gelten […].“ Ähnlich äußert sich Mertens (Artusroman, S. 144): „Der Erzähler relativiert […] den harmonischen Schluß […].“ 219 In diesem Sinne lässt sich auch die Blutstropfen-Szene interpretieren. Parzivals Versenkung führt seine innere Disposition vor Augen, sich von einem Gedanken völlig einnehmen zu lassen und alles andere aus dem Blick zu verlieren. – Die Ähnlichkeiten zwischen seinem und Erecs Verhalten sind damit frappierend.

Kriemhilds Rache im ‚Nibelungenlied‘

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1.3 Kriemhilds Rache im ‚Nibelungenlied‘ Im Unterschied zu den bisher untersuchten Werken bleibt der Sturz ins Unglück im ‚Nibelungenlied‘ nicht nur eine Episode. Im kollektiven Untergang laufen sämtliche Handlungsstränge zusammen, die in der Frage nach der schuldhaften Beteiligung einzelner zu differenzieren sind. Wenn im Folgenden nur eine Figur im Fokus der Aufmerksamkeit steht, wird damit bewusst auf eine Gesamtinterpretation des ‚Nibelungenlieds‘ verzichtet, wie sie in der Forschung als unangemessen kritisiert worden ist.220 Gleichwohl trägt die Entscheidung, den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang in Kriemhilds Handeln zu beleuchten, ihrer zentralen Bedeutung Rechnung: Kriemhild ist nicht nur die Figur, mit deren namentlicher Nennung das Epos beginnt und mit deren Tod es endet, sondern sie wird vom Erzähler schon in der zweiten Strophe als Grund für das Sterben vieler Helden angeführt. In der handschriftlichen Überlieferung hat dies in der zweimaligen Bezeichnung des ‚Nibelungenlieds‘ als ‚Puech von Chrimhilt‘ einen Niederschlag gefunden.221 Auch wenn in der Forschungsliteratur davor gewarnt wird, die weibliche Hauptfigur als Garanten für die Einheit des Werks zu betrachten, das Epos als eine Kriemhild-Erzählung oder einen Liebesroman von der burgundischen Königstochter zu verstehen,222 ist ihre Relevanz unumstritten: Sie gilt als „Zentrum dieses Epos“223 und „major catalyst for action within the narrative“.224 Aufgrund des katastrophalen Verlaufs wird der Begriff der Tragik in der Forschung gerne verwendet, vor allem um den Sinn und Gehalt oder die Weltanschauung und das Menschenbild des Werks zu charakterisieren. Werner Schröders Urteil, „Das Nibelungenlied ist zwar nicht nur, aber doch auch die Tragödie Kriemhilts“,225 lässt nach der Motivierung ihres Unglücks fragen.

_____________ 220 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 435. – Da im ‚Nibelungenlied‘ verschiedene Formen des Tragischen entwickelt werden, wird das Werk zwei Mal behandelt, vgl. S. 211–241. 221 Vgl. die Handschriften D, d (Ambraser Heldenbuch). Vgl. auch Bennewitz, Nibelungenlied; Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 48. 222 Vgl. Ehrismann, Reception of Kriemhild, S. 36. Ehrismann wendet sich damit gegen eine Position, wie sie Nagel (Widersprüche, S. 368f., 379) vertritt. Seines Erachtens lässt das ‚Nibelungenlied‘ „die Tendenz zu einem Kriemhildenroman“ erkennen; es handle sich um „eine Art Minne- und (Liebes)roman“, dem eine „biographische Konzeption“ zugrunde liege. Vgl. auch Schweikle, Liebesroman. 223 Spiewok, Kriemhild-Tragödie, S. 159. Vgl. auch Schröder, Epische Konzeption, S. 5. 224 Ehrismann, Reception of Kriemhild, S. 30. 225 Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 48.

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Handlungsstruktur: Von der Verehrung zur Zerstückelung Als minneclîche meit (vgl. 3,1) wird Kriemhild in das Handlungsgeschehen eingeführt.226 Durch ihre königliche Abstammung, ihre unbeschreibliche Schönheit und ihr tugendhaftes Verhalten zeichnet sie sich gleich dreifach aus. Tapfere Männer bemühen sich um sie, niemand ist ihr schlecht gesonnen und ihre drei Brüder, die als Könige in Burgund herrschen, umsorgen sie liebevoll. Schon der Ruf ihrer Vollkommenheit genügt, dass der stärkste und schönste Held, Siegfried aus Niederland, um sie werben will. Sein kriegerisches Auftreten am Wormser Hof sorgt zunächst für Unruhe, bevor die burgundischen Könige sein Begehren für ihre Ziele einzusetzen wissen. Im Gedanken an Kriemhild bleibt Siegfried länger als beabsichtigt in Worms und unterstützt die Burgunden im Sachsenkrieg. Als er für seine Hilfe mit Kriemhilds Anblick belohnt wird, wirkt ihre Erscheinung so überwältigend, dass sie mit Himmelsmetaphorik beschrieben wird.227 Alle seine Taten bleiben stets auf Kriemhild bezogen. Siegfried erklärt sie gemäß den Konventionen der hohen Minne zu seiner vrouwen, als er ihr verspricht, ihren Brüdern unermüdlich beizustehen: „Ich sol in immer dienen“, alsô sprach der degen, „und enwil mîn houbet nimmer ê gelegen, ich enwerbe nâch ir willen, sol ich mîn leben hân. daz ist nâch iuwern hulden, mîn frou Kriemhilt, getân.“ (304)

Da Kriemhild als unmündige Königsschwester nicht in der Lage ist, selbstbestimmt Liebeslohn zu gewähren, überträgt Siegfried seine freiwillige Unterwerfung auf ihren Vormund Gunther: ich wil daz gerne dienen, daz sie werde mîn wîp. (388,4)228 Für Kriemhild ordnet er sich Gunther bei der gefährlichen Brautwerbung auf Isenstein unter, gewinnt die tödlichen Kampfspiele und nimmt den seinem Stand unwürdigen Botendienst auf sich. Von ihr ist Siegfried nicht nur bereit, eine Gabe zu empfangen, sondern er fordert seinen Botenlohn sogar selbst ein. Durch ihre vil grôzen zühten (587,1.4) erweist sich Kriemhild dieser Verehrung als würdig. So bedeutet es gelücke unt Sîfrides heil (615,2), als sie das Versprechen ihres Bruders gemäß der feudalen Eheschließungspraxis einlöst und den Werber, dem sie selbst herzlich zugetan ist, erhört. _____________ 226 Als Textgrundlage dient die nach Karl Bartsch von Helmut de Boor herausgegebene und von Roswitha Wisniewski revidierte Ausgabe. 227 Kraß (Geschriebene Kleider, S. 175f.) weist auf Parallelen in der Inszenierung von Kriemhilds erstem Auftritt und Enites Erscheinen vor der Artusgesellschaft hin. Beide Szenen seien als „himmlisches Naturereignis“ gestaltet, bei dem die Schönheit der Frauen erstrahle und sich die Gemütslage der Ritter schlagartig erhelle; eine junge Frau werde einem männlich-ritterlichen Publikum zugeführt, das ihrer Schönheit Beifall zolle. 228 Zur Problematik des Frauendienstes, der als Herrendienst ausgelegt wird, vgl. Müller, Spielregeln, S. 405–409.

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Nach ihrer Hochzeit verlässt Kriemhild den burgundischen Familienverband und zieht mit ihrem Ehemann nach Niederland, wo Siegfried von seinem Vater die Krone übertragen bekommt und in hohem Ansehen herrscht. Nach zehn Jahren gebärt Kriemhild einen Sohn und erhält nach dem Tod ihrer Schwiegermutter deren gesamte Verfügungsgewalt. Das königliche Paar ist auf dem Höhepunkt seines Glücks angekommen, das in gegenseitiger Liebe, herrschaftlicher Macht, unbesiegter Stärke und dem sagenhaften Reichtum des Nibelungenschatzes gründet. Unmittelbar vor Brünhilds konfliktiver Einladung erklärt der Erzähler im Hinblick auf Siegfried: Er het den wunsch der êren. (723,1) Kriemhild reagiert mit Freude auf die Aussicht, ihre Verwandten wiederzusehen. Aus einer höfischen Unterhaltung während des Turniers erwächst jedoch ein Rangstreit der Königinnen, der zu einer öffentlichen Machtdemonstration und einem dauerhaften Zerwürfnis führt. Brünhilds Insistieren auf Siegfrieds Unterordnung unter Gunther, die in dem Vorwurf seiner Leibeigenschaft gipfelt, wird von Kriemhild auf sie rückprojiziert und überboten. Indem sie ihre Schwägerin als kebse (839,4) eben dieses Mannes beschimpft, kann Brünhild keinen Überlegenheitsanspruch mehr geltend machen. Diese Beleidigung der burgundischen Königin vor den Augen ihrer Hofgesellschaft, die in Brünhilds Tränen und Kriemhilds Einzug vor ihr in das Münster Ausdruck findet, fordert eine Anklage vor dem Hofgericht. Zumindest vordergründig scheint der Konflikt schnell beseitigt, als Siegfried sich verbürgt, sich nicht des Beischlafs mit der Königin gerühmt zu haben, und Kriemhild von ihm körperlich gezüchtigt worden ist. Im Hintergrund jedoch schmiedet Hagen eine Mordintrige, um die Schmach des burgundischen Königshauses zu sühnen und künftigen Auseinandersetzungen mit dem mächtigen Gemahl der Königsschwester vorzubeugen. Mit Hilfe mehrerer Listen gelingt es Hagen, das Geheimnis von Siegfrieds Verwundbarkeit zu erfragen und ihn hinterhältig zu ermorden. Siegfrieds Tod, den Kriemhild erahnt, sobald sie von einem toten Ritter hört, stürzt sie in tiefste Trauer und wandelt ihr Glück in größtes Leid. Gemeinsam mit ihrem Schwiegervater Siegmund, der sie nach Worms begleitet hat, klagt sie inständig um den geliebten Mann und hofft auf Rache an Hagen. Obwohl dieser von Gunther gedeckt wird, kehrt Kriemhild nicht mit Siegmund zurück zu ihrem kleinen Sohn nach Xanten. Vielmehr bleibt sie in ihrem Familienverband in Worms,229 nachdem ihr von den jüngeren Brüdern zugesichert worden ist, nicht mit den Mördern verkehren zu müssen. Die Gemahlin des starken, reichen und mächtigen Königs _____________ 229 Zur Relevanz des Personenverbands vgl. Müller, Spielregeln, S. 153–159. – In einem früheren Aufsatz schlägt Müller (Motivationsstrukturen) vor, die Strukturen des Personenverbands als entscheidende Ebene der Handlungsmotivierung zu betrachten.

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von Niederland ist zu einer hilflosen und schutzbedürftigen Witwe geworden, die auf die Rücksichtnahme ihrer engsten Verwandten angewiesen ist, um ihren Feinden nicht ausgesetzt zu sein. Erst nach dreieinhalb Jahren, die Kriemhild überwiegend in der Kirche und am Grab ihres Mannes verbracht hat, kommt es zu einer Versöhnung mit Gunther, von der Hagen ausgeschlossen bleibt. Diese suone (1115,1), bei der ihr der König Schutz vor jeglichen Verletzungen zusagt, ist die Voraussetzung dafür, dass die Protagonistin ihre Morgengabe nach Worms bringen lässt. Auf Bitten ihrer Verwandten holt sie den Nibelungenhort und erhält so wieder Zugang zu ihrem einstigen Vermögen. Freigebig beginnt Kriemhild den unerschöpflichen Reichtum zu verteilen, so dass sie fremde Krieger an sich bindet und Hagen politische Komplikationen fürchtet. Sein Plan, den Hort an sich zu nehmen, stößt nur kurz auf den Widerstand der Brüder, bis ihr Vasall die Schuld bereitwillig auf sich nimmt. Durch ihre zeitweilige Abwesenheit entziehen sich die burgundischen Könige ihrer Schutzverpflichtung und liefern ihre Schwester Hagen aus. Vergeblich appelliert diese an ihren Rechtsbeistand. Während zu Beginn der Erzählung die brüderliche Fürsorge für Kriemhild betont wurde, muss sie nun ihre Schutz- und Hilflosigkeit erfahren: dô nâmen si der witwen daz kreftige guot. (1132,2) Durch ihre Heirat ist die verehrte Königstochter zu einer einflussreichen Königin geworden, deren Stellung sich durch die Ermordung ihres Mannes in den einer rechtlosen und durch den Hortraub auch mittellosen Witwe verwandelt hat. Damit ist der vorläufige Tiefpunkt der Kriemhild-Handlung erreicht. Im zweiten Teil des ‚Nibelungenlieds‘ bietet sich noch einmal die Möglichkeit für einen Aufstieg, als der mächtige Hunnenkönig Etzel dreizehn Jahre nach Siegfrieds Tod um dessen Witwe werben lässt. Gegen Hagens Rat stimmen die burgundischen Könige einer Ehe zu, damit ihre Schwester für das erfahrene Leid entschädigt wird. Kriemhild, die noch immer um Siegfried trauert, lehnt zunächst ab. Erst die Hoffnung, mit Hilfe neuer Verbündeter und der verheißenen Machtfülle einmal Rache nehmen zu können, veranlasst sie, die Werbung des heidnischen Königs anzunehmen. Im unmittelbaren Vergleich überbieten die festliche Pracht und die Herrschaftsmacht Etzels klar die Siegfrieds, wie Kriemhild im Zuge ihrer Hochzeitsfeierlichkeiten beobachtet: si waen’ sô manigen man / bî ir êrsten manne nie ze dienste gewan. (1365,3f.) Dennoch wird die Situation ihrer erneuten Erhebung durch ihre Erinnerung als defizitär gekennzeichnet: Wie si ze Rîne saeze, si gedâht’ ane daz, / bî ir edelen manne; ir ougen wurden naz. (1371,1f.) Ungeachtet aller Ehren, die Kriemhild am Hunnenhof zuteil werden, bleibt der Schmerz um Siegfried präsent, auch wenn sie ihn nicht öffentlich zeigt. si hetes vaste haele, deiz iemen kunde sehen / ir was nâch manigem leide sô vil der êren geschehen. (1371,3f.)

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Im Gegensatz zu ihrer ersten Ehe ist die Einheit von Glücksempfinden, Verfügungsgewalt und öffentlicher Anerkennung für Kriemhild dauerhaft gestört. Nur von Etzels Freude wird berichtet, als seine Frau im siebten Ehejahr einen Sohn zur Welt bringt. Kriemhild dagegen trauert im Verborgenen noch immer um ihren ersten Mann und setzt ihre Totenklage auch in ihrer neuen Position am Hof Etzels fort. Da sie gleichzeitig ihre herrscherlichen Verpflichtungen vorbildlich erfüllt, genießt die Hunnenkönigin überall großes Ansehen: Den vremden unt den kunden was si vil wol bekant. / die jâhen, daz nie vrouwe besaeze ein küneges lant / bezzer unde milter, daz heten si für wâr. (1390,1–3) Die Ergebenheit ihrer Gefolgsleute und die Gewogenheit ihres Mannes, deren sie sich im dreizehnten Ehejahr gewiss ist, Nu het si wol erkunnen, daz ir niemen widerstuont (1391,1), ermutigen Kriemhild, einen Weg zur Umsetzung ihrer Rachegedanken zu suchen. Während sie ihre vînde meint, bewegt sie Etzel unter dem Vorwand, ihre vriunde sehen zu wollen,230 zu einer Einladung, die ihre Brüder – wiederum gegen den erklärten Widerstand Hagens – annehmen. Nachdem die Burgunden am Hunnenhof angekommen sind, verliert die Diskrepanz zwischen Wollen und Sprechen, die Kriemhilds Handeln vorher prägte, zunehmend an Bedeutung. Schon in der unterschiedlichen Begrüßung ihrer Brüder, von denen sie nur Giselher mit einem Willkommenskuss auszeichnet, wird deutlich, dass Kriemhild mit der Einladung keine freundliche Intention verfolgte. Ihr Racheverlangen richtet sich in erster Linie gegen ihren Erzfeind Hagen. Offen gesteht dieser den Mord ein und beleidigt die Königin durch fehlende Ehrerbietung und provozierende Gesten. Doch der ihm kämpferisch ebenbürtige Dietrich von Bern verweigert Kriemhild seine Unterstützung, und ihre hunnischen Gefolgsleute vermeiden die Auseinandersetzung aus Furcht um das eigene Leben. Den nächtlichen Überfall über die schlafenden Burgunden vereitelt Hagen, und im Kampf kann er lange nicht besiegt werden. Schließlich lehnen die burgundischen Könige auch in ihrer existentiellen Notlage Kriemhilds Forderung, Hagen auszuliefern, empört ab. Da die Versuche, Hagen zu überwinden, wiederholt scheitern, kommt es zu einer Eskalation des Konflikts, in den immer mehr Figuren einbezogen werden. Während Etzel zunächst als freundlicher Gastgeber auftritt, der nichts von den gegenteiligen Plänen seiner Gemahlin ahnt und latente Spannungen zu beruhigen sucht, ändert sich seine Haltung mit der Ermordung seines Sohnes grundlegend. Kriemhild hingegen wirkt von Beginn an als treibende Kraft und nutzt ihre Machtposition, um die Kampfhandlung in Gang zu setzen und zu halten. Sie initiiert den Überfall auf die burgundischen Knappen, in dessen Folge der tödliche Kampf in den _____________ 230 Zur Bedeutung, einander zu sehen, vgl. Müller, Motivationsstrukturen, S. 232–238.

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Festsaal getragen wird. Sie fordert von ihren Gefolgsleuten eine aktive Beteiligung, setzt ein Kopfgeld für Hagen aus und verspricht Siegesprämien. Sie lässt die Halle mit den Nibelungen in Brand stecken und verhindert eine Verlagerung des Kampfes ins Freie.231 Im Zuge der Rachehandlung, die sich primär gegen Hagen, dann aber auch Gunther und alle anderen Burgunden richtet, nimmt Kriemhild den Tod einer wachsenden Zahl von Freunden in Kauf. Ihr Schwager Blödel, ihr Sohn Ortlieb, der Markgraf Iring von Dänemark, der allseits geschätzte Lehnsmann Rüdiger von Bechelaren sowie ihre jüngeren Brüder Gernot und der ihr innig verbundene Giselher fallen dem Kampf zum Opfer. Einzig die Amelungen werden nicht von Kriemhild angestiftet, sondern lassen sich trotz Dietrichs Verbot in den Streit verwickeln. Wegen des Todes seiner Gefolgsleute rüstet auch Dietrich von Bern zum Kampf, der sich Kriemhilds Streben zuvor stets widersetzte. Ihm ist der Sieg über die letzten Überlebenden der Nibelungen vergönnt. Am Ende des großen Blutbads gelangen Kriemhilds Hauptfeinde in ihre Gewalt, so dass ihr Racheziel erreicht zu sein scheint. Im Zentrum der letzten großen Konfrontation zwischen Kriemhild und Hagen stehen der von ihr erlittene Verlust, daz ir mir habt genomen (2367,3), und seine erneute Verweigerung. Bei dieser Auseinandersetzung wechselt Kriemhild die Ebene ihrer Argumentation. Da weder die symbolische Inszenierung ihrer königlichen Gewalt noch die sprachliche Bezeichnung ihrer herrscherlichen Befugnisse von Hagen respektiert worden sind, demonstriert sie ihre Macht nun durch den aktiven Vollzug: Als Hagen seine Bereitschaft, den Hort zu zeigen, vom Tod seines Herrn abhängig macht, lässt Kriemhild Gunther umbringen und trägt seinen Kopf an den Haaren herbei. Da Hagen ihr weiterhin nur Verachtung entgegenbringt, ergreift sie selbst das Schwert und tötet ihren Widersacher. Diese Tat löst bei den leiderprobten Überlebenden auf hunnischer Seite, bei Etzel, Dietrich und Hildebrand, blankes Entsetzen aus. „Wâfen“, sprach der fürste, „wie ist nu tôt gelegen / von eines wîbes handen der aller beste degen / […].“ (2374,1f.) Die Ermordung des größten Helden durch eine Frau stellt ein höfisches Skandalon dar, das nicht ungesühnt bleiben darf.232 Hildebrand übernimmt diese Aufgabe und tötet die lauthals schreiende Kriemhild: ze stücken was gehouwen dô daz edele wîp. (2377,2) Die Zerstückelung der Hunnenkönigin markiert den absoluten Tiefpunkt der Kriemhild-Handlung und mit dem kollektiven Untergang _____________ 231 Zur Namensproblematik und der Gleichsetzung der Burgunden mit den Nibelungen, die mit einer „schleichenden Auflösung herrschaftlicher Strukturen“ einhergeht, vgl. Müller, Spielregeln, S. 341. 232 De Pole (Kriemhilds Schönheit, S. 434) spricht von einer „Pervertierung des höfischen Frauenideals schlechthin“.

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gleichzeitig den Endpunkt des ‚Nibelungenlieds‘. Im zweiten Teil hat Kriemhild noch einmal eine ihrer Schönheit, Vorbildlichkeit und edlen Abstammung gemäße Position erworben. In materieller Hinsicht stellt ihre Ehe mit Etzel eine Steigerung ihrer Verbindung mit Siegfried dar, wohingegen in ideeller Hinsicht zentrale höfische Werte, minne und vreude, fehlen. Die höfische Fassade bricht zusammen, als die Burgunden bei Etzel eintreffen und Kriemhild im Gedenken an das erfahrene Leid auf ihre vielgerühmten zühte verzichtet. Dementsprechend legt auch Hagen ein ausgesprochen unhöfisches Verhalten an den Tag. Er bindet seinen Helm in ihrer Gegenwart fest, weigert sich, seine Waffen abzulegen und vor der gekrönten Königin aufzustehen, und provoziert sie mit dem blanken Schwert. Der dienst, den die Helden zu Beginn des ‚Nibelungenlieds‘ gerne und freiwillig der minneclîchen meide leisteten, verkehrt sich gegenüber einer Königin, die vil lancraeche ist (1461,4). Nur durch Gaben, Flehen und Bitten kann Kriemhild noch Kämpfer zu einem Einsatz für sie bewegen. Als sie ihren Rachewunsch eigenhändig umsetzt, kehrt sich diese Gewalt gegen sie selbst. Der skandalöse Akt des Tötens wird mit einem eben solchen beantwortet. Für die höfische Gesellschaft ist daz edele wîp (2377,2), das zu den Waffen greift, eine ebenso große Provokation wie seine Hinrichtung. Indem der Erzähler Kriemhild im Moment ihres unehrenhaften Todes noch einmal als edel bezeichnet, wird ihre Fallhöhe markiert. Der für eine tragische Handlung charakteristische Sturz ins Unglück könnte kaum größer sein: Durch den Verlust ihres Mannes und ihrer Morgengabe mutiert das einst liebenswerte Mädchen zu einer erbarmungslosen Rächerin, die – statt verehrt – zerstückelt werden muss. Handlungsmotive: Liebe, Macht und Rache Nach den Beweggründen für Kriemhilds Handeln zu fragen, bedarf einer Vorbemerkung. Schon früh entdeckte die ‚Nibelungenlied‘-Philologie zahlreiche Ungereimtheiten, Brüche und Doppelungen, die nicht mit Erwartungen moderner Leser an die Kohärenz eines Textes in Einklang zu bringen sind.233 Eine Erklärung für dieses Phänomen schien die historische Genese des Werks zu bieten, für die Andreas Heusler ein komplexes Modell entwickelte.234 Demnach sind textuelle Unstimmigkeiten als Relikte der verschiedenen Stoffkreise zu verstehen, die in mehreren Stufen aus mündlichen Erzähltraditionen in die Schriftlichkeit überführt und zu einem Werk vereinigt wurden. Gegen die Dominanz einer quellenkriti_____________ 233 Einen Forschungsüberblick bieten Ehrismann, Nibelungenlied, S. 143–145; Müller, Motivationsstrukturen, S. 221–224; Schulze, Nibelungenlied, S. 259–262. 234 Vgl. Heusler, Nibelungensage.

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schen Lektüre wandte sich in den 1960er Jahren eine Forschungsrichtung, die Widersprüche durch eine psychologische Interpretation aufzulösen suchte.235 Wenngleich dieses Verfahren zu Recht als konstruktivistisch und Gattungsdifferenzen nivellierend kritisiert wurde,236 ist ihm eine Öffnung des ‚Nibelungenlieds‘ für die Hermeneutik zu verdanken. Die beiden Ansätze aufgreifend und modifizierend, werden in der neueren Forschungsliteratur verschiedene Positionen vertreten: In strikter Abgrenzung zu den hermeneutischen Untersuchungen, die einen impliziten Motivationszusammenhang ausfindig machen wollen, warnt Joachim Heinzle vor einer „Sinnunterstellung“ und fordert, Brüche weder zu ignorieren noch zu bagatellisieren.237 Die Beobachtung, dass bestimmte Sagenelemente in den Handlungszusammenhang integriert werden, ohne Kohärenz herzustellen, kann jedoch auch zu einer anderen Schlussfolgerung führen. Wird Heldendichtung als ein literarisches Produkt verstanden, in dem historisches Wissen und Erfahrung gestaltet sind, wie Walter Haug betont,238 dann muss der Text synchron, nicht diachron analysiert werden; in der vorliegenden Form entspricht er einer konkreten Autorintention.239 Eine solche Perspektive nimmt Jan-Dirk Müller ein, wenn er Doppelungen und Brüche poetologisch zu erklären sucht. Seines Erachtens wird eine moderne Lektüreerwartung dem Text nicht gerecht, weil paradigmatische Bezüge häufig Vorrang vor der syntagmatischen Entwicklung haben.240 Müllers Ansatz als dekonstruktivistisch zu kritisieren und ihm eine _____________ 235 Vgl. z.B. Beyschlag, Motiv der Macht; Nagel, Nibelungenlied; Schröder, Tragödie Kriemhilts. 236 Zur grundlegende Kritik vgl. Müller, Motivationsstrukturen, S. 224–228. Schon Wachinger (Studien, S. 142) konstatiert, dass es sich mehr um „ein assoziierendes Nebeneinanderrücken“ verschiedener Elemente als um eine „logisch-kausale oder psychologische Motivierung“ der Katastrophe handle. Zwar gesteht auch Schröder (Epische Konzeption, S. 5) ein, dass die Charaktere nicht immer konsequent entwickelt seien, Personen zuweilen ad hoc eine Rolle zugewiesen bekämen und situationsbedingt handelten; dennoch beschreibt er Kriemhild als „ganz und gar einmalige Person, an deren leidbedingter Verwandlung uns der Dichter ergriffen teilnehmen läßt.“ 237 Vgl. Heinzle, Nibelungenlied, S. 64f., 92–98. 238 Vgl. Haug, Heuslers Heldensagenmodell, S. 283: „Heroische Epik konstituiert sich dadurch, daß historische Erfahrung mittels literarischer Schemata zu sich selbst kommt.“ Vgl. auch ders., Normatives Modell, S. 313. 239 Von einer ähnlichen Grundannahme geht Bernreuther (Motivationsstruktur, S. 1) aus: „[B]eide Werke [Lied und Klage, R.T.] werden nicht als die mehr oder minder zufälligen Resultate einer vielstimmigen Sagentradition betrachtet, sondern als – bewußt so konzipierte – literarische Konstrukte, denen eine planvolle […] Organisation eines jahrhundertelang – primär mündlich – tradierten Stoffes zugrunde liegt.“ 240 Vgl. Müller, Motivationsstrukturen, S. 254f.; ders., Spielregeln, S. 136–151. Ähnlich versteht Wachinger (Studien, S. 103) die Art der Motivierung „gerade auch in ihrer Dürftigkeit, Brüchigkeit und Mehrsträngigkeit“ als stilbildend und strukturbestimmend. – Zur Möglichkeit, vermeintliche Sinndefizite durch die Berücksichtigung paradigmatischer Bezüge zu erhellen, vgl. Toepfer, Enterbung. Einen anderen Ansatz entwickelt Schulz (Fremde Kohärenz), der auf die metonymische und kontiguitäre Logik hinweist.

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Negation von Motivationsstrukturen zu unterstellen,241 heißt, die Einbindung paradigmatischer Elemente in den Handlungszusammenhang zu vernachlässigen und ihre motivierende Funktion zu verkennen. Wenn im Folgenden Kriemhilds Handlungsmotivation analysiert wird, bedeutet dies keinen Rückfall hinter den aktuellen Forschungsstand. Statt eine stimmige Figurenpsychologie zu entwerfen oder mit verschiedenen Sagenkreisen zu argumentieren, sollen die teils miteinander kombinierten, teils konkurrierenden Beweggründe für Kriemhilds Verhalten auf der Handlungsebene der Handschrift B untersucht werden: Liebe, Macht und Rache. Schon in der ersten Aventiure wird die Bedeutung der Liebe für das Handlungsgeschehen hervorgehoben und die leidvolle Entwicklung antizipiert. Nach der Vorstellung des Figurenpersonals am burgundischen Königshof setzt die Handlung mit Kriemhilds Traum ein, der sich bedrohlich vom höfischen Ideal abhebt, in denen das junge Mädchen lebt.242 Die Protagonistin träumt in disen hôhen êren (13,1), wie ein von ihr abgerichteter, schöner, starker und wilder Falke zu ihrer großen Bestürzung von zwei Adlern zerfleischt wird. Das der Tradition des Minnesangs entlehnte Falkenmotiv weiß ihre Mutter zu interpretieren: der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man. / in welle got behüeten, du muost in sciere vloren hân. (14,3f.) Auch wenn Kriemhild lieber auf jegliche Liebe verzichten will, als solches Leid zu erfahren, âne recken minne sô wil ich immer sîn (15,2), vereindeutigt der Erzähler von seinem retrospektiven Standpunkt aus diese Prophezeiung zu einer zukunftsgewissen Vorausdeutung.243 Der Tod des Falken als Sinnbild des Geliebten gilt als Ursache für Kriemhilds tödliche Rache. Mit Siegfrieds Erscheinen am Wormser Hof beginnt in den emphatischen Worten Friedrich Panzers „die bei weitem schönste und innigste Liebesgeschichte, die uns die mittelalterliche Dichtung Deutschlands geschenkt hat.“244 Über mehrere Stationen wird diese Beziehung aufgebaut und mit zahlreichen Motiven der höfischen Minne ausgestaltet.245 Noch _____________ 241 Aufgrund einer Untersuchung weniger Strophen der siebten Aventiure (466, 475–480) hält Gubatz (Frage, S. 283–285) Müller vor, er wolle „nicht nur vermeintliche Kohärenzen dekonstruieren, sondern manchmal auch Inkohärenzen konstruieren.“ Schon bei Einbezug der gesamten Aventiure, den Doppelungen der Standeslüge durch Steigbügeldienst, Botenbericht und Figurenrede wäre „die Rekonstruktion einer kohärenten und erschöpfenden Motivationsstruktur“ kaum problemlos zu bewältigen. 242 Zu Kriemhilds Träumen vgl. Frakes, Kriemhild’s Three Dreams. 243 Vgl. Lämmert, Bauformen, S. 139–194, bes. S. 142f. Zur Erzählstrategie und Funktion der Vorausdeutungen vgl. Beyschlag, Funktion; Göhler, Nibelungenlied, S. 70–76; Linke, Über den Erzähler, S. 112–116; Wachinger, Studien, S. 4–55. 244 Panzer, Nibelungenlied, S. 465. 245 Während Nagel (Widersprüche, S. 382) erklärt, die „Verhöfischung des alten Stoffes unter dem Aspekt der Minne“ sei „nicht nur ein äußerer Verputz“, sondern zugleich „Substanzanreicherung und schöpferische Hinzugestaltung“, stellt Müller (Spielregeln, S. 165) zu

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vor ihrem ersten Zusammentreffen richtet sich nicht nur Siegfrieds Begehren auf die unbekannte Schöne, sondern auch Kriemhild schenkt ihm ihre Aufmerksamkeit. Sie kann ihn von ihren Fenstern aus beobachten und kennt keine angenehmere Beschäftigung: er truog in sîme sinne ein minneclîche meit, / und ouch in ein diu frouwe die er noch nie gesach, / diu im in heinlîche vil dicke güetlîchen sprach. (132,2–4.) Interessiert erkundigt sich Kriemhild nach den Geschehnissen im Sachsenkrieg, wan si hete dar under ir vil liebez herzen trût. (224,4.) Mit großer Freude reagiert sie auf den Bericht von seiner Auszeichnung im Kampf, wie sich am Wechsel ihrer Gesichtsfarbe ablesen läßt: Ir scoenez antlütze daz wart rôsenrôt (241,1). Ihre Liebe ist also bereits in einem frühen Stadium durch Gegenseitigkeit gekennzeichnet, so dass die von Siegfried beklagte Ferne nur äußeren Umständen geschuldet ist. Kriemhild befindet sich insofern in einer vorteilhafteren Position, dass sie die Distanz sowohl durch optische Betrachtung als auch durch akustischen Bericht überwinden kann. Für Siegfried hingegen bleiben die Hindernisse ungeachtet der räumlichen Nähe über ein Jahr bestehen. Als sich die beiden Protagonisten schließlich zum ersten Mal begegnen, weist Siegfried die typischen Minnesymptome höfischer Dichtung auf:246 Er zweifelt, ob er seine Angebetete je wird lieben dürfen, zieht seinen Tod einer Trennung vor und wird von diesen Gedanken vil dicke bleich unde rôt. (285,4) Als er Kriemhild sprechen darf, empfindet er ungetrübte Freude: dô truog er ime herzen lieb âne leit (291,2). In vielen Einzelheiten wird ihre Begrüßung, angefangen von seiner Verneigung, über ihr Ergreifen seiner Hände, das gemeinsame Gehen, den heimlichen liebevollen Blicken bis schließlich hin zum Kuss, geschildert. Nur beim wechselseitigen Händedruck, der von einem Betrachter nicht wahrzunehmen ist, spielt der Erzähler mit dem Unsagbarkeitstopos. Er beteuert einerseits sein Unwissen, betont andererseits die Wahrscheinlichkeit und inszeniert so ihre gegenseitige Zuneigung: Wart iht dâ friwentlîche getwungen wîziu hant von herzen lieber minne, daz ist mir niht bekant. doch enkan ich niht gelouben, daz ez wurde lân. si het im holden willen kunt vil sciere getân. (294)

Durch Kriemhild gewinnt Siegfried nicht nur sô vil der hôhen vreude (295,3), sondern erfährt zugleich die schmerzliche Seite der Liebe, die selbst den stärksten Helden in Bedrängnis bringt: ir minne: diu gab im dicke nôt (324,3). Der intensive Blickwechsel, den die beiden bei späteren Begegnungen _____________ Recht heraus, dass die üblichen Konstellationen feudaler Eheschließung davon unberührt blieben. Es handle sich nur um Zitate von Minnesymptomen, wie sie der höfische Roman aufweist, und nicht um eine sprachliche und strukturelle Stilisierung nach dem Vorbild des zeittypischen Minneromans (gegen Hoffmann, Nibelungenlied, S. 51f.). 246 Vgl. auch S. 338f., 372, 417.

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fortsetzen, Friwentlîche blicke und güetlîchez sehen, / des mohte dâ in beiden harte vil gescehen (353,1f.), bestärkt Siegfried in seiner Liebe. Mit Herzens- und Einheitsmetaphorik wird ihre Zuneigung beschrieben: er truoc si ime herzen, si was im sô der lîp. (353,3) Nachdem er sein Interesse an Kriemhild lange Zeit nicht verbal bekundet hat, bekennt er Gunther, wie viel seine Schwester ihm bedeutet, als er ein Lohnversprechen für seine Werbungshilfe einfordern kann: diu ist mir sam mîn sêle und sô mîn selbes lîp (388,3). Auch von Kriemhilds Seite besteht der Wunsch nach körperlicher Nähe, wenn sie, aus Liebe errötend, ihm für seinen Botenbericht gern anders gedankt hätte: getorste si in küssen, diu vrouwe taete daz. (562,2) Als Kriemhild schließlich Gunthers Versprechen einlösen soll, sind sie und Siegfried sich einig, bevor sie in den Ring treten: Von lieber ougen blicke wart Sîfrits varwe rôt. (614,1) Der formale Akt feudaler Heiratspolitik wird durch die Minne überlagert. Für Siegfried und Kriemhild bedeutet der Eheschluss die Erfüllung ihres Begehrens, das zwar mit Elementen hoher Minne spielt, aber auf körperliche Vereinigung angelegt ist. sô minneclîchen, in der Weise, die für Kriemhild (vgl. 3,1, 132,2, 138,3, 281,1, 281,4, 282,2) und für Siegfrieds Hinordnung zu ihr (vgl. 293,2) charakteristisch war, kümmert er sich in der Hochzeitsnacht um sie. Ihre gedanklich gefestigte Herzenseinheit wird in eine glückliche Ehegemeinschaft überführt: Dô der herre Sîfrit bî Kriemhilde lac, / unt er sô minneclîche der juncvrouwen pflac / mit sînen edelen minnen, si wart im sô sîn lîp. (629,1–3) Als Kriemhild zehn Jahre später mit Siegfried nach Worms zurückkehrt, hat sich an ihrer gegenseitigen Zuneigung wenig geändert. Erneut beobachtet Kriemhild den starken Helden bei höfischen Ritterspielen, diesmal jedoch in der stolzen Gewissheit, zu ihm zu gehören. Gegenüber Brünhild stellt sie die Vortrefflichkeit ihres Mannes heraus: nu sihestu, wie er stât, / wie rehte hêrlîche er vor den recken gât (817,1f.)? Bei ihrer Liebeshymne, alsam der liehte mâne vor den sternen tuot (817,3), bedient sich Kriemhild derselben Metaphorik, mit der zuvor ihr eigenes Auftreten am Hof beschrieben worden ist (vgl. 283,1). Paradigmatisch wird auf diese Szene verwiesen und ihre gegenseitige Bezogenheit herausgestellt. Wegen eines solchen Mannes, erklärt Kriemhild, muoz ich von schulden tragen vroelîchen muot. (817,4) Aus ihrer Liebe erwächst eine Besorgnis, die die Protagonistin jedesmal ergreift, wenn Siegfried in den Kampf zieht. Daher versetzt sie auch sein Vorhaben in Unruhe, ihren Brüdern ein zweites Mal im Krieg gegen die Sachsen beizustehen: Iedoch bin ich in sorgen, swenn’ er in strîte stât und vil der gêrschüzze von helden hande gât, daz ich dâ verliese den mînen lieben man. hey waz ich grôzer sorge dicke umbe Sîfriden hân! (900)

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Da Kriemhild fürchtet, ihr Mann könne sich von seinem übermuot (896,3) hinreißen lassen und in tödliche Gefahr geraten, bittet sie Hagen, ihn zu schützen. Durch die mehrfache Verwendung des Epithetons mînen lieben man (898,3; vgl. auch 893,3, 900,3, 901,3) und die altertümliche Bezeichnung des Geliebten als holden wine mîn (898,2) betont Kriemhild in diesem Gespräch immer wieder ihre liebende Verbundenheit. Bei ihrem Abschied wird noch einmal das innige Verhältnis der Eheleute inszeniert. Siegfried küsst sîne triutinne (919,1) auf den Mund und versucht, ihre weinend vorgebrachten Sorgen zu entkräften. Dabei greift er den im Erzählerbericht verwandten und Intimität signalisierenden Ausdruck auf und spricht sie als mîn triutinne (923,1) an. Von seiner Beteiligung an der Jagd lässt Siegfried sich hingegen nicht einmal abbringen, nachdem Kriemhild ihm von ihren Alpträumen erzählt hat; darin hetzten ihn zwei Wildschweine blutend über die Heide und wurde er von zwei Bergen erschlagen. Sein Unglück, dînen val (924,1), fürchtend, empfindet Kriemhild schon vor ihrer endgültigen Trennung bitteren Schmerz: wil du von mir scheiden, daz tuot mir an dem herzen wê. (924,4) Eine erneute Antwort bleibt Siegfried schuldig, demonstriert aber durch seine zärtliche Verabschiedung, wie sehr sie ihm am Herzen liegt. Er umbevie mit armen daz tugentrîche wîp. / mit minneclîchem küssen trût’ er ir schoenen lîp. (925,1f.) Ebenso gelten Siegfrieds letzte Worte vor seinem Tod Kriemhild, deren Leid er voraussieht: mich riuwet niht sô sere sô vrou Kriemhilt mîn wîp. (994,4) Noch einmal auf ihr inniges Verhältnis rekurrierend, empfiehlt er die holden triutinne mîn (996,4) dem Schutz des burgundischen Königs an. Seine abschließende Feststellung, ez enwart nie vrouwen leider an liebem manne getân (997,4), kann in dreifacher Hinsicht, bezogen auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Gültigkeit beanspruchen: Sie verweist zurück auf eine erfüllte Liebe, deren plötzliches Ende Schmerzen bereitet, sie stellt die unnatürliche Todesursache und die Ungeheuerlichkeit des Verrats durch die eigenen Verwandten heraus, und sie lässt sich als eine Begründung für das spätere Handlungsgeschehen lesen, in dem sich Kriemhild für das erfahrene Leid rächen wird. Eine unmittelbare Bestätigung erhält Siegfrieds Aussage durch Kriemhilds Totenklage und ihre Trauergebärden. Während ihre Ohnmacht und ihr unmäßiger Jammer typische Reaktionen weiblicher Figuren auf den Tod des Geliebten in der höfischen Dichtung darstellen, sprengen das vom Herzen aus dem Mund schießende Blut, der unbändige Schrei, die zahlreichen Küsse des Leichnams, für die der Sarg noch einmal aufgebrochen werden muss, und ihre blutigen Tränen den vorgeprägten literari-

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schen Rahmen.247 Die von Siegfried vor der Heirat reflektierte Gefahr, dass eine unerfüllte Minne zum Tod führen kann, wird nun auf der Handlungsebene für Kriemhild virulent: vor leide möht’ ersterben der ir vil wünneclîcher lîp. (1070,4) Dass diese Möglichkeit nicht eintritt und die Geschichte nicht mit Kriemhilds Minnetod endet, kann der Erzähler nur durch eine übernatürliche Besonderheit erklären: Ez was ein michel wunder, daz si ie genas. (1067,1) Weil Kriemhild überlebt, kann sie ihr Leben ganz der Trauer widmen. Sehr häufig besucht sie das Grab ihres vriedel (1103,1), hält Fürbitte für sein Seelenheil und beweint ihn mit grôzen triuwen (1103,4). Die unermüdlichen Trostversuche ihrer Mutter und ihrer Gefolgschaft fruchten wenig, da ir daz herze sô groezlîche wunt war (1104,2). Nicht nur durch ihr Verhalten wird Siegfrieds Einschätzung, wie sehr sie sein Tod treffen werde, bestätigt, auch der Erzähler stellt fest: si hete nâch liebem vriunde die aller groezisten nôt, / Die nâch liebem manne ie mêr wîp gewan. (1104,4f.) Selbst dreizehn Jahre nach Siegfrieds Tod befindet sich Kriemhild noch immer in tiefster Trauer, wie Etzels Brautwerber sogleich bemerkt. Ihre alltägliche Trauerkleidung, von heizen trähen naz (1228,3), steht in markantem Kontrast zu den festlichen Gewändern ihres Gefolges und macht den dunklen Punkt offenbar, der höfische Freude verbietet. Während Kriemhild von vielen schönen Frauen umgeben ist, gibt sie sich ganz ihrem Jammer hin. Im Gespräch mit Rüdiger betont sie mîniu starken sêr (1233,2), die aus ihrem nicht zu verschmerzenden Verlust resultieren: jâ verlôs ich ein den besten, den ie vrouwe gewan. (1233,4) Auch nachdem sie an der Seite des Hunnenkönigs zur mächtigsten Herrscherin aufgestiegen ist, bestimmt die Klage um Siegfried weiterhin ihren Tagesablauf. Wenngleich ihre Trauer nicht mehr vestimentär codiert ist,248 bleibt sie Dietrich von Bern nicht verborgen: ich hoere alle morgen weinen unde klagen / mit jâmerlîchen sinnen daz Etzelen wîp / dem rîchen got von himele des starken Sîfrides lîp. (1730,2–4) Somit bewahrheitet sich die unmittelbar nach Siegfrieds Beerdigung eingeschobene Vorausdeutung des Erzählers: si klagete unz an ir ende, die wîle werte ir lîp. (1105,3) Die Minnemotive des ersten Teils und die beständige Totenklage im zweiten Teil haben dazu geführt, dass das ‚Nibelungenlied‘ als ein Liebesroman interpretiert worden ist.249 So meinen etwa Bert Nagel und Werner Schröder, die Protagonistin sei einseitig als Liebende konzipiert und bleibe dies bis an ihr Lebensende.250 Kriemhilds Handlungsmotivation nur mit _____________ 247 Vgl. Greenfield, Frau, S. 110. – Küsters (Klagefiguren, S. 61f.) hält fest, dass „die ungemein intensive Klagegebärde der üblichen Klagerede keinen Raum läßt“, und weist darauf hin, dass Siegfrieds Sterben und Kriemhilds Klagen spiegelbildlich angelegt sind. 248 Zum vestimentären Code vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 8–22. 249 Vgl. Schweikle, Liebesroman. Vgl. auch Spiewok, Kriemhild-Tragödie, S. 159. 250 Vgl. Nagel, Widersprüche, S. 382; Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 82.

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ihrer Minne zu begründen, ist jedoch auch auf Kritik gestoßen. Anlass dafür bietet der letzte Auftritt der Protagonistin, als sie ihren Widersacher mit der Forderung konfrontiert, ihr zurückzugeben, was er ihr genommen habe. Zwar schließt diese Formulierung durchaus die Möglichkeit ein, auf Siegfried zu zielen und damit eine unerfüllbare Forderung zu erheben. Hagen vereindeutigt jedoch Kriemhilds Worte, indem er sie auf den Hort bezieht. Nach Hugo Kuhns Ansicht stellt die Hortforderung einen scharfen Bruch in der Handlung dar, die er nur mit der Dominanz eines alten Sagenelements erklären zu können meint.251 Nur wenn der Nibelungenhort symbolisch als zu Siegfried gehörender Besitz interpretiert wird,252 der ihn metonymisch vertritt, lässt sich ein stimmiges Bild der unglücklich Liebenden aufrechterhalten. Die Hortforderung hat jedoch auch zu einer gegenteiligen Interpretation angeregt, nämlich der Figurenzeichnung einer machtbesessenen, habsüchtigen oder goldgierigen Königin. Während die Hortfrage vornehmlich in der älteren Literatur auf ihren materiellen Aspekt reduziert worden ist, wird Kriemhilds Begehren in der jüngeren Forschung weiter gefasst und auf einen Macht- oder Geltungsdrang zurückgeführt. Von dieser Deutung der Schlussszene ausgehend, erscheint auch Kriemhilds vorheriges Verhalten in einem anderen Licht. Kaum haltbar ist jedoch Franz Sarans These, dass Habsucht ein tragendes Handlungsmotiv sei.253 Weder wird Kriemhilds vermeintliche Goldgier in der Szene selbst als Erklärung herangezogen, noch stimmt sie mit ihrer bisherigen Einstellung zu ihrer Morgengabe überein. Über drei Jahre hat Kriemhild keinerlei Interesse am Schatz gezeigt und ihn erst auf Veranlassung ihrer Verwandten nach Worms bringen lassen. Zudem wird explizit betont, dass ihr der unermessliche Reichtum in Relation zu ihrem Geliebten gleichgültig ist: Und waere sîn tûsent stunde noch alse vil gewesen, / und solt’ der herre Sîfrit gesunder sîn gewesen, / bî im waere Kriemhilt hendeblôz bestân. (1126,1–3) Eine plausiblere Motivation scheint ein Streben nach Macht zu sein. Eine Forderung, die sich nicht mit ihrer Liebe zu Siegfried begründen lässt, erhebt Kriemhild zum ersten Mal, als sie vor dem Aufbruch nach Niederland verlangt: mir suln ê mîne brüeder teilen mit diu lant. (691,3) Als ungerechtfertigtes Unabhängigkeitsstreben, wie Philip N. Anderson meint,254 wird dies auf der Handlungsebene jedoch nicht disqualifiziert. Giselher ist sofort bereit, ihr lant unde bürge (693,2) zu überlassen. Nur Siegfrieds Ein_____________ 251 Vgl. Kuhn, Kriemhilds Hort, S. 87f. 252 Vgl. z.B. Ehrismann, Reception of Kriemhild, S. 31; Greenfield, Frau, S. 113; Hoffmann, Nibelungenlied, S. 60, 66, 71; Maurer, Leid, S. 21f.; Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 86. 253 Vgl. Saran, Deutsche Heldengedichte, S. 120f. 254 Vgl. Anderson, Kriemhild’s Quest, S. 8: „Kriemhild wants to have responsibility for her own wealth, her own court, her own vassals, who would owe allegiance to her primarily.“

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spruch verhindert die Erbteilung, die der Königstochter nach zeitgenössischem Recht zustehen würde.255 Nach seiner Verzichtserklärung auf ihre Ländereien versucht Kriemhild, wenigstens ihren Anspruch auf einen Teil der burgundischen Gefolgschaft durchzusetzen. Wiederum stimmt einer ihrer Brüder, Gernot, unverzüglich zu und lässt sie ein Drittel der anwesenden Ritter als ihren persönlichen Hofstaat auswählen. Dass die Umsetzung ihres Vorhabens erneut auf Widerstand stößt, liegt diesmal nicht an ihrem Gatten, sondern an Hagen. Seine Weigerung, Kriemhild zu begleiten, zieht zwar keine Konsequenzen nach sich, deutet aber auf den späteren Konflikt hin.256 Als Kriemhild an Siegfrieds Seite zu einer einflussreichen Königin geworden ist, werden Status- und Machtfragen bei ihrem Aufenthalt in Worms ein weiteres Mal zum Problem. An ihnen entzündet sich der Rangstreit der Königinnen, der letztlich zu Siegfrieds Ermordung führt.257 Ausgelöst wird dieser Streit durch die umstrittenen Worte, mit denen Kriemhild das Gespräch eröffnet: ich hân einen man, / daz elliu disiu rîche ze sînen handen solden stân. (815,3f.) Handelt es sich nur um eine unbedachte Schwärmerei, wie Helmut de Boor entschuldigend kommentiert, die „nicht so ernst gemeint“ sei, wie Brünhild sie auffasse?258 Überzeugend kritisiert Jens Haustein, dass eine solche Erklärung ganz unmittelalterlich sei. Kriemhild formuliere in Burgund gegenüber der burgundischen Königin eine Aussage, die einen Herrschaftsanspruch begründe, was durch die Rechtsterminologie – ze sinen handen stân – noch unterstrichen werde.259 Die Brisanz verstärkt sich vor dem Hintergrund ihrer dynastischen Beziehung und des zuvor abgewendeten Erbkonflikts. Wenn die Schwester des Königs, die einen berechtigten Erbanspruch auf die burgundischen Länder und Gefolgsleute erheben kann, durch die Kombination von Indefinit- und Demonstrativpronomen (elliu disiu rîche) genau diesen Besitz zumindest optativ ihrem Gatten zuweist, stellt dies eine eindeutige Provokation dar.260 _____________ 255 Vgl. Ehrhardt, Erbrecht; Müller, Motivationsstrukturen, S. 236; Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 88. 256 Zu den „seltsam folgenlose[n] Störungen“ im ‚Nibelungenlied‘, die als narrative Mittel dienen, Bewegungen und Tendenzen unterhalb des manifesten Geschehens anzuzeigen, vgl. Müller, Spielregeln, S. 140–144f., hier S. 140. – Strohschneider (Strukturanalytisches Experiment, S. 58) spricht in diesem Zusammenhang von einer „abgewiesene[n] Erzählalternative“. 257 Vgl. auch Göhler, Von zweier vrouwen bagen; Hoffmann, Nibelungenlied, S. 24–35. 258 Vgl. Nibelungenlied, hg. v. de Boor, zu Str. 815, S. 137. 259 Vgl. Haustein, Siegfrieds Schuld, S. 378. 260 Dabei muss man nicht so weit gehen, wie Störmer-Caysa (Kriemhilds erste Ehe, S. 101– 103) in einer originellen, aber kühnen Deutung vorschlägt. Auch sie hält es für „nicht besonders einleuchtend, dass Kriemhild auf einem Staatsbesuch nur aus Freude und Eitelkeit“ (S. 101) eine solche Aussage treffe, und verweist als Begründung auf ihre allseits bewunderten zühte. Mit der Provokation wolle Kriemhild für ihren Sohn Ansprüche auf

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Nachdem Brünhild Gunthers vorgängigen Herrschaftsanspruch auf Burgund herausgestellt und gar seinen königlichen Vorrang behauptet hat, beharrt Kriemhild freilich nicht auf Siegfrieds Überlegenheit; sie begnügt sich damit, seine Ebenbürtigkeit bestätigt zu bekommen. Als Brünhild ihre Zustimmung verweigert und ihrer Schwägerin eine unstandesgemäße Heirat vorwirft, wird vor Augen geführt, dass Kriemhilds große Liebe an ständische Voraussetzungen gebunden bleibt. Träfe Brünhilds Anschuldigung zu, dann könnte auch Siegfrieds glänzende Erscheinung den Makel einer niederen Abstammung nicht wettmachen; dô sprach diu schoene Kriemhilt: sô waere mir übele geschehen. (821,4) In seinem Verlauf verlagert sich der Streit über den Rang ihrer Männer hin zu einem eigenen Geltungsanspruch, so dass die beiden Königinnen in direkte Konkurrenz zueinander treten: nu wil ich sehen gerne, ob man den dînen lîp / habe ze solhen êren, sô man den mînen tuot (826,2f.), erklärt Kriemhild ihrer Schwägerin. Ihr Auftreten vor dem Münster dient einzig der gegenseitigen Machtdemonstration, wobei Kriemhild zweimal als Siegerin aus der Konfrontation hervorgeht: Sie betritt nicht nur vor der burgundischen Königin das Münster, sondern erbringt nach dem Kirchenbesuch auch Beweise für ihre ungeheuerliche Behauptung, Brünhild sei verkebset (840,1) worden. Mit den Tränen der Königin von Burgund wird der Streit zu dem Politikum, das in Kriemhilds ersten Worten bereits latent angelegt war.261 Damit ist der gesamte Wormser Hof betroffen und die männlichen Akteure müssen Stellung beziehen. Auch wenn die Machtdiskussion keine öffentliche Fortsetzung findet, so beeinflusst sie das weitere Geschehen maßgeblich; Hagen wird so der Anlass geliefert, Siegfried als potentielle Bedrohung des burgundischen Königshauses auszuschalten. Interpreten, die die Erbforderung und den Königinnenstreit als Beleg dafür anführen, dass Kriemhild ein starkes Bedürfnis nach Geltung und Macht habe,262 ein für eine weibliche Figur unangemessenes Unabhängigkeitsstreben an den Tag lege und mit ihrer burgundischen Gefolgschaft einen eigenen Hof im Hofe bilden wolle263 oder gar eine autonome Herrschaftsposition anstrebe,264 werden durch ihr Verhalten nach Siegfrieds _____________

261 262 263 264

Worms geltend machen, aber nicht aus Übermut und aus eigenem Entschluss, sondern weil sie Siegfrieds Übereignung der Trophäen aus Brünhilds Brautnacht plan- und absichtsvoll deute. – Die machtpolitischen Implikationen ihres Handelns stellt auch Beyschlag (Motiv der Macht, S. 200–202, 207) heraus, der Kriemhild eine stete Rücksichtnahme auf Königtum und Reich bescheinigt. Zu Brünhilds Tränen vgl. Müller, Spielregeln, S. 269, 279; Suerbaum, Male and Female Tears, S. 26–30. Vgl. Weber, Nibelungenlied, S. 7. Vgl. auch Hoffmann, Nibelungenlied, S. 54; Ihlenburg, Nibelungenlied, S. 77–81. Vgl. Anderson, Kriemhild’s Quest, S. 5. Vgl. Classen, Matriarchalische Strukturen, S. 23.

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Tod widerlegt. Inständig bittet Siegmund seine Schwiegertochter, mit ihm nach Niederland zurückzukehren. Er verspricht, dass ihr der Verrat nicht zum Schaden gereichen solle, beteuert seine bleibende Verbundenheit und sichert ihr allen den gewalt (1075,1) zu, den ihr Siegfried einst übertragen habe. Obwohl ihr daz lant und ouch diu krône (1075,3) untertan wären und alle Lehnsleute Siegfrieds ihr dienen würden, folgt Kriemhild dem Angebot nicht. Der Beweggrund für ihre Entscheidung bleibt unklar. Die gewünschte Nähe zum Grab des Geliebten,265 die Sorge vor einem Stimmungsumschwung gegen die aus der Mörderfamilie stammende Witwe266 und die Struktur des mittelalterlichen Personenverbandes, in dem der Blutsverwandtschaft Vorrang vor allen anderen Bindungen zukommt,267 sind als mögliche Erklärungen angeführt worden. Entscheidend ist in diesem Kontext jedenfalls, dass Kriemhild die Gelegenheit, Machtkompetenz und Handlungsautonomie zu erlangen, nicht ergreift. Auch als Rüdiger von Bechelaren ihr bei der Brautwerbung gewalt den aller hoehsten (1237,3) in Aussicht stellt, zeigt sie sich unbeeindruckt. Demnach kann kein Machtversprechen Kriemhild zu einer Aktion bewegen. Anders verhält sich die Protagonistin jedoch dann, wenn ihr ein berechtigter Herrschafts- oder Rechtsanspruch verweigert und ihrer Verfügungsgewalt entzogen wird. Dies wirft nicht nur ein neues Licht auf ihre Forderung gegenüber den Brüdern, sondern auch auf ihre Auseinandersetzung mit Brünhild. In beiden Fällen geht es Kriemhild weniger um ein Streben nach Macht als darum, eine Entmachtung zu verhindern. Im ersten Fall will sie ihrer Enterbung vorbeugen, im zweiten Fall eskaliert der Streit, weil Kriemhild nicht dulden kann, dass ihr ebenbürtiger Status nicht anerkannt wird.268 Insbesondere der widerrechtliche Hortraub erhält in diesem Zusammenhang seine motivierende Funktion für das weitere Handlungsgeschehen. Weil Hagen Kriemhilds materielle Einflussmöglichkeiten fürchtet, fasst er den Entschluss, ihr den Nibelungenschatz zu nehmen und ihrer Machtposition so die Grundlage zu entziehen. Kriemhild reagiert auf seine Entwendung der Schlüssel zu ihrer Schatzkammer sofort. Aus ihrer Argumentation gegenüber Giselher wird deutlich, dass mit der finanziellen Enteignung zugleich eine Missachtung ihres Status als Mitglied der königlichen Familie verbunden ist: beidiu lîbes unde guotes soltu _____________ 265 266 267 268

Vgl. Hoffmann, Nibelungenlied, S. 58. Vgl. Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 81. Vgl. Müller, Motivationsstrukturen, S. 234; ders., Spielregeln, S. 154. Die Verteidigung der êre versteht Maurer (Leid, S. 30) als Schlüssel zur Interpretation: „In der Kriemhildhandlung spielt diese Vorstellung von verletzter Ehre durch angetanes ‚Leid‘ eine entscheidende Rolle, ebenso der Gedanke von Wiederherstellung der verletzten Ehre durch Rache und Sühne.“ Ähnlich äußert sich Nagel (Widersprüche, S. 411): „Verletzte Ehre muß […] um jeden Preis wiederhergestellt werden.“

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mîn voget sîn. (1135,2)269 Wie schon bei der Frage nach ihrem Erbe erkennt Giselher diese Forderung gleich als berechtigt an: daz sol sîn getân (1135,3). Aber er ist diesmal nicht bereit, ihr unmittelbar zur Durchsetzung ihres Rechts zu verhelfen. Auf diese Weise leistet Giselher dem Plan Vorschub, den Schatz im Rhein zu versenken. Zum zweiten Mal sieht sich Kriemhild innerhalb ihres Familienverbands einer Gewalttat ausgeliefert, ohne sich wehren zu können: Mit iteniuwen leiden beswaeret was ir muot, umb ir mannes ende, unt dô si ir daz guot alsô gar genâmen. dô gestuont ir klage des lîbes nimmer mêre unz an ir jungesten tage. (1141)

Wenngleich beide Unrechtstaten, Siegfrieds Ermordung und der Hortraub, Kriemhilds leide begründen, ist doch fraglich, ob sie auf dasselbe Motiv zurückzuführen sind.270 Wenn Siegfrieds Tod für Kriemhild vor allem den Verlust von Ansehen und Macht bedeuten würde, dürfte sie die Möglichkeiten zur Wiederherstellung der êre, die ihr Siegmund und Rüdiger anbieten, nicht ungenutzt lassen. Vor allem an ihrer zweiten Heirat zeigt sich, dass der restituierbare Status und die verlorene Bindung an Siegfried auseinander treten. Der Verlust des Geliebten, der unbestreitbar zu einer negativen Statusveränderung geführt hat, ist von eigener Relevanz und kann durch die neue Machtfülle nicht kompensiert werden.271 Während Siegfrieds Tod Kriemhild aufgrund ihrer Liebe Schmerzen bereitet, beklagt sie im Hortraub ihren Machtentzug. Beide Motive verstärken sich in ihrer Dopplung wechselseitig und spielen für Kriemhilds weitere Aktionen eine entscheidende Rolle.272 Kriemhilds Wunsch nach Rache kommt auf, sobald sie erkennt, dass ihr Mann heimtückisch erschlagen wurde. Totenklage und Rachearie gehen ineinander über: owê mich mînes leides! […] / […] du lîst ermorderôt. / wesse ich, wer iz het getân, ich riet’ im immer sînen tôt. (1012,2–4) Siegmund gegenüber bekräftigt die Protagonistin ihren Vorsatz, den Mörder für seine Tat büßen zu lassen, hält aber ihren Schwiegervater von einer sofortigen Reaktion zurück. Eindringlich warnt sie vor der burgundischen Übermacht und verspricht, nach einer günstigen Gelegenheit Ausschau zu hal_____________ 269 Bernreuther (Motivationsstruktur, S. 61, 70) weist darauf hin, dass der Schatz als Rechtselement fungiert. 270 Gegen Maurer, Leid, S. 20–22. 271 Vgl. auch Müller, Spielregeln, S. 228. 272 Während für Schröder (Tragödie Kriemhilts, S. 112) die Liebe das Hauptmotiv darstellt, wird in der neueren Literatur vor einer Vereindeutigung gewarnt (vgl. Heinzle, Gnade) und die mehrfache Motivierung ihres Handelns herausgestellt. Vgl. z.B. Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 59–62, 70f.; Göhler, Überlegungen, S. 234; ders., Von zweier vrouwen bagen, S. 96; Hennig, Hinterlistige Einladungen, S. 74f. – Müller (Spielregeln, S. 144–151) spricht von „kalkulierter Unbestimmtheit“, die zu den Erzählstrategien des Epos gehöre.

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ten: herre Sigemunt, ir sult iz lâzen stân, / unz ez sich baz gefüege: sô wil ich mînen man / immer mit iu rechen. (1033,1–3) Obwohl ihr mit der Bahrprobe der Beweis geliefert wird, wer Siegfried getötet hat, kommt es nicht zur Umsetzung des gemeinsamen Racheplans. Mit Siegmunds Abreise wird die Blutrache einer Sippe abgebogen, die mittelalterlichen Rechtsverhältnissen entspricht;273 der Racheplan tritt für lange Zeit in den Hintergrund, ohne die Trauer der Witwe zu bestimmen.274 Nicht einmal ihre großzügige Verwendung des Nibelungenschatzes, mit dessen Hilfe sie eine große Gefolgschaft gewinnt, ordnet der Erzähler diesem Zweck zu; nur aus Hagens Perspektive besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Kriemhilds wachsendem Einfluss und der von ihr ausgehenden Gefahr. Erst bei Etzels Werbung wird der Gedanke an Rache erneut expliziert und nun doppelt motiviert. Der Chronologie des Handlungsgeschehens folgend, denkt Kriemhild zuerst an Siegfrieds Tod: waz ob noch wirt errochen des mînen lieben mannes lîp? (1259,4) Dabei macht sie sich Hagens Logik zu eigen, dass der Gewinn von vriunden von finanziellen Möglichkeiten abhängig ist und über die Durchführung eines solchen Vorhabens entscheidet. Somit endet ihre Überlegung bei der zweiten Unrechtstat, durch die sie in Worms dieser Mittel beraubt worden ist: mich hât der leidege Hagene mînes guotes âne getân. (1260,4) Der Mord an Siegfried und der Hortraub stehen in einem kausalen Zusammenhang, sofern dieser die Rache für jenen verhindert. Während Kriemhilds Streben nach Vergeltung zunächst primär in dem Tod ihres Mannes begründet liegt, entwickelt sich der Hortraub zunehmend zu einer Motivation eigenen Rangs.275 So dominiert zuerst der Gedanke an Siegfried, als die Königin nachts den Plan schmiedet, ihre Verwandten an den Hunnenhof zu holen: sô würde wol errochen mînes vriundes lîp (1397,3). Aus Eckewarts und Dietrichs Sicht ist Siegfrieds Tod gar das einzige Motiv, weswegen sich die Burgunden vor Kriemhild hüten müssen: ir sluoget Sîfriden: man ist iu hie gehaz. (1635,3, vgl. 1724,4, 1902,4) _____________ 273 Vgl. Schmidt-Wiegand, Kriemhilds Rache, S. 382. Nach Müller (Spielregeln, S. 144) besteht die Funktion der Szene darin, die Abweichung vom Erwartbaren zu markieren: „Sigemunts abgelenkte Kampfbereitschaft zeigt an, daß etwas offen geblieben ist […].“ 274 Wenn Hoffmann (Nibelungenlied, S. 58) argumentiert, Kriemhild verbringe ihre Trauerjahre „in keimhaften Gedanken an künftige Rache“, ist ihm insofern zuzustimmen, dass der Wunsch bereits bei Siegfrieds Tod entsteht, sich jedoch erst dreizehn Jahre später entfaltet. Der Beginn des Rachebegehrens ist damit weniger offen, als Ehrismann (Reception of Kriemhild, S. 29) meint. 275 Auch auf der Handlungsebene wird seine Bedeutung ausgestellt, als sich der Entzug bei Kriemhilds Aufbruch ins Hunnenreich wiederholt. Der Erzähler berichtet lapidar, Si hete noch des goldes von Nibelunge lant (1271,1), dessen Mitnahme ihr Hagen aus den bekannten Gründen verweigert: Ob si in braehte hinnen, ich wil gelouben daz, / er wurde doch zerteilet ûf den mînen haz. (1273,1f.) Kriemhild reagiert analog: dô was ir grimme leit (1274,1). Der Konflikt wird nicht öffentlich ausgetragen und die Brüder müssen diesmal nicht Stellung beziehen, weil Rüdiger dies mit dem Verweis auf Etzels Reichtum abwendet.

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Auch Kriemhild bezieht sich gegenüber ihren Gefolgsleuten stets auf ihren Schmerz um Siegfried.276 Der Verlust ihres materiellen Besitzes und ideellen Status könnte kaum als Rechtfertigungsgrund für ihre Rache dienen, da dieser durch ihre Heirat mit Etzel längst ausgeglichen worden ist. In der Konfrontation mit Hagen ändert sich Kriemhilds Argumentation und spielt der Hortraub eine wichtige Rolle. In drei sich dramaturgisch steigernden Szenen treffen die beiden Antagonisten aufeinander, in denen Kriemhild nur einmal auf die Frage nach ihrem Besitz verzichtet, als sie Hagen nämlich vor den Hunnen zu überführen sucht. Diese zweite Konfrontation steht ganz im Zeichen der Rache für Siegfried, dessen Ermordung sie Hagen öffentlich bezichtigt: Si sprach: „nu saget mir mêre, zwiu tâtet ir daz, daz ir daz habt verdienet, daz ich iu bin gehaz? ir sluoget Sîfriden, den mînen lieben man. des ich unz an mîn ende immer genuoc ze weinen hân.“ (1789)

Bei der ersten Begegnung hingegen eröffnet Kriemhild das Gespräch mit der Forderung nach der Rückgabe ihres Guts und begründet ihre unfreundliche Begrüßung mit ihrer alten Feindschaft: saget, waz ir mir bringet von Wormez über Rîn, / dar umb ir mir so grôze soldet willekomen sîn. (1739,3f.) Von Hagen absichtlich missverstanden und auf die Rolle einer geschenkgierigen Königin reduziert,277 konkretisiert sie ihr Anliegen: hort der Nibelunge, war habt ir den getân? (1741,2) Die Problematik der widerrechtlichen Enteignung stellt sie klar heraus: der was doch mîn eigen, daz ist iu wol bekant. (1741,3) In der vieldiskutierten Schlussszene werden die vorher isoliert behandelten Motive zusammengeführt.278 In zwei dicht aufeinander folgenden Vorausdeutungen macht der Erzähler nach Gunthers und Hagens Gefangennahme deutlich, dass das Rachebegehren kurz vor seiner Erfüllung steht: der Kriemhilde râche wart an in beiden genuoc. (2366,4, vgl. auch 2365,3) Die Tötung ihres Bruders, die Hagen implizit zur Bedingung gemacht hat, geschieht in der konkreten Intention Kriemhilds, die Rachehandlung zu vollenden: Ich bringez an ein ende (2369,1). Nachdem ihre Forderung erneut gescheitert ist, so habt ir übele geltes mich gewert (2372,1), und Hagen über den Hort triumphiert, wird das zweite Motiv handlungsentscheidend. Kriemhild ergreift den einzigen noch verfügbaren Gegenstand aus dem sagenhaften Schatz der Nibelungen, der bei Siegfrieds Ermordung in Hagens Hände gelangt ist: sô wil ich doch behalten daz Sîfrides swert. _____________ 276 So bittet sie ihren Schwager: du solt mir helfen, herre Bloedelîn. / jâ sint in disem hûse die vîande mîn, / die Sîfriden sluogen, den mînen lieben man. (1904,1–3) 277 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 416f. 278 Indem der Hort bereits zuvor Gegenstand der Auseinandersetzung war, stellt seine Forderung keinen Bruch dar (gegen Kuhn, Kriemhilds Hort, S. 87). – Müller (Spielregeln, S. 149) spricht von einem „Machtspiel mit kalkulierten Doppeldeutigkeiten“.

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(2372,2)279 Sich an die letzte Begegnung mit ihrem Mann erinnernd, den sie zärtlich mîn holder vriedel (2372,3) nennt, verweist sie auf Hagens Vergehen: an dem mir herzeleide von iuwern schulden geschach. (2372,4) Das aufgrund ihrer Liebe erlittene Leid wird zum Auslöser für ihren Mord an dem letzten überlebenden Burgunden, auf den ihre Rache von Anfang an zielte. Forschungsdiskussion: Verbrechertragödie und Schicksalstragik Hinsichtlich seines tragischen Gehalts scheint das ‚Nibelungenlied‘ mit seinem katastrophalen Ausgang eine Ausnahme innerhalb der höfischen Dichtung zu bilden. Selbst Autoren, die die These eines untragischen Mittelalters vertreten, weisen diesem Epos eine Sonderstellung zu. Sie sprechen von einem Werk, in dem „die Tragik am reinsten erhalten“ sei,280 oder von Figuren, die „vom Hauch des Tragischen umweht“ seien und „als vorchristliches Urgestein in die christliche Welt“ hineinragten.281 Notwendigerweise bedürfe das „tragische, vom Evangelium Jesu Christi nahezu unberührte Heldenepos“ der Überlieferungsgemeinschaft mit der ‚Klage‘, in der es einer „weltchronistischen Moralisierung unterworfen“ werde, um für ein mittelalterliches Publikum überhaupt rezipierbar zu sein.282 Wie der Begriff der Tragik für die Gesamtdeutung des ‚Nibelungenliedes‘ genutzt wird, findet er auch für die Charakterisierung des Handelns einzelner Protagonisten Verwendung. Mit der Fokussierung Kriemhilds als zentraler Figur wird ihre Geschichte als eine tragische klassifiziert. So reizte nach Bert Nagels Auffassung den Dichter nicht nur „die überpersönliche Tragik eines allgemeinen Verhängnisses“, sondern vor allem die „individuelle Tragödie Kriemhilts“.283 Daran anschließend spricht auch Werner Schröder von der „Tragödie Kriemhilts im Nibelungenlied“, wohingegen Günther Schweikle, im Bemühen, die Differenzen zwischen Epik und Dramatik zu wahren, die Bezeichnung „heroisch-tragischer Liebesroman“ wählt.284 Wolfgang Spiewok kehrt wiederum zum Ausgangsbegriff zurück und würdigt die Kriemhild-Handlung als „eine der großen Frauentragödien […] der Weltliteratur“.285 _____________ 279 Zur dreifachen Bedeutung des Schwerts als Relikt des Hortes, Metonymie für Siegfried und seine heroische Potenz sowie als Zeichen der Rache vgl. Müller, Spielregeln, S. 150f. 280 Bollinger, Das Tragische, S. 4. 281 Gelfert, Tragödie, S. 48. 282 Knapp, Tragoedia, S. 44. Ähnlich argumentiert Hoffmann (Fassung *C, S. 130), der bereits die Fassung C als einen „Versuch der Auflösung tragischen Weltverhältnisses und Weltverständnisses“ ins „Rational-Moralische und Christliche“ betrachtet. 283 Nagel, Widersprüche, S. 372. 284 Schröder, Tragödie Kriemhilts; Schweikle, Liebesroman. 285 Spiewok, Kriemhild-Tragödie, S. 175.

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Die Frage, worin Kriemhilds Tragik besteht, wird unterschiedlich beantwortet. Nach Schweikle erwächst die tragische Handlung aus der Verletzung der mythischen Prädestination der Schönsten für den Besten.286 Weil der stärkste Held nicht Brünhild heirate, müsse seine Liebe im Unglück enden. Ähnlich argumentiert auch Hugo Kuhn, der bei einem strukturellen Vergleich des ‚Nibelungenlieds‘ mit dem ‚Tristanroman‘ die ungleiche Partnerschaft Siegfrieds und Kriemhilds als Ursache für den tragischen Handlungsverlauf ausfindig macht. Da sich der übernatürliche Partner mit einer natürlichen Frau verbinde, sei ihre Beziehung wie bei der gestörten Mahrtenehe auf das Scheitern hin angelegt.287 Mit dieser Erklärung lässt sich zwar das Ende der Liebesbeziehung von Siegfried und Kriemhild begründen, weniger aber die Rache der Witwe im zweiten Teil des Epos. Für die Interpretation einer Kriemhild-Tragödie ist dieser Ansatz, der das Unglück auf die kompositorische Motivierung zurückführt, daher nur bedingt geeignet. Die ganze Handlung nehmen dagegen die Interpretationen in den Blick, die Kriemhilds Tragik durch die Kontrastierung des katastrophalen Endes mit der friedlich-freundlichen Atmosphäre in der ersten Aventiure zu fassen suchen. So stellt Werner Schröder die Entwicklung der Protagonistin von der höfisch gesitteten jungen Frau zur Rächerin heraus: „Was haben Hass und Rache, was hat Hagen, gegen den sie sich richteten, aus ihr gemacht! Die Hassende hat die Liebende verzehrt, die Rächende hat die Leidende verdrängt. An der das Henkersschwert schwingenden Teufelin scheint nichts Menschliches oder gar Weibliches mehr zu sein.“

Schröder hält es für „Kriemhilts persönliche Tragik“, dass „die Unlast ihrer Schuld mehr und mehr die Last ihres Leides überwuchert“ habe. Demnach wird die Unfähigkeit, Liebesleid zu ertragen und es, „wie Wolframs Sigune, zu keltern“, zur Ursache für Kriemhilds ausufernde Rache.288 Die fehlende Fähigkeit, Maß zu halten, deklariert Schröder als tragisch, weil sie zu schrecklichen Handlungsfolgen führt. Ihr letzter Auftritt hat Kriemhild viel Sympathie bei den Rezipienten gekostet. Über die triumphierende Hunnenkönigin, die das Haupt ihres Bruders an den Haaren vor ihren Erzfeind trägt, schreibt Helmut de Boor: „Das rohe Bild soll den Rausch der Rache, in dem Kriemhild alle höfi_____________ 286 Vgl. Schweikle, Liebesroman, S. 63. 287 Vgl. Kuhn, Tristan, S. 23f.: „Schon Siegfrids Heilbringer-Märchen-Rolle macht […] die Partnerschaft ungleich und damit ‚tragisch‘. […] Kriemhild […] hat sich, auf dem natürlichen Liebesweg der natürlichen Frau, an den übernatürlichen Gatten gekettet – eine Art tragisch verkehrtes Amor-Psyche-Märchen.“ Zum Schema der gestörten Mahrtenehe vgl. Röhrich, Mahrtenehe. 288 Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 150, 153.

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schen Grenzen durchbricht, kraß anschaulich machen.“289 In Bezug auf Hagens Tötung konstatiert nicht nur Schröder den Verlust ihrer Menschlichkeit. Auch Werner Hoffmann erklärt, Kriemhild habe sich „von der liebenden Jungfrau und Gattin zur entweiblichten und entmenschten vâlandinne“ gewandelt.290 Ähnlich negative Urteile über die weibliche Hauptfigur als von blinder Rache Besessene und Rachefurie,291 als dem Dämon Verfallene292 und Dämonin293 oder gar – in direkter Übersetzung von Hagens disqualifizierender Äußerung – als Teufelin und Racheteufelin294 finden sich vielfach. Folgt man diesen Interpretationen, dann ist die Kriemhild-Handlung als eine Verbrechertragödie zu lesen. Die Protagonistin büßt ihre Wertschätzung völlig ein, sie verspielt ihre Daseinsberechtigung und fungiert als abschreckendes Beispiel. In einem solchen Zusammenhang verwendet Hans Kuhn seinen Tragikbegriff, wobei er Kriemhild die fehlende Konsequenz bei der Umsetzung ihrer Rache anlastet. Weil Kuhn in der Hortforderung ein „Paktieren der Rächerin mit ihm [Hagen, R.T.] um des Goldes willen“ zu erkennen meint, verzeichnet er einen scharfen Bruch der Handlung. Kriemhild sei „in ihrem Haß und ihrer Gier so verblendet“,295 dass sie ihrem Todfeind eine Rettung seines Lebens verspreche und ihren Bruder töten lasse, um den Hort zurückzuerhalten. Diese Unstimmigkeit wird von Kuhn als ein „böser Mißklang auf der Höhe der Rachehandlung“ und als Ursache für die tragische Wirkung des Werks interpretiert: „Als Kriemhild […] endlich unmittelbar vor der Rache für den Tod Sigfrids steht, […] da […] läßt sie sich zu einem sinnlosen Paktieren um die ihr geraubten Schätze und zur Tötung ihres letzten Bruders hinreißen und bringt sich damit in demselben Augenblick um den gewonnen Sieg und zugleich um alle menschliche Würde. Durch diese unerwartete Wendung und ihre Folgen ist das Epos erst ganz zu der fürchterlichen Tragödie geworden, die noch heute jeden Leser erschüttert.“296

Solche einseitigen Charakterisierungen der Protagonistin als Anti-Heldin und Verbrecherin sind in der Forschungsliteratur kritisiert worden. So beklagt Friedrich Maurer, wie sehr man Kriemhild missverstanden und welche niedrigen Züge man ihr mit Rachsucht, Habgier, Blutgier und Grau_____________ 289 290 291 292 293 294 295 296

Nibelungenlied, hg. v. de Boor, zu Str. 2369, S. 370. Hoffmann, Nibelungenlied, S. 73. Vgl. Ihlenburg, Nibelungenlied, S. 51. Vgl. Weber, Nibelungenlied, S. 15. Vgl. Mergell, Nibelungenlied, S. 15; Weber, Nibelungenlied, S. 12. Vgl. Wahl Armstrong, Rolle, S. 290f. Kuhn, Teufel, S. 283f. Kuhn, Teufel, S. 294.

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samkeit zugesprochen habe.297 Obwohl er eine divergierende Deutung der Kriemhild-Handlung bietet, verzichtet Maurer keineswegs auf den Begriff der Tragik, den er jedoch anders zu begründen weiß. Gegenstand des ‚Nibelungenlieds‘ sei „der Mensch unter dem leidvollen Schicksal“. Der Handlungsverlauf zeige, „wie aus kleinsten Anfängen heraus sich das Verhängnis bis zum furchtbarsten Ende steigert; wie aus geringsten, ganz unbegreiflichen und in der Tragweite gar nicht erkennbaren Anlässen, aus falschen Verhaltensweisen heraus lawinenartig die Verstrickungen und Verfehlungen anwachsen […] bis zum letzten furchtbaren Untergang aller.“

Die fehlende Möglichkeit, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, hält Maurer für „die furchtbare Tragik dieses Geschehens“. Ohne dass die Figuren dies beabsichtigten, würden sie zum leidvollsten Ende geführt. So opfere Kriemhild ihren Sohn, ihre Gefolgsleute, ihre Brüder und ihr eigenes Leben, obwohl sie allein Hagen treffen wolle. Aufgrund dieser Diskrepanz zwischen intendierten und eintretenden Handlungsfolgen spricht sich Maurer dagegen aus, die Katastrophe auf ein Fehlverhalten zurückzuführen: „Man kann nur von schicksalhafter Verflochtenheit sprechen, aber nicht von Schuld.“ Maurers Position ist symptomatisch für die Interpretation von Tragik im ‚Nibelungenlied‘, die gemäß der im deutschen Sprachraum nach 1800 vorherrschenden Auffassung meist metaphysisch verstanden wird.298 Schon Ende des 19. Jahrhunderts vertrat Gerhard Gietmann die Ansicht, dass im ‚Nibelungenlied‘ eine „unberechenbar e Macht“ über die Figuren walte, so dass sie unter dem „Zwang der unberechenbar sich verwickelnden Verhältnisse und der äußeren das Leben des einzelnen Menschen unerbittlich bestimmenden Gesetze“ stünden, „jener Weltgesetze, die in keines Sterblichen Hand liegen“.299 Trotz aller „psychologischen Begründung der Ereignisse“ fehle „die volle Motivirung [!]“; das Unheil breche unabhängig von Schuld und Sünde herein. Stattdessen walte „grundlos und zwecklos“ das Schicksal, dem die Figuren „zum Opfer“ fielen. Die „Unentrinnbarkeit des Geschickes“ und die „thatsächliche Unausweichlichkeit des Leidens“ erwüchsen aus einer „verderblichen Verkettung der _____________ 297 Maurer, Leid, S. 13. Zu den übrigen Zitaten vgl. S. 17, 16, 22, 33 (in der hier angeführten Reihenfolge). 298 Grundlegende Kritik an dieser Sicht wurde von der marxistischen Literaturwissenschaft geübt. So weisen Ihlenburg (Nibelungenlied, S. 135–147) und Göhler (Nibelungenlied, S. 135–140) darauf hin, dass die Gleichsetzung von Tragik mit einem pessimistischen Weltbild dem ‚Nibelungenlied‘ wenig gerecht wird. Stattdessen verschiebt Ihlenburg (ebd., S. 137) den Akzent von der Metaphysik zur Soziologie und schlägt vor, Dichtung als eine „Widerspiegelung des Tragischen im gesellschaftlichen Leben“ zu begreifen. 299 Vgl. Gietmann, Tragik, S. 263f. Zu den übrigen Zitaten vgl. S. 291, 281, 279, 282, 291, 280f. (in der hier angeführten Reihenfolge).

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Verhältnisse“, der eine „tiefe Anschauung von der Tragik des Lebens“ zugrunde liege. Weil nach Gietmanns Ansicht alles „naturnothwendig zum Abgrund hinzudrängen“ scheint, hält er fest: „Es mußte so kommen, es war ein Verhängnis.“ Ausschlaggebend für seine Nibelungendeutung ist somit die „Tragik des Verhängnisses“, die in dem bedrohlichen Zustand der Welt und dem ohnmächtigen Dasein des Menschen wurzelt. Katharina Bollinger entfaltet diesen Aspekt in ihrer 1938 eingereichten Dissertation. Sie klassifiziert das ‚Nibelungenlied‘ aufgrund der „im Werk lebendig gebliebenen germanischen Weltanschauung“ und der deutlichen Diskrepanz zum christlichen Weltgefühl und höfischen Wertesystem als tragisch. Die „germanische Tragik“ definiert sie als eine „Seinstragik“, deren letzter Sinn in dem „echt germanischen Pessimismus“ liege, dass die edlen Helden untergehen müssten, ohne ihr Geschick beeinflussen zu können:300 „Diese vollkommene Herauslösung aus der Sphäre des Erkennens und Wollens, [!] gibt ihrer Tragik etwas von Verhängnis und Nicht-anderskönnen, was sie um so germanischer macht.“ Zwar wird die „germanische Seinstragik“ ihres Erachtens vor allem von Siegfried und Hagen verkörpert, doch auch Kriemhild ist in die Deutung einbezogen. Das Tragischste an Siegfrieds Untergang sei, dass er von seiner Frau verraten werde, die ausgerechnet Hagen ihr Vertrauen schenke. Unbegreiflich erscheine diese plötzliche Nervosität bei ihr, argumentiert Bollinger, da Kriemhild doch längst an Kriegszüge ihres Gatten gewohnt sein müsse. Dieses „Übermaß nervöser Bedachtsamkeit“, das sie den „tragische[n] Irrtum“ begehen lasse, führt Bollinger auf das „germanische Gefühl von der Bedrohtheit der Welt“ zurück.301 Selbst als nach 1945 auf das germanisierende, nationalsozialistische Sprachvokabular verzichtet wurde, blieb das Verständnis der Schicksalstragik mit ihren weltanschaulichen Implikationen dominierend. Für Bert Nagel beruht auf der „tragische[n] Gesamtschau“ gar die innere Einheit des Werks, das von der „Rätselhaftigkeit dieses menschlichen Daseins“ und der „Unaufklärbarkeit der Zusammenhänge von Mensch und Schicksal“ gekennzeichnet sei.302 Das Handlungsgeschehen sei ganz „aus der Perspektive des Tragikers“ erzählt, der die tragische Sicht so absolut setze, dass „das Tragische als ein Seiendes gilt, als ein allgemeines Attribut des _____________ 300 Bollinger, Das Tragische, S. 4. Zu den folgenden Zitaten vgl. S. 5, 7. 301 Bollinger, Das Tragische, S. 8. Die unbedingte Notwendigkeit des tragischen Untergangs und das stete Wissen, dass das Leben unwiderruflich der Vernichtung geweiht sei, unterscheide das ‚Nibelungenlied‘ von anderen höfischen Werken und lasse es zum „einzigen Fall echter Tragik“ (ebd., S. 2) werden. 302 Nagel, Widersprüche, S. 375, 370. Zu den übrigen Zitaten vgl. S. 391, 373, 392, 371, 406f. Zur Verhängnistragik vgl. S. 417, 419, 429.

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Weltseins überhaupt“. Ausdrücklich grenzt Nagel sich von dem Aspekt der Schuld und des Sich-Versündigens ab und spricht von einer „Verhängnistragik“, in der der Mensch „zum Spielball des Schicksals“ werde und der „überpersönlichen Macht des autonomen Schicksals“ bzw. den „unbegreiflichen Mächten des Schicksals“ ausgeliefert sei. Charakteristisch für die Tragik des ‚Nibelungenlieds‘ ist nach Nagels Auffassung folglich, dass Kriemhild dem „ihr bestimmten Verhängnis anheimfallen“ muss und ihr alle Untaten „aufgenötigt“ werden. Wenngleich in der neueren Literatur eine Skepsis gegenüber Deutungen besteht, die mit dem Wirken eines übermächtigen Schicksals argumentieren, wird an der Vorstellung der unverschuldeten und deshalb tragischen Verstrickung festgehalten.303 So gesteht Bernd Schirok dem Geschehen eine Eigendynamik zu, wie sie im Bild der Lawine zum Ausdruck kommt, die ihren Auslöser mitreißt und nicht aufzuhalten ist.304 Gezielt ersetzt Günther Schweikle das übergeordnete Schicksal durch anarchisch-chaotische Mächte, denen alle Figuren, namentlich Kriemhild, hilflos ausgeliefert seien: „Alle ihre Reaktionen geschehen unter der Gewalt der Minne, einer als unbedingt, als überwältigend gezeichneten Macht, der auch dämonische Kräfte innewohnen.“ Jegliches Streben erweise sich als hoffnungslos, da Kriemhild von ihren Emotionen getrieben werde und so unabwendbar ins Verderben geraten müsse. Aufgrund dieser Zwangsläufigkeit schließt Schweikle auf eine „leiderfahren-deterministisch[e] Weltsicht“ und eine „pessimistisch-fatalistische“ Grundstimmung des ‚Nibelungenlieds‘.305 Die „tragische Logik des Geschehens“ bestehe darin, dass der einmal angestoßene Stein weiterrolle und eine Kette unheilvoller Kollisionen in Gang setze.306 Auch Jan-Dirk Müllers scharfsinnige Analyse der „Dekonstruktion der nibelungischen Welt“307 weist inhaltliche Gemeinsamkeiten mit dem metaphysischen Tragikkonzept auf, obwohl er auf entsprechende Begrifflichkeiten verzichtet.308 Die Transformation der Burgunden in die Nibelungen und der höfischen maget in die rachsüchtige Hunnenkönigin beschreibt er als Entfesselung eines Gewaltpotentials, das weder auf herrschaftliche noch auf verwandtschaftliche Beziehungen Rücksicht nimmt.309 Müller _____________ 303 Vgl. auch Hoffmann, Nibelungenlied, S. 55. 304 Vgl. Schirok, Untergang, S. 260. Zum Bild der Lawine vgl. auch Burger, Grundlegung, S. 238; Maurer, Leid, S. 16. 305 Schweikle, Liebesroman, S. 77, 81. Ein tragisches Weltgefühl bescheinigen auch andere Autoren dem Werk. Vgl. z.B. Hoffmann, Fassung *C, S. 130. 306 Schweikle, Liebesroman, S. 75, 78. 307 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 435–455. 308 Dinkelacker (Spielregeln, bes. S. 69) kritisiert diesen Verzicht und fordert dazu auf, statt des Begriffs der Spielregeln wieder den des Tragischen zu verwenden. 309 Zu diesem und den folgenden Zitaten vgl. Müller, Spielregeln, S. 443–448.

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wählt die Metapher der Ansteckung für den „Blutrausch allgemeiner Vernichtung“, der sich wie eine alle erfassende „Epidemie der Gewalt“ ausbreite. Dagegen erweise sich zweckgerichtetes Handeln als immer nebensächlicher und gerate zunehmend außer Kontrolle. Kriemhilds geplante Aktionen bewirkten wenig, wohingegen immer mehr Figuren „durch eine unselige Verkettung von Umständen“ in den Kampf verwickelt würden. Diese Gegenläufigkeit von Planen und Geschehen führt Müller zum Schluss, dass der Untergang nicht aufzuhalten sei: „Es entsteht ein Sog, der sich jeder Kontrolle entzieht und, unbeeinträchtigt von allen Ablenkungsversuchen, alles verschlingt.“310 Damit kursieren in der Forschung zwei divergierende Tragikauffassungen: die Interpretation der Kriemhild-Handlung als eine Verbrechertragödie und die Vorstellung von Schicksalstragik in der nibelungischen Welt. Während die erste Position an das kausale Tragikmodell der Antike anschließt, ist die zweite vom finalen Verständnis der Neuzeit geprägt. Problematisch ist die Annahme eines unvermeidlichen, vom Schicksal gefügten und deshalb tragischen, Verlaufs weniger aufgrund moderner philosophiegeschichtlicher Prämissen und einer nationalsozialistischen Rezeptionsgeschichte, sondern vor allem wegen fehlender Anhaltspunkte im Text. Obgleich die allgemeine Katastrophe bereits in der zweiten Strophe des ‚Nibelungenlieds‘ angekündigt und mit zahlreichen Prolepsen im gesamten Handlungsverlauf in Erinnerung gehalten wird, ist damit nicht die Vorstellung einer Determination verbunden.311 Vielmehr spiegeln die Vorankündigungen den retrospektiven Standpunkt des Erzählers, der den Ausgang kennt und verschiedene Ursachen hervorhebt. Dazu zählen Kriemhilds Schönheit (2,3f.), die Siegfried zu seiner Werbung veranlasst, der Streit der Königinnen (6,4 u.ö.), der zu Hagens Mordintrige führt, und Siegfrieds Tod, der Kriemhilds Rachewunsch auslöst (19,4 u.ö.). Fatalistische Kommentare, wie daz muos’ et alsô sîn (780,2), sind dagegen nur ganz _____________ 310 Wenngleich Müller (Spielregeln, S. 447f.) diesen Sog für unerklärlich hält, warnt er davor, ihn zu mythisieren. Ob ihm auf diese Weise gelingt, seinen „erzählanalytische[n] Befund“ gegenüber einer „Schicksalsmetaphysik unseligen Andenkens“ abzugrenzen, bleibt fraglich. Schließlich wird das Schicksal in der Formulierung, „[e]s ist nicht mehr steuerbar, es ‚passiert‘“, durch die ebenso numinose Instanz eines ‚es‘ ersetzt, die in ihrer zwangausübenden Unbestimmtheit zwischen Physik und Metaphysik oszilliert. 311 Eine solche Schlussfolgerung zieht Linke (Über den Erzähler, S. 118), wenn er aus dem erzähltechnischen Verfahren der Vorausdeutung eine weltanschauliche Tendenz ableitet: „Die wesenhafte Substanz der Welt ist also in letzter Konsequenz tragisch. Zu dieser Weltauffassung gesellt sich der aus der Unabwendbarkeit des Leides erwachsende Eindruck von Unentrinnbarkeit und Schicksalhaftigkeit der Vorgänge. Auf diese Weise vermittelt die Stimmungskunst der epischen Vorausdeutungen im ‚Nibelungenliede‘ über das Atmosphärische hinaus […] das Lebensgefühl einer tragischen Geschichtsauffassung […].“ – Zur Kritik vgl. auch Göhler, Nibelungenlied, S. 75f.

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vereinzelt zu finden.312 Als der Erzähler den kollektiven Untergang am Ende mit einer allgemeinen Lebensweisheit kommentiert, steht diese in einem eklatanten Missverhältnis zum außergewöhnlichen Handlungsverlauf. Die Sentenz, als ie diu liebe leide z’aller jungeste gît (2378,4), bietet keine ausreichende Erklärung für die Katastrophe. Aufschlussreicher als die Schlussbemerkung ist das durchgängige Verfahren des Erzählers, kausale Wirkungszusammenhänge durch Vorausdeutungen transparent zu machen. In Übereinstimmung mit seiner Präsentation der Geschichte sollte daher das Figurenhandeln statt einer schicksalhaften Fügung in den Blick genommen werden, um das Tragikkonzept des ‚Nibelungenlieds‘ zu bestimmen.313 Sowohl bei Kriemhild als auch bei anderen Figuren lassen sich handlungsauslösende Verhaltensweisen beobachten, für deren Folgen sie auch verantwortlich bleiben, wenn das Geschehen eskaliert und Intention und Ergebnis nicht mehr übereinstimmen.314 Die Frage nach der Verantwortlichkeit für das eigene Unglück ist bisher vor allem für Siegfried gestellt worden und hat zu Konsequenzen bei der Interpretation des Tragischen geführt. So beschäftigt sich Jens Haustein mit der Schuld, die der Protagonist auf sich lade, indem er durch seine Standeslüge gegen die heilsgeschichtlich begründete Ordnung der Welt verstoße. Da sein Steigbügeldienst als „unheilvolle, als schuldhafte Tat“ gelten müsse, an dem sich „alle weitere Tragik“ entzünde, werde Siegfried „zum Verursacher seines eigenen Todes“. Auf diese Weise distanziert sich Haustein von Deutungen, die den Untergang des Helden für unvermeidlich halten und von einem schicksalhaften Verhängnis ausgehen. Punktuell bezieht er auch Kriemhild in seine Überlegungen ein, die ebenso wie Siegfried als Liebende gegen den Ordo verstoße, weil sie mit _____________ 312 Eine ähnliche Bemerkung, die explizit als eine Vermutung gekennzeichnet ist, erfolgt nach Ihrings Tod: ich waene des, daz hête der tôt ûf si gesworn. / des wart noch vil der recken von den gesten dâ verlorn. (2080,3f.) 313 Die Verantwortung der Protagonisten für den Untergang betonen auch andere Autoren. So erklärt Göhler (Nibelungenlied, S. 139): „Der Untergang der Burgunden im Epos ist selbstverschuldet. Daran kann kein Zweifel sein. Aber wird er auch vom Epiker als selbstverschuldet erkannt und dem Hörer als solcher dargestellt? Diese Frage ist entschieden zu bejahen.“ Dinkelacker (Spielregeln, S. 68) stellt heraus, dass die vielfältigen Hinweise auf das kommende Unglück dem Ablauf der Ereignisse zwar „von Anfang an den Charakter der Zwangsläufigkeit und Notwendigkeit“ verleihen und eine „düstere Stimmung“ verbreiten, doch ohne die Handlungsträger aus ihrer Verantwortung zu entlassen: „Das Geschehen bleibt dabei an das Handeln der Figuren gekoppelt […].“ Noch deutlicher äußert sich Lienert (Perspektiven, S. 104f.), die den Terminus der Fatalität an das Figurenhandeln bindet: „Die Fatalität von Gewalteskalation und Untergang ist menschengemacht.“ 314 Aus diesem Grund erscheint die Metapher der Lawine passender als die des Sogs; zwar betonen beide die verheerende Wirkung, die auch Unbeteiligte erfassen kann, doch setzt jene eine kausale Ursache voraus, während diese mit dem Begriff des Unerklärlichen operiert und den finalen Untergang fokussiert.

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ihren provozierenden Worten gegenüber Brünhild ihre Liebe über eine auf Recht gegründete Welt stelle. Damit beschwörten beide Protagonisten durch nicht-notwendige Gesten und Sätze ihr Unglück selbst herauf und scheiterten „als Folge einer hybriden Verweigerung, die geschichtliche Welt als verbindlich zu akzeptieren“.315 Einen vergleichbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang erstellt Albrecht Classen, der sich mit der möglichen Vermeidbarkeit des kollektiven Untergangs beschäftigt und seine Überlegungen an Siegfried exemplifiziert. Zwar geht er davon aus, dass die Helden durch unheilvolle Mächte ins Verderben gestürzt werden, verlagert diese jedoch ins Innere der Figuren und hebt damit ihre Eigenverantwortung hervor: „We are faced, after all, by a tragedy, […] and there are causes to be identified, responsibilities to be assigned to individual heroes.“316 Keiner der Helden verhalte sich fehlerfrei, insbesondere Siegfried werde schuldig, „because of his boisterous, inconsiderate, and arrogant behavior, his deception and lies […].“317 Wenngleich Classen in der moralischen Verurteilung des Helden die Ebene sachlicher Argumentation überschreitet, kann die Frage nach dem Fehlverhalten der Figuren doch entscheidend dazu beitragen, die im ‚Nibelungenlied‘ dominierende Form des Tragischen zu identifizieren. Tragikkonzept: Kriemhilds Leidenschaft Schon im ersten Handlungsteil des ‚Nibelungenlieds‘ wird Kriemhilds Mitverantwortung für ihr Unglück offengelegt. Dabei wird die Wende ihres Glücks nicht monokausal begründet, sondern die Protagonistin trifft mehrfach Entscheidungen und begeht wiederholt Taten, die von ihr selbst oder von anderen als problematisch gewertet werden. Konkreter Anlass für Hagens Mordplan ist Kriemhilds Beleidigung der burgundischen Königin, eine kebse zu sein, was sie durch die Präsentation augenscheinlicher Beweisstücke als ein Faktum darstellt. Zwar gründet der Streit zwischen den beiden Frauen in Brünhilds Misstrauen, das durch den Widerspruch zwischen Sein und Schein geweckt worden ist, den Siegfrieds divergierende Auftritte in Worms und Isenstein hervorgerufen haben; dennoch entzündet er sich an Kriemhilds provokativer Äußerung und wird von ihr ebenfalls geschürt. Auf diese Auseinandersetzung nimmt Hagen später _____________ 315 Haustein, Siegfrieds Schuld, S. 381f., 385. Vgl. auch S. 383. 316 Classen, Downfall, S. 299. Vgl. auch Classen, Breakdown, S. 566: „[…] the reader […] is confronted with horror because the tragic forces that eventually kill all the protagonists do not come from outside – fate –, but rather from inside as there is no ideal hero, and almost everybody contributes to his or her own downfall.“ 317 Classen, Downfall, S. 308.

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Bezug, als ihn die Hunnenkönigin in der Hoföffentlichkeit des Mordes bezichtigt. Er legitimiert seine Tat als eine Vergeltungsaktion und weist Kriemhild somit indirekt die Schuld für Siegfrieds Tod zu: wie sêre er des engalt, / daz diu vrouwe Kriemhilt die schoenen Prünhilden schalt! (1790,3f.) Nicht erst in der retrospektiven Deutung ihres Erzfeindes wird Kriemhilds Verhalten im Königinnenstreit zum Auslöser für den weiteren Handlungsverlauf. Auch die männlichen Protagonisten, die in Worms unmittelbar Stellung nehmen müssen, bewerten den Vorfall vor dem Münster als nicht akzeptabel. Weil der tatsächliche Sachverhalt vollständig hinter der öffentlichen Preisgabe eines Geheimnisses zurücktritt, gelten Kriemhild und mit ihr der indiskrete Siegfried als Schuldige. sô hetes’ übele getân (853,4), kommentiert Gunther Brünhilds Bericht. Ähnlich reagiert Siegfried, der sein ausdrückliches Bedauern darüber bekundet, daz si hât betrüebet den Prünhilde lîp (861,2). Für dieses Verhalten verspricht er, seine Frau büßen zu lassen: ê daz ich erwinde, ez sol ir werden leit (858,1f.). In seinem Rat an Gunther, Frauen so zu erziehen, daz si üppeclîche sprüche lâzen under wegen (862,2), kritisiert er Kriemhilds Gerede implizit als anmaßend und stellt zugleich weibliche Äußerungen als wenig relevant dar. Entsprechend seiner pädagogischen und juristischen Funktion als Vormund entschuldigt er sich im Namen seiner Frau, deren Ungehörigkeit einmal mehr getadelt wird: ir grôzen ungefüege ich mich waerlîche scham. (862,4) Für den Eklat am Wormser Hof ist somit nach Ansicht ihres Mannes, die zumindest vorläufig vom Hofgericht geteilt wird, allein Kriemhild verantwortlich. Dass Siegfried es nicht bei seinem verbalen Schuldspruch belässt, sondern Kriemhild mit körperlicher Gewalt züchtigt, ist aus ihrem Gespräch mit Hagen zu erfahren: ouch hât er sô zerblouwen dar umbe mînen lîp (894,2). Kriemhild macht sich nun Siegfrieds Bewertung ihres Streits mit Brünhild zu eigen. Sie erklärt, Daz hât mich sît gerouwen (894,1), und bedauert, daz ich iz ie geredete, daz beswârte ir den muot (894,3). In dieser Situation trifft Kriemhild eine folgenreiche Fehlentscheidung. Obwohl sie um die Gefahr weiß, ihr Mann könnte für ihre Beleidigung büßen müssen, und Hagen ihr bei der Erbteilung einst seine Gefolgschaft verweigerte, vertraut sie ausgerechnet ihm das Geheimnis von Siegfrieds Verwundbarkeit an.318 Bei ihrer Beteuerung, wie leid ihr der Vorfall tue, stellt Kriemhild sogar einen Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und möglichen Konsequenzen für ihren Mann her: er’n sol des niht engelten, hab’ ich Prünhilde iht getân. (893,4) Auch ohne ihr ein doppelbödiges Spiel unterstellen zu müssen, bei dem sie Siegfried gezielt opfern will,319 begeht Kriemhild einen schwerwiegenden Fehler. Der Erzähler, der sich sonst weitgehend in Zurückhaltung _____________ 318 Zu ihrem Motiv, das auf der Logik von Gabe und Gegengabe basiert, vgl. Schirok, Untergang, S. 247–249. 319 Eine solche Hypothese entwickelt Störmer-Caysa, Kriemhilds erste Ehe, S. 105f.

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übt, bemerkt kritisch: si sagt’ im kundiu maere, diu bezzer waeren verlân. (898,4) In der Prolepse, si wânden helt dô vristen: ez was ûf sînen tôt getân (903,4), wird diese unbestimmte Warnung konkretisiert. Zwar ist die Diskrepanz zwischen den intendierten und den tatsächlichen Handlungsfolgen klar markiert, doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Protagonistin nicht nur den Anlass, sondern auch die Mittel für Siegfrieds Ermordung liefert: dô wând’ ouch des diu vrouwe, ez sold’ im vrume sîn: / dô was dâ mite verrâten der Kriemhilde man. (905,2f.) Nur wenig später, bei der Absage des geplanten Feldzugs und seiner Umwandlung in einen Jagdausflug, erkennt Kriemhild, dass sie das Geheimnis nicht hätte verraten dürfen. Während sie zuvor nicht zögerte, ihr Wissen Brünhild und Hagen mitzuteilen, scheut sie sich nun, Siegfried von ihrem Gespräch mit dem burgundischen Vasallen zu berichten: Dô gedahtes’ an diu maere (sine tórst’ ir niht gesagen), / diu si dâ Hagenen sagete (920,1f.). Die Protagonistin bedauert ihr Verhalten zutiefst und verwünscht sich selbst: dô begonde klagen / diu edel küneginne, daz sie ie gewan den lîp (920,2f.). Mit Hilfe ihrer Träume versucht sie, Siegfried ohne eigenes Schuldbekenntnis zu warnen. Selbst als sie diese nachträglich auslegt und auf einen möglichen Anschlag bezieht, kann sie ihn jedoch nicht von seinem Vorhaben abbringen. Erneut geht Kriemhild von einem Tun und ErgehenZusammenhang aus, den sie in eine allgemeine Warnung kleidet: ob man der deheinem missedienet hât, / die uns gefüegen kunnen vîentlîchen haz. (922,2f.) Ihre vorsichtige Formulierung, in der die Positionen des Missetäters und des Opfers unbesetzt bleiben, gewinnt vor dem Hintergrund des Königinnenstreits eine Brisanz, die von Siegfried nicht erkannt wird.320 Ob Kriemhilds Schweigen als ein weiterer Fehler zu bewerten ist, der Siegfrieds Ermordung ermöglicht, wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich beantwortet. Nachdem sie nun schon zum zweiten Mal „wichtige, ihr anvertraute Ereignisse ausgeplaudert“ habe, ist es nach Werner Schröders Ansicht ihr Unglück, dass sie es an „der gleichen rückhaltlosen Offenheit“ wie Siegfried fehlen lasse und sie „die verderblichen Vorkehrungen ihrer liebenden Fürsorge nicht einzugestehen“ wage.321 Gegen eine psychologisierende Deutung von Kriemhilds mangelndem Vertrauen wendet sich Jerold C. Frakes, indem er auf die Relevanz der Traumsymbolik im Mittelalter hinweist. Weil Träumen ein größerer Wahrheitsgehalt zugebilligt werde als einer direkten Warnung, ersetze Kriemhilds Erzählung die Offenbarung ihres Verrats.322 Eine Figurenrede oder ein Erzählerkom_____________ 320 Weder kennt er eine Person, die ihm feindlich gegenüberstehen könnte, noch einen möglichen Anlass: ine weiz hie niht der liute, die mir iht hazzes tragen. / alle dîne mâge sint mir gemeine holt, / ouch hân ich an den degenen hie niht anders versolt. (923,2–4) 321 Schröder, Tragödie Kriemhilts, S. 75, 73. 322 Vgl. Frakes, Kriemhild’s Three Dreams, S. 180.

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mentar, in dem Kriemhilds Verhalten bei der Verabschiedung getadelt wird, fehlt im ‚Nibelungenlied‘; problematisiert wird ihr Reden, nicht ihr Schweigen. Nachdem das gefürchtete Ereignis tatsächlich eingetreten ist, wird der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang von Geheimnisverrat und Tod auf gedanklicher Ebene erneut reflektiert. Als Kriemhild von einem toten Ritter vor ihrer Tür erfährt, denkt sie sofort an Hagens Frage. Ê daz si reht’ erfunde, daz iz waere ir man (1008,1), weiß sie um ihr Unglück: dô wart ir êrste leit. / von ir was allen vreuden mit sînem tôde widerseit. (1008,3f.) Ihre unwillentliche Beihilfe zum Mord beschäftigt Kriemhild noch Jahre später, wie sie auf Gunthers Annäherungsversuch hin erkennen lässt. Hagen bleibt von jeder Versöhnung ausgeschlossen, weil er ihr die nötigen Informationen, wâ man in verhouwen solde (1111,2), entlockt und ihr Vertrauen schmählich missbraucht habe: wie moht’ ich des getrûwen, daz er im trüege haz? (1111,3) Obwohl ihre gut gemeinte Weitergabe des Geheimnisses eine gegenteilige Wirkung entfaltet hat, kann sie sich nicht von einer Mitschuld freisprechen;323 sie beklagt die einstige Rede als Fehler und Ursache ihres Leids: Daz ich niht vermeldet hete sînen lîp! / sô lieze ich nu mîn weinen, ich vil armez wîp. (1112,1f.) Auf der Handlungsebene wie in der Figurenreflexion wird somit deutlich, dass Kriemhild ihre Wende ins Unglück im ersten Handlungsteil des ‚Nibelungenlieds‘ selbst zu verantworten hat und sie nicht – wie nach dem Tragikverständnis des Boethius – von einem unverständlichen Schicksalsschlag getroffen worden ist.324 Durch ihre Beleidigung Brünhilds und den Verrat von Siegfrieds Geheimnissen begeht sie Taten, die zwar im Kontext des königlichen Rangstreits und aufgrund ihrer liebevollen Sorge verständlich sind, aber von den beteiligten Figuren oder vom Erzähler als problematisch markiert werden und die zu Siegfrieds Ermordung führen. Die klare Diskrepanz, die zwischen Kriemhilds Intention und der erzielten Wirkung besteht, entschuldigt ihr Verhalten weder aus ihrer eigenen Perspektive noch aus der Sicht anderer. Da Kriemhilds Leid in keinem angemessenen Verhältnis zu ihrem Fehlverhalten steht, weist die Motivation ihres Unglücks im ersten Teil des Epos Übereinstimmungen mit den antiken Tragikauffassungen auf:325 Die entscheidenden Anstöße gehen von der Protagonistin selbst aus, die den Tod ihres Mannes mitzuverantworten hat. Ihre Schuld kann im aristotelischen Sinne als tragisch gelten, weil ihr Leid aus eigenen Fehlern erwächst, die verständlich sind, aber zu schrecklichen Folgen führen. Diese Konzeption des Tragischen verschiebt sich im zweiten Teil des ‚Nibelungenlieds‘, in dem Kriemhild sich vollständig _____________ 323 Dass diese sie lähmt und zu einem Affektstau führt, der sich erst in der späten Rache löst, ist daraus nicht abzuleiten (gegen Schweikle, Liebesroman, S. 72). 324 Vgl. S. 72–77. 325 Vgl. S. 64–71.

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auf ihre Rache konzentriert und negative Konsequenzen bewusst in Kauf nimmt. Noch während die Hunnenkönigin gedanklich nach einem Weg sucht, sich für ihr Leid zu rächen, stellt der Erzähler die damit verbundene Problematik heraus: Um Hagen in ihr Land zu holen, muss Kriemhild ihre Brüder instrumentalisieren und zur Annahme der Einladung bewegen. Unerlässliche Voraussetzung dafür ist ihre Versöhnung mit Gunther.326 Auch Kriemhild vertraut bei ihrem Plan auf die Verbindlichkeit des Sühnerituals, unterläuft sie aber zugleich, wenn sie von ihren vriunden spricht und ihre vînde meint. Um die Ungeheuerlichkeit dieses Verrats zu brandmarken, führt der Erzähler dieses Verhalten auf teuflischen Einfluss zurück:327 Ich waene der übel vâlant Kriemhilde daz geriet, / daz sie sich mit friuntschefte von Gunthere schiet, / den si durch suone kuste in Burgonden lant. (1394,1–3) Dass es sich nicht um ein reales Eingreifen des Teufels auf der Handlungsebene handelt, wird durch den Hinweis auf die eigene Interpretation des Geschehens, ich waene, signalisiert. Zwar weiß Kriemhild ihr Streben vor sich selbst durch die erzwungene Heirat mit einem Heiden, Siegfrieds ungeahndeten Tod, den erlittenen Schmerz und die Sehnsucht nach den Brüdern zu legitimieren.328 Doch macht sie sich nach dem Urteil der narrativen Instanz schuldig, da Sühne und Rache einander ausschließen.329 Die kritische Sicht des Erzählers auf Kriemhilds Vorhaben bleibt im weiteren Handlungsverlauf bestehen und wird durch die Aussagen seiner Figuren teils deutlich verschärft. Während der Erzähler vom argen willen (1399,4) der Protagonistin spricht, den sie vor allen Anwesenden geheim hält, bezieht Hagen diese negative Charakterisierung nicht nur auf ihre Absicht, sondern auf ihre Person: Die Burgunden sollten sich vor der argen Kriemhilde muot (1472,4) hüten. Mit valschem muote (1737,2) würden sie begrüßt, kommentiert der Erzähler und hebt so die Missachtung des Gastrechts zusätzlich hervor, nachdem Kriemhilds feindselige Haltung schon am ungleichen Empfang sichtbar geworden ist. Als die Protagonistin wenig später bestürzt feststellt, dass Hagen über ihre Pläne informiert ist, be_____________ 326 Bestätigt wird diese Annahme durch die Diskussion am Wormser Hof, bei der sich Gunther auf Kriemhilds Versöhnungskuss beruft und damit seinen Entschluss begründet, der Einladung trotz Hagens Widerstand zu folgen, vgl. 1460,1–3: Dô sprach der künec rîche: „mîn swester lie den zorn. / mit kusse minneclîche si hât ûf uns verkorn, / daz wir ir ie getâten, ê si von hinnen reit […].“ 327 Nach Müllers (Spielregeln, S. 167) Auffassung wird die Einflüsterung des Satans dort gebraucht, wo ein normales Verständnis der Welt aussetzt. Vgl. auch Linke, Über den Erzähler, S. 123. 328 Zum sprunghaften Wechsel ihrer Überlegungen und Gefühle, die nicht den Regeln narrativer Verknüpfung oder schlüssiger Argumentation folgen, aber das Bild einer Königin entwerfen, die alles ihrem Rachewunsch aufopfern will, vgl. Müller, Spielregeln, S. 229–233. 329 Zum Rechtsakt der suone vgl. Schmidt-Wiegand, Kriemhilds Rache, S. 379.

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kennt sich Dietrich von Bern zornig zu seiner Warnung und greift die Königin scharf an: nu zuo, vâlandinne, du solt michs nicht geniezen lân. (1748,4) Helmut de Boor hat diese Beschimpfung als „einen Stilfehler des jüngsten Dichters“ getadelt. So früh und in Dietrichs Mund verliere sie ihr Gewicht und sollte Hagens letztem Auftritt vorbehalten sein.330 Dem ist zu entgegnen, dass Dietrich an dieser Stelle die frühere Deutung des Erzählers hinsichtlich der suone aufgreift und sie ebenfalls auf die verräterische Einladung bezieht. Diejenige, die sich zum Werkzeug des vâlant machen lässt, wird als vâlandinne bezeichnet. Mit diesem Ausruf des angesehenen Helden ist zugleich ein Urteil über Kriemhild gesprochen, dessen Berechtigung sich zwar erst in den folgenden Szenen in vollem Umfang erweisen wird, das aber bereits eine Verständnisperspektive vorgibt.331 Während ihr Verhalten später fast ausschließlich aus der Außensicht betrachtet wird und eigene Reflexionen oder gar Selbstkritik vollständig fehlen, zeigt sich Kriemhild bei Dietrichs Worten noch schuldbewusst: Des schamte sich vil sêre daz Etzelen wîp (1749,1). Implizit gesteht Kriemhild ein, auf eine widerrechtliche Weise Rache zu üben.332 Diese Unrechtmäßigkeit wird im Folgenden auf der Handlungsebene inszeniert und in Erzählerkommentar und Figurenrede markiert. Nachdem Kriemhilds Vorhaben, Hagen von ihren Gefolgsleuten überwältigen zu lassen, schon im Ansatz gescheitert ist, plant sie einen heimlichen Angriff. Durch den Versuch, die Schlafenden ungetriwelîche (1845,4) zu überfallen, disqualifizieren die Hunnen ihre Auftraggeberin und sich selbst. Unverzüglich halten Hagen und Volker ihnen ihre Feigheit und Hinterlist vor: pfî, ir zagen boese (1847,2). Deutlich wird die Unwissenheit des Königs von den üblen Plänen seiner Gemahlin abgegrenzt, die umso negativer zu beurteilen sind, da sie sich gegen die eigenen Verwandten richten. dannoch er niene wesse vil manigen argen list, / den sît diu küneginne an ir mâgen begie, / daz si mit dem lebene deheinen von den Hiunen lie. (1754,2–4) Wenn vor allem Giselher bedauert, dass sich Kriemhilds freundliche Einladung als eine tödliche Falle erwiesen hat, erhält die Aussage ihres Lieblingsbruders besonderes Gewicht: swie et ez uns mîn swester sô güetlîche erbôt, / ich fürhte, daz wir müezen von ir schulden ligen tôt (1827,3f.). Seine Klage zeigt, dass Kriemhild – anders als noch bei der Begrüßung der Burgunden am Hunnenhof – keine Rücksicht mehr auf andere triuwe-Bindungen als ihre Liebe zu Siegfried _____________ 330 Vgl. Nibelungenlied, hg. v. de Boor, zu Str. 1748, S. 276. 331 Nagel (Nibelungenlied, S. 255) weist dem „vielsagenden Stichwort“ gar die „Funktion eines Leitmotivs“ zu. 332 Müller (Spielregeln, S. 167f.) stellt heraus, dass ihre Scham noch von dem Bewusstsein zeuge, gegen eine geltende Ordnung zu verstoßen, die später für Kriemhild jegliche Verbindlichkeit einbüße.

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nehmen wird.333 Diese Zerstörung familiärer Strukturen wirft Dietrich Kriemhild vor und leitet aus ihrer Missachtung sozialer Verpflichtungen den Verlust ihres gesellschaftlichen Ansehens ab: Diu bete dich lützel êret, vil edeles fürsten wîp, / daz du dînen mâgen raetest an den lîp. / si kômen ûf genâde her in diz lant. (1902,1-3) Eindrücklich inszeniert wird Kriemhilds Preisgabe aller anderen Verbindungen zugunsten ihrer Rache beim Ausbruch des Kampfes, als sie das Leben ihres Sohnes Ortlieb aufs Spiel setzt. Ursache für seinen Tod ist, wie der Erzähler und Hagen übereinstimmend betonen, ir herzeleide, das sie ungeachtet der großen zeitlichen Distanz niht vertragen wolle (1960,2). Die Vergangenheit, ir leit daz alte (1912,2), hat für Kriemhild präsentischen Charakter, bestimmt ihr Handeln und holt alle anderen Protagonisten ebenfalls ein.334 Daher ist es konsequent, dass Hagen die Zukunft nicht nur im Gespräch mit Etzel negiert,335 sondern mit der Tötung des hunnischen Prinzen gänzlich zunichte macht. In der Nibelungenphilologie sind vor allem die Inkohärenzen dieser Episode herausgestellt und mit Relikten älterer Dichtung erklärt worden.336 Während Kriemhild in einer früheren Version Ortlieb veranlasse, Hagen ins Gesicht zu schlagen, wird er in der vorliegenden Fassung des ‚Nibelungenlieds‘ aufgrund seiner bloßen Anwesenheit ermordet. Als Hagen von Blödels tödlichem Übergriff auf die burgundischen Knappen erfährt, erschlägt er das Kind mit der Erklärung: der junge vogt der Hiunen, der muoz der aller êrste sîn. (1960,4) Obwohl Kriemhild die Tötung ihres Sohnes in dieser Situation nicht provoziert, bewertet der Erzähler ihren Auftrag, Ortlieb zum Festmahl zu bringen, äußerst kritisch: wie kunde ein wîp durch râche immer vreislîcher tuon? (1912,4) Dieser Kommentar erhält seinen Sinn jedoch nicht nur vor dem Hintergrund des älteren Sagenmotivs. Vielmehr weist der Erzähler – ähnlich wie bei seiner Deutung anlässlich von Kriemhilds Nachtgedanken – bereits vor der Ausführung einer Tat auf die Problematik ihrer Rache hin, für die sie alles zu opfern bereit ist. Dies wird auf der Handlungsebene mit _____________ 333 Zur radikalen Individualisierung ihrer triuwe vgl. Müller, Spielregeln, S. 164–169. 334 Die Einstellungen zu Siegfrieds Tod unterscheiden sich anfangs deutlich. die Sîfrides wunden tâten Kriemhilde wê (1523,4), erklärt der Erzähler und betont so ihren unveränderten Schmerz, wohingegen Rüdiger die Vergangenheit auf sich beruhen lassen will: Die Sîfrides wunden lâzen wir nu stên (1726,1). Ähnlich argumentiert Hagen, der das Geschehen als unumkehrbar und längst verjährt betrachtet: „Si mac wol lange weinen”, sprach dô Hagene: / „er lît vor manigem jâre ze tode erslagene. / […] / Sîfrit kumt niht widere, er ist vor maniger zît begraben.” (1725) Wie wenig seine Einschätzung zutrifft, zeigt sich spätestens, als er mit Siegfrieds Schwert erschlagen wird. 335 Etzels Wunsch, sein Sohn möge die Burgunden bei ihrer Rückkehr begleiten, weist Hagen mit der Bemerkung zurück: doch ist der künec junge sô veiclîch getân: / man sol mich sehen selten ze hove nâch Ortliebe gân. (1918,3f.) 336 Zu Str. 1912 vgl. Nibelungenlied, hg. v. de Boor, S. 300; Grosse, Kommentar, S. 904. Vgl. auch Heinzle, Nibelungenlied, S. 41; Heusler, Nibelungensage, S. 99–102.

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ihrem Sohn vorgeführt, indem Ortliebs Tod kausal aus dem Überfall auf die Knappen erwächst. Wenn der Erzähler Kriemhilds Verhalten in diesem Zusammenhang als unmenschlich, genauer als unweiblich, disqualifiziert, so fällt er bereits hier ein Urteil, das alle männlichen Figuren in der Schlussszene teilen werden. An einer Frau, die die geschlechtsspezifischen Grenzen überschritten hat, wird die Todesstrafe vollstreckt. Im Zuge der wachsenden Gräueltaten bedient sich der Erzähler erneut der Strategie, Kriemhilds Verhalten als Verbrechen zu kennzeichnen, bevor es in der anschließenden Episode exemplifiziert wird: Z’einen sunewenden der grôze mort geschach, / daz diu vrouwe Kriemhilt ir herzeleit errach / an ir naehsten mâgen unde ander manigem man (2086,1–3). Der heldenhafte Kampf entwickelt sich spätestens dann zum entsetzlichen Mord, als die Königin die Burgunden in den Saal zurücktreiben und diesen anzünden lässt. Dass Kriemhild diesen grausamen und unehrenvollen Tod ausgerechnet ihren nächsten Verwandten bereiten will, wird durch ihr Gespräch mit den Brüdern einmal mehr als besonders verwerflich dargestellt. Die Beteuerung der Könige, ûf triuwe (2091,4) und vriuntlîche (2092,4) in dieses Land gekommen zu sein, steht in scharfem Kontrast zu Kriemhilds verräterischer Einladung und ihrer Missachtung des Gastrechts. Vor allem Giselher betont die Diskrepanz zwischen seiner steten Ergebenheit, Ich was dir ie getriuwe, nie getet ich dir leit (2102,1), und dem bereiteten Empfang: wie hân ich an den Hiunen hie verdienet den tôt? (2100,4) Kriemhild, die auch nach der Bitte ihres jüngsten Bruders nicht bereit ist, Gnade zu gewähren, legt das Prinzip ihres Rachehandelns offen: Weil Hagen ihr sô grôziu leit (2103,2) zugefügt habe, werden sämtliche Burgunden dafür büßen: ir müezet es alle engelten (2103,4).337 Die Klage der eingeschlossenen Krieger, im Feuer statt im Kampf sterben zu müssen, gerät implizit zur Anklage: nu richet ungefuoge an uns diu küneginne ir zorn. (2112,4) Die letzte wertende Prolepse findet sich vor der Schlusskonfrontation. Wiederum wird die Aufmerksamkeit auf das Fehlverhalten der Protagonistin gelenkt, ohne die daraus für sie resultierenden negativen Konsequenzen, ihre Zerstückelung, zu erwähnen. Kriemhilds Zusage an Dietrich, die Gefangenen zu schonen, Si jach, si taet’ iz gerne (2365,1), wird durch die unmittelbar anschließende Vorankündigung widerlegt: sît rach sich grimmeclîchen daz Etzelen wîp (2365,3). Der Widerspruch zwischen Versprechen und Verhalten wird so hervorgehoben und das für die Einladung charakteristische Motiv des Verrats in modifizierter Form wiederholt. Die verbleibenden Ereignisse werden ganz aus der Perspektive der Figuren geschildert: dô wart im leide genuoc (2369,4), heißt es von Hagen, als _____________ 337 Nach Schmidt-Wiegand (Kriemhilds Rache, S. 381) entspricht dieses Vorgehen, das zur Vernichtung des ganzen Geschlechts führt, eher der Fehde als der Blutrache.

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Kriemhild ihm den Kopf ihres ermordeten Bruders zeigt. Dem Held von Tronje bleibt es vorbehalten, ein Resümee der Rachehandlung zu ziehen. Dezidiert macht er Kriemhild für den kollektiven Untergang verantwortlich, der im Tod der drei burgundischen Könige gipfelte: du hâst iz nâch dînem willen z’einem ende brâht (2370,3). Den konkreten Anlass für Gunthers Tötung, die Forderung nach der Rückgabe des Hortes, nutzt Hagen, um Kriemhilds Handlungsmotivation auf ihre vermeintliche Goldgier zu reduzieren. Auf diese Weise bringt er sie in klare Opposition zu der himmlischen Allianz, die er für sich selbst in Anspruch nimmt: den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn: / der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn. (2371,3f.) Die Verurteilung der Protagonistin als Teufelin, die, vom Erzähler vorbereitet, zunächst dem untadeligen Helden Dietrich vorbehalten war, darf nun auch von demjenigen erfolgen, der für Kriemhilds Unglück verantwortlich ist. Die Reaktionen der männlichen Figuren auf Hagens Enthauptung fallen einhellig aus: dô was im leide genuoc (2373,4), wird von Etzel berichtet, der selbst erklärt, weshalb er den Tod seines Feindes so bedauert. Auch als Kriemhilds Ehemann und Hauptgeschädigter kann er nicht hinnehmen, dass der beste Held von eines wîbes handen (2374,2) erschlagen worden ist:338 swie vîent ich im waere, ez ist mir leide genuoc. (2374,4) Hildebrand pflichtet Etzel bei und bewertet die Tötung als ein solches Verbrechen, dass sie sofort geahndet werden muss: ja geniuzet si es niht, / daz si in slahen torste. (2375,1f.) Mit Hagens Ermordung hat Kriemhild ihr Leben verspielt und wird zu einem Tod verurteilt, dessen Form die Schwere ihres Vergehens auf der Handlungsebene sichtbar macht. Anders als die letzten Überlebenden der Burgunden wird sie nicht erschlagen oder enthauptet, sondern ze stücken […] gehouwen (2377,2). Diese Art der Vollstreckung orientiert sich an der zunehmenden zeitgenössischen Rechtspraxis, echten oder vermeintlichen Verrat mit der Hinrichtung durch Zerreißung zu ahnden.339 Ihr in Todesangst ausgestoßener Schrei macht das Unglaubliche hörbar, das mit dieser Hinrichtung des edlen wîp geschieht. Hildebrands Schuldspruch und Strafmaß stoßen auf allgemeine Akzeptanz; Kriemhilds Tod _____________ 338 Nach Ehrismann (Reception of Kriemhild, S. 34) liegt eine eklatante Überschreitung des herrschenden Gesetzes vor, nach dem Frauen nicht an einer Fehde teilnehmen dürfen. Schmidt-Wiegand (Kriemhilds Rache, S. 381) belegt anhand des ‚Iwein‘, des ‚Tristan‘ und der ‚Kudrun‘, dass der blutige Racheakt einer Frau der höfischen Gesinnung aufs höchste zuwider ist. Analog dazu betont Müller (Spielregeln, S. 192), dass weniger die Rache als ihre Ausführung durch eine Frau anstößig ist. 339 Vgl. Ohly, Tod des Verräters, S. 428. – Schulze (Nibelungenlied, S. 253) weist darauf hin, dass die Zerstückelung einer Leiche gemäß alter apotropäischer Vorstellung teuflische Mächte und Wiedergängertum bannen sollte. Zur Fragmentierung des weiblichen Körpers im mittelalterlichen Glauben vgl. auch Bynum, Fragmentierung.

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ist nicht einmal Gegenstand der Klage, mit der Etzel und Dietrich die Gefallenen im ‚Nibelungenlied‘ ehren. Kriemhilds unehrenhafter Tod im zweiten Handlungsteil ist ebenso kausal motiviert wie ihr Leid um Siegfried im ersten Teil. Selbst wenn der Erzähler der Hunnenkönigin in der Schlussszene weder eine Schuld für den Tod der unzähligen Kämpfer anlastet noch Hildebrand als „ausführende[n] Arm eines höheren Gerichts“ präsentiert,340 so stellt er ihre Hinrichtung doch als eine unmittelbare Reaktion auf Hagens Tötung dar. Weshalb sich Kriemhild zu einer solchen Tat hinreißen lässt, erklärt sich aus ihrem Begehren nach Rache; ihr eigentliches Ziel, Hagen zu treffen, hat sie am Ende der Kampfhandlungen noch immer nicht erreicht. Diese Kausalität widerspricht den Deutungen, die den katastrophalen Ausgang auf ein übergeordnetes Verhängnis oder eine schicksalhafte Verstrickung zurückführen.341 Vielmehr hat der Dichter alles getan, um die Schuldfrage im ‚Nibelungenlied‘ eindeutig zu beantworten, und so eine eigene literarische Form des Tragischen entwickelt. Durch eine überlegte Erzählstrategie, durch Prolepsen, Kommentare und wertende Bemerkungen wird alle Aufmerksamkeit auf Kriemhild als die Initiatorin und Verantwortliche des kollektiven Untergangs gelenkt. Erzähler wie Figuren stellen immer wieder heraus, dass ihre Rache als maßlos, böse und teuflisch zu verurteilen ist.342 Damit weist die Motivierung des Unglücks im zweiten Teil des Epos deutliche Parallelen zu Senecas Tragödienkonzept auf. Im Zentrum seiner Theorie steht der Affekt der Wut, dessen gravierende Auswirkungen am Verhalten eines tragischen Helden veranschaulicht werden. Seneca versteht Wut als das unbändige Verlangen nach Vollstreckung einer Strafe, wodurch sich alles verkehre, was vorher das Beste und Gerechteste gewesen sei. Das Rasen dieses Affektes richte sich nicht auf dasjenige, worauf er ursprünglich abzielte, sondern beliebig auf alles, was ihm entgegenkomme. Ohne Macht über sich selbst, ohne Erinnerung an das, was sich gehöre, und ohne Gedanken an persönliche Bindungen konzentriere sich die Wut hartnäckig darauf, sich für ein erlittenes Unrecht zu rächen. Beste Freunde gälten ihr als schlimmste Feinde, die Liebsten müssten ihr aus _____________ 340 Schröder (Tragödie Kriemhilts, S. 151) erläutert, dass Kriemhild ihr Leben nicht nur wegen des begangenen Mordes verwirkt habe, sondern auch „um des Blutes der Tausenden willen, die sie ihrer Rache geopfert“ habe. Ebenso betont Hoffmann (Nibelungenlied, S. 73f.), dass Kriemhild zur „Urheberin eines vieltausendfachen Tötens und eines Meers von Leid“ geworden sei und so die Sympathie des Dichters verloren habe. 341 Hoffmann (Fassung *C, S. 129) erweitert die Vorstellung von Schicksalstragik um den schuldhaften menschlichen Anteil. Er betont die „unauflösliche Verschlungenheit von Verhängnis und Schuld“ in der Fassung B: „hier [obwaltet] ein Verhängnis […], zu dem der Mensch zwar beiträgt, das aber weit über alle motivierende Schuld hinauswächst […].“ 342 Vgl. auch Müller, Spielregeln, S. 168: „Der Erzähler hämmert die Ehrlosigkeit des Vorhabens unaufhörlich ein […].“

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dem Weg gehen, und Recht und Gesetz habe sie längst vergessen. Der Wut sei dabei auch gleichgültig, was mit ihr selbst passiere, so lange sie nur anderen schade. Die Wut giere nach Rache, selbst wenn sie den Rächer mit sich reiße.343 Die stoische Affekttheorie scheint für eine Deutung von Tragik im ‚Nibelungenlied‘ geeigneter als viele moderne Interpretationen mit metaphysischem Unterbau. Die Eskalation der Gewalt in der nibelungischen Welt resultiert nicht aus einem übergeordneten Verhängnis, sondern aus Kriemhilds Empörung über das erlittene Unrecht. Zwar erscheint ihr Wunsch nach Rache für den Mord an Siegfried und den Raub des Hortes verständlich. Doch verliert die Protagonistin, nachdem sie sich einmal der Leidenschaft hingegeben hat, jede Kontrolle. In dem unbändigen Verlangen, sich an Hagen zu rächen, gibt sie alle anderen Bindungen preis, nimmt den Untergang von Hunnen und Burgunden in Kauf und denkt auch nicht mehr an das eigene Leben.344 Indem Kriemhild von allen anderen Sprechinstanzen wegen ihres Fehlverhaltens angeklagt und für die Katastrophe verantwortlich gemacht wird, weist das Handlungsmodell des ‚Nibelungenlieds‘ ebenso wie Hartmanns von Aue ‚Erec‘ und Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘ auffällige Gemeinsamkeiten mit antiken Vorstellungen des Tragischen auf: Das Leid der Protagonistin ist kausal motiviert und untrennbar mit ihrem Handeln verbunden. Kriemhilds Tragik besteht nicht darin, einem vorgezeichneten Schicksal nicht entrinnen zu können, sondern ihren Untergang selbst initiiert zu haben und durch ihr Racheverlangen schuldig geworden zu sein. 1.4 Tragische Schuld und theologischer Diskurs Heldenepos und höfischer Roman weisen trotz ihrer unterschiedlichen Teleologie eine wichtige Gemeinsamkeit auf, die den Aspekt der Schuld betrifft: Das Unglück, in das die Protagonisten zuletzt oder auch nur zeitweilig stürzen, wird durch ihr eigenes Fehlverhalten ausgelöst. Ursache für den Verstoß gegen die Normen der höfischen Gesellschaft ist eine Fixierung auf einen einzelnen Aspekt, sei es den der Minne oder der Ritterschaft, sowie die Hingabe an einen Affekt. Die Figuren verlieren die sozialen Zusammenhänge aus den Augen und lassen die mit ihrer Tat verbundenen negativen Folgen außer Acht. _____________ 343 Vgl. Seneca, De ira, 1.2.1f., 1.2.3, 1.3.2, 2.35.5, 3.1.3. 344 Ihr unwürdiger Tod übersteigt die Rechtsnorm bei weiten, so dass es sich nicht um eine angemessene Strafe im Sinne einer poetischen Gerechtigkeit handelt. Schmidt-Wiegand (Kriemhilts Rache, S. 386) spricht daher von „Aberrecht“. Vgl. auch Kramer, Aberrecht; Schulze, Nibelungenlied, S. 235.

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Zwar unterscheiden sich die hier untersuchten Protagonisten in ihrem Umgang mit Schuld deutlich: So bekennt sich Erec, nachdem er sein Fehlverhalten gegenüber Enite spät eingesehen hat, als schuldig und ändert sein Verhalten. Parzival hingegen reagiert mit Trotz auf die Offenbarung seines Versäumnisses in Munsalvaesche und versucht, seine Rehabilitierung in der Gralsgesellschaft kämpfend zu erzwingen. Kriemhild wiederum erkennt nur im ersten Teil des ‚Nibelungenlieds‘ ihren Fehler, Siegfrieds Geheimnis verraten zu haben, wohingegen sie im zweiten Teil nicht mehr zu einer solchen Einsicht gelangt und ihre Preisgabe der familiären Beziehungen an keiner Stelle bedauert. Dennoch stimmt das Handlungsmodell der drei Erzählungen in einer grundlegenden Bedingung überein: Die negative Entwicklung wäre zu vermeiden gewesen, wenn sich die Protagonisten anders verhalten hätten. Prinzipiell stehen allen Figuren Handlungsalternativen offen, wie etwa Erecs vorbildliches Agieren vor dem Verligen, Gawans gegensätzliches Verhalten oder das Angebot von Siegfrieds Vater, die Rache zu vollziehen, belegen. Auch wenn das Handeln der Helden aufgrund ihrer Sozialisation oder des Einflusses bestimmter Faktoren, insbesondere der Macht der Minne, erklärlich ist, wird dem Geschehen kein zwangsläufiger Charakter zugeschrieben. Demnach unterscheiden sich die Motivierung des Unglücks und die Konzeption der Schuld in der höfischen Dichtung deutlich von finalen Tragikmodellen. Das Unglück trifft die Figuren nicht willkürlich und ist der menschlichen Einsicht nur zeitweilig unzugänglich. Im Nachhinein sind die Protagonisten oft in der Lage, ihr Handeln als Ursache zu identifizieren und zu bedauern. Vor allem dieser Aspekt wird in der modernen Tragödientheorie völlig anders gewertet. Während die Helden der mittelalterlichen Werke gegen die verbindliche Ordnung der erzählten Welt verstoßen, gilt in der deutschen Literatur- und Philosophiegeschichte seit 1800 die sittliche Schuldlosigkeit als Voraussetzung für Tragik. Exemplarisch seien hier Dietrich Macks Aussagen in seinem Kompendium zum Tragischen und zur Tragödie im 20. Jahrhundert zitiert: „Die tragische Schuld läßt sich nicht bestimmt klären, richten oder gar verurteilen. Es ist schuldlose, unverschuldete Schuld. Der tragische Held wählt nicht in der Moralsphäre, er wird nicht schuldig durch Trieb oder durch äußeren Zwang, sondern er verfällt der Schuld unentrinnbar.“

Die reine Form einer schuldlosen Tragik liege nur vor, wenn der Held aus einer höheren Notwendigkeit heraus schuldig werde und „in der ursächlichen Verkettung des Erleidens keine sittliche Schuld“ mitschwinge.345 Keine dieser Kategorien der Schuldlosigkeit, der Unentrinnbarkeit oder der höheren Notwendigkeit kann als ein Leitprinzip gelten, mit des_____________ 345 Mack, Ansichten zum Tragischen, S. 89, 85 (nach Reihenfolge der Zitate).

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sen Hilfe in der höfischen Dichtung der ins Unglück führende Handlungsverlauf gedeutet wird. Statt nur eine Abweichung von der modernen Philosophie des Tragischen konstatieren zu können, wurden in diesem Kapitel Anschlussmöglichkeiten an die Tragödientheorien der Antike aufgezeigt. Die ‚Poetik‘ des Aristoteles und die Affekttheorie Senecas erwiesen sich als geeignet, um das poetologische Konzept einer tragischen Schuld in der höfischen Epik zu charakterisieren. Wie in den antiken Tragödienmodellen wird das Unglück der Protagonisten in der mittelhochdeutschen Literatur kausal motiviert. Die negative Entwicklung tritt nicht zwangsläufig ein, vielmehr führt ein gravierender Fehler oder die Hingabe an die Leidenschaft zu schrecklichen Konsequenzen. Gegen diese Beobachtungen könnte eingewandt werden, dass historisch weit entfernte Tragödiendefinitionen auf die mittelalterliche Literatur projiziert werden, ohne dass die zeitgenössischen Vorstellungen Beachtung finden. Kann das aristotelische Konzept einer Hamartia trotz der fehlenden Rezeption der ‚Poetik‘ auf höfische Werke übertragen werden? Um die Angemessenheit dieser Methode zu prüfen, sollen nun die mittelalterlichen Diskurse über Schuld und Schuldlosigkeit betrachtet und in ihrer Relation zur antiken und modernen Tragikauffassung untersucht werden. Auf diese Weise müsste festzustellen sein, inwiefern es sich um eine Form des Tragischen handelt, die sowohl für die Antike als auch für das Mittelalter kennzeichnend ist. Eine Schuld könnte in der Vormoderne gerade dann als tragisch gelten, wenn das Unglück selbst verursacht ist. In der christlichen Theologie, der Anthropologie, der Dogmatik, der Ethik und im Kirchenrecht, ist die Frage nach der Schuld des Menschen ein zentrales Thema. Die theologische Diskussion im Mittelalter ist wesentlich geprägt von der Schuldlehre des Augustinus, der sich mit den paganen und christlichen Traditionen der Antike auseinandersetzte.346 Der Kirchenvater betonte die Verantwortlichkeit des Menschen, die aus seiner Willensfreiheit erwächst, zu der ihn ein personal gedachter Gott befähigt hat. Obwohl der Mensch zum Guten berufen sei, verhalte er sich aus eigenem Antrieb schlecht und werde so vor Gott und gegenüber seinen Mitmenschen schuldig. In den ‚Confessiones‘ erklärt Augustinus, dass Täter und Träger der Sünde das eigene, von Gott mit Freiheit begabte und in der Sünde sich hochmütig erweisende Selbst sei.347 Indem der Mensch Schuld auf sich lade, befinde er sich in einem Zustand nicht mehr aufhebbarer Desorientierung und entferne sich von seinem Schöpfer, was einer _____________ 346 Vgl. Laarmann, Schuld, Sp. 1578. 347 Vgl. Augustinus, Confessiones, lib. 5, 18: […] et delectabat superbiam meam extra culpam esse […]. verum autem totum ego eram ad adversus me impietas mea me diviserat, et id erat peccatum insanabilius, quo me peccatorem non esse arbitrabar […].

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Entfremdung von seinem innersten, wahren Selbst entspreche.348 Aufgrund dieser Grundüberzeugung von der menschlichen Eigenverantwortung fanden Deutungen, nach denen eine metaphysische Instanz den Menschen zu einem bestimmten Verhalten nötigt, unter den Theologen und Kirchenführern keine Akzeptanz. Deterministische Konstruktionen, die die Zurechenbarkeit menschlicher Akte verringern oder aufheben, werden im Christentum grundlegend abgelehnt.349 Im kanonischen Recht gilt eine sittliche oder eine theologische Schuld, d.h. eine Sünde, als conditio sine qua non, um von Schuld sprechen zu können.350 Dabei wird die rechtliche Schuld von der Sünde unterschieden, da sich diese auf das Verhältnis des Menschen zu Gott und jene auf das Verhältnis zur kirchlichen Gemeinschaft und ihrer Rechtsordnung beziehe.351 Wie Augustinus verlangt habe, solle innerhalb der Kirche ein Vergehen als solches identifiziert und entsprechend sanktioniert werden: Crimen autem est graue peccatum, accusatione et dampnatione dignissimum.352 Komplizierter stellt sich der Sachverhalt dagegen aus der Sicht der Kirchenjuristen dar, wenn ein Täter eine Straftat unabsichtlich oder unwissentlich begangen hat. Diese problematische Relation zwischen Wille und Handlung rückte seit Gratian in den Fokus der Aufmerksamkeit und wurde eingehend behandelt.353 Galt im frühen Mittelalter noch das Prinzip der Erfolgshaftung, bei der eine Handlung allein nach den Tatfolgen zu beurteilen war,354 wurde im hohen Mittelalter der Intention zunehmend Bedeutung beigemessen. Das ‚Decretum Gratiani‘ wertet die vorsätzliche Handlung (dolus) als schwerste Sündenform, die von anderen Arten des Vergehens abzugrenzen sei.355 Dennoch wurde der Unwissenheit oder dem Irrtum in der Kanonistik nicht prinzipiell eine schuldaufhebende _____________ 348 Vgl. Augustinus, Confessiones, lib. 2, 14.18: Ita fornicatur anima, cum avertitur abs te et quaerit extra te ea, quae pura et liquida non invenit, nisi cum redit ad te. […] defluxi abs te ego et erravi, deus meus, nimis devius ab stabilitate tua in adulescentia, et factus sum mihi regio egestatis. 349 Vgl. Laarmann, Schuld, Sp. 1578. 350 Vgl. Rees, Schuld. Zum Wesen der Schuld in der Kanonistik vgl. Kuttner, Schuldlehre, S. 22–38. 351 Vgl. Kuttner, Schuldlehre, S. 4f. 352 Decretum Gratiani, prima pars, distinctio 81, c. 1, Sp. 281. – Zu den verschiedenen Begriffsdefinitionen von crimen und peccatum bei Gratian und den Dekretisten vgl. Kuttner, Schuldlehre, S. 7–22. 353 Vgl. Kuttner, Schuldlehre, S. 39–62. 354 Reste der Erfolgshaftung in Kanonistik und Beichtsummenliteratur hielten sich bis ins 13. Jahrhundert, wie Laarmann (Schuld, Sp. 1579) erklärt. Zum Thema allgemein vgl. Kaufmann, Erfolgshaftung. Einen Überblick bietet der von Kaufmann verfasste Artikel ‚Erfolgshaftung‘. In: HRG 1 (1971), Sp. 989–1001. Vgl. auch Müller, Ethik und Recht, bes. S. 241–246. 355 Vgl. Kuttner, Schuldlehre, S. 71.

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Wirkung zugeschrieben, sondern auch die Tat eines ignorans als eine Willensbetätigung interpretiert, für die er sich zu verantworten habe.356 Dass eine nichtintendierte Straftat mit Schuld verbunden ist, zeigt sich bereits an der mehrdeutigen Terminologie; der Begriff culpa wird sowohl als Schuld oder Verschulden verstanden als auch mit negligentia (Fahrlässigkeit) gleichgesetzt.357 In Anlehnung an das römische Recht wurde im ‚Liber Sextus‘ des ‚Corpus iuris canonici‘ der Grundsatz aufgenommen, dass nur derjenige bestraft werden darf, der Schuld auf sich geladen hat: sine culpa, nisi subsit causa, non est aliquis puniendus.358 In besonderen Fällen konnte sich die Strafe aber auch auf persönlich Unschuldige erstrecken. Eine Straftat, die z.B. von den Eltern oder von einem Vorgesetzten im Rahmen der von ihm ausgeübten Funktion begangen worden war, wurde ebenfalls den zur Familie oder der betreffenden Gemeinschaft gehörenden Personen zugeschrieben, selbst wenn diese nicht bewusst daran beteiligt waren.359 In der mittelalterlichen Theologie wurde die Schuld als ein komplexes Gefüge betrachtet, das terminologisch und inhaltlich schwer zu fassen war. Die Vielzahl von Benennungsmöglichkeiten und Definitionsversuchen belegt, wie viel Aufmerksamkeit der Schuldfrage gewidmet wurde.360 Bedeutende Theologen wie Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin oder Johannes Duns Scotus bekräftigten die augustinischen Prämissen des Schuldbegriffs und entfalteten damit verbundene Implikationen.361 Übereinstimmend stellten sie die Eigenverantwortlichkeit des Menschen heraus, der sein schuldhaftes Handeln selbst gewählt und damit gegen seine ursprüngliche Bestimmung verstoßen habe. Nach Anselm sind diejenigen, die das Wort Gottes nicht annehmen, auch wenn sie dies nur aufgrund von Gnade tun könnten, zur Rechenschaft zu ziehen. Es sei zu beachten, dass ein Unvermögen, das aus einer Schuld hervorgehe, nicht entschuldige, solange die Schuld bestehen bleibe. Weil die Menschen aus freien _____________ 356 Vgl. Kuttner, Schuldlehre, S. 135. Für nicht entschuldbar wurde die ignorantia vor allem dann gehalten, wenn sie aus einer Missachtung oder Vernachlässigung des Wissens resultierte. Zu den verschiedenen Distinktionen vgl. Kuttner, Schuldlehre, S. 138–175. 357 Vgl. Rees, Schuld, Sp. 1578. Vgl. auch Kuttner, Schuldlehre, S. 218f. 358 Vgl. Sexti Decretalium, lib. V, titulus XII, regula 23. In: Corpus iuris canonici, Bd. 2, Sp. 937–1124, hier Sp. 1122. – Von der Zurechnungsfähigkeit ausgenommen sind nach Kuttner (Schuldlehre, S. 85–132) Taten, die bei Geisteskrankheit, im Schlaf, bei Trunkenheit oder Strafunmündigkeit begangen werden. 359 Vgl. Zurowski, Strafsanktion, bes. S. 189f. 360 Zu den wichtigsten Bezeichnungen gehören malum, peccatum, culpa, reatus, vitium und facinus. Allein Bonaventura liefert zwanzig Definitionen von peccatum. Vgl. Bonaventura, In secundum librum sententiarum, in distinctio 35, dubia 6 (= S. 838f.). Vgl. auch Laarmann, Schuld, Sp. 1578. 361 So setzt sich Thomas von Aquin (De malo, q. 2.1f.) explizit mit der Schuldvorstellung des Augustinus auseinander und verweist immer wieder auf dessen Aussagen.

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Stücken die Gerechtigkeit aufgegeben hätten, werde ihnen ihr Unvermögen, diese zu bewahren, als Sünde angerechnet.362 Anselm geht so weit, dass er dem Menschen alles, was ihm im Vergleich zu seiner ursprünglich in der Schöpfung zugedachten Würde, Kraft und Schönheit fehlt, als Schuld anrechnet. Je mehr der Mensch das kostbare Werk Gottes in sich herabgesetzt und entstellt habe, umso mehr habe er Gott selbst durch seine Schuld Unehre angetan und eine große Sünde begangen.363 Da die Schuld den Menschen in Widerspruch zu dem eigentlich von ihm Gewollten bringe, beraube sie ihn seiner Identität, erklärt Thomas.364 Keineswegs biete jedoch die Beschaffenheit des Sünders eine Entschuldigung für sein Verhalten, betont Johannes Duns Scotus, sondern die einzelne sündhafte Tat lasse ihn schuldig werden.365 Ein besonderes Problem der Schuldthematik stellte auch aus der Sicht der Theologen und Ethiker das Verhältnis von Intention und Handlung dar, das im 12. und 13. Jahrhundert immer mehr Interesse auf sich zog und im Kontext der Gewissenslehre diskutiert wurde.366 Als prominentester Vertreter einer „radikal-individual-eth[ischen]“ Schuldimputation gilt Abaelard.367 Im 13. Kapitel seiner ‚Ethik‘ überlegt er, ob eine Straftat selbst dann als Schuld angerechnet werden müsse, wenn der Handelnde die Norm nicht kenne, gegen die er verstoße.368 Als einschlägig gilt die Formulierung, Quod peccatum non est nisi contra conscientiam, die jedoch nicht Abaelards Argumentation entnommen ist, sondern als gliedernde Überschrift bereits ein frühes Rezeptionszeugnis darstellt.369 Wäre eine Tat nur _____________ 362 Vgl. Anselm von Canterbury, De concordia praescientiae, q. 3,7: Notandum est quia impotentia, quae descendit ex culpa, non excusat impotentem culpa manente. […] Hoc [impotentia habendi iustitiam] ipsum namque, quia non habet quod per se resumere nequit, est illi habendi impotentia, in quam ideo cecidit, quia sponte deseruit quod servare potuit. Quoniam ergo peccando deseruit iustitiam, ad peccatum illi imputatur impotentia, quam ipsa peccando sibi fecit. 363 Vgl. Anselm von Canterbury, De concordia praescientiae, q. 3,7: Quanto igitur natura humana, pretiosum opus dei, unde ipse glorificandus erat, in se minoravit atque foedavit: tanto sua culpa deum exhonoravit. 364 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 2,2. 365 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones in lib. quartum sententiarum, dist. XIV, q. 1,6f. 366 Störmer-Caysa (Gewissen, bes. S. 46f.) zeigt dies am Umgang mit einer schwierigen Entscheidung und der Frage nach dem irrenden Gewissen. 367 Laarmann, Schuld, Sp. 1579. Zu kritisieren ist an dieser Formulierung, dass sie suggeriert, im Mittelalter werde das Gewissen als oberste Instanz betrachtet, der das Individuum unabhängig von äußeren Regelungen absolut verpflichtet sei. Dagegen weist Störmer-Caysa (Gewissen, S. 22) darauf hin, dass im 13. Jahrhundert „die subjektive Seite des Gewissens in die objektive Gewißheit noch bruchlos eingebunden“ ist. – Zur Autonomie des Gewissens in der Moderne vgl. Luhmann, Gewissensfreiheit; ders., Phänomen. 368 Vgl. Abaelard, Ethics, S. 56. 369 Nur drei der fünf Textzeugen, die Luscombe für seine Edition benutzt, enthalten Kapitelüberschriften (vgl. Abaelard, Ethics, S. 54), von denen eine mit besonderer Vorsicht zu behandeln ist, wie Störmer-Caysa (Gewissen, S. 64f., Anm. 20) darlegt. Bei der die berühmte

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dann als Verfehlung zu werten, wenn der Betroffene wider besseres Wissen gehandelt hätte, müsste Abaelard auch die Verfolger Christi und der Märtyrer von jeder Schuld freisprechen.370 Zwar lehnt er es ab, die Folterknechte ohne Einschränkung schuldig zu sprechen, nimmt aber die Fürbitte Christi am Kreuz als Indiz dafür, dass eine Vergebung Schuld und Strafe voraussetze. Zweifellos hätten die Peiniger Jesu und seiner Jünger gesündigt, argumentiert Abaelard, wenngleich nicht so schwer, wie wenn sie noch dazu gegen ihr eigenes Gewissen gehandelt hätten.371 Seine ethische Position ist daher mit Uta Störmer-Caysa, die die Gewissenslehre des Theologen differenziert darstellt, folgendermaßen zu charakterisieren: „Eine gute Handlung setzt Einklang mit dem Gewissen voraus, aber Einklang mit dem Gewissen macht eine Handlung noch nicht gut.“372 Nachdem Abaelard dem Gewissen eine verbindliche Funktion für eine christliche Lebensführung zugeschrieben hatte, schränkte Bonaventura diese wieder ein. Er setzt sich im Kommentar zur 39. Unterscheidung im 2. Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus ausführlich mit dieser Thematik auseinander und reflektiert die damit verbundenen Probleme. Um ein Vorhaben mit gutem Gewissen ausführen zu können, müsse der Mensch sicher sein, dass sein Gewissen recht habe. Weil er jedoch nicht a priori wisse, ob das, was er für gut und richtig halte, auch wirklich so sei, bleibe ein Maß an Unsicherheit bestehen. Ein treffendes Urteil über einen Gewissensentscheid könne letztlich nur Gott fällen, weshalb Bonaventura empfiehlt, sich an den Normen religiösen Rechts zu orientieren: Das Gewissen könne nicht gegen die Weisung eines geistlichen Oberen verpflichten, in Entscheidungsnöten solle man sich von Klügeren beraten lassen oder sich im Gebet an Gott wenden.373 Thomas von Aquin hingegen stärkt erneut die Position des Gewissens, wenngleich der Begriff für ihn in seinen späteren Schriften immer _____________

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Formulierung enthaltenden ältesten Handschrift scheine es sich inhaltlich um eine „antiabälardische Sammlung“ zu handeln. Deshalb, schlussfolgert Störmer-Caysa, müsse man „wohl mit der Möglichkeit rechnen, daß der meistzitierte Satz von Abälard eine tendenziöse Zusammenfassung aus dem Lager seiner Gegner ist, geprägt zum Zwecke der Kritik.“ Diese Auffassung werfen ihm seine Gegner vor, die ihn verkürzt zitieren, vgl. z.B. Wilhelm von St. Thierry, Disputatio adversus Petrum Abaelardum, cap. 13, Sp. 282: Dicit per ignorantiam nullum fieri peccatum. Dicit quoniam si ideo gentilis sive Judaeus contemnit fidem Christi, quia contrariam eam credit Deo, non peccat. Abaelard, Ethics, S. 66: Sic et illos qui persequebantur Christum uel suos quos persequendos credebant per operationem peccasse dicimus, qui tamen grauius per culpam peccassent si contra conscientiam eis parcerent. Störmer-Caysa, Gewissen, S. 66. Vgl. Bonaventura, In secundum librum sententiarum, dist. 39, art. 1, q. 3 ad 4 (= S. 906): Est igitur quaestio, ad quid conscientia liget: utrum liget ad omne quod dictat; et utrum omnis conscientia liget; et utrum homo sit perplexus, quando conscientia dictat unum, et lex divina dictat contrarium; et cui magis sit obtemperandum, utrum dictamini conscientiae, an praecepto praelati, cum obviant sibi ad invicem. – Vgl. auch Störmer-Caysa, Gewissen, S. 75–79.

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entbehrlicher wird und in dem der praktischen Vernunft aufgeht.374 Weil der Gewissensentscheid die höchste erreichbare sittliche Erkenntnis darstellt, bindet das Gewissen für Thomas immer, obgleich es irren kann. Allerdings verpflichte das irrende Urteil nur bedingt, nämlich solange die Einschätzung der Tat bestehen bleibe. Werde der Irrtum eingesehen, könne er korrigiert werden, ohne dass das Abweichen von der ursprünglichen Intention schuldig werden lasse.375 Die Möglichkeit einer fehlerhaften Bewertung veranlasst auch Thomas dazu, die Kategorie der Schuld nicht von der guten Absicht oder der praktischen Vernunft abhängig zu machen: Secundum hoc enim ligare conscientia dicitur quod aliquis nisi conscientiam impleat peccatum incurrit, non autem hoc modo quod aliquis implens recte faciat […].376 Wie diese Skizze zeigt, herrscht in der mittelalterlichen Theologie und Kanonistik ein breiter Konsens, dass der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist und er auch bei einer gegenteiligen Intention oder bei fehlendem Wissen nicht von jeder Schuld freigesprochen werden kann. Dass diese Schuldlehre nicht nur in den theoretischen Schriften der Gelehrten diskutiert wurde, sondern sich auch auf die mittelalterliche Lebensgestaltung auswirkte und die christliche Frömmigkeitspraxis prägte, legt das kirchliche Bußritual nahe. So musste ein Vergehen, das ein Täter unwissentlich begangen hatte, mit einem Jahr Buße gesühnt werden.377 Vor allem zeichnet sich in dem veränderten Bußverfahren zu Beginn des 13. Jahrhunderts die Tendenz ab, von dem Einzelnen stärker Rechenschaft für seine Taten zu verlangen:378 Die öffentliche Kirchenbuße wurde abgelöst durch die Privatbuße, die persönliche Beichte.379 Festmachen lässt sich diese Entwicklung an dem Jahr 1215, als das 4. Laterankonzil je_____________ 374 Thomas beschäftigt sich in zwei Jahrzehnten dreimal mit dem Gewissensproblem, wie Störmer-Caysa (Gewissen, S. 79) skizziert, zuerst im Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, nur wenig später ausführlich in den ‚Quaestiones disputatae de veritate‘ und schließlich relativierend in der ‚Summa theologiae‘. 375 Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q. 17, art. 3f.: Dicendum quod conscientia procul dubio ligat. […] Diversimode tamen recta conscientia et erronea ligat: recta quidem ligat simpliciter et per se, erronea autem secundum quid et per accidens. […] Sed conscientia erronea non ligat nisi secundum quid quia sub condicione: ille enim cui dictat conscientia quod teneatur ad fornicandum non est obligatus ut fornicationem sine peccato dimmittere non possit nisi sub hac condicione, si talis conscientia duret; haec autem condicio removeri potest et absque peccato […]. 376 Thomas von Aquin: De veritate, q. 17 art. 4. Übers. v. Störmer-Caysa, Gewissen, S. 86: „So kann es geschehen, daß ein Mensch durch Irrtum seiner praktischen Vernunft Schuld auf sich lädt, denn nach seinem Gewissen handeln heißt noch nicht: das Rechte tun.“ Vgl. auch Wittmann, Ethik, S. 178. 377 Vgl. Müller, Ethik und Recht, S. 46. 378 Vgl. auch Kartschoke, Held, S. 158. 379 Vgl. Ohst, Pflichtbeichte; Sattler, Beichte; Vogel, Buße.

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den Christen zur jährlichen Beichte verpflichtete.380 Auf diese Weise wurden alle Gläubigen – zumindest theoretisch – dazu angehalten, ihr Verhalten regelmäßig zu überprüfen, ihre Sünden zu bekennen und für ihre Schuld zu büßen.381 Diese Erkenntnisse hinsichtlich der zeitgenössischen Bewertung von Schuld stimmen mit den Ergebnissen der Textanalyse der höfischen Literatur in wichtigen Punkten überein: Im Unterschied zu den bisherigen Interpretationen wurde die Tragik des ‚Nibelungenlieds‘ nicht mit einem ‚Sog der Vernichtung‘ oder einem pessimistischen Weltbild, sondern mit Kriemhilds Leidenschaft begründet. Ihre persönliche Verantwortung bei der Verkehrung aller Werte wird immer wieder akzentuiert und kann als Charakteristikum tragischen Handelns in diesem Werk gelten. Im ‚Parzival‘ wiederum greift Wolfram von Eschenbach die unter den Gelehrten seiner Zeit intensiv diskutierte Problematik auf, wie das Verhältnis von Wille und Handlung zu beurteilen ist. Bei seiner literarischen Gestaltung entwickelt Wolfram eine ähnliche Schuldvorstellung, wie sie in Theologie und Ethik vertreten wird. Obwohl Parzival die Rituale der Gralsgesellschaft nicht kennt und mit seiner Zurückhaltung eine gute Intention verfolgt, wird er von Sigune, Cundrie und Trevrizent für sein Verhalten angeklagt und zur Rechenschaft gezogen. Aufgrund der Verantwortlichkeit der Protagonisten unterscheiden sich das ‚Nibelungenlied‘ und der ‚Parzival‘ in der Motivierung des Unglücks nicht wesentlich von den Artusromanen Hartmanns von Aue; der für den ‚Erec‘ aufgezeigte Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ließe sich in gleicher Weise für den ‚Iwein‘ nachweisen. Beide Protagonisten stürzen durch die Konzentration auf einen einzelnen Aspekt ins Unglück, das sie jedoch durch ein gegenteiliges, umsichtiges Handeln wieder überwinden können. Wie in den theologischen Schriften über die Beziehung zwischen Gott und Mensch gelehrt wird, ist das Vergehen den literarischen Helden selbst anzulasten; sie erfüllen ihre soziale Bestimmung nicht, verstoßen gegen ihre gesellschaftlichen Pflichten, entfernen sich dabei von der höfischen Idealität und verlieren zugleich ihre ritterliche Identität. Dennoch stehen Schuld und Sühne in einem Missverhältnis, was Jan-Dirk Müller in Bezug auf den klassischen Artusroman mit „der Struktur höfischer Verhaltenscodices“ erklärt, „die Sanktionen für Minimalverfehlungen vorsehen.“382 Die Diskrepanz zwischen dem Fehler des Helden und den gravierenden Folgen ist demnach für die höfische Literatur und Gesellschaft ebenso charakteristisch wie für die antiken Tragödientheorien. _____________ 380 Vgl. Denzinger, Enchiridion symbolorum, Nr. 812. 381 Zu den Schwierigkeiten einer konsequenten Durchführung der Beichtpflicht vgl. StörmerCaysa, Gewissen, S. 67f.; Trusen, Forum internum und externum, S. 261. 382 Müller, Kleine Katastrophen, S. 326.

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Zu übertragen wären diese Beobachtungen zur literarischen Gestaltung von Schuld und der daraus abzuleitenden Form des Tragischen auch auf andere Werke der höfischen Epik; z.B. weist die Schuldproblematik in Hartmanns ‚Gregorius‘ große Ähnlichkeiten mit Wolframs ‚Parzival‘ auf. In der bisherigen Forschungsdiskussion, die diesem Thema große Beachtung schenkte, wurde kein konsensfähiges Ergebnis erzielt.383 Der Blick auf den zeitgenössischen Diskurs zeigt, dass die Streitfrage, ob Gregorius durch sein Verhalten moralisch schuldig wird oder sittlich schuldlos ist, eine spezifisch moderne Differenzierung darstellt.384 In der Theologie und Kanonistik des Mittelalters wird zwar zwischen verschiedenen Schweregraden eines Vergehens unterschieden, bei dem der Vorsatz besonders negativ ins Gewicht fällt. Doch führt nicht jeder Irrtum oder jede Form von Unwissenheit dazu, eine völlige Schuldlosigkeit zu attestieren. Vielmehr wird dem Handelnden auch bei einer unbeabsichtigten Straftat eine Schuld angelastet, für die er Rechenschaft ablegen muss. Diese christlichmittelalterliche Schuldauffassung spiegelt sich in der legendenhaften Erzählung Hartmanns von Aue. Obwohl Gregorius nicht weiß, dass ihn seine Ehefrau geboren hat und er die Verfehlung seiner Eltern unbeabsichtigt wiederholt, lässt Hartmann keinen Zweifel daran, dass der Protagonist eine schwere Sünde begangen hat.385 Sobald Gregorius von der Identität seiner Frau und Mutter erfahren hat, erkennt er seine Schuld an. Weder Gregorius noch seine Mutter leiten aus ihrem mangelnden Wissen eine fehlende Verantwortlichkeit ab oder versuchen, mildernde Umstände geltend zu machen; beide befürchten, auf diese Weise ihr Seelenheil verspielt zu haben: in wâren diu beide gesat in glîchem leide, beidiu sêle unde lîp.

_____________ 383 Einen Forschungsüberblick bieten Gössmann, Typus; Herlem-Prey, Schuld, S. 2f.; Tomasek, Verantwortlichkeit, S. 33–37. 384 Die Auffassung einer persönlichen Schuldlosigkeit des Gregorius vertreten z.B. HerlemPrey (Schuld, S. 20), Mertens (Kommentar, S. 793) und Zuntz (Ödipus, S. 93), wohingegen Ernst (‚Gregorius‘, S. 137) betont, dass Gregorius bei seinem Klosteraustritt „in mehrfacher Hinsicht persönliche Schuld auf sich lädt“. Tomasek (Verantwortlichkeit, S. 38–44) sieht in der gachheit ein Leitmotiv, das als eigentliche Sünde des Protagonisten zu identifizieren sei. – Kritik an der bisherigen Schulddiskussion übt auch Strohschneider (Inzest-Heiligkeit, S. 128), der die strukturelle Dimension akzentuiert. Er überlegt, „ob nicht überhaupt die philologischen Suchen nach der Schuld des Gregorius im Sinne einer personal zurechenbaren Verantwortung für das katastrophische Geschehen zu sehr von Subjektkategorien gelenkt werden, die die Eigenlogik der mythischen Struktur der Erzählung unterschätzen.“ –Vernachlässigt wird bei diesem Ansatz, wie kompositorische Handlungselemente literarisch gestaltet und Ereignisse innerhalb der erzählten Welt motiviert werden. 385 Vgl. Hartmann von Aue, Gregorius, V. 2290–2294: unde erkande niht der schulde / diu ûf sîn selbes rücke lac, / die er naht unde tac / mit sîner muoter uopte, / dâ mite er got betruopte.

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wâ vriesch ie man oder wîp deheiner slahte swaere diu alsô gar waere âne aller hande trôst? (2645-2651)386

Weil der Protagonist meint, dass ein solch schweres Vergehen kaum zu sühnen ist, erlegt er sich eine geradezu unmenschliche Buße auf und verbringt lange Jahre festgekettet auf einer Felseninsel. Folgt man der Präsentationsweise der höfischen Erzählung, ist die Situation des Gregorius also nicht deshalb als tragisch zu klassifizieren, weil er subjektiv oder sittlich schuldlos ist und ein „Paradox der schuldlosen Schuld“ vorliegt.387 Vielmehr entspricht Hartmanns poetologisches Konzept dem antiken Tragikmodell, insofern Gregorius für sein großes Leid selbst verantwortlich ist.388 Wie Erec, Parzival oder Kriemhild stürzt er ins tiefste Unglück, weil er mit der Heirat seiner Mutter ein Vergehen begangen hat, das ihm ungeachtet seiner Unkenntnis über die genealogischen Zusammenhänge als Sünde angerechnet wird. Aus diesen Beobachtungen zur Bewertung menschlichen Handelns in der Literatur und Wissenschaft des Mittelalters lassen sich drei Folgerungen ableiten, mit deren Hilfe das Konzept der tragischen Schuld in der höfischen Dichtung abschließend zu charakterisieren ist: 1) Die Behandlung von Schuld in der mittelalterlichen Literatur unterscheidet sich grundlegend von den modernen Tragiktheorien, für die die Kategorien der Unvermeidbarkeit und der Schuldlosigkeit konstitutiv sind. In allen hier untersuchten Fällen, in denen der Handlungsverlauf vom Glück ins Unglück führt, lässt sich ein individuelles Fehlverhalten des Protagonisten oder der Protagonistin nachweisen. Unabhängig davon, ob die Figuren unwissentlich, fahrlässig oder vorsätzlich handeln, verstoßen sie _____________ 386 Cormeau (Hartmann von Aue, S. 136) kommentiert: „Das Nichtwissen bedeutet für sie dabei nichts.“ Aufschlussreich ist auch Herlem-Preys (Schuld, S. 17) Beobachtung, dass Hartmann die Bewertung der Schuld in der ‚Vie du Pape Saint Grégoire‘ verändert hat. Im Unterschied zur altfranzösischen Vorlage tröstet Hartmanns Protagonist seine Mutter nicht damit, dass die ignorantia eine Buße der Inzest-Sünde möglich mache. Das fehlende Wissen wird in der deutschen Version überhaupt nicht erwähnt. 387 So argumentiert Haug (Literaturtheorie, S. 152), der dies als Signal für „die Defizienz des Menschen schlechthin“ versteht. Zur Kritik vgl. Heinzle, Entdeckung, S. 67f. 388 Dieser Zusammenhang wäre in einer eigenen Studie zu untersuchen. Vor dem Hintergrund der feudalen Heiratspolitik des Mittelalters dürfte vor allem das Verhalten des Gregorius, seine Abstammung zu verbergen, als problematisch zu werten sein. Dieses Defizit, das durch seinen täglichen Rückzug vom höfischen Leben präsent gehalten wird, kann nicht folgenlos bleiben. Eine Ehe, die unter verheimlichten Bedingungen geschlossen worden ist, muss scheitern. Nicht zufällig beklagt die weibliche Hauptfigur, dass sie nicht rechtzeitig Erkundigungen über den Stand ihres Mannes eingezogen hat, vgl. V. 2570–2574. – Dass das Erzählschema, der Beste müsse die Landesherrin heiraten, in Hartmanns Werk auf falschen Voraussetzungen beruht, betont auch Strohschneider (Inzest-Heiligkeit, S. 124f.).

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gegen geltende Normen der erzählten Welt. Die daraus erwachsenden negativen Folgen, die das Ausmaß ihres Vergehens deutlich übersteigen können, müssen ertragen werden. Selbst wenn sich theoretisch verschiedene Grade des Schuldigwerdens unterscheiden lassen, gehört das Paradoxon einer schuldlosen Schuld nicht dazu. Weil eine tragische Schuld nicht metaphysisch oder deterministisch begründet wird, darf der moderne Tragikbegriff nicht unreflektiert auf die höfische Literatur übertragen werden; eine Historisierung des Tragischen ist notwendig. 2) Die Motivierung des Unglücks durch eine tragische Schuld entspricht den antiken Tragödientheorien. Übereinstimmungen bestehen nicht nur hinsichtlich der Kausalität, die das Handeln der Figuren in einen ursächlichen Wirkungszusammenhang mit dem schweren Leiden stellt, und der potentiellen Vermeidbarkeit; durch ein umsichtiges Verhalten oder die Kontrolle des Affekts hätte die negative Entwicklung verhindert werden können. Auch führen das fehlende Wissen oder die späte Erkenntnis nach Aristoteles nicht zu einer völligen Entschuldung, sondern diese Elemente stellen mögliche Varianten tragischen Handelns dar; der Held muss sich weiterhin für die Tatfolgen verantworten. Somit steht die literarische Gestaltung der Schuld, wie sie für Hartmanns ‚Erec‘, Wolframs ‚Parzival‘ und das ‚Nibelungenlied‘ analysiert worden ist, in Kontinuität zu den Formen des Tragischen, die in der Antike entwickelt wurden. 3) Mit der Thematisierung von Schuld wird in der höfischen Dichtung ein Problemkomplex aufgegriffen, mit dem sich im 12. und 13. Jahrhundert zahlreiche Theologen, Kirchenjuristen und Ethiker auseinandersetzen. Während die Frage der Schuld für das finale Tragikkonzept des Boethius irrelevant ist, die Schläge Fortunas unabhängig von der eigenen Handlungsweise erfolgen und das göttliche Wirken nicht durchschaut werden kann, wird das Fehlverhalten der Figuren in der höfischen Epik in Szene gesetzt. Wie in anderen zeitgenössischen Diskursen wird die Verantwortlichkeit des Einzelnen betont. Der Protagonist begeht eine Tat, sei es durch Nichtwissen, die Fokussierung eines singulären Aspekts, durch Fahrlässigkeit oder gar durch Einwilligung in den Affekt, die schreckliche Konsequenzen mit sich bringt. Das Interesse an literarischen Gestaltungsformen dieser im antiken Sinne als tragisch zu bezeichnenden Schuld, in denen sich die ganze Bandbreite möglicher Verhaltensoptionen spiegelt, kann als typisch für das Hochmittelalter gelten. Eine charakteristische Form vormoderner Tragik, die für die höfische Literatur ebenso wie für das antike Drama kennzeichnend ist, besteht also darin, dass der Held aufgrund einer Hamartia oder eines Affekts ins Unglück stürzt.

2. Tragischer Konflikt: Die Lösung des Dilemmas Eine dilemmatische Situation, in der jede Entscheidung den Protagonisten notwendigerweise ins Unglück führt, gilt in der Moderne als charakteristische Form des Tragischen, wie Hegels ‚Vorlesungen über die Ästhetik‘ exemplarisch zeigen.1 Nicht nur in der Antike, in der Hegel das Prinzip des Tragischen am deutlichsten zu erkennen meint, sondern auch im Mittelalter werden in der Literatur solche Konstellationen inszeniert, die dem modernen Tragikkonzept zu entsprechen scheinen. Im Folgenden werden drei Beispiele aus dem Bereich der Heldenepik und der Legende analysiert, in denen eine Figur in einen Konflikt zwischen hohen sittlichen Werten oder verbindlichen gesellschaftlichen Normen gerät und aus dieser Interessenkollision unvermeidbares Leid erwächst. Rüdiger von Bechelaren muss sich im ‚Nibelungenlied‘ zwischen seiner Lehnspflicht und der Treue gegenüber seinen vriunden entscheiden. Giburg weiß sich im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach beiden Kriegsparteien verbunden, der einen durch ihre Abstammung, der anderen durch ihren Glauben und ihren zweiten Ehemann. Engelhard hat in der gleichnamigen Erzählung Konrads von Würzburg zwischen der Gesundheit seines Freundes und dem Leben seiner Kinder zu wählen. Wie das Dilemma der Figuren gestaltet wird, ob ihre Konfliktsituation tatsächlich den Kriterien der modernen Tragödientheorie entspricht und welche Besonderheiten die Motivation ihres Unglücks kennzeichnen, soll in diesem Kapitel untersucht werden. 2.1 Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘ In der Auseinandersetzung mit den tragischen Elementen des ‚Nibelungenlieds‘ findet die Figur des Markgrafen von Bechelaren stets Aufmerksamkeit. Zwar gehört Rüdiger nicht zu den wichtigsten Handlungsträgern des gesamten Epos, doch scheint er das Tragikverständnis der Moderne zu antizipieren und ist dementsprechend auch als ‚moderner‘ Mensch interpretiert worden.2 Weil er in einen Treuekonflikt zwischen den beiden feindlichen Parteien gerät, während alles auf den kollektiven Untergang _____________ 1 2

Vgl. S. 77–82. Vgl. Haymes, Nibelungenlied, S. 142; Hennig, Zweimal Empfang, S. 40. Vgl. auch Mackensen, Mittelalterliche Tragödien, S. 102.

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hinausläuft, gilt Rüdiger als Prototyp eines tragischen Helden.3 Durch den großen Anteil an Figurenrede, der sein Auftreten im Unterschied zu anderen Handlungssequenzen des Epos kennzeichnet, wird auch formal eine Annäherung an eine Tragödie im gattungsspezifischen Sinne erreicht; zahlreiche dramatische Bearbeitungen sind daraus erwachsen.4 Rüdigers Konflikt im ‚Nibelungenlied‘ lässt sich nicht auf die Notsituation in der 37. Aventiure reduzieren, vielmehr wird seine Geschichte sorgfältig vorbereitet und über mehrere Episoden aufgebaut.5 Erst zu Beginn des zweiten Handlungsteils eingeführt, fungiert Rüdiger zunehmend als ein wichtiger Mittler. Sein Tod ist eng mit dem Untergang der Nibelungen und Hunnen verbunden, aber seine Geschichte weist einen eigenen Spannungsbogen auf. Die Entwicklung von einem glücklichen Ausgangs- zu einem unglücklichen Zielpunkt entspricht der Struktur einer tragischen Handlung: Während Rüdiger zu Beginn über große Reichtümer verfügt und als entscheidende Stütze des hunnischen Königs fungiert, verliert er am Ende den Anspruch auf alle materiellen Güter und sein Leben. Er kann seine Familie und seine Gefolgsleute nicht mehr selbst beschützen und leitet mit seinem Tod den allgemeinen Untergang ein. Handlungsstruktur: Von der Brautwerbung in den Heldentod Zum ersten Mal tritt der als guot (1147,3) charakterisierte Rüdiger in Erscheinung,6 als Etzel über eine zweite Ehe nachdenkt und sich für Kriemhild interessiert. Als einziger im Kreis der Berater kennt Rüdiger die Burgundenkönige und kann Kriemhilds Schönheit aus eigener Anschauung bestätigen. Seine langjährige Bekanntschaft mit dem Wormser Königshaus und seine Vertrauensstellung bei Etzel prädestinieren ihn, den heiklen Auftrag der Brautwerbung zu übernehmen. Das Angebot des Hunnenkönigs, ihn materiell auszurüsten, lehnt Rüdiger mit dem Verweis auf seinen Reichtum ab. Er kümmert sich um eine prachtvolle Ausstattung seines Gefolges und bricht mit Etzels Segen auf. Unterstützt von seiner Frau Gotelind, sorgt Rüdiger für eine freigebige Bewirtung, als die Gesandtschaft auf dem Weg gen Westen durch Bechelaren reist. In Worms ange_____________ 3 4 5

6

Vgl. z.B. Müller, Zum Problem, S. 139f. Vgl. Grosse, Rüdiger von Bechelaren, bes. S. 240. Vor allem Bernreuther (Motivationsstruktur, S. 63–100) und Splett (Rüdiger von Bechelaren) berücksichtigen die gesamte Rüdiger-Handlung. Splett spricht ausdrücklich von einer ‚Rüdigertragödie‘ (vgl. S. 67) und einem ‚Untergangsdrama‘ (vgl. S. 71). Zum Epitheton der guote, das unter den Figuren des ‚Nibelungenlieds‘ allein Rüdiger verliehen wird, vgl. Jentzsch, „Der guote Rüedeger”, S. 177. Nach seiner Auffassung trägt das Epitheton dazu bei, „die tragische Fallhöhe […] zu vergrößern“ (ebd., S. 197).

Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘

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kommen, weiß Hagen die weitgereisten Gäste sogleich zu identifizieren, woraufhin sie ehrenvoll empfangen werden: Hagen und seine Freunde laufen ihnen entgegen; der König erhebt sich und nimmt Rüdiger bei der Hand, setzt ihn neben sich und lässt den Begrüßungstrunk ausschenken. Ausdrücklich gestattet ihm Gunther, den Grund seines Kommens mitzuteilen, ohne seine Ratgeber vorher zu befragen. Der Inhalt der Botschaft stößt unter den Burgunden auf geteilte Zustimmung. Mit Ausnahme von Hagen befürworten die inzwischen zusammengerufenen Berater und die Brüder Etzels Brautwerbung. Kriemhild selbst hingegen, die sich auch dreizehn Jahre nach Siegfrieds Tod noch in tiefster Trauer befindet, reagiert abweisend. Dass sie den Markgrafen dennoch empfängt, hängt einzig mit der Wertschätzung seiner Person zusammen: „Daz enwil ich niht versprechen“, sprach daz vil edel wîp „ich ensehe gerne den Rüedegêres lîp durch sîne manige tugende. waer’er niht her gesant, swerz ander boten waere, dem waer’ ich immer unbekant.“ (1221)

Rüdiger, der vorab von seiner Überredungskraft überzeugt gewesen ist, wird bei der Begegnung mit Kriemhild zunächst eines Besseren belehrt. Schon äußerlich wird das Zusammentreffen des festlich gekleideten Boten mit der in ein alltägliches und tränennasses Trauergewand gehüllten Königin durch Gegensätzlichkeiten markiert. Rüdigers Versprechen, sie erwarte minne âne leit, staete vriuntschaft (vgl. 1232,1f.) und friuntlîche liebe (1234,2), die sie ihres Leides ergetzen (1234,1) könne, erfüllen nicht den gewünschten Zweck. Auch seine Hinweise auf den möglichen Gewinn von zwölf Königreichen und dreißig Fürstentümern oder auf den Erhalt der höchsten Machtfülle und der Entscheidungsgewalt über die Gefolgsleute Etzels erzielen keine Wirkung. Zumindest erreicht Rüdiger durch seine geschickte Verhandlungsführung, dass Kriemhild ihre Entscheidung vertagt. Während der Markgraf am ersten Tag gehofft hat, die Königin überzeugen zu können, rechnet er am zweiten mit der gefürchteten Absage. Nachdem alle Bitten vergeblich gewesen sind, unternimmt Rüdiger einen letzten, ungewöhnlichen Überredungsversuch. Er verlässt seine Position als offizieller Brautwerber, sucht das Zwiegespräch und verhandelt unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit der Königin. Nicht mehr Etzels Zuneigung, sondern Rüdigers Dienst steht nun im Mittelpunkt seiner Argumentation.7 Im Unterschied zu den vorherigen Appellen führt diese Strategie zum Ziel. Das Ergebenheitsversprechen des geschätzten Markgrafen, gesichert durch Eide, die er gemeinsam mit seinen Gefolgsleuten leistet, stimmt Kriemhild um. Als Rüdiger auch ihr letztes Gegenargument, das Heidentum Etzels, entkräftet hat, erhält er ihre Zusage und kann Worms _____________ 7

Vgl. auch Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 65f.

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als erfolgreicher Brautwerber zusammen mit der künftigen Hunnenkönigin verlassen. Eine materielle Unterstützung der Reise aus dem Schatz der Nibelungen lehnt Rüdiger erneut mit dem Verweis auf seinen eigenen Besitz ab und festigt so seine Position als mächtiger und großzügiger Held. Unter Rüdigers Schutz reist Kriemhild mit ihrer Gefolgschaft unbehelligt ins Land der Hunnen und genießt in Bechelaren die Gastfreundschaft, die ihr Rüdiger und Gotelind angedeihen lassen. Bei ihrem Empfang durch Etzel fungiert Rüdiger als ‚Zeremonienmeister‘,8 der Kriemhild mit den herausragenden Rittern bekannt macht, den Thron richtet und vor der Hochzeit für einen angemessenen Umgang des Königspaares sorgt. Mit der Heirat ist Rüdigers Auftrag beendet, durch den seine Vorzüglichkeit und seine Verbundenheit mit Etzel, Kriemhild und den Burgunden geoffenbart worden ist. In den folgenden Aventiuren, bei Kriemhilds verräterischer Einladung an ihre Brüder, machen die beiden Boten auf dem Hin- und Rückweg in Bechelaren Station, so dass die Erinnerung an Rüdigers Gastfreundschaft wachgehalten wird. Diesen Charakterzug rühmt auch sein Grenzwächter gegenüber den Burgunden in höchsten Tönen: Dô sprach aber Eckewart: „ich zeig’iu einen wirt, daz ir ze hûse selten sô wol bekomen birt in deheinem lande, als iu hie mac geschehen, ob ir vil snelle degene wellet Rüedegêren sehen. Der sitzet bî der strâze und ist der beste wirt, der ie kom ze hûse. sîn herze tugende birt, alsam der süeze meie daz gras mit bluomen tuot. swenne er sol helden dienen, sô ist er vroelîch gemuot.“ (1638f.)

Rüdigers Verhalten bestätigt das vorweggenommene Lob. Sobald er von der Ankunft der Burgunden erfährt, rüstet er zu einem festlichen Empfang, begrüßt die Gäste freundlich und kümmert sich persönlich um eine sichere Unterbringung. Die anschließenden Feierlichkeiten, die ehrenvolle Begrüßung der Ritter durch kostbar gekleidete Damen und Mädchen, die Auszeichnung der größten Helden mit einem Kuss und die Bewirtung, entsprechen vorbildlichem höfischen Verhalten.9 Vor dem Hintergrund der bedrohlichen Ereignisse, die die Burgunden auf der Reise bereits durchlebt haben und die das nahende Unheil ankündigen, hebt sich der Empfang in Bechelaren kontrastiv stark ab. Rüdigers Freundlichkeit und

_____________ 8 9

Vgl. Panzer, Nibelungenlied, S. 257; Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 53. Vgl. auch Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 44. – Grosse (Kommentar, S. 886) hält Rüdiger aus diesem Grund für die höfischste Gestalt des ‚Nibelungenlieds‘.

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seine Ahnungslosigkeit in Bezug auf Kriemhilds Pläne treten umso deutlicher hervor.10 Während Rüdiger die Burgunden durch seine Gastlichkeit ehrt, revanchieren sich diese durch die Auszeichnung seiner Tochter, die in Giselhers Heiratsversprechen gipfelt. Initiiert wird diese Verbindung von Volker, der schnell Unterstützung von Gernot und Hagen erhält. Die Helden betrachten die junge Markgräfin aufgrund ihrer Schönheit als würdig genug, eine Königskrone zu tragen. Mit dem Lob ihres Liebreizes, ihrer adligen Geburt und ihrer Tugendhaftigkeit entkräften die Helden Rüdigers Einwand, hie ellende zu sein (1676,3), und legitimieren den Vorschlag, der jüngste der Burgundenkönige solle sie zur Frau nehmen. Somit erwächst aus der gesellschaftlich-höfischen Unterhaltung, dem Frauenlob des Spielmanns Volker,11 ein Eheentschluss, der eidlich gelobt wird. Aufgrund der dringenden Bitten ihres Gastgebers bleiben die Reisenden länger als ursprünglich vorgesehen und nehmen mit ihrem Aufenthalt bis zum vierten Morgen sogar eine Gefährdung der eigenen Sicherheit in Kauf.12 Wie bei dem gesamten Aufenthalt wird Rüdigers milte auch beim Abschied in Szene gesetzt. Er verschenkt Pferde und Kleider, will nichts für sich behalten und genießt deshalb hohes Ansehen: von des wirtes milte […] verre wart geseit. (1691,3) Seine adligen Gäste werden mit großzügigen Gaben bedacht, die einerseits ihrem Rang angemessen sind und deren Annahme andererseits eine hohe Ehre für den Spender bedeutet. Gunther erhält ein wâfenlîch gewant (1695,3), Gernot ein wâfen guot genuoc (1696,1) und Volker zwölf Armreifen. Hagen bekommt auf eigenen Wunsch von Gotelind einen Schild überreicht, der für sie einen hohen emotionalen Wert besitzt. Zusammen mit den Nibelungen bricht Rüdiger auf, damit seine Gäste wohlbehalten an ihr Ziel gelangen. Bei der Begrüßung am Hunnenhof erscheint der Markgraf gemeinsam mit seinem jungen Schwiegersohn vor seinem Lehnsherrn. hôhgemuot (1815,1) betont er die große Treue von Kriemhilds Verwandten, die sich seines Erachtens in der Annahme der Einladung und ihrer Ankunft am _____________ 10

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Grosse (Rüdiger von Bechelaren, S. 243) bezeichnet Bechelaren als einen „locus amoenus in dem sonst so düsteren zweiten Teil“, und Kunstmann (Rüdiger von Bechelaren, S. 245) sieht in dem ‚Idyll von Bechelaren‘ eine „einzige Laudatio auf Rüdiger, seine Fürsorge, Gastfreundschaft, Herzensgüte und Freundlichkeit.“ Diese Interpretation erklärt Volkers Initiative beim Ehebündnis und zeigt einmal mehr, dass der Aufenthalt in Bechelaren höfischen Idealen entspricht. Nicht erst beim Abschied von Gotelind tritt Volker als Minnesänger auf; bereits das Lob von Rüdigers Tochter gehört zur höfischen Unterhaltungskunst. Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 64) stellt die Diskrepanz ihres Verhaltens heraus: Während die Burgunden die Rückkehr von Kriemhilds Boten zu verzögern suchten, um die Vorbereitung von potentiellen Racheakten zu vereiteln, dehnen sie den Aufenthalt in Bechelaren auf mehrere Tage aus.

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Königshof manifestiert. Während sich Dietrich von Bern bei seinem ersten Treffen mit Hagen noch über Rüdigers Unkenntnis und die fehlende Warnung vor Kriemhilds Rachegelüsten wundert, bemerkt der Markgraf wenig später ebenfalls die seltsam angespannte Stimmung. Sowohl Dietrich als auch Rüdiger halten ihre Gefolgsleute aus diesem Grund von der Teilnahme am Turnier ab, das am ersten Festtag nach dem Gottesdienst veranstaltet wird. Ausdrücklich weist Rüdiger seine Ritter darauf hin, daz in ummuote waeren, die Guntheres man: / ob si den bûhurt liezen, ez waere im liebe getân. (1876,3f.) Durch Blödels Überfall auf die burgundischen Knappen wird die offene Konfrontation ausgelöst, die sich in kürzester Zeit in den Festsaal verlagert. Auf Kriemhilds Flehen hin erwirkt Dietrich für sich und die Seinen freien Abzug. Auch Rüdiger wählt diese Option, statt sich am Kampf zu beteiligen. sol aber ûzem hûse iemen komen mêr, erkundigt er sich bei den Burgundenkönigen und verweist dabei indirekt auf seine Ergebenheit, die iu doch gerne dienen (1996,2f.). Sein Friedengesuch wird sofort angenommen, so dass Rüdiger mit seinen Leuten den Saal verlassen darf. An die damit verbundene Versicherung, Treue zu wahren, hält sich Rüdiger, selbst als alle Hoffnungen auf einen Ausgleich zerschlagen sind. Die Friedensbitte der Burgunden ist an Etzels Widerstand gescheitert, der den Tod seines Sohnes und seiner Verwandten zu verschmerzen hat, wohingegen Kriemhilds Forderung nach Hagens Auslieferung für die Gegenpartei unerfüllbar war. Angesichts der schrecklichen Verluste und des unermesslichen Leids sieht sich Rüdiger der Möglichkeit beraubt, eine vermittelnde Position zu beziehen, für die er aufgrund seiner guten Kontakte zu beiden Seiten eigentlich prädestiniert gewesen wäre: swie gern ichz vriden wolde, der künec entuot es niht (2136,3). Noch einmal unternimmt der Markgraf, der sich bei der Brautwerbung durch sein diplomatisches Geschick ausgezeichnet hat, einen Schlichtungsversuch. Doch Dietrich von Bern reagiert zurückhaltend auf Rüdigers Hilfegesuch und bestätigt nur seine vorherige Einschätzung: wer möht’ iz understân? / ez enwil der künec Etzel niemen scheiden lân. (2137,3f.)13 Rüdigers öffentliche Trauer und seine vermeintliche Untätigkeit nimmt ein nicht namentlich genannter Hunne zum Anlass, ihn der ungerechtfertigten Begünstigung, der Gleichgültigkeit und schließlich der Feig_____________ 13

Da eine Reversion des Untergangs der Nibelungen in der Sage nicht vorgesehen ist, soll diese Handlungssequenz nach Hasebrinks (Aporie, S. 10) Auffassung demonstrieren, dass die Wende „als Möglichkeit in die Logik der Figur des Markgrafen“ gehört. Treffend deutet er Rüdiger in Anlehnung an Wyss (Ich taete ê als Rûmolt, S. 195) als „,Figur des Politischen‘, d.h. von Optionalität, Zweiseitigkeit, Verhandlung und Reversion“ gekennzeichnet (Hasebrink, Aporie, S. 11). Auch Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 52) bezeichnet ihn als einen „Mann des Ausgleichs“.

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heit zu bezichtigen. Vor allem den letzten Vorwurf kann Rüdiger nicht unbeantwortet lassen und schlägt seinen Kritiker mit den Fäusten nieder: du gihest, ich sî verzagt. / du hâst dîniu maere ze hove ze lûte gesagt. (2141,3f.)14 Mit dem Tod des Hunnen ist zwar der Provokateur, nicht jedoch das Problem, Rüdigers fehlender Kampfeinsatz, aus der Welt geschafft. Vielmehr evoziert der zusätzliche Tod eines potentiellen Kämpfers das Einschreiten Etzels, der nicht länger auf seinen Lehnsmann verzichten kann. Gemeinsam mit Kriemhild appelliert er eindringlich an Rüdiger, den Kampf aufzunehmen. Als dessen Einwände ungehört verhallen, König und Königin ihn fußfällig um Gnade bitten, versucht der Markgraf gar, sein Lehnsverhältnis aufzukündigen.15 wer hülfe danne mir? (2158,1), entgegnet Etzel und beantwortet die diffidatio mit dem Angebot einer Erhebung zum Mitregenten; der Lösung aus dem hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis wird eine Umwandlung in ein gleichberechtigtes Herrschaftsverhältnis entgegengesetzt. Der Dialog, in dem Rüdiger alle seine Argumente vorträgt, führt nicht zum gewünschten Ergebnis. Für Kriemhild und Etzel bleiben die Burgunden, denen er sich als vorheriger Gastgeber verpflichtet fühlt, leide geste (2162,4), die es zu bekämpfen gilt. Rüdiger beklagt zutiefst die Ausweglosigkeit seiner Situation, erklärt sich aber am Ende bereit, der Aufforderung des Königspaars zu folgen. Um seinen baldigen Tod wissend, empfiehlt er Etzel seine Familie und seine Gefolgsleute an und rüstet zum Kampf. Von den Burgunden wird Rüdigers Erscheinen zunächst unterschiedlich interpretiert. Während der Lehnsmann Volker sofort seine Kampfbereitschaft erkennt, glaubt Giselher noch, sein Schwiegervater komme in friedlicher Absicht und wolle ihnen helfen.16 Rüdigers Geste, der vor den Fuß gesetzte Schild, und seine Worte vereindeutigen schnell, mit welcher Intention er gekommen ist. Seine Aufkündigung des Treueversprechens akzeptieren die Burgunden zunächst ebenso wenig wie Etzel seine diffidatio. Alle Aspekte, die Rüdiger in seinem Gespräch mit dem hunnischen Königspaar erwähnt hat, werden mit vertauschten Positionen noch einmal thematisiert. Obwohl er seine freundschaftlichen Verbindungen mit den Burgunden nicht in Frage stellt und diese selbst zuvor als Grund für seinen Kampfverzicht angeführt hat, bleibt Rüdiger im Dialog mit den Nibelungen ebenso bei dem gefassten Entschluss, wie Etzel und Kriemhild zuvor auf ihrem Standpunkt beharrten. Zwar gesteht er ein, dass sich niemals Freunde schlechter verhalten hätten (vgl. 2183). Dennoch erklärt er, kämpfen zu müssen, weil er es gelobt habe und die Königin ihn nicht _____________ 14 15 16

Zur Bedeutung des öffentlichen Raumes, in dem dieser Vorwurf geäußert wird, vgl. Müller, Höfische Kompromisse, S. 275f. Auf diese juristische Möglichkeit macht Wapnewski (Rüdigers Schild, S. 51f.) aufmerksam. Nach Müller (Spielregeln, S. 162) sind die Erwartungen „ständisch genau ausbalanciert“.

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davon entbinden wolle (vgl. 2178). In vollem Bewusstsein bejaht Rüdiger die Konsequenz seines Handelns, durch das geschenkte Schwert sterben zu können, ja wünscht er sich sogar den Tod und den Burgunden die Heimkehr. Seine letzte Bitte richtet er an Giselher, dieser möge seine Tochter nicht für die Taten ihres Vaters büßen lassen. Der Königssohn knüpft eine Erfüllung jedoch an die Bedingung, dass keine Blutschuld zwischen ihnen stehen dürfe.17 Da diese Auflage im Kampf nicht umsetzbar ist, kommt dem Schluss des Gesprächs die gleiche Funktion wie seiner Eröffnung zu. Rüdigers Erklärung vom Ende der Freundestreue erwidern die Burgunden mit der Aufkündigung ihrer verwandtschaftlichen Verbindung. Als die Helden bereits im Begriff stehen, den Kampf zu eröffnen, meldet sich Hagen zu Wort. Durch die Klage um seinen zerschlagenen und das Lob von Rüdigers vorzüglichem Schild bittet er diesen indirekt darum, Gotelints Geschenkübergabe zu imitieren. Der Markgraf zögert im Gedanken an Kriemhild kurz, reicht Hagen dann aber willeclîchen (2197,1) das Gewünschte und beweist so noch einmal seine schon früher gerühmte Freigebigkeit: swes iemen gerte nemen, / daz versagete er niemen (1692,3f.). Sogar in der bedrohlichsten Situation, als der geeignete Schutz über sein Leben entscheiden wird, schlägt er keine Bitte ab. ez was diu leste gâbe (2197,3), erklärt der Erzähler, die selbst den hartherzigen Hagen rühre. Dieser preist Rüdigers Tugend und verspricht, unter keinen Umständen gegen ihn anzutreten. Nachdem Volker sich ihm angeschlossen und an den Aufenthalt in Bechelaren erinnert hat, beginnen die Streithandlungen. Ungeachtet seines vorherigen Zögerns zeigt Rüdiger im Kampf keinerlei Zurückhaltung: des muotes er ertobete (2206,2).18 Durch seine Stärke, seinen Mut und seine Einsatzfreude beweist er, daz er ein recke waere, vil küene unt ouch vil lobelîch (2213,4). Sein Töten zahlreicher Burgunden versetzt Gernot in solchen Zorn, dass er die Konfrontation mit dem Markgrafen sucht. Im erbitterten Zweikampf töten sich beide gegenseitig. Der vater aller tugende lag an Rüedegêren tôt (2202,4), würdigt der Erzähler seine Figur in einer vorweggenommenen Totenklage. Sein Urteil wird durch die Trauer der Nibelungen um den Helden bestätigt, der die Zahl ihrer Kämpfer doch deutlich dezimiert hat. Während sie Rüdigers und Gernots Tod schon beweinen, deutet Kriemhild die plötzlich eintretende Ruhe als Waffenstillstand, den Rüdiger gegen ihren Willen herbeigeführt haben müsse. Sie nimmt Etzels rechtliche Position ein und beklagt als _____________ 17

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Zur Bewertung seines Verhaltens aus „jugendlicher Impulsivität“ oder der „klaren Einsicht, daß Treue zu den Blutsverwandten höher steht“, vgl. Wapnewski (Rüdigers Schild, S. 55) versus Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 95). Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 100) spricht in Anlehnung an Panzer (Nibelungenlied, S. 187) von einer ‚Kampfekstase‘.

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Lehnsherrin19 die mangelnde staete und das vermeintliche Fehlverhalten des Helden: der uns dâ solde rechen, der wil der suone pflegen (2229,3). Dass Kriemhilds Verdacht, so berechtigt er angesichts der ursprünglichen Intention Rüdigers gewesen sein mag, zum geäußerten Zeitpunkt eine Verleumdung darstellt, macht Volker ihr unverzüglich klar. Scharf weist er ihre Unterstellung als haltlos zurück und bezeugt: iu hât unz ûf den ende gedienet Rüedegêr der helt (2231,4).20 Handlungsmotive: Treue und Pflichten Rüdigers Geschichte im ‚Nibelungenlied‘ beginnt und endet mit seinem Dienst für Etzel. Der Hunnenkönig beauftragt ihn mit zwei kaum zu bewältigenden Aufgaben, der Werbung um Kriemhild und dem Kampf gegen die Nibelungen. Während er die erste Schwierigkeit glücklich zu bewältigen vermag, scheitert er beim zweiten Mal und stirbt. Ihr Spannungsmoment gewinnt die Erzählung aus den verschiedenen Verbindungen, die Rüdiger im Handlungsverlauf mit den wichtigsten Protagonisten eingeht. Jede einzelne stellt einen positiven Wert dar und dokumentiert Rüdigers edle Gesinnung und sein hohes Ansehen, in ihrer Gesamtheit erweisen sich diese Beziehungen jedoch aufgrund der wachsenden Feindschaft zwischen Burgunden und Hunnen als unvereinbar.21 Treibendes Handlungsmotiv ist Rüdigers Treue,22 die er sowohl gegenüber seinem Lehnsherrn und dessen Gemahlin als auch gegenüber seinen vriunden zu wahren sucht, denen er sich jeweils in mehrfacher Weise verpflichtet hat. In der Chronologie des Erzählens, die nicht der der Geschichte entspricht, wird die Verbindung zu Etzel als erste exponiert. Als mächtiger Lehnsmann gehört Rüdiger zum Kreis der königlichen Berater, unter denen er eine herausgehobene Position einnimmt. Der heidnische König apostrophiert den Markgrafen als vriunt (1149,1) und beauftragt ihn, als liep als ich dir sî (1151,1), mit der heiklen Mission, um die schöne christliche Königin zu werben. Das hierarchische Dienstverhältnis bleibt trotz der vertrauten Ansprache unangetastet, wenn Etzel Rüdiger größtmöglichen Lohn in Aussicht stellt: und sol ich Kriemhilde immer geligen bî, / des wil ich dir lônen, so ich aller beste kan. / sô hâstu mînen willen sô rehte verre getân. (1151,2–4) _____________ 19 20 21 22

Vgl. Grosse, Kommentar, S. 924. Die weiteren Ereignisse, Kriemhilds und Etzels übermäßige Trauer und die Eskalation des Streits um die Herausgabe seines Leichnams, sind für die Rüdiger-Handlung nicht mehr von Belang, binden diese aber in den übergeordneten Handlungszusammenhang ein. Vgl. auch Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 96f. Zur ausschließlichen Verwendung des Epithetons der getriuwe für Rüdiger vgl. Jentzsch, „Der guote Rüedeger”, S. 177.

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Der Markgraf erklärt sich gerne bereit, als Bote seines Herrn zu fungieren. Seine Erklärung, mit mîn selbes guote (1153,4) an den Rhein ziehen zu wollen, offenbart Rüdigers vornehmen Charakter und seinen Reichtum, welcher jedoch auf Etzel bezogen bleibt: daz ich hân von der hende dîn (1153,4). Materielle Voraussetzung für Rüdigers vielgerühmte milte bleibt sein Lehen, das ihm Etzel überantwortet hat. Somit verweist auch Rüdigers Gastfreundschaft zurück auf seinen Lehnsherrn, dessen Großzügigkeit dem Markgrafen ein eben solches Verhalten ermöglicht. Entgegen Dancwarts Befürchtungen kann Rüdiger die burgundischen Könige und ihr gesamtes Gefolge mehrere Tage verpflegen, weil ihm der künec Etzel noch vil wênic iht genomen hat (1690,4). Sich selbst und seine Frau bezeichnet Rüdiger aufgrund des fehlenden Landbesitzes dagegen als ellende (1676,3), weshalb er auch gezwungen ist, auf eine angemessene Mitgift seiner Tochter zu verzichten, sît ich der bürge niht enhân (1681,4). Dass Rüdiger dennoch in der Lage ist, kostbare Geschenke zu verteilen, lässt auf die Größe des Lehens und seine Wertschätzung durch Etzel schließen. Bei der Brautwerbung in Worms erfüllt Rüdiger die Erwartungen vollkommen, die Etzel in ihn gesteckt hat. Indem er Kriemhild für seinen Herrn gewinnt, erweist er sich als treuer Bote und legitimiert seine Vertrauensstellung. Dies gelingt ihm jedoch nur, weil er Kriemhild seine unverbrüchliche Treue zusagt. Erst nachdem er der Königin versprochen hat, sie zu ergetzen, swaz ir ie geschach (1255,3), und gemeinsam mit seinen Verwandten und Gefolgsleuten dafür einzustehen, er müeses sêr’ engelten, unt het iu iemen iht getân (1256,4), ändert sich ihre ablehnende Haltung. Kriemhild verlangt von Rüdiger, einen Eid abzulegen, swaz mir iemen getuot, / daz ir sît der naehste, der büeze mîniu leit (1257,2f.), zu dem er sich sogleich bereit erklärt: Mit allen sînen mannen swuor ir dô Rüedegêr mit triuwen immer dienen, unt daz die recken hêr ir nimmer niht versageten ûz Etzelen lant, des si êre haben solde, des sichert’ ir Rüedegêres hant. (1258)

Die Mehrdeutigkeit dieser Eide ist in der Forschung herausgestellt worden.23 Mehrmals wechseln Erzählmodus und Fokalisierung, indirekte und direkte Rede folgen aufeinander, die Perspektive des Erzählers wird durch die Aussagen Rüdigers und Kriemhilds ergänzt. Die jeweiligen Formulierungen sind unterschiedlich interpretierbar, wobei die umgekehrte Besetzung der Sprecherpositionen für eine zusätzliche Ununterscheidbarkeit sorgt. Rüdigers Versprechen, Kriemhild zu entschädigen, schließt sowohl im Erzählerbericht als auch in seiner eigenen Erklärung durch die Ver_____________ 23

Vgl. Grosse, Rüdiger von Bechelaren, S. 244; Hasebrink, Aporie, S. 12; Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 51f. – Müller (Spielregeln, S. 365, Anm. 49) hält die Differenzen in der Formulierung des Eides sogar für auffälliger als die Übereinstimmungen.

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wendung des Präteritums klar die Vergangenheit ein. Kriemhilds Formulierung ist hingegen zukunftsorientiert und sichert ihr Unterstützung am Hunnenhof zu. Diesen Eid legt Rüdiger, wie gefordert, öffentlich ab. Anders als Kriemhild in ihrer Rede zum Ausdruck bringt, richten sich ihre Gedanken jedoch auf das geschehene Leid. Die Königin freut sich über den Gewinn neuer vriunde (1259,1) und hofft auf eine Möglichkeit, Siegfrieds Tod rächen zu können. Inwiefern Rüdiger mögliche Konsequenzen seines Handelns hätte erahnen können, bleibt spekulativ. Wichtig ist, dass sein Eid ein notwendiges Mittel ist, um die Brautwerbung erfolgreich abschließen zu können. Als die offizielle Werbung auf keine Zustimmung stößt, wählt er diesen unkonventionellen Weg, spricht in heimlîche (1255,2) mit Kriemhild und verbürgt sich persönlich für ihr Wohlergehen. Im Einsatz für seinen Lehnsherrn verpflichtet sich Rüdiger somit auch gegenüber der künftigen Hunnenkönigin. Zum zweiten Mal benötigt Etzel Rüdigers Dienste, als sich seine lieben Gäste in schreckliche Feinde verwandelt und den Tod seines Sohnes und seiner Verwandten zu verantworten haben. Rüdigers Lehnsverhältnis, seine Begünstigung und Abhängigkeit von Etzel werden durch die Auseinandersetzung mit dem anonymen Hunnen eindrücklich in Erinnerung gerufen. Dieser hält Rüdigers Vorzugsbehandlung angesichts seiner Tatenlosigkeit im Kampf für ungerechtfertigt und kritisiert: der doch gewalt den meisten hie bî Etzelen hât, Unt dem ez allez dienet, liut unde lant. wie ist sô vil der bürge an Rüedegêr gewant, der er von dem künege vil manege haben mac! er gesluoc in disen stürmen noch nie lobelîchen slac. (2138,4–2139,4)

Mit seinem Faustschlag verteidigt sich Rüdiger nicht nur gegen die Bezichtigung der Feigheit, sondern auch gegen die Anschuldigung, zu Unrecht ausgezeichnet worden zu sein. Gegenüber Etzel erklärt er: da beswârt er mir den muot / unde hât mir gëitewîzet êre unde guot, / des ich von dînen handen hân sô vil genomen. (2146, 2–4) Damit ist der Vorwurf nach Jan-Dirk Müllers Ansicht auf die Ebene gehoben, auf der er verhandelt werden müsse: als Vasallitätskonflikt.24 Im Mittelpunkt des folgenden Gesprächs zwischen dem Königspaar und dem Markgrafen steht dennoch nicht die lehnsrechtliche Verpflichtung, sondern die eidliche Bindung an Kriemhild. Wie in allen Episoden, in denen der Untergang der Nibelungen vorangetrieben wird, erweist sich die Königin auch im Dialog mit Rüdiger als Wortführerin. Sie erinnert ihn _____________ 24

Vgl. Müller, Spielregeln, S. 310. – Zu Recht stellt Ihlenburg (Nibelungenlied, S. 119) heraus, dass es entsprechend „der vom Dichter beabsichtigten Konfrontation zwischen Lehnsherrn und Vasallen“ Etzel ist, der Rüdiger die Tötung des Hunnen als „lehnspflichtswidrig“ vorhält.

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an seinen Eid, den er ihr in Worms geleistet hat: Ich man’ iuch der genâden, und ir mir habt gesworn, / do ir mir zuo Etzeln rietet, ritter ûz erkorn, / daz ir mir woldet dienen an unser eines tôt (2149,1–3). In ihrer Bedrängnis fordert sie ihn auf, sein Gelöbnis nun zu erfüllen: des wart mir armen wîbe nie sô groezlîche nôt. (2149,4) Rüdiger muss diesen Eid zwar bestätigen: Daz ist âne lougen: ich swuor iu, edel wîp, / daz ich durch iuch wâgte êre unde ouch den lîp (2150,1f.). Doch schränkt er ihn deutlich ein: daz ich die sêle vliese, des enhân ich niht gesworn. (2150,3) Trotzdem beharrt Kriemhild auf ihrem Standpunkt und appelliert an Rüdigers Treue, die ihn zu einer Hilfeleistung verpflichte: gedenke, Rüedegêr, der grôzen triuwe dîn, / der staete und ouch der eide, daz du den schaden mîn / immer woldest rechen und elliu mîniu leit. (2151,1–3) Obwohl Etzel nicht als direkter Sprecher auftritt, keine Argumente anführt und der Erzähler nur von seinem inständigen Bitten vereint mit Kriemhild berichtet, setzt die Bindung an den König Rüdiger stärker unter Druck. Sein Lehnsverhältnis sieht er als so zwingend an, dass er es aufzukündigen sucht, um den Kampf vermeiden zu können: Dô sprach zuo dem künege der vil küene man: „her künec, nu nemt hin widere, al daz ich von iu hân. daz lant mit den bürgen, des sol mir niht bestân. ich wil ûf mînen füezen in daz ellende gân.“ (2157)25

Indirekt bestätigt Rüdiger damit den von dem namenlosen Hunnen hergestellten Zusammenhang zwischen den empfangenen Gaben und der Notwendigkeit, für seinen Herrn zu streiten. Auch den Burgunden ist diese Verpflichtung gut bekannt, wie Volkers erste Vermutung zeigt: an uns wil dienen Rüedegêr sîne bürge und sîniu lant (2173,4). Nachdem sein Versuch der diffidatio gescheitert ist, muss Rüdiger erkennen, dass seine Lehnsbindung nur durch seinen Tod gelöst werden kann, der ihm im Kampf unmittelbar bevorsteht: Ich weiz wol, daz noch hiute mîne bürge unde mîniu lant / iu müezen ledec werden (2164,1f.). Während zuvor Kriemhild auf alle Argumente reagierte, antwortet auf der lehnsrechtlichen Ebene wiederum Etzel, der die Leute von Bechelaren unter seinen Schutz zu nehmen verspricht. Die paradigmatischen Bezüge zwischen dem Beginn und dem Ende der Rüdiger-Handlung verdeutlichen, dass der Markgraf zweimal einen Auftrag seines Herrn übernimmt, dessen Erfüllung zwar mit gegensätzlichen Empfindungen verbunden ist, dessen Motivation jedoch identisch bleibt: Rüdiger will als Lehnsmann seinen Verpflichtungen gegenüber Etzel nachkommen und seinen Dienst erfüllen. _____________ 25

In Handschrift C werden Rüdigers Sorge, treulos zu handeln, und seine Bereitschaft zum Verzicht in einer zusätzlichen Strophe noch stärker hervorgehoben: Alles guotes âne sô rûm ich iu diu land, / mîn wîp unt mîne tohter nim ich an mîne hant: / ê daz ich âne triuwe belîben müese tôt, / ich het genomen übele iwer golt alsô rôt. (Str. 2216) Vgl. Nibelungenlied, Paralleldruck der Handschriften; Nibelungenlied nach der Handschrift C.

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Weshalb Rüdiger trotz seiner Treue so lange zögert, das Hilfegesuch des Königspaares zu erhören, liegt in seinen engen Bindungen an die Burgunden begründet, die in der erzählten Zeit weiter in die Vergangenheit reichen als sein Verhältnis zum Hunnenhof. Seine frühe Bekanntschaft mit den burgundischen Königen aus Kindertagen bleibt jedoch merkwürdig unbestimmt.26 In Worms weiß ihn allein Hagen zu identifizieren, der Rüdigers lange Verbundenheit mit den Burgunden betont, ohne sie freilich weiter zu erläutern: ez solden immer dienen dise degene, / daz uns der marcgrâve ze liebe hât getân: / des solde lôn enpfâhen der schoenen Gotelinde man. (1189,2–4) In dieser Rede charakterisiert Hagen ihre Beziehung mit denselben freundschaftlichen und lehnsrechtlichen Begriffen, zu liebe tûn, lôn enphâhen, dienen, die zuvor schon Etzel verwandt hat, doch unterscheiden sie sich in ihrer Zuordnung zu den Figuren. Während Rüdiger von Etzel lôn für seinen dienst erwarten darf, vergelten die Burgunden seine Taten ihrerseits mit dienst. Ihr Verhältnis ist damit von Anfang an durch das Fehlen einer hierarchischen Ordnung gekennzeichnet. Dementsprechend empfangen die Burgunden Rüdiger auch nicht als Etzels Boten, sondern als ehrenvollen Gast. Er wird mit seinem Gefolge so gut versorgt, dass Rüdiger des jach, / daz er dâ friunde hête under Guntheres man (1201,3f.). Besonders seine Beziehung zu Hagen wird exponiert, der im diente gerne; er hete im ê alsam getân (1201,4). Somit werden die bestehenden Bindungen bei Rüdigers mehrtägigem Aufenthalt in Worms gefestigt und die Wiederbegegnung in Bechelaren vorbereitet. Hocherfreut reagiert Rüdiger, als er von der Ankunft der Nibelungen erfährt. Ausdrücklich beruft sich Gunther mit seiner Anfrage, ob mîn lieber friunt Rüedegêr (1640,3) sie aufnehmen wolle, auf die geknüpfte Beziehung. Der vorweggenommene Erzählerkommentar, lange sei ihm keine angenehmere Botschaft ausgerichtet worden, findet in Rüdigers Antwort sogleich eine Bestätigung. Mit lachendem munde erklärt er: nu wol mich dirre maere, daz die künige hêr / geruochent mîner dienste, der wirt in niht verseit. / koment si mir ze hûse, des bin ich vrô unt gemeit. (1646,2–4) Der Markgraf empfängt vil vroelîche (1656,2) seine Gäste und heißt sie vil gerne (1656,4) willkommen. Erneut wird Hagen herausgehoben, auf eine nicht näher erläuterte, lange Bekanntschaft angespielt und somit die Basis für die spätere Schildbitte gelegt:27 besunder gruozte er Hagenen: den het er ê bekant. (1657,3) In Wort und Tat erweist sich Rüdiger als vollkommener Gastgeber. Er bürgt für die Sicherheit seiner Gäste, swaz ir hie verlieset, des wil ich wesen gelt (1660,2), und sorgt für eine angemessene Beherbergung: den unkunden gesten man diente hêrlîche sît (1671,4). _____________ 26 27

Vgl. auch Grosse, Kommentar, S. 852f.; Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 44. Vgl. auch Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 62.

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In diesem höfischen Umfeld wird eine weitere Bindung zwischen Rüdiger und den Burgunden geschlossen, die nicht nur auf der Vergangenheit basiert, sondern auf die Zukunft ausgerichtet ist. Der Entschluss, Rüdigers Tochter mit dem jüngsten König zu vermählen, wird von beiden Seiten mit Eiden gesichert. Rüdiger schwört, sie ihm zur Frau zu geben, Giselher gelobt, sie zu ehelichen, und seine beiden Brüder sichern eidlich Burgen und Länder als Morgengabe zu. Im Gegenzug verbürgt sich Rüdiger persönlich, da er das Heiratsabkommen nicht durch die Vergabe von Landbesitz besiegeln kann: sît ich der bürge niht enhân / Sô sol ich iu mit triuwen immer wesen holt (1681,4f.). Somit erwächst aus der Gastfreundschaft im höfischen Rahmen eine neue verwandtschaftliche Beziehung, die das alte freundschaftliche Verhältnis zwischen Rüdiger und den Burgunden auf eine neue Ebene überführt, wie vor allem in der Abschiedsszene zum Ausdruck kommt. Beim Aufbruch von Bechelaren verteilt Rüdiger nicht nur, wie für einen freigebigen Gastgeber üblich, Geschenke an das Gefolge, sondern auch an seine edeln geste (1694,2). swie selten er gâbe enpfienge (1695,3), nimmt Gunther ebenso eine Rüstung entgegen wie Gernot ein Schwert und Hagen den Schild. Dass diese Gaben in den Kontext des Heiratsversprechens gehören, ja dies geradezu die Voraussetzung für eine Annahme darstellt, zeigt Giselhers Erwähnung vor der Geschenkvergabe. Auf diese Weise erklärt sich auch, weshalb er als einziger der herausragenden Figuren beim Abschied nicht berücksichtigt wird. Der jüngste König hat seine Gabe bereits erhalten: die sîne tohter schoene die het er Gîselher gegeben (1694,4). Wie schon das Eheversprechen, bei dem die Tochter eines ellenden für würdig genug angesehen wird, eine Krone zu tragen, dient auch die Annahme der Geschenke dazu, Rüdiger zu ehren.28 Ausdrücklich betont der Erzähler: Allez daz der gâbe von in wart genomen, / in ir deheines hende waer’ ir niht bekomen, / wan durch des wirtes liebe, derz in sô schône bôt. (1704,1–3) Nachdem Rüdiger sich den Burgunden bei der Begrüßung, dem Aufenthalt und Abschied als vortrefflicher Gastgeber erwiesen hat, entschließt er sich, zum Wohl seiner Gäste eine weitere Aufgabe zu übernehmen und sie selbst zu Etzel zu geleiten. Was er ihnen zuvor nur für Bechelaren zugesagt hat, sie vor jedem Schaden zu bewahren, verspricht er nun auch für den verbleibenden Weg: ir sult deste sanfter varn: / ich wil iuch selbe leiten und heizen wol bewarn, / daz iu ûf der strâze niemen müge geschaden. (1708,1–3) Bis zu diesem Zeitpunkt lassen sich Rüdigers Verpflichtungen gegenüber seinem Lehnsherrn und seinen burgundischen Gästen problemlos vereinbaren. Bei seinem Geleit zum Hunnenhof kann Rüdiger noch einmal die dop_____________ 28

Zugleich wird die Verwandlung der königlichen Gäste in ellende antizipiert, vgl. Müller, Spielregeln, S. 252f.

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pelte Funktion erfüllen, die schon für seinen Aufenthalt in Worms charakteristisch war; als getreuer Vasall und aufmerksamer Freund führt er die geladenen Gäste in das Land seines Herrn. Als die Kämpfe zwischen Hunnen und Burgunden ausbrechen, versucht Rüdiger, Neutralität zu wahren. Seine Dienste als Gastgeber und Schutzherr ermöglichen es ihm, um freien Abzug zu bitten. Er bekräftigt dabei die Freundschaft zu den Nibelungen und wünscht sich bleibenden Frieden: sô sol ouch vride staete guoten vriunden gezemen. (1996,4) Das Entgegenkommen der Burgunden basiert auf den im Handlungsverlauf geschlossenen Bindungen, wie sich daran zeigt, dass der Rüdiger am nächsten stehende Königssohn als Redeführer auftritt: Des antwurte Gîselher von Burgonden lant: / „vride unde suone sî iu von uns bekant / […].“ (1997,1f.) Mit seinem Appell, der gleichermaßen die Begründung für den zugestandenen Abzug liefert und die Bedingung für künftigen Frieden formuliert, knüpft Giselher an Rüdigers Treueversprechen in Bechelaren an, das sich nun in der Situation des Krieges bewähren muss: sît ir sît triuwen staete, ir unde iuwer man. (1997,3)29 Sowohl bei seiner Rechtfertigung vor dem anonymen Hunnen als auch im Dialog mit Kriemhild und Etzel wiederholt Rüdiger immer wieder die Gründe, die sein Eingreifen in den Kampf verbieten; alle in Bechelaren geknüpften Verbindungen zwischen ihm und den Burgunden werden rekapituliert. In chronologisch inversiver Folge betont Rüdiger an erster Stelle seine Verantwortung gegenüber denjenigen, denen er Geleitschutz zugesichert hat: jâ was ich ir geleite in mînes herren lant; / des ensol mit in niht strîten mîn vil ellendes hant. (2144,3f.) Auch vor Kriemhild begründet er seine Enthaltung zuerst mit diesem Motiv: zuo dirre hôhgezîte brâht’ ich die fürsten wol geborn (2150,4). Als dieses Argument kein Gehör findet, zählt Rüdiger die anderen Aspekte auf, durch die er sich den Nibelungen verpflichtet habe: heim ze mînem hûse ich si geladet hân, / trinken unde spîse ich in güetlîchen bôt / und gap in mîne gâbe (2159,2–4). Nachdem er seine durch das Lehnsrecht legitimierten Rollen als Begleiter und Wirt von Etzels Gästen angeführt hat, verweist er zuletzt auf die verwandtschaftliche Bindung, die er unabhängig von seinem Dienstverhältnis geknüpft hat: ouch riuwet mich diu vriuntschaft, die ich mit in geworben hân. / Gîselher dem degene gab ich die tohter mîn (2160,4f.). Auf diese Bindungen vertrauen die Burgunden ebenfalls, wie ihre Reaktion bei Rüdigers Ankunft zeigt. Giselher stimmt sein Erscheinen zuversichtlich, da er an die durch das Heiratsversprechen geschlossene vriuntschaft glaubt. Von dieser sagt sich Rüdiger jedoch zum Erschrecken der _____________ 29

Anders als in Grosses (Nibelungenlied, Str. 1997) Übersetzung zum Ausdruck kommt, verstehe ich die Konjunktion kausal statt konditional.

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Burgunden los: ê do wâren wir friunde: der triuwen wil ich ledec sein (2175,4). Geradezu beschwörend beruft sich Gunther auf die Freundlichkeit und große Treue (2177,3), die sie einander halten wollten, auf die triuwe unde minne (2179,3), die Rüdiger ihnen entgegengebracht habe, und erinnert an seine Gaben und sein Geleit mit triuwen (2180,4). Obwohl Rüdiger im Gespräch mit Kriemhild und Etzel zutiefst die Treulosigkeit beklagte, zu der er sich gezwungen sah, ist sein Entschluss unumstößlich. Er bestätigt noch einmal verbal alle Verpflichtungen, die er gegenüber den Burgunden eingegangen ist, hofft sogar auf ein Fortleben der alten Verbundenheit nach seinem Tod, zieht aber einen Kampfverzicht nicht mehr in Erwägung. Auch die Schildgabe an Hagen bleibt von dieser Ambivalenz gezeichnet und verzögert die Aufnahme der Kampfhandlungen nur kurz: Rüdiger bekräftigt ihre alte Freundschaft, indem er selbstlos auf den Schild verzichtet, und treibt dann den Untergang der burgundischen Helden bis zu seinem Tod voran. Forschungsdiskussion: Facetten des Tragischen Die Rüdiger-Handlung wird in der Literatur häufig mit dem Begriff der Tragik belegt, der freilich auf verschiedenen Theoriekonzepten und Textinterpretationen basiert. Der Fokus wird auf die Exposition, die Entwicklung und die Lösung des Konflikts gelegt, und Fragen nach Rüdigers Fehlverhalten oder seinem Verhängnis werden diskutiert. Die Untersuchungsergebnisse divergieren deutlich. Während manche Interpreten die „ungeheure Tragik seines Schicksals“ betonen,30 meinen andere, ein Ausweichen vor dem Tragischen zu beobachten.31 Vornehmlich in der älteren Forschungsliteratur wird die Ansicht vertreten, dass Rüdiger seinen Sturz ins Unglück aufgrund seines Verhaltens selbst zu verantworten habe. Katharina Bollinger deutet Rüdigers „unbesonnene Bindung nach beiden Seiten“ als „tragische Schuld“, die aus den „Fehlern seiner Tugenden“ resultiere. Seine Treue sei zum übermäßigen Vertrauen geworden, so dass er sich in gutem Glauben sowohl an die Burgunden binde als auch der Königin einen Eid schwöre, dessen Folgen er sich nicht ausmalen könne.32 Ähnlich argumentiert Werner Hoffmann, _____________ 30 31

32

Panzer, Nibelungenlied, S. 258. Vgl. auch die mehrmalige Verwendung eines Tragikbegriffs durch Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 59, 66, 89, 103. Vgl. Bollinger, Das Tragische, S. 13f.; Heusler, Nibelungensage, S. 104. – Heusler argumentiert, der Dichter wolle die erbarmungslose Tragik mildern, indem der Markgraf nicht von Giselher getötet werde. Seine Ansicht kritisieren Mohr (Giselher, S. 110) und Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 67). Bollinger, Das Tragische, S. 13.

Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘

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wenn er Rüdigers Schuldlosigkeit betont und dabei das Konzept einer schuldlosen Schuld beschreibt: „Die Ahnungslosigkeit […] zieht ihn […] erbarmungslos in den Sog des Verderbens hinein, in den er zwar schuldlos geraten ist, […] aber doch nicht ohne eigenes Dazutun, insofern man gerade von jemandem in diplomatischer Mission Spürsinn für Hintergründe und untergründige Motive erwarten sollte. Nicht ohne Berechtigung hat man von einer ‚tragischen Schuld‘ Rüdigers gesprochen.“33

Während Rüdigers Fehlverhalten hier mit Gedankenlosigkeit und fehlender Weitsicht begründet wird, stellt Friedrich Panzer seine aktive Beteiligung stärker heraus. Rüdiger werde primär durch die Eide, die er Kriemhild geschworen habe, zum Kampf gegen die Burgunden gezwungen. Da diese Eide zweideutig gewesen seien und Rüdiger nicht grundlos in aller Heimlichkeit sein Versprechen abgelegt habe,34 dürfe Kriemhild zu Recht bei ihren Racheplänen auf seine Hilfe hoffen. Somit erwachse „die Tragik, der Rüdeger erliegt, letzten Endes aus einer tragischen Schuld“.35 Eine ungleich größere Schuldzuweisung nimmt Gottfried Weber vor. Ausgehend von Rüdigers Einsatz als Brautwerber, entwirft er eine moraltheologisch gefärbte und am Text kaum belegbare negative Figurencharakterisierung eines „höfische[n] Ehrgeizling[s]“, „dem die Forderungen des Christentums fast nur noch formale Erfüllung konventioneller Pflichten“ bedeuteten.36 Weber sieht in Rüdigers Verhalten eine sittliche Verfehlung, weil dieser Kriemhilds Abneigung zu überspielen suche, obwohl die Heirat mit einem Heiden sittenwidrig sei. Seine Ahnungslosigkeit hinsichtlich Kriemhilds Rachegedanken zeige, „wie höfisch-ritterlicher Ehrgeiz eine totale Seelenblindheit“ erzeugen könne.37 Erst zu einem späteren Zeitpunkt macht sich Rüdiger dagegen in der Interpretation Werner Hoffmanns schuldig. Den Bruch des Geleitrechts wertet Hoffmann als „Sünde vor Gott“, bei der Rüdiger vorzuwerfen sei, dass er „den Weg zur konsequent christlichen Lösung“ zwar kenne, aber nicht beschritten habe. Statt auf seine angesehene Stellung in der Welt zu verzichten und ein mittelloses, gottgefälliges Leben zu wählen, entscheide er sich für die diesseitigen Bindungen und gefährde damit sein Seelenheil.38 _____________ 33 34 35 36 37 38

Hoffmann, Nibelungenlied, S. 37. Zur negativen Konnotierung von Heimlichkeit, die Rüdigers Unterredung mehr noch als ihren Inhalt dubios erscheinen lässt, vgl. auch Müller, Spielregeln, S. 288f. Panzer, Nibelungenlied, S. 260. Weber, Nibelungenlied, S. 207. Zur Kritik vgl. Kröhnke, Waffentausch, S. 156; Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 56f. Weber, Nibelungenlied, S. 99. Vgl. Hoffmann, Nibelungenlied, S. 47. Ähnlich argumentiert Harms (Kampf, S. 39): Für Rüdiger stelle ein Verstoß gegen eines der Gebote – Gefolgschaftstreue, Hilfeeid, Gastrecht, Freundschaft und Verwandtschaft – nicht nur eine Schande vor den Menschen, sondern zugleich eine Sünde vor Gott dar. Bernreuther (Motivationsstruktur, S. 95) hält hinge-

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Die genannten Ansätze eint, dass sie von einer wie immer gearteten Schuld Rüdigers ausgehen und seine Tragik darin begründet sehen. Eine gegenteilige Position vertritt Jürgen Splett, der argumentiert, dass die Situation des Markgrafen nach diesen Interpretationen gerade nicht mehr als tragisch gelten könne. Wenn Rüdigers Nichtwissen die Folge persönlicher Schuld wäre, erwiese sich der Konflikt als eine vermeidbare Zwangslage und büße damit „seinen tragischen Charakter“ ein.39 Spletts Kritik ist vor dem Hintergrund der modernen Tragödientheorie verständlich, sollte angesichts der Vielfalt an historischen Definitionen des Tragischen jedoch nicht absolut gesetzt werden. Die Vorstellung einer tragischen Schuld könnte sich schließlich auch auf antike Tragödienmodelle beziehen, die von der Vermeidbarkeit des Unglücks und der Verantwortlichkeit des Helden ausgehen.40 Aus inhaltlichen Gründen ist jedoch zu bezweifeln, dass Rüdigers Untergang durch sein eigenes Fehlverhalten motiviert wird. Weder vom Erzähler noch von den Figuren wird der Held je des übermäßigen Ehrgeizes oder eines gottlosen Verhaltens bezichtigt, vielmehr wird er einhellig gelobt und wächst sein Ansehen bis zu seinem Tod beständig. Zwar sind die Eide, die Rüdiger Kriemhild geleistet hat, mehrdeutig formuliert, der Öffentlichkeit entzogen und könnten tatsächlich gegen ihn eingesetzt werden. Allerdings bleibt dieses Potential weitgehend ungenutzt; Rüdigers Verpflichtung gegenüber Kriemhild ist nicht ausschlaggebend für seinen Kampfeintritt. Rüdigers Schuld ist somit kein angemessenes Kriterium, um sein Unglück als tragisch zu klassifizieren. Einen zweiten Anknüpfungspunkt für die Verwendung des Tragikbegriffs in der Forschungsliteratur bietet eine übergeordnete Instanz, die das Geschehen so zu bestimmen scheint, dass der Untergang unvermeidlich ist, mag man sie Schicksal41 oder Verhängnis42 nennen. Obwohl Rüdiger verzweifelt versucht, einen Ausweg zu finden, gelingt es ihm nicht. Weder kann er eine Aussöhnung der verfeindeten Parteien bewirken, noch seine Neutralität wahren, stattdessen wird er durch die Eskalation der Gewalt mit hineingezogen. „Der Blutrausch allgemeiner Vernichtung breitet sich aus wie eine Epidemie, die auch diejenigen schließlich ergreift, die _____________ 39 40

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gen die Verwendung „undifferenzierter und schablonenhafter Termini wie ‚tragische Schuld‘ […] und dergleichen mehr“ für problematisch. Vgl. Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 59. Vgl. S. 64–71. – Wird Rüdigers Tragik als alleiniges Argument angeführt, weshalb der Markgraf keine Schuld auf sich geladen haben kann, besteht die Gefahr eines Zirkelschlusses. Das moderne Tragikkonzept wird vorausgesetzt, statt nach der spezifischen Form der Motivierung des Unglücks zu fragen. Vgl. Hoffmann, Nibelungenlied, S. 43; Mackensen, Mittelalterliche Tragödien, S. 103; Maurer, Leid, S. 34f., 37. Vgl. Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 59.

Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘

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sich vom Ansteckungsherd fernhalten wollten“,43 kommentiert Jan-Dirk Müller. Verschiedene Interpreten meinen, eine anonyme Macht scheine sich seiner zu bemächtigen, so dass Rüdiger nicht selbstbestimmt agieren könne und der Situation hilflos ausgeliefert sei. Lutz Mackensen spricht in diesem Zusammenhang von einer Schicksalsverhaftung; nachdem die versuchte Rückgabe des Lehens fehlgeschlagen sei, müsse das Unausweichbare bestanden werden.44 Die Entscheidung, den Kampf aufzunehmen und in den Tod zu gehen, nachdem alle Optionen gescheitert sind, deutet Friedrich Maurer als tragische Größe eines Heros. Bewusst und entschlossen erfülle der Markgraf seine Bestimmung, weder als Christ noch als höfischer Ritter, sondern als germanischer Held handelnd: „Aus dem schicksalhaften Geschehen gibt es auch für Rüdiger keinen Ausweg; es gibt keinen Gott, der hilft; es gibt nur den Tod, der die Entehrung, das Leid beendet oder verhindert.“45 Das Tragische auf die Macht des Schicksals und die Ohnmacht des Menschen zurückzuführen, ist ein gängiges Element moderner Tragiktheorien, das auf die Rüdiger-Handlung übertragbar ist. Mit dieser Deutung lässt sich freilich eher der übergeordnete Handlungszusammenhang als das Charakteristische dieser Episode beschreiben.46 Dagegen weist Bollinger, die die Umwandlung der germanischen ‚Seinstragik‘ im höfischen Kontext untersucht, auf das Spezifische der Konzeption hin: „Das Neue an Rüdegers Schicksal ist, dass seine tragische Schuld in einen unlöslich scheinenden Konflikt führt, nicht wie die der andern in einen unproblematischen Untergang, der doch letzte Erfüllung des Daseins ist.“47 In ähnlicher Weise meint Maurer, in Rüdigers Tod einen Bruch zu erkennen, da es sich um keine Tragik mehr handle, die den stolzen und ehrbewussten Untergang des Helden zeige: „Das Besondere nun aber in der Rüdigerszene ist die Tatsache, dass hier über die tragische Situation, über das drohende Leid und die augenscheinlich unvermeidliche Schändung diskutiert wird.“48 Diese Äußerungen zielen auf den Höhepunkt der Rüdiger-Handlung, seine dilemmatische Situation in der 37. Aventiure, die vom Dichter des ‚Nibelungenlieds‘ sorgfältig vorbereitet und in vielen Einzelheiten inszeniert worden ist. _____________ 43 44 45 46 47

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Müller, Spielregeln, S. 446. Vgl. auch ders., Nibelungenlied, S. 156–161. Vgl. Mackensen, Mittelalterliche Tragödien, S. 103. Maurer, Leid, S. 37. Vgl. auch S. 35. Auch wenn diese sich, wie Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 99) urteilt, „in das allgemeine Verhängnis“ einordnet. Bollinger, Das Tragische, S. 13. – Existenzphilosophische Interpretationen, bei denen die Figur des Markgrafen zwischen Heroentum und Christentum changiert, legen auch Hoffmann (Nibelungenlied, S. 35–50), Nagel (Nibelungenlied, S. 228–249) und Weber (Nibelungenlied, S. 85–102) vor. Zur Kritik vgl. Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 95. Maurer, Leid, S. 33.

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Tragischer Konflikt

Der Bedeutung dieser Szene, die entscheidend zum großen Forschungsinteresse an der Figur beiträgt,49 wird in der Literatur stets hervorgehoben. Im Bemühen um eine adäquate Beschreibung seines Konflikts zwischen der Loyalität zu seinem Lehnsherrn und der zu seinen Freunden werden zahlreiche Begriffe moderner Tragödientheorie verwendet. Rüdigers Konflikt kollidierender Bindungen wird als nicht lösbar,50 dilemmatisch51 und aporetisch52 bezeichnet, da er keine Entscheidung treffen kann, ohne zugleich einer seiner Verpflichtungen zuwiderhandeln zu müssen. Seine Lage gilt als furchtbar53 und ausweglos,54 die zugrundeliegenden Strukturen werden als paradox und agonal,55 die bestehenden Optionen als antagonistisch charakterisiert.56 Rüdiger sei in ein Beziehungsgeflecht eingewoben, an dessen Ende sich unversöhnliche Interessen gegenüberstünden, deren Harmonisierung oder zumindest Hierarchisierung nicht mehr gelingen könne.57 Sein Konflikt offenbare die Aporie des mittelalterlichen Personenverbands, dessen Ordnung in ihrer Widersprüchlichkeit triumphiere.58 Hervorgehoben wird die „harte Notwendigkeit der Situation“, der Rüdiger gehorchen müsse.59 Da die Treue gegenüber einer Partei notwendigerweise Untreue gegenüber der anderen bedeute, scheint sein Ehrverlust unvermeidlich.60 Mehrere Interpreten bezeichnen diese Handlungskonstellation explizit als tragisch. „Die Güter der höfischen Sittlichkeit“ seien „in die Höhe eines tragischen Konflikts“ erhoben, argumentiert Katharina Bollinger.61 Ursula Hennigs spricht von einem tragischen Spannungsverhältnis, wenn sich Rüdiger zwischen den beiden Kampfparteien entscheiden muss.62 Für Jürgen Splett und Siegfried Grosse liefert die Unvermeidbarkeit, Schuld auf sich zu laden, den Ansatzpunkt, die Situation als tragisch zu bezeich_____________ 49

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Nach Kunstmann (Rüdiger von Bechelaren, S. 238) ist Rüdiger „in der Forschung vielleicht die größte Aufmerksamkeit unter dem gesamten Personal der Nibelungen nôt zuteil geworden.“ Vgl. Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 96. Vgl. auch Bollinger, Das Tragische, S. 13. Vgl. Schulze, Nibelungenlied, S. 162. Vgl. Müller, Spielregeln, S. 162. Vgl. auch Hasebrink, Aporie. Vgl. Maurer, Leid, S. 34; Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 44, 52. Vgl. Maurer, Leid, S. 34; Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 56, 66, 110. Vgl. auch Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 97. Vgl. Hasebrink, Aporie, S. 19. Vgl. Müller, Spielregeln, S. 160. Vgl. Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 97. Vgl. Müller, Spielregeln, S. 160. Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 92. Vgl. Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 97; Maurer, Leid, S. 33. Bollinger, Das Tragische, S. 13. Vgl. Hennig, Zweimal Empfang, S. 39f.

Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘

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nen. Weil sich Rüdiger in einem ausweglosen Konflikt befinde, müsse er in jedem Fall Recht brechen. In der unvermeidbaren Schuld, die aus seinem notwendigen Treuebruch resultiere, sieht Splett die Ursache für seinen Tod, wobei er den Kampf als Rechtsentscheid begreift: Durch diesen Zusammenhang erhalte „der Konflikt seinen tiefen Ernst und tragischen Sinn“.63 Noch pointierter beschreibt Grosse die „Problematik des Tragischen im neuzeitlichen Sinne“, wenn er die Lehnsbindung an Etzel und den Eid an Kriemhild mit den ebenfalls sehr starken, eidlich befestigten Bindungen an die Burgunden kontrastiert: „Rüdiger befindet sich in einer Situation, die ihn – gleich wie er sich entscheidet – schuldig macht.“64 Dagegen warnt Peter Wapnewski in einem 1960 veröffentlichten Aufsatz über Rüdigers Schild nachdrücklich davor, den Konflikt im Bereich des Tragischen anzusiedeln. Der Konflikt sei furchtbar, doch müsse man seine Furchtbarkeit nicht dadurch steigern, dass man von Tragik spreche. Vielmehr wäre es besser, einen „dem Mittelalter nicht gemäßen und mannigfache hierher nicht gehörige Assoziationen auslösenden Begriff aus der Diskussion zu lassen.“65 Diese Mahnung entspringt nicht nur einer Sorge vor einem terminologischen Anachronismus,66 sondern bereitet Wapnewskis eigene Interpretation vor. Diese unterscheidet sich markant von seinen Vorgängern und entzieht der Deutung eines tragischen Konflikts im Sinne der modernen Theorie die inhaltliche Grundlage. Wapnewski hierarchisiert Rüdigers Verpflichtungen, indem er zwischen rechtlichen und seelisch-sittlichen Bindungen differenziert. An die Burgunden binde Rüdiger zwar die alte Freundschaft mit Hagen und die neue mit den Königen, doch wäre diese Verpflichtung eine „des Gefühls“, ohne rechtliche Konsequenzen, zumal der Geleitdienst an Etzels Hof beendet sei. Dem gegenüber stehe seine Lehnspflicht, die Rüdiger nicht verletzen könne, ohne sich „außerhalb des Rechts“ zu bewegen.67 Rüdigers Entscheidung, für Etzel zu kämpfen, ist nach Wapnewski die Konsequenz eines juristisch eindeutigen Sachverhalts. Mit dem Bedeutungsverlust der Treuepflicht gegenüber den Burgunden wird ein zentrales Kriterium der modernen Tragikdefinition nicht mehr erfüllt, das in der Forschungsliteratur die Voraussetzung für die Klassifikation des Konflikts als tragisch bildete. Nach Wapnewskis Deutung befindet sich Rüdiger nicht in einer aporetischen Situation, in der er sich zwischen zwei gleichrangigen Werten _____________ 63 64 65 66 67

Vgl. Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 87–89, hier S. 89. Grosse, Kommentar, S. 919. Allerdings fügt Grosse einschränkend hinzu, dass dieser Bezug zum Tragischen nicht näher ausgeführt werde. Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 44. Vgl. auch S. 52. Von einem spezifisch neuzeitlichen Verständnis des Konflikts ist jedoch auch Wapnewski nicht gefeit, wie Müllers (Spielregeln, S. 161, Anm. 27) Kritik zeigt. Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 54.

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entscheiden muss. Statt notwendigerweise schuldig zu werden, kann er sich für die Sache des Rechts entscheiden. Ohne dies zu intendieren, löst Wapnewski nicht nur die Tragik des Konflikts, sondern auch die von Rüdigers Tod auf und leistet damit ein weiteres Mal der These vom untragischen Mittelalter Vorschub, die schon in seiner Anachronismuskritik Ausdruck gefunden hat. Zu den Handlungselementen, auf die ein wie immer gearteter Tragikbegriff zu passen scheint, sei es für ein schuldhaftes Vergehen in der Vergangenheit oder für den unlösbaren Entscheidungskonflikt und den notwendigen Tod, tritt gegen Ende ein Ereignis, das sich scheinbar schwer in eine Tragödie integrieren lässt: Rüdigers Schildgabe an Hagen. Diese Szene betrachtet Wapnewski als Zentrum und Höhepunkt der 37. Aventiure, in der er Hagen eine semi-sakrale Erlösungsfunktion zuschreibt.68 Durch Hagens Schildbitte und seine Verzichtproklamation habe der Dichter den Ausgleich geschaffen und die gestörte Ordnung wieder eingerichtet: „Das Leben zwar ist verspielt, aber die sich töten, werden sich hier nicht als Mörder töten noch als Feinde, und sie werden ihre Menschlichkeit über den Tod hinaus retten […].“69 Gemäß dieser pathetischen Erklärung endet die RüdigerHandlung nicht katastrophal, sondern versöhnlich bis optimistisch. Auch andere Autoren haben die Schildbitte als positives Element gewürdigt, das sich vom drohenden Untergang abhebe, doch ohne diesem seinen Ernst zu nehmen. So beschreibt Splett Hagens Schildbitte als „letzte[n] Lichtstrahl“, der „auf die düstere Katastrophe“ falle,70 während nach Mackensen „ein leichter Versöhnungsschimmer […] über seinen Tod [huscht].“71 Welche Konsequenzen diese Deutung für das Tragikverständnis haben kann, verdeutlicht Bollingers Argumentation: „So klingt zuletzt dieses konfliktgeladenste Schicksal in reinster Harmonie aus“, was einmal mehr ihre Ansicht bestätigt, „wie untragisch im Grunde das Empfinden der Zeit ist.“72 Die Schildgabe als einen Beleg für das untragische Mittelalter zu werten, wird dem Handlungsgeschehen nicht gerecht. Diese Szene stellt nur ein retardierendes Element dar, bevor die Erzählung in die Katastrophe mündet. Statt die Schildbitte als versöhnlichen Schluss zu feiern, bieten sich zwei andere Interpretationen an, mit deren Hilfe sich das Tragikverständnis vertiefen lässt. Die eine kann man aus einer gegenteiligen Be_____________ 68

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Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 55: „Menschenkraft ist hier überspannt, Menschenmaß gesprengt – nur Gott kann noch helfen […]. Da aber hilft Hagen.“ (S. 55) – Zur Kritik vgl. auch Kröhnke, Waffentausch, S. 158f. Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 61. Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 95. Mackensen, Mittelalterliche Tragödien, S. 103. Bollinger, Das Tragische, S. 13f.

Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘

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wertung der Szene entwickeln, die andere aus der Untersuchung des Schildes als Handlungsmotiv. Nach Jan-Dirk Müllers Aufassung wird der Konflikt durch die Schildgabe nicht gelöst, sondern die „Balance zwischen den widerstreitenden Pflichten“ wiederhergestellt. Durch diese Geste werde Rüdigers Entscheidung für seinen Lehnsherrn zurückgenommen und die Bindungen an die Burgunden reaktiviert.73 Demnach bewirkt die Schildgabe keine Versöhnung, sondern drückt die Aporie aus, die für Rüdigers Situation charakteristisch ist. In der Konsequenz bleibt der tragische Konflikt, wenn er aufgrund seiner Unlösbarkeit als solcher bezeichnet wird, unverändert bestehen. Der Schild ist ein wiederkehrendes Motiv im ‚Nibelungenlied‘, das paradigmatisch an den Aufenthalt in Bechelaren anknüpft und die Geschenkvergabe in Erinnerung ruft.74 Der Realitätsgehalt von Hagens Bitte mag umstritten sein,75 doch dient die Szene zum einen zur Charakterzeichnung der Rüdigerfigur, deren Großzügigkeit sich sogar im Angesicht des Todes bewährt, und zum anderen zur Vorbereitung seines Sterbens. Wie Ian R. Campbell hervorhebt, wird der Markgraf getötet, nachdem er sich selbstlos von seinem trefflichen Schild getrennt hat und sein Ersatzschild in Stücke geschlagen worden ist.76 Damit erlangt Rüdigers Schild denselben Status wie das verschenkte Schwert, dessen Ambivalenz im ‚Nibelungenlied‘ klar herausgestellt wird.77 Wie die Waffe gegen ihren freigebigen Spender verwendet wird und ihn tötet, verhindert der großmütige Verzicht auf den eigenen Schild eine wirksame Verteidigung:78 Die Rüedegêres gâbe an hende er hôhe wac swie wunt er zem tôde waere, er sluoc im einen slac durch den schilt vil guoten unz ûf diu helmgespan. dâvon sô muos’ ersterben der schoenen Gotelinde man. (2220)

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Vgl. Müller, Spielregeln, S. 255, 162. Vgl. auch Thelen, Hagen’s Shields, S. 396–399. Vgl. Hoffmann, Nibelungenlied, S. 46; Neumann, Nibelungenlied, S. 387; Schulze, Nibelungenlied, S. 173. Vgl. Campbell, Hagen’s Shield Request, S. 24: „It is surely significant […], […] that Rüdiger not only dies from a blow from his own sword that he had presented to Gernot, but that this blow, delivered from above, cuts clean through the shield that Rüdiger is holdig […].“ So kündigt Gernot vorab an: Unde welt ir niht erwinden ir’n welt zuo z’uns gân, / slaht ir mir iht der vriunde, […] / mit iuwer selbes swerte nim ich iu den lîp (2186,1–3). Bei seinem Angriff auf Rüdiger betont er: Nu mag iu iuwer gâbe wol ze schaden komen (2217,1). Ähnlich kommentiert der Erzähler Rüdigers Tod: Jane wart nie wirs gelônet sô rîcher gâbe mêr. (2221,1) Campbell (Hagen’s Shield Request, S. 25) betont: „both Rüdiger’s gifts, the sword given to Gernot and the shield given to Hagen, together bring about his undoing.” – Müller (Spielregeln, S. 353) spricht von einem „makabren Tausch“, bei dem Rüdiger seine Geschenke in invertierter Form zurückerhalte. Die Gabe an Hagen hält Müller für eine Steigerung der ersten Geschenke, weil Rüdiger den Schild wissend gegen Feindschaft eintausche.

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Tragischer Konflikt

In dem Moment seines Sterbens, als der Markgraf von Gernot durch sein eigenes Geschenk erschlagen wird, sieht Panzer den „Gipfel der Tragik“ erreicht.79 Während er seine Begriffsverwendung nicht erläutert, liefert Splett eine mögliche Begründung für diese Bewertung. Schon bei der Geschenkübergabe in Bechelaren bemerkt er, dass Rüdigers Freigebigkeit einen „tragischen Hintergrund“ gewinne, weil er Gernot das Schwert reiche, mit dem dieser ihn töten werde.80 Diese Argumentation lässt an Max Schelers Tragikdefinition denken, nach der es als besonders tragisch gilt, wenn die Verwirklichung eines hohen Wertes zur Vernichtung des Wertträgers führt.81 Allerdings ist der Zusammenhang weniger existenzialistisch als in Schelers metaphysischer Theorie. Rüdiger stirbt nicht, weil seine Freigebigkeit per se tödliche Konsequenzen hat und in der erzählten Welt nicht zu realisieren ist. Die Ursache für seinen Tod ist der Eintritt in den erbitterten Kampf zugunsten Etzels; das geschenkte Schwert dient lediglich als Instrument, das an die vormaligen Bindungen an die Burgunden erinnert und den Bruch der Freundschaft eindringlich vor Augen stellt. Wie das Schwert bereits in der friedlichen Hofszene in Bechelaren auf den nahen Untergang hindeutet,82 so weise auch Hagens Wunsch auf seine zweite Schildbitte und deren tödliche Folgen hin, erklärt Lynn Thelen: „Just as the sword was meant to foreshadow Rüedger’s death, so, too, was the shield meant to foretell tragedy.“83 Da Schild und Schwert nicht Ursachen, wohl aber Medien von Rüdigers Tod sind, können sie als kompositorische Tragikmotive innerhalb der erzählten Welt gelten.84 Tragikkonzept: Rüdigers Entscheidung „Die Entscheidung ist eindeutig, ihre Grundlage keineswegs“,85 kommentiert Jan-Dirk Müller Rüdigers Konfliktverhalten. Nach Friedrich Maurers Auffassung bestünden für Rüdiger theoretisch vier Entscheidungsmöglichkeiten: Entweder könnte er Etzel unterstützen, die Burgunden, beide _____________ 79 80 81 82

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Panzer, Nibelungenlied, S. 260. Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 66. Vgl. Scheler, Phänomen, S. 158. Müller (Spielregeln, S. 352) hebt die Ambivalenz der Gaben hervor. Während Rüdiger Giselher seine Tochter gebe und so Verwandtschaft begründe, überreiche er seinen Brüdern Waffen und antizipiere damit Feindschaft. Thelen (Hagen’s Shields, S. 396f.) sieht v.a. in Gotelinds Tränen, die sie in Erinnerung an Nudung, den ersten Besitzer des Schildes, vergießt (vgl. 1699), eine Vorausdeutung auf das Unglück der Familie. Zur kompositorischen Motivierung vgl. Martinez, Einführung, S. 114; ders., Motivierung, S. 644. Müller, Spielregeln, S. 161. Vgl. auch ders., Nibelungenlied, S. 101.

Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘

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Parteien oder keine der beiden.86 Ohne von Anfang an festgelegt zu sein, reduzieren sich diese Optionen im Handlungsverlauf drastisch. Dabei ist die dritte Alternative weniger absurd, als Maurer selbst zu bedenken gibt, und nicht nur mit einem göttlichen Wunder gleichzusetzen, das bekanntermaßen ausbleibt. Rüdigers sehnlicher Wunsch, eine Aussöhnung zu bewirken, kann als eine beidseitige Parteinahme gewertet werden. Allerdings erweist sich sein Schlichtungsversuch noch in der Planungsphase als nicht realisierbar, wie Dietrichs Reaktion zu erkennen gibt. Nachdem seine bevorzugte Handlungsmöglichkeit gescheitert ist, versucht Rüdiger, Neutralität zu wahren, bis er auch diese Option verwerfen muss und für den Hunnenkönig in den Kampf eintritt. Bemerkenswerterweise wird nur eine der vier Alternativen weder auf der Handlungsebene inszeniert noch aus der Figurenperspektive reflektiert: die Unterstützung der Freunde. Spletts Überlegung, „[e]s wäre durchaus möglich gewesen, daß Rüdiger für die Burgunden Partei ergriffen hätte“,87 ist eine hypothetische, die nicht durch Textaussagen gestützt werden kann. Schon bei den ersten Anzeichen für eine drohende Konfrontation wird Rüdigers Zugehörigkeit zum Hunnenhof demonstriert. Er warnt seine Gefolgsleute vor einer Teilnahme am Buhurt, weil sie von den Burgunden als Gegner betrachtet werden könnten. Als der Konflikt offen ausgebrochen ist, ergreift Rüdiger nicht die Waffen, um die ihm befreundeten und widerrechtlich angegriffenen Gäste zu schützen, sondern erbittet von ihnen freien Abzug. Selbst wenn er den Burgunden verbal Frieden zusichert, könnte seine Positionierung auf Seiten Etzels dramaturgisch kaum wirksamer inszeniert werden als im gemeinsamen Abtritt mit Dietrich und dem hunnischen Königspaar.88 Schließlich steht ein Eingreifen zugunsten der Burgunden auch in den umfangreichen Dialogpartien der 37. Aventiure nie zur Debatte,89 stattdessen dienen alle Argumente der Rechtfertigung, weshalb Rüdiger nicht gegen sie kämpfen kann. Von den vier theoretischen Handlungsoptionen erweisen sich somit nur zwei als so relevant, dass sie den Markgrafen in einen Zwiespalt stürzen: Neutralität versus Parteinahme für Etzel. _____________ 86

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Vgl. Maurer, Leid, S. 34. Hoffmann (Nibelungenlied, S. 41) lässt dagegen nur drei Möglichkeiten gelten, nämlich eine Parteinahme für Etzel oder für die Burgunden oder die Wahrung von Neutralität: „So ist es eigentlich nicht nur ein Dilemma, in dem Rüedeger sich befindet, sondern ein Trilemma.“ Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 89. Für eine Vereindeutigung sorgen die beiden Zusatzstrophen in Handschrift C (vgl. Str. 2056f.), in denen der Erzähler das künftige Leid antizipiert. Er erklärt, Dietrich und Rüdiger hätten nicht unbehelligt gehen dürfen, wenn die Burgunden von ihrer späteren Beteiligung am Kampf gewusst hätten. Vgl. auch Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 52.

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Diesem Konflikt hat Peter Wapnewski seine Brisanz genommen, wenn er als Begründung für Rüdigers Entscheidung auf eine klare Rechtslage verweist. Seine Position, emotional-sittliche Werte müssten der juristisch bindenden Lehnspflicht unterliegen, ist aus guten Gründen kritisiert worden.90 Weder lassen sich rechtliche und ethische Gesichtspunkte trennen,91 noch ist das mittelalterliche Recht apersonal zu denken.92 Rüdigers Dilemma besteht vielmehr darin, dass er sich beiden Parteien sittlich und rechtlich verbunden weiß. Weil beide Seiten auf seine Treue hoffen und an ihn appellieren können, sieht der vil getriuwe (2152,4) seine persönliche Integrität in Frage gestellt. In diesem Sinne ist Rüdigers Sorge vor einem Verlust der sêle (2150,3) zu verstehen. Es geht ihm weniger um das christliche Seelenheil, das nicht verspielt werden darf,93 sondern um seine Persönlichkeit, die mit den ihn kennzeichnenden Werten zur Disposition steht.94 Aus diesem Grund weist der Markgraf die Ansprüche, die Kriemhild unter Berufung auf sein Eidversprechen erhebt, zweimal zurück: ich hân iu selten iht verseit. (2151,4)95 Während seine Lehnspflicht zunächst nicht Gegenstand der Diskussion ist, ändert sich dies, als Etzel in die Bitten seiner Gattin einstimmt und ihnen in einem performativen Akt Nachdruck verleiht: Etzel der rîche vlêgen ouch began. / dô buten si sich ze füezen beide für den man. (2152,1f.) Der Fußfall des Königspaares setzt Rüdiger erheblich unter Druck und trägt in entscheidendem Maße dazu bei, ihn zur Teilnahme am Kampf zu bewegen.96 Während hinsichtlich der Wirkkraft dieser Geste Einigkeit in der Forschung besteht, wird ihre Bedeutung unterschiedlich bewertet. Wird durch den Fußfall die legitime Herrschaftshierarchie verkehrt, so dass der Markgraf sein Verhalten als unangemessen und unhalt-

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Vgl. Wapnewski, Rüdigers Schild. Zur Kritik vgl. z.B. Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 87f. – Andere Interpreten folgen weiterhin Wapnewskis Argumentation. So besteht nach Grosses (Rüdiger von Bechelaren, S. 247) Ansicht die „vermeintliche Ausweglosigkeit der Situation […] im rechtlichen Sinne nicht.“ Rüdigers Entscheidung, seiner Lehnspflicht zu folgen, sei „unter rechtlichen Gesichtspunkten die einzige Lösung des Konflikts“ (ders., Kommentar, S. 921). Vgl. Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 94. Vgl. Müller, Spielregeln, S. 161, Anm. 27. Gegen Spletts (Rüdiger von Bechelaren, S. 80) Auffassung, für Rüdiger stehe das Heil der Seele an oberster Stelle. Dies erklärt auch, weshalb diese Einschränkung im folgenden Disput keine Rolle spielt, wie Müller (Spielregeln, S. 364, Anm. 47) zu Recht hervorhebt. Vgl. auch Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 96. Seine ablehnende Haltung widerlegt Panzers (Nibelungenlied, S. 260) Annahme, Rüdiger werde am stärksten durch seine Eide gegenüber Kriemhild zum Kampf gezwungen. Vgl. auch Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 50. Vgl. auch Hasebrink, Aporie, S. 12–14; Müller, Spielregeln, S. 161.

Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘

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bar erkennen muss?97 Dagegen spricht ein zweiter, früherer Fußfall eines Lehnsherrn vor seinen Vasallen, auf den Müller aufmerksam macht. Er beschreibt Etzels Unterwerfungsgeste als „Kontrafakt des (vorausgehenden!) Fußfalls Irincs“.98 Statt einen Mangel an Loyalität anzuklagen, wird in dieser Geste demnach die wechselseitige Abhängigkeit von Herr und Gefolgschaft betont. Indem der Fußfall symbolisch eine Unterwerfung inszeniert, die Etzel und Kriemhild befürchten müssen, wird ihr Partner im Herrschaftsvertrag umso stärker in die Pflicht genommen. Dieser Forderung kann sich Rüdiger nicht entziehen, wie er mit größtem Bedauern feststellt: Owê mir gotes armen, daz ich dize gelebet hân. aller mîner êren der muoz ich abe stân, triuwen unde zühte, der got an mir gebôt. owê got von himele, daz michs niht wendet der tôt! Swelhez ich nu lâze unt daz ander begân, sô hân ich boeslîche unde vil übele getân: lâze aber ich sie beide, mich schiltet elliu diet. nu ruoche mich bewîsen, der mir ze lebene geriet. (2153f.)

Während Rüdiger zu Beginn der 37. Aventiure noch das unermessliche Leid der Burgunden und Hunnen bedauerte, ist er nun selbst betroffen. Zutiefst beklagt er die Ausweglosigkeit seiner Situation, die nach irdischen Maßstäben nicht mehr lösbar ist. Mit zwei Interjektionen, im ersten und vierten Anvers der zuerst zitierten Strophe, wendet er sich an Gott, mit seinem Schicksal hadernd. Die dazu gehörigen Abverse thematisieren Leben und Tod und markieren die existentielle Gefährdung, die Rüdiger empfindet. Im Zentrum der Strophe, in den beiden Mittelversen, wird die inhaltliche Begründung seiner Klage geliefert: Auf dem Spiel stehen die höfischen Werte êre, triuwe unde zühte, deren Verwirklichung Rüdiger als göttliches Gebot betrachtet und die bisher seine Figurenidentität konstituierten.99 Nach Etzels Fußfall sieht er diese Ideale bedroht und betont den Zwang, gegen sie verstoßen zu müssen (muoz ich abe stân). Unabhängig davon, wie seine Entscheidung ausfällt, wird er Schuld auf sich laden; selbst der Verzicht auf jede Handlungsoption wird zu einem Verlust seines Ansehens führen.100 In der abschließenden Gebetsformel wird die Er_____________ 97

Das Skandalon bringt Grosse (Kommentar, S. 919) durch seine Interpunktion zum Ausdruck: „Der Lehnsherr kniet vor dem Lehnsmann! Eine Umkehrung des hierarchischen Gefüges aus Not.“ Vgl. auch Hoffmann, Nibelungenlied, S. 40. 98 Müller, Spielregeln, S. 161. 99 Vgl. auch Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 90. 100 Nach Müller (Spielregeln, S. 224f.) sind in Rüdigers Klage ‚subjektive‘ und ‚objektive‘ Komponenten verknüpft. Gottverlassenheit bedeute nicht nur die Zerstörung der ethischen Werte, sondern auch „den Verlust vor deren Ausdruck in sozialem Status und allgemeiner Geltung vor Gott und den Menschen.“ (S. 225) Rüdigers Konflikt werde als

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Tragischer Konflikt

kenntnis der Ausweglosigkeit performativ umgesetzt: Nur Gott könnte noch helfen, den Konflikt so zu lösen, dass Rüdiger schuldlos bleibt. Der nun folgende Dialog bewirkt keine Lösung der dilemmatischen Situation. Rüdigers später Versuch, das Lehnsverhältnis aufzulösen, scheitert, weil Etzel ihn nicht aus der Verantwortung entlässt und an sein Pflichtgefühl appelliert.101 Rüdigers Argumente bleiben wirkungslos, da sie durch Etzels Unterwerfungsgeste schon vor ihrer Formulierung außer Kraft gesetzt sind. Ausdruck findet dies in der statischen Haltung des Königspaares, das alle Einwände repetitiv mit Bitten, Flehen und Appellen beantwortet, was teils in Figurenrede, teils durch Erzählerbericht dargestellt wird.102 Weder Kriemhild noch Etzel sind an einer Abwägung der Bedeutung von Rüdigers verschiedenen Bindungen interessiert, sondern sie drängen auf die Durchsetzung ihrer Ansprüche. Insofern kommt das Interaktionsritual einem Diskursverbot gleich, wie Burkhard Hasebrink herausarbeitet, weil es „dazu zwingt, die symbolische Erniedrigung sofort umzukehren,“ und „die diskursive Erörterung durch die Logik von Ausgleichshandlungen ersetzt.“103 Nachdem Rüdiger erkannt hat, dass seine Argumentation nur eine zeitliche Verzögerung bewirkt, fügt er sich ins Unvermeidliche: Dô sprach der marcgrâve wider daz edel wîp: „ez muoz hiute gelten der Rüedegêres lîp, swaz ir und ouch mîn herre mir liebes habt getân. dar umbe muoz ich sterben; daz mac niht langer gestân. (2163) […].“

Noch in Rüdigers Zustimmung bleibt seine Ablehnung präsent, die aus seinen Verpflichtungen gegenüber den Burgunden resultiert. Nur notgedrungen erklärt er sich bereit, den Kampf aufzunehmen, und betont durch die Verwendung der Präteritopräsentien müezen (V. 2 u. 4) und niht mugen (V. 4) gleich dreifach den Zwangscharakter seiner Einwilligung.104 Das ausschlaggebende Motiv für diese Entscheidung benennt Rüdiger klar: Er hält das Lehnsverhältnis, durch das er von seinem Herrn und dessen Frau viel Gutes erfahren hat, für zwingend verbindlich und sieht sich deshalb zur Gegenleistung verpflichtet. Ohne Rüdigers Konflikt verharmlosen _____________

101

102 103 104

„Kampf um die angemessene Fama“ erzählt (S. 254), als eine Suche nach der richtigen Verhaltensweise, um vor anderen bestehen zu können. Vgl. auch Str. 2156,3f.: vil sêre vorhte er daz, / ob er ir einen slüege, daz im diu werlt trüege haz. Grosse (Kommentar, S. 920) hält es für fraglich, ob ein Lehnsmann einen Eid in dem Moment lösen kann, in dem sein Herr Unterstützung benötigt. Dagegen argumentiert Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 84), Etzel appelliere an seine Hilfsbereitschaft, weil er sich auf keinen Rechtsgrund mehr berufen könne. Vgl. Str. 2152,1f., 2155,1, 2158,1, 2162,2. Hasebrink, Aporie, S. 12f. Vgl. auch Hasebrink, Aporie, S. 14; Müller, Spielregeln, S. 161.

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und seine Wahl als einzige, juristisch unstrittige Entscheidung legitimieren zu wollen,105 ist doch festzuhalten, dass seinem Handeln eine Wertehierarchie zugrunde liegt.106 Zwar verstößt der Markgraf mit dem Eintritt in den Kampf gegen die rechtlich-sittlichen Bindungen, die er mit den Burgunden eingegangen ist,107 dennoch sind diese ihrer Rangordnung nach der Lehnspflicht untergeordnet. Vor allem in der unmittelbaren Gegenüberstellung von Freundes- und Vasallentreue zeigt sich die stärkere Gewichtung der letzteren. So erklärt Rüdiger am Ende seines Dialogs mit dem Königspaar: ich muoz iu leisten, als ich gelobet hân. / owê der mînen friunde, die ich ungerne bestân (2166,3f.). Diese Erkenntnis wiederholt er auch gegenüber Gunther, der ihre Treueversprechen in Erinnerung gerufen hat: ich muoz mit iu strîten, wand’ ichz gelobet hân. (2178,2) Nachdem sich Rüdiger zur Parteinahme entschlossen hat, lässt er sich nicht mehr davon abbringen, so sehr er den Kampf gegen seine Freunde bedauert. Ebenso wenig wie ihn eine der früher eingegangenen Verpflichtungen gegenüber den Burgunden von der Erfüllung seiner Lehnspflicht abhält, geschieht dies durch die neu geknüpfte Verbindung mit Hagen. Somit kann die Schildgabe zwar als eine Bestätigung der Freundschaft gewertet werden, die Rüdiger bereits zuvor mit Segenswünschen eher bekräftigt als in Frage gestellt hat. Von einem Ausgleich, der „die Gewichte wieder ins Lot“ bringe und „die Aussöhnbarkeit des im Leben gegründeten Widerspruchs“ symbolisiere,108 kann aus Rüdigers Perspektive jedoch ebenso wenig gesprochen werden wie von einer erneuerten Balance der antagonistischen Pflichten.109 Weder handelt es sich bei der Schildgabe um eine wirkliche Lösung des Konflikts, bei der die Widersprüche in Harmonie aufgehen,110 noch um ein echtes Gleichgewicht der verschie_____________ 105 Gegen Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 54. 106 Wenn Bernreuther (Motivationsstruktur, S. 97) betont, dass eine „Harmonisierung oder wenigstens Hierarchisierung“ der antagonistischen Interessen nicht gelingen könne, bleibt offen, weshalb sich Rüdiger zugunsten Etzels entscheidet. Auch Spletts (Rüdiger von Bechelaren, S. 98) Deutung, die Entscheidung sei vom Gang des Geschehens zu verstehen und nicht von der Rechtslage bestimmt oder aus dem Charakter der Figur ableitbar, ist unbefriedigend; sie kann den von Rüdiger betonten Zwang nicht erklären. 107 Müller (Spielregeln, S. 161, vgl. auch Nibelungenlied, S. 101) hält fest: „Das Votum für die Lehnsverpflichtung ist nicht mit dem für ‚das Recht‘ gleichzusetzen: Rüedeger muß Recht brechen.“ Ähnlich äußert sich Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 89), der die Rechtsbegriffe in Rüdigers Dialog mit den Burgunden als Beweis für seine rechtlichen Verpflichtungen gegenüber den Freunden anführt (vgl. S. 92). – Einen Anhaltspunkt für eine moraltheologische Bewertung dieses Verstoßes, der „christlich-dogmatisch zur Hölle“ führt (vgl. Nibelungenlied, hg. v. de Boor, S. 337), liefert der Text jedoch nicht. 108 Wapnewski, Rüdigers Schild, S. 59. 109 Gegen Müller, Spielregeln, S. 255. 110 Vgl. auch Bernreuther, Motivationsstruktur, S. 92.

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denen Treuebindungen; Rüdigers Entscheidung für Etzel, die sich als die gewichtigere erwiesen hat, bleibt bestehen.111 Den von Hagen und Volker erklärten Verzicht, mit dem Freund zu kämpfen, als eine Stellungnahme zugunsten des unterlegenen Rechtsstandpunktes und damit indirekt als eine Kritik an Rüdigers Prioritätensetzung zu interpretieren,112 verbietet der Handlungsausgang. Das Lob des Erzählers und die Totenklage aller Protagonisten, die Rüdigers Mut und Tugenden rühmen, legitimieren nachträglich auch seine Entscheidung für den Lehnsherrn. Zweifel an Rüdigers Verhalten hegen letztlich nicht seine durch ihn geschädigten Freunde, sondern die von ihm treu unterstützte Partei. Vor dem Verdacht, missetân und seine Vasallenpflicht nicht erfüllt zu haben, nimmt Volker den Markgrafen massiv in Schutz. Er bezeugt seine Vorbildlichkeit, die sich gerade in seinem Lehnsdienst dokumentiert: Er tet sô willeclîche, daz im der künec gebôt, / daz er unde sîn gesinde ist hie gelegen tôt. (2231,1f.) Welche Schlussfolgerung ist aus dieser Analyse für die Frage nach Rüdigers Tragik im ‚Nibelungenlied‘ zu ziehen? Die zahlreichen Forschungspositionen zu dieser Thematik zeigen, dass Rüdigers Sturz ins Unglück Anknüpfungspunkte für verschiedene Tragikvorstellungen bietet. Die kausal motivierten Tragikauffassungen der Antike sind dabei zu vernachlässigen. Das Charakteristikum der Handlung besteht zweifellos nicht in einer Schuld, die der Markgraf durch einen Fehler, sei es beim Eidversprechen gegenüber Kriemhild oder bei seinem Rechtsbruch gegenüber den Burgunden begeht.113 Für den leidvollen Handlungsverlauf ist auch keine numinose Instanz – sei es der Schlag Fortunas, eine göttliche Determination oder eine überpersönliche Schicksalsmacht – verantwortlich,114 wie im Modell des Boethius beschrieben. Vielmehr geht der Markgraf selbst verschiedene Bindungen ein, die sich am Ende als unvereinbar erweisen. Im Zentrum der Rüdiger-Handlung steht sein Entscheidungskonflikt, der sorgfältig vorbereitet und genau ausgeleuchtet wird. Daher deuten alle Anzeichen daraufhin, Rüdigers Geschichte im Sinne der modernen Theorie als tragisch zu verstehen: Kennzeichnend sind die Ausweglosigkeit der Situation und die Notwendigkeit, den eigenen Ver_____________ 111 Vgl. auch Thelen, Hagen’s Shields, S. 392. Sie argumentiert, dass Hagen die Macht der Schildgabe unterschätzt hätte, wenn er die Freundschaft zwischen Rüdiger und den Burgunden erneuern wollte. Weder werde die Freundschaft symbolisch wiederhergestellt, noch ändere sich die Haltung der Könige. Ihre Schlussfolgerung, dass die Schildbitte allein Hagen nütze (S. 392), der im gesamten Epos Figuren manipuliere (S. 401) und dessen Feigheit durch das Schild symbolisiert werde (S. 400), ist hingegen nicht nachzuvollziehen. 112 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 163. 113 Daher ist Rüdigers Kampf nicht als Rechtsentscheid zu interpretieren, wie Müller (Spielregeln, S. 162, Anm. 31) gegen Splett (Rüdiger von Bechelaren, S. 87, 100) klarstellt. 114 Vgl. auch Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 110.

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pflichtungen zuwiderhandeln zu müssen. Allerdings weist Rüdigers Konflikt auch eine signifikante Differenz auf, die es nicht erlaubt, den hegelschen Tragikbegriff vollständig zu adaptieren. Ein differenzintegrierendes Konzept der Person, das die Voraussetzung für den neuzeitlichen inneren Konflikt bildet, wird in der nibelungischen Anthropologie nicht entworfen.115 Vor allem aber sind die Werte, zwischen denen Rüdiger wählen muss, zwar beide von hohem, nicht aber von gleichem Rang. Wie deutlich geworden ist, wird ein Kampf auf Seiten der Burgunden von dem Markgrafen nie in Betracht gezogen und steht seine Zugehörigkeit zum Hunnenhof außer Frage. Wenn Rüdiger Etzels Forderung ungeachtet aller Bedenken letztlich erfüllt und die Unvermeidbarkeit dieses Entschlusses immer wieder betont, offenbart dies eine hierarchische Ordnung seiner Verpflichtungen, die auch durch die Schildgabe an Hagen nicht aufgehoben wird. Das größere Gut unterscheidet Rüdigers tragischen Konflikt von Hegels Philosophie des Tragischen, der zufolge zwei gleichberechtigte sittliche Werte miteinander kollidieren. Rüdigers Tragik besteht darin, aufgrund einer vorhandenen Wertehierarchie sein Treueversprechen gegenüber den Freunden brechen zu müssen. Die Notwendigkeit, seinem Lehnsherrn zu dienen, kann Rüdiger nur deswegen als unausweichlichen, von außen auferlegten Zwang erfahren,116 da die Entscheidung nicht seiner Verfügungsgewalt untersteht, sondern a priori festgelegt ist.117 Die beobachteten Differenzen können entweder dazu führen, den Begriff des Tragischen als unpassend abzulehnen oder die Motivierung von Rüdigers Unglück als eine spezifische Form höfischer Tragik zu verstehen. Für eine solche Interpretation sprechen gute Gründe: Der tragische Konflikt von Rüdiger im ‚Nibelungenlied‘ basiert wie in der Moderne auf einem finalen Handlungsmodell, in dem die Katastrophe unvermeidbar ist. Das Unglück des Markgrafen wird durch seine Verpflichtung gegenüber Etzel begründet, die im gesamten Handlungsverlauf präsent geblieben ist. Auch wenn Rüdiger in der 37. Aventiure unterschiedliche Optionen erwägt, erkennt er am Ende, dass er Etzels Auftrag erfüllen muss. Seine Lehnstreue erweist sich in der Konfliktsituation als höheres Gut, als zwingende Gewalt, die ihn ins tiefste Leid stürzt und schließlich seinen Tod verursacht. _____________ 115 Vgl. Hasebrink, Aporie, S. 11. – Aus einem ähnlichen Grund lehnt Bernreuther (Motivationsstruktur, S. 96) die Verwendung des Tragikbegriffs ab: „Die Funktion des Rüdigerkonflikts besteht auch nicht in der Demonstration einer individuellen, seelisch-sittlichen Tragödie […].“ 116 Vgl. auch Müller, Spielregeln, S. 161; ders., Nibelungenlied, S. 101; Splett, Rüdiger von Bechelaren, S. 92. 117 Insofern ist Rüdigers Haltung weniger ambivalent, als Hasebrink (Aporie, S. 14) meint, und es überrascht gerade nicht, dass er unablässig den Zwang betont, sich aber nicht explizit auf triuwe beruft.

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2.2 Giburgs Sippenkonflikt bei Wolfram von Eschenbach In seiner literarischen Adaptation der ‚Bataille d’Aliscans‘ hat Wolfram von Eschenbach zahlreiche neue Akzente gesetzt, angelegtes Konfliktpotential ausgearbeitet und weitere stoffliche Quellen integriert, so dass eine Gattungszuordnung nicht ohne weiteres möglich ist.118 Während das altfranzösische Heldenepos die Kreuzzugsthematik behandelt und den Kampf zwischen Christen und Heiden in den Mittelpunkt stellt, werden im Mittelhochdeutschen neue Perspektiven eröffnet. Wolframs Werk wird als Legende, aber auch Antilegende,119 Minne- und Fürstenroman, Epos des Heidenkriegs, Erzählung vom Glück und Unglück verwandtschaftlicher Bindungen und als geschichtliche Dichtung bezeichnet.120 Mittlerweile besteht ein weitgehender Forschungskonsens, dass es sich beim ‚Willehalm‘ um ein opus mixtum,121 wenn nicht gar einen typus sui generis122 handelt; Elemente aus Heldenepik, Legende und Roman sind darin integriert.123 Zugleich Mittel und Folge dieser neuen Bearbeitung ist, dass eine Figur in den Vordergrund tritt, die zwar auch in der Vorlage als Kriegsursache eine Rolle spielt, dort jedoch keine handlungstragende Funktion übernimmt: Giburg, einst heidnische Königin, rückt – gemeinsam mit ihrem christlichen Ehemann Willehalm – ins Zentrum der Betrachtung.124 Sie steht zwischen den Kriegsparteien und ist beiden familiär verbunden. Aufgrund ihrer genealogischen Herkunft ist sie mit den Heiden verwandt, durch ihre Entscheidung für den christlichen Gott und Willehalm fühlt sie sich seiner Sippe und Glaubensgemeinschaft zugehörig. Da Giburg die Toten auf beiden Seiten beklagen muss, ist sie die eigentliche Leidtragende. Die Protagonistin ist einerseits ein Opfer der Kriegshandlung, andererseits die Hauptschuldige, weil ihre Konversion den Ausbruch des Krieges nach sich gezogen hat. Ähnlich wie Rüdigers Position im ‚Nibelungenlied‘ wird _____________ 118 Zu Wolframs Vorlage vgl. Bacon, Source; Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 375–390; Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 31–55; Mergell, Wolfram von Eschenbach, Bd. 1. 119 Eine Zuordnung zur Gattung der Legende nimmt v.a. Ohly (Wolframs Gebet) vor. Vgl. auch Wyss, Legenden, S. 53f. Dagegen argumentiert Schröder, Tragischer Roman, S. 13. 120 Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 362; Kiening, Wolfram von Eschenbach, S. 215. 121 Vgl. Ruh, Höfische Epik, Bd. 2, S. 190. 122 Vgl. Haug, Parzivals zwivel, S. 540. 123 Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 180; Heinzle, Kommentar, S. 798. Vgl. auch Gerok-Reiter, Hölle, S. 171; Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 270; Greenfield, triuwe, S. 76; WesselFleinghaus, Gotes hantgetat. 124 Nach Heinzle (Kommentar, S. 797) ist Wolframs Neukonzeption entscheidend von Giburgs Aufwertung bestimmt. Vgl. auch z.B. Kellermann, Personifizierter Agon, S. 255; Mergell, Wolfram von Eschenbach, Bd. 1, S. 96; Schnyder, Einsamkeit; Schröder, Tragischer Roman, S. 8.

Giburgs Sippenkonflikt bei Wolfram von Eschenbach

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Giburgs Situation im ‚Willehalm‘ in der Forschungsliteratur häufig mit dem Begriff des Tragischen beschrieben. Wie sich diese Bezeichnung begründen lässt und ob sich Wolframs Inszenierung des Konflikts ebenfalls vom hegelischen Tragikverständnis unterscheidet, soll im Folgenden untersucht werden. Handlungsstruktur: Von der verehrten Königin zur verhassten Konvertitin Wolframs Erzähltechnik ist hochkomplex. Sie wechselt zwischen Darstellung und Kommentar, unterbreitet plurale Sinnangebote und operiert mit Widersprüchen.125 Zu den Besonderheiten seines ‚discours‘ gehört es, dass die Handlungselemente oft nicht in chronologischer Folge präsentiert werden, sondern Ereignisse angedeutet, ausgespart und relevante Informationen erst in Analepsen nachgeliefert werden. Als das Handlungsgeschehen mit der Schlacht auf Alischanz einsetzt, werden die Gründe der Auseinandersetzung zwar knapp skizziert, doch bleiben viele Aspekte der Vorgeschichte ungenannt. Bis zum Treffen des Protagonistenpaares am Ende des ersten Kampftages findet Giburgs Sichtweise keine Berücksichtigung; sie wird vom Erzähler wie von den männlichen Figuren auf ihre unheilvolle Rolle als Ursache des schrecklichen Krieges reduziert: Arabeln Willalm erwarp, / dar umbe unschuldic volc erstarp (7,27f.), resümiert der Erzähler lapidar und verweist auf die prekären Umstände dieser Beziehung: Die Frau, deren Liebe Willehalm gewinnt und die bei ihrer Taufe den Namen Giburg annimmt, ist schon verheiratet. Weil ir man, der künic Tîbalt, / minnen vlust an ir klagete (8,2f.), verfolgt er seine Frau und ihren Entführer mit einem Großaufgebot. Nur von der herausgehobenen Stellung ihres Mannes ist bereits an dieser Stelle auf Arabels gesellschaftliche Position als arabische Königin zu schließen. Ihrem Rang entsprechend beschränkt sich Tibalts Verlust nicht nur auf den der Minne: er klagete êre unde wîp, / dâ zuo bürge unde lant. (8,6f.) Wie die Liebe zwischen der heidnischen Königin und dem enterbten, christlichen Markgrafen entstanden ist,126 lässt der Erzähler bewusst außer Acht: swaz dâ enzwischen bêdenthalp geschach, / des geswîg ich von in beiden _____________ 125 Vgl. Kiening, Wolfram von Eschenbach, S. 215, 228. – Young (Narrativische Perspektiven, S. 187) verwendet dafür den Begriff „Multiperspektivismus“, Gerok-Reiter (Individualität, S. 197) spricht von einer „Sinnpolyphonie“, die um den Multiplikationsfaktor Hörer erweitert werde. Liebertz-Grün (Trauerndes Geschlecht, S. 383) stellt die „Vielschichtigkeit“ der Erzählstruktur heraus und spricht von einem „Vexiertext, eine[m] Text mit einer affirmativen Oberflächenstruktur und einer subversiven Tiefenstruktur“. 126 Zum Enterbungsmotiv vgl. Przybilski, Verwandtschaft, S. 228f., 244–247; Schmid, Enterbung; Toepfer, Enterbung.

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(8,26f.). Erst viel später werden die Protagonisten von Willehalms List, Nîmes mit dem Wagen zu erobern, dem siegreichen Kampf der Christen gegen die Heiden, der Gefangennahme des Markgrafen und seiner erfolgreichen Werbung um die Königin berichten. Während der Erzähler diese Ereignisse bei seiner Einführung in die Geschichte verschweigt, stellt er die Folgen der Liebe umso deutlicher heraus: Unterstützt von seinem Schwiegervater, König Terramer, greift Tibalt mit einem gewaltigen Heer die Provence, Willehalms Land, an. Wiederum lässt sich indirekt auf Giburgs einstige Machtstellung schließen; an ihrer Rückführung beteiligt sich die gesamte heidnische Welt. Unmittelbar bevor der Erzähler den Beginn seines Kriegsberichts ankündigt und als das Trommelfeuer auf der Handlungebene bereits eröffnet ist, weist er erneut auf Giburgs Bedeutung hin und gibt damit ein Leitmotiv und eine Deutungsmaxime für die gesamte Kampfhandlung vor: Gîburge süeze wart in sûr, / den heiden und der kristenheit. (12,30f.) Erst allmählich ergeben sich genauere Konturen vom früheren Leben der arabischen Königin, das mit ihrer gegenwärtigen Notlage scharf kontrastiert wird. Der erste Kampftag auf Alischanz endet mit einer vernichtenden Niederlage des christlichen Heeres; mit Ausnahme weniger Gefangener kommt allein Willehalm mit dem Leben davon. In der Rüstung des getöteten heidnischen Ritters Arofel, Giburgs Onkel, kann er die Stadt Orange erreichen, wird jedoch vor dem Stadttor abgewiesen. Giburg kann nicht glauben, den Markgrafen vor sich zu sehen. si sprach: „ich enbin des niht gewent, / daz der marcrâve al eine / kume. […]“ (90,6–8). Der einzelne Ritter vor dem Burgtor bildet einen markanten Gegensatz zu der Übermacht des heidnischen Heeres. Obwohl Willehalm seine Bewährungsprobe bestanden und fünfhundert christliche Ritter aus der Gefangenschaft befreit hat, fordert Giburg noch einen Beweis, um seine Identität zweifelsfrei feststellen zu können. So muss der Markgraf seine deformierte Nase entblößen, bevor sie ihn freundlich aufnimmt. Von Willehalm erfährt Giburg zu ihrem Leidwesen, dass alle ihr nahestehenden christlichen Ritter gefallen sind und Terramer selbst sich dem Kriegszug angeschlossen hat: mir hât dîn vater Terramêr / gevrumet mangiu herzesêr, / und tuot noch ê er’z lâze. / mîn vlust ist âne mâze. (94,1–4) Die Rede des Markgrafen lässt sich auf die Formel, dîn vater – mîn vlust, reduzieren und erhält durch die gegensätzliche Zuordnung des Ehepaares zum Geschehen ihre Spannung. Trotz ihres Wissens um die unbesiegbare militärische Stärke der Heiden will Giburg sich keinesfalls ergeben, sondern die Belagerung Oranges auf sich nehmen. Während das heidnische Heer vor der Stadt ein Lager errichtet, versorgt sie in einer Kemenate den verletzten Willehalm. Auf den Markgrafen übt ihre Liebesvereinigung eine heilsame Wirkung aus, wohingegen für Giburg das Leid selbst in dem kurzen Moment

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beglückender Zweisamkeit präsent bleibt: si dâhte an sîne arbeit / und an sîn siuftebaerez leit / und an sîn unvuoge vlust. (100,21–23) In ihrer Not wendet sie sich an Gott, dessen Stärke und Macht sie preist, bevor sie an sein Erbarmen appelliert. Ihm klagt sie die großen Verluste, die Willehalm an seinem künne (101,14) und sie selbst an Gefolgsleuten und vriunden (vgl. 102,7) erlitten habe.127 Mit dem Unsagbarkeitstopos, alle existierenden Sprachen der Menschheit seien nicht imstande, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, stellt Giburg die Größe ihres Schmerzes heraus und wünscht sich gar, daz sich kürze nû mîn leben (101,19). Willehalm vermag es jedoch, ihr Trost zu spenden. Mit ihrem Einverständnis beschließt er, am Hof des französischen Königs, seines Schwagers, Hilfe zu holen. Giburgs letzte Gedanken vor dem Abschied gelten der Sorge, Willehalm könne sie auf seiner Reise vergessen und ihr untreu werden. Inständig bittet sie ihn, denke an die triuwe dîn (104,18), und ruft in Erinnerung, waz ich durh dich liez: / daz man mich ze Arâb hiez / al der vürsten vrouwe! (104,23–25) Wenngleich dieser Appell auf der Handlungsebene merkwürdig erscheint, nachdem sich ihre Liebesgemeinschaft im Angesicht unermesslichen Leids gerade neu bewährt hat, muss ihr doch ein tieferer Sinn zugestanden werden.128 Die Vorstellung eines sich mit hübschen Französinnen vergnügenden Ehemannes liefert eine Kontrastfolie, vor der sich das Bild der hilflosen Markgräfin, die sich in Orange ihrer Angreifer erwehren muss, umso deutlicher abzeichnet. Giburgs Sorge, die von Willehalm sofort entkräftet wird und sich im Handlungsverlauf als völlig unbegründet erweist, reflektiert die soziale Grenzsituation. Nachdem ihr bêâs amîs (101,27) Vivianz und alle treuen Gefolgsleute gefallen sind, steht der Protagonistin nun mit der zumindest zeitweiligen Trennung von Willehalm eine völlige Isolation bevor. In diesem Moment äußerster Not wirft Giburg ihren erlittenen gesellschaftlichen und materiellen Verlust in die Waagschale. Während Willehalm bei seiner Reise nach Munleun diverse Herausforderungen zu bestehen hat und nur mit Mühe eine Hilfszusage des Königs erhält,129 vergrößert sich Giburgs Bedrängnis. In direkter Konfrontation muss sie sich gegen ihren Vater stellen, der sie mit dem Tod bedroht _____________ 127 Zu Giburgs Trauer als ein Mit-Leiden mit Willehalm vgl. Koch, Trauer, S. 147. 128 In der Forschung wird die Stelle unterschiedlich interpretiert. Während Meissburger (Gyburg, S. 82–84) Giburgs fehlendes Vertrauen gegenüber Willehalm wie Gott problematisiert, betont Schnyder (Einsamkeit, S. 515), dass sie „verletzliches Objekt verschiedenster Machtkonstellationen“ sei und um die Gefährdetheit ihres Opfers in der Welt sehr wohl wisse. Das fortgeschrittene Alter, dessen sich die Protagonistin bewusst sei, bietet – gegen Schumacher (Auffassung der Ehe, S. 146–149) – wohl kaum eine befriedigende Erklärung. 129 Zu den konfliktreichen Familienbeziehungen vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 346f.; Gerok-Reiter, Individualität, S. 227–235; Kiening, Reflexion, S. 190–205; Przybilski, Verwandtschaft, S. 228–238.

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und ihr die Aussichtslosigkeit ihrer Lage vor Augen führt. Giburgs schwierige Situation spiegelt sich auch in der Tageszeit; diu rede ergienc bî einer naht (110,9).130 Nachdem fast ihr ganzes kleines Heer gefallen ist, vermag sie nur mit einer List, den Schein der Wehrhaftigkeit aufrechtzuerhalten. Erst in der Retrospektive berichtet Wolfram, dass Giburg in der Zeit des bangen Wartens selbst dicke wâpen truoc (215,7). Später wird sie ihrem Schwiegervater Heimrich unter Tränen erzählen, dass sie – mit Ausnahme einiger edler Minneritter und ihres Sohnes Ehmereiz – von allen Heiden, vor allem von ihren zehn Brüdern und Tibalts ganzer Sippe, angegriffen worden ist. Auf der Handlungsebene werden weniger Giburgs Kampfhandlungen als die Wortgefechte dargestellt, die sie gegen ihren Vater zu bestehen hat.131 Terramers Versuchen, sie von der Unsinnigkeit ihres Verhaltens zu überzeugen, entgegnet die Protagonistin, indem sie sich zum christlichen Gott bekennt und die Heldentaten des Markgrafen rühmt. In dem zweiten Gespräch mit ihrem Vater stellt sie ihren freiwillig gewählten Statusverlust heraus und demonstriert so den Ernst ihrer Entscheidung: ich was ein küniginne, swie arm ich urbor nu sî. ze Arâbîâ unt in Arâbî gekroent ich vor den vürsten gie, ê mich ein vürste umbevie. (215,26–30)

Freiwillig erklärt Giburg sich bereit, auf ihr Erbteil zugunsten ihres ersten Mannes und ihres Sohnes zu verzichten, und bittet ihren Vater: lâze mich mit armuot leben! (221,26) Wenn sich die frühere Königin wiederholt auf ihre jetzige armuot beruft (vgl. 216,2), dann ist diese Aussage nicht nur in Relation zu ihrem einstigen Reichtum zu sehen. Verlassen von allen Gefolgsleuten und ihrem Mann, von der heidnischen Übermacht und ihrem Vater bedrängt, beinhaltet der Begriff mehr als die Reduzierung ihres „Landbesitz[es] bzw. aus diesem erwachsende[r] Einkünfte“.132 Giburgs Entschluss zur armuot findet in ihrer existentiellen Notlage seine Erfüllung _____________ 130 Zur Bedeutung der Tageszeiten in der mittelalterlichen Literatur und ihrer Verknüpfung mit Kategorien wie ‚Öffentlichkeit‘ versus ‚Heimlichkeit‘ vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen, S. 107–110. 131 Wolfram betont, dass Giburg im Unterschied zu Camilla nicht mit dem Pferd gekämpft habe. Er distanziert sich von ihren Heldentaten, indem er auf die übergeordnete Instanz der Geschichte verweist: Gîburc streit doch ze orse niht: / ditze maere ir anders ellen giht, / daz si mit arembrusten schôz / unt si grôzer würfe niht verdrôz (230,1–4). Dagegen wird gleich an zwei Stellen von Giburgs List berichtet (vgl. 111,17–25, 230,5–10), Gefallene an der Burgzinne zu postieren und diese wie Marionetten zu bewegen. Die toten Ritter erfüllen eine Stellvertreterfunktion, um die weibliche Hauptfigur nicht selbst im Kampf zu zeigen. 132 Vgl. Heinzle, Kommentar, S. 979. Zur armuot als Leitmotiv vgl. Ruh, Höfische Epik, Bd. 2, S. 177; Schröder, Armuot, S. 520–524.

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und Bewährung. Mit verschiedenen Mitteln, hiute vlêhen, morgen drô (222,2), setzt Terramer seine Tochter unter Druck. Zu seiner Taktik gehören Mitleidsappelle und Todesdrohungen, bei denen er Giburg zynisch die Wahl zwischen drei Hinrichtungsarten überlässt (vgl. 109,22–29). Er umwirbt seine Tochter, indem er sie mit ihrem Taufnamen anspricht: ei süeziu Gîburc (217,15). Er betont, wie viel sie ihm noch immer bedeute, jâ gieng ich vür dich an den tôt (217,18), und er führt ihr die tödlichen Konsequenzen ihres Handelns vor Augen, wenn er alle gefallenen Verwandten aufzählt. Obwohl seine Worte Giburg nicht unberührt lassen, gelingt es Terramer nicht, sie in gewünschter Weise zu beeinflussen. Seine strategisch letzte Möglichkeit ist der Sturmangriff auf Orange, den Giburg nur im Inneren der Burg überleben kann. sô lât’z iu erbarmen doch durh got (112,2), wirbt der Erzähler angesichts dieser schlimmen Bedrängnis um die Anteilnahme der imaginierten Rezipienten.133 Bei Willehalms Rückkehr in die brennende Stadt hält Giburg das Reichsheer für ein feindliches Aufgebot und legt sogleich ihre Rüstung an. Ihre Statusminderung wird dabei erneut aktualisiert. Zu dem Verzicht auf ihre frühere Machtstellung, der durch ihre Bezeichnung als Königin präsent gehalten wird, tritt die Verkehrung der sozialen Ordnung:134 harnasch muose wider an ir lîp. / manlîch, ninder als ein wîp, / diu künegîn gebârte. (226,29– 227,1) Vollständig gewappnet und mit erhobenem Schwert wird der Markgraf von seiner Frau begrüßt, bis sie ihn erkennt und, verzögert durch eine Ohnmacht, in das Tor einlässt.135 Die mehrwöchige Trennung hat am Körper beider Figuren sichtbare Spuren hinterlassen, die das freudige Wiedersehen als Ausnahmesituation kennzeichnen; unrasiert küsst Willehalm die vom Rost beschmutzte Giburg. Der Kontrast zwischen ihrer früheren und gegenwärtigen Position könnte kaum wirksamer inszeniert werden als durch das Bild der gewappneten Markgräfin, in welche sich die gekrönte Königin verwandelt hat. Diese gesellschaftliche Provokation einer Waffen führenden Frau muss denn auch schnellstmöglich beseitigt werden, bevor Willehalms Verwandte und die christlichen Fürsten empfangen werden können. _____________ 133 Wie mit Hilfe narrativer Techniken Mitleid erzeugt werden kann, ist Gegenstand von Barthels (Empathie) Studie. Sie unterscheidet die Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz von den Ebenen des epischen Berichts und der Figurenrede. Die zitierten Verse ordnet Barthel der Kategorie „Mitleidförderung über expliziten Imperativ“ zu; der Erzähler suche über einen Appell, die gewünschte Rezeptionsreaktion hervorzurufen (vgl. S. 175f.). 134 Vgl. auch Schäufele, Normabweichendes Rollenverhalten, S. 92–97. 135 Schnyder (Einsamkeit, S. 517f.) stellt heraus, dass die „Leere der Ohnmacht“ einen Wechsel von Giburgs männlichem zum weiblichen Rollenverhalten, „den Übergang von der Dienerin Gottes und Glaubensheldin zur Dienerin Willehalms und liebenden Frau, vom manlîch wîp zum wîplich wîp“, ermögliche.

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Nachdem die höfische Ordnung wiederhergestellt ist, heißen der Markgraf und seine Frau ihre Gäste willkommen und richten ein Festmahl für sie aus. Heimrich wird mit der Ehre ausgezeichnet, neben seiner Schwiegertochter zu sitzen. Wie schon in der ersten Kemenatenszene mit Willehalm bietet eine Situation des vertrauten Zusammenseins und vorläufigen Friedens Giburg Gelegenheit, ihr Leid zu beklagen. Das Gespräch eröffnet Heimrich, der seiner gedienten tohter (250,25) für ihre triuwe, wîpheit (251,13) und staete (251,17) gegenüber seiner Sippe innig dankt und sie allen Frauen als Vorbild empfiehlt. Auf seine Bitte, ihre Trauer zu mäßigen, antwortet Giburg mit einer großen Klagerede. Sie beweint nicht nur daz wît gemezzen leit (253,1) und die zahlreichen Toten auf beiden Seiten, sondern schildert auch die erfahrenen Bedrängnisse durch ihre eigene Familie.136 Ihr Bericht vom Entschädigungsangebot ihres Sohnes Ehmereiz erhält angesichts der christlichen Geiseln, unter denen sich ein Enkel Heimrichs befindet, eine aktuelle Bedeutung. Willehalms Verwandte reagieren jedoch auf die Option eines Geiseltauschs nicht anders als Giburg mit ihrer früheren Weigerung, sich auslösen zu lassen, und erklären die Verteidigung der Markgräfin zu einer gemeinsamen Familienangelegenheit. Bei der Fortsetzung des vertrauten Gesprächs mit ihrem Schwiegervater erzählt Giburg von ihrer Belagerung, bis sie erneut zur Mäßigung ihres Jammers angehalten werden muss. Vor der Entscheidungsschlacht auf Alischanz versammeln sich alle Fürsten zu einer Beratung, an der auch Giburg teilnehmen darf. Willehalm hält eine flammende Rede, in der er die Kriegsverbrechen der Heiden schildert, zur Verteidigung des christlichen Glaubens aufruft und himmlischen Lohn in Aussicht stellt. Nachdem ihm von seiner Sippe Unterstützung zugesichert worden ist, ergreift die Markgräfin das Wort. Erneut betont der Erzähler ihre verhängnisvolle Rolle, durh Gîburge al diu nôt geschach (306,1), bevor die Protagonistin aufzeigt, welche Konsequenzen für sie persönlich aus dieser Deutung erwachsen sind: der tôtlîche val, / der hie ist geschehen ze bêder sît, / dar umbe ich der getouften nît / trag und ouch der heiden (306,12–15). Weil sie sich von den heidnischen Göttern abgewendet habe, reflektiert sie, des trag ich mîner mâge haz (310,5). Die Christen hingegen unterstellten ihr, selbstsüchtig gehandelt zu haben: und der getouften umbe daz: / durh menneschlîcher minne gît, / si waenent, daz ich vuogete disen strît. (310, 6–8) Giburgs Selbsteinschätzung stimmt mit den Urteilen überein, die im Handlungsverlauf von verschiedenen Figuren gefällt worden sind,137 und _____________ 136 Zur Trauer als performativem Akt kollektiver Identitätskonstitution vgl. Koch, Trauer, S. 150–158. 137 So wirft Ehmereiz, nicht nur Willehalm vor, seine Mutter verzaubert, sie den Göttern entfremdet und seiner Sippe große Schande zugefügt zu haben, sondern erklärt auch, immer gein ir haz (75,17) zu tragen. Von Tibalts Gefolgsleuten wird sie verwünscht: daz Arabel,

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zeigt, dass sie sich ihres schlechten Ansehens völlig bewusst ist. Indem sie auf ihre frühere Lebenssituation verweist, um sich gegen den Vorwurf einer leichtfertigen Entscheidung zu wehren, tritt der Kontrast zwischen dem Status der Königin und einer Markgräfin erneut offen zutage: dêswâr, ich liez […] dort, / […] grôzer rîcheit manegen hort (310,9f.). Mit Blick auf ihre Lebens- und Liebesgeschichte, die sich in der Retrospektive aus zahlreichen Andeutungen rekonstruieren lässt, sollte Giburgs Rede vor dem Fürstenrat nicht nur hinsichtlich ihres theologischen Gehalts gewürdigt und gar zu einem Toleranzprogramm verklärt werden.138 Vielmehr thematisiert die Figurenrede öffentlich die Problematik sozialer Verachtung und markiert somit den gesellschaftlichen Tiefpunkt im Leben der Protagonistin, wie auch das Ende deutlich macht: Giburgs Trauer über ihre eigene Notlage und die Verluste ihres Mannes lässt die religiöse Argumentation zugunsten ihrer heidnischen Verwandten in den Hintergrund treten; ihre Worte ersticken in Tränen. Die von den Fürsten in ganz Arabien verehrte Königin hat sich freiwillig zur Markgräfin deklassiert, leidet jedoch unter den Folgen ihres Schritts, insbesondere ihrer gesellschaftlichen Ächtung im Orient wie im Okzident. Aus der angesehenen und mächtigen Königin ist eine verhasste Konvertitin geworden. Mit Giburgs Klage um die gefallenen Christen und dem Bekenntnis, vür wâr, mîn vreude ist mit in tôt (310,29), endet ihr Auftritt in Wolframs Werk. Die Fürstenversammlung löst sich auf, ohne dass Giburgs Schonungsappell und ihre Selbstanklage eine Erwiderung finden; nur einer der Brüder des Markgrafen, der ihr etymologisch verwandte Gibert, drückt mit einer Umarmung sein Mitgefühl aus. Wortlos und weinend verabschiedet sie sich von den christlichen Kämpfern. Ob es dem Einfluss von Giburgs Rede zuzuschreiben ist, dass Willehalm nach dem Sieg der Christen am zweiten Schlachttag die heidnischen Könige ehrenvoll bestatten lässt, bleibt hypothetisch.139 Wie die Markgräfin auf das Ende der kriege_____________ mînes herren wîp, / ie von brüsten wart genomen, / daz mac uns wol ze unstaten komen (336,4–6), meint etwa der Burgvogt von Cler. Auf christlicher Seite unterstellt die französische Königin ihrem Bruder rein persönliche Motive: nû wil er aber ein niuwez her, / daz gein den heiden sî ze wer / vür der küneginne Gîburge minne. (129,25–27) 138 Vgl. Schröder, Toleranzgedanke. – Nach Bertau (Über Literaturgeschichte, S. 102) kommt in Giburgs Rede „das Unerhörte, der humanitätsgeschichtlich neue Gedanke“ zum Tragen. Heinzle (Kommentar, S. 800f.) präsentiert den ‚Willehalm‘ als ein Werk gegen die „mörderisch intolerant[e] Kreuzzugsideologie“ und eines „der großen Dokumente der Menschlichkeit“. – Kritik an dieser Deutung übt Fasbender (Programmschrift). 139 Nach Greenfield/Miklautsch (Einführung, S. 160) scheint Willehalm Giburgs Schonungsgebot hier sogar zu übertreffen; der Markgraf werde selbst zum Träger der Botschaft. Bumke (Wolfram von Eschenbach, S. 372) lehnt diese Vorstellung ab. Der fragmentarische Text lasse nicht sicher erkennen, dass sich Willehalm Giburgs Position annähere. – Von der Beurteilung dieser Szene hängt ab, wie die Frage nach einer Entwicklung des Helden beantwortet wird. Anhänger dieser These kontrastieren Willehalms großmütiges Verhalten

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rischen Auseinandersetzungen reagiert und ob sich ihr Selbstbild oder die Fremdbeurteilung verändern, ist im ‚Willehalm‘ nicht mehr dargestellt. Durch den Fragmentcharakter des Werks bleibt auch offen, wie sich Giburgs Beziehung zu ihrem noch unerkannten Bruder Rennewart entwickeln wird. Zu dem jungen Heiden in Willehalms Heer fühlte sich Giburg mehrfach hingezogen, ohne sich ihre Gefühle erklären zu können: mîn herze mich des niht erlât, / ich ensî im holt, ich enweiz durh waz (272,28f.).140 Dass Rennewarts Verschwinden Giburgs Leid vergrößern würde, steht nach dem Knüpfen einer ersten Herzensbindung außer Frage. Handlungsmotive: sippe, minne und Religion Giburgs wesentliche Handlungsschritte gehören zu Beginn der Erzählung bereits der Vergangenheit an. Deren Auswirkungen beeinflussen das aktuelle Geschehen jedoch deutlich, immer wieder werden sie im Handlungsverlauf in Erinnerung gerufen und reflektiert. Zwar klingen an einzelnen Stellen weitere mögliche Ursachen für den Krieg zwischen Heiden und Christen an, etwa Willehalms Enterbung, Terramers machtpolitische Ambitionen oder ein religionsideologischer Kreuzzug des französischen Königs. Dennoch lässt Wolfram keinen Zweifel daran, dass Giburgs Konversion den konkreten Auslöser für die Schlacht auf Alischanz liefert. Prekär ist Giburgs Handeln vor allem wegen ihrer familiären Herkunft, ihrer ehelichen Verbindung und ihrer hohen sozialen Stellung als arabische Königin. Ihre Entscheidung zur Flucht aus der Heimat zu begründen und mit sämtlichen Mitteln entweder rückgängig zu machen oder zu verteidigen, ist die zentrale Intention aller Protagonisten. Die Perspektive, aus der die Figuren das zurückliegende Ereignis beurteilen, variiert und ist sowohl von dem eigenen Standpunkt als auch von der jeweiligen Gesprächssituation abhängig. Zwei konkurrierende, aber zugleich reziproke Motive werden im Handlungsverlauf immer wieder für Giburgs Entschluss angeführt: die Liebe zu Willehalm und die Hinwendung zum christlichen Gott. Die Ausgestaltung des Minnemotivs, die sich vor allem in den neu hinzugefügten Szenen vertrauter Zweisamkeit des _____________ gegenüber den toten Heidenkönigen am Ende der zweiten Schlacht mit seiner unbarmherzigen Tötung Arofels am ersten Kampftag (vgl. den Forschungsüberblick von Rushing, Arofel’s Death) und heben die ‚Toleranz‘ und ‚Humanität‘ dieser Szene hervor (vgl. Mergell, Wolfram von Eschenbach, Bd. 1, S. 173; Schröder, Toleranzgedanke, S. 413). 140 Nur die Ähnlichkeit zu einigen Angehörigen ihrer Familie fällt ihr auf. Obwohl Giburg sich als frühere Frau Tibalts und Rennewart sich indirekt als dessen Schwager zu erkennen geben, wird ihr Verwandtschaftsverhältnis nicht aufgelöst. Der Erzähler, der eine Ebenbildlichkeit der beiden Figuren konstatiert, weist explizit darauf hin: der vrouwen tet ir herze kunt / daz si niht ervuor wan lange sider. (291,2f.)

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Markgrafenpaares zeigt, gehört zu Wolframs wesentlichen Änderungen; auf diese Weise wird die personale Komponente des religionspolitischen Konflikts stärker akzentuiert.141 Schon als der Erzähler anfangs die Vorgeschichte skizziert, verweist er auf Giburgs doppelte Motivation, sich zum christlichen Glauben zu bekehren: diu edel küniginne, / durh liebes vriundes minne / und durh minne von der hoehsten hant / was kristen leben an ir bekant. (9,17–20) Diese Darstellung der auktorialen Erzählinstanz gibt den Deutungshorizont für alle späteren Interpretationen vor. Eine klare Hierarchie wird weder vom Erzähler noch von der betroffenen Figur hergestellt, ihre Gewichtung der Motive wechselt mehrfach.142 Wie sich die Position des Sprechers in seiner Bewertung von Giburgs Verhalten niederschlägt, zeigt das Beispiel des heidnischen Minneritters Tesereiz. Als sich der Markgraf, getarnt durch Arofels Rüstung, aus der verlorenen Schlacht zurückziehen will, erregt er die Aufmerksamkeit des edlen Heiden. Dieser bietet ihm seinen Beistand an, sofern er der Markgraf sei und bewirkt habe, daz diu Arâboisinne / Arabel durh dîne minne / rîchiu lant und werde krône / dîner minne gap ze lône (86,9–12). Da Tesereiz selbst im Dienst von Frauen erfahren und erfolgreich ist, hält er Giburgs Liebe zum Markgrafen für das einzige Motiv, das sie zum Verzicht auf ihr Königtum bewegt haben kann. Die gleich zweimal erwähnte minne Willehalms wiegt nach Ansicht des Minneritters alle anderen Werte auf. Eine ähnliche Position scheint der Erzähler zu vertreten, wenn er Terramer in einem frühen Kommentar scharf dafür kritisiert, daz in des niht genuoget, / des sîne tohter dûhte vil (11,20f.). Seine fiktive persönliche Bemerkung, swen mîn kint ze vriunde erkür, / ungerne ich den ze vriunt verlür (11,23f.), verdeutlicht, dass der Erzähler Giburgs Entscheidung hier auf die Dimension der Geschlechterliebe reduziert. Da Willehalm ein so vortrefflicher Mann gewesen sei, entbehre das Verhalten seines Schwiegervaters jeder Grundlage: sîn sweher hazzete in ân nôt. (11,30) Mit der rhetorischen Frage, wie tet der wîse man alsô? (12,8), setzt der Erzähler seine Argumentation fort. Schließlich hätte Willehalm ebenso großen Anspruch auf Terramers Un_____________ 141 Zur Bedeutung der Minne allgemein vgl. Bumke, Wolframs Willehalm, S. 169–180; Kiening, Reflexion, S. 169–177; Miklautsch, Minne; Ortmann, Utopischer Gehalt. 142 Bumke (Wolframs Willehalm) stellt stärker die Einheit der Motive heraus. Der Gegensatz zwischen paradiesischer und irdischer Ehe sei aufgehoben und die Ehe eng auf die Gottesliebe bezogen (vgl. S. 177). Deshalb schreibt er der ehelichen Liebe auch „beseligende, erlösende Kraft“ zu und geht von einer unlöslichen Verknüpfung von Giburgs Liebe zu Willehalm und ihrer Liebe zu Gott aus. „[I]n der Liebesvereinigung der Gatten […] sind irdische und himmlische Liebe zur vollkommenen Einheit verschmolzen.“ (S. 180) – Dass Giburgs Liebe zu Gott und ihre Liebe zu Willehalm eine untrennbare Einheit bilden, betonen auch Greenfield/Miklautsch (Einführung, S. 199) und Brinker-von der Heyde (Gyburg, S. 344), nach deren Aussage weltliche und göttliche Minne eine chiastische Verschränkung erfahren.

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terstützung wie Tibalt, weil er mit ihm im selben Verwandtschaftsverhältnis stünde: si wâren im sippe al gelîche (12,9). Giburgs beidseitige eheliche Bindungen verleihen der Schlacht auf Alischanz ihre besondere Brisanz, handelt es sich bei dem Religions- doch zugleich um einen Sippenkonflikt. Dass die Kritik an Terramer wegen der ungerechtfertigten Bevorzugung seines ersten Schwiegersohns nicht berechtigt ist, zeigt dessen spätere Erklärung gegenüber Giburg. Demnach gab nicht ihre Liebe zu Willehalm, sondern allein ihr Übertritt zum christlichen Glauben den Ausschlag für seine Beteiligung am Heereszug. Ziel seiner Kriegsführung ist, wie Terramer vor dem ersten verbalen Schlagabtausch unmissverständlich erklärt, daz ich den ungelouben rach, / den man von mînem kinde sprach, / Arabeln, diu Tîbalde enpfuor. (107,23–25) Im zweiten Gespräch mit Giburg, als Terramer seine Aggressionsstrategie aufgibt und ihr Mitgefühl zu erregen sucht, legt er die Ursache seines Handelns offen. Tibalts Drängen habe er sich so lange widersetzt, bis ihn die heidnischen Priester dazu verpflichteten, die abtrünnige Königin zurückzugewinnen. Die wiederholte Akzentuierung von Giburgs Glaubensabfall entspricht Terramers Überzeugung, dass Religion und Sippe eine Einheit bilden. Aufgrund dieser Zusammengehörigkeit kann er seine Tochter anflehen: sô êre dîn geslehte / unt tuo den goten rehte! (217,29f.) Als Giburg zum ersten Mal selbst ihre Sichtweise darstellen darf, scheint sich diese zunächst mit der Terramers zu decken. dô ich der Arboise lant / und den künec und des kint verliez / und der touf den ungelouben stiez / von mir und daz ich kristen wart (102,14–17), erinnert sie an die Umstände ihrer Flucht. Auch wenn sie nicht ausdrücklich einen kausalen Zusammenhang herstellt, so legt die chronologische Präsentation der Ereignisse doch nahe, dass Giburg ihren Übertritt zum Christentum als entscheidenden Grund für ihr Unglück betrachtet: nû hât mînes vater nâchvart / mir disiu herzesêr getân. (102,18f.) Berücksichtigt man den Adressaten ihrer Rede, ist verständlich, weshalb ihre Liebe zu Willehalm in diesem Kontext nur eine untergeordnete Rolle spielt: Giburg wendet sich an Gott und klagt ihm die Verluste, die ihr Geliebter wegen ihrer Bekehrung erlitten hat. Im Gebet beruft sich Giburg vor allem auf das Motiv, das sie mit Gott verbindet und ihn zur Hilfe verpflichten könnte. Wenig später, als ihr Gesprächspartner wechselt, ändert sich auch ihre Argumentationsstrategie. Gegenüber Willehalm gibt Giburg ihre Liebe als entscheidenden Grund für ihren Verzicht auf die Krone an: denke, waz ich durh dich liez (104,23) und waz ich durh dich hân erliten (104,13), ermahnt sie den Markgrafen, ihr bei seiner Reise nach Munleun die Treue zu halten.143 _____________ 143 Ob der Willehalm-Stoff bei Wolfram tatsächlich zu einem „Hohenliede ehelicher Liebe“ geworden ist, wie Schröder (Süeziu Gyburc, S. 43) meint, ist angesichts der Gleichrangigkeit

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Während Giburg also die Akzentuierung ihres Motivs vom jeweiligen Gesprächskontext abhängig macht, sei es das Gebet zu Gott oder der Dialog mit dem Minnepartner, ist sie im Gespräch mit ihrem Vater weniger an eine bestimmte Argumentation gebunden. Daher ist es besonders aufschlussreich, wie Giburg ihre Handlungsweise gegenüber Terramer begründet. Wie oft ihr Vater sie auch zu überzeugen sucht, bleibt sie standhaft und legt ihm gegenüber ein Bekenntnis ihres neuen Glaubens ab. si sprach: „ich hân den touf genomen / durh den, der al die krêatiure / geschuof […].“ (215,10–12) Weil die Protagonistin den christlichen Gott für den Schöpfer allen Seins hält, weigert sie sich, zum heidnischen Glauben zurückzukehren. Indem Giburg sich selbst zu Gottes Geschöpfen zählt und herausstellt, der selbe hiez mich werden (215,14), erteilt sie ihrem Vater implizit eine Absage, aufgrund seiner übergeordneten gesellschaftlichen und genealogischen Position über sie verfügen zu können. Nicht Terramer, sondern Gott hat sie ins Leben gerufen und darf Anspruch auf sie erheben; die Sippenbindung hat ihre Verbindlichkeit eingebüßt, wird der Religion nachgeordnet und durch eine geistlich begründete Verwandtschaft ersetzt.144 Erst an zweiter Stelle, jedoch eng verknüpft mit ihrer religiösen Entscheidung, erwähnt Giburg auch Willehalm; er habe für ihre Minne zahlreiche Heldentaten vollbracht und leiste ihr treue Dienste. Aus beiden Gründen, hält sie in einem Zwischenresümee fest, habe sie ihre soziale Degradierung auf sich genommen: durh den hân ich mich bewegen / daz ich wil armuot pflegen, / und durh den, der der hoehste ist. (216,1–3) Da Giburg ihre Ausführungen nicht an dieser Stelle beendet, gerät das relative Gleichgewicht beider Motive außer Kraft. Ihre Rede mündet in eine religiöse Gegenüberstellung zwischen Tervagant und Altissimus, die zugleich als Credo und Katechese fungiert. Aus ihrem Glauben empfange sie die Stärke, alles Leid auf sich zu nehmen, so macht sie ihrem Vater unmissverständlich klar. Gott allein sei in der Lage, sie für alle Entbehrungen und Verluste zu ergetzen (216,27). Die Anstrengungen ihrer Sippe seien daher vergeblich: ir verlieset michel arbeit, / dû, vater, und ander mîne mâge (216,30f.). Als Terramer sich auf die religiöse Erörterung eingelassen, das Seelenheil seiner Tochter seinerseits in Frage gestellt und sie zur Bekehrung aufgerufen hat, legt Giburg die christlichen Glaubenslehren genauer dar. Sie würdigt Christus als den Erlöser der Menschheit und fordert ihren Vater auf, ebenfalls seine Huld zu suchen. Noch einmal wechseln Rede und Gegenrede, ohne dass sich die Positionen annähern: Terramer zweifelt an der _____________ der Motive von Gottes- und Geschlechterliebe, aber auch angesichts von Tibalts Vorbildlichkeit fragwürdig. Vgl. auch Kiening, Wolfram von Eschenbach, S. 221. 144 Zur Konkurrenz von genealogischem und religiösem Sippenbegriff vgl. Gerok-Reiter, Individualität, S. 234.

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Macht eines Gekreuzigten und appelliert an seine Tochter, sich zu bekehren. Giburg wiederum ist von ihrem Glauben nicht abzubringen und verkündet die Göttlichkeit des Menschen Jesus. Dann jedoch nimmt ihre Argumentation eine Wende, die im seltsamen Kontrast zur vorherigen Schwerpunktsetzung, der klaren Dominanz der religiösen Thematik und Giburgs demonstrierter Glaubensstärke steht. möhten hôher sîn nû dîne gote (220,1), gesteht die Protagonistin ihrem Vater zumindest hypothetisch zu, so wolle sie doch bis zu ihrem Tod dem tapferen Markgrafen treu bleiben. Nachdem ihr Versuch gescheitert ist, dem Vater ihre religiöse Motivation einsichtig zu machen, verweist sie erneut auf ihre Minne zu Willehalm, dessen Verdienste Terramer an keiner Stelle anzweifelt. Dementsprechend ruft Giburg in Erinnerung, zu welchem Ansehen der Markgraf in Arabien gelangte, wie sie seine Heldentaten durch seine Befreiung aus der Gefangenschaft lohnte und mit ihm ins Land der Christen ging. Im Gedanken an ihre Flucht gewinnen jedoch wieder beide Motive gleiche Bedeutung: ich diente im und der hoesten hant. (220,30) Die Gottergebenheit ist für Giburg ein so wichtiger Entscheidungsgrund, dass sie noch einmal eine Konfrontation in Religionsfragen mit Terramer provoziert: mînes toufes schôn ich gerne. (221,1) Im Dialog mit ihrem Schwiegervater kommt es erneut zu einer Akzentverschiebung. Als sich Heimrich von Narbonne und Giburg das erste Mal begegnen, wird das weltliche Minnemotiv einseitig betont. Das Gespräch eröffnet Heimrich, der Giburg für ihre Treue ausgiebig dankt und über seinen Sohn eine Verbindung zu seiner ganzen Sippe herstellt: swes sich vriunt ze vriunden sol versehen, / des mac mîn sun, der markîs, jehen, / unt sîne mâge über al. (251,28f.) Heimrich lobt das Verhalten seiner Schwiegertochter, ir habt der minne ir reht getân (252,15), und erhebt es zum Exempel; alle Männer könnten daran erkennen, dass sich Minnedienst lohne. Giburgs Gegenleistung für Willehalms Dienst übersteigt mit Statusverzicht, Rolleninversion und Kampfbeteiligung den üblichen Umfang höfischen Minnelohns bei weitem. Aus diesem Grund hat sie wiederum Anspruch auf Erhörung, zu der auch der Vater des Markgrafen verpflichtet ist. Ausdrücklich wird die Protagonistin als sîne gediente tohter (vgl. 250,25) bezeichnet. In ihrer ausführlichen Antwort orientiert sich Giburg ganz an der von Heimrich vorgegebenen Deutungsmaxime. Dabei beweist die erzählte Zurückweisung des Versöhnungsangebots ihres Sohnes, dass Giburgs Trennung von ihrer genealogischen Familie endgültig ist. Die metadiegetische Rede demonstriert – vor Heimrich wie vorher vor Ehmereiz – ihren festen Entschluss, sich dauerhaft an Willehalm zu binden: zem marcgrâven hân ich muot: / niemen mac geleisten sölh guot, / daz mich von im gescheide. (257,27–29) Erst nachdem über die Liebe zu Willehalm eine Beziehung zwischen Heimrich und Giburg geknüpft worden ist, kommt auch das zweite

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Handlungsmotiv zum Tragen. Mit ihrem gemeinschaftlichen Dank bestätigen Heimrich und seine Söhne Giburgs Verhalten ungeachtet aller Opfer als richtig und weisen auf ihr doppeltes Verdienst hin: und sprâchen, si hete den hoehsten got und ir vil werden minne mit wîplîchem sinne an dem marcgrâven geêret und ir saelekeit gemêret. (260,6–10)

Aufs engste werden die beiden Motive, Bekehrung zu Gott und Treue zu Willehalm, hier miteinander verbunden. Giburgs Handeln wird als Gottesund Liebesdienst interpretiert, der zur eigenen Seligkeit führt. Aus der Erwähnung Gottes im Eingang der Rede könnte eine Rangfolge abgeleitet werden, wäre nicht der größere Umfang der Verse dem Markgrafen gewidmet. Indem der religiöse Aspekt am Ende wieder aufgegriffen wird, erfolgt durch die Sperrung eine umso engere Verschränkung zwischen Gottes- und Geschlechterliebe; beide scheinen in gleicher Weise himmlischen Lohn zu versprechen. Auffälligerweise gewinnt die metaphysische Dimension von Giburgs Handeln in dem Moment an Bedeutung, als sich der Kreis der Gesprächsteilnehmer erweitert. Darstellungsmittel des distanzierteren Sprechmodus ist der Erzählerbericht, der statt dem vertrauten Dialog in direkter Rede gewählt wird. Wenn Heimrich und seine Söhne Giburgs religiöse Motivation anerkennen, bereiten sie die Ausweitung des Konflikts vor. Die Verteidigung der konvertierten Königin ist nicht nur eine Familienangelegenheit der Heimrich-Sippe, sondern betrifft die gesamte Christenheit. Eine Fortsetzung findet diese Interpretation in der Versammlung vor der zweiten Schlacht, an der sämtliche Fürsten teilnehmen. Als der Markgraf in diesem politischen Gesprächskontext die Motive des Krieges benennt, steht die Verteidigung des christlichen Glaubens im Zentrum seiner Rede. Gemeinsames Ziel der Anwesenden kann nicht sein, Willehalms Liebe zu schützen, sondern den touf und unser ê (297,11) zu verteidigen. Dass es sich bei der heidnischen Invasion um einen ungerechtfertigten und höchst grausamen Angriffskrieg gegen die christliche Welt handelt, dessen Perfidie in dem nahen Verwandtschaftsverhältnis besteht, führt Willehalm seinen Zuhörern eindringlich vor Augen: mîn sweher ist ûf mich geriten, / den getouften wîben sint gesniten / ab die brüste, gemarteret sint ir kint, / die man in gar erslagen sint (297,13–16). Seine religionsideologische und reichspolitische Auslegung gewinnt an Überzeugungskraft und Kohärenz, indem er Giburgs Flucht aus dem Orient in dieses Kriegsbild integriert: daz tet si durh den touf noch mêr, / mit mir danne ir überkêr, / denn durh mîne werdekeit. (298,21–23) Weil Giburgs primäre Motivation in ihrer Bekehrung zum Christentum besteht, die ihre heidnischen Verwandten und vor allem

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Tibalt nicht respektieren, richtet sich der Kriegszug gegen die gesamte christliche Welt. Deshalb kann der Markgraf die Fürsten auffordern, nû êret an mir der meide kint (298,28), und allen Kämpfern himmlischen Lohn in Aussicht stellen. Angespornt durch die Ergebenheitserklärung von Willehalms Vater und seinen Brüdern, machen sich alle Fürsten diese Deutung zu eigen und bereiten sich auf einen Kreuzzug im eigenen Land vor: beidiu arme und rîche / nâmen daz kriuze al gelîche. / ir herzen si gereinden / den hoehsten got si meinden. (304,27–30) In dieser Situation rät Giburg zwar dazu, die Heiden – nach errungenem Sieg – als Geschöpfe Gottes zu verschonen und nicht sinnlos zu töten. Die religiöse Dimension des Krieges stellt sie aber keineswegs in Frage. Wenn die Protagonistin die Fürsten auffordert, daz ir kristenlîch êre mêret (306,19), verstärkt sie diese Schwerpunktsetzung sogar. Ihre große katechetische Unterweisung, weshalb an den Verlierern Barmherzigkeit geübt werden solle, mündet in das Glaubensbekenntnis, dem wahren Schöpfergott statt dem heidnischen Götzen Tervagant zu dienen. Noch einmal legt Giburg Rechenschaft über ihre Entscheidung ab, wobei ihre Erklärung vollständig mit der ihres Mannes übereinstimmt. Anders als die Leute meinten, hätten sie diesen Konflikt nicht durh menneschlîcher minne (310,7) provoziert. Als Beleg weist sie darauf hin, was sie für ihre Flucht aufgegeben habe. Dazu zählen nicht nur materielle Güter und höchste gesellschaftliche Anerkennung, sondern auch eine vergleichbare persönlichethische Bindung: dêswâr, ich liez ouch minne dort / […] / und schoeniu kint (310,9–11). Durch die gemeinsamen Nachkommen gewinnt die Beziehung mit Tibalt an Verbindlichkeit und scheint vor der kinderlosen Ehe mit Willehalm privilegiert. Explizit hebt Giburg die Vorbildlichkeit ihres ersten Mannes heraus, an dem ich niht geprüeven kan, / daz er kein untât ie begienc (310,12f.), und spricht ihn aller untaete vrî (310,16). Diese positive Sichtweise auf den Aggressor der Christenheit, die an dieser Stelle zum ersten Mal zum Tragen kommt, stützt Giburgs Vater wenig später. In seiner Ansprache vor der zweiten Schlacht appelliert Terramer an Tibalts unverzaget[e] manheit (342,9); er erinnert an seine väterlich-fürsorgenden Motive, seine Tochter in jungen Jahren mit ihm zu verheiraten, und betont die Grundlosigkeit ihrer Abwendung. Nach Terramers Aussage übertrifft sein erster Schwiegersohn den Markgrafen nicht nur an Macht, Rang und Reichtum, sondern steht ihm auch hinsichtlich seiner individuellen Vorzüge in nichts nach. Tibalt wird gelobt für seine Milde und Güte, seine ritterliche Gesinnung und seine Schönheit; jede glückliche, gesegnete Frau müsse einen solchen Mann lieben. Diese Figurenzeichnung Tibalts hebt sich gravierend von Wolframs altfranzösischen

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Vorlagen ab145 und ist in der Forschungsliteratur als ein „Stör-“ oder „Irritationsfaktor“ bezeichnet worden,146 der einen subtilen Schatten auf das Verhalten der Protagonistin werfe. Giburgs Entscheidung, ihre „Musterehe“147 mit Tibalt aufzukündigen, wäre in der Tat fragwürdig, diente diese Darstellung nicht dazu, eine klare Gewichtung vorzunehmen. So schließt die Rede der Markgräfin vor dem Fürstenrat mit dem Bekenntnis, Tibalt in erster Linie durh des hoehisten gotes hulde (310,18f.) verlassen zu haben, bevor sie einräumt, ein teil ouch durh den markîs (310,19). Obwohl die beiden Motive eng miteinander verknüpft sind, verschiebt sich ihre Akzentuierung im Handlungsverlauf und gewinnt die Liebe zu Gott zunehmend an Relevanz. Nur diese vermag, eine Aufkündigung der genealogischen Sippenbindung zu legitimieren und für einen geistlichen Ersatz zu sorgen. Forschungsdiskussion: Tragische Weltsicht und schuldlose Schuld Von der traditionellen Kreuzzugsepik unterscheidet sich Wolframs Werk signifikant. Obwohl die heidnische Invasion als ein Angriff auf die Christenheit interpretiert wird und Giburg ausreichend Gelegenheit erhält, von ihrem Glauben Zeugnis abzulegen, wird kein Loblied auf das christliche Martyrium und das machtvolle Eingreifen Gottes gesungen. Stattdessen dominiert die Perspektive des Leids, die nur passagenweise durch den Preis des Schöpfers abgelöst wird. Der ‚Willehalm‘ ist im Gestus der Klage abgefasst, so dass die Beteiligten weniger das befreiende Heilshandeln Gottes, als die tödlichen Konsequenzen eines grausamen Kriegs erfahren. Vor allem die beiden Hauptfiguren bekommen die schrecklichen Folgen ihrer Liebe zu spüren und hadern mit dem Tod ihrer Verwandten, den sie mitzuverantworten haben. Die leidbestimmte Thematik, die Präsentation des Glaubenskampfes als tödlicher Konflikt zwischen engsten Familienangehörigen und das Fehlen eines versöhnlichen Ausblicks haben dazu geführt, dass die Problematik in der Forschungsliteratur als tragisch charakterisiert worden ist. Während sich Katharina Bollinger nicht auf eine Gattungszuschreibung festlegt und nur allgemein von einem tragischen Gedicht spricht,148 _____________ 145 In ‚La Prise d’Orange‘ ist Thiebaut ein eifersüchtiger Ehemann, der einen erheblichen Altersunterschied zu Orable aufweist und keine gemeinsamen Kinder mit ihr hat. Von seinem Sohn aus erster Ehe wird Thiebauts Verbindung mit der jungen Frau als Torheit eines alten Mannes kritisiert, der sich zum Gespött mache. Vgl. Wilhelmsepen, La Prise d’Orange, V. 619–629. Vgl. auch Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 243. 146 Vgl. Gerok-Reiter, Individualität, S. 206; dies., Hölle, S. 175f. 147 Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 243. 148 Vgl. Bollinger, Das Tragische, S. 57.

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grenzt Werner Schröder den ‚Willehalm‘ sowohl von der Gattung der Heldenepik als auch der Legende ab. Seiner Ansicht nach bildet der „als Kreuzzug stilisierte Abwehrkampf gegen heidnische Bedrohung“ nur den „Rahmen für eine Kette von Konflikten, die in den Handelnden ausgetragen“ werden.149 Da sich der Fokus im Unterschied zum Epos auf einzelne Handlungsträger verschiebe, spricht er von einem „Willehalm-GyburgRoman“. Die Klassifikation als Legende scheidet für Schröder deshalb aus, weil Liebe und Leid des Paares im Mittelpunkt stünden, ohne dass die Hauptfiguren eine passio im geistlichen Sinne erlitten. Vielmehr erklärt er, „[d]ieser Versroman von Willehalm und Gyburg […] ist angefüllt mit Tragik, eine potentielle Tragödie“, und spricht demzufolge von dem „tragische[n] Roman von Willehalm und Gyburg“. Weniger um eine Gattungsbestimmung bemüht, als an einer thematischen Einordnung interessiert, ist dagegen die Bezeichnung von Wolframs Spätwerk als einer „Familientragödie“.150 Worin die Tragik des Werks besteht, wird nicht immer differenziert beantwortet. Die Begriffsverwendung speist sich zum Teil aus einem lebensweltlichen Verständnis, indem die ‚Familientragödie‘ eine familiäre Auseinandersetzung mit Todesfolge beschreibt und das Adjektiv ‚tragisch‘ durch ‚traurig‘ ersetzt werden könnte, etwa bei der „tragische[n] Botschaft vom Tod“ des Vivianz oder „the tragic outcome of this religious war“.151 Eine solche Bezeichnung wird oft mit der Intention gewählt, das Übermaß an Leid und Schmerz für die Betroffenen zu betonen. Explizit stellen John Greenfield und Lydia Miklautsch diese Verbindung her, wenn sie erklären, zur eigentlichen Tragik der Dichtung gehöre, dass Giburgs Bekenntnis zum Christentum so bitteres Leid mit sich bringe.152 Ein Übergewicht des Leids auf der Handlungsebene wird auch von anderen Literaturwissenschaftlern konstatiert.153 Christian Kiening erkennt im ‚Willehalm‘ gar ein neues Leidparadigma, das durch die Gegenüberstellung beider Sippen und Heere eskaliere und dessen Unbegreiflichkeit die religiösen Kommentare des Erzählers spiegelten.154 Schröder wiederum identifiziert die Passion der Protagonisten als die durch Leid geprüfte und im Leid bewährte Liebe, wohingegen Bumke den Akzent auf die „Leid-Bestimmtheit des menschlichen Lebens“ insgesamt legt.155 _____________ 149 Schröder, Tragischer Roman, S. 7. Zu den übrigen Zitaten vgl. S. 8, 11, 14, 20. 150 Vgl. z.B. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 349; Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 218. 151 Young, Narrativische Perspektiven, S. 45; Greenfield, triuwe, S. 75. 152 Vgl. Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 245. 153 Vgl. v.a. Maurer, Leid, S. 168–198, Meissburger, Gyburg, S. 64. 154 Vgl. Kiening, Reflexion, S. 189, 197. 155 Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 390; Schröder, Tragischer Roman, S. 18.

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Mehrere Interpreten weisen darauf hin, dass der ‚Willehalm‘ nicht das optimistische Weltbild des höfischen Romans teilt. Dabei können sie sich auf das Fehlen eines positiven Handlungsausgangs, die zahlreichen Klagereden der Protagonisten und auf bestimmte Erzählerkommentare stützen. Vor allem an einer Stelle, in der Situation einstweiliger Entspannung und vorläufigen Friedens, wird der Zustand der erzählten Welt generell negativ gewertet. Kurz zuvor sind die französischen Truppen in Orange eingetroffen, so dass Giburg nach der Zeit äußerster Bedrängnis die ersehnte Unterstützung erhalten hat. Vor allem aber ist sie wieder mit ihrem Mann vereint und darf die ihr zukommende Position als höfische Dame, Gattin und Geliebte des Markgrafen einnehmen. Nachdem Willehalms Sorgen durch das intime Zusammensein in Vergessenheit geraten sind, kontrastiert der Erzähler die Liebesidylle des Paares mit der betrüblichen Lebenssituation der Menschheit insgesamt: wan jâmer ist unser urhap, mit jâmer kom wir in daz grap. ine, weiz wie jenez leben ergêt: alsus dises lebens orden stêt. diz maere bî vreuden selten ist. (280,17–21)

Für Christian Kiening wird an dieser Aussage deutlich, dass die Perspektive des ‚Willehalm‘ radikal diesseitig ist: „Was zählt und greifbar ist, sind der Schmerz der augenblicklichen Situation, die nüchterne Gegenwart […] und die unbeschönigte Realität des Erzählten“. Zwar werde ein Wechsel von Freude und Leid behauptet, doch überwiege eindeutig das letztere. Da der Schmerz am Anfang und Ende des irdischen Daseins stünde und zugleich das Glück von allen Seiten umschlossen halte, bescheinigt Kiening dem Werk eine „Dominanz des Jammers“.156 Eine ähnliche Auffassung vertreten mehrere Wissenschaftler, die Trauer, Verzweiflung und Resignation auf der Handlungs- wie auf der Erzählebene als vorherrschend betrachten. So erklärt Joachim Bumke, dass der ‚Willehalm‘ durch den „Ton der Klage“ gekennzeichnet sei,157 oder beschreiben Fritz Peter Knapp und Ludwig Wolff den „Moll-Ton“ bzw. den „tragischen Grundklang“ des Werks.158 Selbst in den feierlich-freudigen Szenen bleibe „das Gefühl für Tragik in der Dichtung lebendig“, betont Bodo Mergell.159 Den Zusammenhang zwischen einer resignativen Grundstimmung und einem _____________ 156 157 158 159

Kiening, Reflexion, S. 173, vgl. auch S. 175. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 373. Knapp, Rezension zu Lofmark, S. 191; Wolff, ‚Willehalm‘, S. 424. Mergell, Wolfram von Eschenbach, Bd. 1, S. 107. – Im Bereich des Atmosphärischen ist auch der Tragikbegriff anzusiedeln, den Wynn (Witz in der Tragik, S. 130f.) verwendet. Sie lobt Wolfram für die seltene Gabe, Tragisches mit Humoristischem zu vermischen und plötzlich die Stimmung umzuschalten. Mit einem obszönen Witz gelinge es ihm, „die düstere Tragik“ zu durchbrechen und ihre Wucht zu mindern.

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Tragikempfinden macht Bollinger explizit. Sie schließt aus dem Erzählerkommentar über den jâmer auf ein Weltgefühl, das von einem „schmerzlichen Pessimismus“ erfüllt sei, und legitimiert auf diese Weise die Verwendung des Tragikbegriffs. Da eine pessimistische Weltsicht Voraussetzung für alles Tragische sei, dürfe Wolframs Werk als tragisch gelten.160 Als unangemessen kritisiert hingegen Joachim Heinzle solche Deutungen. Zwar bestätigt er, dass das Motiv des Leids dominiere, sich auf alle Beteiligten auswirke und am Ende des Werks noch einmal in all seinen Facetten entfaltet werde. Diese Beobachtung dürfe jedoch nicht zu falschen Schlussfolgerungen führen: „[N]ichts [wäre] verkehrter als anzunehmen, Wolfram habe aus einer tragischen Weltsicht heraus die Dissonanzen für unauflösbar, das Leid für unüberwindlich gehalten.“ Heinzle verweist dabei auf die hagiographischen Elemente des Werks, das im Prolog wie in Giburgs Figurenreden leitmotivisch vorkommende Lob des Schöpfers und die Vorstellung der Hauptfiguren als Heilige. Aus diesen Motiven schließt er sowohl auf die Rechtgläubigkeit des Dichters als auch auf eine entsprechende Erwartung der Rezipienten. Wolfram sei von einer „tiefen christlichen Heilsgewißheit“ erfüllt, „die als solche jede Tragik ausschließt.“ Sein Leser wisse von Anfang an, dass es für die Protagonisten „in der Gnade Gottes doch einen Ausweg aus Leid und Verstrickung“ gegeben habe. Gleichwohl muss Heinzle einräumen, dass der Weg, wie Willehalm und Giburg „aus der Not des Diesseits ins Glück des Jenseits“ gelangen, nicht sichtbar gemacht ist.161 Heinzles Kritik basiert auf einem metaphysischen Tragikverständnis, das für unvereinbar mit dem christlichen Weltbild gehalten wird und deshalb für die mittelalterliche Literatur generell unpassend erscheint.162 Das religionsgeschichtliche Kapitel hat jedoch gezeigt, dass eine Lebensführung in bestimmten Fällen auch aus einem christlichen Verständnis heraus als tragisch gelten darf.163 Anknüpfungspunkte zum Tragikverständnis der Moderne bieten sich, wenn jemand das Heilsangebot Jesu Christi ausgeschlagen, das ewige Verderben in Kauf genommen und die Möglichkeit zur Umkehr verspielt hat. Eine solche schwerwiegende Fehlentscheidung könnte sämtlichen heidnischen Figuren des ‚Willehalm‘, insbesondere dem von Giburg katechetisierten Terramer,164 vorgeworfen werden. In diese _____________ 160 Vgl. Bollinger, Das Tragische, S. 55–57. 161 Heinzle, Kommentar, S. 801. 162 Hierin besteht eine Parallele zu Bollinger (Das Tragische, S. 61f.), die erklärt: „[S]obald sie sich auf christlichem Boden ins Metaphysische richtet, gerät die Tragik […] in Gefahr“. Sie vermutet, dass „die verzweifelte Stimmung“ am Schluss wohl einer „gewisse[n] Harmonie des Tons“ gewichen wäre. 163 Vgl. S. 42-45. 164 Terramers Situation bezeichnen mehrere Interpreten als tragisch, wobei sie diesen Begriff jedoch strikt innerweltlich deuten und auf sein gespaltenes Verhältnis zu seiner Tochter

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Richtung zielt Hans-Wilhelm Schäfers Argumentation, der Wolframs Großwerke kontrastiert. Während im ‚Parzival‘ der Protagonist bei allen tragischen Ansätzen der Erwählte und der christliche Gott die erbarmende Schicksalmacht bleibe, sei die Situation im ‚Willehalm‘ eine völlig andere. In diesem Werk gebe es keine göttliche Gnade, die über allen walte, sondern die Menschen schieden sich in Christen und Heiden. Die Folgen der Schuld, die aus dem Unglauben erwüchsen, seien unwiderruflich.165 Auch der fragmentarische Status des Werks erlaubt nicht, die Verdammnis der Heiden in Frage zu stellen. Nach Knapps Ansicht deutet nichts auf einen allgemeinen ‚Versöhnungsschluss‘ hin, vielmehr scheine Wolframs Resignation über das Seelenheil der großen Masse der Heiden als dunkler Hintergrund wesentlich zu bleiben.166 Die Verwendung eines Tragikbegriffs vom Schicksal der Heiden abhängig zu machen, wird dem ‚Willehalm‘ insofern gerecht, als er sich deutlich von der traditionellen Kreuzzugsepik unterscheidet. Bei seinem Quellenvergleich hat Bodo Mergell die ‚Zweischau‘ als ein „Grundgesetz Wolframscher Gestaltung“ ausfindig gemacht. Im Unterschied zur ‚Bataille d’Aliscans‘, die alle Aufmerksamkeit ausschließlich auf die christlichen Helden richte, die Heiden als ungeformte Masse darstelle und bei Einzelschilderungen mit negativer Wertung versehe, wahre der deutsche Erzähler Distanz. Er stehe über dem Ganzen, überblicke beide Lager und widme den sarazenischen Helden nicht weniger rühmende Worte als den französischen Rittern.167 Entwickelt Wolfram im ‚Willehalm‘ also ein genuin christliches Tragikverständnis, indem er den heilsgeschichtlichen Ernst vor Augen führt? Dieser Auffassung widerspricht, dass solche Deutungen innerhalb des Werks weitgehend fehlen. Nicht einmal beim Tod der herausragenden heidnischen Ritter, bei Arofel oder dem zum Minnemärtyrer stilisierten Tesereiz, problematisiert der Erzähler ihren Un_____________ beziehen. Einerseits bedroht er Giburg aus religiösen Gründen mit dem Tod, andererseits möchte er aus väterlicher Zuneigung am liebsten selbst für sie sterben. Vgl. Kellermann, Personifizierter Agon, S. 261; Maurer, Leid, S. 176f.; Schäfer, Kelch, S. 108. Für Bollinger (Das Tragische, S. 58) handelt es sich weniger um einen Konflikt zwischen Familie und Religion als um einen zwischen „natürlicher Vaterliebe und dem Gesetz der Ehre“. – Die Ausweglosigkeit von Terramers Lage und seine Verzweiflung bezeichnen Greenfield/Miklautsch (Einführung, S. 119) und Maurer (Leid, S. 177) als tragisch. Für Meissburger (Gyburg, S. 65) ist Terramer die eigentlich tragische Figur, weil er am Ende alles verloren habe. 165 Vgl. Schäfer, Kelch, S. 91. – Ähnlich argumentieren Greenfield/Miklautsch (Einführung, S. 241): „Es gehört sicherlich zur Tragik der Willehalm-Dichtung, daß die vielen heidnischen Minneritter, die (wie Tesereiz) auf Alischanz sterben, nicht die Gelegenheit des Feirefiz wahrnehmen können.“ 166 Vgl. Knapp, Heilsgewißheit, S. 612. 167 Vgl. Mergell, Wolfram von Eschenbach, Bd. 1, S. 10. – Dass zwischen der Darstellung von Heiden und Christen gleichwohl gravierende Unterschiede bestehen und Wolframs Erzähltechnik differenzierter zu bewerten ist, belegt Barthel (Empathie, bes. S. 174).

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glauben. Nur an einer Stelle erwähnt er das den Sarazenen bevorstehende Verderben und verleiht seinem Mitgefühl Ausdruck: nû gedenke ich mir leide, / sol ir got Tervigant / sî ze helle hân benant. (20,10–12) Ebenso klagt Giburg zwar ausgiebig über ihre eigene Rolle, jedoch kaum über den drohenden Verlust des Seelenheils ihrer Verwandten. Im Gespräch mit Terramer versucht sie weniger, ihn zu bekehren, als für die Akzeptanz der eigenen Glaubensentscheidung zu werben. Einzig in ihrer Rede im Fürstenrat reflektiert sie, welche Konsequenzen aus dem Fehlen der Taufe erwachsen: dem saeldehaften tuot vil wê, / ob von dem vater sîniu kint / hin zer vlust benennet sint (307,26–29).168 Allerdings betrachtet sie das ewige Verderben nicht als zwangsläufige Folge, da sie einschränkend hinzufügt: er mac sich erbarmen über sie, / der rehte erbarmekeit truoc ie. (307,30f.) Weil die mögliche Verdammnis der heidnischen Ritter keinen Schwerpunkt in Narration und Kommentar bildet und auch nicht Gegenstand von Giburgs großen Klagereden ist,169 eignet sich diese religiöse Problematik nur bedingt, ein poetologisches Tragikkonzept zu begründen. In anderen Forschungsansätzen wird die weibliche Hauptfigur mit ihren disparaten Beziehungen in den Blick genommen und ihre Situation als tragisch klassifiziert. Das Urteil, ob es sich bei Giburg um eine tragische Figur handelt, fällt keineswegs einhellig aus. Das Spektrum reicht von strikter Ablehnung bis zu klarer Zustimmung,170 wobei auch eine Mittel_____________ 168 Die Frage, ob Giburg den Heiden hier den Status der Gotteskindschaft zugesteht, gehört zu den umstrittensten Forschungsproblemen des ‚Willehalm‘. Die Aussage verliert jedoch an theologischer Brisanz, wenn man die familiären Konflikte im gesamten Werk berücksichtigt. Die genealogische Herkunft ist nicht automatisch mit einer Erbschaft verbunden, wie Willehalms Beispiel zeigt. Voraussetzung bleibt für Heimrichs Söhne wie für die von Gott geschaffenen Heiden, als Kind anerkannt und als Erbe des Reiches eingesetzt zu werden. – Vgl. Toepfer, Enterbung. – Einen Überblick über die Diskussion um die Gotteskindschaft der Heiden bieten auch Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 304f.; Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 134–136; Young, Narrativische Perspektiven, S. 56–58. 169 Selbst bei Willehalms verzweifelter Klage um den verschwundenen Rennewart spielt dessen Weigerung, sich taufen zu lassen, keine Rolle. Statt um Rennewarts Seelenheil zu fürchten, gesteht der Markgraf ihm sogar indirekt eine Erlösungsfunktion zu. Er bittet, Gott möge ihm den Schmerz um diesen unermesslichen Verlust als zeitliche Sündenstrafe anerkennen: diz sî mîn hellebrennen, / daz diu sêle mîn deheine nôt / vürbaz enpfâhe (454,18–20). – Während Greenfield/Miklautsch (Einführung, S. 129) wegen seiner Kindheit von einem „tragische[n] Schicksal“ sprechen, bemerkt Schäfer (Kelch, S. 108): „Rennewarts Tragik und Schuld wird nicht weiter zum Ausdruck gebracht, er ist der große Stumme, Einsame, der zwischen den Fronten steht.“ 170 Ausdrücklich ablehnend äußert sich Meissburger (Gyburg, S. 65), während Schnyder (Einsamkeit, S. 511f.) eine gegenteilige Ansicht vertritt. Sie stimmt zwar zu, dass Giburg im Horizont der festgeschriebenen sozialen Ordnungen keine tragische Figur sei. Aber indem die Protagonistin diese Ordnungen im Glauben durchbreche und durch das soziale Netz wieder eingefangen werde, dürfe sie doch als eine solche gelten. Ihr Herz und ihr Körper blieben die einer Frau, auch wenn ihre Sprache die eines Mannes wäre. „Genau in diesem als ob liegt aber auch die Tragik der Figur der Gyburc.“

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position vertreten wird. So hält Friedrich Maurer Giburgs Lage zwar nicht für tragisch, erklärt jedoch, dass ihr Leid „bis an die Grenze des Tragischen“ reiche.171 Die Interpreten, die Giburgs Tragik betonen, argumentieren vor allem mit ihrer besonderen Stellung und ihrem großen Schmerz. Während Giburg in ihren ersten Reden Willehalms gefallene Gefolgsleute beklagt, zeigt sie sich später auch vom Tod ihrer heidnischen Verwandten tief getroffen. Weil sie mit beiden Kriegsparteien aufs engste verbunden ist, kann sie für jede Mitgefühl entwickeln und empfindet als einzige doppeltes Leid. In Giburgs Figurenreden wird ihre zweifache Bindung nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die wechselnde Selbstverortung im Kollektiv inszeniert.172 ach, waz vlust in beiden / an mir wuohs, bêde in unt uns (253,12f.), bekennt sie gegenüber ihrem Schwiegervater und positioniert sich dabei auf der Seite der Christen. Unmittelbar darauf nimmt sie die entgegengesetzte Haltung ein und bedauert, daz iuwer mâge und die mîn / zem tôde ir werdeclîchez leben / hânt […] gegeben. (253,16–18) Somit identifiziert sich Giburg sowohl mit ihrer genealogischen als auch mit ihrer religiösen Familie und muss die schmerzlichen Verluste ze bêder sît (253,18) beklagen. Um Giburgs Verzweiflung zu beschreiben, werden vielfach Begriffe verwendet, die aus dem Vokabular moderner Tragödientheorien stammen. Dazu gehören Bezeichnungen wie Dilemma,173 tragischer Konflikt,174 Aporie,175 Ausweglosigkeit,176 Fatalität177 und Schuld bzw. Schuldlosigkeit.178 Das tiefe Leid der Protagonistin liege vor allem in dem „Dilemma ihrer verwandtschaftlichen Bindungen“ und in der „Unauflösbarkeit dieses Konflikts zwischen Religion und Sippenzugehörigkeit“, kommentieren _____________ 171 Maurer, Leid, S. 174, vgl. auch S. 177. 172 Zur Problematik des ‚double bind‘ vgl. Gerok-Reiter, Individualität, S. 229f.; Kiening, Reflexion, S. 196f. Zur Verortung durch einen Sprechakt vgl. Koch, Trauer, S. 152f. 173 Vgl. z.B. Gerok-Reiter, Individualität, S. 230; Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 124; Kellermann, Personifizierter Agon, S. 260; Kiening, Wolfram von Eschenbach, S. 222; ders., Reflexion, S. 231; McFarland, Giburc’s Dilemma; Young, Narrativische Perspektiven, S. 58f. 174 Vgl. z.B. Bollinger, Das Tragische, S. 59; Gerok-Reiter, Individualität, S. 200; Maurer, Leid, S. 177; Schäfer, Kelch, S. 92; Schröder, Tragischer Roman, S. 19. 175 Vgl. z.B. Fuchs, Hybride Helden, S. 282, 286, 336; Przybilski, Giburgs Bitten, S. 60. Vgl. auch Wyss, Legenden, S. 54. 176 Vgl. z.B. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 374; Haug, Literaturtheorie, S. 195f.; Maurer, Leid, S. 177; Young, Narrativische Perspektiven, S. 58. Vgl. auch Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 119. 177 Vgl. z.B. Fuchs, Hybride Helden, S. 334. Vgl. auch Kiening, Wolframs politische Anthropologie, S. 247. 178 Vgl. z.B. Bollinger, Das Tragische, S. 56, 59; Maurer, Leid, S. 196; Meissburger, Gyburg, S. 65–71; Schäfer, Kelch, S. 107; Schröder, Tragischer Roman, S. 15–17.

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John Greenfield und Lydia Miklautsch.179 Giburg werde zur Vermittlerfigur schlechthin, wobei ihre Tragik darin bestehe, dass sie das Geschehen dennoch nicht aufhalten könne.180 Vor allem die Zwangsläufigkeit der Auseinandersetzung und die Ausweglosigkeit der Situation bieten die Anhaltspunkte, Giburgs Konflikt als tragisch zu klassifizieren. Die Markgräfin kann sich zwar von ihrer Familie lossagen, nicht aber ihre Abstammung aufheben und bleibt auch emotional an ihre Verwandten gebunden. Der christlichen Kriegspartei fühlt sie sich durch ihren Glauben und ihre Liebe zu Willehalm zugehörig, ohne zugleich eine neue genealogische Beziehung knüpfen zu können. Weil weder Giburg ihre Konversion rückgängig machen noch ihre Sippe freiwillig auf sie verzichten kann, ist das ungeheure Leid unvermeidbar. Diesem Handlungszusammenhang liegt nach Kienings Ansicht „eine fatale Kausalität der Ereignisse“ zugrunde, die nur durch göttliches Eingreifen aufgehalten werden könnte. Da der Krieg jedoch nicht verhindert werde, Gott fern und ein Wunder ausbleibe, liege eine „offensichtlich tragisch[e] Konstellation“ vor, eine „verhängnisvoll[e] Verstrickung von Minne und Leid“.181 Wiederholt charakterisiert Kiening das Geschehen als fatal und stellt eine Verbindung zwischen Tragik und Unausweichlichkeit her.182 Aus ähnlichen Überlegungen wertet Friedrich Maurer das Geschehen als nahezu tragisch, wobei er auf die enge Verzahnung der einzelnen Handlungselemente aus Vor- und Hauptgeschichte hinweist: „Mit dieser Tat [Entführung auf der Flucht, R.T.] Willehalms und Gyburcs setzt das Geschehen des Romans ein. Zwangsläufig wird damit der Rachezug der Heiden ausgelöst, der sich wiederum ganz zwangsläufig […] zum Glaubenskrieg entwickelt. Terramer kämpft für die Ehre seiner Götter […]. Das muß wiederum zwangsläufig die Abwehr der Christen hervorrufen. […] In diesem zwangsläufigen Ablauf entsteht unsägliches Leid, […] das bis an die Grenze des Tragischen reicht […].“183

Wenn Giburgs Flucht eine Kette von Reaktionen in Gang setzt, der Ausbruch des Krieges unvermeidbar und der weitere Handlungsverlauf von den Figuren nicht aufzuhalten ist, hat dies Auswirkungen auf die Beurteilung des Verhaltens der Protagonistin. Giburg ist keine Verfehlung nachzuweisen, die sie im antiken Sinne zu einer tragischen Heldin machen würde, vielmehr steht die religiös-moralische Berechtigung ihrer Entscheidung außer Frage. Keinesfalls kann ihre Bekehrung zu Gott als ein Ver_____________ 179 Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 124. – Vgl. auch McFarland, Giburc’s Dilemma, S. 123f. 180 Vgl. Greenfield/Miklautsch, Einführung, S. 136. 181 Kiening, Reflexion, S. 74. 182 Zum fatalen Verlauf vgl. Kiening, Reflexion, S. 74, 172, 189, 242. Zur Tragik vgl. ebd., S. 74, 210; ders., Wolfram von Eschenbach, S. 219. 183 Maurer, Leid, S. 173f.

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gehen verurteilt werden, auch wenn ihre Liebe zum Markgrafen als ausschlaggebendes Motiv kritikwürdig wäre. Selbst die narrative Instanz des ‚Willehalm‘, die Giburg zunächst massiv anklagt und sie bezichtigt, für den Tod unzähliger Menschen verantwortlich zu sein, revidiert ihr Urteil schnell: war tuon ich mînen sin? / unschuldic was diu künegîn (31,3f.).184 Anknüpfend an diesen Erzählerkommentar und das Paradoxon einer schuldlosen Schuld, deklarieren mehrere Interpreten Wolframs Protagonistin zu einer tragischen Gestalt im hegelschen Sinne. Ohne sich zu versündigen, könne Giburg nicht gegen die göttliche Ordnung verstoßen, in der sie seit ihrer Konversion lebe, hält Gerhard Meissburger fest. Damit befinde sie sich „in der paradoxen Situation, ihre vermeintliche Schuld nicht wiedergutmachen zu können, ohne erst recht schuldig zu werden.“ In Bezug auf die Ursache des Religionskonflikts treffe sie keine persönliche, sondern nur eine überindividuelle Schuld, die sie nicht von sich aus tilgen könne.185 Friedrich Maurer erklärt diese Problematik mit dem Verweis auf die Erbsünde und führt die schrecklichen Folgen von Giburgs Taufe auf die menschliche „Verstrickung in die Ursünde“ zurück.186 Ihre Schuld sei eine Konsequenz des Sündenfalls und eine Auswirkung der Erbsünde, jedoch keine echte, bewusste und willentliche Sünde.187 Katharina Bollinger teilt die Auffassung von der subjektiven Schuldlosigkeit der Protagonistin und betont, dass Giburgs Schuld nur eine tragische sein könne; auf ihre moralische Persönlichkeit falle kein Schatten.188 Dagegen akzentuiert Hans-Wilhelm Schäfer den Aspekt der objektiven Schuld, die Giburg durch ihre Flucht nach Frankreich auf sich geladen habe. Weil Giburg nun einmal an Heiden und Christen gefesselt sei, könne sie „einer tragischen Schuld nicht entgehen.“189 Am ausführlichsten äußert sich Werner Schröder zu dieser Problematik. Er betrachtet Giburg als eine tragische Figur, weil sie „schuldlosschuldig aus Liebe zu Willehalm und zum Christengott“ zwischen die Fronten geraten sei. Beiden Parteien sei sie durch Herkunft, Verwandtschaft und Liebe verbunden und müsse so „an einer oder an beiden Seiten _____________ 184 Bemerkenswerterweise ist der Freispruch mit einem Wechsel der Argumentationsstrategie verbunden. Zu Beginn seiner Rede erwähnt der Erzähler als auslösendes Motiv des Krieges nur Giburgs Minne (vgl. 30,25: dîn minne den touf versnîdet). Nach der Feststellung ihrer Unschuld wird die Aufmerksamkeit hingegen auf Giburgs religiöse Beweggründe gelenkt: diu eteswenne Arabel hiez / und den namen ime toufe liez / durh den, der von dem worte wart. (31,5–7) Im Hinblick auf dieses zweite Motiv wird Giburgs Handeln entschuldbar; die Liebe allein bietet für den Erzähler keinen Legitimierungsgrund des Krieges. 185 Meissburger, Gyburg, S. 67. 186 Maurer, Leid, S. 197. 187 Vgl. Maurer, Leid, S. 187, vgl. auch S. 196. 188 Vgl. Bollinger, Das Tragische, S. 59. 189 Schäfer, Kelch, S. 107.

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schuldig werden“. Zugleich stellt Schröder die Unvermeidbarkeit dieser Entwicklung heraus: Selbst wenn die Folgen ihrer Entscheidung vorhersehbar gewesen wären, hätte Giburg nicht anders handeln können. Explizit erläutert Schröder, wie er den Begriff des Tragischen versteht: „Gyburgs ungewollte Schuld am Kriege und seinen Opfern ist vom Standpunkt der Liebenden wie der Glaubenden, Christin gewordenen, gleichermaßen widersinnig und das heißt tragisch.“190 Damit rückt die Verzweiflung der Protagonistin angesichts der schrecklichen Folgen einer grundsätzlich richtigen Entscheidung in den Vordergrund. Aus dem Widerspruch zwischen heilschenkendem Glauben und unheilvollem Kampf, zwischen religiöser Befreiung und tödlicher Verkettung, aber auch aus der Unvereinbarkeit der verschiedenen Bindungen erwachsen Spannungen. Diese werden in der Literatur verschiedentlich in das Innere der Figur projiziert, etwa wenn Christopher Young von einem „komplexen inneren Konflik[t]“ spricht.191 Dies kann dazu führen, dass die Kohärenz des Charakters in Frage gestellt wird und Giburg eine „heillose“ oder die „größt[e] inner[e] Zerrissenheit“ bescheinigt wird.192 Die Protagonistin versuche, „einen Ausgleich zwischen zwei Diskursen“ zu erreichen, der jedoch zum Scheitern verurteilt sei, erläutert Martin Przybilski: „[Z]wischen verwandtschaftlichen und politischen Anforderungen hin- und hergerissen“ werde Giburg „am Ende ihrer Rede […] zerrissen“.193 Um die innere Spannung der weiblichen Hauptfigur anschaulich zu machen, benutzt Mireille Schnyder das Bild eines Risses, der sich für Giburg auftue. Den Interpreten, die in ihr fast immer eine zum vollkommenen Christentum findende Frau sehen wollten, hält Schnyder entgegen, dass Wolfram Giburg auch anders kenne: „Kaum ist sie allein, […] bricht der Riss in ihr laut auf.“194 Weil sie keinen Ausweg aus der innerweltlichen, sozialen, politischen und emotionalen Verstrickung sehe, wünsche sie sich gar den Tod. Nur als Giburg, nicht aber als Arabel sei die Protagonistin in der Lage, den Markgrafen zu trösten.195 Nach Karina Kellermanns Ansicht wird im ‚Willehalm‘ ein Agon zwischen den Religionen, den Geschlechterqualitäten, dem Höfisch-Kultivierten und dem Heroischen ausgetragen. Die Figur der Giburg stehe im Fokus widerstreitender _____________ 190 191 192 193 194 195

Schröder, Tragischer Roman, S. 17. Young, Narrativische Perspektiven, S. 59. Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 195; Weber, Grundidee, S. 9f. Przybilski, Giburgs Bitten, S. 57, 60. Schnyder, Einsamkeit, S. 514. Bei dieser Argumentation kann der Eindruck entstehen, es handle sich um eine in ihrer Persönlichkeit gespaltene Figur. Ähnlich bescheinigt Przybilski (Giburgs Bitten, S. 56) Giburg ein Leben „in fließenden Identitäten“, wohingegen der Erzähler auf die personale Identität der Figur hinweist: Arabele-Gîburc, ein wîp / zwir genant (30,21f.).

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Normen und fungiere als Plattform, auf der sich u.a. der Agon zwischen Sippe und Glaube ereigne. Weil der geliebte Vater dem falschen Glauben anhänge, werde Giburg gezwungen, sich gegen ihn und ihre Familie zu stellen, ohne diesem Dilemma jemals entrinnen zu können. Wie Terramers Beispiel zeige, könne der „innere Kampf zwischen Familie und Religion […] eine tragische Dimension“ erreichen.196 Die wenigsten Autoren beabsichtigen, Formen des Tragischen im ‚Willehalm‘ zu analysieren, vielmehr bedienen sie sich tragödientheoretischer Termini, um bestimmte Beobachtungen zu veranschaulichen.197 Deshalb ist zu fragen, ob mit der Charakterisierung von Giburgs Situation als dilemmatisch das Wesentliche von Wolframs Konzeption des Tragischen erfasst ist. Angesichts der Bedeutung der Protagonistin scheint eine solche Deutung gerechtfertigt, ihr Konflikt weist jedoch eine bemerkenswerte Besonderheit auf. Tragikkonzept: Giburgs unechtes Dilemma Unstrittig ist, dass sich die Markgräfin in einer äußerst problematischen Lage befindet. Obwohl der Erzähler sie eingangs von aller Schuld freigesprochen hat, teilt Giburg selbst diese Auffassung nicht. Vielmehr weiß sie sich an der Entstehung des Krieges schuldig und bedauert dies zutiefst. Diese persönliche Verantwortung vergrößert ihr Leid, muss sie doch nicht nur den Tod der christlichen Gefolgsleute und ihrer heidnischen Verwandten beklagen, sondern sich selbst die Schuld für dieses schreckliche Geschehen geben. Im Gespräch mit ihrem Schwiegervater hadert Giburg mit ihrer unheilstiftenden Rolle und stellt gar ihre Existenz als verwünscht dar, zumindest was den Zeitpunkt ihrer Geburt betrifft. Zur Unzeit, alze vruo (253,8), habe Gott ihrer gedacht und sie von nihte / ze dirre werelde (253,6f.) gebracht. ich schûr sîner hantgetât (253,9), formuliert Giburg ihre Selbstbezichtigung, die den Hauptpunkt ihrer Anklage bereits enthält. Weil sie an Gott als den Schöpfer aller Menschen glaubt, der bêde machet unde hât / den kristen und den heiden (253,10f.), muss ihre Schuld umso schwerer wiegen. Giburgs Schmerz angesichts dieser anthropologischen Problematik wird durch den personalen Faktor multipliziert. ich wart zem jâmers zil erborn (254,10), resümiert die Protagonistin, nachdem sie den Tod der edelsten Helden beklagt hat. Ihr maßloses Weinen, dem auch Heimrich kaum Einhalt gebieten kann, ist eine Reaktion und ein Symptom des nur schwer zu ertragenden Leides. _____________ 196 Kellermann, Personifizierter Agon, S. 261, vgl. auch S. 255, 260. 197 Nur in Bollingers (Das Tragische) und Schröders (Tragischer Roman) Arbeiten ist die Tragik erklärter Gegenstand der Untersuchung.

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Ungeachtet allen Bedauerns stellt Giburg jedoch nie die Richtigkeit ihrer Entscheidung in Frage. Ihr Schuldeingeständnis führt nicht zu einer Verhaltensänderung oder gar einer Rückkehr zu ihrem Vater und ihrem ersten Ehemann, mit der sie dem Blutvergießen ein schnelles Ende hätte bereiten können. Vielmehr bleibt ihr Entschluss unumstößlich, sogar in der größten sozialen Isolation und bei der unmittelbaren Konfrontation mit Terramer verteidigt sie ihn vehement, ohne sich auf die Versöhnungsangebote ihrer Familie einzulassen. Nicht nur im Hinblick auf ihre doppelte Motivation, Minne und Religion, sondern auch in ihrer Standhaftigkeit erweist sich Giburg, wie Christian Kiening hervorhebt, als eine „andere Helena“.198 Im Unterschied zu Homers Protagonistin möchte Wolframs Heldin ihre Flucht aus dem Heimatland nicht ungeschehen machen; sie bedauert weder ihre Konversion noch die Liebe zu dem neuen Mann, sondern beklagt nur deren schreckliche Konsequenzen.199 Da Giburg keinen Zweifel an ihrem handlungsauslösenden Akt hegt, ist es kaum angemessen, ihre Situation als dilemmatisch zu bezeichnen. Die Markgräfin befindet sich nicht in einem echten Zwiespalt, weil sie ihre Entscheidung bereits vor Erzählbeginn getroffen hat und im Handlungsverlauf trotz aller negativen Folgen konsequent dafür eintritt. Auch wenn sie sich noch immer ihrer Sippe verbunden fühlt, kann ihre familiäre Zugehörigkeit zu den Heiden weder ihre Ehe mit Willehalm noch ihre Integration in die christliche Glaubensgemeinschaft aufheben. Zu Recht merkt Karina Kellermann an, dass der Wettkampf der Götter im Gespräch zwar als Dichotomie formuliert sei, aber ungeachtet dessen keine gleich starken Kräfte aufeinander prallten. Der Sieg des christlichen Gottes stehe als Resultat bereits fest. Analog dazu relativiert Kellermann ihre These, dass an der weiblichen Hauptfigur ein Agon zwischen Sippe und Glauben ausgetragen werde. Der im ‚Willehalm‘ vorgeführte Glaubensstreit zwischen Christen und Heiden sei kein Agon, denn der Glaube und damit der höchste Wert des christlichen Menschen stehe auf dem Spiel. Dem agonalen Prinzip widerspreche, dass die Überlegenheit des Christentums irreversibel sei: „Der teleologische Sieg des Christentums […] steht allezeit und immerdar fest, mit anderen Worten: Die Heilsgeschichte duldet keinen Agon.“ Anschließend differenziert Kellermann jedoch zwischen heilsgeschichtlicher und individueller Perspektive. _____________ 198 Kiening, Wolfram von Eschenbach, S. 219. Vgl. auch Gerok-Reiter, Individualität, S. 209. 199 Dagegen fällt Helenas Schuldgeständnis, das ebenfalls im Rahmen eines vertrauten Gesprächs mit ihrem Schwiegervater, König Priamos, erfolgt, ganz anders aus: „Hätte mir doch lieber der Tod gefallen, der schlimme, als ich hierher / Deinem Sohn gefolgt bin und das Ehegemach und die Meinen verließ / Und die Tochter, die spätgeborene, und die lieblichen Altersgenossen! Aber das ist nicht geschehen, und so schmelze ich hin mit Weinen.“ (Homer, Ilias, 3,173–176).

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Von Giburg aus betrachtet, stelle sich diese Sache anders dar, sie könne in ihrem Entschluss wankend werden, worauf ihr Vater und später auch ihr Schwiegervater setzten. Solange Giburg lebe, müsse sie „kleine Agone in sich ausfechten, um die Entscheidung zu Willehalm und zum Christentum irreversibel zu halten.“200 Im Text finden sich allerdings keinerlei Anhaltspunkte, dass Giburg je überlegt, den christlichen Glauben und ihre neue Liebe zugunsten ihrer Sippe aufzugeben. Gerade in solchen Momenten, in denen sie verstärkt einer solchen Versuchung ausgesetzt sein könnte, ist sie besonders sicher in ihrem Werturteil. Die Begegnung mit ihrem Vater bestärkt die Protagonistin eher in ihrem Entschluss, als sie zu verunsichern. In diesen Auseinandersetzungen muss Giburg zwar ihre Standhaftigkeit unter Beweis stellen, erfährt aber zugleich eine Bestätigung ihres Verhaltens, indem ihr Terramer mit seinem Unglauben ein abschreckendes Beispiel gibt. Obwohl er um die drohende Höllenpein weiß, zeigt sich ihr Vater vollkommen uneinsichtig: diu helle ist sûwer unde heiz, / manigen kumber ich dâ weiz: / […] / daz mac volsprechen nimmer munt, / wie trûreclîchen ez dâ stêt. (219,13–17) Weil Terramer nicht an die Erlösungskraft Jesu Christi glaubt und seine Tochter überdies zu seinen ohnmächtigen Götzen bekehren will, kehrt diese ihr Hierarchieverhältnis um und wirft ihm mehrfach seine tumpheit vor (vgl. 217,8, 218,2).201 Giburg ist sich hingegen gewiss, dass Gott sie aller Entbehrungen entschädigen wird: der des alles hât gewalt, gein dem schaden bin ich balt: der mac mich’s wol ergetzen unt des lîbes armuot letzen mit der sêle rîcheit. (216,25–29)

Dass der Gewinn, den Giburg durch ihre Hinwendung zu Willehalm und dem christlichen Gott erhalten hat, alle irdischen Verluste aufwiegt, macht sie ihrem Vater bereits bei ihrem ersten Kontakt deutlich. Die Rache, die Terramer üben will, fällt auf ihn selbst zurück; seine Intention, Arabel einen schmählichen Tod zuzufügen, des Jêsus gunêret sî (108,21), kann er nicht realisieren, wohingegen viele der gunêrten Sarrazîne (110,21) mehr als nur ihr irdisches Leben verlieren. Bei der Schilderung des ersten Kampftages auf Alischanz erklärt der Erzähler, dass die christlichen Ritter mit hohem prîse […] / den solt des êwigen lebens (37,20f.) erwerben, während die heidnischen Kämpfer mit ewiger Verdammnis gestraft werden: diu helle wart gevreut (38,29). Mit dieser Darstellung übereinstimmend, belehrt Giburg ihren Vater ob seiner Morddrohung, dass den Heiden der zwîvalte _____________ 200 Kellermann, Personifizierter Agon, S. 262. 201 Diese Einschätzung greift der Erzähler später auf und bestätigt: er selbe was vertôret, / daz er an si geloubte / und sîn alter wîsheit roubte, / als ob er waere nâch jugende var. (352,14–17)

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tôt (110,24) bevorstünde: die zwêne sint iu nâhen bî: / dises kurzen lebens ende / und der sêle unledic gebende (110,26–28). Diesen zweifachen Tod will die Protagonistin keinesfalls in Kauf nehmen, weshalb sie nie eine Abwendung vom christlichen Gott in Erwägung zieht.202 Giburgs vermeintliches Dilemma erweist sich somit als eine überlegte Positionierung, die sich in allem Leid bewährt. Eine gottergebene Haltung nimmt die Protagonistin auch in ihrer Rede vor dem Fürstenrat ein, als sie weniger ihren Glauben als die schrecklichen Folgen ihrer Bekehrung rechtfertigen muss. Ausgehend von dem tôtlîche[n] val am ersten Kampftag, der hie ist geschehen ze bêder sît (306,12f.), stellt sich Giburg der Anklage beider Kriegsparteien. Zugleich überantwortet sie jedoch die Entscheidung über ihren Schuldspruch und das mögliche Strafmaß der höheren Instanz, um derentwillen sie alles auf sich genommen hat: daz bezzer got in beiden / an mir, und sî ich schuldic dran. (306,16f.) Obwohl Giburg sich in diesem politischen Kontext für das Kriegsgeschehen allein verantwortlich zu erklären scheint, bekräftigt sie durch das Konditionalgefüge und den Verweis auf Gott implizit die Richtigkeit ihrer Entscheidung.203 Nicht nur ihre verwandtschaftliche Bindung an die arabischen Heerführer, sondern auch die neugewonnene religiöse Einsicht bewegt Giburg, Fürbitte für die Heiden zu halten. Nachdem sie die christlichen Ritter zunächst aufgerufen hat, sich an mînen mâgen und an ir her (306,23) zu rächen, vernachlässigt sie den genealogischen Aspekt vollständig. Stattdessen argumentiert die Protagonistin schöpfungsgeschichtlich-anthropologisch, dass gotes hantgetât (306,28) geschont werden müsse, und erklärt dies zu einem dem eigenen Seelenheil förderlichen Gnadenakt: sô tuot, daz saelekeit wol stê (306,26). Um diese These zu stützen, zeigt sie einerseits mit Hilfe zahlreicher biblischer, legendarischer und dogmatischer Motive die heilsgeschichtliche Bedeutung des Heidentums auf und stellt die Vergebungsbereitschaft andererseits als christliche Pflicht dar. Vor allem der Hinweis auf die Barmherzigkeit Jesu, der für die Sünder gestorben ist und am Kreuz seinen Mördern verziehen hat, verleiht ihrem Appell Nachdruck: swaz iu die heiden hânt getân, / ir sult si doch geniezen lân / […] / lât ez iu erbarmen ime strît! (309,1–6) Genealogische Beziehungen geraten erst nach langen theologischen Erklärungen am Ende der Rede wieder in Giburgs Blick, allerdings ausschließlich auf christlicher Seite. So versichert sie den Anwesenden, wie betroffen sie der Tod von Willehalms Verwandten mache: nû geloubt, daz _____________ 202 Auch für Willehalm ist die Tolerierung seiner Taufe die conditio sine qua non, unter der er am Ende der zweiten Schlacht Verhandlungen mit seinem Schwiegervater anstrebt. 203 Nach Kiening (Reflexion, S. 75) wird die „Frage nach der Schuld oder Unschuld […] auf dem Wege der Transzendierung gelöst“.

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iuwerer mâge vlust / mir sendet jâmer in die brust. / vür wâr, mîn vreude ist mit in tôt. (310,27–29) Ebenso wie aus dem Gespräch mit ihrem Vater eindeutig hervorgeht, dass die Gottesfrage für Giburg endgültig entschieden ist, lässt sich aus ihrer Argumentation im Fürstenrat ableiten, dass Religion und Sippe für sie in keinem echten Konkurrenzverhältnis stehen. Zwar ist die Protagonistin aufgrund ihrer eigenen Vorgeschichte für die Heilsproblematik der Heiden besonders sensibilisiert. Dennoch ist für sie nur noch die religiös legitimierte Verwandtschaft von Gewicht, die sich allerdings – über den Schöpfungsakt – zwischen ihr und ihrer genealogischen Familie neu herstellen lässt.204 Die übergeordnete Erzählinstanz wird diese Argumentation, das Schonungsgebot der Heiden schöpfungsgeschichtlich zu begründen, später aufgreifen und als richtig bestätigen. Beim Sieg der Christen bewertet sie das Schlachten derjenigen, die nie toufes künde / enpfiengen (450,15f.) alsam ein vihe (450,17) als unchristlich und gottlos: grôzer sünde ich drumbe gihe: / ez ist gar gotes hantgetât (450,18f.). Giburgs Vertrauen auf Gott wird auf der Handlungsebene nicht enttäuscht, wobei die Präsentation des Geschehens am zweiten Kampftag dieselbe Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit aufweist wie die Rache und Erbarmen fordernde Rede der weiblichen Hauptfigur. Der Kampf wird inszeniert als ein Götterwettstreit, bei dem Altissimus deutlich mehr Macht besitzt als Terramers Götter, die sich als leblose Abbilder erweisen. Alischanz wird wegen der zahlreichen christlichen Märtyrer als ein heiliger Ort gepriesen. saeleclîche ez dem ergienc (420,14), wer im Kampf sein Leben verlor, versichert der Erzähler. Gott selbst wird als übergeordneter Kriegsherr und heimlicher Regisseur des Schlachtgeschehens dargestellt: diu gotes hant / […] gap die besten stiure (435,6f.). Willehalms Sieg wird auf höchster Ebene entschieden: Jêsus mit der hoehsten hant / die klâren Gîburc und daz lant / im des tages in dem sturme gap (450,1-3). Trotz göttlichen Beistands problematisiert der Erzähler jedoch das Verhalten der Helden, er disqualifiziert den Glaubenskampf mehrfach als gegenseitigen mort (vgl. 10,20, 162,14, 401,30f.) und das vermeintlich gottgefällige Töten der Ungläubigen als sünde (450,18).205 Wie in der Bewertung der christlichen Ritter eine seltsame Diskrepanz zwischen irdischem Tadel und himmlischem Lohn erzeugt wird, besteht auch eine Kluft zwischen Giburgs Handeln innerhalb der Geschichte und _____________ 204 Anders urteilt Young (Narrativische Perspektiven, S. 58), nach dessen Ansicht Giburgs „unüberwindbare Verantwortungs- und Schuldgefühle ihrer Sippe gegenüber“ ausschlaggebend für den Appell sind. 205 Wyss (Legenden, S. 54) bezeichnet es als „tragische Aporie eines Kriegerstandes“, dass in Gottes Namen Gottes Geschöpfe getötet werden sollen. – Die Widersprüchlichkeit der Erzählerkommentare führt nach Liebertz-Grün (Trauerndes Geschlecht, S. 393) dazu, dass das „Christen-Heiden-Freund-Feind-Gut-Böse-Schema der Kreuzzugsideologie“ aufgelöst wird.

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der jenseitigen Perspektive, die der Erzähler zu Beginn des 9. Buches eröffnet. An dieser Stelle wendet er sich direkt an seine weibliche Hauptfigur, die er als heilic vrouwe (403,1) apostrophiert und von der er sich Fürsprache für sein eigenes Seelenheil erhofft: dîn saelde mir die schouwe / noch vüege, daz ich dich gesehe, / aldâ mîn sêle ruowe jehe. (403,2–4) Durch dieses Gebet, das nur von einem retrospektiven Standpunkt aus möglich ist, legitimiert der Erzähler Giburgs Entscheidung nachträglich und erklärt ihr Verhalten für heilsrelevant. Auf der Handlungsebene endet ihr Auftritt hingegen in Tränen, ohne dass ein Ausweg aufgezeigt wird.206 Giburgs unerschütterliche christliche Überzeugung trägt nicht dazu bei, ihr Leid angesichts der zahlreichen Toten zu verringern, sondern führt zu einer Verdoppelung: Der vorzeitige Tod ist stets mit der Gefahr des ewigen Verderbens verbunden, sei es durch den heidnischen Unglauben oder aufgrund mangelnder christlicher Ehrfurcht vor Gottes Schöpfung.207 Indem Giburgs Trauer ungestillt bleibt, bewahrheitet sich die frühe Ankündigung des Erzählers, dass seine Geschichte das Mitleid aller Rezipienten erregen wird: ein herze, daz von vlinse / ime donre gewahsen waere, / daz müete disiu maere. (12,16–18) Was die Frage nach Giburgs Tragik betrifft, bleibt Folgendes festzuhalten: Aus mehreren analeptischen Figurenreden ist die Entwicklung einer Handlung zu rekonstruieren, in deren Verlauf die frühere arabische Königin einen Statusverlust erlebt und tiefes Leid erfährt, das auch durch die künftige Erlösungshoffnung nicht aufgehoben werden kann. Ausgelöst wird dieses Unglück durch zwei konkrete Ursachen, zum einen durch Giburgs Liebe zu Willehalm und zum anderen durch ihre Bekehrung zum christlichen Gott, welche in der Argumentation zunehmend an Bedeutung gewinnt. Da ihre Flucht und Taufe auf einer selbst getroffenen Entscheidung beruhen, ist der Begriff der Fatalität nur bedingt geeignet, um die Handlungsmotivierung zu beschreiben. Wolfram lässt keinen Zweifel daran, dass Giburg die Verantwortung für den Kriegsausbruch trägt. Weil jedoch der Beweggrund ihres Handelns, sich zum wahren Gott zu bekennen, a priori gerechtfertigt ist, kann ihr keine persönliche Schuld angerechnet werden. Vielmehr erweist sich das kausal begründete Unglück aus einer übergeordneten Perspektive als final motiviert, insofern Giburgs _____________ 206 Giburgs Verzweiflung und Trauer drohen in Vergessenheit zu geraten, wenn ihre constantia einseitig betont und als exemplarisches Vorleben einer neuen Frömmigkeit interpretiert wird. So meint Bumke (Wolframs Willehalm, S. 149), dass sie „in der Nächstenliebe und in der Leidensfestigkeit dem Vorbild Christi“ folgt. Dass Giburg einen Ausweg aus ihrem Leid findet, „indem sie sich demütig unter Gottes Fügung stellt“ (Maurer, Leid, S. 177), ist ihrer Rede vor dem Rat nicht zu entnehmen. Vgl. auch Schnyders (Einsamkeit, S. 514) Kritik. 207 Hierin könnte eine mögliche Erklärung für die seltsame Formulierung des Prologs liegen, dass der als Heilige vorgestellte Protagonist sein Seelenheil aufs Spiel setzt (vgl. 3,4f., 4,13).

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Entscheidung metaphysisch legitimiert ist und ihrer religiösen Bestimmung entspricht. Die Protagonistin hat folglich keine Möglichkeit, ihr persönliches und das allgemeine Leid zu überwinden, sondern kann es nur als gottgegeben akzeptieren. Damit entspricht die Motivierung des Unglücks dem Tragikverständnis des Boethius, dass die in der göttlichen Weltordnung vorgezeichneten Schicksalsschläge ertragen werden müssen. Giburgs Situation weist jedoch eine besondere Brisanz auf und kann daher auch in Anlehnung an die Theorien der Moderne als tragisch bezeichnet werden: Ihre Verwirklichung des höchsten Ziels menschlichen Daseins, ihre heilsnotwendige Hinwendung zu Gott, ist untrennbar mit dem Verderben vieler Menschen verbunden und bereitet ihr selbst größte Schmerzen. Die Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit des Leids sowie das Paradoxon der schuldlosen Schuld sind zentrale Aspekte der modernen Tragikvorstellungen, wie die vorgestellten Forschungspositionen belegen. Im Unterschied zu den modernen Tragiktheorien liegt dem ‚Willehalm‘ jedoch kein dilemmatisches Konzept zugrunde, bei dem sich Wolframs Hauptfigur zwischen zwei gleichrangigen Werten entscheiden müsste. Ihre Sippenbindung verschärft zwar die Problematik der religiösen Auseinandersetzung, indem die von Giburg behauptete Verwandtschaft aller Menschen auch auf der Handlungsebene inszeniert wird. Auf Giburgs Verhaltensweise vermag ihre genealogische Bindung freilich keinen Einfluss zu nehmen; das Christentum – und als sekundäres Element auch die christliche Ehe – ist der höhere Wert, dessen Überlegenheit nie in Frage gestellt wird. Selbst wenn der Akzent, wie in der Forschungsliteratur vorgeschlagen, auf Giburgs Vater gelegt wird,208 handelt es sich um keinen tragischen Konflikt im Sinne Hegels. Zwar ist Terramer im Unterschied zu seiner Tochter in seinen Gefühlen hin- und hergerissen, und seine Reden wechseln zwischen Haß und Liebe, doch verfolgt auch er ein übergeordnetes Ziel, das nie als verhandelbar dargestellt wird: Grundbedingung für die ersehnte Rückkehr und freudige Wiederaufnahme seiner Tochter ist der religiöse Konsens, Giburgs Apostasie und Arabels Bekehrung. Giburgs Tragik besteht demnach ebenso wenig wie die Rüdigers im ‚Nibelungenlied‘ in einem unlösbaren Konflikt zwischen zwei gleichberechtigten Verpflichtungen, vielmehr stürzen die Protagonisten durch eine richtige Entscheidung für ein höherrangiges Gut ins Unglück.

_____________ 208 Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 349f.; Kellermann, Personifizierter Agon, S. 261; Maurer, Leid, S. 176f.; Meissburger, Gyburg, S. 65; Schäfer, Kelch, S. 108.

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2.3 Engelhards Pflichtenkollision bei Konrad von Würzburg Konrads Erzählung handelt von dem Sohn eines armen Adligen, der dank der treuen Unterstützung seines Herzensfreundes und der Liebe einer Königstochter zu einem mächtigen Herrscher wird. Dieses Werk im Kontext dieser Studie zu behandeln, bedarf einer Rechtfertigung. Zwar herrscht in der Forschungsliteratur keine Einigkeit darüber, welcher Gattung der ‚Engelhard‘ zuzuordnen ist. Unter den verschiedenen Bezeichnungen, mit denen die Erzählung charakterisiert wird, sei es als kleiner Roman,209 ‚Gerüstepos‘,210 Freundschaftslegende211 oder als Aufsteigergeschichte,212 wird man den Begriff der Tragödie jedoch vergeblich suchen. Sowohl der positive Ausgang der Erzählung, in deren Verlauf Engelhard alle Schwierigkeiten bewältigt, als auch die Deutung seines Verhaltens als vorbildlich und gottgefällig scheinen die Kategorie des Tragischen auszuschließen. Wie in Hartmanns Artusromanen ist der Weg des Helden zu seinem Lebensziel jedoch von Krisen und Rückschlägen gekennzeichnet, die seine höfische Existenz grundlegend bedrohen. Die Entwicklung führt zumindest zeitweilig ins Unglück, so dass nach den Ursachen gefragt werden kann. Zudem ist strittig, ob dem Märe von hôhen triuwen (153) tatsächlich ein Vorbildcharakter zugesprochen werden kann und sich die Rezeptionsanleitung im Prolog als Schlüssel für das Verständnis des gesamten Werks eignet. In der Forschung wird Engelhards Verhalten eher als moralisch zweifelhaft beurteilt,213 wobei sich die selbstlosen Freundschaftsdienste als besonders problematisch erweisen. Mehrfach entstehen solche Konstellationen, in denen verschiedene Pflichten miteinander kollidieren. Schließlich stürzt Engelhard in einen kaum lösbaren Zwiespalt, zwischen der Gesundheit seines Freundes und dem Leben seiner Kinder wählen zu müssen.

_____________ 209 210 211 212

Vgl. Rohr, Kleiner Roman. Vgl. Oettli, Verschränkung, S. 66. Vgl. Schmid, Engelhard, S. 33. Diese Auffassung vertritt neben Brunner (Genealogische Phantasien) am deutlichsten Kokott (Konrad von Würzburg). Er betrachtet die „Geschichte eines Aufsteigers innerhalb des feudalen Herrschaftssystems“ als aussichtsreichsten Ansatz, „die bisher so heterogen eingeschätzten Elemente des Werks […] zusammenzufügen.“ (ebd., S. 46) Zur Gattungszuordnung vgl. auch Brandt, Kleinere epische Werke, S. 133. Zur Forschung insgesamt vgl. ders., Literatur zu Konrad, bes. S. 357f.; ders., Konrad von Würzburg. 213 Vgl. z.B. Herzmann, Alte Ordnung, bes. S. 396–398; Könneker, Erzähltypus, S. 262f.; Kokott, Konrad von Würzburg, S. 56; Oettli, Konrad von Würzburg, S. 375; Rupp, Rudolf von Ems, S. 15.

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Damit befindet sich Konrads Held in einer vergleichbaren Situation, in die auch Rüdiger und Giburg geraten, als sie sich zwischen zwei hohen und miteinander unvereinbaren Bindungen entscheiden müssen.214 Obwohl Engelhards Geschichte im Unterschied zu Rüdigers Konflikt nicht tödlich endet, beinhaltet sie doch Leid und Tod. Nur durch göttliche Intervention lässt sich der unglückliche Ausgang zuletzt abwenden und wird der Tod in ein Durchgangsstadium verwandelt. Da das späte Eingreifen Gottes zwar die Folgen von Engelhards Entscheidung revidiert, nicht aber seinen Entschluss aufhebt, gehört das Handlungselement eines tragischen Konflikts auch zur Freundschaftslegende. Handlungsstruktur: Vom anerkannten König zum ehrlosen Kindermörder Engelhards Geschichte lässt sich als die eines bewundernswerten und für die höfische Gesellschaft höchst erstaunlichen Aufstiegs lesen.215 Nachdem sein Ansehen einen Höhepunkt erreicht hat, erfolgt jedoch zweimal ein jäher Fall. Diese Wende wird jeweils durch eine bewusste Entscheidung des Protagonisten ausgelöst, wobei das Verhalten des ersten Handlungsteils im zweiten Teil klar überboten wird. Die gesteigerte Wiederholung beim Sturz ins Unglück entspricht in struktureller Hinsicht dem arthurischen Doppelweg.216 Die Erzählung beginnt mit Engelhards Aufbruch von seiner Familie, da er als ältester von zehn Söhnen eines armen Adligen mit keiner weiteren Unterstützung durch seine Eltern rechnen kann. Trotz der zahlreichen Vorzüge, durch die sich der Protagonist auszeichnet, wird seine soziale Ausgangssituation als defizitär markiert. er was gar aller saelde vol, / wan daz im brast an guote (264f.), kommentiert der Erzähler und erklärt, dass ange_____________ 214 Eine vergleichbare Konstellation liegt dem ‚Hildebrandslied‘ zugrunde. Der Held muss den Tod seines Sohnes in Kauf nehmen, wenn er seine Ehre verteidigen will. – Zu Hildebrands tragischem Konflikt zwischen Rechtsbewusstsein und Pflichtgebot, Sippengefühl und Ehrgebot bzw. Vaterliebe und Kriegerehre vgl. Düwel, Hildebrandslied, Sp. 1247f. 215 Als Erklärung wurde auf Konrads Zeit, seinen Auftraggeber und den städtischen Entstehungskontext verwiesen. Vgl. z.B. Brunner, Genealogische Phantasien; Herzmann, Alte Ordnung; Kokott, Konrad von Würzburg, S. 63–68; Peters, Literatur, S. 114–137; Reiffenstein, Einleitung, S. XXI; Seitz, Konrad von Würzburg, S. 135–154. 216 Zum Aufbau des Werks vgl. Rohr (Kleiner Roman, S. 310), der sich auf Fromms Studie (Doppelweg) bezieht. Mit seiner strukturellen Deutung wendet sich Rohr gegen Könnekers Einschätzung (Erzähltypus, bes. S. 247, 251, 271), die verschiedenen Handlungsstränge seien lediglich äußerlich aneinander gekoppelt. Einen Überblick über die Strukturierungsansätze des ‚Engelhard‘ bieten Oettli (Verschränkung) und Rohr (Kleiner Roman, S. 306– 310). – Im Unterschied zum Doppelweg in Hartmanns Artusromanen liegt der Akzent im ‚Engelhard‘ allerdings auf dem Aufstieg vor der Krise.

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messener Besitz eine wesentliche Bedingung für hôh[e] wirde (272) ist.217 Weil Engelhard fürchtet, aufgrund fehlender materieller Voraussetzungen vom Rittertum ausgeschlossen zu werden, fasst er den Entschluss, sich bei einem mächtigen Herrn zu verdingen. Von König Fruote von Dänemark, dessen Großzügigkeit weit gerühmt wird, hofft er, vil rîchiu swertlêhen für seinen Dienst zu erhalten (317).218 Auf dem Weg dorthin trifft Engelhard einen anderen jungen Mann, Dietrich, der nicht nur dasselbe Ziel verfolgt, sondern ihm auch in seinen Tugenden, der Körpersprache, ja selbst im Aussehen vollkommen gleicht. Sie schließen Freundschaft und setzen ihre Reise zusammen fort. Am dänischen Königshof vervollkommnen die beiden Freunde ihre höfischen Kompetenzen, zu denen neben Lesen und Schreiben auch Vortragen, Singen und Tanzen sowie Musizieren, Schachspielen und Schießen gehören. Nicht nur wegen ihrer Ähnlichkeit erregen die jungen Männer, die stets als Paar auftreten, Aufmerksamkeit. Ebenso tragen ir adel unde ir zuht dazu bei, dass sie im ganzen Land geprîset und gerüemet (776f.) werden. Der König weiß ihre Dienste sehr zu schätzen, und seine Tochter ist den jungen Männern herzlich zugetan. Das gemeinsame Leben findet ein Ende, als Dietrich sein väterliches Erbe in Brabant antreten soll. Die edle Abstammung seines Freundes macht Engelhard seine ständische Inferiorität bewusst. Er bedauert ihre soziale Differenz sehr, weil er sich nicht für würdig hält, daz eines landes herre grôz / ze hove solte mîn genôz / an geselleschefte sîn. (1463–1465) Während Dietrich ihre Gemeinschaft unbedingt aufrecht erhalten möchte, lehnt Engelhard ab, seinen Freund zu begleiten. Obwohl auch er die Trennung als äußerst schmerzlich empfindet, will er König Fruote weiterhin als ein vil ellender kneht […] / der niht geltes hât (1444f.), dienen.219 Weder Dietrichs Angebot, seine Herrschaft mit ihm zu teilen, noch die Aussicht, vom Freund zum Ritter geschlagen zu werden, können Engelhard umstimmen.220 Vielmehr betont er die Unmöglichkeit, sich über seinen Stand zu erheben und soziale Grenzen zu ignorieren: mirn touc niht baz ze lebene / _____________ 217 Die Zitate stammen aus der von Ingo Reiffenstein herausgegebenen Ausgabe aus der Reihe ‚Altdeutsche Textbibliothek‘. 218 Herzmann (Alte Ordnung, S. 389) ist der Meinung, der Protagonist müsse „aus w i r t s c h a f t l i c h e n Gründen emigrieren“. Dagegen hat die Sippe nach Kokotts (Konrad von Würzburg, S. 47) Auffassung ausgedient und kann dem anspruchsvollen Helden nicht mehr helfen, weshalb er seine überragenden Anlagen selbstbewusst im Herrendienst einsetzen wolle. 219 Rohr (Kleiner Roman, S. 313, Anm. 26) bemerkt treffend, dass Fruotes Hof für Engelhard nicht nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zur väterlichen Macht, sondern erklärtes Ziel seiner Ambitionen sei. 220 Nach Rohrs (Kleiner Roman, S. 315) Ansicht schließt Engelhard das ehrenvolle Angebot aus, weil Dietrich ihn auf diese Weise tatsächlich zum Aufsteiger mache. Da er nicht ohne Legitimation an hochadeliger Macht partizipieren wolle, sei sein Verhalten folgerichtig.

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nâch mîner mâze danne ich lebe. / swenn ich von solher mâze strebe, / sô tuon ich gar unrehte. (1554–1557) Nachdem Engelhard eine Erhöhung seiner gesellschaftlichen Position ausgeschlagen hat, muss Dietrich alleine in sein Herzogtum reisen. Ganz auf sich gestellt, intensiviert der Protagonist seinen Dienst für den König, so dass sich die Abreise des Freundes förderlich auf sein Fortkommen am Hof auswirkt. Engelhard steigt in Fruotes Gunst, da sich seine Zuneigung nun auf einen der beiden jungen Männer konzentrieren kann; sein Ansehen in der höfischen Gesellschaft wächst stetig. Die Wertschätzung des Königs geht so weit, dass er Engelhard Zugang zu seinen engsten Familienmitgliedern gewährt. Eine neue Stufe in Engelhards höfischer Karriere ist erreicht, als ihm Fruote die Pflege seiner einzigen Tochter, Engeltrud, anvertraut. Als Kämmerer soll er ihre Trauer und ihren Schmerz lindern. Dabei ahnt der König nicht, dass das Leid seiner Tochter weniger durch den Tod ihrer Mutter als durch ihre unerfüllte Liebe zu eben diesem Jüngling verursacht ist. Aufgrund dieser brisanten Konstellation gerät die hohe Vertrauensstellung, die Engelhard durch seinen unermüdlichen Dienst erworben hat, bald in Gefahr. Als Engeltrud mit einem versteckten Hinweis auf ihre Liebe aufmerksam macht, wird Engelhard ebenfalls von der Minne ergriffen, was er zunächst nicht zu gestehen wagt. Schließlich bekennt er der Königstochter gezwungenermaßen seine Liebe, hält diese jedoch aufgrund ihrer ungleichen ständischen Voraussetzungen für nicht realisierbar: Frouwe, ir sît ein künegîn: / sô muoz ich iuwer dienest sîn / alsam ein eigenlicher kneht. (2055–2057) Obwohl Engeltrud sich sehr über das Liebesgeständnis freut, seinen Tugendadel rühmt und ihn damit indirekt als würdigen Partner anerkennt,221 weist sie Engelhard doch zurück. Aufgrund seiner unerwiderten Minne erkrankt der Protagonist so schwer, dass sein Gesundheitszustand bedrohliche Züge annimmt.222 Erst als Engeltrud sich überwindet und ihm Liebeslohn zusichert,223 bessert sich seine Situation schlagartig. Heimlich bereits im Minnedienst der Königstochter stehend, wird Engelhard von ihrem Vater für seine bisherigen Leistungen belohnt und zum Ritter geschlagen. Wie von Engeltrud verlangt, nimmt Engelhard anschließend an einem Turnier in Nantes teil. Seiner Ernennung zum Ritter erweist er sich dabei als würdig; er zeichnet sich als ein glänzender Kämpfer _____________ 221 Vgl. V. 2075–2079: Dâ wider sprach diu schoene dô / ‚swer mit êren hât alsô / geblüemet sîne reine jugent / daz er bekennet ganze tugent, / dem ist gemaeze ein keiserîn. / […].‘ – Zur Debatte über Tugend- und Geburtsadel allgemein vgl. auch Borck, Adel; Lubich, ‚Tugendadel‘. 222 Zur Konzeption einer tragischen Liebe und der darin angelegten tödlichen Gefahr vgl. S. 438–451. 223 Die Königstochter verspricht, dû solt nâch dienste lôn bejagen (2372), und besiegelt dies mit einem Kuss.

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aus und verhilft seiner Partei zum Sieg. Sein ursprüngliches Ziel, ritters name und ouch sîn amt (291) zu erwerben, hat Engelhard verwirklicht. Auch der ersehnte Minnelohn wird ihm wenig später zuteil. Die erotische Schönheit der Königstochter und ihre herrschaftlichen Attribute, ein goldener Kranz und ein roter, mit weißem Hermelin besetzter Mantel, werden bei dem Treffen im Baumgarten wirksam in Szene gesetzt.224 Ihre Liebesfreuden, die der Erzähler zunächst nur mit dem Unsagbarkeitstopos andeutet,225 beschreibt er schließlich als alle menschlichen Maßstäbe übersteigend: Si freuten sich in manege wîs. / in wart daz saelden paradîs / ûf entslozzen und getân. (3147–3149) Der Höhepunkt von Engelhards Glück scheint damit erreicht: Als Ritter hat er soziale Anerkennung gewonnen und als Liebender die ersehnte Erfüllung gefunden. Da die Minne des Protagonisten jedoch nicht im Einklang mit den gesellschaftlichen Normen steht und er seine Beziehung zur Königstochter vor der höfischen Öffentlichkeit verbergen muss, ist sein Lebens- und Liebesglück äußerst fragil. Noch im Moment des größten Glücksempfindens erfolgt eine Störung, die das Hochgefühl des Protagonisten in tiefes Leid verwandelt, wie der Erzähler herausstellt: in sprach daz ungelücke mat / in hôher saelden velde. (3190f.) Aufgrund einer Verknüpfung von ungünstigen Ereignissen überrascht Ritschier, der Neffe des Königs, das Liebespaar. Da er dem Günstling seines Onkels schon lange feindlich gesinnt ist, meldet er seine Entdeckung sofort dem König. Diesem hält Ritschier vor, Engelhard zu Unrecht gefördert zu haben, wobei er dessen niedere Abstammung hervorhebt: ûz einem swachen knehte / hât ir gemachet einen voget. / er ist ze schanden iu gezoget / her in des landes umberinc. (3530–3534) Weil er Engelhard bisher seine volle Zuneigung geschenkt hat, trifft Fruote der Vertrauensbruch schwer. Enttäuscht und zornig lässt er den Protagonisten, der sich gegen die Flucht entschieden hat und die Ehre seiner Geliebten verteidigen will, gefangen nehmen. Zu diesem Zeitpunkt hat Engelhard all sein Ansehen, das er sich durch jahrelangen Dienst erworben hat, verspielt. Aus dem zuvor hochgeschätzten Mitglied der Hofgesellschaft ist ein todgeweihter Gefangener geworden, dessen Schicksal im ganzen Land Bedauern hervorruft. Nur aufgrund der Fürsprache seiner Räte erklärt Fruote sich bereit, Engelhard noch anzuhören, statt die Strafe für die Schändung der königlichen Fami_____________ 224 Kraß (Geschriebene Kleider, S. 177) spricht von einer „voyeuristische[n] Blickregie“, die in hohem Maße originell sei, obwohl sie sich an literarischen Vorgaben orientiere. Zu Engeltruds Kleidung vgl. auch Schmitz, Stellenkommentar, S. 52. Zum rhetorischen Verfahren der descriptio und den intertextuellen Bezügen zu Isoldes Beschreibung in Gottfrieds ‚Tristanroman‘ und zu Walthers berühmtem Spruch über die ‚Magdeburger Fürstenweihnacht‘ vgl. Brandt, Kleinere epische Werke, S. 122, Anm. 98. 225 Vgl. V. 3114–3117: und haete ich sîn gewettet / umb allez daz ich ie gesach, / ir hôhen freude und ir gemach / künd ich gesagen halbez niht.

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lie sofort vollstrecken zu lassen. Engelhard ist damit auf dem Tiefpunkt des ersten Handlungsteils angelangt. Bei der einberufenen Gerichtsverhandlung formuliert der König klar, was er seinem einstigen Lieblingsdiener vorwirft: ich wânde niht, her Engelhart, / daz mîn êre als unbewart / mit iu waere, sam mir got. (3691–3693) Der soziale Unterschied zwischen den Liebenden rückt in den Mittelpunkt der Anklage, wenn Fruote betont: si was ze friuntschaft iu ze hôch / und zeiner tougenlichen brût (3714f.). Als der Protagonist die Gelegenheit zur Verteidigung erhält, streitet er alle Vorwürfe vehement ab. Gegen Ritschiers Aussage behauptet er, der Königstochter nie nahe gekommen zu sein. Da sich die Angelegenheit mangels weiterer Zeugen nicht entscheiden lässt, wird ein Gottesurteil verlangt und sechs Wochen später ein Gerichtskampf anberaumt.226 Auf diese Weise wird die Verurteilung vorerst aufgeschoben; der Protagonist erhält eine gewisse Frist, die er zur Rettung seines Lebens und zur Verteidigung von Engeltruds Ehre nutzen muss. Hilfe erhält Engelhard von seinem treuen Freund, zu dem er in seiner Not unverzüglich eilt. Dietrich zeigt sich über sein Kommen hocherfreut und erneuert sofort sein Angebot, Engelhard an allem teilhaben zu lassen: dir sol hie werden undertân / mîn lîp, mîn guot, mîn êre. / dar über soltû sêre / gebieten swie dû selbe wilt. (4332–4335) Wiederum lehnt Engelhard den Vorschlag seines Freundes ab, obwohl dieser ihn aus allen Schwierigkeiten erlösen würde. Diesmal verweist er jedoch nicht auf ihre ständische Differenz, sondern auf seine Notsituation in Dänemark. Nun wird Dietrichs Angebot, seinem Freund alles in die Hände zu legen, tatsächlich relevant, wenn auch radikaler als ursprünglich intendiert: Der Herzog von Brabant schlägt dem dänischen Flüchtling einen Rollentausch vor, bei dem er sein Leben für ihn im Zweikampf einsetzen will und dieser ihn am Hof, vor seinem Gefolge und sogar im Ehebett vertreten soll. Nach kurzem Zögern lässt sich Engelhard darauf ein227 und wird so, unter Dietrichs Namen, zeitweilig in eine sozial überhöhte Position versetzt, während sein Freund bereitwillig in die Rolle des Beschuldigten schlüpft. Die nicht zu übertreffende Ähnlichkeit der beiden jungen Männer, die zunächst primär als Symbol ihrer engen Freundschaft diente, gewinnt nun Handlungsrelevanz.228 Engelhards treuem Stellvertreter, der tatsächlich _____________ 226 Zur Institution des Gottesurteils vgl. Erler, Gottesurteil; Schnell, Manipuliertes Gottesurteil. 227 Könneker (Erzähltypus, S. 264) stellt heraus, dass Engelhard nicht deshalb zögere, weil er den Betrug gegenüber Gott oder Fruote scheue. Vielmehr fürchte er einen Treuebruch gegenüber dem Freund, wenn er dessen Platz bei seiner Gemahlin einnehme. 228 Einzig bei Engeltrud führte die Ähnlichkeit der beiden jungen Männer zu einer ernsthaften Irritation. Weil sie keinen äußerlichen Unterschied entdecken konnte, fühlte sie sich zu ihrem Entsetzen zu beiden Freunden hingezogen. Erst die unterschiedliche Namensgebung lieferte ihr ein Kriterium, so dass sie die sündhafte Doppelliebe aus ihrem Herzen verbannen konnte.

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keine Liebesbeziehung mit der Königstochter eingegangen ist, gelingt es, ein Urteil zugunsten seines Freundes zu erkämpfen.229 Durch seinen mutigen Einsatz, bei dem er das eigene Leben für Engeltruds Ehre aufs Spiel gesetzt hat, gewinnt er die Wertschätzung des Königs zurück. Fruote verspricht dem vermeintlichen Engelhard: ich wil an dir bewaeren / daz ich dienest lônen kan. (4988f.) Die vorher als unüberwindbar dargestellte soziale Differenz zwischen der Königstochter und dem Kämmerer besitzt nun keine Bedeutung mehr. Fruote gibt dem Kämpfer seine Tochter zum Dank für die erbrachte Leistung freiwillig zur Frau. Nachdem die Freunde wenig später ihren Rollentausch aufgegeben haben, darf der Protagonist offiziell die Position an der Seite seiner Geliebten einnehmen. Gesellschaftliches Ansehen und personales Liebesglück sind damit in Einklang gebracht; Engelhard wird als der Saelden barn (5070) bezeichnet, der sich mit der saelige[n] Engeltrût (5077) an staeter minne sunder wanc (5079) erfreut. Als Fruote wenig später stirbt, erhält Engelhard die Krone und die Herrschaft über das Reich. Wie ungewöhnlich diese Entwicklung für den Sohn eines armen Adligen ist, der sich stets als kneht der Mächtigen definiert hat, zeigt auch der Appell des Erzählers: geloubet endelichen daz, / fürsten, grâven, dienestman, / vielen den getriuwen an / mit guote und ouch mit lîbe. (5084–5087)230 Engelhards kühnste Erwartungen sind so übertroffen worden: Statt ein Schwertlehen in Empfang nehmen zu dürfen, wie bei seinem Auszug in die Welt erhofft, ist er nun selbst in der Lage, Lehen zu vergeben. Dieser Rückbezug zu seiner Ausgangssituation wird dezidiert hergestellt, als der Protagonist seinen Vater und seine Brüder nach Dänemark kommen lässt und sie zu Herzögen und Grafen macht.231 Auch die künftige Herrschaftsfolge ist gesichert, nachdem die Königin ihm zwei Kinder geschenkt hat. Engelhard scheint am Ziel angekommen, wobei der zweite Höhepunkt seines Lebensweges eine klare Überbietung des ersten darstellt: sîn dinc er allez zime zôch / in ganzer wirde schône. / […] / diu saelde bôt im liebes wal / sunder mâze und âne zal (5122– 5130). _____________ 229 Zu dieser Figurenkonstellation vgl. auch Roth, Stellvertreter; Witthöft, Stellvertretung. – Ritschier muss für seinen Hass auf Engelhard zwar nicht mit dem Leben bezahlen, verliert jedoch die linke Hand. 230 Gegen Könnekers (Erzähltypus, S. 247f.) Kritik, die Minnehandlung sei kein integraler Bestandteil der Erzählung, betont Kokott (Konrad von Würzburg, S. 48), dass diese eine notwendige Stufe des Aufstiegs darstelle. 231 Überzogen ist Herzmanns (Alte Ordnung, S. 396) Kommentar, der dieses Verhalten als „krassesten Nepotismus“ bezeichnet; Engelhard zeige hier „sein wahres Gesicht: das Gesicht des U s u r p a t o r s “. Wenig positiv fällt auch Brandts (Kleinere epische Werke, S. 126, Anm. 108) Urteil aus: Engelhard handle „im engeren Sinn nicht mehr feudal, sondern schon fast absolutistisch“, weil er „ungeniert Personalpolitik“ betreibe.

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Ebenso unvermittelt wie bei Engelhards Liebesvereinigung erfolgt in der Hochphase erneut ein Glückswechsel, der diesmal jedoch primär den Freund des Protagonisten betrifft. Scharf kontrastiert der Erzähler das Glück des einen und das Unglück des anderen, indem er auf die Schilderung von Engelhards Idealzustand unmittelbar die Beschreibung von Dietrichs Notlage folgen lässt: dâ wider sîn geselle / gewan daz ungevelle / daz er von hôher werdekeit / in swaeren kumber wart geleit. (5131–5134) Der Herzog von Brabant erkrankt an Aussatz. Drastisch werden die körperlichen Veränderungen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen beschrieben. Dietrich gerät mehr und mehr in soziale Isolation, bis er die Wertschätzung seines gesamten Gefolges, seiner Verwandten und seiner Ehefrau verliert und sich den Tod wünscht. Selbst wenn der Fokus der Erzählung nun einige Zeit auf Dietrich liegt, ist sofort einsichtig, dass sein Unglück nicht ohne Folgen für Engelhard bleiben kann. Nicht nur ihre Herzensbindung verpflichtet Engelhard zur Anteilnahme, sondern auch strukturell ist sein Weg vollkommen von Dietrichs Verhalten abhängig. Nur über eine doppelte Stufenfolge, bei der er zweimal die vom Freund ererbte oder erworbene Position einnehmen durfte, zunächst als Herzog von Brabant, dann als Ehemann der dänischen Königstochter, ist sein Aufstieg zum König möglich gewesen. Die beiden Freunde sind daher so eng aufeinander bezogen, dass jede Widrigkeit, die einer erleidet, sie als Paar treffen muss. Mit Dietrichs Aussatz setzt zum zweiten Mal eine fallende Handlung ein, in deren Verlauf auch Engelhards Glück schnell getrübt wird. Der Protagonist erfährt von Dietrichs Krankheit, als dieser hilfesuchend vor den Toren der Burg steht. Obwohl er sich von Herzen über die Ankunft des Freundes freut, trifft ihn die Ursache seines Kommens schwer. Engelhards Trauergebärden veranschaulichen sein Entsetzen und sein Mitgefühl mit dem Aussätzigen. Trotz des abschreckenden Aussehens und der Gefahr der Ansteckung scheut er die körperliche Nähe nicht232 und nimmt den Freund bedingungslos auf. Indem Engelhard anbietet, alles mit Dietrich zu teilen, kann er sich für dessen einstige Großzügigkeit bedanken: lîp unde guot und swaz ich hân / daz sol dir werden undertân / als eigenlichen alse mir. (5791–5793) Als Engelhard an einer bestimmten Formulierung merkt,233 dass es für die Krankheit eine Arznei geben könnte, setzt er Dietrich massiv unter Druck. In der Furcht, den Freund zu verlieren, berichtet Dietrich schließlich vom einzigen Heilmittel, das ihm ein Engel Gottes im Traum offenbart hat und worauf er unter allen _____________ 232 Vgl. V. 5740–5745: alsô der künic begunde holn / von herzen manegen siufzen tief. / mit armen er in umbeswief / und gôz vil manegen heizen trahen, / dâ mit er begunde twahen / diu rôten wangen beide. 233 Oettli (Konrad von Würzburg, S. 385) weist darauf hin, dass Engelhard schon einmal so verfahren ist und durch ein sorgfältiges Abwägen von Worten auf Engeltruds Minnebereitschaft schließen konnte.

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Umständen verzichten will: Er kann nur durch ein Bad im Blut von Engelhards Kindern genesen. In einem großen Selbstgespräch, in dem er die Vor- und Nachteile seines Handelns benennt, trifft Engelhard eine Entscheidung: Er will seine Kinder töten, um auf diese Weise seinen Freund zu retten. Damit ist der Held bereit, alles aufs Spiel zu setzen, was er im Handlungsverlauf – dank Dietrichs Unterstützung – erworben hat. Der Tod der Kinder führt nicht nur zu einem schnellen Ende der jungen königlichen Dynastie. Durch eine solche Tat wird der Protagonist zudem sein gesamtes Ansehen verlieren und hart bestraft werden. Eine erneute Gefangenschaft, die diesmal lebenslänglich dauern würde, nimmt Engelhard bewusst in Kauf: jâ wil ich biz an mînen tôt / mit îsen zallen stunden / dar umbe sîn gebunden (6160f.). Weil er weiß, dass seine Handlungsweise von keinem Menschen gebilligt wird, sucht er nach einer Gelegenheit, die Kinder tougenlîche ân allen schimpf (6235) umzubringen. Auch wenn es ihn große Überwindung kostet, setzt Engelhard seinen Entschluss in die Tat um. Mit dem Blut seiner beiden Kinder eilt der Protagonist zum kranken Freund, der dieses Opfer zunächst entsetzt zurückweist, sich dann aber die Behandlung gefallen lässt. Der vom Engel verheißene Erfolg stellt sich augenblicklich ein; Dietrich wird ebenso schnell wieder gesund, wie Engelhard einst von der Liebeskrankheit geheilt wurde. Obwohl sich der Protagonist die Genesung seines Freundes sehr gewünscht hat, kann er keine ungeteilte Freude empfinden: sîn leit daz wart gemischet dô / mit freuden in dem herzen. (6356f.) Der Verlust seiner Kinder schmerzt ihn sehr: der um si in leide was verdâht / und inneclicher swaere pflac (6392f.). Anders als bei seinem ersten Verstoß gegen die Ordnung der höfischen Gesellschaft, als er durch Zufall beim Liebesspiel überrascht wurde, sorgt Engelhard nach der Tötung seiner Kinder selbst für die Aufdeckung seiner Tat. Er beauftragt die Amme nach ihnen zu sehen, wodurch das verborgene Geschehen im Schlafgemach ans Licht der Hoföffentlichkeit gelangen muss. An dieser Stelle, mit dem Eindruck von Trauer und Schmerz eines Königs, der trotz seiner niederen Abstammung zu größten Ehren aufgestiegen ist, nun aber als Kindermörder vor den Trümmern seiner sozialen Existenz steht, könnte eine Tragödie enden. Konrad von Würzburg, der seinen Protagonisten in diese ausweglose Leidsituation hineingeführt hat, folgt jedoch der stofflichen Vorlage. Wie in der Legende von Amicus und Amelius stellt der Tod der Kinder nur eine Übergangsphase dar.234 Das letzte Handlungselement ist ein göttliches Wunder, durch das die Kinder vom Tod errettet und alle negativen Ereignisfolgen abgewendet werden. Ihr freudig erschrockener Vater kann Gott für diese Rettung und die Be_____________ 234 Vgl. Oettli, Tradition. Vgl. auch Feistner, Freundschaftserzählungen; Winst, Amicus.

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endigung seines Leids nur innig danken: mit saelden überguldet / ist al mîn ungemüete grôz. (6412f.) Die von Gott gewirkte Erlösung verleiht Engelhards Glück dauerhaften Bestand, das sich wiederum für beide Freunde positiv auswirkt. Dietrich kann seine Herrschaft in Brabant übernehmen, und Engelhard wirkt als angesehener König in Dänemark.235 gelücke in hôhe stiure bôt. / si lebeten beide unz an den tôt / froelichen unde schône. (6453–6455) Selbst ihr leiblicher Tod vermag ihrem Glück nichts mehr anzuhaben, wie der Erzähler abschließend versichert: sô wart in saelde vil bereit / ze himele unde ûf erden. (6460f.) Dieser legendenhafte Schluss sollte jedoch das Leid des Protagonisten nicht in Vergessenheit geraten lassen und auch nicht davon abhalten, nach Motivierungsformen des Unglücks zu fragen. Vor allem ist die Inszenierung von Engelhards Entscheidungsnot von Belang, um die bisherigen Beobachtungen zu den Charakteristika eines tragischen Konflikts in der höfischen Literatur zu vertiefen. Handlungsmotive: triuwe, êre und Gott Im Prolog erläutert Konrad von Würzburg, wie er Engelhards Geschichte verstanden wissen will. Über den schlechten Zustand der Welt im Allgemeinen und die Vernachlässigung der Treue im Besonderen klagend, stellt er die Macht dieser Tugend heraus: von triuwe leit verswindet / und alliu sorge erwindet: / swer triuwe an liebe vindet, / ze freuden sich der bindet. (53–56) Welche erlösende und tröstende Kraft ihr innewohnt, solle die Erzählung exemplarisch zeigen.236 Konrad räumt ein, dass es auf diese Weise kaum gelingen werde, untreue Menschen eines Besseren zu belehren. Wenn er sich deshalb an alle Treugesinnten wendet, konstituiert er eine Gemeinschaft idealer Rezipienten.237 Diese würden dem Märe die nötige Aufmerksamkeit schenken, darin vil saelic bilde / ze triuwen (206f.) finden und in ihrem Verhalten bestärkt werden. Dieser anfänglichen Rezeptionsanleitung entspre_____________ 235 Nach Kokotts (Konrad von Würzburg, S. 53) Ansicht ist diese letzte Erhöhung notwendig, damit Engelhard nicht mehr als jemand herrscht, der „als Usurpator gelten könnte“ und „mit fragwürdigen Mitteln […] an die Macht gekommen ist“, sondern „ausdrücklich in der Gnade Gottes“ lebt. 236 Viele Interpreten sind ihm hierin gefolgt, insbesondere da sich die triuwe eignet, um Freundschafts- und Minnehandlung zu verbinden, wie Kesting (Diu rehte wârheit, S. 255) herausstellt. Vgl. auch Lienert, Konrads Romane, S. 59. Kritisch äußert sich dagegen Kokott (Konrad von Würzburg, S. 45), der die triuwe nicht für so dominierend hält, dass sie als Schlüssel zum Verständnis des Werks ausreicht. Auch Oettli (Konrad von Würzburg, S. 387) bemerkt, dass Engelhards Aufstieg nicht Resultat seiner Treue ist. 237 Damit verfährt Konrad ähnlich wie Gottfried im Prolog des ‚Tristan‘ (vgl. S. 390), wenngleich er sich inhaltlich deutlich von ihm unterscheidet. Wie Behr (Liebe) darlegt, wird Gottfrieds Minnekonzeption im ‚Engelhard‘ gebrochen; die triuwe verspricht Erlösung von allem Übel, statt leidvolle Liebe zu bejahen.

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chend, wird Engelhards Treue in der Geschichte stets akzentuiert und als zentrales Movens seines Verhaltens präsentiert. Schon bei der ersten Vorstellung des Protagonisten, noch bevor sein Name überhaupt Erwähnung gefunden hat, wird unter seinen zahlreichen Tugenden eine hervorgehoben. Sie wird als eine aus langer Familientradition erwachsene, aber zugleich selbstständig angeeignete Kompetenz dargestellt: er haete ûf triuwe sich gewent / nâch sîner väterlichen art. (258f.) Diese Charakterisierung wird bei Engelhards Verabschiedung von seiner Sippe in Handlung überführt. Sein Vater erweist der familiären Tugend die Ehre, indem er ihre Stärke rühmt und seinen Sohn dazu ermahnt, daz dû getriuwe gerne sîst. (369) Auch die zweite männliche Hauptfigur muss, um als Engelhards Pendant gelten zu können, die Eigenschaft der Treue verkörpern. Nachdem der Erzähler die vollkommene Ähnlichkeit der beiden jungen Männer mit der Metapher zweier von einem Siegel abgezogenen Wachsbilder veranschaulicht hat, beschreibt er ihre Gesinnungsgleichheit: si wâren triuwen gar ein rigel, / ein vestez sloz der staete. (474f.) Die Freundschaftsgeschichte, die mit der Erklärung des Protagonisten beginnt, seinem Gefährten brüederlîche triuwe (541) leisten zu wollen, bestätigt diese Einschätzung. Im Gegensatz zu den beiden anderen Jünglingen, die Engelhard zuvor begegnet sind, behält Dietrich ein empfangenes Gut nicht für sich. Vielmehr teilt er den geschenkten Apfel mit Engelhard und erweist sich so als ein wahrer Freund.238 Die auf triuwe basierende und in der äußeren Ähnlichkeit sich dokumentierende Freundschaft ist so eng, dass Engelhard und Dietrich in Dänemark nur als Paar in Erscheinung treten. Indem der Erzähler offen lässt, welcher von beiden gegenüber König Fruote das Wort ergreift, ir einer (681), betont er die Einheit der Freunde;239 es ist irrelevant, wer das gemeinsame Anliegen vorbringt. Bei der Schilderung, wie die beiden ihre höfischen Fertigkeiten vertiefen, vergisst der Erzähler nicht zu betonen, daz si geselleschefte / mit ganzer triuwen krefte / vil staeteclichen wielten. (787–789) Um diese innige Verbundenheit zu charakterisieren, werden die Topoi höfischer Liebe benutzt: Si wâren zallen stunden / zesamene gebunden / mit hôher minnen stricke (805–807). Minne, triuwe und geselleschaft gehen in Engelhards und Dietrichs Beziehung eine untrennbare Synthese ein. _____________ 238 Könneker (Erzähltypus, S. 261) weist darauf hin, dass die Geste der Apfelteilung nicht der Motivierung der Freundschaft dient, sondern nur nach außen dokumentieren soll, „was bereits Ereignis geworden ist“. Dagegen versteht Witthöft (Stellvertretung, S. 394) die Apfelprobe als einen kommunikativen Akt, durch den Vertrauen geschaffen werden soll. Die symbolische Handlung, in der Dietrich seine soziale Fähigkeit zur Reziprozität beweise, bilde die Grundlage der Freundschaft. – Zur Bildlogik und Symbolik des Apfels vgl. Klinger/Winst, Zweierlei minne stricke, S. 260f.; Kraß, Freundschaft, S. 112. 239 Oettli (Verschränkung, S. 74) kommentiert treffend: „Der einzelne ist im Bund, in der unio der Freunde aufgegangen.“

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Daher trifft der Bote aus Brabant nicht nur den gesuchten jungen Fürsten, sondern zwei sich durch geselleschaft (1317) an den Händen haltende Freunde,240 die sich nur schwer auseinander bringen lassen. Wie schon bei der Apfelgabe zeigt sich Dietrichs Treue in dem Vorsatz, Hab und Gut mit dem Freund zu teilen. Nachdem sein Vorschlag zurückgewiesen worden ist, beweist er seine Treue durch die Bereitschaft, zugunsten ihrer Gemeinschaft auf sein Herzogtum zu verzichten. Engelhards Verhalten wird hingegen aus den entgegengesetzten Gründen als treu qualifiziert: Weil er Dietrichs Angebot zur Herrschaftsbeteiligung ablehnt, ihre Freundschaft nicht als Mittel zum Macht- und Statusgewinn benutzt, seinen Freund aber ungeachtet des Trennungsschmerzes selbstlos zum Antritt seines Erbes auffordert, wird er als der getriuwe knabe (1429) bezeichnet. Neben dem Austausch von Argumenten dient die Abschiedsszene dazu, die vorher primär aus dem Verhalten der Freunde abzuleitende Verbundenheit auch verbal zu inszenieren. Wenn sich die beiden männlichen Hauptfiguren immer wieder mit dem zärtlichen Kosenamen trûtgeselle anreden, beschwören sie ihre bedrohte Liebesgemeinschaft und versichern sich so ihre unveränderte Zuneigung.241 Die von Konrad in den Eingangsversen gerühmte triuwe kennzeichnet auch die zweite personale Beziehung, die der Protagonist im Handlungsverlauf eingeht. Dass Engelhards Minne zu Engeltrud und seine Freundschaft zu Dietrich parallel konstruiert sind, zeigt sich sowohl in der Verwendung einer einheitlichen Terminologie als auch in der chronologisch versetzten Abfolge; eine Realisierung beider Beziehungen zur gleichen Zeit ist ausgeschlossen.242 Durch ein kleines Wörtchen von Engeltrud wird der Protagonist in der süezen Minnen stric (1919) geworfen, was er bitter beklagt, als er minnewun[t] (2172) und sterbenskrank darnieder liegt.243 Nicht nur Engelhards Gefühle für den Freund und für die Frau gleichen sich, auch die Protagonistin verhält sich wie die homosozialen Partner, indem sie sich – allen gesellschaftlichen Bedenken zum Trotz – für die Rettung des Geliebten entscheidet: Als sie bemerkt, dass Engelhard ohne ihre _____________ 240 Diese Geste ist ausschließlich bei höfischen Zeremonien oder in Rechtskontexten üblich, worauf von Bloh (Engelhart, S. 330) aufmerksam macht. 241 Vgl. V. 1418, 1450, 1540, vgl. auch V. 1433, 1489. 242 Wie schwer sich beide Verbindungen vereinbaren lassen, wird an Engeltruds Gefühlsverwirrung deutlich. Zudem gelingt es ihr nicht, in den Freundesbund einzudringen, solange Dietrich am Königshof zugegen ist. Erst nachdem Engelhard seinen Freund nicht mehr um sich hat, ist er für Engeltruds Minne empfänglich. – Während Könneker (Erzähltypus, S. 247) die fehlende Verknüpfung beider Beziehungen zu einer „echten Dreieckskonstellation“ als ein künstlerisches Defizit wertet, betrachtet Kraß (Freundschaft, S. 112) die Konfrontation von Freundschafts- und Liebesgeschichte als poetologisches Experiment. 243 Vgl. V. 2230–2235: wan ir enpfuor ein wörtelîn / unde ein spilender ougen blic / dâ von ich in der Minnen stric / alsô krefteclichen viel / daz mînes wunden herzen kiel / muoz in des tôdes ünden sweben […].

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Minne nicht genesen kann, dô tet diu maget ûz erlesen / als ein friunt dem friunde tuot (2268f.).244 Weil Engeltrud wie ein wahrer Freund gehandelt hat, kann der Protagonist auch an ihre Treue appellieren, um den versprochenen Liebeslohn zu erhalten. gnâd unde triuwe an mir begânt (2910), bittet er die Geliebte und stellt die Treue gar als eine göttliche Tugend dar, für die sie himmlischen Lohn erhalten werde: daz stât vil wol der saelekeit / die got von himele hât geleit (2911f.). Nachdem Engeltrud durch die Entdeckung ihres Liebesverhältnisses in größte Schwierigkeiten geraten ist, muss nun Engelhard zeigen, dass er ihr seinerseits die Treue hält. Statt sich durch Flucht der Verantwortung zu entziehen und sein Leben zu retten, setzt er alles daran, das Ansehen der Königstochter zu verteidigen. Aufgrund seines Freundschaftsdienstes für Engeltrud gerät Engelhard selbst in eine lebensgefährliche Situation, aus der ihn wiederum nur Dietrich durch sîne triuwe lûterlich (4144) befreien kann. Freundschafts- und Minnebeziehung konvergieren also an dem Punkt, als es gilt, die triuwe gegenüber dem Partner vor Gericht zu beweisen und mit dem eigenen Leben für den anderen einzustehen. Engelhards Vertrauen in Dietrich wird nicht enttäuscht. Als dieser von der Ankunft des Freundes hört, reagiert er unverzüglich, alsam ein friunt des man bedarf. (4281f.) Halbnackt, nur mit einem Mantel bekleidet, barfuß und ohne Hemd stürmt Dietrich an die Zinne, um seinen Freund zu begrüßen:245 vil herzetrût geselle mîn, / sô soltû willekomen sîn / gote unde mir vil tûsentstunt. (4289–4291) Wechselseitig preisen sie die Treue des anderen, die den Grund ihrer Freundschaft bildet.246 Während sich Engelhards triuwe darin dokumentiert, dass er in seiner Notsituation den Freund um Hilfe bittet, erweist sich Dietrichs Treue in seiner sofortigen Bereitschaft, sein Leben für den Freund einzusetzen. In Dänemark bietet das Verhalten der beiden Anlass zu großem Jubel. Der König und sein Gefolge preisen Engelhards Zuverlässigkeit und in_____________ 244 Auch die Kosenamen weisen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede auf. Engeltrud spricht ihren Geliebten als herzetrût geselle (2347, trûtgeselle, 2354) an. Dem Wachs-Siegel-Bild, mit dem die äußere Ähnlichkeit der Freunde beschrieben wird (vgl. 470–473), entspricht die Einheitsmetaphorik der Minnebeziehung, in der das Bild des Geliebten im Inneren des Herzens verortet wird: swer dô gespalten haete enzwei / ir beider herzen als ein ei, / ez waere bî den stunden / in iegelichem funden / des anderen figûre / mit golde und mit lasûre / gebildet und gebuochstabet. (3459–3465) Auf die Entsprechung der Freundschaftssymbolik, die im geteilten Apfel und gespaltenen Ei Ausdruck findet, weisen Klinger/Winst (Zweierlei minne stricke, S. 260f.) hin. – Zur Ähnlichkeit der homosozialen und heterosozialen Bindungen vgl. auch von Bloh, Engelhart. 245 Dass es sich bei Dietrichs überstürztem Aufbruch aus dem Ehebett um einen Regelbruch handelt, stellt von Bloh (Engelhart, S. 330) heraus. 246 So erklärt Dietrich: dîn triuwe sol mir bieten / ze freuden ganze stiure (4324f.), wohingegen Engelhard ihm entgegnet: got selbe müeze / danken dir, geselle trût, / daz ich stille und über lût / ie vant sô reine triuwe an dir. / dû bist ein marmel gegen mir / unde ein flins der staete. (4352–4357)

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terpretieren seine Rückkehr als einen Treuebeweis gegenüber der Königstochter, ohne den vorausgegangenen Rollentausch und den doppelten Freundschaftsdienst zu erkennen: kein herze enwart getriuwer nie dan er in sînem lîbe treit. vil wol er sîne staetekeit bewaeret hât ze dirre frist, sît daz er wider komen ist und in sîn triuwe dar zuo jaget daz er erloesen wil die maget ûz ir schemelichen nôt, oder aber hie geligen tôt an dem vil herten wîge. (4634–4643)

Weil beim Gottesurteil zwei Unschuldige miteinander kämpfen, kann die Tugend den Ausschlag geben, deren Bedeutung im Märe als wesentlich gilt. der vil getriuwe Dieterich (4710) muss den Gerichtskampf gewinnen, solt aber triuwe helfen iht (4750). Auch die Anteilnahme der Zuschauer ist dem treuen Kämpfer sicher; sie bitten Gott mit der Begründung, er strihte wol der Triuwen stric (4892), um seinen Sieg. Wem der Streiter für die Ehre der Königstochter wirklich die Treue hält, wird in Erinnerung gerufen, als Dietrich den Lohn für seinen Sieg empfängt. Er nimmt Engeltrud zur Frau, legt jedoch ein Schwert in ihr Ehebett, um dem Freund einmal mehr die Treue zu halten. Bei dieser Handlungsweise zeigt sich erneut die Gesinnungsgleichheit der Freunde, da Engelhard in Brabant dieselbe Vorkehrung trifft: ir staete gap in kiuschen sin / alsô daz an den frouwen / geselleschaft verhouwen / noch ir triuwe niht enwart. (5018–5022, vgl. auch 4562–4569) Der Aussatz, der Dietrich wenig später befällt, soll nicht zum Anlass genommen werden, seine Vorbildlichkeit hinsichtlich der Freundestreue in Frage zu stellen. Ausdrücklich betont der Erzähler daher, dass der vil triuwebaere die schreckliche Krankheit ân alle sîne schult (5432f.) bekommen habe. Stattdessen führt er Dietrichs triuwe als ausschlaggebendes Motiv dafür an, dass ihm ein Heilmittel offenbart werde. Gott, der triuwe sich versinnet (5445), habe sich seiner erbarmt, teilt der Engel Dietrich im Traum mit. Er wolle ihn dafür belohnen, daz dû ze herzen sliezen / ie woltest hôher triuwen hort (5448f.). Was ihm als Gnadengeschenk verkündet wird, stellt für Dietrich jedoch eine Provokation dar. Den Freund um das Blut seiner Kinder zu bitten, hält er für eine gar ungetriuweliche site (vgl. 5533), die er rundweg ablehnt. Der Gedanke an Engelhards triuwe bewegt Dietrich aber, in Dänemark Zuflucht zu suchen. Der für Engelhard ausgefochtene Kampf spielt dabei keine Rolle, sondern einzig ihre innige Verbundenheit. Nachdem Dietrich seine Isolation in Brabant geschildert hat, bleibt sein Appell, dâ von ich triuwe suoche an dir / der ich doch nie wart ungewis (5772f.), nicht unerhört. Engelhard sagt ihm sofort lebenslängliche Unterstützung zu: mit

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triuwen dir mîn helfe wiget / biz ûf ein ort al dîne tage (5796f.). Sein Versprechen löst er mit täglichen Besuchen und sorgsamer Pflege ein, wie der Erzähler bestätigt: Er bôt im ganzer triuwen hort (5837). Obwohl Dietrich fest entschlossen ist, den Traum für sich zu behalten, erzwingt Engelhard sein Geständnis, indem er dies als Freundschaftsbeweis fordert. Nur aufgrund seiner triuwe erklärt Dietrich sich dazu bereit. Wie sehr er die Botschaft des Engels als eine Treulosigkeit gegenüber dem Freund versteht, wird daran deutlich, dass er lieber den Tod eines Verräters erleiden und sich zerstückeln lassen will, als das Blut der Kinder anzunehmen.247 Um Engelhard deutlich zu machen, dass er bereits jetzt den größtmöglichen Freundschaftsdienst erhalten habe, dankt Dietrich ihm innig für alle Wohltaten und preist seine reine triuwe (6092). Diese Redestrategie, mit der Dietrich dem Blutopfer vorzubeugen sucht, scheitert. Wegen seines Einsatzes im Gotteskampf meint Engelhard, dem Freund noch einen Treuebeweis schuldig zu sein: er bôt für mich êr unde leben, / dô mir ez an der noete stuont, / und tet als die getriuwen tuont (6200–6202). Hinter dieser selbstlosen Tat will der Protagonist nicht zurückstehen. Explizit wird seine Entscheidung für die Opferung der Kinder mit sîner hôhen triuwen art (6204) begründet und vom Erzähler positiv gewertet, wobei er ihm sogar das Attribut der saelige Engelhard (6203) verleiht. Wie vorher der Engel als Bote Gottes zu Dietrich kam, um ihm wegen seiner triuwe ein Heilungsmittel aufzuzeigen, erscheint ihm nun Engelhard als der Triuwen bote (6332), um ihn mit dem Blut seiner Kinder zu erlösen. Die Treue der beiden Freunde, dies wird der Erzähler am Schluss nicht müde zu betonen, führt nicht nur zur „magisch-mechanische[n]“ Heilung Dietrichs,248 sondern liefert auch den Anlass für die wundersame Auferweckung der Kinder. Gott selbst, der als der Anwalt der triuwe dargestellt worden ist, habe die Freunde für ihre beständige Treue belohnt: diz heil gap in ze lône ir triuwe der si wielden. wan si ze herzen vielden gar lûterliche staetekeit, sô wart in saelde vil bereit ze himele unde ûf erden. got liez in beiden werden sêl unde lîp behalten durch ir manicvalten triuwe und umbe ir staeten art. (6456–6465)

_____________ 247 Vgl. V. 6058–6061: ich lieze ê mich zersnîden, / ob mîn tûsent waeren / ê daz ich dir bewaeren / so grôze untriuwe solte / […]. – Zur Zerstückelung als Todesstrafe vgl. auch S. 197, Anm. 339. 248 Kaiser, Unheilbare Krankheit, S. 92.

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Mit dieser Deutung hat der Erzähler seine Ankündigung eingelöst, eine Exempelgeschichte vorzutragen, die den Wert der Treue offenbaren soll. In seinem Epilog preist er noch einmal die triuwe als eine glänzende Tugend, die gar himmlischen Lohn verspricht. Seine Rezipienten fordert er auf, sich am Verhalten der beiden Freunde ein Beispiel zu nehmen.249 Die Dominanz der triuwe, die sowohl die Freundschafts- als auch die Minnegeschichte bestimmt, lässt alle anderen Motive, die das Handeln der Figuren intentional bestimmen könnten, in den Hintergrund treten. Dies wirkt sich auf das höfische Ideal der êre aus, die in den Überlegungen der Figuren zwar eine Rolle spielt, jedoch kaum als ein zweites, gleichgewichtiges Leitmotiv der Erzählung gelten kann.250 Schon beim ersten Zusammentreffen von Engelhard und Dietrich wird berichtet: gelîche stuont ir beider sin / ûf tugent unde ûf êre (466f.). Auf diese Weise wird eine nachträgliche Begründung für ihren Auszug aus dem familiären Umfeld geliefert und ihre generelle Vorbildlichkeit betont. Relevant wird das Streben nach êre als Handlungskategorie vor allem, als der junge Fürst nach Brabant gerufen wird, sich aber nicht von seinem Freund trennen möchte. Dabei reflektiert Dietrich genau, dass er die Heimkehr nicht ausschlagen kann, wil ich von hôhen êren / niht gescheiden werden. (1408f.) Aus demselben Grund rät ihm Engelhard, sein Erbe unbedingt anzutreten; das gesellschaftliche Ansehen erklärt er zum größten Gut: ein man sol ûf die wâge / lîp unde guot umb êre legen. (1528f.)251 Während der drohende Ehrverlust noch den Ausschlag für die Trennung von Dietrich und Engelhard gibt, vermag die Sorge um das gesellschaftliche Ansehen nicht, Engeltrud und Engelhard dauerhaft voneinander fernzuhalten. Zwar verbergen sie ihre Liebe einige Zeit voreinander, weil sie fürchten, dass daraus grôziu misselinge / an êren erwachsen könnte (2084f., vgl. auch 2044). Als Engelhard jedoch tödlich erkrankt ist, stellt Engeltrud diese Bedenken zurück und ordnet ihre êre der triuwe für den Freund unter. Miteinander vereinbar werden beide Ideale erst wieder, nachdem das Ansehen der Königstochter massiv beschädigt worden ist. Engelhard setzt alles daran, ihren – und den eigenen – guten Ruf wiederherzustellen. Aus diesem Grund rühmt ihn der Erzähler bei der Gerichts_____________ 249 Aus diesem Grund ist die Erzählung auch als ‚hohes Lied der Freundestreue‘ bezeichnet worden, vgl. Rupp, Rudolf von Ems, S. 35. 250 Zu Recht weist Cieslik (Probleme, S. 127) darauf hin, dass das Normensystem der Ehre nicht gänzlich außer Kraft gesetzt ist. Ihre Schlussfolgerung, „das Abklopfen jeder Entscheidungssituation auf den größtmöglichen Ehrgewinn“ könne als „besonderes Merkmal des Textes“ gelten, ist jedoch nicht überzeugend. 251 Engelhards Rede widerlegt Kestings (Diu rehte wârheit, S. 254) generalisierende Aussage, die höfische Ehre existiere im Märe nicht mehr, „die ethisch formende und im Falle des Versagens Rechtfertigung fordernde Kraft der Gesellschaft tritt zurück vor der rehten wârheit des Einzelnen […].“

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verhandlung als Diener beider Werte. Obwohl Engelhard alle Vorwürfe vehement abgestritten und den wahren Sachverhalt geleugnet hat, wird er als der Êren kneht / und der Triuwen dienestman (4122f.) bezeichnet. Wie schmerzlich der Verlust des gesellschaftlichen Ansehens sein kann, wird an Dietrichs Beispiel vorgeführt. Ausgiebig klagt er über seine schlimme Lage, nachdem ihn der Aussatz in die Isolation getrieben hat und ihm niemand mehr Achtung entgegenbringt. Diese unwerdekeit (5613) schmerzt Dietrich mehr als alle körperlichen Leiden. Ausgehend von der Beobachtung, dass die gesellschaftliche Anerkennung stets ein wichtiger Faktor im Leben der Handlungsträger geblieben ist, muss Engelhards Entscheidung zum Kindermord umso höher gewertet werden. Anders als bei seinem Einsatz für Engeltrud, bei dem er ihre und seine êre wiederherstellen wollte, nimmt er nun den vollständigen Verlust seines Ansehens in Kauf. Obwohl er weiß, dass sîn ungelimpf / […] vor den liuten starc (6236f.) werden wird, führt er die Bluttat aus. Vor allem an dieser Szene, bei der sich triuwe und êre ausschließen, wird die untergeordnete Bedeutung des zweiten Motivs deutlich. Der Treue kommt unbedingte Priorität zu. Nicht alle Ereignisse, die im ‚Engelhard‘ eintreten, sind auf die Intentionen und Handlungen der Figuren zurückzuführen. Auch der christliche Gott, der in der mittelalterlichen Literatur als metaphysische Instanz vorausgesetzt ist, wird zum Aktionsträger und greift aktiv in das Geschehen ein. Im ersten Teil des Doppelwegs bleibt der Unterschied zwischen Transzendenz und Immanenz noch weitgehend gewahrt. Gott wird als der Schöpfer und Lenker der erzählten Welt präsentiert, in der nichts dem Zufall überlassen ist. Dementsprechend interpretiert der Erzähler das tadellose Verhalten des Protagonisten mitsamt seiner Familie eingangs als eine göttliche Auszeichnung: got haete ûf si gezwîet / hôher saelden ein wunder. (234f.) Mit dem Hinweis auf das wunderbare Wirken Gottes wird auch die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Dietrich und Engelhard erklärt, die folglich zur Freundschaft prädestiniert sind: got, aller saelden überdach, / der haete an in gewundert. (454f.) Gott selbst führt die beiden zusammen und setzt die Freundschaftshandlung in Gang: Daz aber dise beide / ûf einer wilden heide / zesamene kâmen von geschicht, / des wolte got entberen niht, / der an in wunderte ouch dar nâch. (487–491) Während sich zu Beginn gehäuft Signale finden lassen, die auf eine göttliche Führung hindeuten, treten diese in der Folgezeit zurück; der Fokus liegt ganz auf den menschlichen Aktionen. Nur der Glaube an das christliche Weltbild wird inszeniert, indem sich die Figuren in schwierigen Situationen an Gott wenden. So empfiehlt Engelhard, als er mit der Anklage rechnen muss, seine Angelegenheit dem an, der alliu dinc hiez werden ie

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/ der füege swaz sîn wille sî (3430f.).252 Ebenso bitten die Königstochter und das Hofgefolge Gott, Engelhard den Sieg zu schenken.253 Im zweiten Teil der Erzählung wird die Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre mehrmals überschritten, wobei die Initiative von Gott ausgeht. Der erste direkte Eingriff erfolgt, als Dietrich der Aussatz befällt. Ohne eine Begründung zu liefern, wird die Krankheit unmissverständlich dem Wirken Gottes zugeschrieben: im schuof der himels keiser / grôz leit an allen enden. (5162f.) Als Dietrich sich hadernd an den Allmächtigen wendet, weil er sich keiner Schuld bewusst ist, für die er eine solche Krankheit verdient haben könnte, erbarmt dieser sich seiner.254 Gott greift ein zweites Mal in die menschliche Welt ein und schickt einen Engel mit einer Botschaft, die dem Kranken so ungeheuerlich erscheint, dass er nie selbst auf einen solchen Gedanken gekommen wäre. Gott verspricht ihm die Heilung, verlangt dafür aber von seinem Freund ein Blutopfer: dâ von wil got daz er verschüte / durch dich sîner kinde bluot (5460f.). Dass der Traum tatsächlich göttlichen Ursprungs ist, bezeugt nicht nur die autoritative Erzählinstanz: nû wolte got bî deme tage / ein wunder an im briuwen (5426f.). Auch der Engel verweist mehrfach auf seinen himmlischen Auftraggeber.255 Welchen Anteil Gott an Engelhards Entscheidung und der Ausführung des Blutopfers hat, wird in der Forschung kontrovers beurteilt. Während einige die Ansicht vertreten, dass Gott den Protagonisten entscheidend beeinflusse,256 halten andere sein Wirken für weniger relevant.257 Nicht zu bestreiten ist, dass Engelhard Gott um Rat bittet, nachdem er von der einzigen Heilungsmöglichkeit erfahren hat: got herre vater, wie sol ich / gebâren und gewerben? (6118f.) Anschließend betrachtet er beide Handlungsoptionen und fällt – unabhängig von einem Gedanken an Gott – seine Entscheidung. Erst als sich Engelhard zur Rettung des Freundes _____________ 252 Genauso verhält sich Dietrich beim Aufbruch, vgl. V. 4558: und bat sîn got von himele pflegen. 253 Vgl. V. 3602–3606: ‚got, aller saelden überdach, / gedenke an mich vil armez wîp / alsô daz mînes friundes lîp / von dîner kraft beschirmet wese. / hilf, herre got, daz er genese: / […].‘ V. 4888–4891: ‚got herre, dû vil trûter‘ / gedâhte dô vil maneges sin, / ‚gib Engelharte den gewin / daz er behabe alhie den sic. / […].‘ 254 Zu Dietrichs verzweifelter Klage, bei der er Gott nach der Ursache seiner Krankheit fragt, vgl. V. 5374–5385. Die Klage wiederholt sich später, als Engelhard Dietrichs schweres Leiden ebenso wenig zu erklären weiß, vgl. V. 5710–5727. 255 Vgl. V. 5444–5447: der reine got vil ûz erlesen, / […] der wil dich lân geniezen; V. 5476f.: daz hât dir unser trehtîn / geboten […]. 256 Vgl. z.B. Göttert, Tugendbegriff, S. 184: „Die innere Verzweiflung ist nicht Durchgang zum heroischen Entschluß, sondern Ansatzpunkt für ein wunderbares Eingreifen […].“ Koch, Formen, S. 215: „Der Wille Gottes bewegt Engelhard letztlich zu dem Kinderopfer“, das „ohne göttliche Intervention nicht denkbar gewesen wäre […].“ 257 Vgl. z.B. Herzmann, Alte Ordnung, S. 403: „Zwar ruft er [Engelhard, R.T.] in seinem Monolog […] Gott an, doch spielt Gott […] keine Rolle.“ Von Bloh, Engelhart, S. 333: „Das Wirken Gottes ist wohl vorausgesetzt, bleibt aber für das Erzählte sekundär […].“

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entschlossen hat, rechtfertigt er dies vor sich selbst mit dem Willen Gottes, der Dietrich schließlich dieses Mittel offenbart habe: sît daz im unser trehtîn / dis arzenîe machte kunt, / sô wil er daz ich in gesunt / mit ir lîbe mache noch. (6166–6169) Diese Legitimationsstrategie greift der Erzähler auf, um die hochproblematische Handlungsweise seines Protagonisten zu begründen.258 Nie wäre die Tötung der Kinder erfolgt, beteuert er, haete im unser trehtîn / des willen niht verhengt (6222f.). Auch bei der eigentlichen Tat verweist der Erzähler wieder und wieder auf den Willen und die Einflussnahme Gottes, so dass der Kindermord wie ein sakrales Opfer erscheint: in haete enzündet gotes geist und der wâren minne gluot, daz er sîner kinde bluot verschüten gerne wolte dar umbe daz er solte erloesen den gesellen sîn. (6216–6221)

Diese religiöse Akzentuierung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Engelhard freiwillig und selbstbestimmt eine Entscheidung für den Freund getroffen hat. Der Heilige Geist verführt und zwingt den Protagonisten nicht etwa zu einer Tat, die er völlig ablehnt,259 sondern gibt ihm nur die Kraft, seinen Entschluss umzusetzen. Die zahlreichen Versuche, Engelhards Verhalten als gottgelenkt darzustellen, zeugen von der Argumentationsnot des Erzählers und legen offen, was er als das eigentliche Wunder betrachtet: Das unglaubliche Ereignis, das nach menschlichem Ermessen nicht zu begreifen ist und für das es den göttlichen Beistand als Erklärung braucht, ist nicht die Heilung, sondern die Opferung. Für die Frage, welche Rolle Gott für den ins Unglück führenden Handlungsverlauf spielt, ist daraus folgende Konsequenz abzuleiten: Der Protagonist selbst ist für das Leid verantwortlich, das ihn nach der Tötung der Kinder bedrückt. Erst die Überwindung von Trauer und Tod, die durch menschliches Vermögen nicht mehr aufzuheben sind, ist der metaphysischen Instanz zuzuschreiben. Nû prüevet grôzez wunder / daz aber dô besunder / erzeigete unser herre got (6375–6377), wirbt der Erzähler um die Aufmerksamkeit seiner Rezipienten. Auf diese Weise wird die letzte Aktion angekündigt, mit der Gott eine Wende zum Guten herbeiführt: den kinden wart dô sîn gebot / gesuntheit wider gebende. / si vant ir amme lebende (6378–6380). Der Protagonist kann über diesen Ausgang nur freudig erschrecken und gläubig staunen: Krist herre, tugentrîcher got, / waz wunders dîn vil hôch gebot / _____________ 258 Dass Konrad seine Hörer von der Richtigkeit und Notwendigkeit des Kindermords überzeugen musste, betont Könneker (Erzähltypus, S. 268): „Ganz offensichtlich“ hätten ihn „vornehmlich Gründe und Rücksichten äußerer Art“ dazu veranlasst, die „Grellheit und Kraßheit dieses Motivs“ erträglicher zu machen. 259 Insofern ist die Formulierung, Gott twanc in dô mit sîme gebote (6240), irreführend.

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kan vrühten ûf der erden! (6397–6399) Anfang und Ende der Handlung stehen somit unter dem Segen Gottes, der den Protagonisten nebst Freund und Familie mit seiner Gnade ausgezeichnet hat. Forschungsdiskussion: Legende statt Tragödie? Im Unterschied zu den bisher behandelten Textbeispielen zum tragischen Konflikt, Rüdigers Fall im ‚Nibelungenlied‘ und Giburgs Situation im ‚Willehalm‘, wird der Terminus der Tragik in der Forschungsliteratur zum ‚Engelhard‘ allenfalls in seiner Negation erwähnt. Zu erklären ist dieser auffällige Befund nicht nur mit dem glücklichen Ausgang des Märe, sondern auch mit dem darin entworfenen christlichen Weltbild und der wiederholten Beteiligung Gottes am Handlungsgeschehen. Eine pessimistische Weltsicht, die nach moderner Auffassung als tragisch gelten würde, herrscht in der Erzählung nicht vor. Stattdessen sind viele religiöse Elemente vorhanden, die eine Zuordnung zur Gattung der Legende ermöglichen, welche der Tragödie diametral entgegengesetzt erscheint. Die fehlende Anwendung eines Tragikbegriffs auf den ‚Engelhard‘ ist damit ebenso symptomatisch für das Theorieverständnis der Moderne wie die zahlreichen Bezugnahmen bei Rüdigers Konflikt. Für die These, dass Konrads Erzählung die Form einer Legende aufweist, führt Karl-Heinz Göttert zahlreiche Argumente an. Dabei stützt er sich auf André Jolles’ Definition, dass die imitatio die bestimmende Geistesbeschäftigung für eine Legende sei.260 Diesen legendenhaften Zug beobachtet Göttert auch im ‚Engelhard‘, insofern die Rezipienten zur Nachahmung aufgerufen würden. Das Thema der triuwe werde im Prolog als „unnachahmbar-nachahmenswerte Tat in einer Weise angekündigt, wie man sonst nur von der höchsten und nachahmenswertesten Tugend […] – der des christlichen Heiligen“ spreche. Zwar räumt Göttert ein, dass weder Engelhard noch Dietrich als Heilige bezeichnet werden könnten und auch das dominierende Erzählthema der Treue nicht zu den christlichen Tugenden gehöre. Er betont aber zugleich, dass die Erzählung der Struktur einer Legende entspreche, selbst wenn sie nicht im Sinne der Gattung als eine solche gelten dürfe. Vor allem zwei Charakteristika erscheinen Göttert ausschlaggebend, um von einer „Legendengestalt“ des Märe sprechen zu können: die „i n n e r e K a u s a l i t ä t “ der Geschichte und die „a n d ac h t s m ä ß i g e V e r d i c h t u n g d e s E r z ä h l t o n s “.261 Bei diesem Aspekt, der den ‚discours‘ _____________ 260 Vgl. Göttert, Tugendbegriff, S. 173; Jolles, Einfache Formen. 261 Göttert, Tugendbegriff, S. 179, 198. – Götterts Begriff der ‚inneren Kausalität‘ entspricht in der neueren Erzähltheorie der finalen Motivierung, vgl. S. 62.

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betrifft, meint Göttert hinsichtlich der Wirkungsintention eine „überraschende Nähe zu der der Legende zugehörigen Form“ zu beobachten. Konrad wolle seine Rezipienten erbauen und versuche daher, die „heiligen Tugenden“ sichtbar zu machen und durch eine „andachtsmäßige Durchdringung alles Geschehens“ Mitleid oder Mitfreude mit dem Protagonisten zu erregen.262 Bei jenem Aspekt setzt sich Göttert mit der ‚histoire‘ auseinander, der seiner Lektüre zufolge eine finale Motivationsstruktur zugrunde liegt. Von Beginn an werde das Handlungsgeschehen von der göttlichen Vorsehung überwacht und sei ganz auf das glückliche Ende ausgerichtet. Dementsprechend reduziert Göttert den Eigenanteil der Figuren in seiner Deutung deutlich und stellt den Zusammenhang von Engelhards bedingungslosem Handeln und der daraus entspringenden Gnadenwirkung heraus. Nur im Vertrauen auf das Eingreifen Gottes sei der Protagonist zur Bluttat bereit, wobei alle Erwägungen stets „in der inneren Sicherheit des Gottvertrauens aufgehoben seien“. Engelhards großen Monolog versteht Göttert daher nicht als Inszenierung einer Konfliktsituation, sondern als Versuch, „die Ausweglosigkeit menschlichen Handelns erst ins rechte Licht zu rücken, um mit dem Einwirken der Gnade den Triumph der triuwe um so höher zu steigern.“ Aufgrund dieser inneren, „auf das Wunder bezogene[n] Kausalität der Legende“ verliere der Tod jeden Schrecken, argumentiert Göttert, weil Engelhard jederzeit auf seine Rettung durch Gott vertrauen dürfe.263 Seine Auffassung stützt er mit einem Verweis auf Christoph Cormeau, der das Ende der Freundschaftserzählung ähnlich interpretiert: „Das Opfer der eigenen Kinder, Chiffre für die Bindung an den Freund bis zum Äußersten, ist ein Tod nur auf Bedingung, die Wirklichkeit des Todes ist durch die fraglose Sicherheit, mit der ihm die Wiederbelebung durch göttliche Macht folgt, relativiert.“264 Nachdem Göttert Engelhards Konflikt seine Brisanz genommen hat, schließt er auf das Fehlen jeglicher Tragik, weil ein völlig gottergebener Mensch kaum als tragischer Held gelten kann: „Nicht die innere Entscheidung des Helden ist der Zielpunkt, sondern seine Aufgehobenheit in der Hand Gottes. Von da aus bietet sich kein Ansatzpunkt zu Tragik […].“265 Diese Deutung erscheint jedoch angesichts der Entscheidungsfindung des Protagonisten wenig überzeugend. Engelhard argumentiert erst dann mit dem Willen Gottes, als er bereits einen Entschluss zugunsten des Freundes gefasst hat. Zudem besteht die sichere Gewissheit eines glücklichen Ausgangs nur, wenn man die retrospektive Position des Erzählers _____________ 262 263 264 265

Göttert, Tugendbegriff, S. 188f., 191, 194. Göttert, Tugendbegriff, S. 186f. Cormeau, Hartmanns von Aue ‚Armer Heinrich‘, S. 136. Göttert, Tugendbegriff, S. 198.

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einnimmt. Davon strikt zu unterscheiden ist die eingeschränkte Perspektive der Figuren, denen ihr zukünftiges Ergehen unbekannt ist. Engelhard selbst rechnet jedenfalls nicht mit der Auferweckung seiner Kinder durch Gott, sondern mit Sanktionen durch die höfische Gesellschaft und wird vom glücklichen Ausgang überrascht. Götterts These, dass Konrads Erzählung als eine Art Legende zu betrachten ist, hat in der Forschung Zustimmung gefunden und zu weiteren Untersuchungen angeregt. So deutet Timothy R. Jackson die Figur des Engelhard typologisch und stellt die Parallelen zwischen ihm, Abraham und Adam heraus. Während der göttliche Auftrag, die eigenen Kinder zu opfern, Engelhard in eine ähnliche Situation wie Abraham versetzt, wird im biblischen Prätext auf eine Ausführung dieser Tat verzichtet. Engelhards abweichendes Verhalten interpretiert Jackson vor dem Hintergrund der heilsgeschichtlichen Bedeutung Adams. Zwar verstoße Engelhard mit der Opferung gegen das fünfte Gebot, doch ermögliche diese Sünde die Erlösung seines Freundes. Aus diesem Grund spricht Jackson von einer felix culpa. Wie die Sünde Adams heilsgeschichtlich notwendig gewesen sei, um die Menschheit zu erlösen, entstehe aus Engelhards objektiv schlechter Tat Gutes, indem seine Sünde durch Gnade verwandelt werde.266 Einen weiteren religiösen Deutungsansatz entwickelt Günther W. Rohr, der die triuwe auf das Verhältnis der Figuren zu Gott bezieht. Schon beim ersten Treuebeweis der beiden Freunde versteht Rohr die triuwe, die Dietrich beim Gerichtskampf auszeichnet, als Gottvertrauen. Vor allem aber betrachtet er Engelhards Handlungsweise in der Opferszene als durchweg religiös motiviert; nur aus dem triuwe-Verhältnis zu Gott könne diese ihren Sinn erhalten. Es sei Gottes Wille, dass der Protagonist seine Kinder opfere, und so reagiere auch Engelhard auf die Nachricht: „Er handelt aus triuwe, aus Gottvertrauen, die weit über der triuwe zum Freund steht. Freundestreue könnte die anstehende Entscheidung gar nicht tragen […].“ Weil Gottes Gebot Engelhard diesen Weg gewiesen habe, gebe es für ihn keine Alternative.267 Welche Konsequenzen eine solche religiöse Interpretation für die Frage nach einem Tragikkonzept hat, wird in einer der jüngsten Studien zu Konrad von Würzburg deutlich. Rüdiger Brandt betrachtet den Zusammenhang zwischen dem Gebot Gottes und dem Entschluss des Protagonisten als ausschlaggebend für das Fehlen von Tragik. Weil Engelhard denke, dass Gott die Anwendung dieses Mittels wünsche, entscheide er sich für die heilsversprechende Tat. Brandt kommentiert: „Dies ist das entscheidende Argument, das allerdings angesichts seiner salvatorischen _____________ 266 Vgl. Jackson, Abraham, S. 122–125. 267 Rohr, Kleiner Roman, S. 336. Vgl. auch S. 327, 337.

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Funktion Engelhards Problem jeder Tragik im antiken oder neuzeitlichen Sinn entkleidet.“268 In der Forschungsliteratur finden sich jedoch auch gegenteilige Stimmen, die an der religiösen Deutung Kritik üben. Schon Julius Schwietering vertritt die Ansicht, dass die Frömmigkeit in Konrads Erzählung „einen Grad subjektivistischer Auflösung“ erreiche, der „von der Legende her gesehen“ nicht akzeptabel sei. Nicht Engelhard bemühe sich, Gottes Willen zu verwirklichen, sondern dieser werde sowohl beim betrügerischen Gottesurteil als auch bei der Opferung der Kinder für eher persönliche Ziele in Anspruch genommen.269 Noch weiter geht Herbert Herzmann, wenn er Engelhard vorwirft, keinen Respekt vor ‚objektiven‘ Gesetzen zu kennen und ausschließlich auf sein „p r i v a t e s Wohl“ bedacht zu sein.270 Er charakterisiert Konrads Protagonisten als ein von der Gesellschaft und von Gott weitgehend emanzipiertes Individuum. Als verfehlt kritisiert auch Ingo Reiffenstein Götterts Versuch, die Erzählung als Legende zu verstehen. Engelhards Denken und Tun sei nicht ausgerichtet „auf eine das Menschliche transzendierende Heiligkeit, sondern ganz und gar geleitet von einer die mitmenschliche Verantwortung bejahenden lebenspraktischen Moral.“271 Andere Autoren problematisieren Engelhards „hartnäckiges Leugnen und unverschämtes Lügen“ sowie die „anrüchige[n] Machenschaften“, mit deren Hilfe er seine Position als König erreicht habe.272 Sie heben die „religiöse Bedenklichkeit“ seines Verhaltens beim Gerichtskampf hervor, was vom Erzähler weitgehend verschwiegen werde.273 Weil sein Handeln nicht der Wahrheitsfindung diene, sondern den wahren Tatbestand vertusche, müsse es als „ethisch und moralisch durchaus anfechtbar“ gewertet werden.274 Vor allem durch Engelhards Verteidigungsstrategie vor dem königlichen Gericht wird das Bild eines frommen Protagonisten massiv beschädigt. Um seine Unschuld zu beteuern, beruft sich Engelhard explizit auf Gott und degradiert diesen so zu seinem Komplizen, der einem Lügner Beistand leistet.275 _____________ 268 269 270 271

272 273 274 275

Brandt, Kleinere epische Werke, S. 129, Anm. 121. Schwietering, Deutsche Dichtung, S. 293. Herzmann, Alte Ordnung, S. 397. Reiffenstein, Einleitung, S. XXf. – Gegen eine Gleichsetzung des Märe mit einer Legende spricht auch das bisweilen sehr irdische Verständnis religiöser Vorstellungen. Dies zeigt sich z.B. an Engelhards Versprechen, Engeltrud werde für ihre Minne himmlischen Lohn erhalten, und am Vergleich von Liebes- und Paradiesesfreuden. Kokott, Konrad von Würzburg, S. 56, 60. Könneker, Erzähltypus, S. 263. Oettli, Konrad von Würzburg, S. 375. Vgl. V. 3870f.: nein, ich bin ir minne frî, / daz weiz got aller beste.

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Die zuletzt vorgestellten Forschungspositionen, die die Aufmerksamkeit auf Engelhards Fehlverhalten richten, eröffnen eine neue Möglichkeit, die Ursache für sein Leid ausfindig zu machen. Das Unglück des Protagonisten könnte in einer im antiken Sinne als tragisch zu wertenden Schuld begründet liegen. Die Frage nach einer möglichen Schuld wird in einigen Aufsätzen thematisiert, wobei Dietrichs Aussatz in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Anlass dazu bietet der plötzliche Glückswechsel, der den Herzog von Brabant völlig unvorbereitet trifft. Auch Dietrich und Engelhard fragen nach den Gründen für die schreckliche Krankheit, weil sie einen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen voraussetzen. Beide sind jedoch davon überzeugt, dass der Aussatz eine unangemessene und überzogene Strafe für das geringe Unrecht darstellt, das Dietrich in seinem bisherigen Leben begangen haben kann. An ihren Rollentausch und Dietrichs stellvertretenden Gerichtskampf denkt keiner der beiden in diesem Kontext. Auch der Erzähler bezieht eine klare Position, indem er die betroffene Figur für unschuldig erklärt. Trotz dieser eindeutigen Stellungnahme wird in einigen Studien eine schuldhafte Verstrickung Dietrichs erwogen. Beispielsweise meint Rüdiger Brandt, dass man „in einem etwas komplexeren Zusammenhang“ Krankheit und Opfer „sicher auch als Rehabilitation für den Betrug“ auffassen könnte.276 Nach Hartmut Kokotts Ansicht enthält das Handlungsgeschehen eine Reihe von Signalen, die auf eine mögliche Schuld hinweisen. Zumindest aber schwängen die Implikationen mit, dass der Aussatz als Strafe für eine moralische oder religiöse Verfehlung von Gott geschickt werde.277 Auf der Kommentarebene wird ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang dagegen dezidiert ausgeschlossen und ist nur aus der chronologischen Folge der Ereignisse ableitbar. Dieser Verzicht auf eine Motivierung des Handlungsgeschehens durch Schuld führte in der Forschung ebenfalls zum Schluss, dass in Konrads ‚Engelhard‘ keine Tragik vorhanden sei. So vermisst Eduard Hartl, dass Konrad „das moralische Element, das stets aus Kampf, Verzicht und Tragik besteht“, herausarbeitet. Indem das Aussatzmotiv nur ungenügend motiviert sei, Dietrich nur „durch einen Zufall“ krank werde, „nicht aber zur Strafe für seinen Betrug“, gehe Konrad „an dem Tragischen vorbei“.278 Dem Konzept einer tragischen Schuld erteilt der Erzähler eine unmissverständliche Absage. Ein in der Forschung wenig thematisiertes Problem stellt das in Konrads Erzählung entworfene Gottesbild dar. Unabhängig von der Auffassung, ob der Protagonist stets den göttlichen Willen erfüllt oder moralisch _____________ 276 Brandt, Konrad von Würzburg, S. 142. 277 Vgl. Kokott, Konrad von Würzburg, S. 59f., vgl. auch S. 52. 278 Hartl, Konrad von Würzburg, Sp. 927.

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verwerflich handelt, erscheint die Botschaft des Engels kritikwürdig. Gott verlangt die Opferung der Kinder und macht die Heilung des Freundes davon abhängig. Auch Konrads Gebundenheit an seine stoffliche Vorlage genügt nicht als ausreichende Erklärung, weshalb der Erzähler und die Figuren immer wieder auf Gottes Gebot verweisen. Wie überaus problematisch eine solche Forderung aus einer religiösen Perspektive zu beurteilen ist, offenbart der in der Forschungsliteratur bemühte Vergleich mit biblischen Prätexten. Während der Gott des Alten Bundes auf die Opferung Isaaks und damit auf das Menschenopfer generell verzichtet,279 verlangt der Gott in Konrads ‚Engelhard‘ erneut und nun sogar ein doppeltes Blutopfer. Darüber hinaus ergeht dieser Auftrag, nachdem der Neue Bund durch das Blut Jesu Christi begründet worden ist, dessen Tod am Kreuz nach christlicher Lehre das letzte, unüberbietbare Opfer darstellt.280 Die gerade aus theologischer Sicht nicht zu legitimierende Forderung nach der Opferung der Kinder ist mit negativen Konsequenzen für die Gottesvorstellung verbunden, wie Erich Kaiser feststellt: „Engelhard ist zwar entlastet, dafür ist aber Gott Urheber einer als gefühlswidrig und unmoralisch verurteilten Tat.“281 Der ein Blutopfer heischende Gott ermöglicht es, das scheinbar antagonistische Verhältnis von Legende und Tragödie aus einer anderen Perspektive zu betrachten und die Frage nach der Gattungszuordnung von Konrads Werk neu zu beantworten. Vom Zusammenspiel zwischen Gott und den Menschen lassen sich nicht nur Parallelen zu den biblischen Geschichten, sondern ebenso zur antiken Tragödie herstellen. Sowohl hinsichtlich der Handlungskonstellation als auch der verwandten Motivik weist der zweite Teil des Doppelwegs von Konrads ‚Engelhard‘ Übereinstimmungen mit der ‚Iphigenie in Aulis‘ des Euripides auf.282 Auch in der griechischen Tragödie gerät ein Handlungsträger in die äußerst schwierige Situation, ein Kind auf das Geheiß einer Gottheit töten zu müssen. Nur wenn Agamemnon seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis opfert, können die Griechen nach Troja segeln. Obgleich sich die Umstände des Entscheidungsprozesses und seine Umsetzung unterscheiden, fassen Agamemnon und Engelhard doch denselben Entschluss, ihre Kinder schweren Herzens zu opfern. Ebenso ähnelt das Ende der legendenhaften Erzählung in auffälliger Weise der antiken Tragödie: Die Göttin greift ein, als Iphigenie schließlich auf ihrem Altar dargebracht werden soll; sie hüllt _____________ 279 Vgl. Gen 22,1–19. 280 Zum theologischen Opferbegriff vgl. die Artikel ‚Opfer‘ in: LThK 7 (1998), Sp. 1061– 1070; TRE 25 (1995), S. 253–299. 281 Kaiser, Unheilbare Krankheit, S. 89. 282 Vgl. Euripides, 'Ifigšneia ¹ ™n AÙl…di. Vgl. auch Aretz, Opferung; Hansen, Frauenopfer.

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das Mädchen in eine Wolke, bringt es an einen fernen Ort und lässt stattdessen eine Hirschkuh opfern. Vor allem dieser Ausgang der Tragödie des Euripides, bei der Leiden und Tod durch eine dea ex machina abgewendet werden,283 lässt die These einer grundsätzlichen Opposition von Tragödie und Legende in Frage stellen. Exemplarisch sei auf einen Aufsatz von Günther Zuntz verwiesen, der sich mit dem Verhältnis dieser beiden Gattungen auseinandersetzt und den ‚König Ödipus‘ des Sophokles mit dem ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue vergleicht. Seine Argumentation ist charakteristisch für das metaphysische Tragikverständnis der Moderne, weil er „den Geist […], dem die Tragödie einerseits und Legende andererseits entwuchsen“,284 zu erfassen sucht. Entscheidender Unterschied ist seines Erachtens „die christliche Entwertung des Leidens. Pathos im griechischen Sinn gibt es nicht mehr, seit die eine stellvertretende Passion erlitten wurde. […] Absolute und unerbittliche Vernichtung […] ist nicht länger möglich in einer Welt, in der Gnade ist.“ Weil in der vom Christentum geprägten Literatur keine Vernichtung drohe, könne man „dem vergleichsweise gelassenen Fortgang einer erbaulichen Erzählung“ folgen; „ein Panorama entrollt sich, umfassend, aber ohne Abgründe; reich an Geschehnissen, Unheil, Rührung – aber gefeit gegen Zerstörung.“285 Diese Erläuterungen stimmen mit Götterts und Cormeaus Aussagen über die finale Erzählstruktur des ‚Engelhard‘ weitgehend überein. Eine legendenhafte Erzählung gilt als untragisch, weil Leid und Tod durch das Handeln Gottes überwunden werden. Der Vergleich mit der Tragödie des Sophokles kann jedoch ebenso wie der Blick in die ‚Poetik‘ des Aristoteles zeigen, dass ein glückliches Ende kein Spezifikum einer durch das Christentum wesentlich veränderten Literaturlandschaft ist und nicht mit dem Fehlen jeglicher Tragik gleichgesetzt werden darf.286 Zwar wird zu Beginn vom Erzähler ein glücklicher Ausgang zugesichert, doch besitzen die Figuren diese Gewissheit nicht. Stattdessen wird Engelhards Konflikt in Szene gesetzt, die Durchführung des Opfers differenziert dargestellt und das daraus resultierende Leid reflektiert. Die Auferweckung der Kinder erfüllt weniger die Funktion, die göttliche Lenkung der erzählten Welt zu enthüllen, als die negativen Folgen von Engelhards Entscheidung durch einen deus ex machina nachträglich aufzuheben. Wird der Akzent daher auf den Konflikt und seine Lösung gelegt, weist die Motivierung des Unglücks durchaus Merkmale einer tragischen Handlung auf. _____________ 283 284 285 286

Vgl. auch Nicolai, Euripides’ Dramen; Schmidt, Deus; Spira, Untersuchungen. Zuntz, Ödipus, S. 90. Zuntz, Ödipus, S. 107, 91 (nach Reihenfolge der Zitate). Vgl. S. 59f.

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Tragikkonzept: Freundestreue um jeden Preis Die schon an Rüdigers und Giburgs Beispielen erarbeitete Besonderheit eines tragischen Konflikts in der höfischen Literatur lässt sich im ‚Engelhard‘ erneut beobachten: Eine Situation wird inszeniert oder eine Konstellation konzipiert, bei der sich ein Protagonist zwischen zwei Werten entscheiden muss; zwar besitzen beide einen verbindlichen Charakter, allerdings sind sie in eine Rangfolge zu bringen. Während Rüdiger die Lehnstreue und Giburg den christlichen Glauben am stärksten gewichten, räumt Engelhard seinen Freundschaftsbeziehungen Vorrang vor allen anderen Bindungen ein. Beiden Krisen geht eine Konfliktsituation voraus, in der Engelhard wissentlich gegen Pflichten verstößt. Bei der ersten Wende des Glücks besteht für die Figuren kein Zweifel, dass eine Liebesbeziehung zur Königstochter eine Verletzung der Treuepflicht gegenüber dem König darstellt.287 So versucht Engeltrud, die Liebeserklärung ihres Kämmerers durch eine Erinnerung an die Wohltaten ihres Vaters zurückzuweisen; Engelhard ist zu einem dem König gefälligen Verhalten verpflichtet.288 Dieses Argument unterbindet ein Verhältnis jedoch nur so lange, bis der Protagonist an seiner Liebe tödlich erkrankt ist und Engeltrud ihre ablehnende Haltung aufgibt. Seine Dienstverpflichtung gegenüber Fruote kommt Engelhard nicht mehr in den Sinn, als er Engeltruds Liebeslohn einfordert. In einen offensichtlichen Konflikt gerät der Protagonist erst nach der Entdeckung seiner Liebesbeziehung. Nun muss er sich entscheiden, ob er die Flucht ergreifen oder bleiben will. Seine Lage empfindet er als ein Dilemma, weil beide Handlungsmöglichkeiten schwerwiegende negative Folgen nach sich ziehen werden: mîn herze sich nû wirret in sorgen zweier hande, ob ich von deme lande bî dirre zîte welle varn oder ich die reise welle sparn. Belîbe ich hie, daz ist mîn tôt: so ist aber daz ein grôziu nôt, ob ich zehant von hinnen var. wan iuwer hôhiu wirde gar ze pfande muoz dar umbe ligen. (3328–3337)

Obwohl Engelhard um sein eigenes Leben fürchten muss, fasst er seinen Entschluss zugunsten der Geliebten. In der Auseinandersetzung am däni_____________ 287 Die Ansicht, dass diese Episode als eine Pflichtenkollision inszeniert ist, vertritt auch Kesting (Diu rehte wârheit, S. 252). 288 Vgl. V. 2092–2095: dir hât mîn vater sô getân / daz dû mich gerne soltest / erlâzen, ob dû woltest / sô schemelicher maere.

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schen Königshof rückt dagegen der grundlegendere Konflikt mehr und mehr in den Mittelpunkt: die Unvereinbarkeit von Engelhards Minne zu Engeltrud und seinem Dienst für Fruote. Vor dem Hintergrund des höfischen Herrschaftssystems, das auf Gegenseitigkeit basiert, ist Ritschier – ungeachtet seines lang gehegten Neids – zu Recht empört, dass er den Kämmerer beim Liebesspiel mit der Königstochter ertappt hat.289 Engelhards Undankbarkeit hebt Ritschier im Gespräch mit Fruote hervor, wohingegen er sich selbst als treuen Höfling präsentiert, der mit dieser Enthüllung seine Pflicht und Schuldigkeit erfüllt: vil werder künic lobelich, iuwer friunt, her Engelhart, hât iuwer êre niht bewart, als er ze rehte solte, ob er bedenken wolte waz ir im liebes hât getân. (3516–3521)

Zwar wird die Beziehung zwischen dem König und Engelhard nur in Ritschiers agitatorischer Rede zur vriuntschaft deklariert, was aufgrund der sozialen Differenz kaum angemessen ist und vielmehr auf das Skandalon einer ungerechtfertigten Erhöhung hinweisen soll. Dennoch kommt darin das große Vertrauen zum Ausdruck, das der König seinem Diener entgegengebracht hat. Aus diesem Grund ist Fruote tief enttäuscht und zieht die Schlussfolgerung, niemandem mehr trauen zu dürfen. Er macht sich die Argumentation seines Neffen zu eigen und spitzt sie auf den Vorwurf der Treulosigkeit zu. sît daz er nû die triuwe sîn / an mir sô gar zerbrochen hât (3582f.), lässt er Engelhard gefangen nehmen. Auch in der Gerichtsverhandlung, in der der Protagonist direkt mit den Schuldvorwürfen konfrontiert wird, ist nicht etwa die Entehrung des Königs oder die Schändung seiner Tochter, sondern die Untreue des Dieners Gegenstand der Anklage. Der König beschuldigt Engelhard, für seine Begünstigung keine entsprechende Gegenleistung erhalten zu haben: ich solte mîner triuwe baz / nû wider iuch genozzen hân. (3708f.) Bemerkenswerterweise bestätigt Engelhard dieses Urteil und erkennt somit seine Verpflichtung gegenüber dem König als verbindlich an: ich haete triuwen vaster vergezzen unde rehter tugent

_____________ 289 Herzmann (Alte Ordnung, S. 395) stellt heraus, dass Ritschier entgegen den Diskreditierungsversuchen des Erzählers die „offizielle, für die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Ordnung unerläßliche Moral des Hofes“ repräsentiert. Auch Kokott (Konrad von Würzburg, S. 57) betont, dass Ritschier völlig richtig handle: „Vor den traditionellen Normen adligen Rechts hat Engelhard die Treueverpflichtung gegenüber seinem Dienstherrn verletzt, indem er durch seinen Beischlaf mit der Königstochter Fruotes êre im Sinne von herrscherlicher und familiärer Integrität schädigte.“

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dan ie getaete mannes jugent, sô ich gedâht enhaete niht daz mich iuwer grôziu pfliht sô wirdeclichen hât gezogen. (3758–3763)

Ein Liebesverhältnis mit seiner Herrin einzugehen, wertet der Protagonist dagegen als einen Frevel, zu dem er sich niemals hinreißen ließe.290 Einzig der Erzähler schweigt zu dieser Angelegenheit, ohne Engelhards Vernachlässigung seiner Treuepflicht gegenüber dem König zu problematisieren. Stattdessen bezeichnet er das Verhalten seiner Hauptfigur ausgerechnet dann als treu, als diese vor sich selbst ihre Schuld eingesteht und damit implizit auch ihre Treulosigkeit gegenüber dem König bekennt.291 Mit dieser Strategie lenkt der Erzähler die Aufmerksamkeit wieder auf die zweite Treuebindung, die in der Vernachlässigung der ersten erfüllt wird: Während Engelhard gegen seine Dienstpflicht verstoßen hat und dem König durch Tat und Wort, die Entehrung der königlichen Familie und die Verleugnung des Geschehens, untreu geworden ist, erweist er sich als treuer Freund Engeltruds. Bei der zweiten Krise, als Engelhard erneut durch einen Normenverstoß ins Unglück stürzt, wird die Konfliktsituation erzählerisch detaillierter gestaltet.292 Nachdem der Protagonist von der einzigen Heilungsmöglichkeit für seinen Freund erfahren hat, beklagt er, sich in einem Zwiespalt zu befinden, bei dem ihm nur die Wahl zwischen zwei Übeln bleibe: mîn herze lît verstricket / in strenger sorgen bande. / daz leit ist zweier hande / dar în ich nû gevallen bin. (6138–6141) Zu diesem Zeitpunkt sind sowohl die verheerenden Auswirkungen des Aussatzes auf Dietrichs Leben als auch die Verwerflichkeit des Blutopfers längst deutlich geworden. Anschaulich beschreibt der Erzähler die Krankheit des Fürsten von Brabant, dessen abstoßendes Äußeres mit seinem als locus amoenus entworfenen Zufluchtsort kontrastiert wird.293 Die körperlichen Schmerzen und die wachsende Isolation tragen ihr Übriges dazu bei, Dietrich sein Leben verhasst erscheinen zu lassen. Trotz dieser physischen und psychischen Qualen lehnt er das einzige Heilungsmittel entschieden ab und deutet den Bericht des Engels _____________ 290 Vgl. V. 3960–3963: daz ich zehant verdürbe, / daz waere unmâzen billich, / ob ich ir êre und dar zuo mich / sô frevelliche wâgete / […]. 291 Vgl. V. 4122–4125: Engelhart, […] der Triuwen dienestman, / hier under schône sich versan / daz er schuldic waere. – Ebenso wie dem Gott der erzählten Welt ist es dem Erzähler aufgrund seiner übergeordneten Position möglich, die rehte wahrheit zu erkennen und seine Figur zu verteidigen. 292 Dies unterscheidet Konrads Märe von den stofflichen Vorlagen, wie Könneker (Erzähltypus, S. 267) herausstellt: „[I]m Gegensatz zu anderen Gestaltungen der Freundschaftssage, die […] einen echten Wertekonflikt oder eine Kollision der Pflichten nicht kennen“, sei hier der Wille „zu geistiger Vertiefung und psychologischer Durchdringung des Geschehens […] zumindest in Ansätzen durchaus vorhanden“. 293 Vgl. auch Kaiser, Unheilbare Krankheit, S. 55–60.

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gar als eine Probe, mit der ihn Gott in Versuchung führen wolle. Das Blut der unschuldigen Kinder zu vergießen, beurteilt Dietrich als eine missetât (5537). Er betont, lieber sterben als sich an alsô grôzem meine (5517) beteiligen zu wollen. Nur weil er die Tötung der Kinder für völlig inakzeptabel hält, kann er sich der Treulosigkeit bezichtigen, sollte er seinen Freund je dazu animieren. Als Dietrich Engelhard schließlich gezwungenermaßen von seinem Traum berichtet, lässt er keinen Zweifel daran, dass er eine solche Tat niemals verlangen würde: ê daz ich keiner slahte gir / trüege ûf dîner kinde schaden, / ê wolte ich in der helle baden / sunder ende und âne zil. (6048– 6051) Bevor Engelhard überhaupt Gelegenheit zur Stellungnahme erhält, liefert sein Freund alle Argumente, weshalb die Kinder auf keinen Fall getötet werden dürfen: daz reht und diu natûre wert / daz iemen sîniu kindelîn / sterbe durch den willen mîn. (6022–6024) Ungeachtet von Dietrichs Einwänden belastet Engelhard diese Mitteilung schwer. Er erwägt beide Handlungsschritte und reflektiert die damit verbundenen Folgen, wobei er mit der vom Freund nahegelegten Option beginnt, diese aber schnell ausschließt: Wenn er Dietrich sterben ließe, der für ihn sein eigenes Leben im Gerichtskampf riskiert habe, verhalte er sich treulos. Schließlich gebe es eine Rettungsmöglichkeit, über die er allein verfüge. Daraufhin zieht Engelhard die Alternative in Betracht, die er auch als sehr bedauernswert ansieht: so ist aber daz ein grôziu klage, / ob ich getoete disiu kint / diu von minem lîbe sint / gewahsen unde erquicket. (6134– 6137)294 Er akzentuiert die genealogische Herkunft der Kinder, ohne allerdings ihre Existenz wie seine Freundschaft mit Dietrich zu einer Herzensangelegenheit zu erklären.295 Berücksichtigt man die enge Treuebindung der beiden Figuren und bedenkt, wie kurz die Klage um die Kinder im Vergleich zur Sorge um den Freund ausgefallen ist, kann Engelhards Entscheidung nicht überraschen: doch sol ich einez under in lîhte für daz ander wegen. ê daz der vil getriuwe degen Dieterich leb in der nôt, so müezen mîniu kint den tôt ê beidiu von mir kiesen. (6142–6147)

Engelhard bezieht damit eine klare Position, zu der ihn das unterschiedliche Gewicht beider Bindungen veranlasst. Anders als man von einem tragischen Konflikt im modernen Sinne erwarten würde, sind die beiden _____________ 294 Schmid (Engelhard, S. 48) macht darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung von Kindern als Leibesfrucht für die höfische Literatur außergewöhnlich ist. 295 Vgl. V. 6120–6133: lâz ich den hie verderben / […] / sô wirde ich triuwelôs benamen / und mac sich wol m î n h e r z e schamen / immer hie ûf erden. / […] / m î n h e r z e ist immer jâmerhaft, / ob ich an im alsô verzage. [Sperrung v. R.T.]

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unvereinbaren Werte in Konrads Werk zwar von hohem, nicht aber von gleichem Rang. Der Konflikt wird gelöst, indem der Protagonist seine beiden Verpflichtungen gegeneinander abwägt und auf dieser Grundlage einen Entschluss fasst. Weil er der Treue gegenüber dem Freund größere Bedeutung beimisst als dem Leben seiner Nachkommen, ist er zur Tötung bereit. Erst nachdem Engelhard diese Gewichtung vorgenommen hat, sucht er nach weiteren Gründen, die ihn in seinem Vorhaben bestätigen. Diese Argumente tragen also nicht zur eigentlichen Entscheidungsfindung bei, sondern sollen die von Dietrich als Untat und Unrecht disqualifizierte Handlung zu legitimieren helfen. So versucht Engelhard, die Tötung der Kinder damit zu rechtfertigen, dass er sie auf diese Weise zu Märtyrern mache; durch ihr Blut würden sie von der Hölle errettet und gelangten in den Himmel. In dieser Interpretation kann er dem Blutopfer gleich zwei Vorteile abgewinnen, Dietrichs irdische Heilung und die himmlische Rettung der Kinder, ohne jedoch die Tat selbst zu beschönigen. Dass er sich mit der Tötung seiner Kinder vor Gott und der Welt schuldig macht, ist Engelhard durchaus bewusst. Dennoch will er die irdischen Strafen gerne auf sich nehmen, wohingegen er bei Gott auf Erbarmen hofft. Erst beim Gedanken an die ewige Verdammnis, die aus dem Kindermord resultieren könnte, spielt Gott in Engelhards Überlegungen eine Rolle. Obgleich der göttliche Auftrag als ein weiteres Argument dient, Engelhard in seinem Entschluss zu bestärken, wird er dadurch nicht vollständig entlastet. Die Tötung der Kinder bleibt eine sünde (6171), für die Engelhard büßen muss.296 Wie relevant die Gewichtung der unterschiedlichen Beziehungen für die Entscheidung des Protagonisten und seine Lösung des Konflikts ist, zeigt sich noch einmal am Ende des Monologs. Engelhards Perspektive richtet sich dort auf die Qualität seiner Bindung an Dietrich, den er als den besten friunt vil ûz erkorn / der ûf die erden ist geborn (6181f.), rühmt. Einen solchen Freund würde er nie wieder finden, so dass dieser Verlust nicht zu verschmerzen wäre. Für seine Kinder hingegen, deren Austauschbarkeit und fehlende Individualität schon durch ihre Namenlosigkeit angezeigt wird, meint Engelhard, sich weit eher Ersatz beschaffen zu können: ich mac gewinnen noch genuoc lieber kinde ûf erden: sô guoten noch sô werden friunt gewinne ich nimmer: ich muoz sîn darben immer, verliuse ich Dieterichen. (6184–6189)

_____________ 296 Dietrich wird diese Einschätzung später teilen und beklagen, dass Gott so vrevellicher tât (6323) von seinem Freund verlangt hat.

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Dieser abschließende Vergleich bestätigt Engelhard in seiner Einschätzung von der unterschiedlichen Wertigkeit von der Gesundheit des Freundes und dem Leben der Kinder.297 Sein Entschluss steht unverrückbar fest, wobei ihn die Erinnerung an Dietrichs früheren Treuebeweis einmal mehr bestärkt: zewâre und sicherlichen, / den kinden ich daz leben nim (6190f.). Nun sieht sich der Erzähler gefordert, Stellung zu beziehen. Er schließt sich Dietrichs Auffassung grundsätzlich an, dass die Tötung der eigenen Kinder ein schweres Vergehen contra naturam ist: von natûre enmöhte niht / sô grôz unbilde sîn geschehen (6226f.). Zugleich versucht er aber, das Verhalten seiner Hauptfigur durch die zahlreichen Verweise auf den Willen Gottes zu entschuldigen: wan daz got selbe worhte / an im sîn grôz unbilde, / so waere im worden wilde / diu kraft (6264–6267). Vor allem bei der Durchführung der Tat bedarf der Protagonist des göttlichen Beistands, wie der Erzähler herausstellt. Dass Engelhard die Umsetzung seiner Entscheidung äußerst schwer fällt,298 veranschaulicht folgender Vergleich: Leichter hätte der Protagonist zwei Riesen besiegen als seine beiden Kinder töten können. Der Erzähler verweist eigens auf die neutrale Instanz seiner Quelle, um diese für Engelhards dreimaligen Schwächeanfall bürgen zu lassen.299 Mehrfach ändere Engelhard seine Einstellung, mal wolle er seine Kinder töten, dann schrecke er wieder davor zurück. Auch wird seine affektive Herzensbindung, die im Entscheidungsmonolog nur gegenüber Dietrich zu bestehen schien, nun auf das Verhältnis zu den Kindern bezogen: sîn herze ranc mit noeten / lange zwîvellîche alsus (6282f.). Schließlich bestätigt Engelhard seine genealogische Bindung noch einmal mit einem Kuss und vollzieht dann die Bluttat. Den eindeutigen Positionierungen des Erzählers und den Figuren zufolge hat Engelhard mit der Opferung seiner Kinder gegen Recht und _____________ 297 Brandt (Kleinere epische Werke, S. 130, Anm. 123) spricht von einem „rationalistische[n] Gewinn-Verlust-Kalkül“. In ähnlicher Weise argumentiert Könneker (Erzähltypus, S. 267). Sie moniert, dass Engelhard seinen Zwiespalt, in den er durch den „Konflikt zwischen Freundestreue und Vaterliebe“ geraten sei, verhältnismäßig einfach überwinde: „Von einer Verwirrung der Gefühle kann bei ihm keine Rede sein, vielmehr geht er in dem großen Selbstgespräch eher logisch deduktiv vor, indem er sorgfältig die in Frage stehenden Werte abwägt und daraufhin seinen wohlbegründeten und gut abgesicherten Entschluß faßt“. Rohr (Kleiner Roman, S. 336) hält den Willen Gottes für ausschlaggebend und betrachtet alle Argumente als „Teil von Engelhards Rationalisierungen, die die Untat seinem menschlichen Verstand plausibel“ machen sollten. In diesen Kontext ist auch Kokotts (Konrad von Würzburg, S. 52) Bezeichnung einer „Pseudo-Güterabwägung“ einzuordnen. 298 Kaiser (Unheilbare Krankheit, S. 87) kommentiert: „Dieser nüchternen Vernunftentscheidung steht Engelhards natürliches Empfinden entgegen, das psychologisch richtig erfaßt und als so mächtig dargestellt ist, daß Herz und Gefühl des Helden sogar über seine Tapferkeit siegen“. 299 Vgl. V. 6269–6271: Uns tuot diz wâre maere kunt / daz im geswünde drîstunt / ê daz er taete disiu dinc. Zu dieser Strategie allgemein vgl. Schmitt, Inszenierungen.

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Natur verstoßen und damit zugleich seine Pflichten als König und Landesherr verletzt. Statt seinen politisch-genealogischen Aufgaben nachzukommen, die Ordnung im Reich zu sichern, das Recht zu wahren und eine Herrscherdynastie zu begründen, setzt er sich über geltende Normen hinweg, weil er der Treuepflicht gegenüber dem Freund oberste Priorität einräumt. Wie relevant der Wert der Freundschaft für Konrads poetologisches Konzept ist, zeigt sich an den paradigmatischen Bezügen, die sich von Engelhards großem Treuebeweis zu anderen Szenen herstellen lassen. Schon zuvor hat der Protagonist eine Entscheidung zugunsten seiner Geliebten getroffen, indem er sich nicht durch Flucht seiner Verantwortung entzog. Auch hat er seinem aussätzigen Freund zugesichert, mit seinem Leben für ihn einstehen zu wollen.300 Die beiden anderen Hauptfiguren gewichten die Freundschaft und Liebe zu Engelhard ebenfalls höher als jeden anderen Wert.301 So setzt Engeltrud ihr Ansehen selbstlos aufs Spiel, um Engelhard vom Minnetod zu erretten, und nimmt dafür eine mögliche Enterbung in Kauf. Noch vielmehr erweist sich Dietrich als treuer Freund, da er für Engelhard nicht nur auf sein Erbe in Brabant verzichten will, sondern auch sein Leben riskiert. Dass für Dietrich ihre Freundschaft ebenfalls schwerer wiegt als jedes andere Gut, erklärt er Engelhard ausdrücklich: ichn wart nie keines dinges frô / sô da ich guot, êr unde leben / sol ûf die wâge für dich geben (4392–4393). Ansehen, Besitz und selbst das eigene Leben sind für alle drei Figuren von untergeordneter Bedeutung, wenn die Freundestreue zur Disposition steht. Hinsichtlich der überragenden Bedeutung der Freundschaft in Konrads Erzählung besteht ein breiter Forschungskonsens. So weist etwa Barbara Könneker darauf hin, dass die Tugend der Freundestreue in einem solchen Maß die Handlung dominiere, dass sich „kein anderer Wert daneben behaupten, kein anderes Interesse höherer oder allgemeinerer Art“ daneben existieren könne.302 In der neueren Literatur wird das gesellschaftsgefährdende Potential dieser Bindung betont.303 So hält Ute von _____________ 300 Vgl. V. 5908–5911: sol ich dar umbe ersterben, / daz tuon ich lieber danne ich lebe. / der tôt ist mir ein süeziu gebe / ob ich den für dich lîden muoz. 301 Kesting (Diu rehte wârheit, S. 255f.) macht darauf aufmerksam, dass der Erzählung folgendes Handlungsmodell zugrunde liegt, das dreimal aktualisiert wird: „[E]in Mensch gerät in eine sehr gefährliche, ja lebensbedrohende Notlage, ein Freund kommt ihm aus triuwe zu Hilfe und stellt dabei alle Bedenken zurück. Die Rettung gelingt. Die Tat wird stets tougenlîche vollbracht […], da sie nämlich nicht im Einklang mit gewissen gesellschaftlichen oder moralischen Normen geschehen kann.“ 302 Könneker, Erzähltypus, S. 264. 303 In der älteren Forschung werden ähnliche Auffassungen vertreten. So bemerkt etwa Kaiser (Unheilbare Krankheit, S. 118f.), dass die triuwe eine sehr zweifelhafte Stellung auf Kosten des Rechts einnehme. Das Resultat sei „eine ‚triuwe‘ um jeden Preis, ein formalistisches Prinzip, dem die Beziehung zum Menschen verlorengegangen ist“.

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Bloh fest, dass die Verabsolutierung von Liebe und Freundschaft zu einer Preisgabe aller anderen Bindungen führe. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit und im Schutz einer unverbrüchlichen Treue würden extrem gesellschaftsfeindliche Triebe ausagiert.304 Ähnlich argumentiert Andreas Kraß, dass Freundschaft keine Grenze mehr anerkenne, die außerhalb ihrer selbst liege: „Freunde sind bereit, Gott zu betrügen, Bigamie zu begehen, einander Ehebruch anzuempfehlen, ihre eigenen Kinder zu opfern, mit anderen Worten: die genealogischen Grundfesten der Adelsgesellschaft zu verletzen, wenn es um das Wohl des Partners geht.“305 Der Vorrang der Freundestreue vor allen anderen Werten ist zum Anlass genommen worden, einen Antagonismus zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Bindungen zu konstatieren. Peter H. Oettli unterscheidet die „verinnerlichte, persönliche triuwe […] als absolute, individuelle Verpflichtung einem anderen Individuum gegenüber“ von „der gesellschaftsbezogenen triuwe“, zu der sie im Kontrast und mit der sie im Konflikt stehe.306 Herbert Herzmann meint gar, dass eine neue Wertehierarchie etabliert werde, in der die persönliche triuwe-Beziehung zwischen Menschen zum neuen summum bonum geworden sei. Die traditionellen, gesellschaftskonstituierenden Bande träten hinter freiwillig, aufgrund persönlicher Neigung eingegangenen Verbindungen zurück.307 Weil das private Wohl wichtiger als das öffentliche Wohl geworden sei, interpretiert Herzmann Konrads Märe als Triumph des Individualismus über die Kräfte der untergehenden alten Ordnung.308 Eine solche Deutung, die persönliche und gesellschaftliche Beziehungen kontrastiert, die einen als innerlich-motiviert und die anderen als rechtlich-verbindlich darstellt, verkennt jedoch den verpflichtenden Cha_____________ 304 Vgl. von Bloh, Engelhart, S. 328f. – Zur Exklusivität der Freundschaftsbindung, die „absolute Priorität gegenüber anderen Vergesellschaftsformen“ beansprucht, vgl. auch Klinger/ Winst, Zweierlei minne stricke, S. 266. 305 Kraß, Freundschaft, S. 114. Auch Schmid (Engelhard, S. 46) betont, dass die unbedingte Freundestreue mit den Erfordernissen des Familienverbandes unvereinbar sei. 306 Oettli, Konrad von Würzburg, S. 376. Daran anknüpfend schlägt Koch (Formen, S. 201) vor, zwischen einer vertikalen und einer horizontalen Wirkrichtung der Treue zu unterscheiden. Während die erstgenannte die traditionell feudalistischen Beziehungen einer hierarchischen Ständeordnung betreffe und rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen könne, sei die zweite ausschließlich innerlich motiviert. 307 Vgl. Herzmann, Alte Ordnung, S. 404. 308 Vgl. Herzmann, Alte Ordnung, S. 402. Ebenso geht Kokott (Konrad von Würzburg, S. 66) davon aus, dass „die traditionelle Verpflichtung des Mannes gegenüber seinem (Dienst-) Herrn“ von der „unverbrüchliche[n] Treue einzelner, durch besondere Bindungen einander zugeordneter Individuen“ abgelöst werde. – Auch Cieslik (Probleme) reproduziert Herzmanns These eines Individualisierungsprozesses trotz ihrer Kritik (vgl. S. 128) in modifizierter Form. Sie spricht von einer Zersplitterung der höfischen Normen in ein gesellschaftliches und ein „persönlich-zwischenmenschliche[s]“ System (vgl. S. 132f.).

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rakter von Freundschaftsbindungen im Mittelalter und wird dem ‚Engelhard‘ nicht gerecht. Rüdiger Schnell weist darauf hin, dass Dietrich aus guten Gründen vor dem Gerichtskampf keinen Eid schwöre.309 Bemerkenswerterweise verzichtet Konrad auf ein solches rechtskonstituierendes Element ebenfalls, als er Engelhards Bindung an den dänischen König darstellt. Ein rechtlich-verbindliches Lehnsverhältnis, in dem der Gefolgsmann zur Treue verpflichtet wäre, gehen Engelhard und Fruote nicht ein.310 Vielmehr betont der Erzähler die Jugend seines Helden, wegen der er noch kein Lehen empfangen kann: dô diente er sînem herren wol / als ein getriuwer knabe sol (1637f.). Auch die Schwertleite, mit der Engelhard für seine bisherigen Dienstleistungen belohnt wird, begründet kein neues Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem König. Der einzige Eid, den Engelhard je vor Fruote ablegt, bezieht sich auf seine pünktliche Rückkehr zum Gerichtskampf.311 Die Freundschaftsbeziehung zwischen Engelhard und Dietrich hingegen inszeniert Konrad nicht nur als eine individuelle Herzensbindung, sondern schreibt ihr auch eine rechtliche Dimension zu.312 Als die jungen Männer sich zum ersten Mal begegnen, versprechen sie sich gegenseitig die Treue und bekräftigen ihren Schwur durch einen Eid: si lobeten mit dem eide / ein ander dô geselleschaft. (626f.) Welchen hohen Verbindlichkeitsgrad dieses Treueversprechen besitzt, nimmt der Erzähler in einer Prolepse vorweg; in der gesamten Geschichte werden sich beide Freunde daran orientieren.313 Am Königshof versichern sich Engelhard und Dietrich noch einmal ihre gegenseitige Treue und erweitern die Gültigkeit ihres Versprechens bis in den Tod.314 Immer wieder betonen sie ihre Bereitschaft, füreinander sterben zu wollen und miteinander lebenslang Freud und Leid zu teilen. Bezeichnenderweise erneuern die beiden männlichen Hauptfiguren ihre Freundschaftsbeziehung mit Eiden, als ihre Gemeinschaft ein vorläufiges Ende findet und Dietrich nach Brabant aufbricht.315 Selbst nach ihrer _____________ 309 Vgl. Schnell, Manipuliertes Gottesurteil, bes. S. 51–53. 310 Daher ist es missverständlich, von Engelhards „vasallitische[n] Treueverpflichtungen“ zu sprechen (gegen von Bloh, Engelhart, S. 329). 311 Vgl. V. 4208–4213: jâmerhaft und ungemuot / gap er ze pfande sînen eit / und sîne hôhe sicherheit / daz er her wider kaeme sâ, / sô geschehen solte dâ / der vil angestbaere strît. 312 Auch von Bloh (Engelhart, S. 321) hebt die Bedeutung der Eide hervor. Sie sicherten ein Verhältnis ab, „das auf der Basis gegenseitiger Rechte und Pflichten besteht, wobei die Treue- und Schutzpflicht die zentrale ist.“ 313 Vgl. V. 628f.: diu wart von in mit staeter kraft / behalten ûf ein endes zil / […]. 314 Vgl. V. 808–816: daz si des jâhen dicke, / geschaehe ir eime sterbens nôt, / der ander laege für in tôt / und wolte harte gerne ligen. / ir wille was dar ûf gedigen / daz si dâ liep unde leit / mit willeclicher arebeit / bi einander lîden wolten / unz si nû leben solten. 315 Vgl. V. 1580–1582: ‚zewâre‘ sprach er, ‚daz geschicht: / nim des ze pfande mînen eit.‘ / sus bôt er im die sicherheit / […].

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Trennung stehen Engelhard und Dietrich somit in einem rechtlich bindenden Verhältnis, bei dem sie sich zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet haben. Engelhards Entscheidung für seinen Freund entspringt somit nicht einer rein innerlichen, persönlichen Motivation, sondern er ist mit Dietrich die einzig rechtlich verpflichtende Beziehung eingegangen. Sofern der Begriff des Tragischen nicht a priori aufgrund des christlichen Weltbildes und der göttlichen Erlösung am Ende ausgeschlossen wird, kann Engelhards Konflikt in dem vorher erarbeiteten, höfischen Sinne als tragisch gelten. Wie bei Rüdiger und Giburg ist sein Unglück final motiviert. Die Freundestreue, deren Relevanz von Anfang an herausgestellt worden ist, erweist sich als ausschlaggebend für alle Entscheidungen des Protagonisten. Indem Engelhard die negativen Folgen seines Handelns akzeptiert, um die Freundschaft zu wahren, ergeben sich neue Anknüpfungspunkte zu einer neuzeitlichen Tragiktheorie. Friedrich Schiller erklärt in seiner Schrift ‚Über das Pathetische‘, dass das Leiden des tragischen Helden nicht nur keinen Einfluss auf seine moralische Beschaffenheit haben dürfe, sondern aus seinem moralischen Charakter resultieren müsse.316 Dies könne zum einen nach dem Gesetz der Freiheit geschehen, indem der Protagonist aus Achtung für eine Pflicht das Leiden erwähle. Oder die tragische Handlung folge dem Gesetz der Notwendigkeit, indem der Mensch für eine übertretene Pflicht moralisch büße. Selbst wenn Engelhard nicht lange tief und heftig leiden muss,317 entspricht sein Verhalten in der Konfliktsituation doch dem schillerschen Tragikmodell. Um die Freundespflicht zu achten, erwählt er das Leiden. Konrads Tragikkonzept besteht demnach nicht darin, dass sein Protagonist in ein unlösbares Dilemma gerät und sich kaum zwischen dem Leben seiner Kinder und der Gesundheit seines Freundes entscheiden kann. Vielmehr erwächst Engelhards Unglück daraus, dass er einer Treuebindung alle anderen Beziehungen und Wertvorstellungen opfert. Immer wieder konfrontieren einzelne Figuren Engelhard damit, dass seine Tat ein Treuebruch und Normenverstoß war bzw. sein intendiertes Verhalten ein Verbrechen oder Frevel wäre. Engeltrud thematisiert diese Problematik nach seinem Liebesgeständnis, Ritschier und Fruote bei der Gerichtsverhandlung und Dietrich bei der Offenbarung seines Geheimnisses. Ungeachtet der leidvollen Konsequenzen entscheidet sich der Protagonist stets für die triuwe zum Freund, die ihm als die höchste Norm gilt. Die Freundschaftstreue um jeden Preis zu realisieren und das eigene Unglück bewusst _____________ 316 Vgl. Schiller, Über das Pathetische, S. 527f. 317 Vgl. Schiller, Über das Pathetische, S. 512. – Der Zweck der tragischen Kunst besteht nach Schiller (ebd.) darin, „daß sie uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht.“

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zu wählen, darin besteht die spezifische Tragik des ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg. 2.4 Tragischer Konflikt und ethischer Diskurs Den ins Unglück führenden Geschichten von Rüdiger, Giburg und Engelhard liegt eine ähnliche Handlungsstruktur zugrunde: Alle drei Figuren müssen sich zwischen zwei Verpflichtungen entscheiden, von denen jede für sich einen hohen Wert darstellt, ohne sich jedoch mit der anderen vereinbaren zu lassen. Zwar weisen die literarischen Inszenierungen der Konfliktsituation einige Unterschiede auf: Im ‚Nibelungenlied‘ werden die gegensätzlichen Verbindungen, die Rüdiger im Handlungsverlauf knüpft, in den Vordergrund gerückt. Im ‚Willehalm‘ hat Giburg ihre Entscheidung schon vor Handlungsbeginn getroffen und sucht diese rückblickend zu rechtfertigen. Im ‚Engelhard‘ schließlich wird die Vernachlässigung sämtlicher Pflichten zugunsten der Freundestreue akzentuiert. Gemeinsam ist jedoch allen drei Erzählungen, dass aus den Entscheidungen der Figuren notwendigerweise negative Konsequenzen erwachsen. Die Protagonisten müssen gegen geltende Normen verstoßen, weil nicht beide Anforderungen gleichzeitig erfüllt werden können. Aus diesem Grund geben sie freundschaftliche, genealogische und hierarchische Bindungen preis, sie verlieren eine hohe Stellung und gesellschaftliches Ansehen, sie geraten in tiefes Leid oder müssen gar sterben. Auf die Übereinstimmungen dieser Konstellation mit dem modernen Tragikverständnis wird in der Forschungsliteratur häufig hingewiesen, vor allem was Rüdigers Kampfeintritt und Giburgs Trauer betrifft. In dieser Studie wurde jedoch ein wichtiges Merkmal erarbeitet, das es nicht erlaubt, den tragischen Konflikt der höfischen Literatur mit Hegels Deutung in den ‚Vorlesungen über die Ästhetik‘ gleichzusetzen. Zwar entspricht die Darstellung der mittelalterlichen Autoren der Theorie des modernen Philosophen insofern, dass beide Prinzipien von grundsätzlicher Bedeutung sind und sie sich in der Umsetzung gegenseitig ausschließen. Hinsichtlich der Kollision dieser Gegensätze ist in der Moderne jedoch eine bedeutende Änderung zu verzeichnen. Das „ursprünglich Tragische“ besteht nach Hegels Ansicht darin, dass beide sittlichen Mächte gleichberechtigt sind, weshalb eine Lösung des Dilemmas nicht möglich ist.318 Dagegen sind die hohen Werte, die für Rüdiger, Giburg und Engelhard zur Disposition stehen, nicht von gleicher Relevanz, sondern in ihrer Rangfolge hierarchisierbar. Indem sich die Protagonisten für die bedeu_____________ 318 Vgl. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, S. 523. Vgl. auch S. 77–82.

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tendere Pflicht entscheiden, verstoßen sie notwendigerweise gegen die andere Norm, woraus Leid und Tod resultieren. Zwar erscheint das Unglück zunächst kausal begründet, weil sich die Protagonisten für eine Handlungsoption entscheiden. Doch bei genauerer Prüfung wird deutlich, dass der handlungsauslösende Entschluss in ein festes Wertesystem eingebunden ist, dessen Hierarchie schon lange vorher feststand. Weil sich die Figuren für den höheren Wert entscheiden und genau dadurch ins Unglück stürzen, ist die Katastrophe unvermeidlich. Das Leiden erwächst aus der lehnsrechtlichen, religiösen oder sozialen Ordnung der erzählten Welt und ist somit ‚von hinten‘ motiviert. Die Tragik ihres Handelns besteht also darin, dass die Helden den größeren Wert wahren und dennoch durch die Folgen der Missachtung des geringeren Wertes ins Unglück stürzen. Während sich die höfische Inszenierung eines tragischen Konflikts von der hegelschen Vorstellung unterscheidet, scheint Schillers Tragödientheorie noch an die mittelalterliche Konzeption anzuknüpfen. Seine Forderung, dass ein tragischer Held sein Leiden erwählen muss, um eine Pflicht zu erfüllen, wird von Rüdiger, Giburg und Engelhard erfüllt.319 Aus der höfischen Literatur lassen sich weitere Beispiele anführen, in denen eine Figur zwischen zwei Handlungsoptionen wählen muss und nach Abwägen der damit verbundenen Konsequenzen einen Entschluss fasst. Zwar fungieren diese „Motivierungs- und Entscheidungsreden“, wie Emil Walker diesen Monologtypus benennt,320 nicht immer als Auslöser eines tragischen Handlungsverlaufs. Doch benutzen die Figuren dasselbe Verfahren, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Dies zeigt sich u.a. im ersten deutschsprachigen Artusroman, in dem die Protagonistin auf der Aventiurefahrt mit Erec schon bald in einen Zwiespalt gerät und nicht weiß, wie sie sich verhalten soll.321 Als Enite bemerkt, dass der schwerbewaffnete Erec die Räuber nicht wahrnimmt, steht sie vor der Wahl, entweder seinen Befehl zu beachten und ihren Mann so einer tödlichen Gefahr auszusetzen oder sein Redeverbot zu brechen und ihn zu warnen.322 Beide Handlungsalternativen sind unvereinbar und jeweils mit Konsequenzen verbunden, die Enite gerne vermeiden würde: wan swederz ich mir kiese, / daz ich doch verliese (3158f.). Sie muss befürchten, entweder ihr eigenes Leben oder das ihres Mannes zu riskieren. Während die weibliche Hauptfigur zunächst klagt, nû enkan ich des waegesten niht ersehen (3156), ge_____________ 319 Vgl. Schiller, Über das Pathetische, S. 528. 320 Walker, Monolog, S. 181. Zu weiteren Beispielen vgl. ebd., S. 181–188. 321 Zur Interpretation dieser Szene vgl. auch Kartschoke, Held, S. 168f.; Kasten, Dilemma, S. 28f.; Störmer-Caysa, Gewissen, S. 48–51. 322 Vgl. Hartmann von Aue, Erec, V. 3145–3147: dô si in selhem zwîvel reit, / ob si imz torste gesagen / oder solde gedagen […].

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lingt es ihr schließlich, den Konflikt durch einen Vergleich der möglichen Verluste zu lösen: bezzer ist verlorn mîn lîp, ein als unklagebaere wîp, dan ein alsô vorder man, wan dâ verlür maneger an. er ist edel unde riche: wir wegen ungelîche. (3168–3173)

Wie Engelhard entschließt sich auch Enite zu einer Tat, nachdem sie die zur Disposition stehenden Werte gegeneinander abgewogen hat. Die gegensätzlichen Optionen besitzen nicht die gleiche Bedeutung, sondern können hierarchisiert werden. Daher ist Enite ebenso wie der Protagonist in Konrads Erzählung dazu bereit, ein Übel in Kauf zu nehmen, um ein höheres Gut zu wahren. Zwar tritt die drohende Katastrophe in Hartmanns Roman nicht ein, weil sich Enites Einschätzung der Handlungsfolgen als unzutreffend erweist und sie nicht von ihrem Mann getötet wird.323 Dennoch entsprechen Enites Reflexion und ihr Verhalten vollständig der Vorgehensweise, mit der andere höfische Figuren einen tragischen Konflikt lösen und dabei ins Unglück stürzen. Wenn das Abwägen verschiedener Werte in einer schwierigen Entscheidungssituation als charakteristisch für die höfische Epik gelten darf, müssten sich daraus allgemeine Schlussfolgerungen für die Frage nach einem mittelalterlichen Tragikverständnis ableiten lassen. Ein Blick auf wissenschaftliche Texte dieser Epoche soll die bisherigen Beobachtungen stützen. Auf diese Weise kann geprüft werden, inwiefern die erarbeiteten Besonderheiten eines tragischen Konflikts den zeitgenössischen Vorstellungen entsprechen. Tatsächlich lassen sich im 12. und 13. Jahrhundert enge Parallelen zwischen der literarischen Gestaltung eines Konflikts in der höfischen Literatur und der theoretischen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen im Kontext der Gewissenslehre feststellen.324 Sowohl in der Rhetorik und Logik als auch in der Theologie und Kanonistik wird die Problematik diskutiert, wie man sich in einer Notlage gegenüber widerstreitenden Pflichten verhalten soll. Schon in der Antike wurde die Schwierigkeit, mit widersprüchlichen Gesetzen umzugehen, verhandelt.325 So wird in der ‚Rhetorica ad Herennium‘ eine [e]x contrariis legibus controversia identifiziert, die dann vorliege, _____________ 323 Vgl. auch Kasten, Dilemma, S. 29. 324 Auf diese Bezüge machen Uta Störmer-Caysa (Gewissen, S. 54–56) und Sabine HeimannSeelbach (Calculus Minervae) aufmerksam. Während jene die Auseinandersetzung vor allem im Kontext der mittelalterlichen Theologie betrachtet, erklärt diese die epischen Konfigurationen auch aus der Verfügbarkeit antiker Rhetoriklehren. 325 Zum Normenanwendungskonflikt aus der Perspektive der Rhetorik vgl. Lausberg, Handbuch, §§ 96,100,138.

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cum alia lex iubet aut permittit, alia vetat quippiam fieri […].326 Auch Iulius Victor behandelt in seiner ‚Ars rhetorica‘ den Fall, dass aufgrund zweier Gesetze gegensätzliche Forderungen erhoben werden: Legum contrariarum status est, cum aut duo scripta contraria inveniuntur et comparatione in diversa nituntur, wobei er sofort einschränkend hinzufügt, quod perquam raro accidit […]. Meistens handle es sich nur um einen scheinbaren Widerspruch, wie Iulius Victor an einigen Beispielen vorführt. Er resümiert, auf welche Weise man bei einem solchen Konflikt zu einer angemessenen Entscheidung gelangt: sed comparatio per omnes tractata articulos ab hac calumnia vindicat quaestionem.327 Die präziseste Formulierung für diese Problemstellung stammt von Quintilian, der in seiner ‚Institutio oratoria‘ einen allgemeinen Kriterienkatalog entwickelt. Um eine Urteilsfindung in jeder denkbaren Situation zu ermöglichen, empfiehlt er ebenfalls einen Vergleich zwischen den einzelnen Gesetzen, die auf ihre Bedeutung und Wirksamkeit überprüft werden sollen. Die entscheidenden Fragen, die sich die urteilende Instanz zu stellen hat, lauten: utra lex potentior? ad deos pertineat an ad homines? rem publicam an privatos? de honore an de poena? de magnis rebus an de parvis? permittat an vetet an imperet?328 Mittels einer Güterabwägung, die dem mächtigeren Gesetz Vorrang einräumt, ein göttliches Gebot höher wertet als ein menschliches und dem öffentlichen Interesse mehr Relevanz beimisst als dem privaten, könne ein Konflikt gelöst werden. Sollten diese Kriterien nicht ausreichen und auch die längere Gültigkeit eines Gesetzes keine Entscheidung ermöglichen, rät Quintilian, die Konsequenzen zu bedenken. Die Option, die den geringeren Schaden verursache, sei zu wählen: solet tractari et utra sit antiquior, sed velut potentissimum, utra minus perdat […].329 Nachdem Quintilian die Schadensabwägung als gewichtiges Argument gewürdigt hat, hält er zusammenfassend fest: plurimum tamen est in hoc, utrum fieri sit melius atque aequius […].330 Dabei weist er auch auf die Notwendigkeit einer situationsadäquaten Beurteilung hin, die es verbiete, eine allgemeingültige Regel aufzustellen und dem Einzelnen eine Entscheidung abzunehmen: de quo _____________ 326 Vgl. Rhetorica ad Herennium, lib. I, 11,20. Übers. v. Nüßlein: „Auf gegensätzlichen Gesetzen beruht eine Streitfrage, wenn das eine Gesetz etwas anordnet oder gestattet, das andere es verbietet […].“ 327 Iulius Victor, Ars rhetorica, 5,2 (383). 328 Quintilian, Institutio oratoria, lib. VII, 7,7. Übers. v. Rahn: „[W]elches der beiden Gesetze hat stärkeres Gewicht? Bezieht es sich auf Götter oder auf Menschen, auf das Gemeininteresse oder auf einzelne Privatleute? Betrifft es eine Auszeichnung oder Bestrafung? Wichtige oder geringfügige Dinge? Gestattet, verbietet oder gebietet es?“ 329 Quintilian, Institutio oratoria, lib. VII, 7,8. Übers. v. Rahn: „Gewöhnlich wird auch die Frage behandelt, welches das höhere Alter beanspruchen könne, jedoch wohl am stärksten wiegt die Frage, welches von ihnen das geringere Opfer verlangt […].“ 330 Quintilian, Institutio oratoria, lib. VII, 7,8. Übers. v. Rahn: „Das Allermeiste indessen hat die Frage zu bedeuten, welches von ihnen sich besser und eher nach billigem Ermessen ausführen lässt […].“

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nihil praecipi nisi proposita materia potest.331 Eine sorgfältige Abwägung der einzelnen Verpflichtungen und der aus einem Gesetzesverstoß erwachsenden Folgen bleibt demnach unverzichtbar. Unter dieser Voraussetzung wird die Lösung eines Interessenkonflikts durch das Prinzip der Normenhierarchie jedoch grundsätzlich für möglich gehalten. Im 12. und 13. Jahrhundert wird das Problem in der Theologie und im Kirchenrecht aufgegriffen und dort unter dem Terminus perplexio diskutiert.332 Als perplex werden eine Situation, in der zwei unvereinbare Verpflichtungen einen Menschen handlungsunfähig machen, oder ein Rechtsakt bezeichnet, der aufgrund von zwei widersprüchlichen Bedingungen nicht zustande kommt. Dieser Begriff geht zurück auf Gregor den Großen, der ihn in seinem Hiobkommentar auf die Verflechtungen der Sünde und die schlechten Einflüsterungen des bösen Feindes bezieht.333 An drei Beispielen diskutiert Gregor, wie sich ein Mensch in einer Situation verhalten soll, bei der er sich in jedem Fall eines Vergehens schuldig machen wird, sei es, dass er ein Versprechen bricht und sich über seine Gehorsams- und Treuepflicht hinwegsetzt oder dass er gegen ein göttliches Gebot verstößt.334 Zu lösen ist ein solcher Konflikt nach Gregor durch die Wahl des kleineren Übels (minora semper eligantur). Dies veranschaulicht er durch den Vergleich mit einem Gefangenen, der stets dort ausbreche, wo die Mauer am niedrigsten sei. Zwar lasse sich in einer solchen Notlage nicht vermeiden, eine Sünde zu begehen, doch gelte es, die geringere Schuld auf sich zu laden. Ungeachtet der begangenen Sünde könne man durch die richtige Entscheidung zu äußerst großen Tugenden gelangen und die Verflochtenheit (perplexitas) in die Stricke des Satans lösen.335 Die Aufnahme von Gregors Überlegungen in das ‚Decretum Gratiani‘ führte zu neuen Auseinandersetzungen mit der perplexio in der mittelalterlichen Theologie.336 Hinsichtlich der Verhaltensempfehlung im Konfliktfall ähnelt die theologisch-kanonistische Auffassung den rhetorischen Lehrbüchern, beschränkt sich aber zunächst auf den Vergleich der negati_____________ 331 Quintilian, Institutio oratoria, lib. VII, 7,8. Übers. v. Rahn: „[…] eine Frage, worüber sich nur bei einer gegebenen Übungsaufgabe Regeln aufstellen lassen.“ 332 Vgl. Bruch, Perplexes Gewissen; Landgraf, ‚casus perplexus‘; Schenk, Perplexus; StörmerCaysa, Gewissen, S. 54. 333 Vgl. Bruch, Perplexes Gewissen, S. 232f.; Schenk, Perplexus, S. 68. 334 Vgl. S. Gregorius Magnus, Moralia in Iob, lib. XXXII, XX, 35–38. 335 Vgl. S. Gregorius Magnus, Moralia in Iob, lib. XXXII, XX, 39: Est tamen quod ad destruendas eius uersutias utiliter fiat, ut cum mens inter minora et maxima peccata constringitur, si omnino nullus sine peccato euadendi aditus patet, minora semper eligantur; quia et qui murorum undique ambitu ne fugiat clauditur, ibi se in fugam praecipitat, ubi breuior murus inuenitur. […] Non enim est sine uitio quod ignoscitur, et non praecipitur. Peccatum profecto uidit, quod posse indulgeri praeuidit. Sed cum in dubiis constringimur, utiliter minimis subdimur, ne in magnis sine uenia peccemus. Itaque plerumque neruorum Behemoth istius perplexitas soluitur dum ad uirtutes maximas per commissa minora transitur. 336 Vgl. Decretum Gratiani, pars 1, dist. 13, c. 2 (= Sp. 31–33).

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ven Aspekte, wie die pointierte Formulierung der Kapitelüberschrift im ‚Decretum‘ exemplarisch zeigt: Minus malum de duobus est eligendum.337 Durch die Impulse, die von Abaelards Ethik ausgehen, verlagert sich die Diskussion im 13. Jahrhundert von einer Schadens- zu einer Pflichtenund Güterabwägung überhaupt, die gemeinsam mit Gewissensfragen behandelt wird.338 Selbst wenn in der Rhetorik und der Theologie unterschiedliche Akzente gesetzt werden, indem einmal nur eine Entscheidungshilfe geboten und das andere Mal die Unvermeidbarkeit einer sündhaften Verstrickung betont wird, stimmen beide doch in einem wesentlichen Punkt überein: Der Konflikt zwischen den widerstreitenden Anforderungen ist prinzipiell zu lösen, wobei das geringere Übel gewählt werden soll. Bereits in der Antike wurde die völlige Handlungsunfähigkeit des Menschen als eine Fehleinschätzung gewertet, die sich aus einer mangelnden Einsicht in die hierarchische Ordnung der Werte erkläre. Im christlichen Mittelalter muss dieses intellektuelle Defizit zugleich zu einem dogmatischen Problem werden. Die Vorstellung, die menschliche Handlungsfreiheit könnte grundlegend eingeschränkt sein, stünde im Gegensatz zu einem wichtigen Axiom christlicher Anthropologie; der Mensch besäße dann nämlich keine Möglichkeit mehr, sich aus freiem Willen für das Gute zu entscheiden und so an seinem Heil mitzuwirken. Aus diesem Grund lehnt Thomas von Aquin eine Perplexio absoluta kategorisch ab, denn ein unlösbarer Widerspruch uidetur inconueniens, quia sequeretur quod non pateret ei uia salutis […].339 Er räumt lediglich ein, dass eine Situation perplex erscheinen könne, wenn jemand eine sündhafte Absicht verfolge, eine solche Tat begangen habe oder wenn das Gewissen sich in Bezug auf die Norm irre.340 Der Widerspruch erweise sich jedoch als überwindbar, sobald eine Verhaltensänderung erfolge, der Irrtum erkannt und beseitigt worden sei: _____________ 337 Vgl. Decretum Gratiani, pars 1, dist. 13, c. 1 (= Sp. 31). Es folgt die Ausführung: Duo mala, licet cautissime sint precauenda tamen si periculi necessitas unum ex his temperare compulerit, id debemus resolvere, quod minori nexu noscitur obligari. Quid autem leuius ex his, quidue grauius sit, purae rationis acumine inuestigemus. Etenim dum peierare compellimur, creatorem quidem offendimus, sed nos tantummodo maculamus. Cum uero noxia promissa complemus et Dei iussa contempnimus, et proximis impia crudelitate nocemus, et nos ipsos crudeliori mortis gladio trucidamus. Illic enim dupplici culparum telo perimimur, hic tripliciter iugulamur. 338 Vgl. Schenk, Perplexus, S. 69–73; Störmer-Caysa, Gewissen, S. 55. 339 Vgl. Thomas von Aquin, De quolibet, III q. 12,2. – Eine ähnliche Auffassung wird schon in der von Johannes Teutonicus verfassten und von Bartholomäus Brixiensis überarbeiteten ‚Glossa ordinaria‘ zum ‚Decretum Gratiani‘ (kurz nach 1215) vertreten, in der die Möglichkeit einer echten Perplexität entschieden bestritten wird. Vgl. Bruch, Perplexes Gewissen, S. 233f. 340 Vgl. Heimann-Seelbach, Calculus Minervae, S. 272; Schenk, Perplexus, bes. S. 79–88.

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Nec tamen est perplexus: quia potest intentionem malam dimittere. Et similiter, supposito errore rationis vel conscientiae qui procedit ex ignorantia non excusante, necesse est quod sequatur malum in voluntate. Nec tamen est homo perplexus: quia potest ab errore recedere, cum ignorantia sit vincibilis et voluntaria.341

Insgesamt besteht in der Theologie und Kanonistik ein weitgehender Konsens, was eine Pflichtenkollision betrifft: Derjenige, der die Situation richtig beurteilt, also der homo discretus, ist auch in der Lage, einen Konflikt angemessen zu lösen. Eine Perplexität, die aus den objektiven Gegebenheiten resultiert und in den zu wählenden Normen begründet liegt, wird dagegen ausgeschlossen.342 Richard Bruch, der die zeitgenössische theologische Diskussion untersucht, weist auf die grundlegende Differenz zwischen mittelalterlicher und moderner Auffassung hin: „Daß die mittelalterlichen Theologen dem Problem der Gewissensperplexität mit einiger Zurückhaltung gegenüberstanden, läßt sich wohl daraus erklären, daß sie nicht geneigt waren, die Möglichkeit eines unüberwindlichen, also schuldlos irrenden Gewissens in dem Maße zuzugeben, wie man es später tat.“343

Dieser kurze Überblick zeigt, dass zwischen den gelehrten Diskursen über Gesetzeswiderspruch und perplexio und der Lösung eines tragischen Konflikts in der höfischen Literatur auffällige Parallelen bestehen. Wenn Rüdiger seine Situation zutiefst beklagt, er alles versucht, die Burgunden nicht schädigen zu müssen, aber schließlich doch in den Kampf eingreift, handelt er nach dem Grundsatz utra lex potentior; der Lehnstreue wird größere Bedeutung beigemessen als der Treue gegenüber den Freunden. Eine ähnliche Konstellation liegt im ‚Willehalm‘ vor: Obwohl Giburg die Verluste unter ihren Blutsverwandten und ihren Glaubensbrüdern sehr bedauert, ist sie nie gewillt, das Christentum aufzugeben; der Glaube an den wahren Gott ist für sie nicht verhandelbar. Den Prozess des Abwägens setzt Konrad von Würzburg in Szene. Engelhard vergleicht das Leben seiner Kinder und die Gesundheit seines Freundes miteinander und leitet daraus seinen Entschluss ab. Weil er Dietrichs Verlust als weitaus größeren Schaden bewertet, wählt er das geringe Übel und tötet seine Kinder. Auch in anderen Werken der höfischen Epik wird ein solches Verhalten im Konfliktfall empfohlen. Bis in den Wortlaut hinein scheinen sich die volkssprachlichen Autoren an die Formulierungen Quintilians, Gregors und des ‚Decretum Gratiani‘ anzulehnen, wie Markes Zwiespalt in Gottfrieds ‚Tristanroman‘ exemplarisch zeigt. Um nicht an seiner vergifteten Wunde zu sterben, will sich Tristan im Land seiner Feinde heilen lassen. Bei dem König löst dieser Vorschlag gespaltene Gefühle aus: diz _____________ 341 Thomas von Aquin, Summa theologiae, pars prima secundae, q. 19, art. 6, ad 3. 342 Vgl. auch Landgraf, ‚casus perplexus‘, S. 85f. 343 Bruch, Perplexes Gewissen, S. 236.

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geviel im übele unde wol.344 Einerseits möchte Marke den geliebten Neffen immer in seiner Nähe haben und ihn keinesfalls einer tödlichen Gefahr aussetzen, in die dieser sich mit der Reise zwangsläufig begeben würde. Andererseits erkennt er, dass die unerträglich riechende Wunde versorgt werden muss, damit Tristan nicht elend zugrunde geht. Vor diese Alternative gestellt, bleibt Marke keine andere Wahl, wan daz man schaden ze noeten sol / dulten, als man beste kan. (7317f.) Er stimmt Tristans Plan daher trotz seiner Bedenken zu, was den Erzähler zu einem generalisierenden Kommentar veranlasst, der auf jede Entscheidungssituation übertragbar ist: under zwein übelen kiese ein man, / daz danne minner übel ist. / daz selbe ist ouch ein nütze list. (7320–7322) Zwar lassen solche Parallelen nicht auf konkrete Abhängigkeitsverhältnisse zwischen literarischen Werken und theoretischen Texten schließen. Weder für Gottfried noch für Wolfram oder Konrad und schon gar nicht für den anonymen Verfasser des ‚Nibelungenlieds‘ lässt sich die Kenntnis von Quintilians ‚Institutio oratoria‘ nachweisen. Was die theologische Auseinandersetzung um die perplexio betrifft, wird bei der epischen Modellierung gar eine Lösung des Problems erarbeitet, die sich erst später wissenschaftlich durchsetzen kann, wie Uta Störmer-Caysa herausstellt.345 Der Vergleich zwischen der höfischen Dichtung und den juristisch-ethischen Diskussionen dokumentiert aber gleichwohl, dass im 12. und 13. Jahrhundert bestimmte Auffassungen von einer Pflichtenkollision herrschen, die sich vom modernen Verständnis wesentlich unterscheiden. Ein Konflikt zwischen zwei gleichberechtigten, aber unvereinbaren Werten, wie ihn die hegelsche Tragikdefinition voraussetzt, widerspricht der historischen Sichtweise und wird in der höfischen Epik auch nicht inszeniert. Diese Differenz zwischen moderner Theorie und mittelalterlicher Literatur lässt sich nicht nur mit dem christlichen Weltbild und der theologischen Lehre von der Willensfreiheit des Menschen begründen. Vielmehr besteht bei der epischen Gestaltung einer tragischen Handlung auch narratologisch eine Notwendigkeit, eine perplexio absoluta zu negieren. Mit der völligen Handlungsunfähigkeit des Protagonisten wäre seine Geschichte vorzeitig beendet. Weil das Strukturgesetz der Erzählung nach einer Fortsetzung verlangt, muss der Held in einer Konfliktsituation eine Entscheidung treffen.346 Veranschaulichen lässt sich diese narrative Besonderheit an einem Konflikt Iweins, den Sabine Heimann-Seelbach als eine „Maximalform _____________ 344 Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 7316. 345 Vgl. Störmer-Caysa, Gewissen, S. 55. 346 Störmer-Caysa (Gewissen, S. 56) betont, dass die epischen Modelle von perplexio „gerade, und unbedingter als in der theoretischen Reflexion,“ der Notwendigkeit gehorchten, dass man handeln müsse. Ähnlich äußert sich Haug (Handlungsschematik, S. 46f.).

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des Dilemmas“ bezeichnet.347 Nachdem Iwein Lunete versprochen hat, für sie einen Gerichtskampf auszufechten, sagt er den Bewohnern einer Burg seine Unterstützung gegen den grausamen Riesen Harpin zu. Weil dieser jedoch auf sich warten lässt, wird die Zeit knapp, so dass Iwein sich zwischen Lunetes Rettung und der Befreiung der Burg entscheiden muss. Iwein reflektiert, in was für einer schwierigen Situation er sich befindet; jede Handlungsoption ist mit verhängnisvollen Folgen verbunden: mir ist ze spilne geschehen / ein gâch geteiltez spil: / […] / ich weiz wol, swederz ich kiuse, / daz ich an dem verliuse (4872–4878). Obgleich Iwein das Kriterium zur Lösung eines Konflikts kennt, ich bedarf wol meisterschaft, / sol ich daz waegest ersehen (4870f.), bietet es ihm keine Entscheidungshilfe: ich enmöht ir beider gepflegen, / ode beidiu lâzen under wegen, / ode doch daz eine: / sô waer mîn angest cleine. (4879–4882) Zwar würde Lunetes Leben rein numerisch weniger als der Tod mehrerer Burgbewohner zählen, doch verwirft Iwein diese Überlegung sofort wieder.348 Da seine Treue und Ehre auf dem Spiel stehen und er sich beiden Parteien verpflichtet fühlt, gelingt dem Protagonisten eine Gewichtung der Werte nicht. Nach Ansicht von Heimann-Seelbach überschreitet die epische Konstruktion des Artusromans damit den Problemhorizont der kanonistischen und theologischen Diskussion und stellt eine perplexio absoluta dar, die es nach zeitgenössischer Theoriebildung eigentlich nicht geben kann. Bei Iweins Gewissenskonflikt strebe Hartmann von Aue danach, „die widerstreitenden Normen als absolut gleichwertige“ darzustellen. Weil diese gleichberechtigten Prinzipien einander vollständig blockierten, werde ein – oder zumindest ein fehlerfreies – Handeln unmöglich.349 Gegen diese Deutung ist einzuwenden, dass Iweins Zwiespalt nach seiner Inszenierung sofort überwunden wird. Selbst wenn dem Protagonisten beide Forderungen gleichberechtigt erscheinen, zeigt die weitere Entwicklung, dass eine solche Konstellation in einem Roman nicht lange aufrechtzuerhalten ist.350 Als Iwein nicht imstande ist, selbst eine Prioritätensetzung vorzunehmen, wird der Konflikt von außen gelöst. Der Riese Harpin erscheint gerade noch rechtzeitig und rettet so die Handlungsfähigkeit des Helden. Ein tragischer Handlungsverlauf wird auf diese Weise nicht in Gang gesetzt. Da keine der Verpflichtungen zugunsten der anderen aufgeopfert wird, muss Iwein keine unliebsamen Folgen ertragen. Dieser Fall zeigt, dass nicht jeder Interessenkonflikt der höfischen Epik als tragisch zu deklarieren ist. Nur wenn sich der Protagonist für einen höhe_____________ 347 Heimann-Seelbach, Caculus Minervae, S. 273. 348 Vgl. Hartmann von Aue, Iwein, V. 4899–4902: doch waere diu eine maget / dâ wider schiere verclaget, / wider dem schaden der hie geschiht, / gieng ez mir an die triuwe niht. 349 Heimann-Seelbach, Caculus Minervae, S. 274. 350 Vgl. auch Haug, Handlungsschematik, S. 46.

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ren Wert entscheidet und dadurch ins Unglück stürzt, lässt sich von höfischer Tragik sprechen. In Hartmanns Artusroman dient der Zwiespalt dagegen der Auszeichnung eines außergewöhnlichen Helden, der zwei scheinbar unvereinbare Aufgaben vorbildlich erfüllt.351 Dieter Kartschoke weist darauf hin, dass solche Entscheidungsmonologe erst in der höfischen Dichtung vorkommen und im 13. Jahrhundert an Bedeutung gewinnen.352 Die Figuren gelangten nach eingehender Prüfung entgegengesetzter Argumente, Zwecke und Ziele zu einem Ergebnis, das sie anschließend in die Tat umsetzten. Bezugnehmend auf die widerstreitenden Anforderungen, zwischen denen sich ein Protagonist entscheiden muss, stellt Kartschoke fest: „Der ‚reflektierende Held‘ des höfischen Versr o m a n s ist in diesem Punkte ein grundlegend anderer als der unmittelbar handelnde heroische Charakter.“353 Darin kündigt sich seines Erachtens etwas Neues an, das schon Erich Walker in seiner Monologstudie erkannt habe. Walker wertet diese Beobachtung als „so etwas wie das allmähliche Erwachen des mittelalterlichen Individuums zum IchBewußtsein, zur kritischen, reflektierten Selbstkontrolle im Handeln“.354 Obwohl die geschichtsteleologischen Implikationen dieser Interpretation kritisiert werden können,355 ist Kartschokes literarhistorische Einordnung des Entscheidungsmonologs in dem hier behandelten Zusammenhang von Relevanz. Der bewusste Akt des Wählens zwischen verschiedenen Handlungsoptionen ist demnach als ein typisches Element der höfischen Epik zu betrachten.

_____________ 351 In eine vergleichbare Situation gerät Gawan im ‚Parzival‘. Er muss sich entscheiden, ob er der bedrängten Stadt Bearosche Hilfe leistet oder pünktlich zum Zweikampf erscheint. Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival, 349,30–350,7: doch lêrt in zwîvel strengen pîn. / er dâhte ‚sol ich strîten sehn, / und sol des niht von mir geschehn, / sost al mîn prîs verloschen gar. / kum ab ich durch strîten dar / und wirde ich dâ geletzet, / mit wârheit ist entsetzet / al mîn wertlîcher prîs. / […]‘ Zur Interpretation dieser Szene vgl. Kartschoke, Held, S. 172; Störmer-Caysa, Gewissen, S. 52. – Auf die Bedeutung des Konflikts für die Charakterisierung der Figuren macht StörmerCaysa aufmerksam: „In beiden Fällen soll der Held seine Vortrefflichkeit dadurch zeigen, daß er die Quadratur des Kreises löst und mehr als das Menschenmögliche tut.“ 352 Diese Entwicklung führt er auf das ‚Erwachen des Gewissens‘ in der ‚Renaissance‘ des 12. Jahrhunderts zurück, das sich auch in der volkssprachlichen Literatur niederschlage. Vgl. Kartschoke, Held, S. 153f. 353 Kartschoke, Held, S. 173. – Ähnlich urteilt Störmer-Caysa (Gewissen, S. 46): „Ein heroischer Held darf schlicht die Taten tun, die ihm vor die Füße fallen. […] So führen die Autoren der höfischen Romane ihre Helden nicht oft; sie bringen sie vielmehr wiederholt in Situationen, in denen Protagonisten den Anschein von gleichwertigen Handlungsmöglichkeiten nur mit ihrem internalisierten Normenverständnis überwinden können […].“ 354 Walker, Monolog, S. 182. 355 Grundsätzlich zur Problematik, die Anfänge moderner Individualitätsformen im Mittelalter entdecken zu wollen, vgl. Sonntag, Das Verborgene, S. 19f.

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Tragischer Konflikt

Vor dem Hintergrund dieser Informationen zur Erzählliteratur und Gewissenslehre der Zeit lassen sich die wichtigsten Kriterien eines tragischen Konflikts in der höfischen Literatur zusammenfassen: 1) Die Motivierung des Unglücks durch eine Pflichtenkollision, wie sie den Erzählungen von Rüdiger, Giburg und Engelhard zugrunde liegt, weist gravierende Differenzen zu den antiken Tragödientheorien auf. Für Aristoteles und Seneca ist ein fehlerhaftes oder affektgesteuertes Verhalten ausschlaggebend für die Katastrophe, die grundsätzlich vermeidbar gewesen wäre. Dagegen stürzen die Protagonisten der höfischen Literatur durch eine Konfliktsituation ins Unglück, obwohl sie sich in einer schwierigen Situation richtig entschieden haben. Aufgrund der Angemessenheit ihres Verhaltens unterscheidet sich dieses Handlungskonzept deutlich vom antiken Tragikverständnis. 2) Stärkere Übereinstimmungen weist die Motivierung des Unglücks in den untersuchten Episoden dagegen mit modernen Tragikvorstellungen auf, in denen der Konflikt als wesentliches Element des Tragischen betrachtet wird. Im Unterschied zur bekanntesten Tragödientheorie der Moderne sind die antagonistischen Werte, zwischen denen die höfischen Protagonisten zu wählen haben, jedoch nicht gleichberechtigt. Aufgrund dieser Rangordnung lässt sich von einer Alterität der mittelalterlichen Tragikkonzeption sprechen, die nicht mit Hegels Verständnis gleichgesetzt werden darf. Stattdessen orientieren sich die höfischen Dichter an den Empfehlungen, die in den rhetorischen Lehrbüchern der Antike erteilt und in den theologisch-kanonistischen Schriften des 12. und 13. Jahrhunderts diskutiert werden. Ausdruck findet dies in den Reflexionen der Figuren, die beide Optionen vergleichen und die Werte gegeneinander abwägen. Aus dem seit der Antike bewährten und im Mittelalter noch anerkannten Lösungsansatz wird in der höfischen Epik ein Handlungsmodell zur Motivierung des Unglücks entwickelt. 3) Leid und Tod sind final motiviert, weil das kausale Figurenhandeln durch eine feststehende Wertehierarchie bestimmt wird. Die Rangordnung der Verpflichtungen aufzuheben oder umzukehren, ist den Protagonisten nicht möglich. Die mittelalterlichen Konflikterzählungen können gemäß der modernen Auffassung insofern als tragisch gelten, dass die Figuren unvermeidlich Schuld auf sich laden und notwendigerweise ins Unglück stürzen. Indem ihre Entscheidung aber grundsätzlich gerechtfertigt ist, entspricht die Handlungskonstellation weitgehend der schillerschen Tragikdefinition: Rüdiger, Giburg und Engelhard entscheiden sich aus einem Pflichtgefühl bewusst für ihr Leiden. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass der tragische Konflikt in der höfischen Literatur als Auslöser einer unglücklichen Entwicklung fungiert. Weil der Protagonist mit seiner Entscheidung für einen höheren Wert ge-

Tragischer Konflikt und ethischer Diskurs

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gen einen anderen Wert verstößt, zieht dies negative Konsequenzen nach sich. Eine wichtige Form höfischer Tragik besteht demnach darin, dass der Held bei einem Konfliktfall aufgrund einer überlegten und richtigen Entscheidung ins Unglück stürzt und sein Leiden bereitwillig akzeptiert.

3. Tragische Liebe: Die Widerspruchsstruktur der Minne Als wesentliche Kategorie des Tragischen wird die Liebe in keinem tragödientheoretischen Grundlagentext angeführt. Für die literarische Gestaltung ist dieses Element dennoch oft von entscheidender Relevanz, um das Unglück der Protagonisten zu begründen. Schon in der antiken Literatur werden Liebe und Tod in einen engen Zusammenhang gestellt, und auch in mittelalterlichen Werken enden Liebesgeschichten tödlich. Weil das Motiv der Minne in der höfischen Dichtung ins Zentrum des literarischen Interesses rückt, finden unglückliche Liebesbeziehungen besondere Aufmerksamkeit und werden eigene Formen der Motivierung entwickelt. Im Folgenden werden drei Mustertexte analysiert, bei denen der frühzeitige Tod aus Liebe den Handlungsverlauf entscheidend bestimmt: Karthagos Herrscherin Dido wählt im ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke den Selbstmord, weil sie von ihrem Geliebten verlassen worden ist. Gottfried von Straßburg präsentiert Tristan und Isolde als innig Liebende, die nicht dauerhaft getrennt voneinander leben können. Im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg schließlich tötet die kolchische Königstochter Medea ihren Ehemann Jason, nachdem ihr dieser trotz aller Versprechungen untreu geworden ist. Für das Erkenntnisinteresse dieser Studie sind diese Erzählungen besonders geeignet, da sie in mehreren Bearbeitungen aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten vorliegen. Während die zuvor untersuchten Werke auf mittelalterliche Vorlagen zurückgehen, werden in diesem Kapitel zwei Erzählungen mit antiken Prätexten untersucht. Bei der Übertragung des römischen Nationalepos oder eines griechisch-lateinischen Tragödienstoffes in einen mittelalterlichen Roman müsste mit der ‚histoire‘ auch die ihr inhärente Tragik adaptiert und transformiert werden.1 Wenn sich aus komparatistischer Perspektive eine allgemeine Tendenz der Verschiebung von Bedeutungsnuancen beobachten ließe, dann könnte auf ein höfisches Konzept einer tragischen Liebe geschlossen werden. _____________ 1

Hier ergeben sich Anknüpfungspunkte zum Mythosbegriff von Roland Barthes (Mythen des Alltags, S. 88–96, 103). Er bezeichnet die Auseinandersetzung mit dem Mythos, die stets zu seiner Reproduktion führt, als eine ‚sekundäre Semantisierung‘. – Ebenso werden tragische Elemente in der mittelalterlichen Literatur nicht durch das christliche Weltbild aufgehoben, sondern höfisch überformt und neu gestaltet.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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3.1 Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke Didos unglückliche Liebesgeschichte ist wohl der prominenteste Fall, bei dem eine epische Erzählung als eine Tragödie akzeptiert und interpretiert wird.2 Auch wenn der Begriff Tragik unterschiedlich verstanden wird, besteht in der Forschungsliteratur doch weitgehende Einigkeit, dass Didos Schicksal in Vergils ‚Aeneis‘ als tragisch zu klassifizieren ist. Eine als kluge und weise charakterisierte Herrscherin begeht nach der Trennung von ihrem Geliebten Selbstmord. Ihre Liebe, die in der ‚Aeneis‘ nur eine Episode bleibt, weil Aeneas den göttlichen Befehl zum Aufbruch nur allzu willig erfüllt, ist in der Rezeptionsgeschichte oft in den Mittelpunkt gerückt worden und hat zu zahlreichen Adaptationen angeregt.3 Der um 1170 angefertigte ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke markiert den Beginn der deutschsprachigen höfischen Dichtung. Schon seine Zeitgenossen rühmten ihn dafür: er inpfete daz erste rîs / in tiutischer zungen.4 Explizit stellt Veldeke sich in die literarische Tradition, an deren Anfang Vergil als anerkannte Autorität steht.5 Der deutsche Dichter beteuert die treue Wiedergabe seiner Vorlage, die ihm über die Zwischenstufe des altfranzösischen ‚Roman d’Eneas‘ vermittelt worden sei.6 Detaillierte Vergleichsstudien zum ‚Eneasroman‘ und seinen Prätexten sowie übergreifende Untersuchungen zum Übersetzen im Mittelalter haben jedoch gezeigt, wie sehr sich Veldekes Anspruch, die Geschichte âne missewende (354,38) wiederzugeben, von einem neuzeitlichen Übersetzungskonzept unterscheidet.7 Die im Mittelalter vorgenommenen Modifikationen sind von entscheidender Bedeutung, um von der Motivierung des Unglücks auf ein mögliches Tragikkonzept Heinrichs von Veldeke zu schließen. _____________ 2 3 4 5 6 7

Vgl. auch Hamm, Infelix Dido, S. 9; Krummen, Dido, S. 27f. (mit weiteren Literaturhinweisen); Quint, Roman d’Eneas, S. 253; Wlosok, Vergils Didotragödie, S. 228. Vgl. Kailuweit, Bibliographie. Zu den mittelalterlichen Bearbeitungen vgl. Desmond, Reading Dido; Leube, Fortuna; Mecklenburg, Verführerin. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 4738f. Zur Bekanntheit der ‚Aeneis‘ im Mittelalter vgl. Glauche, Schullektüre, S. 147 (Index). Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 354,16–39. – Zur Tradition literarischer Quellenberufungen vgl. v.a. Schmitt, Inszenierungen. Besonders augenfällig wird dies in der Ausarbeitung einer eigenständigen Minnehandlung zwischen Eneas und Lavinia in den mittelalterlichen Romanen. Auf diese Weise erfährt Didos unglückliche Liebe eine ins Positive gewendete Doppelung. – Zum ‚Eneasroman‘ und seinen Vorlagen vgl. z.B. Dittrich, ‚Eneide‘, Tl. 1; Kern, Beobachtungen; Huby, Adaptation, S. 124–137; Quint, Roman d’Eneas. Zur mittelalterlichen Übersetzungspraxis vgl. Worstbrock, Wiedererzählen; Bußmann, Übertragungen. In seiner einschlägigen Studie charakterisiert Worstbrock das mittelalterliche Verfahren, Erweiterungen und Kürzungen vorzunehmen, als ein ‚Wiedererzählen‘ und grenzt es von der humanistischen Praxis einer dem Original verpflichteten Übersetzung ab. Zur Kritik vgl. Schmid, Erfinden.

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Tragische Liebe

Handlungsstruktur: Von der mächtigen Herrscherin zum menschlichen Staub Didos Geschichte lässt sich als der Sturz einer Herrscherin lesen, die wegen ihrer Liebe um alles gebracht wird, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat. Mit Herrschaft und Minne werden im ‚Eneasroman‘ zwei zentrale Themen der höfischen Literatur aufgegriffen, die für die einzelnen Phasen der Erzählung unterschiedliche Bedeutung besitzen.8 Vor allem zu Beginn steht Didos Herrschaftsgewalt im Fokus der Aufmerksamkeit, wohingegen die Minne im Handlungsverlauf zunehmend in den Mittelpunkt rückt. Präsentiert wird die Protagonistin eingangs als eine souveräne Landesherrin. Aus Sicht der staunenden Trojaner wird ihre Machtfülle vor Augen geführt, bevor der Erzähler die für zeitgenössische Rezipienten fast unglaublichen Hintergrundinformationen liefert. Als die trojanischen Flüchtlinge nach einem schweren Seesturm in einem unbekannten Gebiet gestrandet sind, entdecken ihre Boten die große, prächtige und gut befestigte Stadt Karthago. Regiert wird sie von einer Frau, die diese Stadt selbst gegründet hat, nachdem sie mit wenigen Getreuen in das Gebiet geflohen war. Durch ihren Bruder, der ihren Mann ermordete und sie selbst aus der Heimat vertrieb, jeglichen Rechts beraubt, ist es Dido in der Fremde gelungen, ohne männliche Unterstützung ein eigenes Reich aufzubauen. Mit Hilfe einer List erwarb sie ein für Verteidigungszwecke höchst geeignetes Stück Land, auf dem sie eine Stadt errichten und mit hohen Türmen befestigen ließ. Zwischen dem Meer und einem Fluss gelegen, bietet ihr Herrschaftssitz wenig Angriffsfläche und verfügt über alles zum Leben Notwendige. Dank ihrer klugen Verhaltensweise kann Dido ihre Macht kontinuierlich ausbauen, so dass sie schließlich die Herrschaft über ganz Libyen erlangt. Von dem früheren Landesherrn ist bei der Ankunft der Trojaner nicht mehr die Rede, stattdessen wird Dido als unangefochtene Regentin vorgestellt: […] ir wart gehôrsam Libîâ daz lant al uber berch und uber tal. Ir diende lût unde lant, daz sie dâ nieman ne vant, der ir getorste widerstân (26,6–11).

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Syndicus (Dido, bes. S. 62) kritisiert, dass sich die Forschung zu sehr auf die Minnehandlung konzentriert habe, ohne den Stellenwert von Didos Herrscherhandeln in der Gesamtkonzeption zu berücksichtigen. Die Bedeutung der Herrschaftsthematik betonen auch Kasten (Heinrich von Veldeke, S. 87) und Kartschoke (Didos Minne, bes. S. 106f., 110f.).

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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Die gut befestigte Stadtanlage und die überlegte Verteidigungsstrategie tragen wesentlich dazu bei, dass Karthago uneinnehmbar geworden ist. Jedes der insgesamt sieben Tore wird von einem mächtigen Grafen bewacht, der die Stadt im Notfall mit dreihundert Rittern verteidigen soll. Obwohl Heinrich von Veldeke die Beschreibung Karthagos im Vergleich zu seiner altfranzösischen Vorlage deutlich kürzt, stellt er die hierarchische Struktur klar heraus, an deren Spitze Dido steht:9 dar abe heten sie lêhen. / die frouwen mûsten si alle flêhen / die rîchen hûsgenôzen. (26,29–31) Diese Vorgehensweisen, die Herrschaft nach innen durch die Lehnsbindung und außen durch die Befestigungsanlagen zu sichern, bewegen den Erzähler zur zusammenfassenden Charakterisierung seiner Protagonistin: Michel was ir wîstûm. / si hete grôzen rîchtûm: / des vorhte man sie sêre. (27,25–27)10 Welche ambitionierten Pläne Dido verfolgt, wird daran deutlich, dass sie sich persönlich um die Erfüllung religiöser Pflichten kümmert. Nahe ihres Palastes hat sie ein Münster erbauen lassen, in dem Juno von früh bis spät verehrt werden soll. Damit will Dido der Göttin weniger für die bisherigen Erfolge danken, als weitere, imperiale Ansprüche durchsetzen. Ihre Intention sei, erklärt der Erzähler, durch Junos Unterstützung zu erreichen, daz Kartâgô diu mâre / houbetstat wâre / uber alliu diu rîche, / daz ir gelîche / diu lant wâren undertân. (27,39–28,3)11 Insgesamt befindet sich Didos Herrschaft bei der Ankunft der Trojaner in einem völlig ungefährdeten und gut gesicherten Stadium, das hinsichtlich der Machtfülle als ausbaufähig präsentiert wird. Sogar die Weltherrschaft scheint – zumindest im Wunschdenken der bisher so erfolgreichen Regentin – erreichbar. Das Verhalten der trojanischen Gesandten entspricht der sozialen Situation. Als Bittsteller treten sie vor die mächtige Herrscherin, um in ihrem Land zeitweilig Aufnahme zu finden. Im Namen ihres Herrn bieten sie Dido an, ihren Willen zu erfüllen und sich somit wie die anderen Grafen und Gefolgsleute Karthagos zu verhalten: ob ez û gevalle / her dient û und wir alle, / swie sô ir gebietet. (30,9–11) Sofort erklärt sich die Protagonistin einverstanden, weil sie ihr eigenes Schicksal in den Flüchtlingen wiedererkennt. Dabei ist sie zu weit größeren Zugeständnissen bereit, als von den Trojanern erbeten. Im Unterschied zu ihren rîchen hûsgenôzen (26,31) erwartet Dido von den Ankömmlingen keine Unterordnung und Eingliede_____________ 9

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Vgl. Roman d’Eneas, V. 407–548. – Syndicus (Dido, S. 67) weist darauf hin, dass sich das Interesse des Autors weniger auf die Stadt Karthago als auf Didos dadurch begründete Machtstellung richtet. Nach Syndicus (Dido, S. 64) handelt es sich bei wîsheit und rîchtum um Leitmotive der gesamten Episode. Anders als im ‚Roman d’Eneas‘ (vgl. V. 520–523) entspringt dieser Wunsch nicht mehr göttlichem Denken. Dido sucht das Ziel einer Weltherrschaft aus eigenem Antrieb zu erreichen, ohne dass Juno ein römisches Weltreich verhindern möchte. Vgl. auch Syndicus, Dido, S. 70.

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Tragische Liebe

rung in die Lehnsstruktur. Vielmehr empfängt sie Eneas als einen ebenbürtigen Herrscher, dem sie ihrerseits zu dienen verspricht.12 Darüber hinaus unterbreitet Dido den Trojanern freiwillig ein ungewöhnliches Angebot, das sie noch nie jemandem gemacht habe, wie sie selbst betont. Falls Eneas seine Reisepläne aufgäbe und sich dauerhaft in Libyen niederlassen wolle, sagt sie zu: ich teile im lûte unde lant / und allez daz ir hie gesiet (31,4f.). Wenn er jedoch weiterreisen wolle, sollten ihm für die Dauer seines Aufenthalts ihr gesamter Besitz und ihre Gefolgsleute ohne jede Gegenleistung zur Verfügung stehen; sie werde sich persönlich für sein Wohlbefinden verbürgen. Selbst in dieser Rede, in der Dido auf einen Teil ihres Einflussbereichs zu verzichten bereit ist, manifestiert sich ihr Machtanspruch auf einer anderen Ebene neu. Mit dem Versprechen, Eneas in jeder Hinsicht materiell auszustatten, erweist sich die Protagonistin als eine vorbildliche Herrscherin, die Gastfreundschaft und Freigebigkeit demonstriert. Das auf den ersten Blick höchst erstaunlich wirkende Angebot, ihren Besitz mit Eneas zu teilen, zeigt, dass die deutsche Dido keineswegs wie ihre altfranzösische Vorgängerin männlichen Beistand sucht, um ihre Herrschaft dauerhaft sichern zu können.13 Dido hat nicht vor, ihre Ansprüche an einen künftigen Landesherrn abzutreten, sondern will Eneas als einen zweiten Herrscher neben sich dulden. Von der mittellosen Lage und den schweren Verlusten der Flüchtlinge ist bei der ersten Begegnung von Dido und Eneas nichts zu merken. Vielmehr werden die herrliche Ausstattung und die kostbare Kleidung des Trojaners hervorgehoben, der zudem von fünfhundert auserlesenen Rittern auf edlen Araberpferden begleitet wird. Der Held bietet nicht nur selbst einen schönen Anblick, sondern wird von einer prächtigen Kulisse gerahmt. Er registriert bei seinem Einzug in die Stadt die vielen schönen Häuser und die aus Marmor gebauten Paläste; herausgeputzte Mädchen und Edelfrauen zieren seinen Weg, bis er dorthin gelangt, dâ frouwe Dîdô was, / diu mâre und diu rîche. (35,28f.)14 Der liebeswürdige Empfang der Trojaner, die gegenseitige Übergabe wertvoller Geschenke, der Kuss, mit _____________ 12 13

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Auch Fromm (Kommentar, S. 780) hebt hervor, dass Veldekes Dido kein Lehnsverhältnis akzeptiert. Im ‚Roman d’Eneas‘ (vgl. V. 634–636) bietet sich Dido zur Ehe an. Schmitz (Poetik, S. 155) kommentiert, dass Veldeke das Liebesangebot ebenso wie die gewünschte Vereinigung der Völker getilgt habe, um Dido zu einer starken Herrscherin aufzuwerten. Dass Dido im Handlungsverlauf nur noch als diu rîche bezeichnet wird, weil sie ihre Klugheit durch ihre Liebe zu Eneas eingebüßt hat, ist zu bezweifeln (gegen Kartschoke, Didos Minne, S. 103); bereits vor ihrer ersten Begegnung wird sie ohne expliziten Verweis auf ihre Weisheit vorgestellt. Bemerkenswert ist jedoch, dass Didos Herrschaftsmacht durch diese Bezeichnung auch in Erinnerung gehalten wird (vgl. 39,26, 64,6, 77,10, 80,11), als die Minnehandlung in den Vordergrund tritt.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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dem Dido den Sohn des Eneas willkommen heißt, und die festliche Bewirtung folgen ganz dem höfischen Zeremoniell.15 Ausdrücklich berichtet der Erzähler von der Zufriedenheit der Fremden, die nach dem Essen frohgestimmt sind. Wenngleich Dido die höfischen Regeln auch im Folgenden beachtet, ihren Gast unterhält und sich persönlich um seine Unterbringung kümmert, kann sie sich kaum mehr konzentrieren und ihre Pflichten als Gastgeberin nur schwer erfüllen. Die kluge Herrscherin, die ihre Stadt gegen jeden Angriff von außen so gut wie möglich gesichert hat, wird nun im Inneren ihres Palastes, zu hûs (38,16), von einer Macht überwältigt, gegen die ihre sorgfältigen Verteidigungsmaßnahmen nichts ausrichten können: in ir wart erquicket / der minnen fûr vile heiz (38,10f.). Diese Liebe führt zu einer Selbstvergessenheit, dâ si ir selber umbe vergaz (38,17), und zu einer massiven Einschränkung von Didos intellektueller Kompetenz: daz ir ê was wole kunt, / daz mûste mans dô lêren. (39,14f.) Zwar vermag sie äußerlich noch den Schein zu wahren, doch nehmen die Gedanken an Eneas immer mehr Raum ein. Ihr ungewöhnliches Verhalten erregt die Verwunderung ihrer Hofdamen, die einen Rückzug und eine Suche nach Einsamkeit von ihrer Fürstin nicht kennen. Ihre einzige Vertraute, ihre Schwester Anna, bestärkt Dido jedoch in ihrem Verlangen. Sie hält Eneas für einen ebenbürtigen Partner, stattlich, edel, vorbildlich und schön, und stellt eine Erfüllung des Begehrens in Aussicht.16 In der Folgezeit bemüht sich Dido intensiv um Eneas, was einerseits ihren herrschaftlichen Pflichten als Gastgeberin entspricht, andererseits aber angesichts ihres heimlichen Liebesverlangens eine Verkehrung der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung im höfischen Werbungsspiel darstellt: ir dienest was vil gereit / ir liebeme gaste / der ir herze vaste / hâte gebunden (58,10–13).17 Nach einer langen Zeit quälenden Wartens, in der Dido ihre Liebe nicht zu offenbaren wagt, verändert sich ihr Verhältnis bei einem Ausritt zur Jagd abrupt. Vor allem Didos Erscheinen, aber auch das Kommen des Eneas und seiner Begleiter werden als Auftritte von Herrschern inszeniert, die sich durch ihre kostbare Kleidung und funkelndes Gold _____________ 15

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Vor allem die Begrüßung des Ascanius unterscheidet sich merklich vom ‚Roman d’Eneas‘ (vgl. V. 802–825), wo sich Dido beim Küssen kaum zurückhalten kann und vom Erzähler deswegen getadelt wird. Vgl. auch Schmitz, Poetik, S. 157. Politische Vorteile erwähnt Anna in ihrer Argumentation zugunsten des Eneas nicht. Syndicus (Dido, S. 81f.) begründet Veldekes Verzicht auf dieses in seiner Vorlage vorhandene Motiv überzeugend mit der geänderten Herrschaftskonzeption. Eine anerkannte Lehnsherrin habe keinen Anlass, militärische Übergriffe feindlicher Freier abwehren zu müssen. Kasten (Heinrich von Veldeke, S. 93) betont, dass Eneas erst in der Beziehung zu Lavinia die Möglichkeit erhalte, „seine kämpferischen Qualitäten im Dienst der Minne zu entfalten und die tugent seines angeborenen Adels vor aller Augen unter Beweis zu stellen”.

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Tragische Liebe

auszeichnen.18 In dem aufziehenden Gewitter kümmert sich keiner der Gefolgsleute mehr um die Fürstin, nur Eneas bleibt an ihrer Seite. Unter einem Baum kommt es zur sexuellen Vereinigung, die von Dido lang ersehnt worden ist. Die konkrete Initiative geht jedoch eindeutig von Eneas aus, der von plötzlicher Leidenschaft ergriffen wird und sich über Didos Widerstand hinwegsetzt.19 Ihre im Wald geknüpfte Liebesbeziehung setzen die beiden Protagonisten erst heimlich am Hof fort, bis das Gerücht aufkommt, daz diu frouwe Dîdô / geworben hete alsô (64,39f.). Daraufhin macht die Herrscherin ihr Verhältnis öffentlich und feiert michel hôzît (65,3). Obwohl Dido auf diese Weise die Kritik ihrer Umgebung zu entkräften sucht, bewertet der Erzähler ihr Verhalten als kühn und verwegen. Nicht ihre eigene Besonnenheit und kluge Überlegung, sondern der Wille des Eneas ist nun der Antrieb für ihr Handeln: si wart dô kûne unde balt / und tet dô sînen willen / offenbâre und stille. (65,10–12) Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Aus der Sicht der Landesherren hat ihre Herrscherin einen vertriebenen Fremden ungerechtfertigterweise zum neuen Regenten erhoben. Mit ihrer Wahl verschafft sich Dido in ihrem eigenen Hoheitsgebiet Feinde, wodurch die Sicherheit ihres Landes gefährdet wird, ohne dass sie Gegenmaßnahmen ergreift. Statt ihre Herrschaft wie zu Beginn durch strategische Besetzung wichtiger Posten und Lehnsbindungen zu sichern, ist Dido alles außer ihrer Liebe gleichgültig: ez was ir ummâre / swaz ieman dar umbe gesprach: / si liez êre unde gemach / al zeiner hant gân, / dô siz hâte getân. (66,2–6)20 Didos Verhalten zieht zunächst jedoch keine weiteren negativen Konsequenzen nach sich,21 vor allem da Eneas die Erwartung der liebenden Frau zu erfüllen scheint. Während Dido ihre politischen Ambitionen auf_____________ 18 19

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Dagegen besitzt der Vergleich der Protagonisten mit den antiken Göttern der Jagd (vgl. 62,6–13) nur noch untergeordnete Bedeutung. Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 63,18–27. Indem seine Leidenschaft völlig unvermittelt auftritt, nicht von Liebe gesprochen wird und Eneas seine Aufbruchspläne nicht aufgegeben hat, erscheint sein Verhalten fragwürdig. Vgl. Kasten, Heinrich von Veldeke, S. 88f.; Lienert, Antikenromane, S. 98. – Zum veränderten Heldenbild insgesamt vgl. Kasten, Herrschaft. – Dagegen legitimiert Schmitz (Poetik, S. 207) das Handeln des Eneas damit, dass die „Liebesszene nach ovidianischen Mustern“ gestaltet sei. Er verhalte sich „wie der Ovidische Liebhaber und insofern vorbildlich.“ Vgl. auch Hübner, Erzählform, S. 224. Kartschoke (Didos Minne, S. 110) spricht sich für eine Konjektur zu ungemach aus. Vom Kontext her sei es am wahrscheinlichsten, dass Dido ihre königliche Stellung (êre) ebenso wie die Pflichten (ungemach) vernachlässige. Dagegen deutet Syndicus (Dido, S. 90) die Formulierung zeiner hant gân so, dass Dido „Ansehen und Glück ganz in e i n e Hand (d.h. in die Hand eines einzigen)“ legt. Vor allem die folgenden Verse, in denen die Machtfülle des Eneas vorgestellt wird, lassen diese Interpretation überzeugend erscheinen. Lienert (Antikenromane, S. 98) stellt heraus, dass die politische Dimension der Liebe durch die Feindschaft der Fürsten zwar angedeutet, aber Didos Reich nicht wirklich bedroht sei.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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gegeben hat, kann er über ihre gesamte Machtfülle verfügen und sich zudem an ihrer Liebe erfreuen. Dô der hêre Ênêas / dâ vil gewaldeclîchen was / unde geminnet was dâ […] (66,7–9). Kurzzeitig erscheinen die Freuden einer persönlichen Liebe und das Ausüben von Herrschaftsgewalt vereinbar. Doch sowohl durch die unterschiedliche Zuordnung der zentralen Werte auf die beiden Figuren, nämlich Macht zu Eneas und Liebe zu Dido, als auch durch den Hass der adligen Lehnsleute ist die Phase des Glücks schon als illusionär markiert, bevor der Held die Protagonistin verlässt. Obwohl Eneas weiß, dass Dido durch seinen Aufbruch vile unfrô (66,36) werden wird, will er – gemäß dem Rat seiner Gefolgsleute – seinen göttlichen Auftrag erfüllen und nach Italien ziehen. Während er heimlich Reisevorbereitungen trifft, ahnt Dido nichts von seinem Vorhaben und denkt nicht daran, daz her si iemer alsô / verlazen solde und begeben, / die wîle si beidiu mohten leben. (67,10–12) Als Dido von den Abschiedsplänen erfährt, stellt sie Eneas tief getroffen zur Rede. Wenngleich dieser Mitleid empfindet und sie zu trösten bemüht ist,22 lässt er sich nicht von seinem Entschluss abbringen. Erneut stellt Dido die Sorgen um das eigene Wohlergehen hintan und versucht, Eneas wenigstens um seiner selbst willen von der Schifffahrt auf der stürmischen See abzubringen. Auch dieses Argument erzielt jedoch nicht die gewünschte Wirkung, so dass Dido die Erfolglosigkeit ihres Flehens erkennen muss und die Gefährdung ihrer sozialen Position realisiert. Sie wirft Eneas vor, ihrer schnell überdrüssig geworden zu sein, bedauert, ihn je gesehen zu haben, und weist auf ihre existentiell bedrohliche Lage hin, in die sie sich seinetwegen gebracht hat. Während sie von den Landesherren vorher als Regentin akzeptiert wurde, sind ihr diese nun feindlich gesinnt. Nachdem Dido freiwillig ihre unangefochtene Position aufgegeben und ihre Macht auf Eneas übertragen hat, ist das alte Lehnsgefüge mit einer Herrscherin an der Spitze brüchig geworden. Der Protagonistin wird nur noch die typisch weibliche Rolle als schutzbedürftige Frau zugestanden. Da die abgewiesenen Landesherren sie nicht mehr zur Ehe begehren und sie über keinerlei verwandtschaftliche Unterstützung verfügt, ist sie allen Angriffen wehrlos ausgeliefert. Somit gerät Dido in eine vergleichbare Situation wie einst, als sie der Gewalt ihres Bruders hilflos ausgesetzt war, allerdings muss sie sich jetzt selbst die Schuld zusprechen, in diese Notlage geraten zu sein. Mit Blick auf ihr ungleiches Verhalten beginnt Dido schließlich, Eneas zu beschimpfen, und wirft ihm Undankbarkeit und Unbarmherzigkeit vor: ich mûz des engelden, / daz ich ûch hân geêret. (72,20f.) Er habe die freundliche _____________ 22

Kraß (Mitleidfähigkeit) betont die im Vergleich zu den Vorlagen gesteigerte Mitleidfähigkeit des Eneas und schreibt dies dem Einfluss der compassio-Frömmigkeit zu.

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Tragische Liebe

Aufnahme, die sie ihm und den Seinen gewährte, gekêret / ze grôzen missewenden (72,22f.). Rückblickend bezeichnet Dido sein Kommen als ein großes Unglück und erinnert daran, dass ihr vorher stets alle wohlgesonnen gewesen seien: daz is mîn unheil / und grôzes ungeluckes scholt. / mir wâren ie die lûte holt […]. (72,26–28) Da er sie nun in dieser schmerzlichen Situation zurücklasse, müsse er ein steinernes Herz haben. Auf diese Anklage hin verteidigt sich Eneas nicht mehr, sondern lässt Dido weinend zurück. Ihr Leid wird durch einen wiederholten Ohnmachtsanfall und die wertende Bemerkung des Erzählers akzentuiert: daz was der leidiste tach, / den frou Dîdô ie gesach. / si was vil ubele bedaht. (73,19–21) Noch einmal isoliert sich Dido von der höfischen Gesellschaft. Sie schickt ihre Hofdamen und – unter einem Vorwand – auch Anna fort, bei deren Täuschung sie ein letztes Mal ihre alte Planungskompetenz zeigt. Gezielt vernichtet sie alle Gegenstände, die ihre Verbindung zu Eneas dokumentieren. Sie verbrennt seine Gastgeschenke, die ihr früher mehr als ihr eigenes Leben galten, das Bett, auf dem sie sich der Liebe hingaben, und schließlich ein Horn und die Scheide eines Schwerts, die er ihr zurückgelassen hat. In ihrem letzten Monolog, bevor sie das Schwert gegen sich selbst richtet, erinnert Dido noch einmal klagend an den Ausgangszustand, bevor der Trojaner zu ihr kam: ouwê, hêre Ênêas, / wie gewaldech ich was, / dô ich ûch êrst erkande / und gesach in diseme lande. (76,11–14) Durch ihn ist sie nun in einem Bereich verletzt worden, wo sie durch einen feindlichen Angriff von außen nie hätte bezwungen werden können, und bleibt vil unfrô in mîme hûs (76,21) zurück. Ausdrücklich reflektiert Dido, was sie alles verloren hat: ouwî êre unde gût, wunne unde wîstûm, gewalt unde rîchtûm des hete ich alles mîn teil. daz is ein michel unheil, daz ich es sus mûz enden ze mînen missewenden und alsus grôzem mînem schaden. (76,32–39)

Wie vollständig die Protagonistin alle diese Werte und Fähigkeiten eingebüßt hat, zeigt sich nach Ansicht des Erzählers an ihrem Selbstmord:23 al wâre sie ein wîse wîb, / sie was dô vil sinne lôs. / daz si den tôt alsô kôs, / daz quam von unsinne. (77,40–78,3) Auch Anna teilt diese Einschätzung, als sie ihre Schwester in den Flammen sieht. Ritter und Edelfrauen, die von Didos Landnahme und der Stadtbefestigung profitierten, eilen herbei und weinen sehr um ihre Herrscherin. Vor allem durch den Spannungsbogen von _____________ 23

Zu Didos Selbstmord vgl. Knapp, Selbstmord, S. 135–143; Matejovski, Selbstmord, S. 250–254.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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Didos anfänglichem Streben nach Weltherrschaft und ihrem Ende, bei dem nur noch daz pulver […] von dem edelen wîbe (79,28f.) übrig bleibt, betont Veldeke, was für eine unglückliche Wende die Geschichte genommen hat: dô was si worden kleine, / doch si dâ vor wâre grôz (79,32f.). Auch auf Didos Epitaph wird diese negative Entwicklung festgehalten. Ihr Ruhm und ihre Macht werden mit ihrem schrecklichen Selbstmord kontrastiert, der angesichts ihrer früheren Klugheit umso seltsamer sei: hie liget frouwe Dîdô, diu mâre und diu rîche, diu sich sô jâmerlîche dorch minne zû tôde erslûch. daz was wunderlîch genûch, sô wise sô si was. (80,10–15)

Dieser Ausgang der Geschichte von Karthagos Herrscherin, die durch ihre Liebe den Tod findet, ist zwar durch den Stoff vorgegeben, doch nimmt Heinrich von Veldeke am Handlungsgerüst der ‚Aeneis‘ eine auffällige Veränderung vor: Vergils Dido war erst im Begriff, ihre Stadt aufzubauen, und konnte sich nur mit Mühe gegen die Fürsten Nordafrikas behaupten. Dagegen ist es der mittelhochdeutschen Protagonistin gelungen, ihre Macht auszudehnen und eine feste Lehnsherrschaft zu etablieren, die sie schließlich mitsamt ihrem Leben verliert. Auf diese Weise wird die Diskrepanz zwischen dem glücklichen Anfangsstadium und dem traurigen Ende im Vergleich zur antiken Vorlage deutlich gesteigert.24 Wie Heinrich von Veldeke diesen tieferen Sturz ins Unglück im Unterschied zu seinen Vorgängern motiviert, ist im Folgenden zu untersuchen. Handlungsmotive: Götter, minne und schande Bei Vergil gehen die entscheidenden Impulse auf der Handlungsebene von den Göttern aus, die bestimmte Ziele verfolgen und die Menschen zu beeinflussen suchen. Weil Juno Karthagos Zerstörung durch Rom vermeiden möchte und sie die alte Kränkung des Trojaners Paris noch immer schmerzt, verhindert sie, dass Aeneas in das versprochene Land Italien gelangen kann. Der heftige Seesturm treibt den trojanischen Flüchtling jedoch genau in das Gebiet derjenigen, denen Junos Anteilnahme gilt, nämlich nach Libyen. Venus, die um das Wohlergehen ihres Sohnes Aeneas _____________ 24

Vgl. Vergil, Aeneis, 1,423–429.504, 4,39–44.260–267. Auch im ‚Roman d’Eneas‘ (vgl. V. 613, 631) ist ihr Wirkungsbereich deutlich eingeschränkt und nur auf Karthago und die ringsum siedelnden Tyrer begrenzt. Syndicus (Dido, S. 73) spricht von einer ‚Fallhöhe‘ zwischen dem Beginn und dem Ende der Dido-Geschichte, die durch die veränderte Herrschaftskonzeption bedeutend vergrößert worden sei.

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besorgt ist, entwickelt einen Plan, wie sie ihn am besten schützen kann. Weil sie den unversöhnlichen Zorn ihrer göttlichen Konkurrentin Juno und die Falschheit der um Karthago siedelnden Tyrer fürchtet, bittet sie Amor, in Dido eine leidenschaftliche Zuneigung zu Aeneas zu entfachen. Der Liebesgott führt diesen Auftrag gewissenhaft aus, indem er die Gestalt von Aeneas’ Sohn Ascanius annimmt. Beim Empfang in Karthago umgarnt er Dido so, dass die Erinnerung an ihren ersten Mann Sychaeus verblasst und ihr Herz von einer neuen Liebe erwärmt wird.25 Wie Didos Verlangen wird in der ‚Aeneis‘ auch die Gelegenheit zur körperlichen Vereinigung von den Göttinnen initiiert, wobei Venus und Juno wiederum gegensätzliche Intentionen verfolgen. Juno, die Mitleid mit der sich verzehrenden Dido empfindet, unterbreitet Venus das Angebot, Frieden zu schließen, einen Ehebund zwischen Dido und Aeneas zu stiften und das trojanische und das tyrische Volk dauerhaft zu vereinen. Venus durchschaut Junos heimlichen Plan, die Trojaner von Italien fernzuhalten, erklärt sich aber im Vertrauen auf Jupiters Widerstand einverstanden.26 Daraufhin führt Juno das Brautfest herbei, indem sie Dido und Aeneas bei heftigem Gewitter in eine Grotte gelangen lässt. Dass im antiken Epos nicht nur die Götter auf das Handeln der menschlichen Figuren Einfluss nehmen, sondern es sich um eine wechselseitige Beziehung handelt, wird deutlich, als sich das Gerücht von Didos und Aeneas’ Liebesverhältnis verbreitet hat. Der von Dido einst abgewiesene Brautwerber König Jarbas beklagt sich bei Jupiter bitter über das Geschehen,27 woraufhin der Göttervater seinen Boten nach Karthago sendet. Neben der Ankunft des Aeneas in Libyen, dem Beginn von Didos Liebe und der Aufnahme ihres eheähnlichen Verhältnisses wird auch der Aufbruch der Trojaner mit dem Eingreifen der Götter begründet. Merkur überbringt Aeneas den göttlichen Auftrag, unverzüglich nach Italien zu reisen, was dieser sogleich in die Tat umsetzt. Ebenso wie Amors heimliches Wirken in Dido eine starke Leidenschaft geweckt hat, entfacht Merkurs offene Rede in Aeneas ein brennendes Verlangen, den Götterwillen zu erfüllen.28 Dido vermag nichts entgegenzusetzen, was den Wegstrebenden halten könnte; auch ihr Fluchgebet, das sie nach seiner Abfahrt an die Götter richtet, zeitigt im Unterschied zum Flehen des Jarbas keine direkte Wirkung. Nur Junos Anteilnahme ist ihr weiterhin sicher. Diese sorgt dafür, dass Dido bei ihrem Selbstmord den qualvollen Todeskampf beenden und sterben darf. _____________ 25 26 27 28

Vgl. Vergil, Aeneis, 1,657–688.719–722. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,90–114. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,196–218. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,281f. – Damit dient Vergils Dido-Episode in erster Linie dazu, die pietas des Aeneas zu veranschaulichen. Vgl. auch Suerbaum, Vergils Aeneis, S. 207–209.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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Obwohl die göttliche Parallelhandlung in den mittelalterlichen Romanen vollständig getilgt und der Götterapparat deutlich reduziert wird,29 behalten die Götter ihre handlungsmotivierende Funktion. So wird Eneas, das gelobte Land Italien schon vor Augen, durch göttlichen Zorn nach Libyen verschlagen: Dô intgalt Ênêas, / daz ime frouwe Jûnô was / ungenâdich unde gram. (21,29–31) Als er dort angekommen ist, greift Venus ein und lässt Dido der Liebe verfallen. Ihre Beweggründe und die Durchführung ihres Vorhabens sind anderer Natur als bei Vergil. Im ‚Roman d’Eneas‘ ist Venus ausschließlich wegen der Wildheit des libyschen Volkes, nicht wegen Juno um ihn besorgt. Um Eneas zu schützen und Dido in Liebe an ihn zu binden, muss nicht mehr Amor menschliche Gestalt annehmen. Der Sohn des Eneas fungiert selbst als Werkzeug der Göttin, die ihre Macht mit einem Kuss auf ihn überträgt. Wer ihn nach ihr küsst, wird von Liebe ergriffen, was durch die Intensität des Küssens noch gesteigert werden kann: ki plus le baise plus en beit.30 In ähnlicher Weise verzaubert Venus im mittelhochdeutschen ‚Eneasroman‘ die Lippen des Ascanius, so dass in demjenigen, der ihn zum ersten Mal küsst, die Liebe erweckt wird.31 Welche Veranlassung sie für diese Tat hat, bleibt im Dunkeln. Zudem ist die Darstellung des Götterhandelns bei Veldeke nicht eindeutig. So macht der Erzähler in einer Prolepse Venus und Cupido für Didos Liebe verantwortlich: do geschûf sîn mûder Vênûs und sîn brûder Cupidô, daz in diu frouwe Dîdô starke minnen began, daz nie wîb einen man harder mohte geminnen. (35,40–36,5)

Im Handlungsgeschehen tritt Venus allein auf, die ihr Feuer als Liebeszauber einsetzt. Im Rückblick wird Didos Verwundung hingegen auf den ins Herz geschossenen Pfeil der Venus und die Fackel Cupidos zurückgeführt, der für eine langanhaltende Wirkung sorgt.32 Dido selbst sieht sich als Opfer beider und bittet genâden Cupidôn, / Ênêases brûder, / und Vênerem sîne mûder (51,18–20). Ungeachtet der unterschiedlichen Präsentationswei_____________ 29 30 31

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Vgl. auch Dittrich, gote, S. 85; Fromm, Eneasroman, S. 90f.; Kasten, Heinrich von Veldeke, S. 80; Kern, Beobachtungen, S. 130; Lienert, Antikenromane, S. 99. Vgl. Roman d’Eneas, V. 819. Übers. v. Schöler-Beinhauer: „wer ihn öfter küßt, trinkt mehr davon“. Indem ausschließlich Dido das Kind küsst, wird noch klarer, wie Müller (Höfische Kompromisse, S. 425) hervorhebt, dass „die Leidenschaft nicht wechselseitig ist und daß sie wie eine ansteckende Krankheit auf Dido übertragen wird.“ Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 37,23–40, 38,38–39,5.

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sen geht der entscheidende Liebesimpuls sowohl im antiken Epos als auch in den mittelalterlichen Romanen von Venus aus.33 Eine motivierende Funktion ist den Göttern in den mittelalterlichen Adaptationen ebenfalls bei der Abreise des Eneas zuzugestehen, wenngleich ihr Handeln auf das auslösende Element reduziert, von der Bindung an eine konkrete Götterfigur gelöst und durch eine zusätzliche Motivation verstärkt wird.34 Bei Heinrich von Veldeke erinnern die Götter Eneas, der sich in seinem neuen Herrschaftsbereich gerade eingefunden hat, an seine Bestimmung und mahnen ihn zum Aufbruch: dô enboten ime die gote ein vil starkez mâre, daz her des sicher wâre, her mûste varen dannen mit den sînen mannen (66,12–16).

Anders als bei Vergil bleibt offen, auf welche Weise die Botschaft zu Eneas gelangt und weshalb sie ihn gerade in dieser Situation ereilt. Der Auftrag, den Jupiter über Merkur ausrichten lässt, wird in einen unbestimmten Götterspruch verwandelt, ohne seine Dringlichkeit einzubüßen. Während Vergils Aeneas ein starkes Verlangen empfindet, der Anweisung zu folgen, erlebt Veldekes Eneas den Befehl als einen unliebsamen Zwang.35 Obwohl er sehr betrübt ist, wagt er nicht zu widersprechen. Auch gegenüber Dido wird Eneas sich darauf berufen: diu nôt dwinget mich dar zû (71,28). Dennoch erfüllt er den göttlichen Auftrag im Gegensatz zu seinem lateinischen Vorgänger nicht unverzüglich, sondern berät sich zuvor mit seinen Gefolgsleuten. Erst als diese ihm zum Aufbruch raten, fasst Eneas seinen Entschluss. Somit wird die Trennung bei Heinrich von Veldeke doppelt motiviert, wobei die göttliche Komponente an Bedeu-

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34 35

Das Auftreten der Liebesgötter ist in der Forschung unterschiedlich interpretiert worden. So vertritt Schnell (Causa amoris, S. 218) die Auffassung, dass die Götter „lediglich als allegorische Personifikationen in den Liebesszenen“ fungieren. Dieser Ansicht schließt sich Kern (Beobachtungen, S. 116) an: Die deutliche Reduktion der Aktivität der Götter in den mittelalterlichen Romanen lasse daran zweifeln, „ob überhaupt noch göttliche P e r s o n e n handeln oder ob sie bereits zu A l l e g o r i e n geworden“ seien. Dagegen stellt Schmitz (Poetik, S. 211) zu Recht heraus, dass Venus der Ebene der fiktionalen Realität zuzuordnen sei. Selbst wenn ihre Aktionen metaphorisch eingekleidet seien, besitze sie die Handlungsmacht, Didos Liebe zu initiieren. Auch Fromm (Kommentar, S. 784) spricht sich gegen die Deutung einer Personifikation aus. Die Minne gehöre, wenn sie handelnd dargestellt würde, „nicht in die Reihe allegorischer Figuren, deren Wirkungen man ins Psychologische zu übersetzen habe.“ Dass bei dem Geschehen übernatürliche Kräfte auf die Figuren einwirken und „Magie im Spiel“ ist, betont Müller (Höfische Kompromisse, S. 424). Vgl. auch Roman d’Eneas, V. 1615–1624. Vgl. auch Roman d’Eneas, V. 1625–1657.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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tung verliert. Der Götterspruch braucht eine innerweltliche Legitimation, um wirksam werden zu können.36 Im Unterschied zu Didos Leidenschaft wird ihr Tod in der ‚Aeneis‘ nicht unmittelbar mit dem Götterhandeln in Verbindung gebracht. Da sie weder bei ihrem Vorhaben noch bei der Durchführung ihres Selbstmordes von einem Gott beeinflusst wird, ist das Fehlen einer solchen Motivation im mittelhochdeutschen Roman wenig verwunderlich. Veldeke führt hingegen eine neue metaphysische Instanz ein, die auf der Handlungsebene jedoch nicht in Erscheinung tritt. Nachdem Dido bereits tot ist, kommentiert der Erzähler: daz der vîant dâ geriet / der frouwen, daz si sich erslûch (80,28f.). Rückblickend kann Didos verwerfliches Verhalten nur mit der Einflüsterung des Teufels erklärt werden.37 Die konkrete Ursache für Didos Liebe geht in allen drei Versionen eindeutig von den Göttern aus. Dennoch trifft sie die Liebe nicht zufällig, sondern die Herrscherin Karthagos weist eine innere Disposition auf, die sie für das Wirken von Venus und Amor besonders empfänglich macht. In Vergils ‚Aeneis‘ hat Dido schon einmal einen Mann unsagbar geliebt, wie Venus genau weiß.38 Zudem hat sie ein ähnliches Geschick wie die Trojaner durchlebt, weshalb sie die Flüchtlinge freundlich aufzunehmen verspricht.39 Dennoch bedarf es Amors betörender Macht, um das Bild des Sychaeus allmählich zu tilgen und ihr erkaltetes Herz zu lebendiger Liebe zu reizen. Dido stellt selbst entsetzt fest, dass sie die Spuren der früheren Liebe wieder spürt, von der sie dachte, dass sie mit ihrem ersten Mann begraben worden sei.40 Wiederholt wird diese Leidenschaft als Gift und eine verzehrende Flamme beschrieben, die die Protagonistin keine Ruhe mehr finden lässt.41 Mit dem Vergleich von Didos Verhalten mit einer Hindin, die nach einem Pfeilschuss mit einer schweren Verwundung durch die Wälder flieht, verleiht Vergil ihrer quälenden Leidenschaft Ausdruck und nimmt zugleich das tödliche Ende vorweg.42 Nur kurz werden die Freuden von Didos Liebe thematisiert. Als sie in ängstlicher Sorge die Trennung bereits erahnt, bevor Aeneas sich ihr offenbart hat, steigert sich ihre Leidenschaft zur Raserei. Vergeblich beruft _____________ 36

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Kasten (Heinrich von Veldeke, S. 81f.; Herrschaft, S. 236f.) schließt aus dem Verhalten des Eneas, der wie ein mittelalterlicher Herrscher seine politische Entscheidung in Beratung mit seinen Vasallen trifft, dass die Göttergebote ganz zurücktreten und er selbst die Verantwortung übernimmt. Zu möglichen Deutungen vgl. Fromm, Kommentar, S. 802f.; Kartschoke, Stellenkommentar, S. 776f. Vgl. Vergil, Aeneis, 1,343f. Vgl. auch Wlosok, Vergils Didotragödie, S. 238. Vgl. Vergil, Aeneis, 1,628–630. Vgl. Vergil, Aeneis, 1,719–722, 4,20–29. Vgl. Vergil, Aeneis, 1,687f., 4,1f.66f. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,68–73.

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Tragische Liebe

sie sich gegenüber dem Trojaner auf ihre gemeinsame Liebe und die oft beschworene Treue. Noch während ihres Abschiedsdialogs wandeln sich Didos Gefühle; ihre Liebe schlägt um in Hass. Sie kündigt an, sich für seinen Verrat zu rächen und Aeneas mit den Furien zu verfolgen.43 Dennoch nimmt Dido später über ihre Schwester noch einmal Kontakt zu Aeneas auf. Inständig bittet sie ihn, zumindest seine Abreise zu verschieben, damit sie sich mit der Trennung besser abfinden könne. Nachdem auch dieser Versuch gescheitert ist und sich ihre Qualen vergrößert haben, wünscht sich Dido den Tod. Statt von Liebe ist nun vor allem von Rache die Rede. Den mitleidlosen Geliebten, der über Nacht heimlich aufgebrochen ist, verflucht Dido mitsamt seinem ganzen Geschlecht. Vor ihrem Selbstmord erfleht sie von den Göttern ewige Feindschaft zwischen Tyrern und Troern, um für ihr Leiden gerächt zu werden.44 In den mittelalterlichen Romanen rückt die Liebe in den Mittelpunkt und wird als zentrales Movens von Didos Handeln präsentiert. Die von Vergil verwendeten Beschreibungen der Leidenschaft werden aufgegriffen, aber neu akzentuiert und um die ausgeprägte Liebesmetaphorik Ovids ergänzt.45 Stärker als in der ‚Aeneis‘ wird die göttliche Motivierung von Didos Liebe durch eine natürliche Ursache vorbereitet. So bietet die Protagonistin den trojanischen Boten im ‚Roman d’Eneas‘ schon bei der Ankunft nicht nur an, sich dauerhaft in ihrem Gebiet niederlassen zu können, sondern sogar dem unbekannten Fremdling ihre Liebe zu schenken. Sofern Eneas dazu bereit sei, werde sie ihm den Platz ihres ersten Mannes überlassen.46 Obwohl schon hier eine Beziehung zwischen den Hauptfiguren geknüpft zu werden scheint, wird Didos qualvolle Leidenschaft erst durch die Initiative der Venus geweckt. Ihre Liebe wird in Anlehnung an Vergil als ein brennendes Feuer und tödliches Gift dargestellt, das seine Wirksamkeit immer mehr entfaltet.47 Stärker als in der ‚Aeneis‘ wird Dido jedoch vom altfranzösischen Erzähler mitverantwortlich für ihre Bedrängnis gemacht. Er kritisiert, dass sie sich gegenüber Ascanius sehr schlecht _____________ 43 44 45 46

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Vgl. Vergil, Aeneis, 4,365–387. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,590–629. Vgl. Faral, Ovide, bes. S. 133–138; Kern, Beobachtungen, S. 122; Kistler, Heinrich von Veldeke, bes. S. 129–143; Munari, Ovid, bes. S. 26f.; Stackmann, Ovid. Vgl. Roman d’Eneas, V. 634–636. – Diese Komponente ist bei Vergil nicht enthalten; dort beschränkt sich Didos Angebot auf eine Landnahme unter ihrer Herrschaft. Vgl. Vergil, Aeneis, 1,572–574. Vgl. Roman d’Eneas, V. 811–814: mortel poison la dame beit, / […] que le cuer li esprent. Übers. v. Schöler-Beinhauer: „die Herrin trinkt tödliches Gift, / […], daß ihr das Herz entbrennt“. V. 821: ele i a pris mortel ivrece. „sie hat dabei eine tödliche Trunkenheit in sich aufgenommen“. V. 1259: mortel poison aveit beü. „tödliches Gift hatte sie getrunken“. V. 1271: molt l’angoissot li feus d’amor. „das Feuer der Liebe beängstigte sie sehr“. V. 1795: Amors l’aveit tote enflamme. „Die Liebe hatte sie gänzlich entflammt.“

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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aufführe und sich töricht verhalte. Weil sie ihn wieder und wieder küsst, trinke sie im Gegensatz zu Eneas immer mehr vom tödlichen Liebesgift. Im ‚Roman d’Eneas‘ wird die bei Vergil vorgeprägte Liebesraserei Didos wiederholt erwähnt und deutlich in Szene gesetzt.48 Nach dem Gastmahl begleitet die Protagonistin Eneas zu seinem Schlafgemach und kann sich kaum von ihm trennen, so dass sie schließlich von vier Grafen von seinem Bett weggeführt werden muss.49 Als sie selbst nicht einschlafen kann, gebärdet sie sich wie wild, tastet suchend in ihrem Bett umher und schlägt mit den Fäusten um sich.50 Tagsüber kann sie sich nicht ruhig verhalten, richtet immer wieder das Wort an Eneas, fragt ihn tausend Dinge, nur um einen Gesprächsanlass zu haben, und verstummt doch mitten im Bericht. Tadelnd merkt der Erzähler an, dass Dido weder wisse, was sie sage, noch, was sie tue; aufgrund ihres Begehrens habe sie gänzlich den Verstand und ihre Redefähigkeit verloren.51 Da ihr nichts mehr wichtig sei außer der Liebe, vernachlässige sie sämtliche Pflichten.52 Selbst nachdem ihr Verlangen Erfüllung gefunden hat, ändert sich ihre Fixierung auf den Geliebten nicht; gemeinsam geben sich Dido und Eneas der Wollust hin. Als der Protagonist seine Aufbruchsabsichten gestanden hat, zeigt sich erneut das negative Potential der Liebe. Dido ist sich gewiss, bei einer Trennung sterben zu müssen. Sie empfindet die Liebe als eine qualvolle Macht und lässt sich von ihr so in Brand stecken, dass sie außer sich gerät. Vor allem nach dem endgültigen Abschied akzentuiert der Erzähler Didos Liebeswahn und betont, dass ihre Leidenschaft keine Vernunft und kein Maß kenne.53 Auch die Herrscherin selbst erkennt vor ihrem Tod, dass sie Eneas zu sehr, wie eine Wahnsinnige, geliebt habe. Da sie ihr Unglück rückblickend primär in der Maßlosigkeit ihrer Leidenschaft begründet sieht, kann sie dem Geliebten im Gegensatz zu ihrer lateinischen Vorgän_____________ 48

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Vgl. Vergil, Aeneis, 4. Buch, V. 65–69, 283f., 300f., 548f., 696f.; Roman d’Eneas, V. 813f.: o le baisier tel rage prent / d’amor. Übers. v. Schöler-Beinhauer: „mit dem Kuß nimmt sie eine solche / Liebesraserei auf“. V. 1262: ki la rage li ot doné. „das ihr die Raserei eingegeben hatte“. V. 1270: De mortel rage esteit esprise. „Sie war von tödlicher Raserei ergriffen“. V. 2058: que me donast amors la rage. „bevor die Liebe mir die Raserei eingab.“ Vgl. Roman d’Eneas, V. 1210–1213. Vgl. Roman d’Eneas, V. 1249–1255. Vgl. Roman d’Eneas, V. 1398–1407. Vgl. Roman d’Eneas, V. 1413f.: Amors li a fait obliër / terre a tenir et a guarder. Übers. v. Schöler-Beinhauer: „Die Liebe hat sie vergessen lassen, / das Land zu regieren und zu behüten“. Vgl. Roman d’Eneas, V. 2015: El vient errant come desvee. „Sie läuft geschwind wie eine Wahnsinnige“. V. 2026f.: n’i a ki li destort neient / la desverie […]. „niemand ist da, der sie im geringsten von der wahnsinnigen Tat […] abbringen könnte“. V. 2047: come fole l’ai trop amé. „wie eine Wahnsinnige habe ich ihn zu sehr geliebt“. Vgl. auch V. 1391: D’amor se desve la reïne. „Vor Liebe wird die Königin wahnsinnig“. V. 1796: ele parla come desvee. „sie sprach wie eine Wahnsinnige“.

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gerin verzeihen, selbst wenn sie ihm eine Mitschuld an ihrem Tod zuspricht. Die konkrete Ursache für ihren Selbstmord ist, wie auf ihrem Epitaph zu lesen, ihre unerwiderte und allzu törichte Liebe.54 Heinrich von Veldeke hat die negative Charakterisierung des ‚Roman d’Eneas‘ zurückgenommen und alles dafür getan, Dido in einem möglichst guten Licht darzustellen. So fühlt sich seine Protagonistin bei der Ankunft der Trojaner weder ihrem ersten Mann wie in der ‚Aeneis‘ tief verpflichtet, noch bietet sie spontan einem Fremden wie im ‚Roman d’Eneas‘ ihre Liebe an. Dennoch hat ihre Zusage jeglicher Unterstützung auch im mittelhochdeutschen Werk eine der Situation unangemessene Konnotation: nien wart von einem wîbe / baz enphangen ein man (31,28f.). Das erbetene herrschaftliche Dienstverhältnis überführt Dido grundlos in eine lohngewährende Geschlechterbeziehung.55 Didos innere Disposition für die Liebe, die sich in dieser Antwort und der bereitwilligen Aufnahme der Fremden zeigt, bedarf weiterhin des äußeren Anstoßes durch die Liebesgöttin. Zugleich wird die übernatürliche Ursache im ‚Eneasroman‘ durch einen natürlichen Faktor überlagert. Der Erzähler stellt die Schönheit des Eneas heraus, der sich Dido kaum entziehen kann: her was ein vil schône man / unde minnechlîche getân. / done mohte si des niht engân, / si enmûste in starke minnen. (38,20–23)56 Neben der Empfänglichkeit für die Liebe und den konkreten Impulsen, Götterhandeln und Ausstrahlung des Protagonisten, trägt auch Annas Rede dazu bei, Didos Verlangen zu schüren. Die Schwester heißt ihre Liebe gut, beglückwünscht sie zu ihrer Wahl und stellt eine mögliche Erfüllung des Begehrens in Aussicht. Ausdrücklich tadelt die deutsche Dido Anna für dieses Verhalten und stellt einen Zusammenhang zwischen bewundernder Beachtung und Intensivierung der Leidenschaft her: sô ir in mir ie mêre gelobet / so mîn herze ie mêre nâch im tobet / und smilzet enbinnen / nâch den sînen minnen. (56,13–16) Diese Minne wird wie bei Vergil als eine brennende Qual und schwere Verwundung beschrieben,57 wohingegen auf die Giftmetaphorik fast voll_____________ 54 55

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Vgl. Roman d’Eneas, V. 2139–2144. Nach Schnell (Causa amoris, S. 213f.) lässt ihre Dienstbereitschaft auf „eine enge Beziehung Didos zu Eneas“ schließen und an eine „verbreitete erotische Formel“ denken. Zur Kritik an dieser Auffassung vgl. Schmitz, Poetik, S. 210–213; Syndicus, Dido, S. 70–72. Anknüpfend an Schnells (Causa amoris, S. 241–274) Ausführungen zur Bedeutung der Schönheit erklärt Schmitz (Poetik, S. 160), dass Veldeke bei der Entstehung von Didos Liebe zwei Traditionen kombiniere: den „ovidianischen Zwang zu lieben“ und die „Vorstellung, daß die Liebe durch die Augen in das Herz dringt.“ Selbst wenn nicht ausdrücklich von Didos visueller Wahrnehmung die Rede sei, werde mit der Schönheit des Eneas darauf angespielt. Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman 38,19, 39,17. Zur Liebesdarstellung vgl. auch Lienert, Antikenromane, S. 97f.; Schmitz, Poetik, S. 153–218.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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ständig verzichtet wird. Stattdessen stellt Veldeke Didos Liebe im Rückgriff auf Ovids ‚Remedia amoris‘ als eine Krankheit dar, die ihr michel ungemach (52,1, 53,23, 76,9) bereitet.58 Die Protagonistin weist typische Symptome auf, die auf ihre Minnekrankheit schließen lassen: Ihr Gesicht wechselt mehrfach die Farbe: in korzer stunde wart si rôt, / dar nâch schiere varlôs (39,10f.). Hitze- und Kältewellen laufen durch ihren Körper (ir was heiz und si frôs, 39,12), so dass si switzete unde bebete (51,40). Selbst im Bett kann sie keine Erholung finden, da die Minne ir den slâf gar benam (50,38). Dido erfährt diese Liebe als einen Zwang, der sie vaste bestricket (38,9) und durch den sie die Verfügungsgewalt über sich selbst verliert. Nur die Nähe des Eneas verschafft ihrem Leiden zeitweilig Linderung. Obwohl die deutsche Dido gänzlich auf Eneas ausgerichtet ist, benimmt sie sich deutlich besser als ihre französische Vorgängerin, so dass ihre Liebe keine Züge von Raserei annimmt.59 Zwar kann sie sich nach dem Gastmahl kaum von Eneas trennen, doch weiß sie auf ihre Stellung Rücksicht zu nehmen und muss nicht von ihren Gefolgsleuten weggeführt werden. Als sie schlaflos im Bett liegt, schlägt sie nicht wild um sich, sondern legt den Kopf an das Fußende. Statt Eneas mit zahllosen Fragen zu behelligen, begnügt sie sich damit, ihm zuzuhören. Vor allem aber lässt sie ihr Volk nicht vollständig wegen ihrer Liebschaft im Stich, sondern überträgt ihre Herrschaftsgewalt dem Geliebten. Selbst wenn Didos Begehren bei Veldeke nicht zur Raserei ausartet oder zum Wahnsinn führt, lässt der Erzähler keinen Zweifel an der tödlichen Wirkung. Schon bei der ersten Erwähnung der Leidenschaft stellt er in einer Prolepse einen kausalen Zusammenhang zwischen Didos Liebe und ihrem Tod her. Die Liebesgötter hätten veranlasst, dass sie Eneas so sehr zugetan gewesen sei, daz nie wîb einen man / harder mohte geminnen. (36,4f.) Die Folgen dieser Minne seien für Dido gravierend gewesen: ir minne diu was ze grôz, / wand si drumbe mûste geben / ze aller jungest ir leben / und jâmerlîche ir ende nam. (36,8–11) Nachdem Dido gestorben ist, findet diese Ankündigung eine Bestätigung. Anna klagt, dass ihre Schwester sich selbst dorch eines mannes minne (79,5) erschlagen habe. _____________ 58 59

Vgl. auch Hoffmann, Liebe, bes. S. 221–226; Philipowski, Minne; Stebbins, Bildlichkeit, S. 78–96. Syndicus (Dido, S. 102) hält fest, dass Ovids Bedeutung teils sogar die der unmittelbaren Vorlage übertrifft: „Immer dann, wenn die unverbrüchliche Liebe Didos unterstrichen werden soll, läßt sich eine Priorität der Fassung Ovids gegenüber der des ‚Roman d’Eneas‘ beobachten.“ So nimmt Veldeke die physischen Auswirkungen der Minnekrankheit zurück, die im altfranzösischen Roman im Vordergrund stehen (vgl. Roman d’Eneas, V. 1731– 1735, 1791–1796, 1821–1830, 1857–1860, 1877–1882, 1958–1963, 1967–1974, 2010– 2015), und konzentriert sich stattdessen auf Didos seelischen Zustand. Vgl. auch Lienert, Antikenromane, S. 97; Schmitz, Poetik, S. 165f.; Syndicus, Dido, S. 96.

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Genau wie der Erzähler und Anna hält Dido ihre übergroße Liebe, die sie in ihrem Herzen lokalisiert, für den eigentlichen Grund ihres Unglücks: daz mir mîn herze ie sô geriet, / […] / des mûz ich im immer wesen gram. (72,12– 14). Mit ihrem Selbstmord versucht sie, die Quelle ihres Unglücks unschädlich zu machen: ich mûz dorchstechen / daz herze, daz mich verriet (77,20f.). Da Dido ihr eigenes Herz, nicht aber Eneas als eigentlichen Verräter ansieht, wird ihre Verzeihung im mittelhochdeutschen Roman neu motiviert. Heinrich von Veldeke behält den vergilischen Aspekt der Rache zwar bei, lässt seine Protagonistin diese jedoch gegen sich selbst richten: ich mûz mîn unsenftez leben / an mir selber rechen. (74,38f.)60 Indem Dido mit dem Schwert auf ihr Herz zielt (mit dem swerde sie sich stach / in daz herze, 77,38f.), wiederholt sie den metaphorischen Schuss des Liebespfeils (ir Vênûs die strâle / in daz herze geschôz, 38,38f.) und überbietet ihn in seiner materiellen Konkretion grausam. Ebenso wird das durch den Kuss und die Fackel des Cupido entzündete bildhafte Liebesfeuer am Ende in die Erzählrealität überführt, in der es Dido leibhaftig verzehrt.61 Nachdem das Feuer die Kleidung erfasst hat, verbrennt es ihren Körper und zuletzt ihr Herz. Schuss und Stich, Brand und Scheiterhaufen markieren den Anfang und das Ende der Liebe, die vom Erzähler und den Figuren ins Zentrum der Dido-Handlung gestellt wird. Vor allem in Vergils ‚Aeneis‘ erwächst Didos Tod jedoch nicht unmittelbar aus ihrer enttäuschten Liebe, sondern aus den mit ihrer Beziehung verbundenen Umständen. Dass Karthagos Herrscherin mit dem trojanischen Flüchtling ein Liebesverhältnis eingegangen ist, wird ihr als eine schwere Schande angerechnet. Ausdrücklich kritisiert der Erzähler, dass es sich bei dem von den Göttern initiierten Brautfest nur um den Anfang des Unheils handle und Dido danach selbst nicht mehr um ihre Ehre besorgt sei. Statt die Freuden ihrer Liebe zu verheimlichen, bezeichne sie ihre Beziehung als Ehe und verhülle mit diesem Wort ihre Schuld. Worin diese Schande besteht, zeigt die als Personifikation auftretende Fama, die voll hämischer Freude das Gerücht von Didos Liebschaft verbreitet. Das Paar sei von schändlichen Lüsten gefangen, ohne seine Verantwortung gegenüber dem Volk zu wahren.62 Zwar trifft der Vorwurf der Vernachlässigung der Herrschaft nur bedingt zu, wie die emsige Bautätigkeit in Karthago zeigt, die Aeneas nach _____________ 60 61

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Vgl. auch Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 76,1: si rach unsanfte ir zorn. Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 38,10f., 39,2–5, 78,6–14. Ähnlich äußert sich Matejovski (Selbstmord, S. 252): „[…] daß zwischen dem gewalttätigen Akt des Freitodes und der zerstörerischen Gewalt der Minne eine Entsprechung besteht, verdeutlicht Veldeke durch die von ihm verwendete Metaphorik.” Zur Feuermetaphorik insgesamt vgl. Faral, Ovide, S. 147; Margolis, Flamma, S. 131–147; Stebbins, Bildlichkeit, S. 96f. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,169–172.189–194. Vgl. auch 4,221.

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einer kurzzeitigen Unterbrechung weiterführt.63 Doch muss Dido sich dafür verantworten, überhaupt eine Beziehung aufgenommen und damit ihr Wort gebrochen zu haben. Nach dem Tod ihres geliebten Gatten hat die Protagonistin den festen Entschluss gefasst, Sychaeus bis ans Ende ihres Lebens treu zu bleiben und keine neue Ehe einzugehen. Dieses Versprechen betrachtet sie zunächst selbst als einen schwerwiegenden Hinderungsgrund. Lieber wolle sie von der Erde verschlungen oder von Jupiters Blitz zerschmettert werden, als die Scham zu entweihen und die Pflicht gegenüber ihrem Gemahl zu verletzen. Erst Anna, die mit der Jugend der Schwester, der Gleichgültigkeit der Toten, der zu gewinnenden Kampfstärke und dem Willen der Götter argumentiert, beeinflusst Dido so, dass sie ihr Schamgefühl überwindet.64 Weil die Protagonistin eine sexuelle Beziehung mit Aeneas eingeht, während sie den Heiratsantrag von König Jarbas mit der Begründung ihrer Treuepflicht gegenüber ihrem ersten Mann ausgeschlagen hat, verliert sie ihren guten Ruf vollständig. Bitter beklagt Dido sich beim Geliebten, dass ihr die Einwohner Libyens, die nomadischen Herrscher und selbst die eigenen Leute seinetwegen zürnen. Weil sie für ihn Scham und Zucht preisgegeben hat, muss sie mit kriegerischen Aggressionen rechnen. Dominiert zunächst der Gedanke an die politischen Konsequenzen, wird die persönliche Komponente für Dido in ihrer Reflexion immer wichtiger. Zutiefst bedauert sie, die Treue gegenüber Sychaeus je gebrochen zu haben.65 Mit ihrem Selbstmord folgt sie den Rufen ihres Mannes in die Unterwelt; sie löst sich endgültig von Aeneas und stellt die Eintracht mit Sychaeus wieder her.66 Didos Ehrverlust spielt auch in den mittelalterlichen Eneasromanen eine wichtige Rolle, insbesondere in der altfranzösischen Version wird das Motiv der Schande herausgestellt. Ohne explizite Wertung des Erzählers, aber durch den Tatbestand selbst äußerst negativ dargestellt, wird berichtet, wie Dido ihre Pflichten als Herrscherin vollständig vernachlässigt: Die Verwüstung ihres Landes durch Feinde bleibt ihr gleichgültig, sie kümmert sich nicht mehr um die Friedenssicherung und der für die Verteidigung notwendige Bau einer Stadtmauer wird nicht fortgesetzt. Die Liebe zu Eneas nimmt sie so sehr ein, dass sie ihr Königreich und ihr Volk im Stich lässt.67 Wie bei Vergil wird die sexuelle Vereinigung der Protagonisten zu _____________ 63 64 65 66

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Vgl. Vergil, Aeneis, 4,259–276. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,15–55. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,550–552. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,460f. Vgl. auch Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 220. – Bei Sychaeus sucht Dido auch Zuflucht, als sie Aeneas in der Unterwelt noch einmal begegnet, vgl. Vergil, Aeneis, 6,472–474. Vgl. Roman d’Eneas, V. 1408–1432.

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Tragische Liebe

einer Schande deklariert, die Dido lediglich zu beschönigen trachtet.68 Daher genießt sie in ganz Libyen einen sehr schlechten Ruf. Ihre Untertanen beklagen die Vernachlässigung des Reiches und die abgewiesenen Werber betrachten Dido als entehrt, weil sie ihrem ersten Mann untreu geworden ist.69 Dem gebrochenen Treueschwur, nicht den unerfüllten Herrscherpflichten gilt auch Didos Bedauern vor ihrem Tod.70 Heinrich von Veldeke behält den Verlust von Ehre zwar als Handlungsmotiv bei, reduziert jedoch die Bedeutung des Sychaeus. Dieser dient allein dazu, die Feindschaft der früheren Werber zu begründen, ohne dass Dido sich ihm gegenüber schuldig fühlt; in ihrem Klagemonolog wird er nicht mehr erwähnt. Dass sie mit ihrer Liebe zu Eneas ihr Ansehen gefährdet, ist der Protagonistin bereits bewusst, als sie die ersten Anzeichen einer Minnekrankheit an sich beobachtet: ouwê, war sal mîn êre / und mîn rât und mîn sin / daz ich her zû komen bin? (52,16–18) So eröffnet sie das Gespräch mit Anna mit dem Hinweis, was für sie auf dem Spiel steht: mîn êre wil zergân (53,34). Dido fürchtet, durch ein Liebesgeständnis sowohl bei der Hofgesellschaft und ihren Lehnsleuten als auch bei Eneas an Wertschätzung zu verlieren (vgl. 56,31–38). Stärker als ihre Vorgängerinnen achtet Veldekes Dido noch nach der körperlichen Vereinigung auf ihren Ruf. Zunächst sucht sie zu verheimlichen, daz si ime ir êre unde ir rât / alsô hâte bevolen. (64,34f.) Als dies nicht mehr möglich ist, begnügt sie sich nicht damit, Eneas als ihren Gatten zu bezeichnen, sondern überführt ihre Liebesbeziehung mit einem Festakt in ein öffentlich anerkanntes Verhältnis. Didos Strategie, ihre Ehre zu wahren, scheitert jedoch auch in der mittelhochdeutschen Version. Anders als der Erzähler, der nur das Jagdabenteuer als Schande bezeichnet, betrachten die Landesherren die Ehe mit Eneas als inakzeptabel: si sprâchen ir grôze schande. (65,16) Weil Dido alle früheren Bewerbungen abgelehnt hat, schlagen ihr Verachtung und Hohn entgegen: sie hazeten sie vil sêre / und rieten ir an ir êre / beidiu spâte unde frû. / si sprâchen ir hônlîche zû. (65,33–36) Während Dido ihr Ansehen in der Gesellschaft zur Zeit ihres Liebesglückes gleichgültig ist, erkennt und bedauert sie diesen problematischen Zustand, als sie wieder selbst die Verantwortung für die Herrschaft übernehmen muss. Vergeblich zeigt sie dem Geliebten auf, welche gefährlichen Konsequenzen ihr Verhalten hat: man wecket mir grôze schande, / sint daz ich ûch genam. / die hêren sint mir alle gram (71,36–38). Im Bewusstsein, ihr Ansehen verspielt zu haben (dô ich mîner _____________ 68 69 70

Vgl. Roman d’Eneas, V. 1534f. Vgl. Roman d’Eneas, V. 1567–1599. Vgl. Roman d’Eneas, V. 1988–1998. Vgl. auch Fromm, Kommentar, S. 795. Syndicus (Dido, S. 75–77) hebt hervor, dass Dido der Bruch des Treueversprechens mit keinem Wort als Schuld angelastet wird.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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êren sô vergaz, 72,9),71 erklärt sich Dido selbst für schuldig und weiß drohenden Angriffen nichts mehr entgegenzusetzen: ich ne moht mich niht erweren, / wand die scholde sint mîn. (72,4f.) Weshalb Karthagos Herrscherin mit dem trojanischen Flüchtling eine Liebesbeziehung eingeht und nach ihrer Trennung Selbstmord begeht, begründen sowohl Vergil als auch die mittelalterlichen Autoren somit differenziert. In keinem der drei Texte ist das Ursache-Wirkungs-Verhältnis linear gestaltet, sondern verschiedene Faktoren überlagern sich.72 Das Eingreifen der Götter bewirkt, dass Didos Liebe zu Aeneas entfacht wird, deren Folgen Ehrverlust und Schande sind. Die unterschiedliche Akzentuierung dieser auslösenden Faktoren – die Bedeutung des Götterhandelns in der ‚Aeneis‘, die Inszenierung von Didos töricht-schändlichem Verhalten im ‚Roman d’Eneas‘ und die Hervorhebung der Macht der Minne im ‚Eneasroman‘ – führt zu einer veränderten Tragikkonzeption, wie im Anschluss an den Forschungsüberblick gezeigt werden soll. Forschungsdiskussion: Wiedererzählen einer epischen Tragödie Mit der Feststellung, dass „Vergils Didodarstellung […] von der Nachwelt mit seltener Einhelligkeit als Tragödie aufgefaßt worden“ ist, beginnt Antonie Wlosoks einschlägige Studie. Sie setzt sich mit dem Problem des Tragischen in der ‚Aeneis‘ auseinander und kann bereits 1976 auf eine umfangreiche Auswahl an Forschungsliteratur zu dieser Thematik verweisen.73 Da der Tragödiencharakter der Dido-Handlung sogar bei solchen Altphilologen anerkannt ist, die einen strengen Begriff des Tragischen zugrunde legen, verwundert es nicht, dass diese Auffassung auch von Mediävisten übernommen und auf die mittelalterlichen Romane übertragen wurde. In der Literatur zu Heinrich von Veldeke finden sich zahlreiche Aussagen, die von einer Dido-Tragödie, Didos Tragik, der tragischen Hel-

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Fromm (Kommentar, S. 796) stellt heraus, dass nicht die „moralisch-private ‚Ehre‘ gemeint“ sei, sondern „Ansehen und Macht der Königin, die ganze Materialität des Amtes“. Schmitz (Poetik, S. 209f.) weist darauf hin, dass die politische Konnotation zunächst nur eine Nebenbedeutung besitzt. Nachdem die Liebe bekannt geworden sei, werde der Verlust des pudor jedoch zum Legitimationsverlust der Regentin gesteigert. Vgl. auch Schnell, Causa amoris, S. 218: „Zuweilen wirken mehrere Kausalfaktoren zusammen […].“ Syndicus, Dido, S. 97: „Die Unausweichlichkeit ihres Untergangs ist damit auf mehreren Ebenen zugleich begründet.“ Vgl. Wlosok, Vergils Didotragödie, S. 228. – Einer der neusten Beiträge zu dieser Thematik stammt von Krummen (Dido), deren Tragikkonzept jedoch zu wenig Raum für Didos eigenverantwortliches Handeln lässt. Zur Kritik vgl. Schmitz, Penelope, S. 93.

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Tragische Liebe

din, einer tragischen Distanz zwischen Dido und Eneas, einem tragischen Ablauf oder einem tragischen Ende sprechen.74 Einige Interpreten verwenden diesen Begriff, um die vorgegebene Erzählstruktur zu klassifizieren. Didos Liebe gilt ihnen als tragisch, weil sie von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Eneas kann aufgrund seiner göttlichen Bestimmung nicht dauerhaft in Karthago bleiben. Die Aussichtslosigkeit ihrer Liebe angesichts des übergeordneten Geschichtsverlaufs lässt Dido zu einer typischen Tragödienheldin nach dem modernen Verständnis werden. So thematisiert etwa Silvia Schmitz die „Fatalität, die Didos Geschichte zu eigen ist“.75 Nach Auffassung von Arthur Groos erkennt Dido schon früh, dass ihre Liebe „part of a deterministic concatenation of tragic affairs“ sei, die mit Helenas Entführung ihren Anfang genommen habe.76 Auch Joachim Hamm, der die verschiedenen literarischen Bearbeitungen der Dido-Handlung als „Metamorphosen einer Liebestragödie“ deutet, hält diese Konstellation für entscheidend: „Der römische Gründungsmythos, die schicksalhafte Bestimmung des Helden, die Tragik einer Liebe, die nicht sein darf, und das Dilemma von persönlicher Schuld und schicksalhafter Notwendigkeit“ bildeten die Sinnstruktur von Didos Tragödie.77 Die Schwäche eines strukturellen Ansatzes besteht darin, dass er sich auf das antike Epos in gleicher Weise wie auf die mittelalterlichen Adaptationen bezieht. Der fatale Ablauf wird in allen Bearbeitungen des Didostoffes vorausgesetzt, ohne dass die spezifische Motivation des Unglücks in den Blick gerät. Da die höfischen Dichter ein lateinisches oder französisches Werk wiedererzählen,78 müsste dies auch Auswirkungen auf das Tragikkonzept haben. Aussichtsreicher sind daher solche Interpretationen, die die Besonderheiten der Eneasromane im Vergleich zur ‚Aeneis‘ herausstellen. Vor allem eine auffällige Veränderung hat dazu geführt, dass den mittelalterlichen Adaptationen eine Auflösung des Tragischen bescheinigt wurde: Zwar stimmt das Handlungsgerüst der Dido-Erzählung in allen drei Werken weitgehend überein, doch endet die Beziehung der Protagonisten in den mittelalterlichen Romanen nicht mit flammender Wut und Empörung, sondern versöhnlich:

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Vgl. z.B. Fisher, Didos êre, S. 13; Fromm, Kommentar, S. 784; Hamm, Infelix Dido; Kartschoke, Didos Minne, S. 99; Matejovski, Selbstmord, S. 251; Quint, Roman d’Eneas, S. 253, 265–267; Schmitz, Poetik, S. 215; Schröder, Veldeke-Studien, S. 13, 33f. Schmitz, Poetik, S. 156. Groos, Amor, S. 249. Hamm, Infelix Dido, S. 2. Vgl. Worstbrock, Wiedererzählen.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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dô sprach si ‚hêre Ênêas, ir wordet mir zunheile geboren, wande ich dorch ûh hân verloren sus jâmerlîche mîn leben. die scholde wil ich û vergeben, ichn mach û niht wesen gram.‘ (78,16–21)79

Ganz anders verhält sich dagegen Vergils Dido. In ihrer Wehklage über den Hohn, den Frevel und die Untreue des Aeneas dominieren der Zorn und der Wunsch nach einer gerechten Strafe für den Verräter. Bitter bereut sie, keine schreckliche Rache verübt, die Schiffe nicht in Brand gesteckt, Aeneas nicht fortgeschleppt, zerrissen und stückweise ins Meer geschleudert zu haben. Statt die Trojaner freundlich aufzunehmen, hätte sie seine Mannschaften, ja auch Ascanius besser erdolchen und Aeneas dann die Glieder seines Sohnes zur Speise vorsetzen sollen.80 Dieser gravierende Unterschied zwischen der Hasstirade der antiken und der Versöhnungsbereitschaft der mittelalterlichen Dido ist in der Forschungsliteratur als ein Beleg für eine geänderte Figurenkonzeption gewertet worden, deren Tragik in Trauer verwandelt werde. Peter Kern, der die Verwandlung des römischen Nationalepos in einen mittelalterlichen Liebesroman untersucht, hält für die Schlussszenen fest: „Hier hören wir nicht mehr die Dido Vergils, die – einer Tragödienheldin vergleichbar – im Entschluß zum Freitod die Würde der Königin zurückgewinnt, die sie der Liebe nachgeordnet hatte. Hier spricht vielmehr die unglücklich leidende Frau, die nicht mehr leben kann ohne den Mann, der sie verlassen hat und den sie auch jetzt noch liebt […].“81

Diese Beobachtung könnte das Vorurteil bestätigen, dass Tragik im Mittelalter keinen Raum findet und – falls in der Vorlage vorhanden – eliminiert wird. Weder stellt sich Veldekes Protagonistin explizit in die Tradition tragischer Helden, an die Vergils Dido mit dem Verweis auf das grausame Mahl der eigenen Söhne erinnert, noch zeigt sie Rachegelüste. Allerdings lassen sich diese Modifikationen nicht allein mit einer „Scheu vor der Tragik“ in der höfischen Literatur begründen.82 Das versöhnlich gestimmte Ende der Dido-Handlung ist keine Erfindung mittelalterlicher Dichter, sondern eines antiken Autors, dessen Werke die Gestaltung der Eneasromane entscheidend beeinflusst haben.83 Ovid verfasste in den ‚Heroides‘ einen Abschiedsbrief Didos, den sie kurz vor ihrem Selbstmord _____________ 79 80

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Dieser Abschluss ist im ‚Roman d’Eneas‘ vorgeprägt, vgl. V. 2063–2067. Vgl. Vergil, Aeneis, 4,600–606. – Auch ihre letzten Worte gelten Aeneas und zeugen vom endgültigen Bruch, vgl. 4,659–662. Zu Didos „medeenhafte[n] Rachephantasien“ vgl. auch Hübner, Erzählform, S. 244. Kern, Beobachtungen, S. 126. Vgl. Schröder, Über die Scheu vor der Tragik . Vgl. Hamm, Infelix Dido, S. 17; Kern, Beobachtungen; Kistler, Heinrich von Veldeke.

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an den im Aufbruch begriffenen Eneas schreibt. Inständig bittet sie ihn, sie nicht zu verlassen, bringt verschiedenste Einwände gegen seine Abreise vor und bezichtigt ihn der Hartherzigkeit, Undankbarkeit und Untreue. Gleichwohl kann sie sich nicht von ihm lossagen und muss gestehen: non tamen Aenean, quamvis male cogitat, odi, / sed queror infidum questaque peius amo.84 Da die Akzentverschiebung von der Rache zur unglücklichen Liebe bereits in der antiken Dido-Literatur vorgezeichnet ist, kann dies nicht als Argument für ein fehlendes Tragikverständnis in der höfischen Dichtung gewertet werden. Vielmehr ist nach der jeweiligen Handlungsmotivation des Unglücks zu fragen. Für Vergils ‚Aeneis‘ hat Antonie Wlosok unter Berücksichtigung der aristotelischen Theorie überzeugend dargelegt, worin die Tragik der DidoHandlung besteht.85 Auch wenn ihre Untergliederung des vierten Buches der ‚Aeneis‘ in eine aus fünf Akten bestehende Tragödie zu konstruiert erscheinen mag, sind ihre Überlegungen zur Bedeutung des Götterhandelns und zu Didos Eigenanteil an ihrem Unglück überaus plausibel. Wlosok sieht im Auftritt der Liebesgöttin zwar eine zerstörerische und dämonische Gewalt, von der Dido ergriffen werde, ohne diese jedoch von jeglicher Schuld freizusprechen. Damit akzentuiert die Interpretin die Kausalität des Handlungsgeschehens und betrachtet ein finales Tragikmodell, wie es Boethius in ‚De consolatione philosophiae‘ entwickelt,86 trotz der metaphysischen Einflüsse als sekundär. Wlosok zeigt, dass Dido durch die Verletzung des pudor Schuld auf sich geladen hat.87 Ihre doppelte Schuld gegenüber der Sittlichkeit schlechthin und gegenüber Sychaeus werde Dido nach der Trennung von Aeneas allmählich bewusst. Die Todesomina und Unheilszeichen, wie die Rufe des toten Gemahls, die Klagegesänge des Totenvogels und der in Blut verwandelte Opferwein, verdichteten ihre Schuldgefühle und steigerten ihre Angst vor dem Zorn der Götter. Weil Dido Einsicht in ihre tragische Verfehlung erlangt habe, fasse sie den Entschluss, die Konsequenzen ihres Handelns auf sich zu nehmen und zu sterben. Präzise beschreibt Wlosok den für die antike Tragödietheorie charakteristischen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen in der ‚Aeneis‘: „Ihr Versagen war von Vergil selbst als zurechenbare Schuld, als culpa bezeichnet und von Dido als solche erkannt.“ Weil der entscheidende Anteil für Didos Untergang jedoch dem Liebesfuror, einer dämonisierten Leidenschaft zukomme, bestehe „zwischen ihrem _____________ 84 85 86 87

Ovid, Heroides, ep. 7, 29f. Übers. v. Häuptli: „Führt Aeneas auch Böses im Schilde, ich kann ihn nicht hassen, / klage, wie treulos er ist, bin dann noch schlimmer verliebt.“ Vgl. Wlosok, Vergils Didotragödie, S. 242. Zur folgenden Argumentation vgl. S. 244–246. Vgl. S. 72–77. Vgl. auch Hübner, Erzählform, S. 246.

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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Unglück und ihrer tragischen Verfehlung […] ein Mißverhältnis, ihre Leiden übersteigen bei weitem das Maß ihrer Schuld“.88 Die germanistische Forschung hat sich intensiver mit der Schuldproblematik als mit dem Tragikkonzept von Veldekes Dido-Handlung auseinandergesetzt und daraus vereinzelt auch die Legitimation für einen Tragikbegriff abgeleitet. Anlass dafür bietet die zweite Minnehandlung, die sich zwischen Lavinia und Eneas entwickelt und die ein glückliches Ende nimmt. Beide Frauen kennzeichnen die verschiedenen Stationen, an denen sich Eneas aufhält. Auf der Suche nach typologischen Bezügen wurden in der Forschung nicht nur die Schicksale, sondern auch die Liebes- und sogar die Gottesbeziehungen der weiblichen Figuren kontrastiert.89 Weshalb Dido, nicht aber Lavinia in ihrer Liebe scheitert, versuchte erstmals Friedrich Maurer zu beantworten. Seines Erachtens ist Dido für ihr Unglück verantwortlich, da sie es durch ihr maßloses Verhalten selbst verursacht habe, worin sich ihre falsche von Lavinias rechter Liebe unterscheide.90 Dieser Ansicht schließt sich Marie-Luise Dittrich an, die Didos Schuld durch eine moraltheologische Interpretation steigert. Die Protagonistin werde in ihrem Inneren „von Sinnenbegier – christlich gesprochen von der Sünde der concupiscentia – um und um getrieben“.91 Als tragisch bezeichnet keiner der beiden Autoren Didos Schicksal, was angesichts der modernen Tragikvorstellung nicht verwunderlich ist. Die Auffassung von Didos Versagen und ihrer Schuld verhindert eine solche Deutung, wenn die Schuldlosigkeit des Helden und die Unvermeidbarkeit der Katastrophe als konstitutiv für das Tragische angesehen werden. Das aristotelische Konzept der Hamartia und das senecanische Affektmodell geraten in der deutschen Mediävistik kaum in den Blick. Gegen die These der Maßlosigkeit und des „charakterlichen Mangels“ legte Werner Schröder früh Widerspruch ein.92 Er untersucht sämtliche Aspekte, die Dido angelastet werden können: Sie macht den ersten Schritt, gibt sich dem Geliebten hin, bricht verpflichtende Ordnungen und begeht Selbstmord. Durch einen Vergleich weist Schröder nach, dass sich Dido und Lavinia in ihrer Liebe keineswegs unterscheiden. Einen schuldhaften Anteil kann er ausschließlich bei Eneas entdecken, wohingegen er Dido – mit Ausnahme ihres Selbstmordes – von allen Vorwürfen freispricht: „Alle Schuld in der Liebe ist im Grunde Schuld an der Liebe. Dido ist die _____________ 88 89 90 91 92

Wlosok, Vergils Didotragödie, S. 248. Vgl. Dittrich, gote, bes. S. 280f.; Keilberth, Rezeption, S. 329, 354. Vgl. Maurer, Leid, S. 98–114, bes. S. 102. – Ähnlich argumentiert Oonk, Rechte Minne. Dittrich, gote, S. 209. Vgl. Maurer, Leid, S. 110; Schröder, Veldeke-Studien, S. 27. Zur Kritik an Maurer vgl. auch Sacker, Conception, bes. S. 217.

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Tragische Liebe

letzte, die in dieser Hinsicht schuldig zu sprechen wäre.“93 Die Implikationen, die diese Interpretation für eine Beurteilung von Didos Tragik in sich birgt, werden von Elisabeth Lienert entfaltet. Ausgehend von der Überzeugung, dass nicht Dido die Schuld an ihrem Unglück trage, argumentiert Lienert: „[D]amit wird sie bei Veldeke zu einer gewissermaßen tragischen Gestalt.“94 Zwar hat Schröders Position in der Forschungsliteratur viel Zustimmung gefunden,95 ist Dido zur Märtyrerin ihrer Liebe erklärt worden und gelten Maurers und vor allem Dittrichs Auffassungen weitgehend als überholt.96 Dennoch ist die Schuldfrage nicht endgültig beiseite gelegt worden. Dieter Kartschoke meint, dass sich die Frage nach Didos schuldhafter Beteiligung aufgrund ihrer Selbstaussagen „förmlich aufdrängen“ müsse.97 Den „Schlüssel zur Lösung“ sieht Kartschoke in ihrer sozialen Position, die es ihr verbieten müsste, ihre Ehre um der Minne willen aufs Spiel zu setzen. Weil Dido „das Unvereinbare vereinen“ und „Herrschaft und persönliches Glück zusammenzwingen“ wolle, versäume sie „darüber sträflich ihre Herrscherpflichten“ und werde so vor den Menschen schuldig.98 Selbst wenn Didos Liebe von den Beteiligten kaum verantwortet werden könne, verstoße sie gegen ein Grunderfordernis feudaler Herrschaft und sei somit zum Scheitern verurteilt. Kartschoke deklariert Dido mit ihrer von den Göttern verhängten Liebe einerseits zum „Opfer eines Verhängnisses“, andererseits unterstellt er ihr mit der Vernachlässigung _____________ 93 94 95 96

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Schröder, Veldeke-Studien, S. 51. Vgl. auch S. 27f., 32. Lienert, Antikenromane, S. 98. Vgl. z.B. Fromm, Kommentar, S. 782f.; Giese, Leidenschaften, S. 76–88; Kasten, Heinrich von Veldeke, S. 86; Kartschoke, Didos Minne, S. 104; Syndikus, Dido, bes. S. 58f. Bemerkenswert ist Ruhs (Höfische Epik, Bd. 1, S. 80) emphatische Äußerung: Wer „aus der unglücklichen eine schuldige und verworfene Dido zu machen“ versuche, der versündige sich „gegen den Geist des Dichters“. Für Didos Deutung als Märtyrerin spricht sich Sacker (Conception, S. 217) aus: „Dido is not a morally reprehensible person lacking selfdiscipline, but, like Tristan and Isolde, an outstandingly piteous martyr of an irresistible and unrelenting power, essentially outside man’s control.“ – Zum aktuellen Forschungsstand vgl. auch Lienert, Antikenromane, S. 94; Schmitz, Poetik, S. 199f. – In jüngster Zeit hat Maurers Kontrastierung von Didos und Lavinias Minne wieder Zuspruch erhalten. Nach Müllers (Höfische Kompromisse, S. 423–427) Ansicht gehört Didos Beziehung zu denen, die die soziale Ordnung gefährden. Während er ihre Leidenschaft als desaströs charakterisiert, hält er Lavinias Liebe für gesellschaftskonform. Kartschoke, Didos Minne, S. 104. Dagegen hebt Fromm (Kommentar, S. 795) hervor, dass diese Aussagen „den Stempel der Subjektivität“ trügen, wohingegen der Erzähler Dido nicht belaste. – Zu Didos Selbstanklage vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 68,10f., 74,34–36. Kartschoke, Didos Minne, S. 110. – Auf die Unmöglichkeit, der Liebe und der Regierungsverantwortung in gleicher Weise gerecht zu werden, weist auch Fisher (êre und gemach, S. 13) hin: „Zur Tragik Didos aber gehört, daß sie sowohl die Freiheit besitzt, ihrer Leidenschaft nachzugeben, wie auch die Pflicht, weise zu regieren, und daß angesichts der unbegrenzten Macht der Liebe dieses beide sich nicht vereinbaren läßt.“

Didos Selbstmord bei Heinrich von Veldeke

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ihrer Pflichten ein schuldhaftes Fehlverhalten. Die eingangs gewählte Bezeichnung der „Didotragödie“ findet am Ende ihre Begründung, wenn Kartschoke ein zentrales Axiom der modernen Tragiktheorie aufnimmt und mit dem Paradoxon der schuldlosen Schuld argumentiert: „Und so wird denn Dido unschuldig schuldig – nicht in der Liebe, nicht an der Liebe, sondern durch die Liebe.“99 Wie Kartschoke operiert auch Renate Kistler mit einem modernen Tragikbegriff, mit dem sie sich reflektiert auseinandersetzt und dabei den Aspekt der Schuldlosigkeit stärker akzentuiert. In ihrer Studie zu den Ovid-Reminiszenzen bei Heinrich von Veldeke untersucht sie die Bewertungskategorien der Minne und beobachtet signifikante Veränderungen im Tragikkonzept der Dido-Handlung. Nach Kistlers Auffassung ist der Schuldbegriff bei Vergil aufgrund der Beteiligung der göttlichen Akteure viel komplexer als in den mittelalterlichen Texten. Zwar würden die Menschen durch das Eingreifen der Götter entlastet; da ihnen deren Pläne aber verborgen blieben, fühlten sie sich für ihre Handlungen verantwortlich. Didos Situation betrachtet Kistler als tragisch, weil sie durch göttliche Bestimmung und ohne ein individuell schuldhaftes Verhalten in das Geschehen verstrickt werde. Mit Blick auf die widerstreitenden Interessen von Juno und Venus legitimiert Kistler die Klassifikation als tragisch ein weiteres Mal, wobei sie sich ganz an Hegels Tragikdefinition orientiert: „Vergils Dido ist eine tragische Gestalt im Sinne der antiken Tragödie, denn sie gerät ins Spannungsfeld zweier Göttinnen, die beide ihr Recht verwirklichen wollen, so daß sich ein Konflikt unvermeidlich ergibt.“100 Die Reduktion des Götterapparats in den mittelalterlichen Romanen führt nach Kistler zu einer deutlichen Verschiebung des Tragischen. Die schweren Fehler, die Dido in der altfranzösischen Version begehe, seien ihr individuell anzulasten und nicht in einer übergeordneten tragischen Verwicklung aufgehoben.101 Weil Kistler Schuldlosigkeit und Zwangsläufigkeit für wesentliche Merkmale des Tragischen hält, spricht sie dem ‚Roman d’Eneas‘ ein tragisches Potential ab. Erst Veldeke gestalte Dido wieder als eine tragische Figur, indem er ihr persönliches Verschulden in den Hintergrund treten lasse; die durch die Liebesgötter entfachte Minne nähme die Stelle der vergilischen fata ein.102 Kistler hält fest: „Didos Schicksal ist deshalb durchaus tragisch zu nennen, weil sie das Opfer der Venus _____________ 99 100 101 102

Kartschoke, Didos Minne, S. 111, 99, 112 (nach Reihenfolge der Zitate). Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 219. Vgl. Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 222. Vgl. Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 226, vgl. auch S. 229. – Kistler entfaltet damit einen Aspekt, den bereits Bollinger (Das Tragische, S. 66) erwähnt. An die Stelle heroischer Tragik trete in Veldekes Dido-Episode und den beiden deutschen Tristanromanen das „Problem der reinen Liebestragik“.

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gleichermaßen wie der fata ist und ihr einziger Fehler darin bestand, sich in einen Mann zu verlieben, der dorch mich niht here quam (En. 77,26).“103 Zu einer analogen Einschätzung der drei Werke gelangt Gert Hübner, der die Fokalisierung im ‚Eneasroman‘ untersucht. Er stellt zunächst für die ‚Aeneis‘ in Übereinstimmung mit Wlosok und im Gegensatz zu Kistler Didos schuldhaften Anteil heraus: „Der […] relevante Aspekt des Tragischen beruht auf der spezifischen Konstruktion des Tun-Ergehen-Zusammenhangs“, wobei das Leid jedoch in keinem adäquaten Verhältnis zur Schuld stehe. Hübner weist zudem auf eine Spannung hin, die zwischen der „tragischen Konstruktion“ der Figur und der Erzählerstimme entstehe, die Didos Verhalten distanziert-kritisch analysiere. Der altfranzösische Roman übernehme diese erzähltechnische Konstellation, reduziere aber die Komplexität der weiblichen Figur und stelle ihr Verhalten einseitig als verwerflich dar. Daraus zieht Hübner den Schluss, dass es „kein Pendant zu den Bedeutungspotentialen des Tragödienmodells“ gebe. Ergebnis der Umgestaltung im ‚Roman d’Eneas‘ sei „eine Dido ohne Tragik“. Obwohl Heinrich von Veldeke die aristotelische Tragödientheorie ebenso wenig wie sein Vorgänger gekannt habe, gehe die Dido-Geschichte bei ihm „nicht einfach im Fehler-Strafe-Schema“ auf. Weil die narrative Fokalisierung Verständnis für eine Frau wecke, die aus Liebe einen Fehler begehe, entstehe eine neue Komplexität.104 Auf diese Weise habe Veldeke „einen Kerngedanken der antiken Idee des Tragischen reaktiviert.“ Einen grundlegenden Unterschied zwischen der antiken und der mittelhochdeutschen Version sieht Hübner darin, dass die Tragik bei Veldeke nicht an die Strukturen der Handlung gebunden sei, sondern durch die Ausdifferenzierung der Innenwelt erzeugt werde. Weder die „schicksalhafte[n] Verstrickungen“ noch die „unausweichlich leidvollen menschlichen Verhältnisse“ würden thematisiert.105 Mit seiner Argumentation, dass eine Liebe in den Mittelpunkt rücke, die als innerer Zwang konstruiert sei, verlagert Hübner das Tragische ins Innere der Figuren. Während diese beiden Germanisten den ‚Roman d’Eneas‘ für untragisch halten, bewertet der angloamerikanische Romanist David J. Shirt das Werk ganz anders. Auch er deutet die antike Protagonistin als „a tragic victim of the machinations of the gods and Fate, a pawn in a sordid game of power politics between Juno […] and Venus […].“106 Didos Eigenanteil reduziert Shirt auf ein Minimum und beachtet nicht, dass sie sich bei Vergil selbst für schuldig hält und auch vom Erzähler schuldig gesprochen wird. Seines Erachtens wird Dido durch die Manipulation der Götter zu _____________ 103 104 105 106

Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 230. Vgl. Hübner, Erzählform, S. 246–248. Hübner, Erzählform, S. 261. Shirt, Dido Episode, S. 3. Zu den übrigen Zitaten vgl. S. 6, 14.

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einer willenlosen Marionette, die schuldlos am eigenen Untergang ist. Den Transfer des Tragischen im ‚Roman d’Eneas‘ betrachtet Shirt vor diesem Hintergrund als besonders gelungen. Der Fall von Karthagos Herrscherin erhalte eine „fresh justification“, indem der zuvor auf zwei Göttinnen verteilte Konflikt in einer Figur ausgetragen werde: „The unfortunate victim of divine machinations becomes the locus of the confluence of two conflicting yet complementary passions“. Im altfranzösischen Roman sei Dido damit nicht Opfer der Götter, sondern ein Opfer ihrer Leidenschaften. Zwischen der Treue zu Sychaeus und der Liebe zu Eneas schwankend, werde sie schuldig und versuche vergeblich, das Unvermeidliche aufzuhalten. Anders als bei Vergil sei ihr Tod nicht Teil eines göttlichen Plans, der den Ruhm des römischen Weltreichs ermögliche, sondern ein vergebliches Opfer. „In his Dido“, schließt Shirt, „the author of Enéas has created the prototype of a tragic heroine […].“ Die Stärke dieser Ansätze liegt in ihrer komparatistischen Perspektive, die die Eigenheiten der verschiedenen Versionen erkennen lässt. Differenzierter als bei vielen anderen Interpretationen höfischer Werke wird das Thema Tragik behandelt und werden Übereinstimmungen zwischen mittelalterlichen Erzählungen und modernen Vorstellungen des Tragischen aufgezeigt. Die konträren Urteile über den ‚Roman d’Eneas‘ offenbaren jedoch auch, dass es problematisch ist, eine konkrete Tragikdefinition an Texte heranzutragen. Dido wird entweder aufgrund ihrer Schuld als untragisch oder aufgrund eines vermeintlichen Konflikts zwischen Gattenliebe und Leidenschaft als besonders tragisch klassifiziert. Statt von einem vorgegebenen Standpunkt der Moderne aus zu urteilen, erscheint es angemessener, von der jeweiligen Motivation auf ein poetologisches Tragikverständnis zu schließen. Anknüpfend an die vorgestellten Forschungspositionen soll im Folgenden untersucht werden, wie Veldeke aus dem zentralen Motiv der Minne ein eigenes Paradigma höfischer Tragik entwickelt. Tragikkonzept: Unrehtiu minne Für Didos Sturz ins Unglück sind in Vergils ‚Aeneis‘ ebenso wie in den mittelalterlichen Eneasromanen mehrere Ursachen ausfindig zu machen. Antonie Wlosoks Deutung ist für das lateinische Epos so überzeugend,107 dass eine Zusammenfassung der zentralen Aspekte genügt: Zwar gehen in der ‚Aeneis‘ die entscheidenden Handlungsimpulse von den Göttern aus, doch bleiben die Menschen für ihr Handeln mitverantwortlich. Dies wird daran deutlich, dass Dido ihre Liebesbeziehung im Nachhinein als einen _____________ 107 Vgl. Wlosok, Vergils Didotragödie.

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folgenschweren Fehler betrachtet und der Erzähler unmittelbar nach der Liebesvereinigung von einer Schuld der Protagonistin spricht. Ähnlich wird bei ihrem Tod zwischen dem Aufbruchsbefehl der Götter und Didos eigenem Entschluss zum Selbstmord differenziert. Weder sei sie durch das Schicksal noch eines schuldigen Todes gestorben, sondern zu früh, von plötzlichem Wahnsinn befallen, kommentiert der Erzähler und bezeichnet Dido mitleidvoll als misera.108 Didos Tragik besteht demnach nicht in einem übergeordneten Verhängnis, durch das sie den Göttern hilflos ausgeliefert ist. Vielmehr agieren Götter und Menschen mit- und nebeneinander, so dass göttliches Einwirken menschliches Fehlverhalten nicht entschuldigt.109 Nur aus einer modernen Perspektive, die von einem anderen Subjektbegriff ausgeht und absolute Autonomie fordert, kann die Protagonistin als vollkommen fremdbestimmt charakterisiert werden. Daher lässt sich Vergils Handlungskonzeption mit Hilfe der antiken Tragödientheorien angemessen deuten. Didos Unglück ist, wie von Aristoteles und Seneca gefordert, in entscheidender Hinsicht kausal motiviert. Karthagos Herrscherin begeht einen Fehler, als sie ihr Treueversprechen bricht und eine illegitime Beziehung eingeht. Nachdem Dido sich dieser Leidenschaft einmal hingegeben hat, gerät sie immer mehr in Raserei, so dass aus einer kleinen Ursache schreckliche Konsequenzen erwachsen. Im ‚Roman d’Eneas‘ wird der Aspekt der Schuld noch stärker als in der ‚Aeneis‘ betont, wie in der Forschungsliteratur mit dem Hinweis auf Didos vernachlässigte Pflichten herausgestellt wurde.110 Der Erzähler liefert jedoch eine eigene Begründung für den unglücklichen Handlungsverlauf, die er an exponierter Stelle, unmittelbar vor der ersten Begegnung von Eneas und Dido, platziert. Voller Freude vernimmt Eneas die Mitteilung seiner Gesandtschaft und erfährt zudem von der Rettung seiner Schiffe, die er im Unwetter verloren zu haben glaubte. Nach all den Plagen, die er und seine Gefährten seit ihrer Flucht aus Troja erlitten haben, scheinen nun bessere Zeiten anzubrechen. An dieser Stelle schaltet sich der Erzähler mit einem moralischen Kommentar ein und erklärt: fortune le ra esbaldi, ki de devant l’aveit marri. Por ce ne deit oem desperer, se li estuet mal endurer,

_____________ 108 Vgl. Vergil, Aeneis, 4,696f.: nam quia nec fato merita nec morte peribat, / sed misera ante diem subitoque accensa furore […]. Übers. v. Götte: „Denn da weder durch Schicksal sie starb noch verschuldeten Todes, / sondern aus Gram vor der Zeit und gepackt vom plötzlichen Wahnsinn […].“ – Die Komponente des Mitleids fehlt in der Übersetzung. 109 Zu diesem Kennzeichen der antiken Tragödienkonzeption vgl. auch Schmitt, Charakter; ders., Menschliches Fehlen; ders., Selbständigkeit; ders., Wesenszüge. 110 Vgl. z.B. Kartschoke, Didos Minne, S. 108; Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 222.

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et se il a tot son plaisir, donc ne se deit trop esjoïr, ne por grant mal trop esmaier, ne por grant bien trop leecier; et d’un et d’el de tot mesure; uns biens, uns mals toz tens ne dure. Fortune torne en molt poi d’ore, tels rit al main ki al seir plore; al seir est laie, al matin bele, si com el torne sa roele; cui el met a l’un jor desus, a l’altre le retorne jus: de tant com el l’a mis plus halt, tant prent il aval graignor salt.111

Diese Verse sind im Text auf Eneas bezogen, der mit seiner unrühmlichen Flucht aus Troja und der strapaziösen Schifffahrt auf einem Tiefpunkt angelangt ist und dessen Ansehen nun stetig steigen wird. Allerdings ist der Verweis auf die Unbeständigkeit des Glücks ebenso für Dido von Relevanz. Kurz zuvor sind die Pracht und Herrlichkeit Karthagos und die Macht, die Klugheit und der Reichtum seiner Herrscherin geschildert worden. Auf dem Höhepunkt ihrer Regentschaft angekommen, muss – dem Bild der Fortuna zufolge – der Abstieg einsetzen. Die Bemerkung, dass der Erfolg die Fallhöhe bestimmt, lässt bei einer in jeder Hinsicht ausgezeichneten Herrscherin Schlimmes erahnen. Das Rad der Fortuna gibt einen zyklischen Verlauf vor, der von den Betroffenen nicht aufgehalten werden kann, aber auch nicht ausgelöst wird. Der Erzählerkommentar deutet darauf hin, dass die Form des Tragischen dem finalen Modell des Boethius in ‚De consolatione philosophiae‘ entspricht. Der Sturz ins Unglück scheint der Willkür einer höheren Macht zugeschrieben zu werden und die Frage nach einer persönlichen Schuld irrelevant zu sein. Gleichzeitig hebt der Erzähler im ‚Roman d’Eneas‘ jedoch einen weiteren Aspekt hervor, der der Verfügungsgewalt der Figuren unterstellt bleibt und somit die Möglichkeit des selbst verschuldeten Unglücks einschließt: Entscheidend ist es, im Glück wie im Unglück maßvoll zu blei_____________ 111 Roman d’Eneas, V. 675–692. Übers. v. Schöler-Beinhauer: „Fortuna, die ihn zuvor betrübt hatte, / hat ihn wieder ermutigt. / Deswegen soll ein Mensch nicht verzweifeln, / wenn er Übel erdulden muß, / und wenn er alles hat, was er begehrt, / dann soll er sich nicht allzusehr freuen, / sich weder vor großem Ungemach allzusehr entsetzen, / noch sich über großes Glück allzusehr freuen; / und in dem einen sowohl als in dem andern durchaus maßvoll bleiben; / ein Glück, ein Unglück dauert nicht allezeit. / Fortuna wendet sich in sehr kurzer Zeit, / manch einer lacht am Morgen, der am Abend weint; / am Abend ist sie häßlich, am Morgen schön, / je nachdem, wie sie ihr Rad dreht; / wen sie an einem Tag nach oben setzt, / den dreht sie am andern wieder nach unten: / je höher sie ihn gesetzt hat, / einen desto größeren Sturz nach abwärts tut er.“ – Hübner (Erzählform, S. 230) spricht von einer „von christlichem Vulgärstoizismus getönten Fortuna-Lehre“.

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ben (vgl. V. 683).112 Indem Dido im Hinblick auf diese Maxime kläglich versagt, treibt sie ihren Untergang voran. Die Liebesleidenschaft ergreift immer mehr von ihr Besitz und wirkt sich auf alle Bereiche ihres Lebens aus. Didos Tod wird im ‚Roman d’Eneas‘ als eine logische Folge einer gefährlichen Infizierung dargestellt, bei der der Akzent auf dem Außer-sichSein der Liebe liegt. Als tödlich wird weniger die Liebe als die aus ihr entstehende Raserei bezeichnet. Cist a espris le mien corage, / cist m’a doné la mortel rage, / por cestui muir tot a estros,113 bekennt Dido und stellt damit selbst einen Zusammenhang zwischen Liebe und Tod über ihr ungezügeltes Verlangen her.114 Nur an einer Stelle wird die Liebe allgemein als eine überwältigende Macht definiert, der kein Einhalt geboten werden könne.115 Doch stammt diese Charakterisierung ausgerechnet von Anna, die wenig später als schlechte Ratgeberin scharf kritisiert und für Didos Unglück verantwortlich gemacht wird.116 Der Erzähler warnt ausdrücklich davor, sich der Liebesleidenschaft auszuliefern. Statt sich in Ruhe und Müßiggang zu sehr mit der Liebe zu befassen, solle man eine andere Beschäftigung und Ablenkung suchen.117 Indem Dido diesen Ratschlag nicht beachtet und zudem mögliche Hemmnisse einer Beziehung, wie das Versprechen gegenüber Sychaeus, ausschaltet, verwandelt sich die kluge Herrscherin in eine rasende Liebhaberin. In dieser Eskalation der Leidenschaft ähnelt die altfranzösische Dido den Heldinnen der kausal angelegten Tragödien Senecas.118 Didos Tragik besteht im ‚Roman d’Eneas‘ noch stärker als in der ‚Aeneis‘ darin, dass sie sich einer Leidenschaft hingegeben hat, die sie zugrunde richtet. Im mittelhochdeutschen ‚Eneasroman‘ erfolgt eine Verabsolutierung der Liebe und werden die Schuldzuweisungen der romanischen Version deutlich zurückgenommen. Weder wirkt sich Didos innere Unruhe nega_____________ 112 Hübner (Erzählform, S. 231) kommentiert: „An die Stelle der pietas rückt die mesure.“ 113 Roman d’Eneas, V. 1301–1303. Übers. v. Schöler-Beinhauer: „Dieser hat mein Herz entflammt, / dieser hat mir die tödliche Raserei eingegeben, / um dieses willen sterbe ich ganz sicherlich.“ 114 Ähnlich argumentiert Kasten (Heinrich von Veldeke, S. 86). Der altfranzösische Verfasser stilisiere Dido „zum Opfer einer Liebe, die deshalb scheitern muß, weil ihr Maß und Vernunft fehlen.“ Dass die Erzähltechnik im ‚Roman d’Eneas‘ nicht darauf angelegt ist, „Verständnis für Didos Fehler zu wecken, sondern ihre Liebesraserei als Ursache des Fehlers zu sezieren“, arbeitet Hübner (Erzählform, S. 237) heraus. 115 Vgl. Roman d’Eneas, V. 1371–1373: quant de s’amor estes sorprise, / cuidiez la veintre en nule guise; / vos ne poez encontre amor. Übers. v. Schöler-Beinhauer: „Da ihr von Liebe zu ihm überwältigt seid, / gedenkt sie in keiner Weise zu besiegen; / ihr vermögt nichts gegen die Liebe.“ 116 Zur Kritik an Anna vgl. Roman d’Eneas, V. 1381–1390. 117 Diese Empfehlung entspricht Ovid, Remedia amoris, bes. V. 135–150. 118 Vgl. Schmitt, Leidenschaft.

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tiv aus noch wird ihr ein Versäumnis ihrer Pflichten vorgeworfen. Die Überantwortung der Herrschaftsgewalt an Eneas wird nicht kritisiert, und das Versprechen gegenüber Sychaeus spielt keine wichtige Rolle. Der Erzähler hält sich mit Kommentaren deutlich zurück und bewertet das Verhalten der Protagonistin nur sehr selten negativ.119 Statt Didos schuldhafte Verantwortung zu betonen und ihr fehlende Mäßigung vorzuwerfen, macht Veldeke die Minne an sich zur entscheidenden Ursache für ihr Unglück. Ausschlaggebend für Didos Selbstmord ist nicht der Wunsch, die Eintracht mit Sychaeus wiederzuerlangen, den Ehrverlust auszugleichen oder die Feindschaft der Landesherren zu umgehen, sondern die Gewalt der Minne,120 die sich als Leitmotiv durch die gesamte Handlung zieht. Von Beginn an wird die Liebe als eine Macht geschildert, die den Menschen mit all seinen Sinnen erfasst, Krankheitssymptome hervorruft und eine ernste Bedrohung für die Gesundheit, ja für das Leben darstellt. Schon in der ersten schlaflosen Nacht ist Dido davon überzeugt, daz si niemer mohte genesen (51,25). All ihr Verstand und ihre Klugheit vermögen nichts gegen ihr Gefühl auszurichten. Von Eneas hänge ab, reflektiert sie, ob ich iemer sal genesen, / od ich mûz schiere tôt wesen (52,21f.). Als sie Anna gesteht, ich bin vil nâch tôt / […] ich bin al gesunt / unde enmach doch nicht genesen (53,38–54,1), erkennt diese sofort die lebensbedrohende Situation: irn dorft von minne niht sterben (54,8). Liebe und Tod werden im Gespräch der Schwestern wie im folgenden Handlungsverlauf in einen engen Zusammenhang gestellt. So hofft Dido inständig, dass ihre Liebe erhört werden und auf Gegenliebe stoßen wird: sô moht ich genesen: / anders mûste ich tôt wesen. (57,18f.) Liebe bedeutet Leben, dessen sind sich die betroffenen Figuren im ‚Eneasroman‘ bewusst, wohingegen die unerfüllte Liebe zum Tod führt. Schon die bloße Anwesenheit des Eneas ist für Dido von existentieller Bedeutung, wie der Erzähler bestätigt: ân in enmoht si niht genesen (58,18). Als es endlich zu der von Dido lang ersehnten Vereinigung kommt, wird diese ausdrücklich für lebensnotwendig erklärt: si mûste anders _____________ 119 Zwar sieht der Erzähler Didos freigebiges Schenken bei der Ankunft des Eneas kritisch: diu gab ime den widerlôn / sô harde ûz der mâzen, / der bezer wâre verlâzen. (37,20–22) Doch ist die Bemerkung kaum als Schuldzuweisung zu verstehen, da Freigebigkeit eine der wichtigsten Herrschertugenden ist; vielmehr handelt es sich um eine Vorausdeutung auf das unglückliche Ende. Auch die zweite Äußerung, die auf eine mögliche Schuld Didos schließen lassen könnte, ist zu relativieren. Selbst wenn der Erzähler bei der Liebesvereinigung im Wald von einer Schande spricht, ist Didos Anteil am Zustandekommen des Geschlechtsakts sehr gering gehalten. – Zur Tugend der Freigebigkeit vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 385f. 120 Ähnlich äußert sich Syndicus (Dido, S. 97): „Nicht allein die hoffnungslose äußere Situation oder ihr Schmerz über den Verlust des Geliebten […] machen ihr ein Weiterleben unmöglich – verantwortlich für die Umkehrung alles Bisherigen ist letztlich allein die Minne.“ – Zur gewaltsamen Darstellung der Liebe allgemein vgl. Keller, Diu gewaltaerinne Minne.

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wesen tôt, / diu froude enwâre ir wider komen, / dâ mite sie ir was benomen / dô si sô sêre wunt wart. (64,18–21) Das bloße Gerücht von der baldigen Abreise des Eneas genügt, dass Didos seelischer und gesundheitlicher Zustand sofort bedrohliche Züge annimmt: dô wart sie vil unfrô, / wandez ê tet ir diu nôt, / si was zehant vil nâch tôt. (67,18–20) Im Dialog macht die Protagonistin dem Trojaner mit den ersten Worten klar, dass sein Aufbruch für sie den Tod bedeutet: habt ir des êre, / daz ir den lîb mir wellet nemen? (67,32f.) Angesichts der Macht der Minne, bei der das Leben der Liebenden von der Gegenwart des Geliebten abhängt, gewinnt ihre Aussage, daz ich mich selbe mûz erslân (69,30), eine ernste Verbindlichkeit. Die Ankündigung des Todes ist keine leere Drohung, mit der sie Eneas unter Druck setzen will, sondern eine logische Folge ihrer Minnekrankheit. Eneas Bitte, sehet, daz ir es niht entût. / […] / niht verlieset ûren lîb, / es wâre schade vil grôz (69,35–39), verkennt Didos wahren Zustand. Ebenso wie er sich darauf beruft, aufbrechen zu müssen, besteht für Dido die Notwendigkeit, ihn zu halten. Dem Zwang des Schicksals steht die zwingende Gewalt der Minne gegenüber. Alleine zurückgelassen beklagt Dido den Verlust ihrer Geisteskräfte, ihres Besitzes und ihrer Macht: ouwê, unsenfte minne, / wie dû mich hâst bedwungen! (76,28f.) Die Liebe hat nicht nur ihre materielle Existenz zerstört, sondern ihre physische und psychische Verfassung nachhaltig geschädigt: ich bin zunsanfte uberladen. mîn ungemach is sô gram, ichn mach gegên noch gestân geligen noch gesitzen. ich sterbe vor hitzen und quele iedoch vor kalde. ichn weiz waz des gewalde, mir is vreislîche vergeben, sus enwil ich niht langer leben. (76,40–77,8)

Dido kann keine erträgliche Körperhaltung mehr einnehmen, sie wird von Hitze- und Kälteschüben gepeinigt und fühlt ein Gift im Inneren wüten. Von solchen Qualen erschüttert, erliegt sie ihrer Liebeskrankheit. Ihr Schwertstoß in das eigene Herz wirkt wie ein Gnadenakt, mit dem sie das in ihr lodernde Feuer zu löschen sucht. Auch der Erzähler, der ihren Selbstmord klar verurteilt, weist gleich zweimal darauf hin, dass die Minne sie dazu gezwungen habe: ez was unrehtiu minne, / diu sie dar zû dwanc (78,4f., vgl. auch 80,20–22). Über das Attribut unrehtiu ist in der Forschung intensiv diskutiert worden. Wird Didos Liebe an dieser Stelle generell als falsch, unangemessen

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oder maßlos disqualifiziert,121 oder setzt sie sich erst durch ihren Selbstmord ins Unrecht?122 Beantworten lässt sich diese Frage mit Hilfe einer späteren Episode des ‚Eneasromans‘. Diese legt nahe, dass Dido sich nicht für ihren Tod verantworten muss und daher nicht schuldig gesprochen werden darf. Bei der Unterweltfahrt des Eneas hat Veldeke auffällige Änderungen vorgenommen, die von seinem Bemühen zeugen, Dido zu entlasten.123 Seine Heldin landet nicht bei den im deutschen Roman neu eingeführten Selbstmördern, wie nach christlichem Verständnis zu erwarten wäre, sondern vor der helle an einem ende (99,14). Im Jenseits erhalten die tôt wârn von minnen (99,29) einen eigenen Raum in unmittelbarer Nachbarschaft zu den ungeborenen Kindern. Damit scheinen die Selbstmörder aus Liebe ebenso wenig für ihr Schicksal verantwortlich zu sein, wie diejenigen, die die für das Seelenheil notwendige Taufe nicht empfangen konnten. Die Angehörigen beider Gruppen sind ohne eigenes Verschulden gestorben, sei es im Mutterleib oder an der Minnekrankheit. Die Motivierung des Unglücks im ‚Eneasroman‘ stimmt daher in wichtigen Aspekten mit der modernen Tragikauffassung überein, wie schon Kistler und Hübner darlegten. Die Unmöglichkeit, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen, und die Unvermeidbarkeit des Leidens machen Dido zu einer tragischen Heldin im neuzeitlichen Sinne. Dabei erschöpft sich das Tragikkonzept jedoch nicht darin, dass die Minne die Stelle der vergilischen fata einnimmt,124 und die Protagonistin durch eine äußere Macht fremdbestimmt wird. Vielmehr begründet Heinrich von Veldeke Didos Sterben auf eine spezifische Weise, indem er die Minne als _____________ 121 Zwar meinen sowohl Dido als auch Anna, dass sie Eneas zunmâzen (76,19, 79,7) geliebt habe, doch bekennt Lavinia ebenfalls, ihn zunmâzen (270,17) bzw. sô harde ûzer mâzen (302,27) zu lieben. Da selbst Eneas das unmâzliche (295,2) Wesen der Minne kennenlernt, ist Schröder (Veldeke-Studien, S. 24f.) zuzustimmen, dass die Liebe im ‚Eneasroman‘ grundsätzlich den Charakter des Maßlosen und Außerordentlichen besitzt. Wenn Dido dagegen Eneas zugesteht, ihr genûch holt (76,18) gewesen zu sein, muss es sich um eine Art Litotes handeln, die das Gegenteil von Liebe umschreibt, wie Schmitz (Poetik, S. 194f.) argumentiert. – Vgl. auch Fromm, Kommentar, S. 785f. 122 Diese Auffassung vertritt Schröder (Veldeke-Studien, S. 24): „Erst in dem krankhaften (und überdies sündigen) Todesverlangen und Selbstmord erweist sich Didos Liebe als ‚unrecht‘. Bis dahin war sie das nach Veldekes Ansicht keineswegs.“ Vgl. auch Fromm, Kommentar, S. 801f.; Kartschoke, Stellenkommentar, S. 775; Lienert, Antikenromane, S. 82. – Hübner (Erzählform, S. 228, vgl. S. 222f., Anm. 52) bietet neben dieser Deutung noch eine zweite Erklärung, die Didos Liebe ins Unrecht setze, nämlich dass sie „Eneas voreilig und ungeprüft, jenseits jeden Komments ihren Körper gewährte.“ Zu entgegnen bleibt, dass der Erzähler keine Verbindung zum Normenverstoß auf der Jagd herstellt und der Geschlechtsakt Züge einer Vergewaltigung trägt. 123 Vgl. auch Fromm, Unterwelt, S. 105, 110f.; ders., Kommentar, S. 811; Kartschoke, Stellenkommentar, S. 776; Keilberth, Rezeption, S. 412f.; Knapp, Selbstmord, S. 141f.; Matejovski, Selbstmord, S. 253. 124 Vgl. Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 226.

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ein Paradoxon darstellt.125 Dem hohen höfischen Wert ist eine potentielle Gefährdung eingeschrieben, weshalb die Minne über Leben und Tod der Betroffenen entscheidet. Sie wird als Krankheit erfahren, von der man zwar genesen kann, doch paradoxerweise nur mit ihrer Hilfe. Ansteckung und Arznei fallen somit bei der Minne in eins, wie der Erzähler erklärt: daz is der rehten minnen art. ez is genûgen wole kunt, swen si rehte machet wunt, sal her iemer wol genesen, daz mûz mit ir helfe wesen. (64,22–26)

Mit der Darstellung der Minne als Krankheit, die nur durch die Minne geheilt werden kann, orientiert sich Heinrich von Veldeke an Ovids Liebeslehre.126 Er greift eine traditionelle Liebesmetapher auf, überträgt sie in den Kontext seiner Erzählung und macht dieses Element zum zentralen Movens der Dido-Handlung. Ursache für das Leid und den Tod der Protagonistin ist die negative Komponente der Liebe, die nach der Trennung vom Geliebten dominiert, so dass keine Heilung mehr möglich ist. Die innere Widersprüchlichkeit der Minne zeigt sich nicht nur dann, wenn die Rettung nach einer Verwundung auf sich warten lässt oder gänzlich verwehrt wird, sondern ist auch der erfüllten Liebe inhärent. Mit gespaltenen Gefühlen, beide rouwich unde frô (64,8), kehrt Dido von der Jagd heim, wobei ihre Scham die Freude über die Vereinigung beeinträchtigt.127 Noch deutlicher wird dieses Charakteristikum in der Aussage des Erzählers, Didos Wunde sei zwar gelindert, nicht aber vollständig geheilt worden: Ir was gesenftet ein teil, / iedoch enwas niht heil / diu wunde von der strâlen. (64,27–29) Die Minne bleibt ein antagonistischer Wert, eine Krankheit, die zwar gelindert werden kann, aber auf eine Arznei angewiesen bleibt. Ohne ein wirksames Gegenmittel verschlechtert sich der Gesundheitszustand drastisch, weshalb Dido starke Schmerzen umbe den leiden lieben man (74,29) empfindet. Ihr Beispiel zeigt, dass die Minnekrankheit in der schwersten Form der Ansteckung sogar zum Tod führt. Ausgehend von dieser Widerspruchsstruktur können die in der Forschung umstrittenen Begriffe rehtiu und unrehtiu minne verstanden werden. Die Liebe selbst, nicht etwa die von ihr ergriffenen Personen, wie in der überholten Forschungsdebatte um Lavinia und Dido geschehen, wird mit _____________ 125 Zur ambivalenten Macht der Liebe vgl. auch Hamm, Infelix Dido, S. 18; Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 143–148; Stebbins, Bildlichkeit, S. 99–101. 126 Vgl. Ovid, Remedia amoris, V. 41–44; ders., Metamorphosen, 9,543–547. Vgl. auch Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 134–142, 148–166; Schmitz, Poetik, S. 167, Anm. 305. 127 Zu Didos ambivalenten Gefühlen vgl. auch Lienert, Antikenromane, S. 80; Schmitz, Poetik, S. 181f. Kartschoke (Stellenkommentar, S. 772) weist darauf hin, dass das auffällige Oxymoron wesentlich zum Minneparadox gehört.

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diesen Attributen belegt. Rehtiu und unrehtiu art der Minne unterscheiden sich darin, dass sie einerseits Heilung verspricht und sie andererseits verweigert. Eine Bestätigung findet diese Deutung in der Lavinia-Geschichte, als die latinische Königstochter die starke und ambivalente Macht der Minne durch die Didaxe der Mutter zunächst theoretisch, dann durch ihre Begegnung mit Eneas auch praktisch kennenlernt. Die Königin schildert ihrer Tochter einerseits die schweren Qualen,128 andererseits die große Freude, die die Minne schenkt: michel lieb kumt von dem leide, / rûwe kumt nâch ungemache. (263,20f.) Verwundung und Heilung stellt die Königin dabei als zwei meist chronologisch aufeinander folgende Stadien dar: swen diu Minne wunt tût, / daz si in geheilet. / si gibet unde teilet / daz lieb nach dem leide (265,14–17). An einer Stelle werden das Leid und das Glück der Minne jedoch übereinander geblendet: ir ungemach is sûze (263,13). Als Lavinia selbst die Gewalt der Minne erlebt und daz freislîche ungemach (268,29) beklagt, schöpft sie aus der mütterlichen Unterweisung Hoffnung. Sie appelliert an die Liebesgöttin, ihre Wunde zu heilen, damit sie die rechten art der minne (273,17) erfahren könne. Lavinias Worten zufolge schenkt die rechte Liebe nach tiefem Leid Erfüllung und Glück, wohingegen die unrechtiu Art der Minne schlimme Schmerzen zufügt, ohne diese zu lindern.129 Wesentliche Voraussetzung für eine Genesung und ein dauerhaftes Wohlbefinden ist die Gegenseitigkeit der Liebe, wie Lavinia klar formuliert. Damit liefert sie ebenso wie Eneas bei seinem späten Schuldbekenntnis nachträglich eine Begründung für Didos Leiden und Sterben.130 Die Minne, die sowohl schreckliche Qualen als auch größte Freude bereitet, beidiu ubel unde gût (295,18), führt ins Unglück, wenn sie nicht erwidert wird.131 Die unrehtiu minne, die der Er_____________ 128 Kaum zufällig legt Veldeke der Königin, als sie die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Minne beschreibt, ausgerechnet das Attribut in den Mund, das für Dido charakteristisch gewesen ist: nieman is sô rîche, / der sich ir moge erweren / noch sîn herze vor ir generen / noch ne kan noch ne mach. (262,34–37) 129 Auch Schmitz (Poetik, S. 203f.) spricht sich dafür aus, das Attribut nicht auf Didos Selbstmord oder die Liebe überhaupt, sondern auf deren „‚unrechte‘, ihr ungebührliche Natur“ zu beziehen. Schmitz schließt aus der Beobachtung, dass reht im Zusammenhang mit Genesung, unreht aber in Verbindung mit Tod auftritt: „Die Beifügungen charakterisieren dann Erscheinungsformen von Liebe: die erfüllte und unerfüllte, die gegenseitige und einseitige, bzw. eine Liebe, der es freisteht, das eine wie das andere zu bewirken.“ Ähnlich argumentieren Kistler (Heinrich von Veldeke, S. 218) und Knapp (Selbstmord, S. 138). 130 Zu Lavinias Ansicht über die erfüllte Liebe vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 272,14–19, zum Schuldbekenntnis des Eneas vgl. 296,17–19. – Stebbins (Bildlichkeit, S. 101–106) sieht hierin den entscheidenden Unterschied zwischen der Darstellung der Liebeskrankheit bei Veldeke, in der lateinischen Dichtung und den arabischen Medizintraktaten. Im deutschen Roman bleibe die gegenseitige Minne die einzige Heilungsmöglichkeit, so dass jeder der Gnade des geliebten Menschen ausgeliefert sei (ebd., S. 101). 131 Überzeugend argumentiert Lienert (Antikenromane, S. 99), dass Didos Liebe wegen fehlender Gegenseitigkeit „auch aus sich selbst heraus, nicht nur wegen des übergeordneten

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zähler als Ursache für den Tod der Protagonistin anführt, kann somit als ein zeitgenössischer Terminus für eine tragische Liebe aufgefasst werden; ihre Tragik besteht darin, dass eine unglücklich Liebende an der paradoxalen Struktur der Liebe zugrunde geht. Didos tragische Liebe im deutschen ‚Eneasroman‘ unterscheidet sich somit grundlegend von einem höfischen Minneideal, das den Verzicht auf körperliche Vereinigung als höchste Liebesform betrachtet.132 Statt einer erzieherischen Funktion schreibt Veldeke der Minne eine existentielle Bedeutung zu. Ein Leben nach der Trennung von Eneas, das durch eine Fernliebe getragen und bei dem das Leid gedanklich kompensiert werden kann, ist für seine Dido unmöglich. Die Handlung mündet nicht deshalb in die Katastrophe, weil sich die Protagonistin falsch verhält und ihr Ansehen als Herrscherin verliert, sondern weil das Wesen dieser Liebe unbedingt eine Erfüllung erfordert. Bleibt diese versagt, geht von der Minne keine läuternde oder veredelnde, sondern eine vernichtende Wirkung aus. Weil die Minne als Quell des Lebens und des Todes fungiert, kann die Form des Tragischen im deutschen ‚Eneasroman‘ am ehesten mit Hilfe der dialektischen Konzeption moderner Tragödientheorien interpretiert werden. Didos Unglück ist in der Minne selbst angelegt, die einerseits zur Verwirklichung eines hohen höfischen Wertes beiträgt, andererseits zur Vernichtung des Wertträgers führt, wenn sich dieser Wert nicht realisieren lässt.133 In seiner Wiedererzählung von Vergils ‚Aeneis‘ hat Heinrich von Veldeke nicht nur die tragische ‚histoire‘ von Dido neu gestaltet, sondern in seinem ‚discours‘ auch ein eigenes Tragikkonzept entwickelt. Das Unglück seiner Protagonistin resultiert weder aus dem Zusammenspiel von menschlichem Fehlverhalten und göttlichem Wirken wie im antiken Epos noch aus dem geringen Standvermögen und der Hingabe an die Leidenschaft wie im altfranzösischen ‚Roman d’Eneas‘. Ursache für den Fall von Karthagos Herrscherin ist im ‚Eneasroman‘ die Widerspruchsstruktur der Minne. Diese lässt Dido an ihren Liebesqualen sterben, weil ihr Begehren nicht auf Gegenseitigkeit basiert und keine Erfüllung mehr findet. _____________ Geschicks“ zum Scheitern verurteilt sei. – Ob deswegen von einem „Versagen des männlichen Partners“ gesprochen werden kann, wie Schröder (Veldeke-Studien, S. 33) meint, ist zu bezweifeln. Schließlich gehört zu den grundlegenden Merkmalen von Veldekes Minnekonzeption, dass die Liebe nur einem einzigen Menschen gilt. Dies erklärt sowohl den Verzicht auf Didos frühere Liebe zu Sychaeus als auch die späte Überwältigung des Eneas von der Liebe zu Lavinia. Die Königstochter formuliert diesen Anspruch auf Ausschließlichkeit explizit, vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 272,17–22. 132 Vgl. z.B. Bumke, Höfische Kultur, S. 513; Liebertz-Grün, Zur Soziologie, S. 9–68; Schweikle, Minnesang, S. 170–175; Taiana, Amor purus. 133 Vgl. S. 441.

Tristans und Isoldes Trennung bei Gottfried von Straßburg

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3.2 Tristans und Isoldes Trennung bei Gottfried von Straßburg Von allen Liebesbeziehungen der deutschen Literatur des Mittelalters ist die Geschichte von Tristan und Isolde wohl diejenige, auf die der Begriff des Tragischen am häufigsten angewendet wird.134 Das Handlungsgerüst scheint dem gängigen Tragikverständnis vollkommen zu entsprechen: Beide Protagonisten sterben, nachdem sie einer leidenschaftlichen Liebe zueinander verfallen sind, die alle anderen gesellschaftlichen Bindungen in Frage stellt. Dieser thematische Kern eint die verschiedenen Versionen, die vom Tristan-Stoff kursieren, wenngleich Inhalt und Präsentation wichtige Differenzen aufweisen. Da die Tristanromane aus dem Stoffkreis der matière de Bretagne stammen, erweitern sie die aus der Antike überlieferten tragischen Liebesgeschichten um eine mittelalterliche Variante. Selbst wenn zahlreiche antike Bezüge, vor allem zu Ovids Werken nachzuweisen sind,135 so handelt es sich doch um eine ‚histoire‘, die – einschließlich der keltischen Sagen – erst seit dem 8. Jahrhundert literarisch geformt worden ist.136 Der um 1210 verfasste Roman Gottfrieds von Straßburg gilt als Höhepunkt und Vollendung der Tristan-Versionen.137 Er steht in der Nachfolge des Thômas von Britanje, den Gottfried selbst als seinen Gewährsmann anführt (150). Da Thomas die Geschichte richtig wiedergegeben habe, erklärt Gottfried es zu seinem Ziel, daz ich in sîner rihte / rihte diese tihte. (161f.) Auf welche Weise er diesen Vorsatz umgesetzt hat, lässt sich nur punktuell prüfen. Von den erhaltenen Fragmenten von Thomas’ ‚Tristanroman‘, _____________ 134 Vgl. z.B. Ernst, Gottfried, S. 48f.; von Ertzdorff, Ehe, S. 289; Fritsch-Rößler, Finis Amoris, S. 293; Ganz, Tristan, S. 405, 410; Haug, Aventiure, S. 582; ders., Eros und Tod, S. 34; ders., Höfische Liebe, S. 55; Heinze, Glück, S. 83; Huber, Gottfried von Straßburg, S. 15, 23, 86; Keck, Liebeskonzeption, S. 11, 87f., 193, 197, 221; Kern, Zur ‚Metamorphosen‘-Rezeption, S. 187; Kuhn, Tristan, S. 13–18; Ridder, Liebestod, S. 308; Tax, Wounds, S. 223; Usener, Verhinderte Liebschaft, S. 242, 245. – Nur wenige Autoren schließen Bezüge zum Tragischen aus. So hält Bollinger (Das Tragische, S. 70) das Werk trotz eines – „ohne Zweifel vorhandenen – tragischen Gehalts“ für „letzten Endes ganz untragisch“. Ebenso lautet Warnings (Narrative Lust, S. 212) „Antwort auf die Frage nach der Tragik im mittelalterlichen Tristan: es gibt sie nicht.“ Wo immer Gottfried das Geschehen auf den Tod hin perspektiviere, erscheine das Bild vom Sündenfall, das mit dem Tragischen nicht kommensurabel sei. 135 Zu Gottfrieds Verhältnis zu Ovid vgl. Ganz, Tristan; Hoffa, Antike Elemente; Kern, Gottfried von Straßburg, S. 49; Usener, Verhinderte Liebschaft. 136 Vgl. Bonath, Einleitung, S. 19f.; Huber, Gottfried von Straßburg, S. 15–26, bes. S. 20f.; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 260. – In der Forschungsliteratur werden zwei Traditionen unterschieden, deren Charakterisierung als spielmännisch versus höfisch zwar diskutiert wird, grundsätzlich jedoch anerkannt ist. 137 Nach Friedrich Rankes (Tristan, S. 178) bekanntem Urteil hat Gottfried dem Tristanstoff seine „klassische Form“ verliehen. – Der Roman wird in der von Rüdiger Krohn herausgegebenen Reclam-Ausgabe zitiert.

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der vermutlich zwischen 1160 und 1176 entstanden ist, überschneiden sich nur gut zweihundert Verse mit Gottfrieds Version.138 Gottfrieds Kritik richtet sich stattdessen gegen die Präsentation der Tristan-Erzählung, wie sie das zweite deutschsprachige Werk bietet.139 In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfasste Eilhart von Oberg einen Roman, der sich an Berouls anglonormannischer Version orientiert und von den zahlreichen Abenteuern des Herrn Tristrant handelt.140 Schon bei der Themenangabe im Prolog zeichnen sich grundlegende Differenzen zwischen den beiden mittelhochdeutschen Fassungen ab.141 Im Mittelpunkt von Gottfrieds Roman stehen weniger die Aventiuren des Helden, sondern ein senedaere unde ein senedaerîn, / ein man ein wîp, ein wîp ein, man, / Tristan Isolt, Isolt Tristan. (128–130) Aufgrund dieser Fokussierung der Liebe, die sich im Handlungsgeschehen wie in umfangreichen Erzählerkommentaren und Exkursen niederschlägt, wird die Aufmerksamkeit im Folgenden vor allem Gottfrieds Werk gelten; an entscheidenden Stellen werden die Versionen von Thomas und Eilhart flankierend hinzugezogen. Wie Gottfried von Straßburg das von Heinrich von Veldeke entwickelte Konzept einer tragischen Liebe entfaltet und zum Leitmotiv seiner Tristan-Handlung werden lässt, soll in diesem Kapitel untersucht werden. Handlungsstruktur: Vom Thronfolger zum Flüchtling Tristans Geburt steht unter keinen guten Vorzeichen. Nachdem sein Vater Riwalin bei der Verteidigung seines Landes Parmenien gefallen und seine Mutter Blanscheflur vor Schmerz über diesen Verlust gestorben ist, stellt das neugeborene Kind eine potentielle Gefahr für den Besetzer des Landes dar. Zum Schutz gibt der treue Gefolgsmann Rual daher den Sohn seines Herrn als den eigenen aus und lässt ihm die bestmögliche Erziehung angedeihen. Tristan erhält Unterricht in verschiedenen Sprachen und _____________ 138 In diesen Partien lehnt sich Gottfried weitgehend an, nimmt aber auch eigene Akzentuierungen vor. Vgl. Thomas, Tristan; Benskin, Nouveau fragment; Zotz, Programmatische Vieldeutigkeit. Vgl. auch Haug, Erzählen als Suche; ders., Gottfrieds Verhältnis zu Thomas; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 250–260. – Zur Datierung von Thomas’ Roman vgl. Bonath, Einleitung, S. 17f. 139 Noch deutlicher als im Prolog kritisiert Gottfried seinen Vorgänger, als er die Motivierung von Markes Heiratsentschluss als wenig glaubwürdig beurteilt, vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 8600–8615; Eilhart von Oberg, Tristrant, V. 1413–1506. 140 Zur umstrittenen Datierung zwischen 1160 und 1190 vgl. Mertens, Eilhart, bes. S. 263f. Angekündigt wird im Prolog die Erzählung, wie der her Tristrand / zuo der welt kam / und wie er sin end nam / und welch wunder er begieng (vgl. Eilhart von Oberg, Tristrant, V. 38–41, vgl. auch V. 9675–9677). Zu Eilharts Gattungsansage vgl. auch Müller, Destruktion, S. 21f. 141 Zu Gottfrieds differenzierter Erzähltechnik und seiner situations- und figurenabhängigen Fokalisierung vgl. Hübner, Erzählform, S. 312–397.

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Musikinstrumenten, er lernt mit Schild und Speer umzugehen, ritterlich zu kämpfen und zu jagen. Aufgrund seiner überragenden Schönheit, seines höfischen Benehmens und seiner vielseitigen Begabung erregt der Junge allseitige Bewunderung und erweist sich seiner adeligen Herkunft als würdig. Noch bevor Tristan seine wahre Abstammung erfahren hat, nimmt sein Leben eine abrupte Wendung. Das talentierte Kind wird von norwegischen Kaufleuten auf einem Schiff entführt und nach einem schweren Seesturm an der Küste Cornwalls ausgesetzt. Unwissentlich gelangt der junge Tristan so in das Land seines Onkels, das seine schwangere Mutter einst heimlich mit ihrem Geliebten verlassen hat. Völlig auf sich gestellt und fernab jeder menschlichen Behausung, umgeben von Wüste, Fels und Meer,142 ist der Protagonist auf einem Tiefpunkt seiner sozialen Existenz angelangt. Stufenweise, über die Entdeckung eines Pfades, ein Gespräch mit zwei Pilgern, das Zusammentreffen mit der königlichen Jagdgesellschaft und deren Unterweisung in der Kunst, einen Hirschen zu zerlegen,143 kehrt Tristan in die Zivilisation zurück. Gemeinsam mit den Jägern inszeniert er einen glanzvollen Einzug am Hof des englischen Königs, der aufmerksam registriert wird. Tristans strahlende Erscheinung und seine außergewöhnlichen Kenntnisse tragen dazu bei, dass alle dem vremedem kinde (3388) wohlgesonnen sind. Marke, dem der Ankömmling besser als jeder andere gefällt, ernennt ihn zu seinem Jagdmeister und apostrophiert ihn nach einer Probe seines Könnens als liebe[n] hoveman (3487).144 Als Tristan auch seine musikalischen und sprachlichen Fähigkeiten unter Beweis stellt, steigt er innerhalb der höfischen Gemeinschaft rasant auf. Der König erkennt den vierzehnjährigen Knaben als ebenbürtig an. Weil Tristan alles beherrsche, was er selbst gerne könne, jagen, sprâche, seitspil (3724), bittet Marke ihn: nu suln ouch wir gesellen sîn, / dû der mîn und ich der dîn. (3725f.) Mit dieser Erhöhung erweist sich Tristans Erziehung als überaus erfolgreich. Auch ohne dass seine adlige Herkunft bekannt ist, erobert sich der Protagonist einen Platz in der höfischen Gesellschaft: sus was der ellende dô / dâ ze hove ein trût gesinde. (3742f.) Die einzige Differenz, die den vermeintlichen Kaufmannssohn noch vom König trennt, ist ihr Statusunterschied. Dieser wird überwunden, als Rual nach dreijähriger Suche am Hof eintrifft und Tristans Genealogie enthüllt. Nun ist der Protagonist, wie der _____________ 142 Zu Gottfrieds Gestaltung der ‚Wildlandschaft‘ vgl. Hahn, Raum, S. 13f. 143 Zur Bastszene und der symbolischen Transformation von Natur in Kultur vgl. Krause, Das Eine; ders., Jagd, S. 130–188; Schmid, Natur. – Nach Warnings (Narrative Lust, S. 191) Ansicht wird bereits mit der Lügengeschichte gegenüber den Pilgern „jenes ListenParadigma eröffnet“, das für die späteren Episoden charakteristisch ist. 144 Zur „Heldenbiographie Tristans“ und seiner „Karriere am Hof Markes“ vgl. Hauenstein, Rollen, S. 27–32. Zu Marke vgl. auch Karg, Markefigur; Warning, Narrative Lust, S. 199.

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treue Gefolgsmann seinem Ziehsohn erklärt, werder, dan dû wândest sîn (4382), und allen künegen ebenhêr (4389). Freudig erkennt Marke den hochgeschätzten Gefährten als seinen Neffen an und erklärt, sein erbevater (4301) sein zu wollen. Mit der Schwertleite ist Tristans höfische und ritterliche Erziehung endgültig abgeschlossen. Er weiß nun um seine Herkunft und will seinen Erbanspruch in Parmenien geltend machen. Marke möchte ihn jedoch dauerhaft an sich zu binden. Daher verspricht der König, ehelos zu bleiben und seinen Neffen als alleinigen Erben einzusetzen. Damit ist der Protagonist in zwei Reichen für die Thronfolge bestimmt: Zum einen kann er im Land seines Vaters sein Recht kriegerisch einfordern, zum anderen darf er im Herkunftsland seiner Mutter auf die friedliche Übergabe der Krone nach dem Tod seines Onkels hoffen. In Parmenien führt Rual Tristan in sein Herrschaftsgebiet ein und stellt ihm die Größe und Pracht seines Erbes vor Augen, zu dem veste stete, starke wer / und manic schoene castêl (5192f.) gehören. Tristan sorgt zunächst innerhalb seines Reiches für eindeutige Machtverhältnisse, indem er alle Herren Treue schwören lässt und ihnen ihren Besitz als Lehen übereignet. Anschließend vertritt er seinen Herrschaftsanspruch gegenüber Morgan und tötet den Mörder seines Vaters. Mit diesem Sieg legitimiert der Protagonist seine frühere Lehnsvergabe und erweist sich als Parmeniens rechtmäßiger Herrscher, wie der Erzähler zustimmend vermerkt: hie mite sô was Tristande / sîn lêhen und sîn sunderlant / verlihen ûz sîn selbes hant. (5618–5620) Zurück am englischen Königshof erhält der Protagonist auch dort die Gelegenheit, sich als eigentlicher Schutzherr des Landes zu beweisen. Er findet die Hofgesellschaft und die Landbarone in Trauer wegen der bevorstehenden Trennung von ihren Kindern, die im vierjährigen Turnus dem irischen Königreich als Tribut gezahlt werden müssen. Während niemand von Markes Leuten gewillt ist, sein Leben für die Kinder aufs Spiel zu setzen, erklärt sich Tristan sogleich dazu bereit. Er bezwingt den als unbesiegbar geltenden Morold, doch wird die große Freude über seinen Sieg durch eine schwere Wunde gemindert. Diese entfaltet einen so schrecklichen Geruch, dass Tristan in Isolation gerät. daz er den begunde swâren, / die sîne vriunde ê wâren (7281f.), bedeutet für ihn das größte Leid. Weil nur die heilkundige Schwester seines Gegners, die Königin Isolde von Irland, sein Leben noch retten kann, reist er heimlich zu ihr, obwohl er als Morolds Mörder den Tod fürchten muss. Nachdem Tristan in der Auseinandersetzung mit den Usurpatoren seine kämpferischen Fähigkeiten bewiesen hat, werden beim Aufenthalt in Irland seine sprachlichen und musikalischen Kompetenzen erneut hand-

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lungsrelevant.145 In kluger Vorsicht gibt er sich als ein tôtwunder spilman (7569) aus. Wie schon bei seiner Ankunft in Cornwall erhält der Protagonist dank seiner überragenden Fähigkeiten innerhalb kürzester Zeit Aufnahme in die höfische Gesellschaft und Zugang zur Königin.146 Isolde rettet ihrem Todfeind unwissentlich das Leben, damit er als Spielmann ihre gleichnamige Tochter unterrichten kann. Die junge Isolde erweist sich dabei als eine gelehrige Schülerin. Am irischen Hof wird ihr eine ähnliche Bewunderung zuteil, wie sie an Markes Hof Tristan galt. Sowohl hinsichtlich ihrer Schönheit als auch ihres Gesangs, ihrer Musik sowie ihrer Dichtund Vortragskunst zeichnet sich Isolde aus und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich: arme unde rîche / sî haeten an ir beide / eine saelige ougenweide (8048– 8050). Gerne würde die Königin den meister (8000),147 der ihre Tochter nach Kräften fördert, langfristig an ihrem Hof halten. Doch Tristan bricht nach seiner Genesung unter einem Vorwand auf. Mit der glücklichen Rückkehr nach Britannien könnte der vorläufige Höhepunkt der Handlung erreicht sein, veränderte sich nicht Tristans Verhältnis zu Markes Gefolgsleuten. Seine Heilung im Feindesland gilt als so erstaunlich, dass sie auf geteilte Reaktionen stößt. Bei Marke, am Hof und in weiten Teilen der Bevölkerung herrscht übergroße Freude, wohingegen sich unter einigen Landesherren der verwâzene nît (8319) regt und sie Tristan des Betrugs und der Zauberei beschuldigen.148 Obwohl sich der Protagonist durch seinen Sieg über Morgan als ein würdiger Landesherr erwiesen hat, ziehen seine Neider die vorgesehene Thronfolge in Zweifel. Markes Ratgeber bedrängen den König unaufhörlich, sich eine Frau zu nehmen und selbst einen Erben zu zeugen. Durch seine Ablehnung steigert Marke den Hass der Gegner so sehr, dass Tristan fürchten muss, ermordet zu werden. Erst als er das Land zu verlassen droht, toleriert Marke die Heiratspolitik. Während der König den Status seines Neffen zu wahren sucht, indem er eine als unerreichbar geltende Frau heiraten will, ver_____________ 145 Zur Bedeutung der Musik für den Roman vgl. Gnaedinger, Musik. – Ob aus der Musik eine Ästhetik des Scheiterns abzuleiten ist, die notwendigerweise zum Abbruch des Werkes führt, wie Stein (Musik, bes. S. 616–623) meint, wäre zu diskutieren. Zur Kritik vgl. auch Huber, Gottfried von Straßburg, S. 60. 146 Während Kästner (Harfe, S. 41, 75) Harfe und Schwert gleichberechtigt nebeneinander stellt, hält Oswald (Kunst, S. 143) Tristans musikalische Fähigkeiten für bedeutender. Letztlich sei Tristan im Werben um Isolde und in der Auseinandersetzung mit Gandin mit der Harfe erfolgreich. 147 Grosse (Meister, S. 298) stellt heraus, dass Tristan mit der für einen höfischen Helden ungewöhnlichen Titulierung sofort integriert wird und er dank seiner Fähigkeiten die „Spitzenposition“ erreicht, die „maht und êre mit sich bringt und die spätere Fallhöhe singulär macht.“ 148 Zur Konkurrenz zwischen Tristan und Markes anderen Höflingen, vgl. Gruenter, Favorit. Auf mögliche Parallelen zwischen Tristans Aufstieg am englischen Königshof und der biblischen Josephsgeschichte weist Jacobson (Biblical Typology) hin.

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folgt sein Kronrat gegenteilige Ziele. Tristan wird mit der gefährlichen Werbung um die blonde Isolde beauftragt, um ihn auf diese Weise endgültig loszuwerden. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Irland erweist sich Tristan erneut als unerschrockener Kämpfer und umsichtiger Stratege. Er kennt die Risiken und Chancen seiner Reise, lässt seine Begleiter im Verborgenen zurück und wagt den Kampf mit dem schrecklichen Drachen, um die Hand der Königstochter zu gewinnen. Nachdem der Protagonist die gefährliche Aventiure bestanden hat, denkt er daran, ein Beweisstück mitzunehmen, durch das er sich als Drachentöter legitimieren kann. Von der Königin Isolde, die den ohnmächtigen Helden gemeinsam mit ihrer Tochter gefunden hat, lässt Tristan sich vorsorglich Schutz zusichern. Dieses Versprechen gewinnt an Bedeutung, als der vermeintliche Spielmann Tantris als Morolds Mörder entlarvt wird. Der Gewalt der Frauen ausgeliefert, gelingt es Tristan, die Königin gnädig zu stimmen. Statt ihre Tochter mit einem betrügerischen Truchsess zu verheiraten, will sie diese lieber Tristans Führung anvertrauen und sie dem englischen König zur Frau geben. Mit der Unterstützung der Königin kann Tristan bei der Gerichtsverhandlung in Weiseford seinen Anspruch auf Isolde behaupten, Markes Werbung vorbringen und eine Versöhnung der verfeindeten Länder erreichen. Bevor Tristan seinen Dienst abschließen und Isolde dem Onkel übergeben kann, tritt bei der Schifffahrt eine grundlegende Änderung ein, die das innige Verhältnis zwischen ihm und Marke nachhaltig beeinträchtigen wird: Die künftige Frau des Königs und sein Werbungshelfer verfallen der Liebe zueinander. Nur dem äußeren Anschein nach bildet die Ankunft in Cornwall den Höhepunkt von Tristans politischem Erfolg. Zwar hat er sich als Landesretter, Brautwerber und Friedensstifter ausgezeichnet, doch ist sein Platz in der Erbfolge durch Markes Vermählung unsicher geworden. Durch seine Liebesbeziehung zur künftigen Königin hat sich der Protagonist als Vertrauter seines Onkels und als Wahrer des Rechts selbst disqualifiziert. Zudem ist die Feindschaft der Landbarone noch immer nicht beseitigt, auch wenn sich das Motiv des Neids in der Folgezeit verlagern und auf einzelne Figuren aus dem höfischen Umfeld konzentrieren wird. Mit der Heirat wird die leidenschaftliche Liebe zwischen Tristan und Isolde zu einem wachsenden Problem, obwohl ihnen zunächst eine Geheimhaltung ihrer Beziehung gelingt. Weder bemerkt Marke in der Hochzeitsnacht den Brauttausch noch schöpft die Hofgesellschaft einen Verdacht, vielmehr genießen beide überall hohe Wertschätzung:

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Îsôt diu küniginne diu was dô geminne mit liute und mit lande. ouch sagete von Tristande beidiu liut unde lant. (13.089–13.093)

Wie wenig Marke in der Lage ist, die Pflichten eines Landesherrn zu erfüllen, zeigt sich erneut, als er nicht einmal seine eigene Frau zu schützen weiß. Als der irische Baron Gandin Isolde als Lohn für sein Rottenspiel fordert, ist niemand am Hof bereit, sein Leben für die Königin zu wagen. Fürchten müssen Gandin und seine Männer nur Tristan, der ob seiner Tapferkeit in der Bevölkerung als der eigentliche Herrscher angesehen wird: ez stât gâr in sîner hant / beidiu liut unde lant. (13.335f.) Der Protagonist bestätigt diese Einschätzung, indem er seine Geliebte befreit und zu ihrem Mann zurückbringt, nicht ohne diesen für sein leichtfertiges Verhalten zu tadeln.149 In Folge dieser Rettungsaktion wächst der Ruhm des Helden weiter: Tristandes lob und êre / diu bluoten aber dô mêre / ze hove und in dem lande. (13.451–13.453) Tristans Ansehen verkehrt sich jedoch ins Negative, als sein Rivale Marjodo die Liebesbeziehung entdeckt und das Misstrauen des Königs weckt. Durch verschiedene Listen versucht Marke, die Liebenden auf die Probe zu stellen. Von Isoldes widersprüchlichen Aussagen in seinen Zweifeln bestärkt, entzieht er seinem Neffen das Privileg, Zugang zu den Frauengemächern zu erhalten. Die Dienerschaft registriert diese Veränderung aufmerksam und schmäht Tristan wegen seiner Degradierung: si redeten ime ze leide dar / vil übele und anders danne wol. / sîn ôren wurden dicke vol / mit iteniuwem leide. (14.302–14.305) Durch Gegenlisten, geschickte Wortwahl und erhöhte Aufmerksamkeit gelingt es den Liebenden, Markes Verdacht zu zerstreuen.150 Isolde wird wieder in Tristans Obhut gegeben, bis der Argwohn des Königs erneut Oberhand gewinnt. Nachdem verräterische Blutspritzer im Bett auf einen Ehebruch hindeuten, den Marke aber wegen fehlender Fußspuren nicht belegen kann, macht er die Angelegenheit öffentlich. Statt länger in den Gemächern des Königshofes nach Indizien für die Untreue seiner Frau zu suchen, lässt er in London ein Konzil einberufen, vor dem Isolde ihre Unschuld beweisen soll. Dank eines manipulierten Eides, bei dem ihr

_____________ 149 Für Warning (Narrative Lust, S. 196) und Müller (Gottfried von Straßburg, S. 236) liegt die eigentliche Pointe darin, dass der Ehebrecher Tristan als Sprecher des Höfischen auftritt und der legitime Ehemann getadelt wird. Vgl. auch Dicke, Gouch Gandin; Hauenstein, Rollen, S. 72–74; Karg, Markefigur, S. 68; Oswald, Kunst, S. 129–138, bes. S. 134. 150 Isolde erweist sich ihrem früheren Lehrer auch in ihren Listen immer mehr als ebenbürtig.

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Tristan bereitwillig assistiert, wird die Königin rehabilitiert.151 Noch einmal wendet sich die Stimmung zu Tristans Gunsten: künec unde hof, liut unde lant / die buten im aber êre als ê. / êren dern wart ime nie mê / da ze hove erboten danne dô (16.312–16.315). Obwohl Tristan und Isolde sich bemühen, ihr Ansehen nicht mehr zu verspielen, findet Markes Misstrauen in ihren liebevollen Blicken bald neue Nahrung. Von tiefem Schmerz und Zorn erfüllt, lässt der König die beiden vür den hof in den palas, / dâ al daz hovegesinde was (16.537f.), kommen und bezichtigt Isolde des Ehebruchs. Da sie noch immer nicht von Tristan ablassen wolle, kündige er die Gemeinschaft mit ihnen auf: nemet ein ander an die hant / und rûmet mir hof unde lant. (16.603f.) Mit dieser Verbannung ist die gesellschaftliche Wertschätzung des Paares auf einem neuen Tiefpunkt angelangt: Die Königin und der Kronprinz, den Marke vor seiner Heirat immer um sich haben wollte, werden aus der höfischen Gemeinschaft ausgestoßen. Nachdem Tristan und Isolde einige Zeit in einer Minnegrotte im Wald verbracht haben und dort getrennt schlafend entdeckt worden sind, ändert der König seine Einstellung ein letztes Mal und nimmt sie wieder in Gnaden auf. Auch die Erfahrung der gesellschaftlichen Exklusion führt jedoch nicht zu einer Verhaltensänderung der Liebenden. Markes ständige Zweifel werden zur Gewissheit, als er die beiden in flagranti überrascht. Sofort lässt er den Kronrat und seine Vasallen zusammenrufen, um das Paar des Ehebruchs zu überführen. Tristan, der Markes Anwesenheit bemerkt hat, macht dieses Vorhaben jedoch zunichte. Er weiß genau, dass der König helfe unde geziuge (18.264) holen wird und ihnen bei einer Verurteilung der Tod droht. Um zu verhindern, daz man im von in beiden sâ / reht unde gerihte taete, / alsô daz lantreht haete (18.242–18.244), bleibt Tristan nur die Flucht. Er verabschiedet sich von der Geliebten und verlässt das ihm einst zum Erbe bestimmte Land unehrenhaft, die Strafe des Königs fürchtend. Um sich von seinem Schmerz abzulenken, führt Tristan das Leben eines Flüchtlings. Er zieht in verschiedenen Ländern umher und beteiligt sich an einem Krieg um die römische Krone in Deutschland. Im Gegensatz zu seinen früheren Kämpfen gegen Morgan und Morold tritt Tristan nicht mehr als Retter und Befreier auf, sondern eher als Söldner, der sich unabhängig von Fragen des Rechts um der Kämpfe willen verdingt.152 Nach einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Parmenien, wo er seinen Liebeskummer trotz aller Ablenkung nicht vergessen kann, greift er in den Krieg um Arundel ein. Dort erringt Tristan erneut großen Ruhm, erhält _____________ 151 Zur Problematik des Gottesurteils und dem umstrittenen Erzählerkommentar, vgl. Eckhardt, Lösungsmethoden; Grubmüller, Unwarheit; Kolb, Isoldes Eid; Kucaba, Wahrheiten; Schild, Gottesurteil. 152 Zur Darstellung der Kämpfe insgesamt vgl. Jones, Depiction, bes. S. 45.

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Zugang zu einer höfischen Gesellschaft und lernt eine Frau kennen, deren Namensgleichheit mit seiner Geliebten ihn in Verwirrung stürzt. Im Gedanken an die ferne Isolde macht er der nahen Isolde Avancen und ist zwischen beiden Frauen hin- und hergerissen.153 Als er sich schließlich Isolde Weißhand zuwenden will, bricht Gottfrieds Roman mit Tristans Versuch einer Selbstrechtfertigung ab.154 Handlungsmotive: Minne(-Trank), êre und âventiure Die Bedeutung der Minne kann für Tristans und Isoldes Geschichte nicht hoch genug veranschlagt werden. Schon durch die Umstände seiner Geburt ist Tristan für eine leidenschaftliche und den Tod einschließende Liebesbeziehung prädestiniert. Da er aus großer Liebe in einer Grenzsituation zwischen Tod und Leben gezeugt und geboren wurde, kann die Minne als sîn erbevogetîn (11.765) gelten.155 Die negativen Folgen dieser Empfänglichkeit für die Liebe stellt Anna Keck heraus; Thema der Tristanromane sei „das Schicksal eines von seiner Liebe um das ihm bestimmte Leben gebrachten Helden“.156 Die Liebe zwischen Tristan und Isolde wird von Gottfried differenziert motiviert, wobei er die Bestimmung seiner Hauptfiguren füreinander kompositorisch schon früh vorbereitet. So müsste der beste Held eigentlich mit der schönsten Frau belohnt werden. Dass Isolde nach dem Dra_____________ 153 Vgl. Ries, Erkennen, bes. S. 326–336. 154 Zahlreiche Vorausdeutungen auf den Liebestod der Protagonisten legen nahe, dass Gottfrieds Roman ein Fragment geblieben ist. Zum Forschungsstand vgl. Huber, Gottfried von Straßburg, S. 127f.; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 225–227. – Zumindest das Gerüst der fehlenden Handlung kann aus der Vorlage konstruiert werden: In Thomas’ Version heiratet Tristan Isolde Weißhand, erinnert sich jedoch in der Hochzeitsnacht an sein Treueversprechen gegenüber der blonden Isolde und ist nicht in der Lage, die Ehe zu vollziehen. Um seine Enthaltsamkeit gegenüber seinem Schwager Kaedin zu rechtfertigen, sucht er gemeinsam mit ihm noch einmal heimlich die blonde Isolde auf. Aufgrund von Kaedins Verständnis kann Tristan ihn auch um Hilfe bitten, als er durch einen vergifteten Speer tödlich verwundet worden ist und einzig die blonde Isolde ihn noch zu heilen vermag. Bereitwillig verlässt diese Mann und Land, um zu ihrem Geliebten zu eilen. Die ungünstige Wetterlage, erst Sturm, dann Flaute, verhindert jedoch ihre schnelle Ankunft. Als ihr Schiff das Ziel fast erreicht hat und das verabredete positive Zeichen gut erkennbar ist, täuscht Isolde Weißhand ihren Mann. Aus Zorn über seine Liebe zu einer anderen Frau nennt sie die falsche Farbe des Segels. Im Glauben, die Liebe der blonden Isolde verloren zu haben, stirbt Tristan mit ihrem Namen auf den Lippen. Als Isolde, von bösen Vorahnungen gepeinigt, kurz darauf endlich das Land erreicht, kommt sie zu spät. Von innigem Mitleid erfüllt, legt sie sich nach ihrer Totenklage an die Seite des Geliebten, umarmt ihn und stirbt. 155 Vgl. Steinmetz, Erbeminne, bes. S. 392. 156 Keck, Liebeskonzeption, S. 11.

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chenkampf Marke zugesprochen wird, ist in der Forschung als struktureller Widerspruch bewertet worden; dieser werde durch ihre Liebe zu Tristan aufgehoben und in den richtigen Stand gebracht.157 Der „illegitimen Ehebruchsminne, die aber durch strukturelle Vorbestimmung, Brautwerberrecht und Liebes-Hochzeitstrank eine legitime Minneehe ist,“ stehen nach Hugo Kuhns Ansicht die „legitimen, aber durch ihre personalen Voraussetzungen illegitimen Ehen Isoldens mit Marke und Tristans mit der zweiten Isold“ gegenüber.158 Durch die Figurenzeichnung werden die Ebenbürtigkeit der Partner und ihre innere Disposition füreinander herausgestellt. Isolde weiß ebenso wie Tristan, ihre intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten selbstständig anzuwenden. Nur sie ist in der Lage, die Indizien zusammenzusetzen, den Namen Tantris zu entschlüsseln und den vermeintlichen Spielmann zu enttarnen. Bei der Gerichtsverhandlung wird Tristans und Isoldes Zuordnung zueinander auch visuell in Szene gesetzt. Ihr prachtvolles Auftreten ist analog gestaltet, und beide werden mit Metaphern aus dem Bildbereich der Gestirne beschrieben: Der Sonne Isolde, deren Haarfarbe mit dem Glanz des Goldes ihres Haarreifs wetteifert, entsprechen Tristans golddurchwebtes Gewand und sein Kranz, dessen Edelsteine wie Sterne erstrahlen.159 In mehreren Prolepsen verweist der Erzähler auf die spätere Liebesbeziehung der Hauptfiguren: So wird Isolde bei ihrem ersten Treffen mit Tristan als daz wâre insigel der minne bezeichnet, mit dem sîn herze sider wart / versigelt unde vor verspart (7812–7814). Beim gemeinsamen Aufbruch aus Irland wiederholt sich der Hinweis auf die bevorstehende Entwicklung; die weinende Isolde, sîn unverwânde amîe, / sîn unverwantiu herzenôt (11.488f.), stehe stets an Tristans Seite. Auf der Handlungsebene hält die Liebe jedoch trotz der großen Intimität und des gegenseitigen Interesses erst in der Schiffszene Einzug.160 _____________ 157 Vgl. Huber, Gottfried von Straßburg, S. 82; Schweikle, Zum Minnetrank, bes. S. 144. – Zu höfischen und heroischen Erzählmustern im ‚Tristan‘ vgl. Müller, Höfische Kompromisse, S. 436–438. 158 Kuhn, Tristan, S. 14. Zum Brautwerbungsschema im ‚Tristan‘ vgl. auch Simon, Einführung, S. 111–114. – Strohschneider (Herrschaft, S. 50) weist darauf hin, dass die Protagonistenrolle in Eilharts Roman auf zwei Figuren verteilt ist. Vom Werbungsschema her habe Marke ein Anrecht auf die Braut, wohingegen vom Handlungszusammenhang Tristan die Position als Held und Bräutigam zukomme. Daher gerate Tristan in einen Konflikt zwischen seinen Rollen als Held und Helfer, Werber und Werbungshelfer (ebd., S. 55). – Zur Aufhebung des Erzählmusters vgl. auch Karg, Markefigur, S. 82, 87. 159 Vgl. Gottfried, Tristan, V. 10.875–11.022, 11.080–11.145. Kraß (Geschriebene Kleider, S. 191) zeigt, wie der Erzähler mit Hilfe des vestimentären Codes einen Subtext etabliert. Mit verdeckten poetischen und ästhetischen Strategien mache der Erzähler schon vor der Minnetrankszene deutlich, dass Tristan und Isolde einander verfallen werden. 160 Obwohl Isolde bei Tristans erstem Aufenthalt am irischen Königshof mit ihrer Schönheit und ihrem Gesang alle Anwesenden in ihren Bann zieht, übt sie auf den Protagonisten

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Dies zeigt sich deutlich an Isoldes plötzlichem Gesinnungswandel, der die psychologisierende Interpretation einer unterschwelligen Liebe widerlegt.161 Seit Isolde erkannt hat, dass es sich bei ihrem ehemals geschätzten Lehrer um den Mörder ihres Onkels handelt, ist sie feindlich gesinnt.162 Diese Ablehnung wird durch Isoldes Abschiedsschmerz verstärkt, für den sie Tristan verantwortlich macht: ir sît mir doch unmaere, / wan ich waere âne swaere / und âne sorge, enwaeret ir. (11.579–11.581) Brüsk weist sie seine Tröstungsversuche zurück und erklärt: ich bin iu gehaz (11.575). Während einer kurzen Unterbrechung der beschwerlichen Schifffahrt schlagen Isoldes Gefühle ins Gegenteil um. Auslöser für diesen Wandel ist der Minnetrank, den ihre zauberkundige Mutter für ihre Hochzeitsnacht mit dem König vorbereitet hat. Über die gefährliche Wirkung des Trankes, vor der es jeden Unbeteiligten zu schützen gilt, ist ihre Vertraute Brangäne genau unterrichtet: der tranc der ist von minnen (11.467). Versehentlich gelangt der Trank in Tristans und Isoldes Hände, die gemeinsam vom vermeintlichen Wein trinken. Unmittelbar darauf entfaltet der Trank seine Wirkung: Minne, aller herzen lâgaerîn, […] sleich z’ir beider herzen în. ê sî’s ie wurden gewar, dô stiez s’ir sigevanen dar und zôch si beide in ir gewalt. si wurden ein und einvalt, die zwei und zwîvalt wâren ê. (11.711–11.717)

Durch die Kontrastierung von vorheriger Zwietracht und entstehender Einheit wird die Macht der Minne illustriert, die auch in der Kriegsmetaphorik der Siegesfahne und der machtvollen Unterwerfung Ausdruck findet. Während die Liebe in das Herz des einzelnen gewaltsam-kämpferisch einzieht, wirkt sie sich auf Isoldes Haltung gegenüber Tristan versöhnlichfriedvoll aus: Îsôte haz der was dô hin. diu süenaerinne Minne diu haete ir beider sinne

_____________ keine solche Anziehungskraft aus, dass er seine Rückkehr vergisst (vgl. V. 7935–8158). Isolde wiederum betrachtet den durch den Drachenkampf geschwächten Tristan sehr aufmerksam und mit großem Wohlgefallen. Von Liebe ist jedoch in diesem Zusammenhang keine Rede (V. 9983–10.033). – Vgl. auch die Forschungsberichte bei Huber, Gottfried von Straßburg, S. 83–85; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 200–204. 161 Dass sich keine Anhaltspunkte für eine Liebe vor dem Trank finden, hat Furstner (Beginn der Liebe) gezeigt. In der jüngeren Forschung werden die kompositorischen Motive, mit denen Gottfried die Entstehung der Minne vorbereitet hat, stärker in den Vordergrund gestellt. Vgl. z.B. Closs, Love-Potion; Wessel, Metaphorik, S. 569–585. 162 Nach ihrer Entdeckung ist Isolde versucht, Tristan mit dem Schwert zu töten, bringt dies aber nicht über sich. Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 10.123–10.283.

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von hazze gereinet, mit liebe alsô vereinet (11.720–11.724).

Vergeblich versuchen beide Protagonisten, sich gegen ihre Gefühle zu wehren. der gevangene man / versuohte ez in dem stricke / ofte unde dicke (11.751– 11.753), ohne sich von der Fessel der Liebe befreien zu können (vgl. 11.778–11.784). Stattdessen verstärkt sich die Liebesnot, wie Gottfried mit dem Bild des mit der Leimrute gefangenen Vogels veranschaulicht.163 Je mehr Isolde sich bemüht, dem lîm […] der gespenstegen minne (11.791f.) zu entkommen, umso stärker verfängt sie sich darin. Nachdem beide Figuren ihren Widerstand aufgegeben haben, finden sie in einem dreistufigen Annäherungsprozess zueinander. Zunächst nehmen sie Blickkontakt auf, dann gestehen sie einander ihre Liebe und schließlich vereinigen sie sich körperlich. Die Symptome, an denen sie bis zur Liebeserfüllung leiden, gleichen denen anderer Figuren höfischer Romane.164 Sie werden von innerer Unruhe getrieben (vgl. 11.892–11.900), wechseln häufig ihre Gesichtsfarbe (vgl. 11.903–11.920, 12.068) und leiden unter Appetitlosigkeit (12.069f.), was zu großer körperlicher Schwäche führt. Das Wissen um eine gegenseitige Liebe vermag ihr Leid einerseits zu lindern und macht es ihnen andererseits erst recht bewusst (vgl. 12.029–12.033). Die körperliche Erfüllung bleibt unverzichtbare Bedingung für eine Besserung des krankhaften Zustandes. Thematisch passend übernimmt die Minne, die in verschiedenen Personifikationen auftritt, in der Liebesnacht die Rolle einer Ärztin, die die siechen einander zuführt und in ir, im sîe / ein ander z’arzatîe verabreicht (12.160–12.170).165 Die Macht der Minne wird in vielen Episoden in Szene gesetzt. Schon auf der Schifffahrt können sich Tristan und Isolde der Liebe nicht widersetzen. Obwohl ihnen das Unrecht bewusst ist, treibt sie ihr Verlangen zur körperlichen Vereinigung. Fehlende Nähe führt zu massiven körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen, wie sich nicht nur vor der ersten Liebesnacht, sondern auch bei Markes Trennungsversuchen zeigt (vgl. 14.306–14.347). Ihr blindes Begehren veranlasst beide Protagonisten zu diversen Unvorsichtigkeiten, sei es, dass Tristan sich nicht um seine verräterischen Spuren im Schnee kümmert (vgl. 13.497–13.502), er sich nach dem Aderlass Isolde trotz der entdeckten Falle nähert (vgl. 15.186–15.188) oder sie ihn ungeachtet ihrer engen Überwachung zu sich ruft (vgl. 18.119–18.122). Zugleich gelingt es dem Paar dank seiner Liebe, Hürden zu überwinden. Selbst die entbehrungsreiche Zeit in der Minnegrotte _____________ 163 Zum platonischen Ursprung und zur patristischen Interpretation des Bildes vgl. Huber, Gottfried von Straßburg, S. 50. Zu den Leimmetaphern vgl. auch Wessel, Metaphorik, S. 274–289. 164 Vgl. S. 170, 338f., 417. 165 Zur Minne als Krankheit und Ärztin vgl. auch Wessel, Metaphorik, S. 488–497.

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empfinden Tristan und Isolde als beglückende Erfahrung, da der Mangel an Speise und Gesellschaft durch die Liebe kompensiert wird (vgl. 16.807–16.908). Inwiefern der Minnetrank die eigentliche Ursache für die Entstehung der Liebe darstellt, wird in der Literatur intensiv diskutiert. Zwei konträre Auffassungen stehen sich dabei gegenüber: Einige Interpreten gestehen dem Trank eine magisch-mechanische Funktion zu, andere verstehen ihn als einen symbolischen Wert oder ein strukturelles Merkmal.166 Ein Forschungskonsens besteht zumindest darin, dass dem Minnetrank in Gottfrieds Roman eine geringere Bedeutung als in anderen Tristanversionen zugeschrieben wird.167 So stellt Eilhart die verderbliche Wirkung des Tranks explizit heraus und nimmt ihn wiederholt in Anspruch, um unvernünftige oder unsittliche Verhaltensweisen zu motivieren.168 Der Minnetrank gilt bei ihm als die Ursache für Tristrants schlimmste Verfehlung, in Markes Hochzeitsnacht mit Isalde zu schlafen (vgl. 2960–2967), und für die groß tumphait, in eine erkannte Falle zu tappen (vgl. 4044–4088). Obgleich auch Eilhart die Magie des Tranks reduziert, indem er ihm eine zeitlich begrenzte Gültigkeit zuschreibt und die Liebe anschließend fortdauern lässt, wird die von ihm ausgeübte Gewalt klar vor Augen geführt.169 Als Tristrant kurzzeitig von Isalde getrennt wird, meint er, vor Schmerz sterben zu müssen (vor laid möcht er sin gestorben, 3406), und auch Isalde wird von Qualen überwältigt (vgl. 3410f.). daß dise zwaÿ nit sterben (3421), hängt einzig mit ihrem Wiedersehen zusammen. Schon die Aussicht darauf bewirkt eine Besserung ihres Krankheitszustands (vgl. 3482f.). Besonders eklatant zeigt sich der Widerspruch zwischen den Wünschen der Protagonisten und ihrer Ohnmacht gegenüber dem Trank in Eilharts Waldszene, die mit Gottfrieds idealisierter und allegorisierter Minnegrotte nichts gemeinsam hat.170 Nach mehr als zwei Jahren in der Wild_____________ 166 Mit dem Hinweis auf die anerkannte Wirkung von Liebeszauber im Mittelalter stärkt Ehrismann (Isolde, bes. S. 282–284) die erste Position, wohingegen Schnell (Causa amoris, S. 325–344, bes. S. 343f.) die inneren Vorgänge in den Mittelpunkt stellt. Er deutet den Zeitpunkt des Trinkens als den Moment, in dem die Liebe dem Herzen der Protagonisten entspringt. Als einen „Strukturanzeiger“, der „etwas, was vorher schon da war“, zur Darstellung bringt, versteht Simon (Einführung, S. 111) den Minnetrank. 167 Vgl. die Forschungsberichte bei Johnson, Drink; Krohn, Kommentar, S. 113–116. 168 Zur „Entlastungsfunktion“ des Minnetranks bei Eilhart vgl. Mikasch-Köthner, Zur Konzeption, S. 22, 52. Vgl. auch Müller, Destruktion, S. 24–26. 169 Vgl. auch Buschinger/Spiewok, Einleitung, S. XIX; Johnson, Drink, S. 96; Keck, Liebeskonzeption, S. 94. Zu den folgenden Zitaten vgl. Eilhart von Oberg, Tristrant. 170 Für die allegorisch-symbolische Auslegung der Minnegrotte ist Rankes Studie (Allegorie) einschlägig. Nach seiner Deutung erscheinen die Protagonisten in dieser Episode „als Diener im Tempel der Minne, verklärt durch den Schimmer des Heiligen“. Durch die Verherrlichung der Liebe, die eine Steigerung in die „Sphären religiöser Andacht“ erfahre,

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nis sind ihre Kleider zerschlissen und hat ihnen der Frost so zugesetzt, dass sie nach Einschätzung des Erzählers eigentlich hätten sterben müssen (vgl. 4760–4763). Dennoch erscheint ihnen der entbehrungsreiche Aufenthalt im Wald erst unerträglich, als die vierjährige Wirksamkeit des Tranks nachlässt: sie en mochten ainen tag so bald / der arbait nicht mer liden (4948f.).171 Am Ende des Romans wird dieses Motiv erneut aufgegriffen und die Bedeutung des Tranks für Tristrants und Isaldes Liebestod gleich mehrfach herausgestellt: Erst jetzt erfährt Marke, dass eß het gemacht ain tranck, / daß sie avun iren danck / sich minten so ser (9698f.). Diese Erklärung macht sich der König zu eigen und bedauert zutiefst seine Unkenntnis, daß sie eß hetten getruncken so / den unsäligen getranck (9714f.).172 Der Erzähler schließt sich dieser Deutung an und bestätigt im Epilog die Rolle des Minnetranks als kausales Element: für wavr hort ich daß sprechen –, / […] / daß macht deß tranckß krafft so. (9745–9747) Gottfried erwähnt den Minnetrank dagegen nur in der Episode, in der er seine Folgen an Isoldes und Tristans Gefühlswandel inszeniert. Seine Wirkung ist verbunden mit dem Auftreten der Minne, aller herzen lâgaerîn (11.711), diu süenaerinne (11.721), verwaerinne (11.908), arzatîn (12.162), strickaerinne (12.176), die den mechanischen Zauber durch ihr personales Handeln ergänzt. Schon an dieser Stelle wird der Trank auf der Erzählebene von der personifizierten Minne abgelöst und ersetzt. Auch die verhängnisvolle Abhängigkeit, die den Willen der Betroffenen verkehren kann, korrigiert Gottfried durch Tristans freiwillige Zustimmung.173 Als Brangäne beide über die verderbliche Wirkung des Tranks informiert, bejaht Tristan freudig die erlebte Liebe und das wie immer geartete gemeinsame Schicksal: ez waere tôt oder leben: ez hât mir sanfte vergeben. ine weiz, wie jener werden sol; dirre tôt der tuot mir wol. solte diu wunneclîche Îsôt

_____________ werde Tristans und Isoldes Beziehung als eine „Liebesreligion“ präsentiert (ebd., S. 16). Vgl. auch Huber, Gottfried von Straßburg, S. 104–111 (mit weiteren Literaturhinweisen). 171 Auch die Auflage seines Beichtvaters, auf die fraislichen grovssen súnd (vgl. 4925) des Ehebruchs zu verzichten, kann Tristrant vorher nicht erfüllen: Ysalden er nicht vermait / von der minn gezwang. (4934f.) 172 Marke lässt Tristrant und Isalde deshalb gemeinsam bestatten, wodurch eine postmortale Vereinigung der Liebenden in Aussicht gestellt wird. Dass ein Wein- und ein Rosenstock auf ihrem Grab zusammenwachsen, kann als Symbol einer den Tod überdauernden Liebe gedeutet werden: die wovchsen ze samen eben, / daß man sie mit kainen dingen / moht von ain ander bringen (9742–9744). Bollinger (Das Tragische, S. 71) sieht darin „eine gewisse Milderung des Tragischen ins Elegische und Poetische“. Bei Thomas fehlt hingegen dieser „verklärende“ Ausblick (vgl. Huber, Gottfried von Straßburg, S. 23). 173 Vgl. v.a. Fromm, Gottfried von Straßburg, S. 213.

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iemer alsus sî mîn tôt, sô wolte ich gerne werben umbe ein êweclîchez sterben. (12.495–12.502)

Daher ist es stimmig, dass Gottfried an keiner weiteren Stelle auf den Minnetrank rekurriert.174 Statt die moralisch heiklen Handlungsweisen der Protagonisten mit dem unheilvollen Einfluss des Tranks zu legitimieren, stellt er ihre Treue und Beständigkeit heraus. Die gegenseitige Liebe ist die oberste Norm, nach der sich Tristan und Isolde richten. Ihr Leben nach diesem Ideal entschuldigt das, was der Erzähler nach dem Urteil der moralitêit tadeln könnte.175 Ob Gottfrieds Tristan seine Isolde an den Trank erinnern würde, wenn er sie darum bitten müsste, alles aufzugeben und ihn zu heilen, ist nicht zu beantworten. Bei Thomas beruft der Protagonist sich jedenfalls auf den Trank, um ihre Schicksalsgemeinschaft zu beschwören: Dites li qu’ore li suvenge […] Del beivre qu’ensemble beümes En la mer quant suppris en fumes. El beivre fud la nostre mort, Nus n’en avrum ja mais confort; A tel ure duné nus fu Nostre mort i avum beü.176

Tristan macht den Liebestrank hier jedoch weniger verantwortlich für den leiblichen Tod, der ihm noch bevorsteht, als für den sozialen, den er bereits erlitten hat. De mes dolurs li deit membrer / Que suffert ai pur li amer,177 bittet er und ruft den Verlust der Wertschätzung seines Onkels und seine beschämende Verbannung in Erinnerung: Tant ai suffert peine e travail / Qu’a peine vif e petit vail.178 Auch bei Thomas stellt der Trank die „Initialzündung“179 der Liebe dar, die Tristans sozialen Status vernichtet hat. Dennoch ist die Liebe das verbindende Element zwischen Tristan und Isolde. So genügt es, dass Tristans Bote Kaedin, der ansonsten auf eine treue _____________ 174 Vgl. auch Huber, Gottfried von Straßburg, S. 81. 175 Dazu zählen der Ehebruch, der Betrug am König, der Mordversuch an Brangäne und der manipulierte Eid. 176 Thomas, Tristan, V. 2486–2498. Übers. v. Bonath: „Sagt ihr, daß sie sich jetzt erinnern solle / […] / an den Trank, den wir zusammen tranken / auf dem Meer, als wir dadurch überwältigt wurden. / In dem Trank war unser Tod, / niemals werden wir dagegen einen Trost haben; / zu einer schlimmen Stunde wurde er uns gegeben: / Unseren Tod haben wir da getrunken.“ 177 Thomas, Tristan. V. 2499f. Übers. v. Bonath: „An meine Schmerzen soll sie sich erinnern, / die ich erlitten habe, weil ich sie liebte.“ 178 Thomas, Tristan, V. 2505f. Übers. v. Bonath: „Soviel Qual und Mühsal habe ich erlitten, / daß ich kaum noch lebe und [nur noch] wenig wert bin.“ 179 Huber, Gottfried von Straßburg, S. 81.

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Wiedergabe seiner Worte achtet, sich gegenüber Isolde auf die Treue und Liebe, die gemeinsamen Qualen und Schmerzen beruft, ohne den Trank zu erwähnen. Isoldes Sterbemonolog birgt jedoch eine weitere Reminiszenz an das liebesauslösende Motiv: Quant jo a tens venir n’i poi / […] / De meisme beivre avrai confort.180 Damit bestätigt Isolde die Rolle des Tranks als Ursache ihrer Liebe und ihres Todes. Nachdem Tristan an seinem Liebesleid gestorben ist, tötet der gleiche Trank auch Isolde. Gegen eine Priorität des Minnetranks sprechen in Gottfrieds Version nicht nur die Bedeutung der personifizierten Minne in der zentralen Szene und die fehlenden Referenzen im weiteren Handlungsverlauf. Noch bevor Tristan und Isolde einander ihre Liebe gestanden haben, unterscheidet der Erzähler zwischen Impuls und Entwicklung. Er erklärt es zum Gesetz der Liebe, wachsen zu müssen. Erfolge keine Zunahme, dann bleibe der gesetzte Anfang folgenlos: diuhte minne sît als ê, / sô zegienge schiere minnen ê. (11.873f.) Bezogen auf die konkrete Situation von Tristan und Isolde bedeutet dies, dass der Moment des Sichverliebens allein keine Konsequenzen für ihr Leben hätte, wenn die beiden der Liebe keinen Raum zur Entfaltung böten. Somit bestätigt dieser allgemeine Erzählerkommentar, was die anderen Anhaltspunkte nahelegen: Die Minne, nicht der sie auslösende Trank, ist das dominierende Handlungsmotiv in Gottfrieds Roman. Trotz der Macht, die die Minne auf Tristan und Isolde ausübt, überantworten sie sich ihr nicht vollständig. Die Option eines glücklichen Lebens in ungestörter Zweisamkeit, die an einzelnen Stellen greifbar scheint, wird von den Protagonisten nicht genutzt. Anders als sein Vater Riwalin flieht Tristan nicht mit seiner Geliebten, sondern setzt er die Schifffahrt fort und lässt sie die Ehe wie geplant vollziehen. Nachdem Tristan Isolde aus Gandins Händen befreit hat, bringt er sie dem König zurück, der seinen rechtmäßigen Anspruch eigentlich verspielt hat. Auch nutzen Tristan und Isolde die erste Gelegenheit, die Minnegrotte zu verlassen und an Markes Hof zurückzukehren. Schließlich verzichtet Tristan sogar bei der endgültigen Trennung auf Isoldes Begleitung. Eine Erklärung für dieses vor dem Herrschaftsanspruch der Minne merkwürdige Verhalten bietet das Streben nach Ehre, das Tristans Leben vor dem Beginn seiner Liebe bestimmt hat. Der erfolgreiche Aufstieg am englischen Königshof ist das Ergebnis der Anerkennung, die Tristan dank seiner Fertigkeiten findet. Der Wunsch, größere Ehre zu erwerben, beeinflusst seine Entscheidung, nicht in Parmenien zu bleiben und nach Cornwall zurückzukehren. Während Markes Landbarone hinsichtlich ihrer Pflicht, ihr Reich zu ahpaeren unde hêren / und an den êren mêren (6073f.), _____________ 180 Thomas, Tristan, V. 3107–3110. Übers. v. Bonath: „Da ich nicht rechtzeitig dorthin kommen konnte / […], / werde ich Trost haben durch den gleichen Trank.“

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schmählich versagen, setzt Tristan im Kampf gegen Morolt sein Leben dafür ein. So gelten auch seine Gedanken, als er von der Liebe zu Isolde ergriffen wird, gleich dem befürchteten Ehrverlust: swenne er ir under ougen sach, und ime diu süeze Minne sîn herze und sîn sinne mit ir begunde sêren, sô gedâhte er ie der Êren, diu nam in danne dar van. (11.758–11.763)

Während Isolde in einen Gewissenskonflikt zwischen mädchenhafter Scham und Liebesverlangen gestürzt wird (vgl. 11.820–11.830), plagt Tristan der Zwiespalt zwischen seinem Ehr- und seinem Liebesgefühl: in muoten harte sêre / sîn triuwe und sîn êre / so muote in aber diu Minne mê (11.767– 11.769). Nach langem Zweifeln erweist sich die Liebe bei beiden als das stärkere Element. Die drohende Ehrlosigkeit wird vor dem Geschlechtsakt noch einmal thematisiert, als Brangäne die Liebenden warnt: lât diz laster under uns drîn / verswigen unde beliben sîn. / breitet ir’z iht mêre, / ez gât an iuwer êre. (12.143–12.146)181 Eine führende Rolle übernimmt Tristans Ehrgefühl erst wieder bei der Ankunft in Cornwall. Während die Protagonisten noch die Freuden der Liebe bei der Überfahrt genießen, schmerzt sie schon die Sorge um ihr Ansehen, das durch die Entdeckung von Isoldes verlorener Jungfräulichkeit unwiederbringlich zerstört werden wird (diu vorhte ir beider êren / diu begunde ir herze sêren. 12.421f.). Zwar lässt sich diese Angst durch Brangänes Bereitschaft beseitigen, in der Hochzeitsnacht den Platz der Braut einzunehmen, doch schmerzt es die Liebenden, dass Isolde einen anderen Mann heiraten soll. In dieser Situation wird Tristans Konflikt, in dem er sich bei der Entstehung der Liebe befunden hat, wieder virulent, aber seine Entscheidung fällt diesmal anders aus: swie wol Tristande taete daz leben, daz er haete, sîn êre zôch in doch dervan. sîn triuwe lac im allez an, daz er ir wol gedaehte und Marke sîn wîp braehte. die beide, triuwe und êre,

_____________ 181 Mit seiner unerlaubten Liebe wiederholt Tristan das Verhalten seines Vaters Riwalin. Die Vorgeschichte fungiert dabei auch im Hinblick auf den Ehrkonflikt als eine Präfiguration der Hauptgeschichte. Von Marke ehrenvoll aufgenommen, bringt Riwalin Schande über die Königsfamilie, die durch Blanscheflurs Schwangerschaft öffentlich zu werden droht. Die Lösung dieser Situation stellt einen – im Roman nicht problematisierten – neuen Affront gegen das Königshaus dar: Riwalin entführt die Schwester des Königs mit ihrem Einverständnis. Wenngleich Tristan einen solchen Eklat vermeidet, sind sich er und Isolde des Risikos sozialer Ächtung ebenso bewusst wie Riwalin und Blanscheflur.

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die twungen im sêre sîn herze und sîne sinne. die dâ vor an der minne wâren worden sigelôs, dô er die minne vür si kôs. die selben sigelôsen zwô die gesigeten an der minne dô. (12.513–12.526)

Tristans Ehrgefühl widerstrebt es jedoch nicht, die Beziehung zu Isolde am Hof fortzusetzen. Solange ihr Verhältnis geheim bleibt, scheinen Liebe und Ehre vereinbar, und Tristan findet als Isoldes Retter sogar besondere Anerkennung (Tristandes lob und êre / diu bluoten aber dô mêre / ze hove und in dem lande. 13.451–13.453). Als ihre Liebe entdeckt wird, ist auch die Ehre des Königs bedroht. Mit immer neuen Beschuldigungen, die er weder auf dem Konzil noch im Kronrat beweisen kann, gerät Marke zunehmend in Verruf. Tristan und Isolde gelingt es hingegen mehrfach, ihr Ansehen wiederherzustellen.182 In den Liebesepisoden am Hof ist die Alternanz von Entdeckung und Verdeckung stets mit dem drohenden Verlust und der erneuten Bestätigung von Ehre verbunden. der hof was aber ir êren vol. / ir beider lobes enwart niemê (16.406f.), berichtet der Erzähler, nachdem Isolde das Gottesurteil bestanden hat.183 Sogar in der Minnegrotte bleibt das Bedürfnis nach Ehre präsent. Weder Sorgen um Nahrung noch die fehlende Gesellschaft quälen Tristan und Isolde: swaz ieman kunde ertrahten, / ze wunschelebene gahten / in allen landen anderswâ, / daz haeten s’allez bî in dâ. (16.871–16.874) Bei dieser paradiesischen Lebensführung ist der einzige Mangel umso bemerkenswerter: sine haeten umbe ein bezzer leben / niht eine bône gegeben / wan eine umbe ir êre. (16.875–16.877) Auf dieses Motiv rekurriert der Erzähler, wenn er von Tristans und Isoldes Reaktion berichtet, als sie an den Hof zurückkehren dürfen: daz dûhte die gelieben guot / und wurden in ir herzen vrô (17.694f.).184 Dennoch bleibt die freiwillige Preisgabe der Minneidylle so legitimierungsbedürftig, dass eine höhere Instanz zur Begründung hinzugezogen werden muss: durch got und durch ir êre / dan durch iht anders, daz ie wart (17.698f.), verzichteten Tristan und Isolde auf ihre Liebesfreuden. Ebenso wenig wie die Protagonisten die Option eines gemeinsamen Lebens fern des Königshofes zuvor ernsthaft erwogen haben, ziehen sie _____________ 182 Vgl. auch Gerok-Reiter, Umcodierung, S. 374–377. 183 Zugleich unterscheidet er zwischen wahrhafter und äußerlicher Ehre, die Tristans Feinde ihm erweisen (vgl. 16.314–16.332). 184 Die Natur allein könne die Kategorie ‚Ehre‘ nicht einbringen, argumentiert Huber (Gottfried von Straßburg, S. 101). Vgl. auch Ridder, Liebestod, S. 309. – Müller (Gottfried von Straßburg, S. 228) stellt heraus, dass Tristan und Isolde ihre Verbindung zum Hof nie aufgeben und ihr Leben in der Grotte an die Vorgaben der Adelskultur gebunden bleibt: „Sie führen ein höfisches Leben ohne Hof.“

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dies bei Tristans endgültigem Aufbruch in Betracht. Die Sorge um ihre Ehre spielt beim Abschied der Liebenden freilich keine Rolle mehr.185 Das Streben nach öffentlicher Anerkennung verliert jede Bedeutung, als Tristan und Isolde sich von dem trennen müssen, was bisher den Sinn ihres Lebens ausgemacht hat. Zwar stürzt sich Tristan in zahlreiche Abenteuer, die ihm großen Ruhm einbringen, doch werden diese vom Erzähler bewusst ausgespart (gelückes unde linge / an manlîchem dinge / und âventiure erwarp er vil, / der ich aller niht gewehenen wil. 18.455–18.457). Ehre ohne Liebe erscheint nicht berichtenswert und bleibt für das Leben des Helden folgenlos. Somit überlagern sich in Gottfrieds ‚Tristan‘ zwar verschiedene handlungsauslösende Faktoren, die in ihrer Gesamtheit in eine Katastrophe münden. Dennoch sind Minne und Ehre in ihrer Bedeutung klar gewichtet und kann von einer Gleichwertigkeit keine Rede sein.186 Neben den inneren Bestrebungen, die das Handeln der Protagonisten bestimmen, wird in der Forschungsliteratur auch die Relevanz äußerer „T r i e b k r ä f t e d e s G e s c h e h e n s “187 herausgestellt. Während der christliche Gott auf der Handlungsebene kaum in Erscheinung tritt,188 spielt der Zufall nach Ansicht mehrerer Interpreten eine entscheidende Rolle.189 Auf seine Bedeutung hat Walter Haug aufmerksam gemacht, der die Verwendung des Leitworts âventiure untersucht.190 Dieser Begriff findet sich in Gottfrieds Werk insgesamt fast fünfzig Mal, wobei das gesamte Bedeutungsspektrum, von günstigem oder traurigem Ereignis, wunderbarer und merkwürdiger Begebenheit, Wagnis und Abenteuer über Zufall und Schicksal bis hin zu Geschichte und Quelle höfischer Dichtung, abgedeckt wird.191 Werden allein die Stellenbelege beachtet, denen ein handlungsbewegendes Moment innewohnt, reduziert sich diese Auswahl. Als _____________ 185 Tomaseks Auffassung (Gottfried von Straßburg, S. 210), Tristan und Isolde hielten immer an ihrem Ansehen als Zentralaspekt ihres höfischen Selbstverständnisses fest, trifft hier nicht mehr zu. 186 Eine andere Auffassung vertritt Maurer, Leid, S. 235–239. 187 Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 175. 188 Vgl. auch Haferland, Gottfrieds Erzählprogramm, S. 251; Harris, God; Meissburger, Funktion Gottes; Schröder, Text, S. 63; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 175; Witteck, Welt, S. 80–95. 189 Vgl. von Ertzdorff, Liebe, S. 96; Köhler, Literarischer Zufall, S. 30; Worstbrock, Zufall. 190 Vgl. Haug, Aventiure. In einem späteren Aufsatz verallgemeinert Haug seine Überlegung zur Funktion des Zufalls im höfischen Liebesroman, vgl. ders., Eros und Fortuna. 191 Vgl. V. 921, 1609, 2000, 4342 (Begebenheit), V. 3269, 3271, 17.070 (Glück), 14.380, 17.057, 18.934 (günstiges Ereignis), V. 16.664 (trauriges Ereignis), V. 7521, 7637, 15.874, 17.462f. (Wunder), V. 11.633, 18.418 (merkwürdige Angelegenheit), V. 8713, 8959, 9157, 9235, 17.286, 18.457 (Wagnis), V. 737, 2150, 2219, 5310, 8654, 8656, 9313, 16.686, 17.433, 19.077 (Zufall), V. 2422, 6158 (Schicksal), V. 15.790, 15.851 (Lebensumstände), V. 151, 166, 248, 321, 344, 3093, 4187, 4274, 4627, 17.226 (Geschichte, Erzählung), V. 329 (Quelle höfischer Dichtung).

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vom Zufall gelenkt, werden verschiedene Ereignisse vor Tristans Geburt und in seiner Kindheit dargestellt: Dô kam es von âventiure alsô, lautet die Erklärung des Erzählers, als sich Blanscheflur und Riwalin kennenlernen, das Handelsschiff in Parmenien eintrifft und Tristan auf diesem Schiff ein Schachbrett erblickt (vgl. 737, 2150, 2219). Von âventiure geschieht es ebenfalls, dass er von der Bedrohung durch Morgan hört, die Minnegrotte entdeckt und darin von Markes Jäger erspäht wird (vgl. 5310, 16.686, 17.433). Nur an zwei Stellen verdichtet sich das auf der Erzählebene neutral präsentierte Moment des Zufalls zu der an die Figurenperspektive gebundenen, übergeordneten Instanz des Schicksals. Diesem stellen sich die norwegischen Kaufleute anheim, als sie nach Tristans Entführung in einen schweren Seesturm geraten: si haeten sich mitalle ergeben / an die vil armen stiure, / diu dâ heizet âventiure. (2420–2422) Ebenso überantwortet Tristan sein Wohlergehen dem Schicksal, bevor er in den Kampf gegen Morold zieht: sô wil ich / mîne jugent und mîn leben / durch got an âventiure geben (6156– 6258). Wie die Kaufleute befindet sich Tristan in einer Situation, in der sein Leben auf dem Spiel steht. Der Verweis auf das Schicksal offenbart in diesem Zusammenhang weniger ein fatalistisches Verständnis der eigenen Lebensgeschichte, sondern dient der Überwindung der Angst in einer lebensbedrohlichen Situation; der befürchtete oder erhoffte Ausgang wird bereits als gesetzt angenommen. Als charakteristisch für das Wesen des Zufalls sieht Haug das Bild der Bärenfalle an, das Gottfried in der Vorgeschichte verwendet (vgl. 284– 286). Wie der Bär durch dauernde Hammerschläge betäubt werde, statt zum Honig zu gelangen, träten im ‚Tristan‘ innerer Antrieb und äußere Einwirkung auseinander.192 Dieses verderbenbringende Handlungsgesetz trifft jedoch auf das Romangeschehen nur sehr bedingt zu. In keiner der angeführten Stellen wird ein Widerspruch zwischen einer äußeren Macht des Zufalls und den inneren Bestrebungen des Protagonisten inszeniert. Vielmehr kann ein drohender Schicksalsschlag durch geschicktes Verhalten kompensiert werden, wie sich bei der gefährlichen Brautwerbung um Isolde zeigt: in müese einez under zwein / bringen umbe ir leben vrist: / âventiure oder list. (8650–8654) Wenn entweder der Zufall oder Tristans Klugheit eine Rettung aus der ausweglosen Situation herbeiführen können, dann sind beide in ihrer Wirkmacht gleichgeordnet. Auffälligerweise wird der Begriff âventiure zwar zahlreiche Male im ‚Tristanroman‘ verwendet, doch bleibt die Liebesbeziehung weiträumig ausgespart. In keiner der für die Liebesgeschichte zentralen Szenen wird _____________ 192 Vgl. Haug, Aventiure, S. 561–564. Vgl. auch Huber, Gottfried von Straßburg, S. 47–49; Krohn, Kommentar, S. 26; Schausten, Erzählwelten, S. 159.

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das Handlungsgeschehen durch âventiure motiviert.193 Zu Recht weist Franz Josef Worstbrock darauf hin, dass der Terminus „nur einen kleineren Teil der Zufälle und keineswegs die bedeutenderen, im übrigen stets nur den partikulären Zufall“ beschreibe. Im Bemühen, „das komplexe Gespinst“ des Zufalls zu erfassen, entwickelt er Haugs Ansatz weiter.194 Statt eine semantische Untersuchung vorzunehmen, beschäftigt sich Worstbrock mit Zufallskonstellationen, die die Handlung entscheidend vorantreiben. Ohne die Ruhepause bei der Schifffahrt, die Brangänes Abwesenheit erklärt und die Verwechslung mit dem Wein ermöglicht, hätten Tristan und Isolde den Minnetrank nicht zu sich genommen.195 Marjodo wiederum hätte die Liebesbeziehung nicht entdeckt, wenn er nicht von einem Eber im königlichen Bett geträumt und Tristan keine Spuren im Schnee hinterlassen hätte, der helle Mond diese nicht bescheinen würde und Brangäne die Tür zum Schlafgemach verschlossen hätte.196 Das Zusammentreffen so vieler Faktoren wird vom Erzähler als eine Verstrickung ungünstiger Umstände gedeutet: dô haete im misselinge / ir stricke, ir melde, ir arbeit / an den selben pfat geleit (13.492–13.494). Eine ähnliche Konstellation liegt am Ende von Thomas’ Roman vor: Zunächst treibt ein plötzlicher Sturm Isolde vom Land ab, dann verhindert eine Flaute ihre schnelle Rückkehr und schließlich kann Isolde Weißhand Tristan nur deswegen belügen, weil sie sein Gespräch mit Kaedin belauscht hat. Aufgrund dieser Beobachtungen gelangt Worstbrock zu der Folgerung, dass Zufälle integrale und bedingende Momente aller Phasen der Handlung seien. Anknüpfend an Boethius versteht er den Zufall als ein Ereignis, das aus einer Handlung infolge einer unbekannten Verknüpfung von Umständen hervorgehe, ohne dass der Handelnde dies beabsichtigte oder überhaupt ahnen konnte. Als übergeordnetes Modell macht Worst_____________ 193 Bei Thomas allerdings kündigt der Erzähler Isoldes ersten, fehlgeschlagenen Landungsversuch mit den Worten an: Oiez pituse desturbance, / Aventure mult doleruse / E a trestuz amanz pituse. Übers. v. Bonath: „[Jetzt] hört ein erbarmungswürdiges Unglück, / ein sehr schmerzliches / und alle Liebenden erbarmendes Geschick.“ (2854–2856) – Durch diesen Kommentar wird die Bedeutung der aventure exponiert, die sich sowohl auf das plötzlich eintretende Ereignis (Zufall) als auch auf die Ereignisfolgen für die Betroffenen (Schicksal, Geschick) bezieht. Isolde greift diesen Begriff in ihrer Totenklage auf, verschiebt jedoch den Akzent. Nicht nur die Umstände, die zu Tristans Tod führten, sondern alle freud- und leidvollen Liebeserfahrungen bezeichnet sie als nostre aventure. Vgl. Thomas, Tristan, V. 3099–3102: Plainte eüsse nostre aventure, / Nostre joie, nostre emveisure, / E la paine e la grant dolur / Qui ad esté en nostre amur […]. „Beklagt hätte ich unser Geschick, / unsere Freude, unser Glücklichsein / und das Leiden und den großen Schmerz, / die in unserer Liebe gewesen sind, / […].“ 194 Vgl. Worstbrock, Zufall, S. 230. Auch Schröder (Von Tristande, S. 325) kritisiert Haugs These. Eine leitmotivische Funktion komme der Formel von âventiure keineswegs zu, da sie vorzugsweise an relativ unbedeutenden Stationen von Tristans Lebensweg begegne. 195 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 11.654–11.656, 11.667–11.671. 196 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 13.485–13.572.

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brock das Rad der Fortuna ausfindig, dem Tristans Minnevita in ihren Stationen Annährung, Vereinigung, Trennung, Tod bzw. Aufstieg, Verweilen auf der Höhe, Abstieg, Ende entspreche. Die Frage nach der Ursache dieser Entwicklung kann so allerdings kaum überzeugend beantwortet werden.197 Während Worstbrock seiner Deutung ein allgemeinmenschliches Lebensmodell des Mittelalters zugrunde legt, lehnt er die damit verbundene Konsequenz einer lenkenden Macht ab. Tristans Liebesvita werde nicht etwa von Fortuna bestimmt, sondern sei nur in ihrer Verlaufsform eine fortunagleiche.198 Zu fragen bleibt, inwiefern auf diese Weise die spezifische Motivation des Unglücks jenseits einer kreatürlichen Bestimmung zum Tod erfasst wird. Für die Bedeutung des Zufalls insgesamt ist festzuhalten, dass er die Handlung vorantreibt, verschärft oder beschleunigt, nicht aber die Ursache für den unglücklichen Verlauf darstellt. Nur weil zwischen Tristan und Isolde ein unerlaubtes Liebesverhältnis besteht, ist eine Entdeckung möglich, wohingegen alle anderen zufälligen Motive ersetzt werden könnten. Weder der Traum noch der Schnee, der Mond, die offene Tür und nicht einmal Marjodo sind in Gottfrieds Roman konstitutiv für die Handlung. Ebenso stirbt Thomas’ Tristan nicht wegen der ungünstigen Wetterlage oder der Lüge seiner Frau, sondern aufgrund seiner vermeintlich unerfüllten Liebe zu Isolde.199 Der Zufall ist zwar ein notwendiger Auslöser, er ist jedoch kein hinreichender Grund für den Liebestod der Protagonisten. Auch wenn Gottfried innere und äußere Elemente eng verknüpft und auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit des Geschehens erhöht, so bleibt doch die Minne die alles dominierende Handlungsmotivation. Forschungsdiskussion: Tristanminne und Tragikbegriff Die vielfältigen Aussagen zur Tragik des ‚Tristanromans‘ lassen sich aus narratologischer Perspektive systematisieren. Auf die ‚histoire‘ zielen die Forschungspositionen, die ihre Begriffsverwendung an die Wende ins Unglück und das tödliche Ende der Protagonisten knüpfen. So deutet Christoph Huber Isoldes Hochzeit mit Marke, die dem Schema der Brautwer_____________ 197 Zur Kritik vgl. auch Tomasek (Gottfried von Straßburg, S. 183f.). Hübner (Erzählform, S. 267, Anm. 9) bemerkt, dass Worstbrocks Argumentation nahelegt, dem Text „gegen jeden christlichen Horizont die Idee eines abstrakten Schicksals zu unterstellen.“ 198 Vgl. Worstbrock, Zufall, S. 233, 244, Anm. 23. 199 Isolde Weißhand besäße keine Macht über Tristan, wenn dieser nicht das Fernbleiben der blonden Isolde fürchtete und von seinem Unglück lieber hören wollte, als es mit eigenen Augen zu sehen (vgl. Thomas, Tristan, V. 2829–2848). Weil Isolde Weißhand seine inneren Ängste bestätigt und alle Hoffnungen auf eine Vereinigung mit der blonden Isolde zunichte gemacht sind, verliert Tristan seinen Lebenswillen und stirbt.

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bung widerspricht, als „zentralen Bruch in der Tristan-Fabel, der eine märchenhafte Liebesgeschichte zur Tragödie umbiegt.“200 Dagegen bezieht sich Waltraut Fritsch-Rößler auf die stoffliche Vorgabe vom gemeinsamen Tod der Protagonisten, wobei sie tragisch und tödlich synonym gebraucht: „Aufhören kann die Liebe zwischen diesem Paar nicht, weil sie per traditionem und alsbald folglich per definitionem eine tragisch endende, tödlich verlaufende Liebe ist.“201 Genaueren Aufschluss über die charakteristische Form des Tragischen in Gottfrieds ‚Tristanroman‘ geben die Forschungsansätze, die die spezifische Motivierung der Erzählung berücksichtigen. Als Handlungsursache rückt eine Liebe in den Mittelpunkt, die als so einzigartig gilt, dass sie mit einem Eigennamen bedacht worden ist. Das Wesen der sogenannten Tristanminne definiert Tomas Tomasek folgendermaßen: „Das Denken und Empfinden zweier Menschen wird durch die Liebe aufs engste in Einklang gebracht, unabhängig von ihrem Willen werden beide zu einer bis in den Tod währenden Einheit zusammengeschlossen, die allen übrigen Bindungen übergeordnet bleibt.“202

Während Tomasek neben der Beidseitigkeit die Unfreiwilligkeit und Absolutheit dieser Liebe hervorhebt, betonen andere Autoren die Unvermeidbarkeit der Katastrophe. „Gemeinsames Leben und gemeinsamer Tod sind schicksalhaft determiniert“,203 formuliert Klaus Ridder, und Franz Josef Worstbrock charakterisiert Tristan und Isolde als „MinneDeterminierte von Anbeginn“.204 In ähnlicher Weise vertreten Xenja von Ertzdorff und Petrus W. Tax die Auffassung einer Vorherbestimmung, die als wesentliches Kriterium für die Verwendung eines Tragikbegriffs dient: „Ihre Geschichte ist eine tragische Geschichte, schon von Anbeginn an zu Trauer und Tod bestimmt, weil Tristan nach Wesen und Namen trotz allen Glanzes und allen Glücks zu Trauer und Tod bestimmt ist“,205 kommentiert von Ertzdorff. Ebenso sieht Tax einen notwendigen Zusammenhang zwischen Tristans Charakterzeichnung und seinem Tod, weshalb er – im Gegensatz zu Isolde – als ein tragischer Held zu betrachten sei: „More importantly, Isolde’s tendency is to restore and unite, Tristan’s to divide and dissolve. On the whole, one can maintain that the Tristan figure is a tragic

_____________ 200 Huber, Gottfried von Straßburg, S. 86. 201 Fritsch-Rößler, Finis Amoris, S. 293. Ähnlich argumentiert Haug (Höfische Liebe, S. 55) mit Blick auf Tristans Tod bei Thomas: „Daß dieser tragische Schluß auch Gottfrieds Zielpunkt gewesen sein muß, ist schwerlich zu bezweifeln.“ 202 Tomasek, Einführung, S. XXIII. Vgl. auch ders., Gottfried von Straßburg, S. 194f. 203 Ridder, Liebestod, S. 307. 204 Worstbrock, Zufall, S. 238. 205 Von Ertzdorff, Ehe, S. 289.

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hero and lover. His predominant character trait, his intellectuality, leads him often, and particularly when confronted with irrational love, into predicaments into which he does not want, or is not prepared, to get. On the basis of his ‚personality‘ […] his downfall at the end […] is well motivated so that his tragic end is consistent and quite unavoidable.“206

Tristans fehlende Möglichkeit, seinem Schicksal zu entgehen, wird in der Literatur auch mit dem Begriff der Fatalität beschrieben. Während Martin Todtenhaupt Gottfried gar ein „fatalistisch resignatives Geschichtsverständnis“ unterstellt,207 spricht Worstbrock von einer „unumkehrbar destruktiven Triebkraft“, die auf Tristan einwirke. Sein Tod werde „möglich und unausweichlich unter ähnlich wirkender Fatalität, wie sie sein ganzes Leben lenkte.“208 Nach Ansicht aller Autoren, die im ‚Tristanroman‘ mit den Kategorien der Determination, Unvermeidbarkeit und Fatalität operieren, spielt die Minne die entscheidende Rolle: Tristan und Isolde sind zu einer Liebe bestimmt, die sie unausweichlich in den Tod führt. Damit tritt die Liebe an die Stelle des Fatums, dem die Protagonisten unterworfen sind.209 „Absolut verstandene Minne kann wesensgerecht nur tragisch gestaltet werden“, argumentiert etwa Walter Haug.210 Den in diesen Interpretationen vorausgesetzten Zusammenhang zwischen einer alle anderen Bindungen in Frage stellenden Liebe, notwendigem Tod und Tragik expliziert Anna Keck: „[E]s spricht, wer von ‚Tristanliebe‘ spricht, von der Erfahrung der Liebe als auswegloser und tragischer Abhängigkeit.“211 Die Annahme einer Determination setzt eine übergeordnete, wenn auch nicht notwendigerweise personale Instanz voraus. Von einem retrospektiven Standpunkt aus erweisen sich alle Handlungselemente, die Tristans und Isoldes Liebestod herbeiführen, als vorherbestimmt. Diese finale Handlungsmotivierung ist nach Worstbrocks Auffassung entscheidend für das Verständnis des ‚Tristanromans‘. Alle Elemente griffen zu einem „stringent finalen Ductus des Geschehens ineinander“, dessen Ziel den Beteiligten gänzlich verborgen sei. Selbst die Handlungsrationalität der Figuren werde instrumentalisiert und gehe mit komplexen Zufällen eine unberechenbare Verbindung ein. Diese erwiesen sich „als eigentliche Reali_____________ 206 Tax, Wounds, S. 231f. Vgl. auch Ganz, Tristan, S. 410: „[…] der tragische Aspekt des Romans […] ist in der Art Tristans und Isoldes immanent.“ 207 Todtenhaupt, Veritas amoris, S. 205. 208 Worstbrock, Zufall, S. 239, 241. 209 Aus Blanscheflurs Anklage der Minne als Urheberin ihrer Liebesqual, bei der sie ihr typische Prädikate der Fortuna zuschreibt, schließt Worstbrock (Zufall, S. 244, Anm. 23): „Minne hat hier die Form der Fortuna angenommen.“ 210 Haug, Eros und Fortuna, S. 53. 211 Keck, Liebeskonzeption, S. 11. – Ähnlich äußert sich Bollinger (Das Tragische, S. 68): „Aus diesem Grundcharakter der Leidenschaft, die über Menschen hereinbricht […], entsteht vor allem die Tragik Tristans […].“

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sierungen des Unausweichlichen, als Momente der gleichen Fatalität“, und bildeten in ihrer Geschlossenheit eine catena fatalis. Mit seiner Deutung der „alles erfassende[n] finale[n] Kausalität“ liefert Worstbrock den durchdachtesten Beitrag zu einem möglichen Tragikkonzept im ‚Tristan‘, ohne je diesen Terminus zu verwenden.212 Die Vorstellung der Unvermeidbarkeit teilt er jedoch mit denjenigen, die die Romanhandlung als tragisch bezeichnen. Nach deren Auffassung besteht die Tragik darin, dass Tristan und Isolde zum Liebestod bestimmt sind, weil sie einer übermächtigen und in ihrer Wirkung fatalen Minne zum Opfer fallen. Auch wenn die Bedeutung der Minne für das Unglück der Protagonisten außer Frage steht, bleibt zu diskutieren, ob hiermit das Charakteristische von Gottfrieds Präsentation des Tristanstoffs erfasst ist. Erschöpft sich sein Tragikkonzept im negativen Einfluss einer äußeren Gewalt? Offensichtlichstes Symbol von fehlender Willensfreiheit und Fatalität ist auf der Handlungsebene der Minnetrank, dessen Bedeutung Gottfried jedoch im Vergleich zu seinen Vorgängern deutlich mindert. Er ergänzt die magisch-mechanische Wirkung des Trankes durch das Gesetz vom notwendigen Wachstum der Liebe. Vor allem aber widerspricht Tristans freiwillige Annahme des gemeinsamen Schicksals, von der allein Gottfried berichtet, einer Deutung, die ihn und Isolde primär als Opfer sieht. Ebenso wie Tristan noch auf der Schifffahrt bereit ist, mit Leben und Tod für seine Liebe einzustehen, richtet Isolde ihr ganzes Sein auf den Geliebten aus: diu getriuwe staete senedaerin, / diu haete ir vröude unde ir leben / sene unde Tristande ergeben. (16.399–16.402) Auffälligerweise klagen Gottfrieds Protagonisten die personifizierte Minne in keiner Szene als eine sie wider Willen überwältigende Macht an.213 Selbst in den Situationen des Zwiespalts, des Verlassenseins und der Verwirrung hadern Tristan und Isolde nicht mit Frau Minne, sondern stets mit den eigenen Gefühlen. Wenn nun der Akzent in Gottfrieds Roman gerade nicht auf der Wehrlosigkeit der Figuren liegt, dann kann sein poetologisches Tragikkonzept nicht allein in der Determination, der Fatalität und der Finalität des Geschehens gründen. Tristans und Isoldes Unglück könnte auch kausal motiviert sein und dem antiken Tragikverständnis entsprechen. Statt einer übergeordneten lenkenden Instanz müsste dann das Fehlverhalten der Figuren in den Vordergrund treten. Eine solche Interpretation einer tragischen Handlung findet sich in der Tristanforschung aufgrund der anders gelagerten Tragikvorstellung der Moderne nicht, wenngleich die Frage nach einer Schuld durchaus thematisiert wird. „Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie“ _____________ 212 Worstbrock, Zufall, S. 235, 244, 237 (nach Reihenfolge der Zitate). 213 In Eilharts ‚Tristrant‘ hält Isalde dagegen einen langen Klagemonolog, in dem sie nacheinander frow Amor (V. 2576), Cupido, der minne got (V. 2579) und frow Minn (V. 2616) um Erbarmen bittet (vgl. V. 2510–2664).

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lautet Walter Haugs pointierte Formulierung, mit der er die beiden möglichen Pole markiert.214 Während die Annahme einer Determination eine schuldhafte Beteiligung weitgehend ausschließt, wird in manchen Studien die Maßlosigkeit der Liebe kritisiert, durch die die Figuren für ihr Unglück selbst verantwortlich seien.215 Bekannt, wenn auch forschungsgeschichtlich überholt, ist Gottfried Webers moralisches Verdikt, der die Liebe des Paares als sinnlich-antireligiös und geradezu dämonisch disqualifiziert.216 Ähnlich wertet Hartmut Heinze das Verhalten der Protagonisten: „Wer lügt und betrügt, gerät in Schande und geht unter: das ist das Lehrstück von Tristan und Isold.“ Seines Erachtens hätten die beiden Hauptfiguren ein ideales Paar sein können, wenn sie nicht die Schranken höfischer zuht und mâze überschritten hätten. „Tristan und Isolde enden in schuldhafter Verstrickung, weil sie maßlos waren“.217 Auch Tomas Tomasek spricht von Versagen und Schuld, die Tristan und Isolde durch einen Verstoß gegen die Vorstellung eines utopischen Idealzustandes der Liebe auf sich geladen hätten.218 Diese Ansätze stützen sich auf eine der umfangreichen Minnereflexionen des Erzählers, den sogenannten huote-Exkurs. Darin wird ein Bild von der Liebe als daz lebende paradîs (18.066) entworfen, wo triuwe unde minne, / êre unde werltlîcher prîs (18.087f.) herrschen. Gilt die dort vertretene Maxime als Maßstab für den ganzen Roman, so genügen Tristan und Isolde dem Anspruch der idealen Minne nicht.219 Zu Recht gibt Bernd Schirok jedoch zu bedenken, dass Handlungs- und Exkursebene nicht bedenkenlos gleichgesetzt werden dürfen.220 Überdies scheinen die Kommentare des Erzählers in ihrer Gesamtheit nicht stimmig, wenn Tristan und Isolde im Prolog als vollkommenes Liebespaar präsentiert werden und im huote-Exkurs eine Distanzierung stattfinden sollte.221 Entscheidend für die Frage nach dem Verhältnis der idealen Paare in Narration und Digression ist folgender Vergleich, in dem der weiblichen Hauptfigur eine imaginäre Frau gegenübergestellt wird. Diese gilt als vorbildlich, weil sie _____________ 214 215 216 217 218

219 220 221

Vgl. Haug, Sexueller Sündenfall. Vgl. auch Keck, Liebeskonzeption, S. 19f. Vgl. Weber, Gottfrieds von Straßburg Tristan, Bd. 1, S. 133–204. Heinze, Glück, S. 84. – Martin Todtenhaupts (Veritas amoris, S. 205, 207) Kritik zielt in dieselbe Richtung: Seines Erachtens scheitern die Protagonisten am Ideal edler Mäßigung. Vgl. Tomasek, Utopie, S. 199–211, bes. S. 200–202. Jacobson (Biblical Typology, S. 574– 577) erkennt hierin einen Gegenentwurf zur biblischen Josephsgeschichte und eine Parallele zur Erzählung vom Sündenfall. Im Gegensatz zu Joseph bestehe Tristan seine Probe nicht; er erliege der Versuchung der sexuellen Leidenschaft und scheitere (ebd., S. 573). Vgl. auch Wisbey, Renovatio Amoris, S. 41f. Vgl. Schirok, Handlung. Vgl. auch die Forschungsberichte bei Huber, Gottfried von Straßburg, S. 117–119; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 172–174. Vgl. Tomasek, Utopie, S. 202f.

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auf sich selbst achtet und sich auch fürsorglich gegenüber ihrem Mann verhält: wie vrîet sî’n vor herzenôt, / sô wol sô nie dekein Îsôt / dekeinen ir Tristanden baz. (18.107–18.109) Das Indefinitpronomen zeigt, dass es nicht um eine negative Beurteilung der Protagonisten geht, sondern diese als Prototypen für im Unglück endende Liebende fungieren. Auf der einen Seite stehen also mit Isolde und Tristan ein senedaere unde ein senedaerîn (128), auf der anderen ein saeliger man (18.091) mit seiner Frau, die sô rehte saelic (18.017) ist. Beide repräsentieren nicht nur unterschiedliche Lebens-, sondern auch Erzählmodelle; der auf Entwicklung angelegten tragischen Liebesgeschichte wird ein statisches paradiesisches (Ehe-)Leben gegenübergestellt. Dem Prolog zufolge ist freilich nur das erste der beiden Modelle würdig, dem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben zu werden.222 Eine dezidierte Kritik an Tristans und Isoldes Verhalten erfolgt hier ebenso wenig wie in den anderen Erzählerkommentaren. Die antiken Tragödienmodelle, die ein Fehlverhalten der Figuren voraussetzen, sind somit nicht geeignet, um Gottfrieds Tragikkonzept zu deuten.223 In den Blick genommen wurde in der Forschung des Weiteren die dilemmatische Situation, in der sich die Hauptfiguren mit ihrer gesellschaftsgefährdenden Liebe befinden. So deutet Friedrich Maurer den Antagonismus zwischen Minne und Ehre als die eigentliche Ursache für das Leid der Protagonisten. Weil Tristan und Isolde ihre Liebe nicht mit den sozialen Ansprüchen vereinbaren könnten, müssten sie notwendigerweise scheitern: „Dieser Konflikt zwischen minne auf der einen und ere und reht auf der anderen Seite bringt das tiefste und schwerste leit in der ständigen Sorge und Angst um den Verlust und die Bewahrung der ere und der minne. Dieser Konflikt führt schließlich unausweichlich in Trennung und in den Tod.“224

Maurers Ansatz, den ‚Tristanroman‘ als einen „Konflikt der Minne mit anderen Werten“225 zu interpretieren, ist von mehreren Interpreten aufgegriffen worden.226 Diese deuten Gottfrieds Leitbegriffe minne und êre als _____________ 222 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 211–229. 223 Gegen eine solche Deutung spricht sich auch Hübner (Erzählform, S. 264–266) aus. Gottfrieds Erzählung könne nur verstehen, wer den Tun-Ergehen-Zusammenhang außer Acht lasse. Auch unter den Bedingungen des Normverstoßes und der Lebenskatastrophe werde an der Liebe als einem positiven Wert festgehalten und kein moralisches Exempel statuiert. 224 Maurer, Leid, S. 232. Ernst (Gottfried von Straßburg, S. 49) betrachtet diesen Konflikt als tragisch. 225 Maurer, Leid, S. 235. 226 Vgl. z.B. Ganz, Einleitung, S. XLIII: „Wenn Minne im einen Brennpunkt des Werks steht, dann bildet êre den zweiten […].“ Worstbrock, Zufall, S. 238: „Der durch den Minnetrank gesetzte Antagonismus von minne und ere treibt zum Konflikt.“ Vgl. auch Gerok-Reiter, Umcodierung; Haferland, Gottfrieds Erzählprogramm, S. 233; Voß, Subjektive und objektive Motivation, S. 329.

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eine grundlegende Opposition zwischen dem „Einzelnen und der Gemeinschaft“,227 zwischen „Individuum und Gesellschaft“,228 „Innennormen und Außennormen“229 oder „love and power“.230 Ein solcher Konflikt zwischen zwei in sich berechtigten sittlichen Mächten, die sich nur in ihrer gegenseitigen Negation behaupten können und deshalb unvermeidlich zur Kollision und Katastrophe führen, ließe sich nach Hegel als genuin tragisch bezeichnen.231 Der ausschlaggebende Beweggrund für das Unglück der Protagonisten ist damit jedoch noch nicht gefunden. Wenngleich das Streben nach öffentlicher Anerkennung Tristans Handeln bestimmt, so ist dieses Motiv doch der Liebe nachgeordnet. Nach der Trennung von Isolde verliert die Ehre für Tristan ihren eigentlichen Sinn und dient nur noch der Ablenkung vom Liebesschmerz. Daher ist Hans-Hugo Steinhoffs Auffassung zuzustimmen, dass das Leid in Gottfrieds Roman „nicht prinzipiell des Zusammenstoßes der Liebenden mit ihrer Umwelt“ bedürfe: Der Widerstreit zwischen minne und êre „ist nicht Ursache des Leids in der Minne, sondern nur eine und nicht die einzige Gelegenheit für die Liebenden, ihre triuwe zueinander und zur […] Minne zu bewähren.“232 Die Frage nach dem Tragikkonzept wird somit zurückverwiesen an die Minne, die als Ursache für Tristans und Isoldes Leid angesehen werden muss.233 Die spezifische Art der Tristanminne als eine bis in den Tod währende, unauflösliche Verbundenheit wird in der Literatur immer wieder hervorgehoben.234 Dabei stimmt das am Beispiel der Dido-Handlung erarbeitete Konzept einer tragischen Liebe in einem entscheidenden Punkt mit der Tristanforschung überein: Als typisch für Gottfrieds Werk werden Mehrdeutigkeiten, Widersprüche, Paradoxien, Ambiguitäten, Dichotomien sowie eine Inhomogenität von Werten und Begriffen angesehen.235 So ver_____________ 227 228 229 230 231 232

233 234

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Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 190. Köhler, Ideal, S. 150–161. Vgl. Schnell, Causa amoris, S. 75; ders., Suche, S. 28–37. Hasty, Tristan. Zur Differenz zwischen der mittelalterlichen Auffassung einer perplexio absoluta und der modernen Vorstellung eines unlösbaren Widerspruchs vgl. S. 310–321. Steinhoff, Gottfried von Straßburg, S. 110f. Vgl. auch Huber, Gottfried von Straßburg, S. 78: „Das Leid kommt nicht erst mit einer feindlichen Gesellschaft ins Spiel, sondern ist in den verworrenen Kämpfen der Seele von den ersten Minneregungen an gegenwärtig.“ Vgl. Steinhoff, Gottfried von Straßburg, S. 110: „Das Leid hat seinen Grund in der Minne selbst“. Vgl. auch Ridder, Liebestod, S. 309. Eine andere Position vertritt Keck (Liebeskonzeption, bes. S. 11, 28–32, 217–219), die sich für einen Verzicht auf den Begriff der Tristanliebe ausspricht und auf Parallelen zu Wolframs und Hartmanns höfischem Liebeskonzept hinweist. Zur Kritik vgl. Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 195; ders., Zur Tristanliebe. Vgl. die Forschungsberichte bei Keck, Liebeskonzeption, S. 18–21; Schnell, Suche, S. 4f., 233–235; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 246f. Vgl. auch Auteri, Dichotomien;

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tritt Walter Haug die These einer „inneren Widersprüchlichkeit“ des Romans, die sich als so radikal erweise, dass sie nicht lösbar scheine.236 Nach Harald Haferlands Auffassung besteht Gottfrieds Erzählprogramm in der Ausarbeitung von Gegensätzen, aus deren Perspektive sich das gesamte Werk deuten lasse.237 Ambivalenz gilt als Schlüsselwort, auf das sich zahlreiche Interpretationen stützen.238 Selbst wenn damit unterschiedliche Aspekte beschrieben werden, so gerät auch die Liebe in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Die Ambivalenzen seien der Tristanminne immanent und stellten sie nicht von außen und nicht grundsätzlich in Frage, argumentiert etwa Christoph Huber.239 In ähnlicher Weise charakterisieren Xenja von Ertzdorff und Ingrid Kasten die Tristanliebe als dialektisch, da in ihr Freude und Leid bzw. Tod und Liebe aufeinander bezogen seien.240 Diese Forschungspositionen zielen auf das Wesentliche von Gottfrieds Tragikkonzept, das nicht nur in der Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit des Leidens besteht. Der deutsche Dichter motiviert das Unglück von Tristan und Isolde zwar final mit der Gewalt der Minne, gestaltet diese aber so differenziert, dass die leidauslösende Ursache in das Innere dieser Macht verlagert wird. Die schon im ‚Eneasroman‘ zu beobachtende Widersprüchlichkeit der Minne fungiert im ‚Tristanroman‘ als Movens der tragischen Handlung, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

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Grubmüller, unwarheit, S. 163; Lanz-Hubmann, Mehrdeutigkeit; Meyer, Ambiguity of Honor. Haug, Erzählung, S. 282. Vgl. auch ders., Eros und Tod, S. 43–46; ders., Sexueller Sündenfall, S. 600. Haferland, Gottfrieds Erzählprogramm, S. 231. Vgl. z.B. Krohn, Kommentar, S. 273: „[…] das den ganzen Roman prägende Prinzip der absichtsvollen Ambivalenz.“ Ridder, Liebestod, S. 311f.: „Diese Momente sind […] nur in einer Ästhetik der Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und Inhomogenität aufzuheben.“ – Zur ambivalenten Struktur des Romans vgl. auch Haferland, Gottfrieds Erzählprogramm, S. 241, 243; Lanz-Hubmann, Mehrdeutigkeit, S. 39–54; Müller, Gottfried von Straßburg, S. 224–231; Zotz, Programmatische Vieldeutigkeit, S. 18f. Vgl. Huber, Spiegelungen, S. 140. Vgl. von Ertzdorff, Die Liebenden, S. 186: „Die Paradoxien dieser dialektischen Liebe, die nach Gottfried Freude und Leiden in sich einschließen muß, weil die Liebenden als zwei Individuen durch ihre Liebe eins geworden sind, diese Einheit aber nicht ehrenvoll in der Gesellschaft leben dürfen, werden vom Erzähler […] mit den Mitteln einer dialektisch geschulten Rhetorik entfaltet.“ Vgl. auch dies., Ehe, S. 272, 276f.; dies., Liebe, S. 88, 93, 96; Kasten, Martyrium, S. 245: „Die in der Literatur des Mittelalters ausgebildete Form der ‚Tristanliebe‘, in der Tod und Liebe in dialektischer Weise aufeinander bezogen sind, hat als kulturelles Muster die europäische Mentalitätsgeschichte nachhaltig geprägt.“ Vgl. auch Kern, Gottfried von Straßburg, S. 42; Kuhn, Gottfried von Straßburg, S. 161.

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Tragikkonzept: Die Dialektik von Tod und Leben Schon im Prolog hebt Gottfried die Untrennbarkeit von Freude und Leid hervor, die die Minnebeziehung seiner Protagonisten kennzeichnet, und erteilt der fingierten Erwartung einer freudvollen Liebesgeschichte eine klare Absage:241 ein ander werlt die meine ich, diu samet in eime herzen treit ir süeze sûr, ir liebez leit, ir herzeliep, ir senede nôt, ir liebez leben, ir leiden tôt, ir lieben tôt, ir leidez leben. (58–63)

Kontrastiert werden nicht nur in zwei aufeinander folgenden Versen Bitterkeit und Leid (60) mit Herzensfreude und Sehnsucht (61), sondern auch innerhalb eines Verses werden mit süeze und sûr (60), liebe und leit (60, 62f.), tot und leben (62f.) antithetische Begriffe kombiniert. Stehen sich zunächst noch die Gegensätze liebez leben und leiden tôt (62) gegenüber, so wird die Synthese des Gegensätzlichen in der folgenden Zeile durch den Chiasmus lieben tôt und leidez leben (63) zusätzlich betont. Diese Oxymora wurzeln in einem Herzen (59),242 das als Sitz der Minne fungiert. Folgerichtig wird diese Widersprüchlichkeit wenig später auf das Wesen der Liebe übertragen und erhält allgemeine Gültigkeit: liep unde leit diu wâren ie / an minnen ungescheiden (206f.). Mit immer neuen antithetischen Formulierungen von liebe und leit (212, 221), wunne und nôt (221), herzeliep und herzeleit (232), herzewunne und senedez clagen (213), vröude und clage (242), leben und tôt (222–225, 234f., 237–240, 242) gibt Gottfried den Interpretationsrahmen der Geschichte vor und schwört sein selbstkonstitutiertes ideales Publikum der edlen herzen (vgl. 45–100, bes. 47)243 auf seine dialektischen Leitbegriffe ein.244 _____________ 241 Zu Gottfrieds Prolog vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 200–219; Huber, Gottfried von Straßburg, S. 37–46; Hübner, Erzählform, S. 265–270; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 124–140 (mit weiteren Literaturhinweisen); Wessel, Metaphorik, S. 406. Zur Funktion des Prologs allgemein vgl. Brinkmann, Prolog. 242 Vgl. auch Freytag, Oxymoron, S. 143–244, bes. S. 159; Wessel, Metaphorik, S. 402. 243 Einen Forschungsüberblick über den viel diskutierten Begriff der edelen herzen bietet Mazzadi, Autorreflexionen, S. 73–77. Vgl. auch Speckenbach, Studien. 244 Gottfrieds Kontrastverknüpfungen werden in der Forschung unterschiedlich bewertet (vgl. Tomasek, Gottfried, S. 216f.). Einige Autoren gehen von einer Einheit bzw. Identität von Liebe und Leid aus (vgl. Mikasch-Köthner, Zur Konzeption, S. 61), Haas (Todesbilder, S. 151) spricht von einer Untrennbarkeit, Klinger (Möglichkeiten, S. 135) von einer Gleichzeitigkeit. Hier wird die These vertreten, dass Freude und Schmerz einen der Minne inhärenten Gegensatz bilden, womit der Begriff der Dialektik berechtigt erscheint. – Zur Dialektik der Minne vgl. auch Haas, Todesbilder, S. 148–168; Wessel, Metaphorik, S. 401–411.

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Diese Verständnisvorgabe ist umso bemerkenswerter, da der Tristanstoff den mittelalterlichen Rezipienten bekannt ist, wie der Erzähler betont: Ich weiz wol, ir ist vil gewesen, / die von Tristande hânt gelesen (131f.). Deutlich grenzt er sich von den anderen Versionen ab, und ist ir doch niht vil gewesen, / die von im rehte haben gelesen (133f.), und setzt ihnen seine Präsentation entgegen.245 Gottfried verspricht ein senelîchez maere (97), das von edelen senedaeren (126) berichte. Diese hätten durch liebe leit, / durch herzewunne senedez clagen / in einem herzen (212–214) getragen und seien deshalb unvergessen geblieben. Die dialektische Einheit von Freude und Leid, Leben und Tod, die im Prolog angekündigt wird, findet auf der Handlungsebene und in den Erzählerkommentaren zahlreiche Entsprechungen. Daher handelt es sich, wie Walter Haug herausstellt, um eine „programmatische Widersprüchlichkeit, die vorausgesetzt ist“ und im Handlungsverlauf „nicht etwa gelöst, sondern gerechtfertigt, vertieft, intensiviert wird.“246 Bereits in der Vorgeschichte fungiert die Liebe als handlungsauslösendes Motiv, das über Leben und Tod entscheidet.247 Als sich Riwalin und Blanscheflur ineinander verlieben, erfahren sie die Minne als eine äußert schmerzvolle, doch auch beglückende Angelegenheit. In der Gespaltenheit ihres Gefühls erkennt Blanscheflur das charakteristische Merkmal der Minne, von der sie bisher nur vom Hörensagen wusste, und reiht sich daraufhin in die Gruppe liebender Frauen ein: wan swaz ich allen mînen lîp umbe rehte minnendiu wîp und umbe liebe hân vernomen, daz ist mir in mîn herze komen: der süeze herzesmerze, der vil manic edele herze quelt mit süezem smerzen, der liget in mînem herzen. (1069–1076)

Der süße Herzschmerz erhält eine neue Qualität, als Blanscheflur nicht nur um Riwalins Liebe, sondern gar um sein Leben bangen muss. Nur die Hoffnung auf ein Wiedersehen lässt sie weiterleben (vgl. 1185–1189). Die Abhängigkeit ihres Lebens vom Geliebten stellt Blanscheflur in ihrer Klage heraus: mich toetet dirre tôte man (1230). Dass paradoxe Züge nicht nur die unerfüllte Liebe kennzeichnen, wird bei ihrer heimlichen Vereinigung deutlich. Aus Kummer um den totkranken Mann wird auch Blanscheflur _____________ 245 Vgl. auch Schröder, Von Tristande. 246 Haug, Literaturtheorie, S. 212. Vgl. auch Schausten, Erzählwelten, S. 144. – Dagegen halten Tomasek (Utopie, S. 107) und Haferland (Gottfrieds Erzählprogramm, S. 253) die FreudeLeid-Antithetik für aufhebbar. 247 Warning (Narrative Lust, S. 188), der die episodische Struktur des ‚Tristanromans‘ und die Vielzahl an ana- und kataphorischen Bezügen beleuchtet, spricht „von der Eröffnung des Paradigmas“. Vgl. auch Huber, Gottfried von Straßburg, S. 47–53; Nowé, Riwalin.

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bei dem Treffen, das an der Schwelle zwischen Leben und Tod angesiedelt ist, in einen todesähnlichen Zustand versetzt.248 Aus ihrer Ohnmacht erwacht, weckt sie durch ihre Küsse einerseits in Riwalin neue Lebenskraft, unz ime ir munt enzunde / sinne unde craft zer minne (1314f.), andererseits versetzt sie ihn erneut in einen lebensgefährlichen Zustand: ouch was er nach von dem wîbe / und von der minne vil nâch tôt (1326f.). Zwiegespalten ist ebenso die Wirkung, die die Minne auf Blanscheflur ausübt. Zwar wird der drohende Liebestod durch die Erfüllung ihres Verlangens vorerst abgewendet, doch zieht ihre Liebesvereinigung zugleich tödliches Leid nach sich: grôz leit lie sî bî dem man unde truoc daz groezer dan; sî lie dâ senede herzenôt und truoc mit ir von dan den tôt: die nôt sî mit der minne lie, den tôt sî mit dem kinde enpfie. (1335–1340)

Nach einer kurzen Zeit scheinbar ungetrübten Glücks, in der Blanscheflur weder kint noch tôdes ungeschiht (1347) bewusst ist, bringt sie die Aussicht auf die bevorstehende Trennung ein weiteres Mal dem Tod nahe: ir lîch wart an ir lîbe / als eime tôten wîbe (1391f.). Beim Abschied von Riwalin stirbt sie zum zweiten Mal den vorweggenommenen Liebestod: alsus geswant ir anderstunt, / aber viel sî von der herzenôt / vor ime in unmaht und vür tôt (1426–1428). Während Riwalin sie in dieser Situation durch seine Küsse ins Leben zurückrufen kann, ist dies nach seinem frühen Tod nicht mehr möglich. Die zuvor beschriebene Einheit der Liebenden, sus was er sî und sî was er, / er was ir und sî was sîn (1358f.), wirkt sich nun auf Blanscheflurs Lebensfähigkeit aus. Wie es von der lêal amûr (1361) heißt, ir leben was vil gemeine dô (1362), so gilt dies auch für ihr Sterben. Ohne den Geliebten verliert das paradoxe Wesen der Minne, ir liebez leit (60), seine freudvolle Komponente: Der süeze herzesmerze (1073) wandelt sich in tôtlîchen herzesmerzen (1721). Blanscheflurs Herz was tôtlîches leides vol (1723). In seiner tödlichen Intensität erweist sich dieser Liebesschmerz als überaus lebendig, was eine erneute Paradoxie darstellt: da enwas niht lebenes inne / niwan diu lebende minne / und daz vil lebelîche leit, / daz lebende ûf ir leben streit. (1731–1734) Schließlich stirbt Blanscheflur, weil ir sîn tôt ze herzen gie (1724). Ihr Tod ist die logische Konsequenz einer dialektischen Minne, in der die Reziprozität von Freude und Schmerz aufgehoben wird und die Dominanz des Leides die Liebende zerstört. In Tristans gleichzeitiger Geburt verdichtet sich die untrennbare Verschränkung von Leben und Tod auf der Handlungsebene: Die Liebe tötet Blanscheflur und schenkt dem Protagonisten der Erzählung das Leben. _____________ 248 Huber (Gottfried von Straßburg, S. 51) deutet ihren Zusammenbruch treffend als „präfigurierte[n] Liebestod“. Vgl. auch ders., Spiegelungen, S. 134f.

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Als Kind einer solchen Liebesbeziehung ist Tristan für das Wirken der Minne besonders empfänglich und für eine innere Widersprüchlichkeit disponiert.249 Schon lange bevor er Isolde kennenlernt, ist sein Leben durch staete leit / bî staeteclîcher saelekeit (5072f.) gekennzeichnet. Einerseits gelingt es Tristan, unglückliche Zwischenfälle zu seinem Vorteil zu wenden, andererseits sind glückliche Ereignisse mit negativen Erfahrungen, Neid und Rückschlägen verbunden. Diese Einheit von Glück und Leid erklärt Gottfried als charakteristisch für seinen Protagonisten: sus wâren diu zwei conterfeit, / staetiu linge und wernde leit, / gesellet an dem einen man. (5081– 5083)250 Brennpunkt dieser gegensätzlichen Empfindungen und Bestrebungen ist wie von der Liebe das Herz: alsus was übel bî guote, / bî linge schade, bî liebe leit / eines herzen staetiu sicherheit. (5096–5098) Als sich Tristans Lebensgeschichte in eine Liebesgeschichte verwandelt, wird der Akzent wieder vom widersprüchlichen Wesen des Protagonisten auf das der Minne verlagert. Als Isolde den vom Drachenkampf verwundeten Helden entdeckt, kommentiert der Erzähler: nu ergieng ez […] / daz sî ir leben unde ir tôt / ir wunne unde ir ungemach / ze allerêrste gesach (9369–9374). In der Prolepse werden die Merkmale der Liebe auf Tristan übertragen und somit Mann und Minne in ihrer Wirkung gleichgesetzt. Die Dialektik von Tod und Leben wird im Folgenden zum Leitmotiv der Liebe, die zwischen Tristan und Isolde entsteht. Bereits bei der Vorbereitung des minneauslösenden Tranks werden seine gefährlichen Folgen auf diese Weise beschrieben: in was ein tôt unde ein leben, / ein triure, ein vröude samet gegeben. (11.443f.) Auch wenn an dieser Stelle vor allem die Gebundenheit des Paares herausgestellt werden soll, so fallen Tod und Leben, Trauer und Freude doch auf der übergeordneten Ebene in eins: Die Liebe wird als eine existentielle Macht beschrieben, die gegensätzliche Elemente in sich vereint. Als Tristan und Isolde den Trank zu sich genommen haben und die Kraft der Liebe am eigenen Leib erfahren, wird ihr Wesen in Anknüpfung an Ovid als Minneparadoxon entfaltet: daz honegende gellet, daz süezende siuret, daz touwende viuret,

_____________ 249 Die Umstände seiner Geburt und seine Namensgebung deutet Tomasek (Gottfried von Straßburg, S. 111) als eine allgemeine Bestimmung zum Leid, wobei für Tristan ein „Nebeneinander von hoher, idealtypischer Befähigung und schicksalhaftem Unglück“ kennzeichnend sei. – Auf die Relevanz der Todesmetaphorik für den gesamten Roman, gemäß der Tristan „den Bezirk des Todes nie verläßt“, macht Müller (Gottfried von Straßburg, S. 218f., Anm. 12) aufmerksam. 250 Haferland (Gottfrieds Erzählprogramm, S. 236–238) weist auf Gottfrieds ungewöhnliche Wahl des Begriffs conterfeit hin und deutet diese „terminologische Anstrengung“ als Indiz für das Erzählprogramm.

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daz senftende smerzet, daz elliu herze entherzet und al die werlt verkêret. (11.884–11.889)

Die unerfüllte Liebe verkehrt das Wesensmerkmal aller Elemente ins Gegenteil, ohne jedoch ihre Substanz in Frage zu stellen. Trotz massiver Beeinträchtigungen der Liebenden spricht Gottfried nicht vom unerträglichen Schmerz, sondern – in einer erneuten Paradoxie – von dem lieben leide (11.882) und kehrt so die Negativierung positiv besetzter Begriffe um. In der anschließenden rede von minnen bestätigt der Erzähler ein weiteres Mal das im Prolog vorgegebene und in der Narration dargestellte Bild der vollkommenen Liebe als eines widersprüchlichen Wertes.251 Sie trage die rôsen bî dem dorne […], die senfte bî der arbeit (12.271f.), in ihr läge diu wunne bî den sorgen (12.274); sooft sie Leid bereite, bringe sie immer wieder Freude hervor. Ohne die Möglichkeit, ihre Liebe zu leben, sind die Liebenden vom Tod bedroht.252 wir sterben von minnen (12.111), erklärt Tristan Brangäne und weist ihr die Verantwortung für das weitere Geschehen zu: unser tôt und unser leben / diu sint in iuwer hant gegeben (12.117f.). Aus Tristans Sicht stellen Leben und Tod zwei verschiedene Optionen dar, die von der Erfüllung des Begehrens abhängen. Brangäne hingegen kennt das Wesen der Minne und weiß, dass die Leiden mit der Vereinigung nicht enden werden: ouwê Tristan unde Îsôt, / diz tranc ist iuwer beider tôt (11.705f.). Dennoch entscheidet sie sich, den unmittelbaren Liebestod abzuwenden. ê ich iuch lâze sterben (12.134), verspricht Brangäne, ihnen Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr zu verschaffen. Dabei greift sie Tristans Formulierung auf, um seine eigene Verantwortlichkeit zu betonen: iuwer leben und iuwer tôt / diu sîn in iuwer pflege ergeben (12.150f.). Ihre eindringliche Wiederholung zeigt jedoch auch, dass es sich bei der Problematik von Leben und Tod nicht um Handlungsalternativen handelt. Vielmehr bilden beide in der Liebe eine untrennbare Einheit, so dass der Tod stets eingeschlossen bleibt: leitet tôt unde leben, / als iu ze muote gestê. (12.152f.) Das Leben, das ihnen durch eine Linderung der Liebesqualen geschenkt wird, kann den Tod nur hinauszögern, wie Brangäne später bekennt: der tranc […] ist iuwer beider tôt. (12.488f.) Während sie den Aspekt des Todes in ihrer Deutung _____________ 251 Zum Aufbau der sogenannten Minnebußpredigt und ihrer Rhetorik gemäß der mittelalterlichen ars praedicandi vgl. Urbanek, Minne-Exkurse. Vgl. auch Bertau, Literatur als Anti-Literatur, S. 12–16; Mazzadi, Autorreflexionen, S. 172–187; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 152–155. 252 Diese Minnetopik ist bei Eilhart vorgeprägt. Schon Isalde fürchtet, dass ihre Liebeskrankheit ohne Abhilfe zum Tod führen wird, so sehr leidet sie an den Symptomen: waß ich vor icht an hitze bald, / ich wird nun alß ain ÿß kalt / und dar nauch also ser haiß, / daß mir rinnet der schwaiß / uss allen minen geliden. / daß han ich ietz getriben / so lang, daß ich sterben muoß / wirt mir nicht schier buoß. (Eilhart von Oberg, Tristrant, V. 2609–2616)

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des Minnetranks in den Vordergrund rückt, richtet sich Tristans Antwort auf die beides umfassende Liebe. Er bejaht das widersprüchliche Wesen der Minne und ist bereit, alles, sei es tôt oder leben (12.495), anzunehmen. Bei der ersten Trennung auf Zeit wird dieser der Liebe inhärente Antagonismus erneut exponiert, um die enge Verbundenheit der Protagonisten zu beschreiben. Beide hätten niemê wan ein herze unde ein muot (14.329), so dass sie den Schmerz gemeinsam fühlten: ir beider übel, ir beider guot, / ir beider tôt, ir beider leben / diu wâren alse in ein geweben. (14.330–14.332) Selbst der Liebesfreude wohnt ein leidvolles Element inne: si wâren underwîlen vrô / und underwîlen ungemuot (13.020f.), wie es nach Auffassung des Erzählers charakteristisch für die Minne ist, als liebe under gelieben tuot (13.022). Deren Doppelnatur bewirkt einerseits eine Linderung der Qualen, diu briuwet in ir herzen / die senfte bî dem smerzen (13.023f.), anderseits ein Leiden im Glück, bî vröude kumber unde nôt (13.025). Diese gemischten Gefühle, sus unde sô / wâren si trûrec unde vrô (13029f.), erleben Tristan und Isolde in Zeiten ungetrübter Zweisamkeit. Zwar erlitten sie keine echte Herzensqual, liep meine ich âne herzeleit (13.078), dennoch seien sie einem ständigen Wechsel ihrer Empfindungen ausgesetzt: liep unde leit was under in / in micheler unmüezekeit (13.076f.). Die Figuren bestätigen dieses Liebesgesetz durch ihr Verhalten und nutzen die Möglichkeit einer Befreiung von ihrem Leid nicht.253 So zerstört Isolde das Zauberglöckchen Petitcrüs, um ihren Schmerz um Tristan zu erhalten, und zieht die qualvolle Erinnerung dem Vergessen vor: si tete ez […] ze niuwenne ir senede leit (16.353f.).254 Sogar während ihres Aufenthalts in der Minnegrotte suchen Tristan und Isolde, den Liebesschmerz literarisch präsent zu halten. Sie projizieren das Leid in das Liebesparadies hinein, indem sie sich mit senemaeren unterhalten, von den, die vor ir jâren / von _____________ 253 Hierin besteht ein deutlicher Unterschied zu Ovids Liebeslehren, wie Kern (Gottfried von Straßburg, S. 42) zu Recht hervorhebt. Während der antike Autor vor allem in den ‚Remedia amoris‘ Praktiken empfiehlt, mit deren Hilfe man sich von der Liebe befreien kann, entwickelt der Verfasser des ‚Tristanromans‘ ein anderes Liebeskonzept: „Gottfried erkennt dagegen gerade in der dialektischen Einheit von Freude und Leid das Signum wahrer Liebe […]; er will das gemischte Gefühl nicht vom Leid reinigen, er will es als gemischtes Gefühl mit seinem senemaere noch steigern.“ 254 Worstbrock (Zufall, S. 240) sieht die Episode nicht als eine Bestätigung der Einheit der Liebenden, sondern beobachtet eine „nicht überspielbare zentrale Inkongruenz“ der Hauptfiguren. Tristans Geschenk an Isolde hält er für „unannehmbar verfehlt“ und „ein Instrument der Manipulation“. Ebenso betont Philipowski (Gegenwärtigkeit, S. 29), dass das Hündchen „eher als Indikator einer B r e c h u n g in der Tristanminne denn als Zeichen von unverbrüchlicher Zweisamkeit“ fungiere. Dagegen lässt sich die Episode in Anlehnung an Kern (Gottfried von Straßburg, S. 43) als eine gezielte Abgrenzung von Ovids Liebesverständnis interpretieren; Tristan und Isolde wollen den Liebeskummer ertragen, statt den Schmerz zu überwinden. – Auch ein Kissen, wie es Eilharts Isalde als Schlafmittel benutzt (vgl. Eilhart von Oberg, Tristrant, V. 6982–6985), ist bei Gottfried undenkbar.

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sene verdorben wâren (17.185f.). Mit ihren Erzählungen von Phyllis, Kanake, Byblis und Dido nehmen die Protagonisten die Position der idealen Rezipienten ein, die der Erzähler sich selbst wünscht.255 Die edelen herzen unterscheidet er im Prolog grundlegend von denjenigen, die nur Freude suchen. swer herzeclage / und senede nôt ze herzen trage (87f.), für den sei eine Vergegenwärtigung anderer Liebesschicksale hilfreich: ein senelîchez maere / daz trîbe ein senedaere / mit herzen und mit munde / und senfte sô die stunde (97–100). In Ovids unglücklichen Liebesgeschichten wird damit nicht nur Tristans und Isoldes Ende antizipiert oder ihre Beziehung typologisch gespiegelt,256 sondern ihre Charakterisierung als edle senedaere (vgl. 126) erhält eine erneute Bestätigung; selbst die utopische Situation der Minnegrotte ist durch das Ineinander von Freude und Leid gekennzeichnet.257 Treffend führt Xenja von Ertzdorff diese Rezeption „im vollkommenen Glück ihres Zusammenseins“ auf „das Besondere ihrer Liebe […], […] die dialektische Spannung, die zur Glückserfahrung immer auch die Schmerz- und Leiderfahrung braucht“, zurück.258 Da Freude und Schmerz ihre Liebe kennzeichnen, kann sich Isolde beim Abschied darauf berufen, wir zwei wir haben liep unde leit / mit solher gesellekeit / her unz an dise stunde brâht (18.323–18.325), um die Unmöglichkeit des Vergessens zu begründen: wir suln die selben andâht / billîche leiten ûf den tôt. (18326f.) Bei ihrer Trennung wird die Einheit der Liebenden, die zuvor immer aus der Perspektive des Erzählers geschildert worden ist, von den Figuren selbst reflektiert und die bleibende Bedeutung ihrer Liebe beschworen. lât mich ûz iuwerm herzen niht! (18.275), bittet Tristan und versichert seinerseits: Îsôt diu muoz iemer / in Tristandes herzen sîn. (18.278f.) Isolde bestätigt im Gegenzug ihre Verbundenheit und erklärt: ir sît mir verre oder bî, / so ensol doch in dem herzen mîn / niht lebenes noch niht lebendes sîn / wan Tristan (18.294–18.297). Die Einheit von Herz und Gemüt, unser herze und unser sin / diu sint dar zuo ze lange, / ze anclîch und ze ange / an ein ander vervlizzen (18.288–18.291), wird durch den Körper- und Lebenstausch überboten. Ebenso wie Isolde Tristan als mîn lîp und mîn leben (18.297) bezeichnet, fordert sie ihn auf: daz ir iuch, mînen lîp, bewart. (18.336) Diese tiefe Gemeinschaft, die unabhängig von der räumlichen Nähe besteht, ein lîp, ein leben daz sîn wir (18.344), erklärt auch, weshalb Tristan und Isolde trotz _____________ 255 Vgl. auch Kern (Edle Tropfen, S. 189). Seiner Ansicht nach tragen die antiken Mythologeme zum poetologischen Selbstverständnis und zur höfischen Artifizialität des Werks bei (ebd., S. 193). 256 Vgl. Ernst, Gottfried, S. 48f.; Ganz, Tristan, S. 406; Huber, Spiegelungen, S. 137f.; Usener, Verhinderte Liebschaft, bes. S. 242, 245; Weber, Gottfrieds von Straßburg Tristan, Bd. 1, S. 293. 257 Somit wird das bisherige Liebeskonzept nicht negiert (gegen Mertens, Bildersaal, S. 49). 258 Von Ertzdorff, Ehe, S. 274f.

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Trennung weiterleben können und müssen. Im eigenen Leib wird das Leben des Geliebten bewahrt, wan iuwer lîp und iuwer leben, / daz weiz ich wol, daz lît an mir (18.342f.), oder vernichtet, wan swenne ich des verweiset bin, / sô bin ich, iuwer lîp, dâ hin (18.337f.). Dennoch versetzt der Abschied beide Liebenden in eine Situation, in der Leben und Tod sich annähern und schließlich gleichgesetzt werden. Während Tristan flieht, um der Todesstrafe zu entgehen, findet er tödliche Bedrängnis, weil er Isolde verlassen muss. Mit der rhetorischen Frage, waz half, daz er den tôt dort vlôch / und hie dem tôde mite zôch? (18.425f.), macht der Erzähler auf die paradoxe Lage des Protagonisten aufmerksam. Diese liegt in Isoldes Bedeutung für sein Leben begründet und kommt ihrer Bezeichnung als Tristandes leben und sîn tôt, / sîn lebender tôt (18.467f.) zum Ausdruck. Isolde wiederum wird durch die Trennung in einen Zustand zwischen Leben und Tod versetzt: sine mohte leben noch sterben / âne in niht erwerben (18.475f.). Die im Körper- und Lebenstausch begründete Einheit hindert sie einerseits am Sterben, ich stürbe gerne, möhte ich. / nûne lâzet er mich / an dem mîn leben behalten ist (18.545–18.547), und verursacht andererseits tödliches Leid: âne in bin [ich] / reht innerthalp des herzen tôt (18.552f.). Ihr Abschied veranschaulicht, dass Leben und Tod in ihrer Liebe keinen Gegensatz darstellen, sondern eine Synthese eingehen: dane was weder leben noch tôt / und wâren doch dâ beide (18.484f.). Nach der räumlichen Trennung von Isolde rückt Tristan wieder in den Mittelpunkt. Die Gespaltenheit seiner erbevogetîn (11.765) der Minne wird in seine Widerspruchsnatur verlagert, die durch eine Verdoppelung der Isolde-Figuren zum Vorschein kommt.259 Die Nähe Isolde Weißhands bereitet ihm Qualen, die er jedoch liebt, weil er den Liebeskummer jeder anderen Freude vorzieht. In ihrer Stellvertreterfunktion weckt Isolde Weißhand somit die gleichen Gefühle, die für seine Liebe zur blonden Isolde charakteristisch gewesen sind: Îsôt was sîn liep und sîn leit (18.987). Indem Tristan diese Empfindung als Liebe deutet, muss er bestürzt feststellen: ich minne zwô Îsolde (19.155). Ungeachtet seines Treueversprechens beginnt er an Isolde zu zweifeln und gerät in einen Entscheidungskonflikt zwischen den beiden Frauen: er wolde unde enwolde / Îsolde unde Îsolde. / er vlôch dise und suohte jene. (19.389–19.391) Gottfrieds Roman endet in der Situation, als Tristan sich Isolde Weißhand zuwendet und seine Lösung von der blonden Isolde vor sich selbst zu rechtfertigen sucht. Dabei erinnert er sich an die gemeinsame Vergangenheit, die er wiederum in den Gegensätzen von Freude und Leid beschreibt: ez enstât nu niht als wîlent ê, / dô wir ein wol, dô wir ein wê, / eine liebe und eine leide / gemeine truogen beide. _____________ 259 Vgl. auch Huber, Gottfried von Straßburg, S. 124f.; Schöning, Namen ohne Person; Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 106f.

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(19.479–19.482) In der Gegenwart sieht Tristan diese Einheit zerstört, wobei er Isolde die freudvolle, sich selbst aber die leidvolle Komponente zuweist: nu stât ez leider niht alsô. / nu bin ich trûric, ir sît vrô. (19.483f.) Tristans innere Trennung von Isolde wird folglich mit der Einseitigkeit seiner Empfindungen und der Auflösung des für ihre Liebe charakteristischen Antagonismus begründet.260 Wie Gottfried das Ende des Romans gestaltet hätte, muss offen bleiben, dass der Gegensatz zwischen Leben und Tod weiterhin als Leitmotiv fungieren würde, kann als sicher gelten. Schon in der Vorlage ist diese Ambivalenz vorgezeichnet, wird Isolde doch als La bele raïne, s’amie, / En cui est sa mort e sa vie,261 bezeichnet und ihre lebensspendende und todbringende Bedeutung für Tristan narrativ inszeniert. Nach Tristans Verwundung durch einen vergifteten Speer überträgt Thomas den Antagonismus von Leben und Tod von der Ebene der Interpretation auf die der Handlung. Mit den Worten Cum a dame, cum a amie / En qui maint sa mort e sa vie262 wendet sich Tristans Vertrauter Kaherdin an Ysolt und suggeriert dabei, dass das Schicksal des Geliebten in ihrer Hand läge. Die Annahme, zwischen zwei Alternativen wählen zu können, offenbart sich jedoch im weiteren Handlungsverlauf erneut als Trugschluss. Obwohl sich Ysolt für Tristans Leben entscheidet, bleibt ihre Liebe in einer paradoxen Gleichzeitigkeit Quelle für Leben und Tod.263 Als Tristan bei Isoldes verzögerter Ankunft glaubt, sie habe ihn verlassen, gerät die Widerspruchsstruktur der Minne aus dem Gleichgewicht. _____________ 260 Dagegen wirft Ries (Erkennen, S. 335) Tristan Untreue aufgrund sinnlicher Begierde vor. Seine Unterstellung, Isolde sehne sich kaum nach ihm, und seinen niedrigen Verdacht, sie könne sich mit Marke trösten, hält die Interpretin für eine auf Selbstbetrug beruhende, unwürdige Lösung des Konflikts. 261 Thomas, Tristan, V. 1061f. Übers. v. Bonath: „Die schöne Königin, seine Freundin, / in der sein Tod und sein Leben ist.“ – Wenn Gottfrieds Tristan diese Formulierung in seinem Leich aufgreift, der seine psychosomatische Abhängigkeit und Isoldes Doppelfunktion reflektiert, besingt er sowohl sein eigenes Schicksal als auch den Liebestod seines anglonormannischen Vorgängers: Îsôt ma drûe, Îsôt m’amie, / en vûs ma mort, en vûs ma vie! (Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 19.213f., 19.409f.). 262 Thomas, Tristan, V. 2711f. Übers. v. Bonath: „[Euch] als [seiner] Herrin, als [seiner] Freundin, / in der sein Tod und sein Leben liegt.“ – Kaherdins Wortwahl entspricht Tristans Vorgaben, der sich auch bei Thomas auf die ihrer Beziehung inhärenten Gegensätze beruft. Um Isolde zum Kommen zu bewegen, begnügt er sich nicht mit der Erinnerung an die Liebesfreuden, sondern schließt die schmerzlichen Erfahrungen ein: Dites li qu’ore li suvenge / Des emveisures, des deduiz / Qu’eümes jadis jurs e nuiz, / Des granz peines, des granz tristurs / E des joies e des dusurs / De nostre amur fine e veraie […]. „Sagt ihr, daß sie sich jetzt erinnern solle / an die Freuden, an die Beglückung, / die wir einst Tag und Nacht hatten, / an die großen Leiden, an die große Traurigkeit / an die Freuden und die Süßigkeit / unserer vollkommenen und wahrhaften Liebe / […].“ (ebd., V. 2486–2491) 263 Schon bei Tristans bangem Warten wird seine typische Gespaltenheit erneut vorgeführt: Senz li ne puet aveir nul ben; / Pur li est ço que il tant vit / […]. „Ohne sie kann es ihm nicht gut gehen. / Ihretwegen ist es, daß er so lange lebt, / […].“ (Thomas, Tristan, V. 2820f.)

Tristans und Isoldes Trennung bei Gottfried von Straßburg

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Der freudvolle Aspekt der Liebe geht verloren und nur ein unstillbarer Schmerz bleibt zurück: Dunc a Tristran si grant dolur / Unques n’out ne n’avrad maür.264 Tristan selbst erklärt, Jo ne puis plus tenir ma vie,265 und stirbt Pur vostre amur (3033). Auf Isoldes Leben wirkt sich die Nachricht von seinem Tod so aus, wie sie ihre gegenseitige Gebundenheit auf dem Schiff interpretierte: De tel manere est nostre amur / Ne puis senz vus sentir dolur; / Vus ne poez senz moi murir, / Ne jo senz vus ne puis perir.266 In ihrer Liebe sind Leben und Tod so untrennbar miteinander verknüpft, dass keiner ohne den anderen existieren kann. Isoldes Antizipation eines gemeinsamen Todes konkretisiert sich in der Erzählrealität; sie stirbt Pur la dolur de sun ami (3120), weil es ihr nicht gelungen ist, ihn zu retten.267 Die Deutung, die Xenja von Ertzdorff Tristans Selbstzweifeln gibt und mit der sie die Situation des Paares nach dem Abschied beschreibt, trifft in gleicher Weise auf das Ende des Romans bei Thomas wie auf Gottfrieds fragmentarischen Schluss zu: Weil keine Hoffnung auf Freude mehr bestehe, sei die Balance der dialektischen Liebe gestört. Sie werde durch ihre eigene Konzeption nach der endgültigen Trennung des Paares zerstört: „Die dialektische Liebe in der Freuden- und Schmerzerfahrung ist an ihrer eigenen Paradoxie zerbrochen, nachdem Tristan […] nur noch die Schmerzerfahrung hat.“268 Tristans und Isoldes Tod ist das Resultat einer Liebe, deren interner Antagonismus nicht länger leben lässt, wenn ausschließlich die destruktive Kraft dominiert. Für ein abschließendes Urteil über Gottfrieds Tragikkonzept lassen sich diese Beobachtungen zuspitzen. Harald Haferland hat überzeugend dargelegt, dass das Erzählprogramm in der Darstellung von Gegensätzen besteht, die Gottfried mit antithetischen Formulierungen und terminologischen Fixierungen zu exponieren suche.269 Auf die Form des Tragischen sind diese Beobachtungen übertragbar: Gottfried entwickelt mit immer _____________ 264 Thomas, Tristan, V. 3029f. Übers. v. Bonath: „Da hat Tristran einen so großen Schmerz, / niemals hatte noch wird er einen größeren haben.“ – Tristans Tod ist somit mehr als „ein dummer Zufall“, wie Müller (Gottfried von Straßburg, S. 241) meint, weil er aus dem dialektischen Wesen der Minne erwächst. 265 Thomas, Tristan, V. 3035. Übers. v. Bonath: „Ich kann mein Leben nicht länger halten“. 266 Thomas, Tristan, V. 2911–2914. Übers. v. Bonath: „Unsere Liebe ist von solcher Art, / daß ich keinen Schmerz empfinden kann ohne Euch; / Ihr könnt nicht sterben ohne mich, / und ich kann nicht untergehen ohne Euch.“ – Der Sturm, durch den Isolde bei Thomas aufs Meer zurückgeworfen wird, erinnert an die aufgewühlte See, in der Brangäne das Gefäß mit dem Minnetrank bei Gottfried versenkte. Dieses Motivecho deutet auf die nahe Erfüllung von Brangänes Prophezeiung vom Tod der Liebenden hin. 267 Nach Hubers (Spiegelungen, S. 132) Ansicht stirbt Isolde in einer Form, die in ihrer Entschlossenheit und Zielgerichtetheit einem Freitod nahe kommt. 268 Von Ertzdorff, Ehe, S. 277. 269 Vgl. Haferland, Gottfrieds Erzählprogramm, bes. S. 236–238. Ähnlich äußert sich Müller (Gottfried von Straßburg, bes. S. 241f.).

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neuen Konstellationen von Gegensätzen ein poetologisches Konzept einer tragischen Liebe.270 Das Unglück der Protagonisten ist in Gottfrieds Roman in der Widerspruchsstruktur der Minne angelegt und potentiell von Beginn an vorhanden.271 Zwar sind die Gegensätze zwischen Freude und Leid, Süße und Bitterkeit bereits im ersten deutschen Tristanroman zu finden,272 doch stellt erst Gottfried sie ins Zentrum seiner Präsentation und lässt die Dialektik von Leben und Tod in der Minne zum Leitmotiv der unglücklichen Liebe werden. Gottfrieds Tragikkonzept besteht darin, dass er Tristan und Isolde an und durch diese Liebe sterben lässt, nicht etwa durch die magische Wirkung des Tranks oder den Einfluss des Schicksals. Mit der ‚histoire‘, in der die Liebe nicht nur eine Episode bleibt, und dem ‚discours‘, in dem Gegensätze klar gegeneinandergestellt und als der Minne inhärent präsentiert werden, wird Gottfried von Straßburg zum profiliertesten Gestalter tragischer Liebe in der höfischen Epik. 3.3 Medeas Verschwinden bei Konrad von Würzburg Die Frage, welche Motivation eine Mutter veranlassen kann, ihre eigenen Kinder zu töten, hat seit der Antike Aufmerksamkeit gefunden und zu unterschiedlichen literarischen Bearbeitungen bis in die Gegenwart angeregt. Aus der rational handelnden Medea des Euripides, die sich ganz auf den Aspekt der Rache konzentriert und ihre Mutterliebe verdrängt, wird bei Seneca eine dämonische Zauberin. Sie wird von der Leidenschaft übermannt und empfindet gar Lust bei der Tötung, wohingegen Christa Wolfs Medea sich gegen ihre Verleumdung verwahrt und als aufgeklärte _____________ 270 Nach Haferlands (Gottfrieds Erzählprogramm, S. 231, vgl. auch S. 234) Ansicht steht der „Leitgegensatz von Leben und Tod der Liebenden“ über allen anderen Gegensätzen. Weshalb die Liebe dennoch von Gottfrieds Erzählprogramm ausgeschlossen und von der „immer neuen Konfiguration von Gegensätzen […] unberührt“ bleiben soll, ist nicht einsichtig. Haferland gerät vielmehr in Schwierigkeiten, wenn er „das vorherrschende Thema im Roman“, die Liebe, „aus der programmatischen Perspektive des ‚Tristan‘ herausrückt“ (ebd., S. 256). Aus tragödientheoretisch-narratologischer Perspektive bezieht sich das Erzählen in Gegensätzen primär auf die für die Handlung zentrale Minne. 271 Damit ist die Liebe in Gottfrieds Roman weder a priori leidvoll, wogegen Worstbrock (Zufall, S. 244) Einspruch erhebt, noch zwanghaft und schrecklich. Die Liebe ist aber auch kein prinzipiell positiv besetzter pädagogischer und hoher ethischer Wert, wie Keck (Liebeskonzeption, S. 209, 217f.) meint. Vielmehr kommt es auf die Einheit des Gegensätzlichen an. Gottfrieds Tragikkonzept ist daher differenzierter gestaltet, als Bollinger (Das Tragische, S. 70f.) annimmt, die in der freudvollen Komponente der Liebe eine Zerstörung des Tragischen sieht. 272 Vgl. auch Mikasch-Köthner, Zur Konzeption, S. 62–64.

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Humanistin argumentiert.273 Obwohl die gezielt ausgeübte Rache einem zentralen Axiom moderner Tragödientheorie, dem Konzept der schuldlosen Schuld, widerspricht, wird Medeas Geschichte im Anschluss an die antike Gattungszuordnung gemeinhin als eine Tragödie bezeichnet. „Aussi même la ‚fabula‘ de Médée, l’héroine grecque qui avait déjà été très populaire dans l’antiquité et à l’époque hellénique, n’est pas oubliée au moyen âge. Au contraire“, beschreibt Paola-Maria Filippi die mittelalterliche Rezeption des Mythos. Allerdings steht Medea nicht mehr im Zentrum der Erzählung.274 Ihre Liebesbeziehung wird in den mittelalterlichen Romanen als Teil der Vorgeschichte des Trojanischen Kriegs behandelt. Um 1165 verfasst der anglonormannische Kleriker Benoît de Sainte-Maure im Rückgriff auf die vermeintlichen Augenzeugenberichte des Dares Phrygius und Dictys Cretensis seinen ‚Roman de Troie‘, der zur entscheidenden Bezugsquelle für die volkssprachliche Trojadichtung im Mittelalter wird.275 Nur wenige Jahrzehnte später wird sein Werk am Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen erstmals ins Deutsche übertragen. In seinem Prolog rekonstruiert Herbort von Fritzlar nicht nur den mehrstufigen Entstehungsprozess, sondern nimmt auch Stellung zu seiner Übersetzungsweise. Explizit spricht er sich gegen eine dilatatio materiae aus: Sol mir dar ane gelingen / So lenge ich ez mit willen niht (96f.). Den Versumfang seiner Vorlage reduziert Herbort um die Hälfte.276 In markantem Kontrast zu Herborts Bearbeitungstendenz der abbreviatio steht der zweite deutsche Trojaroman, den Konrad von Würzburg zwischen 1281 und 1287 verfasst hat.277 Sein erklärtes Ziel ist, das gesamte Stoffgebiet möglichst umfassend zu präsentieren: ich wil ein maere tihten, / daz allen maeren ist ein her. (234f.) Zu diesem Zweck zieht er neben Benoît auch Ovids ‚Metamorphosen‘ und ‚Heroides‘, Statius’ ‚Achilleis‘, das ‚Excidium Troie‘ und Simon Aurea Capras ‚Ilias‘ heran; dass er Vergils

_____________ 273 Vgl. Euripides, Medea; Seneca, Medea; Wolf, Medea. Vgl. auch Lütkehaus, Mythos Medea; Schmitt, Leidenschaft; Stephan, Medea. 274 Filippi, Réception, S. 91. Zur mittelalterlichen Rezeption vgl. auch Kepetzis, Medea, S. 39– 92; Kern, Zur ‚Metamorphosen‘-Rezeption, S. 179–185; Sieber, „Medea-Morphosen“; dies., Medeas Rache. 275 Vgl. Benoît de Sainte-Maure, Roman de Troie. Vgl. auch Lienert, Antikenromane, S. 103– 111; Müller, Höfisches Troia; Schöning, Thebenroman, bes. S. 270–272. 276 Die Abbreviaturen sind hier wie im Folgenden aufgelöst. – Zu Herborts Übertragung und Poetik vgl. Herberichs, Poetik; Lienert, Antikenromane, S. 112f.; Schmid, Benoît de SainteMaure; dies., Trojanischer Krieg; Worstbrock, Zur Tradition. 277 Vgl. Kellner, Poetologie; Lienert, Antikenromane, S. 120–136; dies., Geschichte; dies., Konrad von Würzburg. Zur Konrads Übertragungsweise allgemein vgl. Worstbrock, Dilatatio materiae.

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‚Aeneis‘ und Herborts ‚Liet von Troye‘ kannte, ist anzunehmen.278 Entstanden ist ein monumentales Werk von 40.424 Versen, das der Autor in seinem Streben nach Vollständigkeit auch bei einer deutlich längeren Lebenszeit kaum hätte zu Ende führen können.279 Trotz seines großen Anspruchs, alle Erzählungen im Umfeld des Trojanischen Krieges zu berücksichtigen, begnügt sich Konrad nicht mit einer bloßen Quellensammlung.280 Stattdessen verspricht er, der alten Geschichte neuen Glanz zu verleihen und ein stimmiges Erzählkonzept zu liefern. Konrads Bemühen, sîner brüche schranz zu büezen (vgl. 276), zeigt sich an der Art, wie er einzelne Episoden miteinander verkettet.281 Indem er ihre chronologische Folge in einen regelhaften Zusammenhang stellt, überführt er die ‚story‘ des Trojanischen Kriegs in einen ‚plot‘.282 Auffällig ist an Konrads erniuwen (274) des antiken Medea-Mythos vor allem das Fehlen eines zentralen Handlungselements: Der Kindermord wird nicht erwähnt. Dass dies nicht als ein Ausweichen vor der Tragik zu interpretieren ist, sondern aus einer neuen Motivierung der Katastrophe resultiert, soll im Folgenden gezeigt werden. Handlungsstruktur: Vom höchsten Ruhm zur verweigerten Erinnerung Im Unterschied zu Ovid erzählt Konrad nicht nur aus Medeas Perspektive wie in den ‚Heroides‘ bzw. mit einem auf sie gerichteten Fokus wie in den ‚Metamorphosen‘.283 Vielmehr rückt er sie zusammen mit Jason in den Mittelpunkt. Die Geschichte beginnt in Griechenland und konzentriert sich zunächst auf den angesehenen Ritter. Seine Furchtlosigkeit und Vorbildlichkeit stellt der Held unter Beweis, als er den Entschluss fasst, eine äußerst gefährliche Reise zu wagen und das goldene Fell eines Widders zu _____________ 278 Nach Lienert (Geschichte, S. 187–193) bestehen in der Jason-Medea-Handlung die auffälligsten Übereinstimmungen mit Herbort, die sogar über Konrads Gemeinsamkeiten mit Benoît hinausgehen. Vgl. auch dies., Antikenromane, S. 112, 121. 279 Von den 23 Schlachten Benoîts sind nur vier dargestellt; weitere Themenkomplexe wie die Flucht des Aeneas, die Heimkehr der Griechen und die Irrfahrten des Odysseus hätten integriert werden können. Vgl. auch Lienert, Antikenromane, S. 120. 280 Vgl. Cormeau, Quellenkompendium; Pfennig, erniuwen, bes. S. 133f. 281 So schließt er die Argonautenfahrt an Achills Erziehung an und begründet sie mit dem Neid des Peleus, der den Konkurrenten seines Sohnes ausschalten will. Vgl. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg, V. 6494–6519. – Konrad setzt wie Benoît den Vater des Achilles, Peleus, mit Jasons missgünstigem Onkel Pelias gleich und verdichtet auf diese Weise die Bezüge zwischen den beiden Episoden. Herbort hingegen korrigiert Benoîts Namensverwechslung getreu der antiken Überlieferung. Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 54. 282 Zu den narratologischen Begriffen vgl. S. 56. 283 Vgl. Ovid, Metamorphosen, 7,1–403; ders., Heroides, ep. 12.

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erjagen. Angetrieben von seinem neidischen Onkel Peleus, bricht Jason mit dem ersten Schiff der Menschheit, Argos, auf. Seine Bedeutung wird durch seine edlen Gefährten zusätzlich aufgewertet, zu denen auch der starke Herkules gehört. Nach einer kurzen Zwischenlandung in Troja, wo die Griechen schmählich des Landes verwiesen werden, gelangen sie an ihr Ziel. Ähnlich wie bei der Ankunft der trojanischen Flüchtlinge in Karthago und ansatzweise bei Tristans Rückkehr nach Parmenien wird auch im ‚Trojanerkrieg‘ die prachtvolle Anlage von Kolchis beschrieben. Mit einem Verweis auf seine schriftliche Vorlage rühmt der Erzähler die schöne Festung. Sie übertreffe viele andere, sei mit marmornen Mauern und festen Türmen ausgestattet, glänze wundervoll und schütze ihre Bewohner vor Stürmen und Kämpfen. Der Eindruck, den die reiche und gut befestigte Stadt auf die Betrachter macht, wird auf ihren Herrscher, Medeas Vater Oetas, übertragen: im diente des gelückes rat, / daz im nâch êren umbe lief. (7244f.) Die griechischen Ankömmlinge wissen sich den Umständen gemäß zu benehmen. Sie legen kostbare Kleider an und schmücken sich, lassen Waffen und Pferde zurück und nähern sich der Festung ehrerbietig ze fuoze (7268). Der Einzug der Griechen wird als ein Blickfang weiblicher Augen inszeniert:284 Der Glanz der Stadt spiegelt sich in der strahlenden Erscheinung der Griechen,285 die von den die Straße säumenden Damen empfangen werden. Der prächtig gekleidete Jason erscheint ihnen als der schoenste man, / der in dem lande ie wart geborn (7300f.), und als Inbegriff aller Vollkommenheit: ouch was im gar der wunsch gegeben / an lîbe und an gebâre (7296f.). Die Fenster füllen sich mit schönen Frauen, die die Fremden aufmerksam betrachten und Jason für einen unübertrefflichen Fürsten halten. Auch der König wird Augenzeuge dieses beeindruckenden Aufzugs und nimmt die Griechen liebenswürdig auf. Mit Wort und Tat kümmert er sich vorbildlich um seine Gäste, insbesondere um Jason, dessen Ruhm bis nach Kolchis gelangt ist. Oetas sorgt für Bequemlichkeit, bewirtet die Griechen mit Speis und Trank und verspricht ihnen, sie an seinem ganzen Besitz Anteil haben zu lassen. Diese Ankündigung bezieht sich vor allem auf ein rîch cleinoete (7405), das der König bisher vor vielen Männern verborgen gehalten hat. Als de[n] beste[n] prîsant, / den ich in mînem hûse vant (7573f.), betrachtet Oetas seine

_____________ 284 Hasebrink (Rache, S. 215) betont, dass Repräsentation auf ‚das Auge des Anderen‘ angewiesen ist. 285 Zur Isotopie des Strahlens und Glänzens, dessen Intensität auf der höchsten Stufe in Destruktion kippen kann, vgl. Müller, Höfisches Troia, S. 137; ders., schîn. Vgl. auch Hasebrink, Rache, S. 210.

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Tochter Medea; ihre Schönheit übertrifft alle Kolcherinnen.286 Charakterisiert wird Medea als eine höfische Dame, mit êren und mit reiner zuht (7422), die sich durch witze und edel tugent / nâch volleclichem prîse (7424f.) auszeichnet. Ihr Wissen wird als allgemeine Gelehrsamkeit, si was ein meisterîn von art / der siben houbetliste (7450f.), sowie als Zauberkunst und nîgromancîe (7443) beschrieben.287 Ohne jeden abwertenden Kommentar werden ihre Fähigkeiten erwähnt, den Tag zu verfinstern und Höllengeister zu beschwören: der swarzen buoche wîse / diu rîlîche maget was (7426f.). Nachdem der Erzähler Medea als vollkommene Dame und mächtige Zauberin gerühmt hat, erscheint die Protagonistin zum ersten Mal auf der Bildfläche. Ihr funkelndes Kleid, ihr leuchtendes Haar und ihre strahlende Schönheit nehmen das Farbspiel beim Einzug der Griechen wieder auf und sind für alle eine Augenweide. Wie Jason ist sie erwünschet garwe / an lîbe und an gebâre (7534f.). Ihr Auftreten mit kleinen Schritten, gesenktem Haupt und rosiger Gesichtsfarbe, das intertextuelle Bezüge zum Auftritt von Gottfrieds Isolde in Weiseford und dem der Königin in Walthers erstem Philippston sowie mariologische Referenzen aufweist, zieht alle Anwesenden in den Bann.288 Als Jason sieht, was sein Gastgeber als sîner wunne spil / und sîner vröuden krône (7570f.) bezeichnet, bestätigt er dessen Einschätzung. Er bekennt, nie ein wertvolleres Kleinod gesehen zu haben. Im Verlauf des Abends wird Medea, die zunächst als Objekt der Blicke anderer dargestellt worden ist, zunehmend zum Subjekt des Sehens und Handelns. Von ihrem Platz aus beobachtet sie die mit Gold und Edelstein gezierten Gäste und erkundigt sich nach ihnen. Gemäß der väterlichen Blickregie, nû merke an im lîp unde wât, / wie gar diu vollekomen sint! (7614f.), konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit schließlich ganz auf Jason. Das gegenseitige Betrachten der Protagonisten bleibt nicht folgenlos:289 Beide entbrennen in Liebe zueinander, was sich negativ auf Jasons Gesundheitszustand auswirkt. Der König, dem die unerklärliche Verstim_____________ 286 Zu Recht stellt Sieber (Medeas Rache, S. 18) heraus, dass aus der Perspektive des Vaters nicht das Goldene Vlies, sondern seine Tochter „das zentrale Prestigeobjekt seiner Herrschaft“ ist. 287 Lienert (Geschichte, S. 59) weist darauf hin, dass Konrads Medea-Bild noch weiter als bei Benoît von Ovids magisch-dämonischer Zauberin entfernt und höfisch stilisiert ist. 288 Zu den Anspielungen auf Isolde (vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 10.875–11.020) und die Gottesmutter vgl. Hasebrink, Rache, S. 216. Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 58; Sieber, Medeas Rache, S. 18. Zum Erscheinen der hôhgeborne[n] küniginne im ersten Philippston, vgl. Walther von der Vogelweide, Leich, Nr. 9, Str. 2 (= L 19,12f.). – Nach Hasebrink (Rache, S. 218f.) zeigt die Beschreibung des Schreitens, welche „Rolle die Selbstdisziplinierung und Habitualisierung im Entwurf höfischer Kultur“ spielt. Weil die ‚Höfisierung‘ als „Bändigung, Einengung oder Zähmung“ Widersprüche überdecke, erzeuge sie eine immense Spannung. 289 Sieber (Medeas Rache, S. 19) merkt an, dass sich der vom Vater arrangierte Blickkontakt sofort von seiner intentionalen Steuerung emanzipiere.

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mung seines Gastes nicht verborgen bleibt, lädt diesen ein, bis zu seiner Genesung bei ihm zu bleiben. Weil Oetas den Aufenthalt des berühmten Helden als eine hohe Ehre betrachtet, gestattet er ihm großzügig den Umgang mit seiner heilkundigen Tochter und fordert Medea auf, Jason von seinem traurigen Gemütszustand zu befreien. Auf diese Weise kommt es zu einem ersten Gespräch zwischen den beiden Protagonisten, das höflich-vorsichtig beginnt, aber schnell an Intensität gewinnt.290 Als Jason an seinem Plan festhält, obwohl Medea ihn nachdrücklich vor der gefährlichen Jagd nach dem Goldenen Vlies warnt, bietet sie ihm ein besonderes Tauschgeschäft an.291 Sie offenbart ihre Liebe und verspricht ihm Hilfe, die sie jedoch von einer Gegenleistung abhängig macht: waer iuwer muot alsô getân, daz ir mich woltent minnen mit durchnehtigen sinnen und ze staeteclicher ê, sô schüefe ich, daz ir âne wê die wollen sanfte erwürbent und daz ir niht verdürbent durch daz wunnebaere golt. (8314–8321)

Die Konventionen des höfischen Minnedienstes werden durch dieses Angebot in doppelter Weise gebrochen: Auffällig ist nicht nur, dass Medea keine Bedenken hat, die Initiative zu ergreifen und einem Mann ihre Liebe zu gestehen. Auch die ausgehandelten Bedingungen verkehren das übliche Geschlechterverhältnis, wenn Medea Jason für seine Minne zu dienen verspricht.292 Offensiv weist sie auf ihre Macht und Zauberkunst hin, mit deren Hilfe sie ihn retten könne, wohingegen er ohne sie iemer ungenesen (8347) bleiben werde. Mehrmals und in verschiedenen Variationen wiederholt Medea die Forderung, welt ir mich niht verkiesen, / noch verkepsen für ein wîp (8330f.),293 und ihr Versprechen: ich vriste iu leben unde lîp (8332). _____________ 290 Dies schlägt sich auch in der Anrede nieder. Jason tituliert Medea zunächst als vrouwe (8057, vgl. 8092) und vrouwe guot (8101), bevor er zu den Bezeichnungen vrouwe mîn (8106) und herzeliebiu vrouwe mîn (8124) übergeht. – Zum Liebesgeständnis allgemein vgl. Jones, Formen. Zur Unsicherheit der Gefühlskommunikation in diesem Kontext vgl. Haug, Geständnis; Sieber, Medeas Rache, S. 34. 291 Dass Medea den fremden Jüngling anspricht, stellt einen bedeutenden Unterschied zu Ovids ‚Metamorphosen‘ (vgl. 7,89f.) dar. Dort geht die Initiative von Jason aus, der ihre Hand ergreift, mit sanfter Stimme um Hilfe fleht und ihr die Ehe verspricht. 292 Sieber (Medeas Rache, S. 48) problematisiert ebenfalls, dass der Liebesvollzug einerseits „voraussetzungslos gewährt und andererseits zur Grundbedingung für die Konstituierung von Ritterschaft erhoben“ wird, „deren eigentlicher Zielpunkt Liebe nach überkommenen Mustern wäre.“ 293 Hasebrink (Rache, S. 222) betont, dass die „inszenierte Unbedingtheit der Minne“ hier „einem Handel um Bedingungen gewichen“ ist. – Medeas wiederholte Eidforderung lässt

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Jason geht sofort auf diesen Handel ein, swaz ir wellent, daz tuon ich (8381), und gesteht Medea seinerseits seine Liebe: wan ich hân sin, herz unde kraft / mit ganzer staete an iuch geleit. (8388f.) Obgleich er die Asymmetrie zwischen Medeas Minnedienst und seinem Minnelohn nicht gänzlich aufheben kann, so mindert er diese doch, indem er seinen Anteil neu definiert. Er verspricht ihr nicht nur eine lebenslange Liebe und Ehe, sondern weist auch auf den daraus erwachsenden Statusgewinn hin: ir sult in mîner hêrschaft / gebieten unde frouwe sîn / als ein gewaltic künigîn, / diu zepter unde crône treit / nâch volleclicher werdekeit. (8426–8430) Herr über das weitere Verfahren bleibt zunächst freilich Medea. Sie bestimmt den Ort und die Zeit für ein heimliches Treffen, legt die Rahmenbedingungen für den Eid fest und lässt Jason bei einem Götterbild schwören. Nachdem der griechische Held ihr ewige Treue zugesichert hat, kommt es auf dem mit Silber, Gold und Edelsteinen verzierten Bett zur sexuellen Vereinigung. Wie sehr Jason auf den Rat und die Zaubermittel seiner Geliebten angewiesen ist, zeigt sich am nächsten Morgen. Bei seiner Unterweisung in den magischen Regeln der Aventiure wird immer wieder Medeas Kompetenz herausgestellt. Sie hat die vil grôzen arzenîe (9250f.) eigenhändig produziert, indem sie für die feuerschützende Salbe Kräuter sammelte, zerstieß und kochte, und die Beschwörungsformel aus magischen Büchern selbst zusammenstellte. Auf diese Weise ausgestattet, bricht Jason schließlich gegen die ausdrückliche Warnung des Königs alleine auf. Als Jason Medeas Blicken entschwunden ist, richtet sich die Aufmerksamkeit des Erzählers wieder ausschließlich auf den Helden. Seine Kampfvorbereitungen, das Salben des Körpers sowie das Anlegen der kostbaren Rüstung, werden genau beschrieben. Die auf den Protagonisten wartenden Untiere, die feuerspeienden Ochsen und der ausgehungerte Drache, stehen in deutlichem Kontrast zur friedlichen Idylle der Insel, die als locus amoenus dargestellt und als irdisches Paradies bezeichnet wird.294 Nur dank Medeas Zaubergaben kann der Held sein Leben bewahren. Ihre Salbe lässt Jason unverletzlich werden, ihr Leim verklebt die Nüstern der Ochsen, ihr Ring macht ihn vor dem Drachen unsichtbar. Einzig der Sieg über die Ritter, die aus den Zähnen des Drachen erwachsen, gelingt ihm aus eigenen Kräften und belegt seine Stärke.295 Nach den bestandenen Abenteuern findet der Held schließlich den Widder mit dem goldenen Fell. Mit der ge_____________ sich als eine Auseinandersetzung mit dem Mythos verstehen. Die mittelalterliche Protagonistin versucht vergeblich, den Fehler ihrer antiken Vorgängerin zu vermeiden, indem sie sich nicht mit einem einfachen Versprechen begnügt. 294 Den Kontrast zwischen den Todeseigenschaften und der idealisierten Beschreibung von Inseln in der Literatur betont Brunner (Poetische Insel, bes. S. 50). Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 67. 295 Bei Benoît töten sich die Ritter stattdessen gegenseitig, vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 68.

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wonnenen Trophäe kehrt Jason zu seinen Begleitern zurück, von denen er wie ein vom Tod Erstandener gefeiert wird.296 Vom Erzähler wie von den Figuren wird ausschließlich Jasons Heldentat gerühmt, wohingegen Medeas Beteiligung nicht mehr thematisiert und auch nicht problematisiert wird. Oetas begrüßt den Gewinner des Goldenen Vlieses respektvoll, er wird gebadet und bekommt ein prächtiges Gewand angelegt. Alle Bürger wollen ihn sehen und erklären, niemals einen so ausgezeichneten Helden gesehen zu haben. Medea freut sich von Herzen über seine Wiederkehr und empfängt ihn zu einer zweiten Liebesnacht. Als Jason nach einem vierzehntägigen Aufenthalt wieder in die Heimat aufbrechen will, erfüllt Oetas gerne seine Bitte und gibt ihm die heimliche Geliebte âne alle riuwe (10.190) zur Ehefrau. Dieser Handlungsverlauf, der sich vom antiken Mythos deutlich unterscheidet,297 entspricht dem Strukturgesetz des höfischen Romans: Der beste Ritter, der als einziger die Aventiure um das Goldene Vlies bestanden hat, erhält als größten Preis die schöne Königstochter.298 Während in Kolchis Erzählzeit und erzählte Zeit sich teils angleichen, nimmt die Präsentationsweise der Geschichte in Griechenland an Geschwindigkeit zu. Jason, dem das Unmögliche gelungen ist, wird zuhause wie ein König empfangen. Nur der missgünstige Peleus und Jasons altersschwacher Vater Eson können sich nicht über seinen Erfolg freuen. Da den Protagonisten das Leiden seines Vaters tief schmerzt, bittet er seine Gattin, von deren großer Kunst und Weisheit er schon einmal profitiert hat, nun aus eigenem Antrieb um Hilfe. Diesmal unterbreitet Jason ihr ein Tauschangebot, wobei er ihren Dienst allerdings mit derselben Gegenleistung vergelten will, die er ihr schon einmal zugesichert hat. Wenn Medea seinen Vater verjünge und ihm seine alte Körperkraft wiedergebe, sô _____________ 296 Bei Ovid muss Jason die Proben dagegen vor den Augen zahlreicher Zuschauer bestehen, wodurch die Jagd nach dem Goldenen Vlies einen kompetitiven Charakter erhält und als eine Auseinandersetzung zwischen Griechen und Kolchern inszeniert wird. Indem Jason stellvertretend für alle Griechen kämpft und Medea ihn dabei unterstützt, kommt ihr Verrat am eigenen Volk zum Ausdruck. Vgl. Ovid, Metamorphosen, 7,100–103.115.120f. 297 Zur Feindschaft von Medeas Vater vgl. Ovid, Metamorphosen, 7,14.53. – Auch in Konrads mittelalterlichen Vorlagen fehlt die Einwilligung des Vaters, vgl. Benoît de SainteMaure, Roman de Troie, V. 2028–2033; Herbort von Fritzlar, Liet von Troye, V. 1143– 1154. – Die Motive des Verrats und der Flucht gibt Konrad zugunsten eines positiven Bildes der Protagonistin auf. Nur in ihren eigenen Reflexionen sind die Kategorien der Schuld und der Untreue gegenüber dem Vater noch präsent (vgl. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg, V. 10.422–10.431). – Vgl. auch Hessler, Geschichte, S. 22; Lienert, Geschichte, S. 57; Sieber, Medeas Rache, S. 51f. 298 In den ‚Metamorphosen‘ wird Medea dagegen als Beuteobjekt präsentiert und dem Goldenen Vlies gleichgestellt, vgl. Met 7,155–157: […] auro / heros Aesonius potitur spolioque superbus / muneris auctorem secum, spolia altera portans / […]. Übers. v. Fink: „[…] Jason, der Held, bemächtigte sich des Goldes. Stolz auf diese Beute, nimmt er die, der er sie verdankt, als weitere Beute mit sich […].“

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wil ich iemer, saelic wîp, / iuch minnen für mîn selbes lîp (10.413f.). Medea, die von Jasons Treue gegenüber seinem Vater gerührt ist, lässt sich auf diesen Handel ein. Die Szenen, in denen Esons Verjüngung vorbereitet und erfolgreich durchgeführt wird, stellen ein Pendant zur Aventiure um den goldenen Widder dar. Während auf der paradiesischen Insel Jasons ritterliche Tüchtigkeit inszeniert worden ist, wird auf dem nächtlichen Feld Medeas zauberkundiges Wissen ausgestellt. Als eine Magierin gekleidet,299 liest sie allein im Mondschein in schwarzen Büchern und beschwört mit seltsamen Schriftzeichen die Geister,300 bis ein Unwetter aufkommt und ein Drachenwagen vorfährt. Trotz dieses ungewöhnlichen Fortbewegungsmittels und der seltsamen Praktiken distanziert sich der Erzähler nicht von seiner Figur; er erklärt, dass diu junge wîse künigîn (10.600) alle für die Prozedur notwendigen Kräuter besorge. Auf ihrer Reise wird sie als [d]iu frouwe stolz von wîser art (10.623), diu getriuwe (10.630), diu guote (10.635) und diu schoene (10.637) apostrophiert. Nach einer vierzehntägigen Reise kehrt Medea mit den nötigen Zutaten nach Griechenland zurück und bereitet mit großer Sorgfalt das Heilungsmittel vor, durch das Eson in einen kräftigen Mann verwandelt wird. Die Reaktionen auf Medeas Zauber fallen wie bei Jasons Heldentat uneingeschränkt positiv aus. Aufgrund der Verjüngung ihres Schwiegervaters, was der Erzähler zwar als ein äußerst ungewöhnliches, aber keineswegs unheimliches Ereignis wertet, genießt sie in Griechenland ebenfalls höchstes Ansehen: Mêdêâ diu gehiure / kam ze ganzer werdikeit. / ûf si wart hôhez lop geleit / und durchliuhticlicher prîs. (10.830–10.833) Beide Protagonisten sind auf dem Höhepunkt ihres Glücks angekommen: man treip dâ wunneclichez leben / und fröude manger hande (10.844f.). Dieser freudvolle Zustand hängt wesentlich von der Wertschätzung der höfischen Gesellschaft ab: _____________ 299 Sieber (Medeas Rache, S. 74) interpretiert diesen Kleidungswechsel als eine Exklusionsstrategie; mit ihrem königlichen Gewand streife Medea auch ihren herrschaftlichen Status ab. Dagegen ist einzuwenden, dass ihr magisches Handeln nicht per se einen Gegensatz zu ihrem königlichen Amt darstellt. Dies zeigen sowohl ihre Bezeichnung als Königin während der Drachenreise als auch die Hochachtung, die sie später bei den höchsten Würdenträgern des Landes genießt. Vor allem im Vergleich zu Ovid, der Medea bei der Verjüngungsprozedur als Rasende darstellt, die in wallenden Kleidern, mit bloßen Füßen und flatterndem Haar über den entblößten Schultern nach Bacchantenweise um die Altäre tanzt, lässt sich eher von einer Strategie der Inklusion und Höfisierung sprechen (vgl. Ovid, Metamorphosen, 7,182f.257–261). – Zu den Unterschieden bei Konrad und Ovid vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 71f. 300 Hasebrink (Rache, S. 226) weist auf die Parallelen zwischen Konrads Kunst und Medeas Magie hin, die eine „Isotopie des Erneuerns“ bildeten. Dass Konrad bei dieser Inszenierung an den Magiediskurs anknüpft, hält Friedrich (Diskurs, S. 107) für bezeichnend. Der gelehrte Autor nutze immer wieder die Gelegenheit, seinen Stoff auf übergeordnete Diskursformationen hin zu fokussieren.

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si wart in allem Kriechenlant geprîset dur ir wîsheit. man bôt ir ganzer werdekeit und êrte si gar schône. si wonte bî Jâsône mit ganzer staete ân underbint, biz si gewan von im zwei kint und man diu werdeclîche erzôch den grâven und den fürsten hôch was Mêdêâ willekomen. (10.876–10.885)

Eine Veränderung dieses idealen Zustands setzt ein, als Medea vom mein (10.895) des Peleus erfährt, der Jason in den sicheren Tod schicken wollte. Sie begibt sich erneut auf eine Reise, die diesmal jedoch nicht durch die Zustimmung oder gar die Bitte ihres Ehemanns legitimiert ist. Unter dem erlogenen Vorwand, von Jason entehrt worden zu sein, mit dem sie ihr späteres Schicksal vorwegnimmt,301 findet sie freundliche Aufnahme bei Peleus und seiner Familie. Die Töchter vertrauen der heilkundigen Frau und bitten sie, ihren alten Vater ebenfalls zu verjüngen. Nachdem Medea ihre Zauberkraft durch die Verwandlung eines alten Widders erneut unter Beweis gestellt hat, stiftet sie die jungen Mädchen dazu an, ihrem Vater die Kehle zu durchstechen. Statt die gewünschte Arznei zu bringen, bricht Medea heimlich auf und lässt Peleus sterben.302 Während Konrad von Würzburg den Beginn der Liebesbeziehung von Medea und Jason aufwändig inszeniert und detailreich ausgestaltet hat, erfolgt das Ende abrupt. Als die Protagonistin nach ihrem Aufenthalt bei den Peliaden nicht unmittelbar zu Jason zurückkehrt,303 wendet sich dieser ungeachtet aller Treueschwüre von ihr ab und schenkt einer anderen Frau seine Liebe. Diesen Gesinnungswandel nimmt Medea nicht tatenlos hin: Da er sie verkepset (11.286) und ihre staete (11.287) gering geachtet habe, beschließt sie, Jason und seine Freundin Greusa sterben zu lassen.304 Noch einmal wird Medeas magisches Wissen handlungsrelevant. _____________ 301 Lienert (Geschichte, S. 73) bezeichnet dies als „tragische[] Ironie“. 302 Sieber (Medeas Rache, S. 55) spricht von einer „Umcodierung von Mitleid in Gewalt“ sowie „von pharmazeutischer Kunst in bedrohliche Magie“ und leitet daraus eine neue Figurenbewertung ab. Der Vergleich mit Ovids ‚Metamorphosen‘ (7,348f.), wo Medea Pelias eigenhändig die Kehle durchschneidet, zeugt jedoch auch hier von Konrads Bemühen, seine Hauptfigur zu entlasten. – Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 73f. 303 Dass Medea sich „sowohl den Herrschafts- und Repräsentationspflichten als auch dem Begehren ihres Mannes“ entzieht und „stattdessen ihren eigenen Bedürfnissen des Reisens und der curiositas“ nachgeht, wie Sieber (Medeas Rache, S. 56) kommentiert, wird vom Erzähler nicht problematisiert. 304 In den ‚Heroides‘ zählt sie auf, was sie alles für Jason aufgegeben hat: Königreich, Heimat und Haus (Her 12,161). Während sie einst eine so mächtige Position wie Creusa und Creon besaß (Her 12,25f.), werde sie nun ungerechterweise des Hauses verwiesen.

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Mit eigenen Händen näht sie ein Kleid, das sie mit Gift, Zauber und List präpariert. Als Greusa das geschenkte Kleid anzieht, entfaltet es sofort eine vernichtende Wirkung.305 Durch die Haut der Braut wird das Gift erwärmt, bis erst das Kleid, dann die Frau und schließlich das ganze Haus in Flammen stehen. Gemeinsam mit seiner hübschen Freundin findet der ruhmvolle Ritter ein trauriges Ende: ouch wart Jâson der ziere / verbrennet in dem fiure. / mit bitterlicher siure / wart sîner süezekeite leben / dem tôde bî der zît gegeben. (11.334–11.338) Noch auffälliger als das plötzliche Ende ist die Reaktion des Erzählers auf den vorzeitigen Tod des Helden. Er weigert sich, Jason eine seinem Heldentum angemessene Totenklage zu widmen. Aus gutem Grund, von schulden (11.350), wolle er nicht davon berichten, wie der vil hôchgeborne degen / beweinet würde bî der zît. (11.352f.) Aber auch Medea schenkt der Erzähler keine Beachtung mehr, sondern spart ihr Schicksal bewusst aus: war Mêdêâ kaeme sît, / daz wirt ouch von mir hie verswigen (11.354f.).306 Obgleich der Erzähler mit der Aussage, wan ich hân anders wol sô gnuoc / ze künden und ze sagene (11.358f.), eine mögliche Begründung für sein Verhalten bietet, ist sein erklärtes Verschweigen doch zu ostentativ formuliert, um keinen narrativen Sinn zu besitzen. Zwar folgt Medeas unrühmliches Ende der stofflichen Vorgabe, doch ist ihre Fallhöhe in Konrads Version deutlich gesteigert. Während Medea im ‚Trojanerkrieg‘ erst bei den Griechen zu höchsten Ehren aufsteigt, wird sie von Ovid als kulturell Unterlegene und Außenseiterin präsentiert. In den ‚Metamorphosen‘ lässt er Medea selbst konstatieren, dass ihre Heimat ohne jegliche Gesittung sei und sie durch Unterstützung der Griechen Großes gewinnen könne. Dabei hofft sie nicht nur auf den Ruhm, der ihr wegen der Rettung des griechischen Helden zuteil werden wird, sondern darauf, ein zivilisiertes Land kennenzulernen und Zugang zu Bildung und Künsten zu erhalten.307 Diese Hoffnung erweist sich jedoch als ein Trugschluss, weil sie als Fremde stets ausgeschlossen bleibt. Schon beim Jubel über Jasons Sieg auf Kolchis wird Medea vom Erzähler, der sich mit den Griechen solidarisiert, als barbara bezeichnet (Met 7,144). Ihre ethnische

_____________ 305 Hasebrink (Rache, S. 229) versteht das Kleid als Spiegel der Erzählung, weil es Figuren verschwinden lässt. Das Auslöschen auf der Handlungsebene erscheine auf der Ebene der Narration als Verschweigen, wovon Medea selbst betroffen sei. 306 Welche Informationen Konrad den Rezipienten vorenthält, zeigen Ovids ‚Metamorphosen‘ (Met 7,398–403). Demnach geht Medea eine zweite Ehe mit Aigeus ein, zu dem sie nach dem Kindermord geflohen ist. Als sie einen Mordanschlag auf dessen Sohn Theseus verübt, muss sie erneut fliehen. 307 Vgl. Ovid, Metamorphosen, 7,51–61.

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Herkunft rückt er auch später beim Mord an Pelias in den Vordergrund, indem er mehrfach abwertend von ‚der Kolcherin‘ spricht.308 Medeas Aufwertung im mittelalterlichen Roman zu einer höfischen Dame, die von allen bewundert wird, führt zugleich zu Jasons Entlastung. Er lässt sich nicht mehr aus strategischem Kalkül mit einer kulturell unterlegenen Frau ein, sondern kann die Schönste und Klügste für sich gewinnen. Aufgrund seiner Heldentat und ihrer Zauberkunst gelingt es den Protagonisten, in Griechenland höchsten Ruhm zu gewinnen. Beide verspielen jedoch ihr Ansehen, als sie ihre Fähigkeiten für negative Zwecke einsetzen: Dem Helden gelingt noch einmal eine sexuelle Eroberung, mit der er allerdings seiner Frau untreu wird; die Heldin benutzt ihr magisches Wissen, um zum Mord anzustiften und selbst zu töten. Wie tief sie am Ende ins Unglück stürzen, wird auf der Metaebene der Erzählung deutlich. Nachdem Medea und Jason auf dem Höhepunkt ihres Glücks größte Wertschätzung genossen haben, verweigert ihnen der Erzähler am Schluss jede weitere Aufmerksamkeit. Damit nimmt ihr Leben ein weit schlimmeres Ende, als es der physische Tod bedeutet hätte. Ein Held verliert den ihm eigentümlichen Status, wenn seine ruhmvollen Taten nicht ins kulturelle Gedächtnis überführt werden und in Vergessenheit geraten. Das Verdikt des Schweigens vernichtet somit beide Protagonisten, an deren einstige Bedeutung – anders als in Didos Fall – kein Epitaph und nicht einmal eine Klage erinnert. Handlungsmotive: êre, minne und Strafe Jasons Streben nach Ehre führt die Protagonisten zusammen. Schon bei der ersten Vorstellung wird der Held als besonders lobenswert dargestellt, weil er nicht nur seine Verwandten, sondern alle Herrscher und Könige an Ansehen übertrifft: geblüemet stuont sîn reiner sin / mit hôhen êren ûz erlesen (6552f.). Jasons allseits bekannte Stärke bietet seinem Onkel den entscheidenden Angriffspunkt. Peleus weiß genau, mit welchen Argumenten er seinen Neffen zu einem schier aussichtslosen Unterfangen bewegen kann.309 Er suggeriert Jason, zwar unter allen Griechen sehr angesehen zu sein, doch fehle ihm zu höchster Wertschätzung noch ein vil cleine (6658): _____________ 308 Vgl. Ovid, Metamorphosen, 7,300f.348f. In den ‚Heroides‘ ist sich Medea ihrer kulturellen Unterlegenheit bewusst. Schon der Gedanke genügt, Jason könne sie vor seiner neuen Gattin bloßstellen, um sie wütend zu stimmen (Her 12,175–180). – Zur Dämonisierung ihrer übermenschlichen Kräfte und der Problematisierung ihrer fremden Herkunft in der antiken Dichtung vgl. auch Seneca, Medea, V. 103–115, 870f. 309 Sieber (Medeas Rache, S. 63) kommentiert, dass sich die Argumentation des Peleus und Jasons Verhalten an heroischen Identitätsdimensionen orientieren, die nur durch âventiure und Akkumulation von êre erreichbar sind.

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ein lop hât sich gevristet vor dir in allen dînen tagen, ob dû des möhtest noch bejagen, sô warest dû gar vollekomen und vür den besten ûz genomen, der iendert lebte ûf erden. (6660–6665)

Ausdrücklich fordert Peleus den Helden auf, das als unerreichbar geltende Vlies zu erjagen, damit sein Name auf der ganzen Welt bekannt sei und er unerschöpflichen Ruhm erlange.310 Obwohl Jason von der Unlösbarkeit dieser Aufgabe gehört hat, stellt er sich ihr sofort. Er fürchtet, als Feigling betrachtet zu werden, wenn er dem Rat seines Onkels nicht Folge leistet. Anerkennend würdigt der Erzähler sein mutiges Verhalten und veranschaulicht mit der Metapher des blühenden Herzens, wie eng Tugend, Ehre und Gesinnung bei Jason verbunden sind: bî reiner tugende blüete / sîn herze truoc der êren bleter. (6830f.) Auf der gesamten Reise bestimmt der Wunsch, Ruhm zu erlangen, Jasons Handeln.311 Aus diesem Grund trifft ihn der unfreundliche Empfang besonders, der ihm und seinen Gefährten in Troja bereitet wird. Dass ihnen grôz unêre / ân alle schult (7122f.) zuteil geworden ist, erzürnt die Griechen so sehr, dass sie Rache schwören.312 Während sich Jasons Ruf beim Zwischenaufenthalt in Troja nicht positiv auswirkt, wird er in Kolchis seinem Ansehen gemäß begrüßt. Schon das bloße Vorhaben, das Fell des wunderbaren Widders erringen zu wollen, gilt als höchst ehrenwert: dô begund er mêren / nâch volleclîchen êren / sîn lop und sîne werdikeit. (7371–7373) Jason hält an seinem Plan fest, umbe werdekeit (8089) kämpfen zu wollen, obwohl sich die unheilverkündenden Informationen verdichten. Umsonst weist ihn Medea darauf hin, dass der Widder durch die Kraft und den Zauber der Götter geschützt sei. Vielmehr betrachtet Jason die Aventiure gerade deswegen als lohnend, weil sie als aussichtslos gilt. Einsatzbereit_____________ 310 Hasebrink (Rache, S. 212) interpretiert die Reise der Argonauten vor diesem Hintergrund als „Aventiure um den stratifikatorischen Rang des Besten, der kommunikativ vermittelt durch die imaginierte Öffentlichkeit und den Grad ihres Rühmens und Preises festgelegt wird“. In diesem Rühmen akkumuliere sich das symbolische Kapital der êre, das der Ritter mit seinen Taten erwerbe. 311 Hierin sieht Hasebrink (Rache, S. 214) einen entscheidenden Unterschied zur antiken Dichtung. Jasons Ziel sei nicht mehr die Begründung eines Machtanspruchs, sondern eine Aventiurefahrt, in der „die symbolische Geltung von der politischen und genealogischen Thematik der Herrschaftsübernahme abgelöst“ sei. 312 Bis zu Jasons Tod zieht die Vertreibung keine negativen Konsequenzen nach sich, doch seine Gefährten rächen sich später und zerstören die kleinasiatische Stadt ein erstes Mal. – Auch Hasebrink (Rache, S. 214) betont, dass die regelwidrige Versagung der Anerkennung den Konflikt auslöst: „Auf der virtuellen Skala des Rangs kommt es zu einer dramatischen Statusumkehr: schande, smâheit, schame und unêre fordern Akte des sichtbaren Ausgleichs und setzen den Mechanismus von Rache und Haß in Gang.“

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schaft und Ansehen stehen für ihn in einem engen Wechselverhältnis. In einer sentenzartigen Rede begründet er damit seine Motivation für die Reise: swer hôhez lop erstrîten wil, / der muoz ouch eteswenne vil / beswaerde lîden unde doln. (8245–8247) Die Sorge vor einem Verlust des Ansehens erweist sich erneut als ebenso handlungsrelevant wie die Hoffnung auf zusätzlichen Gewinn. Jason erklärt seiner Gesprächspartnerin: mîn lop, daz würd in alle wîs / verdrücket und gevellet nider, / ob ich durch vorhte kêrte wider / und durch mîne zageheit (8280–8283). Weil der Protagonist fürchtet, eine Umkehr würde ihm zum ewigen Spott gereichen, gibt er Medeas Warnung, er werde lîp und êre (8132) verlieren, einen gegenteiligen Sinn: Nicht der Verzicht auf ein tödliches Abenteuer, sondern dessen Wagnis schenkt Ansehen und Leben. Ehre und Tod werden somit zu Alternativen, bei denen die physische Existenz für Jason eine untergeordnete Rolle spielt: mir ist noch lieber tôt gelegen, / denn ich ze lande kêre / und weder lop, noch êre / gewinnen müge ûf mîner vart. (8260–8264) Selbst nachdem Jason die Freuden der Liebe genossen hat, bleibt sein Streben auf Ehre ausgerichtet.313 Als der Tag anbricht, bittet er die Geliebte um Hilfe, damit sein Begehren gänzlich gestillt wird: sô troestent volle mînen muot / und helfent mir ze prîse. (9178f.)314 Jasons Ansinnen, sich als kühnster Held zu erweisen, zeigt sich auch bei seinem ritterlichen Verhalten in der magischen Aventiure. Obgleich er über die Notwendigkeit des Gebrauchs von Zaubermitteln unterrichtet worden ist, versucht er zunächst, die Ochsen und den Drachen durch eigene Stärke zu besiegen: wird unde prîs er wolte / ân arbeit niht verschulden (9710f.). Erst als Jason erkennt, dass er auf diese Weise keine Ehre erringen kann, setzt er Leim und Ring ein.315 Die Sorge, der Einsatz von Zaubermitteln könne seinen Ruhm verringern, erweist sich als unberechtigt. der hôchgeborne junge / lobes und êren vil gewan (10.096f.), kommentiert der Erzähler. Nach seiner Rückkehr nach Griechenland genießt der Protagonist dort größtes Ansehen. Allen erscheint es eine nicht zu überbietende Leistung, dass er das Goldene Vlies und eine hochadlige Frau gewonnen hat. _____________ 313 Müller (Höfische Kompromisse, S. 457) spricht von einem „rücksichtslosen Egoismus der höfischen Gesellschaft“, der sich daran zeige, dass die Figuren ihre Interessen skrupellos verfolgten. Trotz seiner leidenschaftlichen Beziehung zu Medea verliere Jason niemals sein eigentliches Ziel aus den Augen. 314 Jason betont, dass sich dieses Verhalten auch für Medea vorteilhaft auswirken wird: dur daz ir mit mir erben / beginnet wirde und êre (9188f.). 315 Während Hasebrink (Rache, S. 224) meint, dass die Funktion der Magie zugunsten des ritterlichen Ethos überlegener Gewalt zurückgedrängt werde, legt Sieber (Medeas Rache, S. 64) den Akzent auf Jasons Abhängigkeit von Medeas Wissen. Indem er sich der magischen Logik der Aventiure unterwerfen müsse, würden wesentliche Dimensionen aus seiner heroischen Identität ausgelagert und seiner Verfügungsgewalt entzogen.

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Somit hat Jason sein Ziel erreicht, größte Ehre zu erwerben, ohne sich jedoch angemessen darüber freuen zu können. Zu Recht problematisiert Medea, dass seine Traurigkeit nach dem Gewinn der Trophäe unpassend sei. Zwar weiß Jason sein Leid mit der fehlenden Anteilnahme seines Vaters zu begründen. Doch deutet sich in diesem negativen Gefühl bereits ein Bruch des höfischen Ideals an, das auf das katastrophale Ende verweist. Auch wenn Jasons Handeln stets auf Ehrerwerb ausgerichtet gewesen ist, genügt dies nicht, ihn in anhaltende Hochstimmung zu versetzen. Während Jason dem Ruhm höchste Priorität einräumt, ist dieses Motiv für Medea weniger handlungsbestimmend. Die Sorge um den Verlust von Ansehen spielt freilich auch in ihren Reflexionen eine wichtige Rolle. Inszeniert wird ihre Haltung beim Warten auf den nächtlichen Besuch, als sie Zweifel plagen, ob sie dem fremden Jüngling wirklich helfen soll. Scham, Keuschheit und verwandtschaftliche Gebundenheit stehen auf der einen, die Liebe auf der anderen Seite, wobei Medea ihre Situation ähnlich wie Gottfrieds Isolde als einen Ehrkonflikt deutet: diu scham, diu wil mîn êre, / diu minne mîne unwerdikeit. (8724f.)316 Lange Zeit ist sie hin- und hergerissen, ohne eine Entscheidung treffen zu können. Nachdem sie Jason zunächst im Vertrauen auf seinen guten Ruf unterstützen wollte, hat sie anschließend Bedenken, triuwe und êre gegenüber ihrer Familie zu brechen. Als schließlich bliuclicher schame güete / die sigenuft an ir gewan (8822f.), wird Medea erneut von der Sehnsucht ergriffen und nimmt endgültig davon Abstand, ihre Ehre zu bewahren. Immerhin gelingt es ihr, den äußeren Schein von Zucht und Sittsamkeit zu wahren. Sie stellt sich schlafend und verhält sich gegenüber Jason nicht ze balt (9005). Vor dem Hintergrund ihres Zwiespalts und der Entscheidung zugunsten des fremden Mannes sind Medeas Verlustängste auch als eine Projektion eigener Schuldgefühle zu verstehen. Indem sie Jason unterstützt, tauscht sie ihre Position als angesehene Königstochter gegen die Rolle einer in der Fremde lebenden Ehefrau ein. Statt auf ihre Ehre zu achten, baut sie auf die seine: ich wil ûf al sîn êre / mit im von hinnen scheiden. (8752f.) Ihre verhängnisvolle Abhängigkeit ist ihr umso mehr bewusst, weil sie sich aufgrund der Minne gegen ihre nächsten Angehörigen entschieden hat. Zwar bricht Konrads Protagonistin weder die Gebote ihres Vaters noch _____________ 316 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 11.822–11.840. Kern (Zur ‚Metamorphosen‘-Rezeption, S. 184f.) weist darauf hin, dass Konrad eine primäre und eine sekundäre Rezeption zusammenführt. Weil Isoldes Monolog sehr wahrscheinlich von Ovid angeregt worden sei, habe Konrad „ein von Gottfried expoliertes Ovidianisches Diktum in dieser erweiterten Form wieder an seinen ursprünglichen Ort zurückversetzt und so die direkte durch die indirekte Ovid-Rezeption ergänzt.“ Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 64; Sieber, Medeas Rache, S. 49. – Auch in den ‚Heroides‘ berichtet Medea von einem inneren Konflikt, der ihr den Schlaf raubte und die Nacht endlos erscheinen ließ: hinc amor, hinc timor est; ipsum timor auget amorem. (Her 12,61)

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raubt sie ihm das Goldene Vlies. Anders als bei Ovid flieht sie nicht heimlich und opfert schon gar nicht ihren Bruder dafür (vgl. Her 12,109–116). Dennoch bringt Medea auch im mittelhochdeutschen Roman ihre Familie um den größten Schatz, was eher auf sie selbst als auf das Widderfell zu beziehen ist. ich hân verworht êr unde leben / an mînem vater leider (10.422f.), bedauert Medea, als sie Jasons Treue gegenüber Eson sieht. Wenngleich sie mit dem Einverständnis ihres Vaters geheiratet hat, wertet sie ihr Verhalten im Nachhinein als defizitär: dur einen man verderbet / hân ich an lobe mîn sippebluot. (10.430f.) Wie Medea ihre eigene Treulosigkeit beklagt, so ist auf Jasons guten Ruf kein dauerhafter Verlass; er wart […] gepfant / an triuwen und an êren (11.198f.). Seine Verpflichtung zur Treue und sein Ehrgefühl unterliegen schließlich ebenfalls der Minne, die ihn zu einer neuen Frau hinzieht. Eine stärkere Macht als das Streben nach Ehre ist somit die Liebe; sie ist der ausschlaggebende Grund, weshalb sich Medea gegen ihre Vernunft und für Jason entscheidet.317 Diese Liebe entsteht nicht zufällig, sondern wird durch mehrere Faktoren begünstigt. Medea und Jason werden bei ihrer Vorstellung als herausragende Figuren beschrieben und mit ähnlichen Attributen ausgestattet; durch ihre Schönheit und ihre höfische Verhaltensweise sind sie aufeinander bezogen. Als Medea sich bei ihrem Vater nach den werden geste[n] (7599) erkundigt, weist dieser auf Jasons Ruhm und sein vortreffliches Aussehen hin. Voller Freude vernimmt Medea, dass es sich um den Held handelt, von dessen kürlicher manheit und edelîche[r] tugent (7633f.) sie schon viel gehört hat. Dieses Vorwissen ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass sie Jason ihre ganze Aufmerksamkeit zuwendet, wie der Erzähler mittels einer Sentenz erklärt: sô daz sie den kôs und sach mit spilender ougen blicke, des lop sô rehte dicke durch ir ôren was geflogen. ez ist noch wâr und ungelogen, daz prîs die liute machet wert. (7638–7643)

Dem Lob wird eine zentrale Bedeutung zugeschrieben, weil dies nicht nur zu einer Wertsteigerung führt, sondern auch Interesse an einer Person weckt. Medeas Minne erwächst folglich aus ihrem dringenden Verlangen, denjenigen zu betrachten, dessen Ruhm sie schon oft in ir ôren clingen hörte (7661). Der Beginn der Liebe setzt jedoch erst ein, als Medea Jason so _____________ 317 In den deutschen Romanen steht die Liebe der beiden Protagonisten stärker als bei Benoît im Mittelpunkt; ihre Entstehung und Wirkung werden dezidiert geschildert. Entgegen seiner sonstigen Bearbeitungstendenz erweitert schon Herbort die erste Begegnung der Liebenden und bereichert sie mit ovidischen Anleihen. Vgl. Kern, Zur ‚Metamorphosen‘-Rezeption, S. 180f. – In der bildreichen Gestaltung der Minnesymptomatik übertrifft Konrad auch seinen deutschen Vorgänger deutlich.

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inneclichen (7674) ansieht, daz von im ir herze enbran / und ir gemüete wart enzunt (7675f.).318 In ähnlicher Weise wird Jason von der Minne zu Medea erfasst, die durch das Auge in sein Herz gelangt.319 Die gegenseitige Leidenschaft ereilt die Protagonisten so plötzlich und mit einer solchen verheerenden Wirkung, dass der Erzähler dies mit der Verwundung durch einen Pfeilschuss vergleicht:320 dô si kam gegangen în, daz in ir spilender ougen schîn versneit in kurzer wîle. gelîch dem wilden pfîle, der ûz dem tonre snellet, wart minne ûf in gevellet, dô sîn ouge ir lîp ersach. daz selbe ouch ir von im geschach, dô si den helt anblicte. (7685–7693)

In zahlreichen Bildern, die der ovidischen Liebestopik und Gottfrieds ‚Tristan‘ entsprechen,321 wird die Minne einerseits als ein Feuer beschrieben, das stärker brennt als ein zunder oder ein strô (7702f.) und den Verstand beider so in Brand steckt als in dem fiure ein îsen (7755).322 Andererseits wird die Minne mit einem Netz, in dem sich der wilde vrîe visch verfängt (7835), und einer Fessel verglichen, die das Leben und Denken beider eng verstrict (vgl. 7694, 7869). Diese wechselseitige Bindung bewirkt, dass Jason _____________ 318 Auch Herborts Medea kennt Jason bereits vom Hörensagen, Ir was von siner hubisheit / Harte vil da vor gesaget (V. 588f.), und beide verlieben sich beim ersten Anblick ineinander. Das entflammende Moment wird durch das Motiv des Funkenflugs anschaulich dargestellt: Als die Protagonisten das leuchtende Erscheinungsbild des anderen wahrnehmen, gelangt ein Funke in ihr Herz, der dort eine immer stärker brennende Glut entfacht, vgl. Herbort von Fritzlar, Liet von Troye, V. 633–649. 319 Sieber (Medeas Rache, S. 19) betont, dass die Entstehung der Liebe als ein Zusammenspiel verschiedener Wahrnehmungs- und Wissenshorizonte inszeniert werde, wobei nicht zu entscheiden sei, ob der vorauseilende Ruf, die wahrgenommene Exklusivität oder die Manipulationen von Medeas Vater ausschlaggebend seien. – Zur Rolle der Wahrnehmung vgl. auch Kasten, Inszenierungen; Schnell, Causa amoris, S. 241–274. 320 In der Pfeilmetaphorik sieht Sieber (Medeas Rache, S. 28) Reste der Vorstellung, „wie sich Liebe als außerpersonale Macht materialisiert“, und schließt darauf, dass Venus als Personifikation der Minne präsent bleibe. 321 Vgl. Kern, Zur ‚Metamorphosen‘-Rezeption, S. 183f.; Lienert, Geschichte, S. 60, 209. Vgl. auch S. 372. 322 Müller (Höfische Kompromisse, S. 455) stellt heraus, dass Konrad nicht nur die üblichen Symptome der Liebespassion schildert, sondern sie zum verzehrenden Feuer steigert. – Bereits Herbort benutzt Motive aus dem Bildbereich des Feuers (vgl. Liet von Troye, V. 762– 773). Seine Beschreibung einzelner physischer Symptome ist ungewöhnlich drastisch, wie Hessler (Geschichte, S. 30) bemerkt. Das siedende Mark, die brennenden Knochen, die heißen Adern und der rinnende Schweiß übersteigen den üblichen Rahmen der Minnetopik. Daher erwägt Hessler, dass an dieser Stelle Medeas Rache und der grausame Feuertod ihrer Opfer vorweggenommen sein könnten (ebd., S. 33).

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und Medea nicht mehr voneinander getrennt werden können (vgl. 7696– 7699); ir wille und daz herze sîn sind gänzlich aufeinander ausgerichtet (7774f.), und nur die mangelnde Gelegenheit hält sie von der gegenseitigen Hingabe ab (7868–7874). Äußerlich wird die Liebe am Wechsel der Gesichtsfarbe, bleich und rôt (7770), sichtbar. Sie führt zu Krankheitssymptomen, verursacht innere Unruhe, Schlaflosigkeit (vgl. 8897–8899), Hitze- und Kältegefühle (vgl. 8862) und bewirkt ein anderes Zeitempfinden: si dunket ein vil kurze stunt / wol eines langen jâres frist (8520f.). Die Protagonisten sehnen sich so nach einander, dass sie ohne eine Erfüllung ihres Begehrens keine Freude mehr empfinden können und in angestbaeren sorgen (7987) leben. Beide Liebenden gewinnen krank unde tumbe sinne (7894) und quälen sich Tag und Nacht in sender clage (7897), wobei sich figurenspezifische Unterschiede beobachten lassen. So wird Jason von der heizen minne siechtage (7898) so getroffen, daz im der sorgen jâmersuht / craft unde varwe swachete (7903f.) und er begunde siechen (7908). Er erlebt eine Verminderung seiner körperlichen Stärke, wohingegen sich die Minne bei Medea negativ auf ihre sie auszeichnenden Geisteskräfte auswirkt.323 Die vom Erzähler beschriebene Leidenschaft wird durch die Perspektive der Figuren ergänzt, als diese einander ihre Liebe gestehen. Medea begründet das Hilfsangebot mit ihrer tiefen Zuneigung, die sie auf Jasons besondere Schönheit und seinen herausragenden Ruf zurückführt. Weil er der schönste Mann sei, den sie je gesehen hätte, werde sie bei seinem Tod immer jâmer und inneclichez ungemach (8302f.) empfinden.324 Mit dem Motiv der Fernliebe spielend, offenbart Medea dem Helden, dass sie ihm stets zugetan gewesen sei, seit sie von seiner ganze[n] werdikeit (8325) gehört habe.325 Legt man die im ‚Trojanerkrieg‘ entworfene Konzeption einer überwältigenden Minne zugrunde, könnte Jason kaum die von Medea ge_____________ 323 Ähnlich äußert sich Sieber (Medeas Rache, S. 29): Während bei Medea „gewalttätige Imaginationen der Verstrickung und Gefangenschaft als Einwirkungen auf ihre emotionale Verfassung und Einschränkungen ihrer Handlungsmöglichkeiten“ beschrieben würden, dominiere bei Jason „der physiologische Effekt des körperlichen Schmerzes, der an die Körperoberfläche“ trete. Auch Hasebrink (Rache, S. 219f.) stellt heraus, dass die Überwältigungstopik der Minne durch Medeas Gelehrsamkeit an Profil gewinnt. 324 Schon bei Ovid hält Medea die Gebote ihres Vaters wegen Jasons Schönheit für zu hart (vgl. Met 7,26–28). Ihre Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Hilfe werden von seiner holden Erscheinung entkräftet (vgl. Met 7,44f.). Endgültig nimmt Jason Medea für sich ein, als er schöner als sonst mit ihr zusammentrifft, wie der Erzähler betont; Medea könne ihre Augen kaum abwenden und bewundere ihn wie einen Gott (Met 7,84–88). 325 Aus der Bedeutung des Ruhms leitet Hasebrink (Rache, S. 219) ab, dass die Minne nicht auf Personalität, sondern auf lop und êre gegründet sei. Dagegen vertritt Müller (Höfische Kompromisse, S. 453f.) die Ansicht, dass das Muster idealisierender Fernliebe zwar zitiert werde, der Ruhm jedoch nur Vorstufe eines blinden sexuellen Begehrens sei. Konrad rufe alle sekundären Motivationen für die Liebe – wie Stand, Ruhm, Ehre und Vollkommenheit – auf, aber dränge sie letztlich zugunsten sinnlicher Faszination zurück.

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forderte Gegenleistung versprechen, wenn er nicht seinerseits von ihr gefesselt wäre. So sichert er ihr bereitwillig zu, sich niemals von ihr zu trennen und sie immer vür alliu wîp […] mit triuwen zu ehren (8398f.). Bei Jason genügt die Aussicht auf die baldige Befriedigung seines Begehrens, um von der Liebeskrankheit kuriert zu werden.326 Medea hingegen leidet in der Zeit des Wartens umso mehr an den Folgen der Leidenschaft. Sie ist von liebe ertoeret (8869) und kann nicht mehr ihrem Verstand gemäß agieren. Die als meisterîn charakterisierte Protagonistin, die daz allez wiste, / daz ieman kunnen solte (7452f.), ist in ihren intellektuellen Fähigkeiten so eingeschränkt, dass der Erzähler kommentiert: si was ertumbet als ein kint / von herzesüezer minne. (8870f.)327 Zwar versucht Medea mittels einer rationalen Abwägung von Vor- und Nachteilen, sich von Jason zu lösen. Doch genügt sein ferner Anblick durch ein vensterlîn (8843), sie von dieser Ansicht abzubringen und erneut entflammt zu werden.328 Als es endlich zum sexuellen Akt kommt, wird dieser als Überwindung ihres Leids und Erfahrung der Freude geschildert: diu sorge wart ze banne / getân mit liebe von in zwein. (9142f.) Diese Gegenseitigkeit der Liebe ist wohl die auffälligste Abweichung von Ovids Dichtung.329 Sowohl in den ‚Metamorphosen‘ als auch in den ‚Heroides‘ wird ausschließlich Medeas Liebe mittels Feuermetaphorik beschrieben, die wie eine gewaltige Glut (Met 7,9) und ein nie empfundenes Feuer (Her 12,33) in ihrer Brust brennt und mit fichtenen Fackeln (Her 12,34) und einer lodernden Flamme (Met 7,17) verglichen wird. Untrügliche körperliche Kennzeichen ihrer Ergriffenheit sind das Erröten ihrer Wangen, das plötzliche Erblassen ihres Gesichts (Met 7,78) und ihr gebannter Blick (Met 7,88). Während Jason für Medea mehr als alles andere bedeutet (Met 7,59), fehlt eine vergleichbare Beschreibung seiner Empfin-

_____________ 326 Klinger (Mißratener Ritter, S. 245) weist darauf hin, dass diese Krankheit oft im Zusammenhang mit der Liebesentstehung auftritt und mit dem Geschlechtsakt endet. 327 Ähnlich dominiert bei Herbort von Fritzlar in Medeas Selbstreflexion das Gefühl der Hilflosigkeit. All ihre Zauberkünste und ihre Gelehrsamkeit versagen bei ihr selbst. Da die Liebe von außen über sie hereingebrochen ist, deutet Medea diese als eine von Gott geschaffene Macht, mit der sie leben müsse: Ich bin im innenclichen holt / Daz ist doch ane mine schult / Ich han in selbe nicht erkorn / Ich wene iz mich an ist geborn / Von dem ersten wibe / Die ie quam zv libe / Sint iz got geschaffen hat (Herbort von Fritzlar, Liet von Troye, V. 881–887). 328 Somit ist Konrads Protagonistin leichter als ihre lateinische Vorgängerin von ihrem Vorsatz abzubringen. In den ‚Metamorphosen‘ entbrennt ihre Liebe erst von Neuem, als Jason Medea begegnet, ihre Hand ergreift und sie um Hilfe anfleht (Met 7,74–99). 329 Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 61f. – Müller (Höfisches Troia, S. 131) hingegen betont nur das destruktive Potential der Beziehung im ‚Trojanerkrieg‘. Es handle sich um eine „sexuell fundierte Interessengemeinschaft“, bei der die Minne „zum Bestandteil intriganten Kalküls“ werde.

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dungen.330 Stattdessen wird sein Verhalten von Medea im Nachhinein als Kalkül entlarvt; nur um ihre Unterstützung zu erhalten, hätte er ihr die Ehe versprochen. Sofort hätte Jason ihre Liebe bemerkt, klagt Medea in den ‚Heroides‘ (vgl. 12,37). Bis zum Schluss des Briefes wird die Fiktion einer Frau aufrechterhalten, die ihren Gatten über alle Maßen liebt und noch auf seine Rückkehr hofft. Obwohl er sie bereits für eine größere Mitgift und neuen Einfluss verlassen hat, fleht Medea: redde torum, pro quo tot res insana reliqui, / adde fidem dictis auxiliumque refer!331 Konrad von Würzburg entlastet dagegen seinen Jason vom Vorwurf, nur aus strategischen Gründen eine Beziehung eingegangen zu sein. Allerdings ist die gegenseitige Minne nur in Kolchis handlungsrelevant, wohingegen der deutsche Jason die liebende Frau in Griechenland ebenso instrumentalisiert wie sein antikes Pendant. Indem er ihr für die Verjüngung seines Vaters immerwährende Liebe zusichert, stellt er seine Treue unter einen Vorbehalt und macht sie von Medeas Leistung abhängig. Die Protagonistin sieht in dieser Forderung jedoch keinen Vertrauensbruch. Sie erklärt sich sogleich bereit, Jasons Bitte zu erfüllen, und überbietet gar seine Erwartung.332 Dass Medeas Liebe auch in der Ehe der zentrale Antrieb für ihr Handeln bleibt, zeigt sich besonders an der Motivierung des Mords an Peleus. Während Ovid diese Tat in den ‚Metamorphosen‘ chronologisch auf die Verjüngung von Jasons Vater folgen lässt, ohne sie inhaltlich zu begründen, erinnert Konrad an den Neid des Peleus.333 Weil dieser Jason in den sicheren Tod schicken wollte, erscheint Medeas Verhalten erklärlich. gelouben ir der mare sult (10.978), appelliert der Erzähler an seine Rezipienten, daz ir Jâsones minne / ze herzen und ze sinne / lac mit ganzer staetekeit (10.979–10.981). Somit bürgt der Erzähler selbst für die Redlichkeit von Medeas Motiven und versucht, der Anstiftung zum Mord ihr Skandalon zu nehmen. Jasons Liebe spielt erst dann wieder eine Rolle, als er sich seiner Frau entzieht und eine Geliebte nimmt. Im Gegensatz zum breit exponierten Beginn der Liebesgeschichte mit Medea wird die Entstehung der neuen Beziehung kaum in Szene gesetzt. Der Erzähler erwähnt nur kurz, Jasons muot sei mit niuwer liebe minne (11.202f.) gebunden worden. Die sinnliche _____________ 330 Eine gewisse Asymmetrie in der Präsentationsweise besteht auch im ‚Trojanerkrieg‘, da Konrad nur Medea in einem großen Monolog über ihre Empfindungen reflektieren lässt. Vgl. auch Sieber, Medeas Rache, S. 33. 331 Ovid, Heroides, 12,193f. Übers. v. Häuptli: „Schenk mir die Liebe, für die ich im Wahn so viel opferte, wieder, / halte dein Wort, das du gabst, hilf mir, wie ich dir einst half!“ 332 Statt etwas von Jasons Jugend auf seinen Vater zu übertragen, mindert sie seine körperlichen Kräfte nicht. 333 Vgl. Ovid, Metamorphosen, 7,297–349. Lienert (Geschichte, S. 74) erkennt in Medeas Verhalten einen paradigmatischen Bezug zum Vergehen des Peleus; in beiden Fällen handle es sich um einen Akt der Täuschung.

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Wahrnehmung fungiert erneut als Medium der Leidenschaft: wan er do sîne sinne / leit ûf ein ander wîp zehant (11.204f.). Bei dieser Motivation ist ein weiterer wichtiger Unterschied im Vergleich zu Ovids Dichtungen zu verzeichnen, der die Bedeutung des Minnemotivs einmal mehr dokumentiert: Nicht die Hoffnung auf Machtgewinn und die Abkehr von der Barbarin,334 sondern eine neu erwachte Liebe zu einer Frau von strahlender Schönheit und edler Abstammung veranlasst Jason zur Trennung. Dieser Treuebruch ist angesichts aller Taten, die die Protagonistin zugunsten ihres Mannes vollbracht hat, und angesichts seines doppelten Versprechens umso verwerflicher. Dies stellt der Erzähler heraus, als er die negativen Konsequenzen von Jasons untriuwe aufzeigt: dâ von er schaden vil gewan / und in kumber wart geleit. (11.226f.) Noch bevor die aus dem valschen muote (11.221) resultierenden Folgen dargestellt werden, legt der Erzähler das weitere Handlungsgeschehen im Sinne des sensus tropologicus aus: swer an der minne vaste / kan wenken unde strûchen (11.258f.), so warnt er nachdrücklich, der wil ze jungest brûchen / vil swachen solt ze lône (11.260f.). Für diese allgemeine Minneweisheit gilt Jason als Exempel: sîn leben wart geveiget / mit einem ende freissam. (11.264f.) Nicht nur vom Erzähler, auch von Medea wird Jasons Verhalten exemplarisch verstanden und der Tod als Strafe für seine Untreue interpretiert.335 Niemals solle eine Frau mehr einem Mann vertrauen, nachdem sie ein so vorbildlicher Ritter enttäuscht habe. Auffallend ist, dass Medeas Monolog auf dieser generalisierenden Ebene verbleibt und weder mit der Minnekonzeption noch mit ihrer individuellen Situation verknüpft wird. Zwar wird Medeas bevorstehende Tat als eine Rachehandlung gedeutet, ohne sie jedoch aus einem Affekt erwachsen zu lassen.336 Anders als Veldekes Dido oder Ovids Medea klagt Konrads Protagonistin wenig darüber, in welche ausweglose Lage sie durch die Trennung geraten ist. Nüchtern konstatiert sie, dass Jason die Treue gebrochen habe, und verspricht, dies zu ahnden.337 _____________ 334 In den ‚Heroides‘ legt Medea Jason eine imaginierte Frage nach ihrer Mitgift in den Mund: dos ubi sit, quaeris? (Her 12,199) Damit unterstellt sie, dass er sich aus politisch-dynastischen Motiven zur Ehe mit Creusa entschlossen hat. 335 Bereits zuvor wählte die Protagonistin den Tod als eine Form der Bestrafung, als sie Peleus für seine Untreue gegenüber Jason büßen ließ. Dieser Zusammenhang zwischen einer Tat und ihren Folgen ist nach Hasebrink (Rache, S. 213) ein Grundmuster des Romans, bei dem „Kontingenz […] durch eine destruierende Ausgleichshandlung“ ersetzt werde. 336 Der Vergleich mit dem Prätext relativiert die „spezifische Dynamik emotionaler und normativer Entgrenzung im Modus gewalttätiger Rache“, die Sieber (Medeas Rache, S. 56) am Ende der Episode zu erkennen meint. – Auch dass Medea „rasend vor Eifersucht“ handle (Müller, Höfische Kompromisse, S. 456), trifft nur auf die antiken Versionen zu. 337 Hasebrink (Rache, S. 229) kommentiert überzeugend: „Die Inszenierung der Tötung als Strafe nimmt Medeas Rache das Moment der Spontanität und macht es zu einem ethisch legitimierten Akt […].“

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Dass Medeas Rede im ‚Trojanerkrieg‘ eher der Haltung einer übergeordneten moralischen Instanz als einer emotional betroffenen Figur entspricht, wird vor allem im Vergleich mit den ‚Heroides‘ deutlich. Anschaulich berichtet Medea in dem antiken Liebesbrief von einer traurigen Vorahnung (mens mea tristis erat, Her 12,148), die plötzlich zur Gewissheit wird. Ihr tiefes Leid findet in Trauergebärden körperlichen Ausdruck. Wiederholt klagt sie über Jasons Lügen (ficta, Her 12,12), seinen Verrat (perfidia, vgl. Her 12,19.37) und seine Undankbarkeit (ingratus, Her 12,206), die ihn einen so großen Frevel (tantum scelus, Her 12,141) hätten begehen lassen. Mit den Worten Aesonia […] cede domo (Her 12,134) habe ihr Mann sie unbarmherzig vertrieben. Zwar gibt sich Medea noch der Hoffnung hin, den untreuen Geliebten (infidus, vgl. Her 12,210) zurückzugewinnen, doch droht sie zugleich mit einer Strafe (poena, vgl. Her 12,207). Dunkel kündigt sie an, dass Jason eine schreckliche Reaktion zu erwarten habe, wenn sie ihrem Zorn einmal folgen werde: ingentis parturit ira minas. / quo feret ira, sequar!338 Wie sehr sich Medea durch ein solches Handeln ins Unrecht setzt, wird in den ‚Metamorphosen‘ herausgestellt. Der Erzähler distanziert sich von der als entartet disqualifizierten Mutter (ulta mater, vgl. Met 7,397). Metonymisch wird die Gottlosigkeit ihres Tuns, als sie sich mit dem Blut der Söhne grässlich rächt, auf ihr Schwert (inpius ensis, Met 7,396) übertragen. Wie sehr sich Medea in der mittelalterlichen Adaptation von einer rachsüchtigen Figur zu einer strafenden Instanz wandelt, wird bei ihrer Antizipation des Geschehens ersichtlich. Der Gedanke an die Vergiftung und den Flammentod der neuen Braut dient bei Ovid als ein Akt der Identitätsfindung. Die Briefstellerin wird zu derjenigen, die sie im griechischen Mythos schon immer war; dies zeigen die Namensnennung und der damit verbundene Wechsel von der ersten zur dritten Person Singular: flebit et ardores vincet adusta meos! / dum ferrum flammaeque aderunt sucusque veneni, / hostis Medeae nullus inultus erit.339 Der Name ‚Medea‘ besitzt eine Referenzfunktion und weist auf ihr traditionelles Bild einer Rachefurie hin. Konrads Protagonistin wird hingegen bei der Ankündigung ihrer Tat nicht zu der Figur, als die sie in der antiken Dichtung immer dargestellt wurde. Statt sich mit Ovids Medea zu identifizieren, steht sie dem Geschehen distanziert gegenüber und stellt Ursache und Folge in einen logischen Kausalzusammenhang: sît Jâson hât verkepset mich / […] / sô wirt an im sîn triuwe swach / gerochen (11.286–11.289). _____________ 338 Ovid, Heroides, 12,208f. Übers. v. Häuptli: „Der Zorn brütet die Schreckenstat aus. / Folgen will ich, wohin mich der Zorn treibt.“ 339 Ovid, Heroides, 12,180–182. Übers. v. Häuptli: „Weinen wird sie, verbrannt löscht sie mir erst meinen Brand! / Wenn es noch Eisen und Flammen gibt und giftige Säfte, / bleibt bei Medea kein Feind jemals von Rache verschont.“

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Während Medeas Rache bei Ovid aus ihrer Hingabe an den Affekt des Zorns resultiert, bindet sie Konrad viel stärker an Jasons untreues Verhalten; die Strafe wird – anders als im antiken Mythos – auch an ihm selbst vollstreckt. Damit verbunden ist eine gegensätzliche Wertung der beiden Protagonisten. Medeas Handeln erscheint moralisch legitim,340 nachdem Jason als „Minnefrevler“ schuldig geworden ist.341 Auf sein Vergehen deutet auch seine Todesart hin: Dass er im Feuer umkommt, kann zum einen als eine logische Zurücknahme von Medeas Hilfe gedeutet werden; Jason findet den Tod, den er ohne sie bereits durch den Drachen erlitten hätte.342 Zum anderen versinnbildlicht der Brand ähnlich wie bei Dido das verzehrende Feuer der Liebe, das einst metaphorisch in Medea und Jason entzündet wurde und diesen nun leibhaftig verbrennt.343 Obgleich Medea Jason einen tôt bereitet, der bitter ist und angestlich (11.284f.), bleibt sie daz wunneclîche wîp (11.269), bis sie vom Erzähler aus der Geschichte genommen wird. Forschungsdiskussion: Fatalität und Fehlverhalten Ob die Veränderungen des antiken Mythos es erlauben, Konrads MedeaEpisode ebenso wie Veldekes Dido-Handlung und Gottfrieds ‚Tristan‘ als eine epische Tragödie zu klassifizieren, wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt.344 Vor allem Werner Schröder hat sich gegen diese _____________ 340 Konrads Beurteilung der Rachehandlung ist Bestandteil einer konsequenten Positivierung der Protagonistin. Dagegen wird in den ‚Metamorphosen‘ bereits Medeas Hilfe für Jason als Unrecht bezeichnet, was ihr auch selbst bewusst ist. Anders als Vergils Dido, die erst im Nachhinein dafür getadelt wird, ihre Schuld mit dem Namen ‚Ehe‘ zu beschönigen (vgl. Vergil, Aeneis, 4,171f.), reflektiert Medea schon vorab die negativen Folgen: coniugiumne vocas speciosaque nomina culpae / inponis, Medea, tuae? quin adspice, quantum / adgrediare nefas, et dum licet, effuge crimen! (Met 7,69–71). Übers. v. Fink: „Von Vermählung sprichst du, Medea, und suchst deine Schuld zu beschönigen? Öffne die Augen, nur zu, sieh, zu welcher Untat du bereit bist, und meide die Schuld, solange es dir noch freisteht!“ – Auch Lienert (Geschichte, S. 73) hält für den ‚Trojanerkrieg‘ fest: „Nirgends fällt auch nur ein Schatten des Negativen auf Medea“, weshalb ihr späteres Unglück nicht mehr als „Quittung für ihr Fehlverhalten“ erscheine (ebd., S. 69). 341 Jason entspricht in seiner Untreue Konrads Herkules, den Stackmann (Ovid, S. 248) als „Typ des bestraften Minnefrevlers“ charakterisiert. Vgl. auch Kokott, Konrad von Würzburg, S. 278–280. 342 Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 76. 343 Vgl. auch Müller, Höfische Kompromisse, S. 456. 344 Z.B. hält Sieber (Medeas Rache, S. 1) die Medea-Handlung für eine „der größten Geschlechter-Tragödien der abendländischen Kultur“, was bereits im antiken Mythos angelegt sei. Vgl. auch dies., ‚Medea-Morphosen‘, S. 157. – Die „Ambivalenz der höfischen Ordnung“ fokussierend, argumentiert Müller (Höfisches Troia, S. 132, 136), dass Konrad sich „für Handlungen, die ihr Ziel verfehlen, für die ins Gegenteil abgelenkte Intention, für

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Auffassung ausgesprochen und das Ende der Geschichte von Jason und Medea zum Anlass genommen, die These vom untragischen Mittelalter zu erneuern. Konrad nehme sich viel Zeit, die Minnebeziehung bis zum Feuertod des Helden darzustellen, dann habe es der Erzähler „plötzlich verdächtig eilig oder einfach keine Lust mehr“.345 Dass die Handlung „ohne rechten Schluß, ästhetisch unbefriedigend“ auslaufe, liege in einer Scheu mittelalterlicher Dichter vor der Tragik begründet. Allerdings baut Schröder seine Argumentation auf einer Prämisse auf, die das Ergebnis vorwegnimmt: Eine „tragische Gestalt […] darf es nach mittelalterlich-christlicher Lehre nicht geben. Der Sünder kann nach Gottes Willen und nach seiner unergründlichen Gnade oder Ungnade in den Himmel kommen oder zur Hölle verdammt werden, tragisch ist sein Los nicht, weil es in Gottes Hand liegt. Echte Tragik wäre ein Vorwurf gegen Gott.“

Schon vor dem „unvermittelte[n] und matte[n] Schluß“ moniert der Interpret die „breit ausgeführte[n] Abschweifungen“, mit denen der Erzähler die „sich abzeichnende Tragödie immer wieder mit Fleiß unterbrochen, schließlich abgebrochen und im Sande verlaufen lassen“ habe.346 Obwohl Schröder eingesteht, dass ein Erzähler kein Dramatiker sei und eine sich andeutende Tragödie nicht formal zum Abschluss bringen müsse, verkennt er mit seiner Kritik an den eingeschalteten Episoden den Gattungsunterschied zwischen der konzentrierten Darstellungsform der Tragödie und der breiten Fülle eines Romans. Auch findet Konrads Ziel, ein maere zu dichten, das alle verfügbaren Erzählungen vereint, keine Berücksichtigung.347 Seine Annahme, mittelalterliche Autoren stünden einem tragischen Stoff distanziert gegenüber, kann Schröder anhand von Konrads altfranzösischer Vorlage stützen. Benoît spart im ‚Roman de Troie‘ die gesamte Konflikthandlung zwischen Jason und Medea aus und schließt die Episode mit dem Aufbruch nach Griechenland. Das unglückliche Ende wird nur in einer knappen Vorausdeutung angekündigt; der Erzähler verurteilt Medeas Bereitschaft, den Fremden zu begleiten, ebenso wie Jasons spätere _____________ ‚tragische Ironie‘“ interessiere. Friedrich (Diskurs, S. 104, 113) spricht von der „tragische[n] Liebesgeschichte von Jason und Medea“ und vertritt im Hinblick auf die Geburtsgeschichte des Paris die Ansicht, dass Konrad „antike Tragik und christliche Providenz miteinander verbindet“. 345 Schröder, Über die Scheu vor der Tragik, S. 7. Zu den folgenden Zitaten vgl. S. 8f. 346 Schröder, Über die Scheu vor der Tragik, S. 21, 11 (nach Reihenfolge der Zitate). Vgl. auch S. 20: „Die lange Unterbrechung tut der tragischen Liebesgeschichte ersichtlich Abbruch und soll es vielleicht sogar […].“ 347 Dies kritisiert auch Lienert (Geschichte, S. 9, Anm. 56), die Schröder vorhält, Konrads Gesamtkonzept zu leugnen und die neuere Forschungsliteratur zu ignorieren.

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Trennung von ihr.348 Auch Herbort von Fritzlar weiß im ‚Liet von Troye‘ nicht mehr als seine französische Hauptquelle zu erzählen. Nachdem Medea zum Entsetzen ihrer Landsleute entführt worden ist und Jason in seiner Heimat viel Bewunderung gefunden hat, wird die Handlung mit dem Hinweis auf die fehlende Fortsetzung in der Vorlage abgeschlossen.349 Gerade im Vergleich zu den beiden früheren mittelalterlichen Trojaromanen ist jedoch hervorzuheben, dass Konrad die Geschichte von Jason und Medea nicht mit der Abfahrt von Kolchis enden lässt.350 Dass der mittelhochdeutsche Autor Jasons Untreue im Rückgriff auf Ovids ‚Metamorphosen‘ und die ‚Heroides‘ ausführt, zeugt gerade nicht von seiner Distanz gegenüber dem antiken Tragödienstoff. Selbst der Verzicht auf das Motiv des Kindermords lässt sich nicht nur mit Konrads Rücksichtnahme auf sein Basler Publikum erklären.351 Schon in den ‚Heroides‘ wird Medeas Rache nur dunkel angedeutet (vgl. Her 12,207–212), um den fiktionalen Entwurf eines Briefes zu wahren, bei dem die verlassene Frau noch auf die Rückkehr ihres Geliebten hofft. In Analogie zu Ovids literarischem Konzept ist zu überlegen, inwiefern der Tod des untreuen Ehemanns Ergebnis einer planvollen Umgestaltung ist. Die Medea-Handlung des ‚Trojanerkriegs‘ wäre dann durch die Strategie gekennzeichnet, tragische Elemente anders zu motivieren, statt sie zu eliminieren. Die Frage, welche Form des Tragischen dem ‚Trojanerkrieg‘ zugrunde liegt, wurde in der Forschung mehrfach diskutiert. Auf der Suche nach Konrads Erzählkonzept macht Christoph Cormeau die „Perspektive der tragischen Unausweichlichkeit, eines historischen Fatums, das die vielen einzelnen Figuren herausfordert und über sie hinweggeht“, ausfindig. Auch er betont, dass das „vorwiegend kollektiv-heilsgeschichtlich und individuell-moralisch denkende Mittelalter“ keine rechte Instanz habe, die unausweichliche Schicksalhaftigkeit begründen könne. Dennoch ziele _____________ 348 Benoît de Sainte-Maure, Roman de Troie, V. 2030–2040: Grant folie fist Medea: / Trop ot le vassal aamé, / Por lui laissa son parenté, / Son pere e sa mere e sa gent. / Assez l’en prist puis malement; / Quar, si com li Autors reconte, / Puis la laissa, si fist grant honte. / El L’aveit guardé de morir: / Je puis ne la deüst guerpir. / Trop l’engeigna, ço peise mei; / Laidement li menti sa fei. – Auf eine Präsentation der bevorstehenden Ereignisse möchte der Erzähler des ‚Roman de Troie‘ aus ähnlichen Gründen wie der des ‚Trojanerkriegs‘ verzichten: Trestuit li deu s’en corrocierent, / Qui mout asprement l’en vengierent / N’en dirai plus, ne nel vueil faire, / Quar mout ai grant uevre a retraire. (V. 2041–2044) 349 Vgl. Herbort von Fritzlar, Liet von Troye, V. 1177–1181: Hie ensaget nv niht me / Daz welsche Buch von Iosane / Noch von sinem wibe / Min rede alhie auch blibe / Als sie da ist bliben. – Benoît kündigt Jasons Untreue bereits im Kontext der Liebesnacht an. Vgl. Benoît de SainteMaure, Roman de Troie, V. 1636–1644. 350 Ebenso wendet Sieber (Medeas Rache, S. 8) gegen Schröder ein, dass „Konrad gerade dort weitererzählt, wo sich Benoît dem Ende verweigert.“ 351 Vgl. Schröder, Über die Scheu vor der Tragik, S. 26. Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 9, Anm. 56.

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Konrad von Anfang an „in Richtung der großen Geschichtstragödie“ und verstehe es, „Tragik mit seinen Mitteln nachzukonstruieren“.352 Dies versucht Cormeau, am Beispiel von Achills Liebe zu Deidamia zu zeigen.353 Der Minnehandlung werde eigenständiges Gewicht verliehen, doch sei die Liebe nicht mit dem Kampf harmonisierbar.354 Im Zerbrechen des anzitierten Modells der Minnenovelle werde Tragik sichtbar, da das individuelle Einzelschicksal von der historischen Konstellation aufgesogen werde und der übermächtigen Realität unterliege. Dieses Prinzip betrachtet Cormeau als charakteristisch für Konrads Erzählweise. Der Verfasser des ‚Trojanerkriegs‘ reihe nicht nur geschlossene Episoden aneinander, sondern knüpfe „offenbleibende Strukturen zu einer Realität von tragischer Verstrickung“ ineinander. Eine ähnliche Auffassung vertritt Hartmut Kokott. Er würdigt ebenfalls Konrads Verfahrensweise, die aus unterschiedlichen Traditionen entnommenen Elemente zu einem „durchgängigen, bewußt und stringent strukturierten Ganzen“ zu verbinden, das seinem „tragischen, prinzipiell unaufhaltsamen Ende“ zulaufe.355 Konrad lasse am „Verhängnis seiner Helden“ keinen Zweifel aufkommen und halte den Ausgang durch Prophezeiungen, Vorausdeutungen und Erzählerkommentare stets präsent.356 Auch wenn Kokott den Begriff der Fatalität nicht explizit mit dem des Tragischen gleichsetzt, basiert seine Argumentation doch auf derselben Tragikvorstellung wie bei Cormau: Das Schicksal der Figuren gilt als tragisch, weil alle Bemühungen sie nur umso tiefer in ihr Verderben verstricken und der Untergang unaufhaltsam ist. Diese Deutung ist von Franz Josef Worstbrock kritisiert worden, der Cormeaus Erzählkonzept der tragischen Unausweichlichkeit seine ‚Poetik des Zerfalls‘ entgegenstellt. Am Beispiel vom Tod des Herkules führt Worstbrock vor, wie Handeln und Erkennen, Minne und Rittertum, Liebe und Treue auseinandertreten und zentrale höfische Normen ihre Verbindlichkeit eingebüßt haben.357 Dieser Zerfall werde im Fehlverhalten der einzelnen Figuren sichtbar, die ihren eigenen Untergang selbst herbeiführten. Damit ist nicht die „Schicksalhaftigkeit vielfachen Scheiterns“,358 sondern _____________ 352 353 354 355

Cormeau, Quellenkompendium, S. 309f., 319. Vgl. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg, V. 14.059–17.321. Vgl. Cormeau, Quellenkompendium, S. 315. Zu den folgenden Zitaten vgl. auch S. 318f. Kokott, Konrad von Würzburg, S. 277, 262. – Dass ein ganzes Bündel an Faktoren, nämlich „Gott, natûre, gelücke, Magie, Rache, Rhetorik“, für den Handlungsverlauf verantwortlich ist und „deren kompliziertes Verhältnis zueinander allererst so etwas wie Schicksalhaftigkeit“ markiert, betont Friedrich (Diskurs, S. 116). 356 Kokott, Konrad von Würzburg, S. 280, vgl. auch S. 276. 357 Vgl. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg, V. 37.875–38.744; Worstbrock, Tod des Hercules. 358 Cormeau, Quellenkompendium, S. 311.

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ein schuldhaftes Unrecht maßgebende Ursache für das Unglück. Ein Held, dessen Handeln den Charakter tragischer Unausweichlichkeit habe, müsse bei Konrad noch gesucht werden. Aus diesem Grund ruft Worstbrock dazu auf, „die landläufig gewordene Rede von der ‚Fatalität‘ des Geschehens im ‚Trojanerkrieg‘ zu revidieren.“359 Statt dem Prinzip der Unvermeidbarkeit, die ein wesentliches Element der Tragikvorstellung von Boethius und Hegel bildet, rückt er die Schuldfrage in den Mittelpunkt, die Anknüpfungspunkte zu den antiken Tragödientheorien bietet. Der Tod des Herkules ist als Beispiel glücklich gewählt, bekennt sich der Held doch selbst schuldig und geht von seinem Fehlverhalten aus, sei es Untreue in der Liebe oder unrechtmäßige Gewalt im Kampf.360 Wird hingegen der gesamte ‚Trojanerkrieg‘ berücksichtigt, kann die persönlich verantwortete Schuld nicht als alleinige Erklärung für das Unglück der Protagonisten dienen. Elisabeth Lienert weist in ihrer grundlegenden Studie zu Konrads ‚Trojanerkrieg‘ darauf hin, dass sämtliche Versuche, eine Katastrophe zu vermeiden, scheitern. Alle erdenklichen Maßnahmen würden gegen das Verhängnis getroffen, aber diese blieben vergeblich und verstrickten die Menschen stärker ins Unheil. Zwar schienen an einzelnen Stellen immer wieder Alternativen zur Tragödie greifbar, doch gelinge es aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht, das Unglück aufzuhalten. Während auf der Erzählerebene Ursachen präzise benannt und moralisch angeprangert würden, dominiere auf der Handlungsebene das Überpersönliche, eine „strukturgewordene Fatalität“.361 Diese unheilvolle Entwicklung ist stoffgeschichtlich bedingt. Zu Recht betont Kokott, dass der Gattung der Trojaromane stets eine negative Teleologie zugrunde liege. Dadurch unterschieden sie sich grundlegend von anderen höfischen Werken, in denen die Handlung nach einer Zeit der Bewährung ein gutes Ende nehme.362 Der bekannte Verlauf des Trojanischen Krieges führe in den „unabwendbaren Untergang der Stadt“, weshalb die meisten Helden den Tod fänden. Konrads Rezipienten wüssten von Anfang an, dass die Protagonisten keine Möglichkeit haben, dem „Walten eines vorbestimmten Schicksal“ zu entrinnen.363 Vor diesem themenspezifischen Hintergrund ist Cormeaus Bemerkung, das Handeln der _____________ 359 Worstbrock, Tod des Hercules, S. 284. 360 Vgl. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg, V. 38.470–38.475, 38.660–38.669. 361 Vgl. Lienert, Geschichte, S. 270, 313. Vgl. auch dies., Antikenromane, S. 135. Den Terminus der Fatalität verwendet auch Müller (Höfisches Troia, S. 136). 362 Vgl. Kokott, Konrad von Würzburg, S. 281. Auch Müller (Höfisches Troia, S. 120) hebt diese Differenz hervor: „[…] weil es nicht bloß um âventiure, sondern um einen wirklichen Krieg geht, nehmen die Troiaromane […] häufig eine Gegenposition zur Idealisierung von ritterschaft im höfischen Roman ein. Der Troia-Mythos rückt in die Position eines Gegenmythos zu dem um König Artus“. 363 Kokott, Konrad von Würzburg, S. 280.

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Figuren bleibe der historischen Konstellation untergeordnet, für den Handlungsverlauf des gesamten Romans zweifellos zuzustimmen.364 Zudem grenzt er sich von der Sichtweise Hans-Joachim Gerentz’ ab, der die Menschen zu bloßen Marionetten degradiert.365 Stattdessen geht Cormeau von einer individuellen und kollektiven Schuld der Akteure aus, die jedoch als „Teilkausalität“ dem Fatum untergeordnet sei. Konrad kombiniere subjektiv motivierte Teilabläufe und objektive Konfliktgründe kontrastierend, so dass eine Kausalkette entstünde.366 Dies lenkt den Blick auf die einzelnen Episoden, in denen ein schuldhaftes Vergehen der Protagonisten eine mögliche Handlungsmotivation sein kann. Wie Worstbrock betont, genügt hierbei weder der Rückzug auf den ‚per se tragischen Stoff‘ noch eine unreflektierte Verwendung eines Tragikbegriffs.367 In der Jason-Medea-Handlung spielt die Unvereinbarkeit von Liebe und Kampf, die Cormeau zum Leitmotiv für den ‚Trojanerkrieg‘ erklärt, keine Rolle. Vielmehr ist Jasons Heldentum Voraussetzung für Medeas Liebe und diese ermöglicht ihm wiederum, einen gefährlichen Kampf zu bestehen. Gleichwohl wird auch hier das Schema eines Minneromans zugrunde gelegt und gebrochen, indem Jason die zentralen höfischen Werte der triuwe und staete vergisst. Folglich ist der Aspekt der Schuld ähnlich bedeutsam wie in der Herkules-Episode. Wiederholt weist der Erzähler darauf hin, dass Jason seinen Tod aufgrund seiner Untreue selbst zu verantworten hat. In seinem Nachruf rühmt er ihn als untadeligen Helden, der jedoch diesen einen Fehler begangen habe:368 Sus nam ein ende bitter Jâson der werde ritter, der keinen wandel nie begie, wan disen einen, daz er die verkôs durch sîne unstaete, diu gar mit triuwen haete geminnet und gemeinet in. (11.339–11.345)

_____________ 364 Ähnlich urteilt Haug (Schwierigkeiten, S. 351) mit Blick auf den Primat der Stoffgeschichte. Sämtliche Bemühungen, die „Verkettung des Unheils“ zu durchbrechen, seien zum Scheitern verurteilt. Ungeachtet aller gegenteiligen Ansätze könne das Geschehen nur seine eigene Sinnlosigkeit demonstrieren: „Die Geschichte zehrt als Bereich des unentrinnbaren Verhängnisses jedes fiktional-sinnkonstituierende Muster auf.“ 365 Vgl. Cormeau, Quellenkompendium, S. 318; Gerentz, Konrad von Würzburg, S. 36. 366 Vgl. Cormeau, Quellenkompendium, S. 319, 311. 367 Vgl. Worstbrock, Tod des Hercules, S. 284, Anm. 25. Seine Kritik zielt gegen Pfennig, erniuwen, S. 209. 368 Konrad lehnt sich an eine Formulierung Ovids an, die dieser jedoch auf eine andere Figur bezieht. Getadelt wird in den ‚Metamorphosen‘ (vgl. 7,402) Aigeus, der Medea nach ihrer schrecklichen Tat Zuflucht gewährt, wohingegen an Jason keinerlei Kritik geübt wird.

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Worstbrocks Beobachtungen zum Tod des Herkules lassen sich daher vollständig übertragen:369 Vom Charakter tragischer Unausweichlichkeit kann auch bei Jason nicht gesprochen werden. Vielmehr statuiert der Erzähler an ihm ein Exempel, indem er Jasons Treuebruch und sein schreckliches Ende in einen engen Kausalzusammenhang stellt.370 Wird die antike Tragödie der betrogenen Rächerin also in ein mittelalterliches Lehrstück vom untreuen Ehemann verwandelt, bei dem auf ein Vergehen eine gerechte Strafe folgt? Aus Jasons Sicht ließe sich so argumentieren, wobei der Leser nicht erfährt, welche Haltung der Protagonist gegenüber seinem Tod einnimmt. Anders als Herkules zeigt Jason keine Reue, stellt sich bei ihm keine Erkenntnis ein und können demzufolge Handeln und Erkennen nicht auseinanderfallen. Eine gerechte Vergeltungsaktion würde weder nach antikem noch nach modernem Verständnis den Kriterien einer Tragikdefinition entsprechen. Die Fokussierung auf Jasons zwar bedauerlichen, aber verdienten Tod scheint den Erwartungen zuwiderzulaufen, die ein Rezipient in Kenntnis antiker und neuzeitlicher Medea-Erzählungen haben mag. Konrad gehe es „nicht um Medeas inneres tragisches Schicksal“, meint Lienert, sondern „um die bestrafte Untreue, […] um Variationen seines Leitthemas der Vergeblichkeit menschlichen Handelns“.371 Deswegen sei Medeas weiteres Geschick für den Autor uninteressant. Ist Schröders These von der Scheu vor der Tragik im ‚Trojanerkrieg‘ letztlich doch zuzustimmen? Gegen die Interpretation einer angemessenen Strafe spricht der Kommentar des Erzählers. Er betont noch einmal die Tadellosigkeit des Helden, bevor er auf den einen Fehler hinweist, der ihn auf schreckliche Weise sein Leben gekostet habe. Weil die bitteren Konsequenzen Jasons Fehlverhalten deutlich übersteigen, empfindet der Erzähler Mitleid: daz er sô jaemerlichen hin / gezücket von dem tôde wart, / daz clag ich durch die reinen art, / der an im lac sô rehte vil. (11.346–11.349) Die Frage, weshalb Konrads Held Medea überhaupt untreu wird, veranlasst Burkhard Hasebrink, das Verhältnis von der Unausweichlichkeit des Geschehens und dem Handeln der Figuren neu zu bestimmen. Er versucht, die Kategorie der Fatalität für die Jason-Medea-Episode auf andere Weise fruchtbar zu machen, indem er diese in das Innere der Figuren verlagert und den Affekt als ihr Medium begreift.372 Sowohl Medeas Ent_____________ 369 Selbst die Art des Todes weist Gemeinsamkeiten auf, vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 75. 370 Vgl. auch Pfennig, erniuwen, S. 208: „Jasons qualvolles Sterben etwa wird ihm von keinem dunklen Verhängnis aufoktroyiert, sondern es resultiert aus dem ebenso unmoralischen wie unklugen Verrat des Heroen an der mächtigen Zauberin Medea sowie aus deren Entscheidung zur Rache.“ 371 Lienert, Geschichte, S. 76. 372 Vgl. Hasebrink, Rache, S. 228.

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scheidung für den Fremden als auch Jasons plötzlichen Treuebruch interpretiert Hasebrink als ein Scheitern des Kalküls der Figuren, die das Handlungsgeschehen vergeblich zu beeinflussen suchten. Aus der Beobachtung, dass Medeas Verstand der Minne zum Opfer fällt, zieht er den Schluss: „Die Verlagerung der Motivation auf die Figuren trifft bei dem Versuch, sich von Konzepten der Fatalität zu verabschieden, auf die Fatalität des Affekts.“373 Die Implikationen dieser Vorstellung einer fatalen Liebe werden von Jan-Dirk Müller entfaltet. Unter dem Leitbegriff „Aporien passionierter Liebe“ untersucht er Minnebeziehungen der höfischen Epik, die sich einer sozialen Einbettung entziehen und die gesellschaftliche Ordnung gefährden. Eine solche Liebespassion falle den Menschen von außen als etwas Fremdes und Zwanghaftes an, ohne von einem Willen beherrschbar zu sein.374 Obwohl in den Liebesgeschichten in Konrads ‚Trojanerkrieg‘ alles zu stimmen scheine, verletzten sie mehr oder minder drastisch die gesellschaftlichen Ordnungen und endeten deshalb schlecht. Zwar passten die Protagonisten aufgrund ihrer Herkunft und ihrer herausragenden Eigenschaften zueinander und sei ihre Beziehung auch durch das Urteil anderer legitimiert. Dennoch überschreite ihre Passion Grenzen, was sich verhängnisvoll auswirke. Während Hasebrink die Liebe an die Stelle des Fatums treten lässt, erklärt Müller sie zu einer gewaltsamen, übermenschlichen Macht, die das Leben der Protagonisten ins Negative verkehrt: „Minne ist dämonische Verführung und verwandelt die Liebenden in dämonische Wesen. Die buchstäbliche Magie der Passion […] ist durch die Mythisierung ihrer psychischen Dimension ersetzt.“ Konrad dekonstruiere die höfische Minne, indem er ihre „zerstörerische Potenz“ entfalte und „gerade ihre höchste Steigerung und ideale Vollkommenheit in ihre katastrophale Vernichtung umschlagen“ lasse. Selbst wenn Müller und Hasebrink auf den Begriff der Tragik verzichten, gehen von ihren Überlegungen wichtige Impulse für die Charakterisierung einer tragischen Liebe aus. Tragikkonzept: Niuwegerne minne Wie bei der Dido-Handlung im ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke und im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg ist die Minne auch in der Jason-Medea-Geschichte im ‚Trojanerkrieg‘ das zentrale Handlungsmotiv, durch das die Protagonisten eine Wende vom Glück ins Unglück erfahren. Welche Macht die Liebesleidenschaft auf die Figuren ausübt, wird vor allem _____________ 373 Hasebrink, Rache, S. 221. – Zum „Fatum der Liebe“ vgl. auch Sieber, Medeas Rache, S. 2. 374 Müller, Höfische Kompromisse, S. 419, 452, 456f., 452, 460 (nach Reihenfolge der Zitate).

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an Medea vor Augen geführt. Schon bei Ovid beklagt die Protagonistin, dass ihre Bemühungen vergeblich sind, sich dem starken Affekt zu widersetzen. Ihre Ohnmacht weiß sie sich nur durch den Einfluss einer übergeordneten, dämonischen Kraft zu erklären: ‚frustra, Medea, repugnas / nescio quis deus obstat‘ ait; ‚mirumque, nisi hoc est, / aut aliquid certe simile huic, quod amare vocatur. / […]‘.375 Die Diskrepanz zwischen ihrem Verlangen und ihrer Vernunft, deren Rat Medea wider besseres Wissen nicht beherzigen kann, macht ihre Leidenschaft so unberechenbar und gefährlich: sed trahit invitam nova vis, aliudque cupido, / mens aliud suadet. video meliora proboque, / deteriora sequor.376 Konrad hat den Zwiespalt, in dem sich Ovids Medea vor ihrer Hilfszusage an Jason befindet, an eine spätere Stelle verlagert und breiter entfaltet. Als seine Protagonistin lange auf den geliebten Mann warten muss, beginnt sie, an der Richtigkeit ihrer Abmachung zu zweifeln, und versucht, sich gegen die Minne zu wehren.377 Ihre Anstrengungen erweisen sich jedoch als kontraproduktiv: ie vaster von im kêrte, / sô minne ir herze sêrte / ie balder und ie harter. (8609–8611) Vor allem durch den Vergleich mit anderen Konfliktsituationen der höfischen Literatur zeigt sich, wie die gängige Wertehierarchie durch die Liebesleidenschaft außer Kraft gesetzt wird: Konrads Heldin sieht sich von zweiger hande leide (8717) belastet, da sowohl aus einer Entscheidung für die Minne als auch für die Sittsamkeit negative Folgen erwachsen werden. Obwohl sie zwischen beiden Alternativen hin- und hergerissen ist, handelt es sich nicht um einen ausweglosen Konflikt.378 Vielmehr erkennt Medea genau, welche Handlungsmöglichkeit die richtige ist, sieht sich aber jedoch außerstande, diese zu realisieren: ich hân daz waeger spil ersehen und daz unwaeger ouch dâ bî. waz mir guot, oder schade sî, daz hân ich beidez wol ervarn und mac mich doch niht hie bewarn vor schedelicher swaere. daz guote ist mir unmaere daz arge lieber vil. (8666–8673)

_____________ 375 Ovid, Metamorphosen, 7,11–13. Übers. v. Fink: „Umsonst, Medea, setzt du dich zur Wehr; irgendein Gott ist dagegen. Es wäre ein Wunder, wenn es nicht das ist – oder wenigstens etwas Ähnliches –, was man Liebe nennt. […]“ 376 Ovid, Metamorphosen, 7,19–21. Übers. v. Fink: „Aber wider meinen Willen reißt mich eine unbekannte Macht dahin. Zum einen rät mir mein Verlangen, die Vernunft zum andern. Ich sehe das Bessere, finde es gut – und strebe doch nach dem Schlechteren!“ 377 Medeas Sorge, ihren Vater zu hintergehen, passt nicht zur positiven Ausgangssituation. Lienert (Geschichte, S. 63) schließt daraus, dass Konrad den inneren Konflikt stärker ausspielen wollte, als es seine eigene Konstellation hergab, um seine Figur „als moralisch besonders skrupulös“ darzustellen. 378 Vgl. auch S. 310–321.

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Medeas Unvermögen, ihrem Verstand gemäß zu handeln,379 ist angesichts ihrer kognitiven Kompetenzen umso erstaunlicher, wie der Erzähler betont. Wenngleich die Protagonistin eine kundige Gelehrte und mächtige Zauberin sei und alle Frauen der Welt an hôher kunst (7848) überträfe, hülfen ihr diese Kenntnisse in der Liebe nicht: ir kunst ir keine stiure bôt / vür der hôhen minne craft. / si enhalf niht alle ir meisterschaft, / noch ir starken witze list (7842–7845). Auch bei dieser Kontrastierung von Zauberkunst und Liebesmacht greift Konrad ein in der antiken Dichtung vorgeprägtes Motiv auf, das dort aus der Figurenperspektive thematisiert ist. So stellt Medea in den ‚Heroides‘ ihre Fähigkeit, Schlangen und wütende Stiere zu zähmen, dem misslungenen Bemühen gegenüber, einen einzigen Mann zu halten. Sie, die jedem helfen konnte, leidet unter ihrer eigenen Hilflosigkeit: quaeque feros pepuli doctis medicatibus ignes, / non valeo flammas effugere ipsa meas.380 Medeas Überwältigung durch die Liebe legt nahe, das Handlungsgeschehen gemäß der neuzeitlichen Tragikvorstellung zu interpretieren. Die Protagonistin scheint zum Unglück bestimmt, ohne ihr Schicksal selbst beeinflussen zu können. Die Deutung einer finalen Motivierung des Unglücks lässt sich für die antike Dichtung jedoch nicht aufrecht erhalten. In den ‚Metamorphosen‘ kontrastiert der Erzähler rectum pietasque pudorque (Met 7,72), die Medea hätte wählen müssen, mit ihrer Liebe. Dass die richtige Entscheidung durchaus im Bereich des Möglichen lag, belegen Medeas zeitweilige Standhaftigkeit und ihr erster Sieg über den Liebesgott: et victa dabat iam terga Cupido.381 Damit entspricht Ovids Motivierung der Handlung eher der senecanischen Affekttheorie als der modernen Tragödientheorie. Nachdem Medea einmal der Leidenschaft für Jason nachgegeben hat, begeht sie für ihn schreckliche Verbrechen und stürzt sich so selbst ins Unglück. Ungeachtet vieler Gemeinsamkeiten zwischen antiker und mittelalterlicher Dichtung sind wichtige Unterschiede hinsichtlich der Bewertung des Affekts zu verzeichnen: Medeas Überwältigung durch die Liebe bleibt bei Ovid stets negativ konnotiert; hätte die Protagonistin der Leidenschaft erfolgreich Widerstand geleistet, wäre ihr Untergang vermeidbar gewesen. In der mittelalterlichen Literatur erfolgt dagegen eine Aufwertung des Affekts,382 die mit einer Ausweitung seiner Macht einhergeht. Entziehen _____________ 379 Vgl. auch Ovid, Heroides, 12,32: illa fuit mentis prima ruina meae. 380 Ovid, Heroides, 12,165f. Übers. v. Häuptli: „Ich, die ich loderndes Feuer vertrieb mit listigem Zauber, / kann meinen eigenen Brand nicht einmal selber entgehn.“ 381 Ovid, Metamorphosen, 7,73. Übers. v. Fink: „[B]esiegt wollte Amor schon weichen.“ – Schon im Moment der Hilfszusage weiß Medea, dass sie eine falsche Entscheidung trifft (vgl. Met 7,92–94). 382 Ovids Konnotation des Liebeswahnsinns (si possem, sanior essem, Met 7,18. Übers. v. Fink: „Ach, wenn ich das könnte, stünde es besser um mich!“) fehlt bei Konrad ganz. Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 63, Anm. 148.

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können sich die Figuren der Minne nicht mehr, sondern sie sind ihrem Einfluss hilflos ausgeliefert. Im Gegensatz zur stoischen Affektlehre und zur antiken Tragödientheorie wird in der höfischen Literatur nicht vor der Hingabe an die Leidenschaft, sondern vor den tödlichen Konsequenzen bei einer Unterdrückung des Begehrens gewarnt. Schon früh wird an Jasons Beispiel ersichtlich, dass die Minne körperliche Erfüllung finden muss, damit der Gesundheitszustand nicht nachhaltig beeinträchtigt wird. Der Protagonist selbst teilt seinem Gastgeber mit: ob er dâ minneclich gemach / niht fünde, er müeste ligen tôt. (7964f.) Die drohende Todesgefahr, in der sich der Liebeskranke befindet, wird vom Erzähler aufgegriffen und als richtige Diagnose bestätigt: het er niht senfte ruowe gar / schier an ir minne erworben, / sô müeste er sîn verdorben / und âne zwîvel tôt gelegen. (7968–7971) Vor diesem Hintergrund erhalten Medeas Worte, mit denen sie Jason die Rettung seines Lebens verspricht, einen doppelten Sinn. Im Kontext der Rede beziehen sie sich zum einen auf das gefährliche Abenteuer mit dem Goldenen Vlies, zum anderen auf Jasons bedrohlichen Gesundheitszustand. Medeas Liebe wird zur entscheidenden Bedingung, die ihm in beiderlei Hinsicht ein Weiterleben ermöglicht: wirt iu von dem gewalte mîn rât unde helfe niht beschert, sô wizzent, daz ir ungenert belîbent ûf der erden und daz ir mügent werden von keiner arzenîe erlôst. (8352–8357)

Ähnlich wie Heinrich von Veldeke und Gottfried von Straßburg stellt Konrad von Würzburg die Minne als eine Verwundung und Krankheit dar, die nur durch eine Erfüllung des Verlangens geheilt werden kann. Ebenso wie im ‚Tristan‘ sind beide Protagonisten einander in Liebe zugetan, weshalb nicht nur der physische Krankheitssymptome aufweisende Jason, sondern auch die psychisch angeschlagene Medea um ihr Leben fürchtet. Im Gespräch mit ihrer Erzieherin klagt die Protagonistin, in ihrem Herzen tödlich verletzt worden zu sein, wodurch ihr ganzes Sein in Mitleidenschaft gezogen sei. Ohne die Nähe zum Geliebten, dessen ist sich Medea ebenso wie Dido gewiss, kann sie nicht existieren. Explizit macht sie die sexuelle Vereinigung zur Bedingung für ihr Überleben: ich bin von im ze tôde wunt an herzen und an lîbe. wird ich im niht ze wîbe und er mir z’eime manne, wie sol ich armiu danne genesen und gewerben?

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ich muoz bî namen sterben, tuot mich sîn minneclicher trôst von sender swaere niht erlôst. (8970–8978)

Während Jason von seiner tödlichen Krankheit geheilt zu sein scheint, nachdem er eine Liebesnacht mit Medea verbracht hat,383 bleibt ihr Wohlbefinden weiterhin von seiner Zuneigung abhängig. Die Gebundenheit ihres Lebens an das seine kommt erneut zum Ausdruck, als sie sich – im stillen Zwiegespräch mit dem abwesenden Jason – um seine glückliche Wiederkehr von der Aventiurefahrt sorgt: wan ich gelaege tôt dernider, / würd iuwer leben hôchgeborn / und iuwer clâriu jugent verlorn. (9526–9528) Auch in Griechenland bleibt Medea stets auf ihren Geliebten bezogen. Sie leidet mit Jason, als er wegen seines Vaters betrübt ist, und schließt eine Verjüngung auf seine Kosten aus, da sie sich auf diese Weise selbst körperliches Leid zufügen würde.384 Die Minne besitzt im ‚Trojanerkrieg‘ zwar eindeutig ein destruktives Potential, das zum Tod der liebenden Figur führen kann. Zugleich präsentiert Konrad sie jedoch auch als einen positiven Wert; die Minne schenkt Heilung und Freude, wenn sie sexuelle Erfüllung findet: ir vröude was dô worden ganz, / wan si vergaz ir pîne (9194f.), berichtet der Erzähler von den Empfindungen der Protagonistin, nachdem sie mit Jason geschlafen hat. Somit wird die Minne wie im ‚Eneas-‘ und im ‚Tristanroman‘ als ein antagonistischer Wert charakterisiert, der sowohl tiefes Leid als auch großes Glück bereiten kann. Dabei beziehen sich Freude und Schmerz nicht nur auf unterschiedliche Phasen einer Liebesbeziehung, sondern werden auch im ‚Trojanerkrieg‘ mehrfach übereinander geblendet. Schon bei Medeas erstem Auftreten wird die Minne als ambivalent dargestellt. Auf diese Weise beschreibt der Erzähler die Wirkung ihres Anblicks auf die Zuschauer: Ir bilde lûter unde guot / daz gap in allen hôhen muot / und jâmers vil dar under (7543–7545). Zahlreiche Griechen werden aufgrund der Schönheit der Königstochter von der Liebe zu ihr erfasst, wobei sie diesen Zustand als schmerzlich empfinden:385 ir minne zôch in ir gewalt des mâles vil der Kriechen, die siufzen unde siechen nâch ir begunden iemer mê. si tet vil mangem herze wê, daz in trûren wart gejagt. (7556–7561)

_____________ 383 So erklärt Jason seinem Gastgeber, daz er wol gesunt / des nahtes worden waere (V. 9378f.). 384 Vgl. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg, V. 10.347–10.349: daz ir niht trûric waerent / und iuwer clage verbaerent, / diu mir gît jâmer unde nôt. V. 10.474–10.477: ouch wirde ich selbe an lîbe cranc / und an vröuden gar dâ mite, / swenn iuwer jugent an ir site / von mîner schulde würde swach. 385 Die ambivalente Wirkung geht weniger von ihrer Schönheit als von der Minne aus (gegen Lienert, Geschichte, S. 59), die freilich durch ihr Aussehen geweckt wird.

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Sind die Folgen der Minne durch die Vielzahl der Betroffenen hier noch entpersonalisiert, so entfaltet sie wenig später in Medea und Jason ihre Wirksamkeit. Als die Königstochter den bekannten Helden sieht, empfindet sie grenzenlose Freude, die durch die Abwesenheit allen Kummers charakterisiert wird. Doch in das Hochgefühl mischen sich gleich darauf Leid und Schmerz: daz si mit liehten ougen in sach des mâles unde kôs, des wart ir vröude grundelôs und was ir leit zergangen. iedoch wart si bevangen mit jâmer und mit leide sît, wan si begunde in bî der zît als inneclîchen blicken an, daz von im ir herze enbran (7668–7676).

Die Präsentation dieser gegensätzlichen Gefühle erweckt zunächst den Eindruck, als ob Medea erst nur Freude und später – eventuell in einer Prolepse auf Jasons Untreue – Leid erfahren habe, doch wird diese chronologische Folge im Augen-Blick der Liebe aufgehoben. Wie sich an den gemischten Gefühlen der Figuren zeigt, fallen in der Minne hôher muot und jâmer (vgl. 7544f.) und vröude grundelôs (7670) und jâmer unde leit (vgl. 7673) in eins. Selbst als Medea sich längst seiner Gegenliebe sicher sein kann, Jason ihr eidlich Treue versprochen hat und sie nach seiner Rückkehr von der Aventiure auf eine weitere Liebesnacht hoffen darf, bleibt ihr Glücksgefühl mit Schmerz verbunden: von süezer minne luste / leit ir herze jâmers pîn. (10.130f.) Dieses auf Ovid zurückgehende, nicht aber in seinen Bearbeitungen des Medea-Mythos thematisierte Minneparadoxon stellt bereits Herbort von Fritzlar ins Zentrum seiner Liebesszene. Nachdem Jason für seinen plumpen körperlichen Annäherungsversuch von Medea zurechtgewiesen worden ist, zwingt ihn die Minne, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen: Waz ist liep vnd leit Hant sie dehein vnderscheit Ich wene sie beide sin ein Sint sie zwei son weiz ich vnder zwein Dehein vnder scheide Also han ich sie beide Wie ist mir armen so Ich bin truric vnd bin fro Iedoch entsebe ich wilen daz Daz min freude wirt laz Vnd min leit fur strebet So kvmet daz min herze swebet In einer vnsenften senftickeit

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Bi wilen lazzet mir daz leit Vnd wirt mir der freuden me So ist mir harte sanfte we Wilen sint sie vf der wage Gliche snel vnd trage So ist mir sanfte vnsanfte Vnd vnsanfte sanfte (733–752).386

Das Ineinander von Liebe und Leid, Trauer und Freude, angenehmen und unangenehmen Empfindungen erscheint Jason selbst höchst seltsam: Was ist daz ich geredet han / Kan daz imman vurstan / Daz ist harte wunderlich (753– 755). Kritisch überlegt er zunächst, ob er einer Täuschung aufgesessen ist, träumt oder verzaubert wurde (vgl. 756–758). Doch dann verwirft er diese Optionen und schließt sich dem Urteil des Erzählers an: Ez enist doch dehein zouber nit / Von minnen ez mir geschit (759f.). Die Minne ist die alleinige Ursache für den inneren Widerspruch, die Einheit gegensätzlicher Gefühle. Die topische Verwendung des liebe unde leit-Motivs, das sich bei zahlreichen weiteren mittelalterlichen Autoren nachweisen lässt, bedeutet nicht, dass das Minneparadoxon keine tragfähige Grundlage für ein höfisches Tragikkonzept liefern kann. Eine solche Schlussfolgerung hieße die Differenzen zwischen dem mittelalterlichen und dem modernen Autorund Werkkonzept zu verkennen, die sich in der Wiedererzählung einer Geschichte ebenso wie im Gebrauch der Topik niederschlagen. Zu Unrecht sind Topoi in der Moderne als stereotype Gebrauchsformeln, Klischees und gefrorene Ausdrücke disqualifiziert worden. Vielmehr bietet die Topik ein Gebrauchsinventar, aus dem sich ein gebildeter Autor bei der Gestaltung eines Werks bedienen kann.387 Konrad von Würzburg und Heinrich von Veldeke nutzen diese Möglichkeit, um die unglückliche Liebe von Medea und Dido zu beschreiben. Gleichzeitig verknüpfen und erweitern sie die vorgeprägten Formeln so stark, dass ein Minnekonzept entsteht, aus dem die Tragik des Geschehens resultiert.388 Aufschlussreich für die nähere Bestimmung dieses Konzepts ist nicht nur Konrads Inszenierung der ambivalenten Wirkung der Liebe auf der Handlungsebene, sondern sind auch die beiden Erzählerkommentare über das Wesen der Minne.389 Die erste Erläuterung erfolgt, nachdem Medea und Jason durch den gegenseitigen Anblick in Liebe entbrannt sind. Die narrative Instanz erklärt die plötzliche Entstehung dieser Zuneigung mit _____________ 386 Vgl. Herbort von Fritzlar, Liet von Troye. 387 Vgl. Knape, Betrachtungsweisen, S. 754; Schirren, Einleitung, bes. S. XIV. Vgl. auch Toepfer, Pädagogik, S. 95. 388 Vgl. auch Lienert, Geschichte, S. 66: „Ureigenste Zutat Konrads ist die breit entfaltete Leid-Terminologie […].“ 389 Lienert (Geschichte, S. 62) weist darauf hin, dass Konrad diese Bemerkungen selbstständig hinzugefügt hat.

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einer allgemeinen menschlichen Disposition.390 Dabei weist sie auf den snellen und lîhten anevanc (7780, 7791) der Liebe hin, deren Ende vil ofte […] / ze swaere genuogen liuten (7792f.) werde. Die Minne wird als eine Naturgewalt dargestellt, die dann besonders erfolgreich wirken kann, wenn sie auf beidseitiges Interesse stößt: Natûre ist alsô liste rîch: wâ si mac vinden ir gelîch, daz wol ir art gehillet, dem grebets’ unde billet biz ûf den grunt der sêle nâch. ir ist ze rehter liebe gâch und ûf der waren minne pfat. (7805–7811)

Jason und Medea gelten als Exempel für diese allgemeine Liebesweisheit. Weil sie sich wechselseitig Aufmerksamkeit schenken, werden sie von der Minne überwältigt. Bemerkenswerterweise verwendet Konrad in diesem Kontext eine ganz ähnliche Bezeichnung wie Veldeke, um die positive Art der Minne zu charakterisieren.391 Wesentliche Bedingungen für rehtiu liebe (7789, vgl. auch 7810, 7817) und wâr[e] minne (7811) sind Gegenseitigkeit und körperliche Erfüllung. Die pessimistische Einstellung des Erzählers, dass eine Liebesgeschichte oft ein schlechtes Ende nehme, bestätigt sich. Als Begründung für Jasons neue Beziehung wird erneut auf die Empfänglichkeit des Menschen für die Liebe verwiesen, die nun aber zu einem Charakterzug der Minne erklärt wird. Nicht die Hauptfigur, sondern die Minne selbst wird als unbeständig dargestellt, weshalb sie großes Leid bereiten kann und auch einen tadellosen Ritter wankelmütig werden lässt: daz schuof der minne unstaetekeit, / die genuoge wenken lêret / und si dar under kêret / in endelôsen smerzen. (11.228–11.231) Bedauernd merkt der Erzähler an, dass das Wesen der Minne so sei, dass sie selbst denjenigen entflammen könne, dessen Herz bereits gebunden sei. Auf diese Weise werde er seiner alten Liebe entfremdet: minn ist sô niuwegerne, / daz ir vertâner vürwiz / durch ganze liebe manigen sliz / kan zerren unde brechen. (11.234–11.237) Der Erzähler führt den fatalen Einfluss der Minne jedoch nicht an, um Jason gänzlich zu entlasten. Vielmehr warnt er vor einer solchen Untreue und fordert zur Beständigkeit auf, da eine bewährte Freundschaft nur so ihren wahren Glanz entfalten könne. Die Problematik von Medeas Handeln gerät im mittelalterlichen Roman dagegen im Unterschied zur antiken Dichtung kaum in _____________ 390 Nach Friedrich (Diskurs, S. 116) greift Konrad neben Fatum und Providenz wiederholt auf „natûre als sympathetische Kraft“ zurück, „um das Unbegreifliche begreifbar zu machen“. Zur Bedeutung der Natur für die Entstehung der Liebe vgl. auch Schnell, Causa amoris, S. 286–321. 391 Zu Lavinias rechter art der minne vgl. S. 359. – Auch Gottfried von Straßburg (Tristan, V. 1362) spricht bei Riwalin und Blanscheflur von lêal amûr.

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den Blick. Indem der Erzähler Jason für seine Treulosigkeit tadelt, wird auch im ‚Trojanerkrieg‘ ein kausaler Deutungsansatz für das Unglück der Figuren herangezogen. Ein finales und ein kausales Tragikmodell konkurrieren miteinander, wobei die Minne in beiden Interpretationen im Zentrum steht. Die Beziehung der beiden Protagonisten scheitert einerseits aufgrund von Jasons Fehlverhalten, das vom Erzähler gebrandmarkt wird, und andererseits aufgrund des widersprüchlichen Wesens der Minne. Diese ist auf Gegenseitigkeit, körperliche Erfüllung und Beständigkeit angewiesen und verstößt zugleich durch ihre Wankelmütigkeit und ihre Begierde nach Neuem gegen die eigenen Wertmaßstäbe. Nicht nur im frühen Hinweis des Erzählers, dass Liebesgeschichten häufig ein schlechtes Ende nehmen, auch in Medeas Ängsten ist das Scheitern der Verbindung von Beginn an präsent.392 Diese Befürchtungen sind nicht nur als eine Vorausdeutung auf das spätere Unglück zu verstehen,393 sondern weisen zugleich auf den Unsicherheitsfaktor hin, der der Minne innewohnt. Diese ist ein zwiespältiger Wert, die sowohl höchstes Glück als auch tiefstes Unglück verspricht. Damit erscheint die Minne viel differenzierter als ein äußerer Schicksalsschlag gezeichnet; Freude und Leid, Tod und Leben, Dauer und Unbeständigkeit sind in ihr dialektisch verschränkt. Entscheidend für die Wiedererzählung der Medea-Handlung im ‚Trojanerkrieg‘ ist demnach eine Leidenschaft, deren Tragik in ihrer eigenen Widerspruchsstruktur begründet liegt. Dieses Konzept einer tragischen Liebe bietet auch eine mögliche Erklärung für das plötzliche Verschwinden der Protagonistin aus der Erzählung. Die Weigerung, die Geschichte einer Figur fortzusetzen, kommt ihrer Vernichtung gleich. Für diesen Tod übernimmt nicht eine Figur der erzählten Welt, sondern der am Geschehen unbeteiligte Erzähler die Verantwortung. Angesichts Konrads Programm, alle verfügbaren maeren vereinen zu wollen, muss das erklärte Verschweigen, war Mêdêa kaeme sît (11.354), als ein gezieltes Textsignal verstanden werden.394 Der deutsche Autor passt den antiken Mythos durch eine veränderte Besetzung der Opferrolle seinem Tragikkonzept an. Die Protagonistin tötet im ‚Trojanerkrieg‘ ihren Mann und nicht ihre Kinder, weil die Minne das zentrale Motiv der tragischen Handlung ist.395 Würde sie wie ihre antiken Vorgängerinnen bei Euripides, Seneca oder Ovid ihren Ehemann durch den Kin_____________ 392 Nach Hasebrink (Rache, S. 222) handelt es sich weniger um ein psychologisches Phänomen, sondern um den „Indikator einer normativen Bruchstelle“. 393 Vgl. Lienert, Geschichte, S. 64. 394 Keineswegs handelt es sich um ‚eine billige Ausrede‘ (gegen Schröder, Über die Scheu vor der Tragik, S. 25). 395 Lienerts Hinweis (Geschichte, S. 76), der Kindermord sei nach Jasons Tod sinnlos, erklärt nicht, weshalb Konrad ihn statt der Kinder sterben lässt.

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dermord zu treffen suchen, verschöbe sich der Akzent von der partnerschaftlichen Liebe zu einem genealogischen Interesse. Ursache für die veränderte Rachehandlung im ‚Trojanerkrieg‘ ist also nicht eine „Scheu vor der Tragik“, sondern eine höfische Liebe, die nicht auf Fortpflanzungszwecke und politisch-dynastische Intentionen zu reduzieren ist.396 Aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit und der lebensnotwendigen Einheit mit dem Geliebten kann Jasons Vernichtung für Konrads Medea nicht folgenlos bleiben. Eine Fortführung ihres Lebens in Athen und eine zweite Heirat mit Aigeus, von der Ovid in den ‚Metamorphosen‘ berichtet, wäre mit der Ausschließlichkeit ihrer Liebe im mittelhochdeutschen Roman nicht zu vereinbaren. Indem der Erzähler die Protagonistin nach Jasons Tod auf der Ebene der Narration nicht mehr existieren lässt, macht er auf seine Position als Herr über die Geschichte aufmerksam. Konrads von Würzburg Konzeption einer tragischen Liebe lässt Jason und Medea nicht getrennt voneinander leben. 3.4 Tragische Liebe und literarischer Diskurs In mehreren höfischen Romanen wird das Unglück der Protagonisten durch eine tragische Liebe motiviert. So begeht Dido, die als mächtige Herrscherin in den ‚Eneasroman‘ eingeführt worden ist, nach der Trennung von ihrem Geliebten Selbstmord. Tristan muss wegen seiner Minne aus dem Land seines Erbonkels fliehen und stirbt in der Version des Thomas von Britannien, weil er sich nicht mehr von Isolde geliebt glaubt. Die zauberkundige Königstochter Medea schließlich büßt ihre Daseinsberechtigung ein, nachdem sie Jasons Liebe verloren und ihren Mann ermordet hat. Ursache für das Leid und den Tod der Figuren ist die Widerspruchsstruktur der Minne. Diese schenkt den Betroffenen einerseits höchstes Glück, sofern ihr Begehren Erfüllung findet, andererseits bereitet sie schlimmste Qualen, wenn die Zuneigung nicht erwidert wird. Die Protagonisten sterben an dieser antagonistischen Liebe, sobald der negative Part dauerhaft dominiert.397 _____________ 396 Eine andere Ansicht vertritt Sieber (Medeas Rache, S. 141). Sie schließt aus der Erwähnung der Geburt der Kinder, dass Medea „auf ihre biologische Funktion der Fortpflanzung reduziert und somit hierarchisch Iasons Filiationsdominanz untergeordnet“ werde. Den vermiedenen Kindermord deutet Sieber entsprechend als „Erhalt der eigenen, matrilinearen Reproduktionsmöglichkeiten“. 397 Ähnlich argumentiert Kuhn (Tristan, S. 35): „Die ‚Auslegung‘ der Minne-Thematik, d.h. der sexuellen Beziehung unter der Dialektik eines summum bonum temporale, nenne ich dann ‚tragisch‘, wenn Handlung (Epos) oder Argumentation (Minnesang) nicht auf ein harmonisierendes Leben für den oder die Partner hinauslaufen, sondern auf ihre Selbstaufhebung (Reinmar, Morungen) oder ihre Selbstzerstörung (Tristanroman, Nibelungenlied).“

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Welche Differenzen zwischen dem poetologischen Tragikkonzept der höfischen Dichtung und der antiken Tragödientheorie bestehen, wurde beim Vergleich der mittelalterlichen Antikenromane mit ihren Prätexten deutlich. Stärker als ihre mittelhochdeutsche Nachfolgerin wird Vergils Dido durch das Handeln der Götter beeinflusst, allerdings beklagt sie auch ihr eigenes Fehlverhalten und will mit dem Selbstmord ihre Schuld sühnen. Der Handlungsverlauf der ‚Aeneis‘ lässt sich mit Hilfe der antiken Tragikauffassungen deuten, denen zufolge die Heldin ihr Unglück selbst zu verantworten hat. Heinrich von Veldeke dagegen spricht seine Dido von möglichen Vorwürfen weitgehend frei und rückt die Macht der Minne in den Mittelpunkt. Auch Tristan und Isolde werden trotz ihres moralisch fragwürdigen Verhaltens nie kritisiert, vielmehr als Märtyrer ihrer Liebe präsentiert. Besonders auffällig ist die unterschiedliche Akzentuierung bei der Darstellung Medeas, die Konrad von Würzburg im Gegensatz zu Ovid und Seneca nicht als rasende Furie, sondern als züchtige, sittsame und tugendhafte Dame charakterisiert. Statt die weibliche Figur eine Hamartia begehen zu lassen oder ihr die Hingabe an den Affekt anzulasten, begründet Konrad die Katastrophe mit Medeas tragischer Liebe. Diese Beispiele zeigen, wie sich die Motivation des Unglücks in der höfischen Dichtung verlagert. Anders als in der Antike werden die Figuren nicht selbst verantwortlich gemacht, sondern ihr Leiden erwächst aus dem inneren Antagonismus der Minne. Nur punktuell wird auf der Ebene der Narration reflektiert, dass sich die Figuren der Minne hätten entziehen können. Gottfrieds Auffassung vom notwendigen Wachstum der Liebe und Konrads Kritik an Jasons Wankelmütigkeit setzen die Möglichkeit voraus, Widerstand leisten zu können. Detailliert in Szene gesetzt wird auf der Ebene der Handlung jedoch, wie die Protagonisten vergeblich versuchen, Kontrolle über ihr Gefühlsleben zu erlangen, und sie schließlich der übermächtigen Minne unterliegen. Auffälligere Übereinstimmungen bestehen daher mit der modernen Tragikvorstellung, dass die Katastrophe durch ein angemessenes Verhalten nicht abgewendet werden kann und das Unglück unvermeidbar ist. Schon Hegel setzt sich mit der Bedeutung der Minne für eine tragische Handlung auseinander und betrachtet die ‚Kollisionen der Liebe‘ als charakteristisch für die romantische Kunstform des Mittelalters. In der klassischen Kunst sei die Liebe in „dieser subjektiven Innigkeit der Empfindung“ dagegen nicht relevant. Implizit bestätigt Hegel damit die hier erarbeitete Differenz zwischen antiken und mittelalterlichen Motivierungsformen des Unglücks: „Die hohe Tragödie der Alten kennt […] die Leidenschaft der Liebe in ihrer romantischen Bedeutung nicht.“398 _____________ 398 Hegel, Vorlesungen, Bd. 2, S. 184.

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Hegels Beobachtung von der Historizität der Leidenschaft trifft sich mit der gegenwärtigen Forschung. Liebe gilt nicht als anthropologische Konstante, sondern als kulturell geprägtes Phänomen.399 Nach Ansicht von Mentalitätshistorikern zeichnet sich in den Quellen des späten 11. und des 12. Jahrhunderts eine bedeutsame Verschiebung ab, die sowohl das Verhältnis des Gläubigen zu Gott als auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander betrifft; die Sehnsucht nach dem geliebten Gegenüber gerät in den Blickpunkt. Da diese Thematik in den literarischen Zeugnissen der Zeit erstmals aufgegriffen werde, sprechen Peter Dinzelbacher und Hans Eggers von einer „Entdeckung der Liebe“ im Hochmittelalter.400 Aufgrund des großen zeitgenössischen Interesses an der Liebesthematik ist nicht verwunderlich,401 dass die Minne in der höfischen Dichtung auch für die Motivierung des Unglücks herangezogen wird. Eine tragische Handlung auf das Motiv der Liebe zurückzuführen, betrachtet Hegel als wenig gelungen. In seiner Tragödientheorie grenzt er die Liebe aufgrund ihres subjektiven Anspruchs deutlich von anderen weltlichen Anforderungen ab. Zwar räumt Hegel ein, dass aus der Verletzung der „Leidenschaft der Liebe in ihrer Alleinherrschaft“ Kollisionen resultieren könnten. Dabei unterscheidet er sogar drei verschiedene Formen solcher Kollisionen, von denen er den „Konflikt der Ehre und Liebe“ als den ersten und häufigsten identifiziert. Zweitens könnten auch „die ewigen substantiellen Mächte selbst, die Interessen des Staats, Vaterlands_____________ 399 Vgl. Dinzelbacher, Liebe; Oschema, Liebe. – Ein mögliches Evolutionsmodell entwirft Luhmann (Liebe als Passion), der Liebe nicht als einen Affekt, sondern als einen kulturell geprägten symbolischen Kommunikationscode versteht. Er unterscheidet drei historische Entwicklungsstufen, die den Code der Intimität betreffen. Für das Mittelalter sei die höfische Liebe bestimmend, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die passionierte Liebe und seit dem 19. Jahrhundert die romantische Liebe. Während im höfischen Liebescode die Sexualität sublimiert werde, erfolge in der passionierten Liebe eine Integration der Sexualität außerhalb der Ehe; erst in der Romantik würden Liebe und Ehe miteinander verbunden. – Zur Kritik an Luhmanns Modell vgl. Kraß, Freundschaft, S. 100f. 400 Vgl. Dinzelbacher, Über die Entdeckung der Liebe; Eggers, Entdeckung. Vgl. auch Peters, Höfische Liebe. – Haug (Höfische Liebe, S. 34) hält die literaturgeschichtliche Wende im 12. Jahrhundert für so radikal, dass er die Ansicht vertritt, es beginne hier „wirklich einmal etwas kulturgeschichtlich völlig Neues. Konkret: es handelt sich um die Geburtsstunde der modernen Liebesidee, der Idee der Erfüllung des Lebens in einer personal verstandenen erotischen Beziehung zwischen Mann und Frau.“ 401 Vgl. die umfangreiche Forschungsliteratur zu dieser Thematik, z.B. die Sammelbände von Ashcroft, Liebe; von Ertzdorff, Liebe; Haubrichs, Konzepte der Liebe; Krohn, Liebe; Müller, Minne ist ein swaerez spil. – Die theoretische Beschäftigung mit diesem Thema beginnt schon im Mittelalter, wie die zahlreichen Minnereflexionen und Minnelehren zeigen. Zu den sog. Minnereden vgl. Glier, Artes amandi; Huschenbett, Minne als Lehre. – Zum Konzept der höfischen Liebe vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 504; Egidi, Höfische Liebe, bes. S. 31, 34; Moore, ‚Courtly Love‘; Paris, Études; Schnell, ‚Höfische Liebe‘ als Gegenstand, S. 398–419; ders., ‚Höfische‘ Liebe als ‚höfischer Diskurs‘, S. 238–275; Schultz, Courtly Love.

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liebe, Familienpflichten usf., mit der Liebe in Streit geraten und ihre Realisation verbieten.“ An dritter Stelle führt Hegel „äußerliche Verhältnisse und Hindernisse“ an, wie Unglücksfälle, Vorurteile und den Eigensinn anderer, die sich der Liebe entgegenstellten. Dennoch fällt sein Vergleich mit den Kollisionen „in der hohen Tragödie der Alten“ zuungunsten der späteren Dichtkunst aus. Hegel spricht den Kollisionen der Liebe in der romantischen Kunstform eine absolute Berechtigung ab: „Denn es ist nichts in sich Notwendiges, daß er [der Mensch, R.T.] sich gerade auf dieses Mädchen kaprizioniere“. In der Liebe herrsche die höchste Zufälligkeit und die Willkür der Subjektivität, wohingegen „das Substantielle, das Pathos“ die antiken Tragödienhelden zum Handeln treibe.402 Hegels Kritik an der Beliebigkeit eines Liebesobjekts trifft für die höfische Literatur jedoch gerade nicht zu. Die Protagonisten werden schon früh aufeinander bezogen und der Sturz ins Unglück durch ihre gegenseitige Abhängigkeit vorbereitet. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Hegels Interpretation und dem höfischen Tragikkonzept besteht darin, dass die wesentliche Kollision nicht zwischen der Minne und einer anderen, substantiellen Macht stattfindet. Obwohl solche Konfliktsituationen in der mittelalterlichen Literatur durchaus inszeniert werden, ist entscheidend, dass der Widerspruch ins Innere der Minne verschoben wird. Dieses Spezifikum lässt sich mit Hilfe einer weiteren Tragödientheorie der Moderne genauer erfassen. Max Scheler führt Hegels philosophischen Ansatz weiter und entwickelt eine Phänomenologie des Tragischen, die für das höfische Konzept einer tragischen Liebe geradezu formuliert zu sein scheint. Die Bedingung, dass „ein Widerstreit zwischen Trägern hoher positiver Werte“ zum Untergang führt, ist nach Scheler in einem Fall „bis zur äußersten Grenze“ erfüllt: „Er ist gegeben, wenn die Wertträger gar nicht verschiedene Ereignisse, Dinge, Personen sind, sondern in ein Ereignis, ein Ding, eine Person zusammenfallen; ja noch mehr: womöglich in eine und dieselbe Eigenschaft, oder in ein und dieselbe Kraft, in ein und dasselbe Vermögen. Im ausgesprochensten Sinne tragisch ist es daher, wenn ein und dieselbe Kraft, die ein Ding zur Realisierung eines hohen Wertes (seiner selbst oder eines anderen Dinges) gelangen läßt, auch im Verlauf dieses Wirkens selbst die Ursache für die Vernichtung eben dieses Dinges als Werteträgers wird.“403

_____________ 402 Hegel, Vorlesungen, Bd. 2, S. 186–190. 403 Vgl. Scheler, Phänomen, S. 158. – Wie grundsätzlich sich Schelers Tragikkonzept vom antiken Verständnis unterscheidet, wird an seiner Deutung der Erzählung von Ikaros ersichtlich (vgl. Ovid, Metamorphosen, 8,203–231). Um dem Tyrannen Minos von Kreta zu entfliehen, verfertigt Dädalos für sich und seinen Sohn Flügel, deren Federn mit Bienenwachs zusammengefügt sind. Der Fluchtversuch glückt, doch als Ikaros höher steigt, erwärmen die Sonnenstrahlen das Wachs, und der Junge stürzt ins Meer. In der Antike liegt die Ursache für den tragischen Fall im eigenen Fehlverhalten begründet, wie Schmitt (Zur Aristo-

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Diese Definition eignet sich bestens, um die Widerspruchsstruktur der tragischen Liebe zu deuten. Auch in der höfischen Epik wird die Minne als ein hohes Gut dargestellt, deren Realisierung zur Vernichtung des Wertträgers, zum Tod der liebenden Figur, führen kann. Während die tragische Liebe der höfischen Literatur in struktureller Hinsicht Schelers Tragiktheorie entspricht, unterscheidet sie sich hinsichtlich der metaphysischen Implikationen. Wie andere deutsche Philosophen vor ihm betont Scheler, dass das Tragische nicht nur ein ästhetisches Phänomen, sondern „ein wesentliches Element im Universum selbst“ sei und aus der Beschaffenheit der Welt abgeleitet werden müsse.404 Daraus resultiert ein notwendiges Verfallensein der Schuld,405 was sich kaum auf die unglücklich Liebenden der Antikenromane und des ‚Tristanromans‘ übertragen lässt. Ebenso treffen die Kriterien der „Unvermeidbarkeit und Unentrinnbarkeit“406 der Vernichtung nur bedingt zu, da die innere Widerspruchsstruktur der Minne nicht zwangsläufig in den Tod führt. Vielmehr weisen die unglücklichen Liebesgeschichten hinsichtlich der Minnekonzeption auffällige Übereinstimmungen mit anderen Erzählungen auf, die einen positiven Verlauf nehmen.407 Dass die Minne zugleich größtes Glück und tiefsten Schmerz schenkt, sie tödlich verwundet und die körperliche Nähe des Geliebten unverzichtbar für das eigene Wohlbefinden ist, erfahren auch Figuren wie Eneas, Lavinia, Erec, Enite und Iwein.408 Allerdings entfaltet _____________

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teles-Rezeption, S. 210f.) zeigt. Ikaros stirbt, weil er die Warnungen seines Vaters nicht beachtet. In der Moderne gilt der Flug des Ikaros dagegen als tragisch, da seine Fähigkeit verloren geht, je mehr er sich der Sonne nähert. Die Ursache des Scheiterns ist nach Scheler (Phänomen, S. 159) in der Handlung selbst angelegt und deshalb unvermeidbar. Scheler, Phänomen, S. 151. Vgl. Scheler, Phänomen, S. 168: „Der tragische Held […] verschuldet nicht seine Schuld, sondern er ‚verfällt‘ ihr. […] Die tragische Schuld, in die der Held ‚verfällt‘, ist […] dadurch charakterisiert, daß ihm aus den Inhalten des Spielraumes seiner möglichen Wahl allüberall ein ‚schuldhaftes‘ Tun oder Unterlassen entgegendunkelt, und er so irgend einer Art von Schuld unentrinnbar wird und ihr auch bei der Wahl des relativ ‚besten‘ Inhalts notwendig verfällt.“ Scheler, Phänomen, S. 163. Eine andere Auffassung vertritt de Rougemont (L’amour et l’Occident), der die Liebe der Tristanromane auf dualistische Philosopheme zurückführt und sie grundsätzlich vom christlichen Konzept der Eheliebe abgrenzt. Seines Erachtens muss die dialektische, Freude und Leiden erfahrende, absolute Liebesleidenschaft sich stets aufs Neue entzünden, verglühen und wieder entfacht werden, was nur auf den Tod hin gelebt werden könne. Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, 271,28f.: von sînen minnen bin ich wunt / und lîde micheln ungemach. 298,30–33: nû mûz ich mich genieten / angest unde sorgen / âbent unde morgen / beidiu naht unde tach […]. Hartmann von Aue, Erec, V. 1873f.: jâ enwirde ich nimmer vrô, / ich engelige dir noch bî. Hartmann von Aue, Iwein, V. 1546–1557: wan er was toetlichen wunt. / die wunden sluoc der Minnen hant. / ez ist der wunden alsô gewant, / sî wellent daz sî langer swer / dan diu von swerte ode von sper: / wan swer von wâfen wirt wunt, / der wirt schiere gesunt, / ist er sînem arzte bî / und wellnt daz disiu wunde sî / bî ir arzte der tôt / unde ein wahsendiu nôt. V. 3254–3256: doch meistert vrou Minne / daz im ein krankez wîp / verkêrte sinne unde lîp.

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die Minne bei ihnen nur zeitweilig ihr negatives Potential, bis die Protagonisten dauerhaft mit dem geliebten Partner vereint werden. Die widersprüchliche Struktur der Minne stellt folglich ein notwendiges, nicht aber hinreichendes Kriterium für eine tragische Liebesgeschichte dar. Nicht die Art der Minne entscheidet darüber, ob ein Protagonist ins Unglück stürzt oder die Handlung ein glückliches Ende nimmt, sondern die Unmöglichkeit, die Minne zu realisieren. Dido, Tristan, Isolde und Medea gehen zugrunde, nachdem sich die Vorstellungen einer idealen Beziehung als brüchig erwiesen haben.409 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Gefahr eines unglücklichen Ausgangs aufgrund einer dialektischen Liebe potentiell auch in den Artusromanen angelegt ist.410 Die Katastrophe wird jedoch abgewendet, indem es den Protagonisten gelingt, eine Balance zwischen Liebe, Ehe und Gesellschaft zu finden. Die Verwirklichung einer idealen Paarbeziehung führt zur Stärkung der freudvollen Seite der Minne.411 Weitere Beispiele der höfischen Literatur ließen sich anführen, bei denen das Unglück der Figuren durch eine Minne motiviert ist, deren schmerzliche Komponente überhandnimmt. Zu denken wäre etwa an den Vater des Gregorius in Hartmanns von Aue gleichnamiger legendenhafter Erzählung. Er liebt seine Schwester so sehr, dass er nach ihrer – aus Heilsgründen unverzichtbaren – Trennung auf seiner Bußfahrt stirbt: sîn jâmer wart sô vester nâch sîner lieben swester daz er ze deheiner stunde sich getroesten kunde. alsus dorrete im der lîp. […] sus ergreif in diu senede nôt und lac vor herzeriuwe tôt. (837–852)412

_____________ 409 Auch wenn Gottfried von Straßburg die Widerspruchsstruktur der Minne am deutlichsten in Szene setzt, besteht zwischen Tristans und Isoldes Liebe und der anderer Figuren nur ein gradueller, kein grundsätzlicher Unterschied. Daher kann auf den Begriff der ‚Tristanminne‘ verzichtet werden, der suggeriert, es handle sich um eine einzigartige Liebe, die durch Unvermeidbarkeit und Schicksalhaftigkeit gekennzeichnet sei. 410 Von einer generellen Faszination des Mittelalters für eine tödliche Liebe, die aus einer fatalen Leidenschaft erwächst, geht Gaunt (Love) aus. 411 Hartmann von Aue thematisiert die beiden Optionen eines Liebenden in der ‚Klage‘. Darin stellt er den Konflikt eines verliebten, aber abgewiesenen jungen Mannes anhand eines Streitgesprächs zwischen Herz und Körper über das Wesen der Minne dar. Als der junge Mann auf der Basis der neu gewonnen Erkenntnisse erneut um die Dame wirbt, erklärt er ihr, welche Folgen ihr Verhalten haben wird: Dîn spil ist mir geteilet sô / daz ich noch erwerbe / des mîn herze wirdet vrô, / oder gar âne vröude ersterbe. / daz ist mir ein swaeriu drô, / wiltû daz ich verderbe. (Hartmann von Aue, Büchlein, V. 1905–1910). Zur dilemmatischen Situation, die diesem Werbungsspiel zugrunde liegt, vgl. Kasten, Dilemma, S. 35. 412 Zur Liebe der Geschwister vgl. auch Hartmann von Aue, Gregorius, V. 177–922.

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In verschiedenen Werken wird mit dem Element einer tragischen Liebe gespielt und die zerstörerische Kraft der Minne in Szene gesetzt, bevor sich der freudvolle Aspekt durchsetzen kann. So erkrankt Engelhard in Konrads von Würzburg Märe schwer, nachdem seine Liebe von der dänischen Königstochter zurückgewiesen worden ist. Als der ganze Hof schon befürchtet, dass der beliebte junge Mann in Kürze sterben wird,413 kann der drohende Tod durch eine glückliche Wendung abgebogen werden. Nachdem Engeltrud die Sorge um ihr gesellschaftliches Ansehen zurückgestellt und Engelhard eine baldige Vereinigung versprochen hat, gesundet der Protagonist schnell. Reminiszenzen an das Konzept einer tragischen Liebe finden sich sogar im Heldenepos, auch wenn diese dort keine handlungstragende Bedeutung erlangt. Als Siegfried Kriemhild nach langem Warten zum ersten Mal sehen darf, werden zunächst seine ambivalenten Gefühle geschildert: Sîvride dem herren wart beide lieb unde leit (284,4). Der Protagonist selbst reflektiert, welche zerstörerische Wirkung eine unerfüllte Liebe auf ihn ausüben könnte: sol aber ich dich vremeden, sô ware ich sanfter tôt. (285,3)414 Auch die mittelalterliche Lyrik ist für die Entwicklung des Konzepts einer tragischen Liebe von Interesse. Schließlich werden dieselben Motive wie in der Epik verwandt, z.B. bei der Darstellung der Minne als Krankheit oder der Klage über eine Verwundung.415 Eine strukturelle Ähnlichkeit besteht zwischen der dilemmatischen Situation des werbenden Sängers im Hohen Minnesang und dem narrativ ausgestalteten Tragikkonzept der höfischen Liebesromane. Das Sprecher-Ich preist seine Dame, die den Inbegriff der Vollkommenheit darstellt und die der Liebende genau aus diesem Grund niemals für sich gewinnen darf. Eine körperliche Hingabe würde ihr Ansehen schmälern, so dass sie seinen hohen Ansprüchen nicht mehr genügen könnte. Der Sänger, der in seinen Liedern eine erotische Annäherung herbeisehnt, muss diese zugleich verhindern, um sein Idealbild aufrechterhalten zu können. Für dieses „in der Minnekanzone unendlich variierte Dilemma des höfischen Liebenden“416 liefert Reinmar der _____________ 413 Vgl. Konrad von Würzburg, Engelhard, V. 2242–2245: der strengen minne siechtage / macht in sô toetlichgevar / daz al diu werde hoveschar / betrüebet um in sêre wart. Auch der Protagonist weist Engeltrud auf die tödlichen Konsequenzen einer unerfüllten Liebe hin: wand ich erstirbe ân allen wanc, / ob iuwer helfe mich verbirt (V. 2308f.). 414 Dass die Minne im ‚Nibelungenlied‘ nicht dazu dient, das Unglück zu motivieren, ist bei Siegfried offensichtlich. Selbst wenn ihn seine Liebe zu Kriemhild in das gefährliche Konkurrenzverhältnis zu Gunther gebracht hat, stirbt er nicht aufgrund eines unerfüllten Begehrens. Vgl. auch Greenfield, Frau, S. 108. 415 Vgl. z.B. MF 137,14: Ich bin siech, mîn herze ist wunt (Heinrich von Morungen); MF 49,13f.: Mir ist daz herze wunt / und siech gewesen nû vil lange (Friedrich von Hausen). – Weitere Belegstellen finden sich bei Schweikle, Minnesang, S. 200. 416 Kasten, Dilemma, S. 35.

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Alte in seinem Lied ‚Swaz ich nu niwer maere sage‘ (MF 165,10) ein typisches Beispiel:417 Zwei dinc hân ich mir vür geleit, diu strîtent mit gedanken in dem herzen mîn: ob ich ir hôhen wirdekeit mit mînen willen wolte lâzen minre sîn, Oder ob ich daz welle, daz si groezer sî und sî vil saelic wîp bestê mîn und aller manne vrî. siu tuont mir beide wê: ich wirde ir lasters niemer vrô; vergêt siu mich, daz klage ich iemer mê. (MF 165,37–166,6)

Das Sprecher-Ich problematisiert, dass es sich unabhängig vom Verhalten seiner frouwe niemals wird freuen können, und legt so die Paradoxie des Werbungsspiels im Hohen Minnesang offen. Erhörung und Verweigerung werden ihm in gleicher Weise Leid bereiten. Gemeinsam ist dem Minnekonzept des Hohen Sangs und dem der höfischen Epik ein innerer Antagonismus, sei es des Wertes selbst oder des Werbungsspiels, durch den das Leid der epischen Figuren und des lyrischen Sprechers begründet wird. Die Unerreichbarkeit des begehrten Objekts und die Unmöglichkeit, die körperliche Begierde zu stillen, sind sowohl für die tragische Liebe des höfischen Romans als auch für die Geschlechterbeziehung des Hohen Minnesangs kennzeichnend. Ein wesentlicher Unterschied besteht dagegen in der Inszenierung und Entwicklung des tragischen Geschehens. Der detaillierten Ausleuchtung eines eher statischen Zustandes in der Lyrik steht die narrative Entfaltung des Leidens im Roman gegenüber. Was ein Sänger nur als Möglichkeit imaginieren kann, die tödlichen Konsequenzen einer unerfüllten Liebe, wird im Roman plastisch vor Augen geführt. Dabei zeichnet sich in der Funktion und Bedeutung des Leids eine grundlegende inhaltliche Differenz zwischen tragischen Liebesgeschichten und der dilemmatischen Situation des Sprecher-Ichs im Lied ab: Während die Widerspruchsstruktur der Minne in den mittelhochdeutschen Romanen zu einer Vernichtung des Wertträgers führt, wenn die leidvolle Komponente dominiert, wird der in den Liedern zelebrierte Schmerz als ein Beitrag zu einer Veredelung des begehrenden Subjekts interpretiert.418 Bei der tragischen Liebe im Roman ist eine Kompensation des Schmerzes hingegen ausgeschlossen. _____________ 417 Haug (Höfische Liebe, S. 47) kommentiert, dass diese Strophe „geradezu als Programmlied des klassischen Minnesangs“ gelten könne. 418 Z.B. lässt Albrecht von Johansdorf seine Dame den Lohn des Minnesängers sittlich definieren: daz ir dest werder sint unde dâ bî hôchgemuot. (MF 94,14) – Zum Aspekt der Läuterung und Erziehung vgl. auch Bumke, Höfische Kultur, S. 451–454; Schweikle, Minnesang, S. 173–175.

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Anders als die Elemente der tragischen Schuld und des tragischen Konflikts, die gängigen Lehrmeinungen entsprechen, steht das literarische Konzept der tragischen Liebe in auffälligem Kontrast zu den zeitgenössischen Geschlechterdiskursen.419 Fragen der Ehe, Ehelosigkeit und Geschlechtlichkeit wurden in der christlichen Theologie von Anfang an diskutiert. Anlehnend an die Aussagen des Paulus im ersten Korintherbrief galt die Keuschheit als christliches Ideal, wohingegen die Ehe zur Vermeidung von Unzucht empfohlen wurde.420 Maßgebend für die mittelalterliche Diskussion wurde die Position des Augustinus. Dieser wandte sich zwar gegen die radikale Abwertung des Körperlichen durch die Manichäer, sah die geschlechtliche Natur des Menschen aber als eine Folge des Sündenfalls an.421 Zu den wichtigsten Vermittlern dieser frühchristlichen Überzeugung im Mittelalter zählt Petrus Lombardus. Er vertrat die Auffassung, dass der Geschlechtsakt nicht sündhaft sei, solange er von Eheleuten vollzogen werde und der Zeugung von Nachkommen diene. Als verwerflich bewertete er jedoch eine sexuelle Handlung, wenn die Begierde zum Selbstzweck werde.422 Diese moraltheologischen Überlegungen erhielten seit Gratian Eingang ins Kirchenrecht.423 Seiner Ansicht nach erfüllt die Ehe zwei wesentliche Zwecke, die in Fortführung der patristischen Exegese aus der Lehre von einer doppelten Einsetzung der Ehe abgeleitet werden. Im Paradies sei die Ehe zur Fortpflanzung der Menschheit eingeführt worden, wohingegen sie seit dem Sündenfall als Heilmittel gegen Konkupiszenz diene und eine geordnete Befriedigung des Geschlechtstriebs er_____________ 419 In der Forschungsliteratur werden verschiedene Vorschläge für eine systematische Unterscheidung einzelner Diskurstraditionen unterbreitet. Die körperliche Beziehung zwischen Mann und Frau wird entweder unter dem Gesichtspunkt der Erotik (vgl. Haug, Höfische Liebe), der Sexualität (vgl. Walter, Unkeuschheit) oder des Geschlechtsverkehrs (Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 241) beleuchtet. Das differenzierteste Modell stammt von Haug (Höfische Liebe, S. 16), der einen kirchlich-kanonistischen, medizinischen, feudalen, philosophisch-theologischen, höfisch-literarischen, burlesken literarischen und theoretischdidaktischen Diskurs identifiziert. – Zu weiteren Typologien vgl. auch Baldwin, Language, S. 1–42; Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 241–259; Walter, Unkeuschheit. – Dass auch Sexualität kein epochenunabhängiges Phänomen, sondern ein historisches Dispositiv vom Anfang des 19. Jahrhunderts ist, das dem medizinisch-psychologischen Diskurs entstammt, stellt Foucault (Wille) heraus. 420 Vgl. 1 Kor 7, 9.38: „Es ist besser zu heiraten, als sich in Begierde verzehren. […] Wer seine Jungfrau heiratet, handelt also richtig; doch wer sie nicht heiratet, handelt besser.“ Zur Bewertung der Geschlechtlichkeit im frühen Christentum vgl. auch Brown, Keuschheit; Götz, Geschlechtlicher Mensch, bes. S. 33–36, 73–84. 421 Vgl. Brown, Keuschheit, S. 395–437; Fredriksen, Dichotomy; Müller, Lehre des Hl. Augustinus, S. 19–32. 422 Vgl. Baldwin, Language, bes. S. 3f. Vgl. auch Payer, Bridling of Desire, bes. S. 61–63, 84– 86. 423 Vgl. Weigand, Liebe, S. 3–36.

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möglichen solle.424 Durch die Festschreibung des Zölibats, die Einführung der jährlichen Beichtpflicht und die Auflage harter Restriktionen gewann die Kirche zunehmend Kontrolle über das Sexualleben der Gläubigen.425 Der Gedanke, dass die körperliche Vereinigung Bestandteil einer personalen Liebesbeziehung zwischen Eheleuten sein könnte, blieb der antiken und mittelalterlichen Theologie dagegen fremd.426 Von der Heiratspraxis der gesellschaftlichen Führungsschicht unterschied sich die mittelalterliche Kirche mit der Forderung nach einer Konsensehe grundlegend.427 Hinsichtlich der Überzeugung, dass eine eheliche Verbindung einem übergeordneten Zweck dienen soll, weist der theologisch-kanonistische Diskurs hingegen Berührungspunkte mit dem feudalen Eheverständnis auf. Für den Adel war die Eheschließung ein probates Mittel, um durch das Knüpfen verwandtschaftlicher Beziehungen Politik zu betreiben. Die Herrschaft sollte gesichert, der Frieden gewahrt, ein Einflussbereich vergrößert und Besitz gewonnen werden.428 Dass eine persönliche Beziehung oder gar Zuneigung der Partner für die feudale Eheauffassung irrelevant war, zeigt sich besonders an solchen Fällen, in denen Kinder einander versprochen wurden, um politisch-ökonomische Interessen durchzusetzen.429 Aus einer ganz anderen Perspektive wurde die Beziehung zwischen den Geschlechtern im medizinischen Diskurs des Mittelalters betrachtet. Dieser griff auf die naturwissenschaftlichen Lehren des Aristoteles und Galens zurück und erhielt durch die Rezeption arabischer Schriften neue Impulse.430 Geschlechtsverkehr hielten die Mediziner aus gesundheitlichen Gründen für notwendig, um einem Stau der Körpersäfte vorzubeugen und diese im Gleichgewicht zu halten. Bleibe ein körperliches Begehren lange unerfüllt, könne dies gravierende Folgen haben. Im Extremfall erkranke der Betroffene lebensgefährlich an einer Liebeskrankheit, der amor _____________ 424 Vgl. Decretum Gratiani, secunda pars, causa 32, q. 2, c. 2, Sp. 1120: Prima institutio coniugii in paradyso facta est, ut […] sine dolore parerent. Secunda propter illicitum motum eliminandum extra paradysum facta est […]. Vgl. auch Weigand, Liebe, S. 5. 425 Vgl. Jerouschek, Diabolus; Lutterbach, Sexualität. 426 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 540–543; Götz, Geschlechtlicher Mensch, S. 140f.; Schnell, Sexualität, S. 97–101. Auch Weigand (Liebe, S. 76) konstatiert, dass die Dekretisten mit ihrer Lehre über die Sakramentalität der Ehe zwar einen Beitrag zu einer positiven Bewertung der Geschlechtlichkeit leisteten, aber ihre Einschätzung dennoch ein erhebliches Defizit aufweise. 427 Zur Einverständniserklärung der Ehepartner vgl. Weigand, Liebe, S. 59–61. 428 Auch die Dekretisten zählen die Wiederherstellung des Friedens und den Erwerb von Reichtümern zu den Eheschließungsmotiven, die allerdings von sekundärer Bedeutung sind. Vgl. Weigand, Liebe, S. 20. 429 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 534–540; Duby, Love, S. 22–35; Haug, Höfische Liebe, S. 22f.; Opitz, Frauenalltag, S. 76–86. 430 Vgl. Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 246–250.

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hereos oder amor heros, die nach medizinischer Sicht in der Regel Männer befällt.431 Durch den Anblick einer schönen Frau werde das männliche Begehren geweckt, was eine erhöhte Samenproduktion in Gang setze. Da sich das Bild eines begehrten Objekts dem Gedächtnis einpräge und schon der bloße Gedanke daran erneut Begierde wecke, werde immer mehr Körperflüssigkeit erzeugt. Auf diese Weise entstehe ein Samenstau, der Melancholie hervorrufe und sogar zu tödlicher Auszehrung führen könne. Parallel zum medizinischen Diskurs, aber diesen im Mittelalter zugleich beeinflussend, wird das unerfüllte Begehren in der Liebesmetaphorik der antiken Dichtung als Krankheit beschrieben.432 Vor allem Ovid stellt die Liebe als eine Krankheit dar, von der er in seinen ‚Remedia amoris‘ Heilung verspricht. Die Therapie, zu der Ovid dem Begehrenden rät, ähnelt den Empfehlungen der Mediziner. Zu kurieren sei das Leiden nicht nur durch gesellschaftliche Ablenkung, sondern vor allem durch eine Behandlung mit demselben Mittel durch dessen Mangel die Krankheit ausgelöst wurde.433 Je früher das Leiden behandelt werde, um so eher lasse sich ein Erfolg erzielen. Geeignete Heilmethoden sind nach Ovid, eine neue Affäre einzugehen, die Geliebte schlecht zu machen oder der Begierde bis zum Überdruss zu frönen.434 Dass literarische Liebestopik und medizinische Säftelehre in mittelalterlichen Minnetraktaten eine Synthese eingehen, belegt die Schrift ‚De amore‘ des Andreas Capellanus, die zu den meist rezipierten Texten des lateinischen Mittelalters gehört. Darin _____________ 431 Nach Arnoldus de Villanova (De amore heroico, cap. 2, S. 50f.) handelt es sich zudem um eine spezifische Adelskrankheit, bei der sich der Betroffene dem geliebten Objekt bedingungslos unterwirft: Dicitur autem amor heroicus quasi dominalis, non quia solum accidit dominis, sed aut quia dominatur subiciendo animam et cordi hominis imperando, aut quia talium amantium actus erga rem desideratam similies sunt actibus subditorum erga proprios dominos. – Die Parallelen zwischen dieser Krankheitsbeschreibung und dem Unterwerfungsgestus im Minnedienst stellt Klinger (Mißratener Ritter, S. 249) heraus. – Anders als im medizinischen Diskurs wirkt sich die Minne in der höfischen Literatur sowohl für männliche als auch für weibliche Figuren negativ aus. Zur geschlechtsspezifischen Liebespathologie vgl. auch Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 248f.; Klinger/Winst, Zweierlei minne stricke, S. 282; Wack, Lovesickness, S. 8f., 174–176. 432 Auf die Notwendigkeit, zwischen der literarischen Stilisierung und dem medizinischen Diskurs zu unterscheiden, weisen Haage (‚Amor hereos‘, S. 37f.) und Klinger (Mißratener Ritter, S. 245, Anm. 187) hin. Zur wechselseitigen Einflussnahme beider Diskurse vgl. Philipowski, Minne. 433 Vgl. Ovid, Remedia amoris, V. 41–44. Ad mea, decepti iuvenes, praecepta venite, / Quos suus ex omni parte fefellit amor. / Discite sanari per quem didicistis amare; / Una manus vobis vulnus opemque feret. – Zur Ablenkung vgl. ebd., V. 135–243. 434 Vgl. Ovid, Remedia amoris, bes. V. 79f., 325f., 399–404, 537–542. – Vgl. auch Funke, Liebe, S. 14–19; Kistler, Heinrich von Veldeke, S. 140. – Dieselben therapeutischen Mittel werden im medizinischen Diskurs empfohlen, vgl. Klinger, Mißratener Ritter, S. 246; Wack, Lovesickness, S. 41–46, 66–70.

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wird ein pathologisches Bild vom unglücklich Liebenden entworfen. Andreas sucht den Kranken durch Vernunftgründe und durch eine umfassende Schmährede gegen Frauen zu kurieren.435 Gemeinsames Ziel der medizinischen Fachliteratur und der liebesdidaktischen Ratgeber ist, die verderbliche Wirkung der unkontrollierten Leidenschaft vor Augen zu stellen und das körperliche Begehren auf ein der Gesundheit und dem Wohlbefinden förderliches Maß zu reduzieren. Vergleicht man den theologisch-kanonistischen, den feudalpolitischen und den medizinischen Diskurs mit der Darstellung der Geschlechterbeziehungen in der höfischen Dichtung, treten gravierende Unterschiede zutage.436 Das Liebesideal, wie es in der Literatur entworfen wird, steht im Widerspruch zu allen gängigen Auffassungen von Ehe und Geschlechtlichkeit. Die epische Minnekonzeption basiert auf Idealvorstellungen von Beständigkeit, Ausschließlichkeit und Gegenseitigkeit und schließt sexuelle Erfüllung grundsätzlich ein.437 Der Geschlechtsverkehr dient nicht etwa einem sekundären moralischen oder gesellschaftlichen Zweck, sondern primär der Lebenserhaltung der Liebenden. Weil die Minnebeziehung einen exklusiven Charakter hat, kann sie nicht durch ein Ersatzobjekt befriedigt oder kompensiert werden, wie die medizinischen Autoritäten und Ovid meinen.438 Vielmehr muss das Begehren von der geliebten Person gestillt werden, damit das Minneleiden eine Besserung erfährt.439 Folgende Gründe sprechen demnach für die These, dass es sich bei der Motivierung des Unglücks aufgrund einer in sich widersprüchlichen Liebe um ein genuin höfisches Tragikkonzept handelt: 1) Die Macht der Minne, die die Figuren ergreift, ihr Denken und Fühlen massiv beeinflusst und sie ins Unglück stürzt, entspricht in gewissen Punkten den Tragikmodellen von Seneca und Boethius. Ein äußerer _____________ 435 Vgl. Andreas Capellanus, De amore, lib. III, 60f.: Nam ex mala digestione interius turbantur humores, et inde febres et aegritudines infinitae nascuntur. Somni quoque amissio cerebri et mentis saepissime alterationes inducit, unde homo efficitur amens et furiosus. Sed nimia diei et noctis cogitatio, quam universi habent amantes, inducit cerebri quoque defectum, et aegritudines corporis inde procedunt. – Zur Integration medizinischer Elemente vgl. Schnell, Andreas Capellanus, S. 159–165. 436 Schnell (‚Höfische‘ Liebe als ‚höfischer‘ Diskurs, S. 298) hält die tiefe Kluft „zwischen dem neuen revolutionären Ideal einer nur sich selbst gehorchenden Liebe und den Erfahrungsund Verhaltensnormen des feudalen Alltags“ für das Entscheidende und Irritierende des höfisch-literarischen Diskurses. – Besonders der ‚Tristanroman‘ steht in deutlicher Opposition zum kirchlichen und feudalen Ehediskurs. Das Scheitern von Tristans Versuch, seine unerfüllte Begierde durch eine Heirat zu kompensieren, demonstriert auch die Erfolglosigkeit einer medizinischen Therapie. Vgl. auch Kern, Gottfried von Straßburg, S. 42f. 437 Vgl. auch Schnell, Causa amoris, S. 135; ders. ‚Höfische Liebe‘ als Gegenstand, S. 398–419; ders., ‚Höfische‘ Liebe als ‚höfischer Diskurs‘, S. 238–275. 438 Vgl. auch Schnell, Ovids Ars amatoria; Stackmann, Ovid. 439 Vgl. Klinger, Mißratener Ritter, S. 246f.

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Impuls führt zu massiven Veränderungen. Im Unterschied zu den stoischen Tragödien ist die Ursache des Unglücks jedoch nicht in einem Fehlverhalten der Protagonisten zu suchen. Statt ihnen die Hingabe an den Affekt vorzuhalten und die Leidenschaft grundsätzlich negativ zu beurteilen, wird die Minne in den mittelalterlichen Romanen als ein hoher höfischer Wert dargestellt. Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht darin, dass der innere Affekt durch eine übergeordnete Instanz ersetzt und die antike Kausalität des Tragischen in das finale Handlungsmodell des Boethius überführt wird. Die Minne ist vielmehr differenziert gezeichnet und kann nicht mit einem äußeren Schicksalsschlag gleichgesetzt werden. Ihre innere Widerspruchsstruktur stürzt die Figuren ins Unglück, wenn keine Aussicht mehr auf eine Vereinigung mit dem geliebten Objekt besteht. Wie der Vergleich der Antikenromane Heinrichs von Veldeke und Konrads von Würzburg mit ihren Prätexten gezeigt hat, handelt es sich bei dieser Form des Tragischen um ein höfisches Spezifikum, das kein antikes Vorbild hat. 2) Hinsichtlich der massiven Einwirkung der Minne, der sich die Figuren nicht entziehen können, weist das Konzept der tragischen Liebe deutliche Übereinstimmungen mit der modernen Tragikauffassung auf. Die Protagonisten sind nicht für ihr Unglück verantwortlich und können ihr Leiden nicht vermeiden. Auch in struktureller Hinsicht entspricht die tragische Liebe aufgrund ihrer inneren Widerspruchsstruktur der seit dem 19. Jahrhundert vorherrschenden, dialektisch angelegten Tragikvorstellung. Hinsichtlich der metaphysischen Implikationen unterscheidet sich die tragische Liebe jedoch von der hegelschen Theorie: Die Minne führt in der erzählten Welt nicht per se zum Untergang, sondern nur wenn das Begehren aufgrund bestimmter Bedingungen nicht zu erfüllen ist. Damit lässt sich die Frage nach der dominierenden Motivierungsform bei diesem Tragikkonzept nicht eindeutig beantworten. Das Leiden der Figuren ist in einer Liebesgeschichte zwar von Beginn an präsent und erscheint final motiviert, doch stürzen die Figuren nicht zwangsläufig ins Unglück. Vielmehr entscheiden weitere Faktoren darüber, ob das schmerzvolle Potential der Minne zur vollen Entfaltung gelangt. Kausale und finale Handlungsmodelle überlagern sich in einer solchen Weise, dass keine Differenzierung mehr möglich ist. 3) Das Motiv der Liebe ist als eine entscheidende Ergänzung zu den für die Antike kennzeichnenden Elementen des Tragischen, der Hamartia und dem Affekt des Zorns, und der in der Moderne vorherrschenden Konstellation des Konflikts zu werten. Die für alle literarischen Gattungen zentrale Minnethematik wird genutzt, das Unglück der Protagonisten zu begründen. In zahlreiche Gestaltungsvarianten wird die Widerspruchsstruktur der Minne in Szene gesetzt. Ihre negative Komponente kann den Protagonisten zeitweilig Leid bereiten, sie aber auch gänzlich zugrunde

Tragische Liebe und literarischer Diskurs

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richten. Eine solche Wendung ins Unglück erfolgt unabhängig vom rechtlichen Status der Beziehung, wie die Ehe von Jason und Medea, die Scheinehe von Dido und Eneas und das außereheliche Verhältnis von Tristan und Isolde belegen.440 Auch ist die Konzeption einer tragischen Liebe nicht auf eine bestimmte epische Gattung beschränkt. Ihr zwiespältiger Charakter ist zwar vor allem im höfischen Roman handlungsrelevant, insbesondere in den Antikenromanen und im ‚Tristan‘, wird allerdings auch in legendenhaften Erzählungen wie im ‚Gregorius‘ oder im ‚Engelhard‘ thematisiert. Ebenso finden sich im Heldenepos Anspielungen, und sogar in der Lyrik werden Merkmale aufgegriffen und entfaltet. Die Motivierung des Unglücks durch die Widerspruchsstruktur der Minne ist somit eine charakteristische Form des Tragischen in der höfischen Literatur. Im Vergleich mit der tragischen Schuld und dem tragischen Konflikt muss diesem Handlungselement die größte Bedeutung zugesprochen werden, da auf diese Weise ein eigenes poetologisches Tragikkonzept im Hochmittelalter entwickelt wurde. Kennzeichnend für die wichtigste Form höfischer Tragik ist, dass das Unglück der Protagonisten in der Liebe begründet liegt. Weil die Minne sowohl Schmerz als auch Freude schenkt, führt sie zum Untergang des oder der Liebenden, sobald zwischen ihren positiven und negativen Komponenten kein Ausgleich mehr möglich ist und das Leid einseitig dominiert.

_____________ 440 Dagegen vertritt von Ertzdorff (Ehe, S. 272) die Auffassung, es gebe zwei verschiedene Arten der höfischen Liebe, die harmonische, die auch mit der Ehe zu vereinen sei, und die dialektische, die unruhig gespannte, die mit der Ehe unvereinbar sei.

IV. Fazit: Höfische Tragik – Literatur und Gesellschaft In der germanistischen Forschung bestand bislang ein weitgehender Konsens, im Mittelalter könne es aufgrund der christlichen Weltanschauung keine Tragik geben. Diese Auffassung steht in einem auffälligen Kontrast zu der Vielfalt an Tragikdefinitionen und stellt im Vergleich zur internationalen Mediävistik zudem eine deutsche Besonderheit dar. Zwar wurden vom 5. bis zum 13. Jahrhundert keine Tragödien produziert und rezipiert. Doch basiert die These vom untragischen Mittelalter weniger auf überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen, sondern liegt im theoriegeschichtlichen Wandel von der Poetik der Tragödie zur Philosophie des Tragischen begründet und spiegelt den Standpunkt heutiger Interpreten wider. Differenzen zwischen mittelalterlicher und moderner Literatur lassen sich aber auf verschiedene Weise interpretieren: Eine von der hegelschen Theorie abweichende Motivierung des Unglücks kann entweder als untragisch betrachtet oder als eine spezifische Variante des Tragischen verstanden werden. Mit dieser Studie habe ich mich für die zweite Option entschieden und die besonderen Formen des Tragischen in der höfischen Epik analysiert. Das Streben nach Historisierung und literarischer Konkretisierung soll die Bezeichnung ‚Höfische Tragik‘ zum Ausdruck bringen. Um keine Tragödientheorie normativ vorauszusetzen und um epische Texte in die Untersuchung einbinden zu können, wurde das Konzept des Tragischen erzähltheoretisch gefasst. Vier prominente Tragödientheorien von der Antike bis zur Moderne wurden untersucht und ihre narrative Struktur beleuchtet, wobei sich hinsichtlich der Motivierungsarten wichtige Differenzen abzeichneten. Während die antiken Theoretiker das Unglück kausal begründen, basieren die Tragikkonzepte seit der Spätantike auf finalen Handlungsmodellen. Aristoteles und Seneca akzentuieren die Eigenverantwortung des tragischen Helden, aus dessen Verhalten schreckliche Konsequenzen erwachsen. In der ‚Poetik‘ erklärt Aristoteles einen großen, aber verständlichen Fehler zum konstitutiven Merkmal einer Tragödie, während Seneca in ‚De ira‘ die Hingabe an den Affekt des Zorns problematisiert. Dagegen gehen Boethius und Hegel von der Unvermeidbarkeit des Unglücks aus, das der Verfügungsgewalt der Menschen entzogen ist. Boethius führt den Sturz glücklicher Königreiche in

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‚De consolatione philosophiae‘ auf die willkürlichen Schläge Fortunas und die göttliche Providenz zurück. Nach Hegel liegt der unvermeidbare Untergang des Individuums hingegen in der Beschaffenheit der Welt begründet, in der entgegengesetzte sittliche Prinzipien notwendigerweise kollidieren. Auf diese Weise wurde eine Narratologie des Tragischen entwickelt, die die Chance bot, verschiedene Tragödientheorien für die Untersuchung fruchtbar zu machen. Weil es sich bei der Handlungsmotivation um eine basale Kategorie des Erzählens handelt, erschien diese Methode besonders geeignet, um auf die höfische Literatur übertragen zu werden. Aus der Motivierungsform des Unglücks wurde auf das zugrunde liegende Tragikkonzept geschlossen. Bei der Analyse der mittelalterlichen Werke wurden mit der Schuld, dem Konflikt und der Liebe drei Elemente fokussiert, die Figuren ins Unglück stürzen lassen. Während die ersten beiden Handlungselemente zu den wesentlichen Kategorien antiker und moderner Tragödientheorien gehören, gewinnt das Motiv der Liebe in der höfischen Literatur an zentraler Bedeutung. In allen drei Analysekapiteln wurde gattungsübergreifend nach Gemeinsamkeiten gesucht, die die Folgen des Fehlverhaltens, die Lösung des Dilemmas und die Konzeption der Minne kennzeichnen. Beispiele aus dem Bereich der Artus- und der Heldenepik wurden ebenso miteinander verglichen wie Epos und Legende oder Antiken- und Tristanromane. Zwar bestehen in der Gesamtstruktur gattungsspezifische Unterschiede, indem manche Protagonisten eine späte Wende ins Glück erfahren. So nehmen Erecs und Engelhards Geschichten nach einer Phase des Leidens strukturgemäß ein gutes Ende, wohingegen die negative Teleologie des Heldenepos Kriemhild und Rüdiger in den Untergang führt. Davon abgesehen sind jedoch bei der Motivierung des Unglücks auffällige Ähnlichkeiten zu konstatieren, die charakteristische Formen des Tragischen in der höfischen Epik sichtbar werden lassen. Wie Erecs Fixierung bei Hartmann von Aue, Parzivals Sünden bei Wolfram von Eschenbach und Kriemhilds Rache im ‚Nibelungenlied‘ zeigen, unterscheidet sich der Umgang mit Schuld in der höfischen Dichtung wesentlich von der Tragikvorstellung der Moderne. Kennzeichnend für das Konzept der tragischen Schuld sind in der mittelalterlichen Literatur nicht die Unvermeidbarkeit des Geschehens und die sittliche Schuldlosigkeit des Helden, sondern ein vermeidbarer Fehler oder die fehlende Kontrolle des Affekts. Der Sturz ins Unglück wird durch ein individuelles Fehlverhalten ausgelöst, wobei Intention und Folgen in einem eklatanten Missverhältnis stehen können. Weil sich die Protagonisten auf einen singulären Aspekt konzentrieren, verlieren sie die möglichen Konsequenzen ihrer Taten aus dem Blick und geraten deshalb in tiefes Leid. Dass diese Abweichung von der modernen Tragödientheorie nicht etwa mit einer

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Fazit

Scheu mittelalterlicher Autoren vor der Tragik, sondern mit einer anderen Form der Motivierung zu erklären ist, belegt der Blick in die antike ‚Poetik‘ und die stoische Affektlehre. Der das Prinzip der Eskalation einschließende Tun-und-Ergehen-Zusammenhang ist nach Aristoteles und Seneca das entscheidende Kennzeichen einer tragischen Handlung. Die Inszenierung der Schuld in der höfischen Dichtung kann daher in Übereinstimmung mit den antiken Tragödientheorien als tragisch gelten. Die Verantwortlichkeit des Helden und die Kausalität des Geschehens sind charakteristisch für ein vormodernes Tragikkonzept. Ebenso lassen sich bei der literarischen Gestaltung eines tragischen Konflikts in der höfischen Literatur Besonderheiten beobachten. Sowohl bei Rüdigers Treuekonflikt im ‚Nibelungenlied‘ als auch bei Giburgs Sippenkonflikt im ‚Willehalm‘ oder Engelhards Pflichtenkollision bei Konrad von Würzburg sind die Werte, zwischen denen sich die Figuren entscheiden müssen, von hohem, nicht aber von gleichem Rang. In allen untersuchten Konfliktsituationen lösen die Protagonisten ihr Dilemma, indem sie die verbindlichere Pflicht erfüllen und dafür bereitwillig Leid ertragen. Ihr Unglück ist final motiviert, weil der höhere Wert von Anfang an feststeht. Die gewichtigere Verpflichtung, sei es die Treue gegenüber dem Lehnsherrn, Gott oder dem Freund, wird nicht in Frage gestellt. Mit der Unvermeidbarkeit des Unglücks, das aus einer reflektierten und angemessenen Entscheidung resultiert, unterscheidet sich die Motivierung in der höfischen Epik von den antiken Tragödientheorien. Ähnlichkeiten weist das Konfliktverhalten der Protagonisten dagegen mit einem tragischen Helden der Neuzeit auf. Zwar ist die Hierarchisierung der Pflichten ein auffälliges Differenzkriterium zur hegelschen Tragikauffassung, so dass von einer Alterität des Tragischen gesprochen werden kann. Doch lässt sich zugleich eine Kontinuität zwischen der Inszenierung eines tragischen Konflikts in der höfischen Literatur und Schillers Tragödientheorie beobachten; auch der Weimarer Dichter hält es für tragisch, wenn der Held sich bewusst für sein Leiden entscheidet. Ein eigenes Paradigma tragischen Erzählens wird in der mittelalterlichen Literatur anhand der Minnemotivik entwickelt. Insbesondere an den Antikenromanen wird im Vergleich mit den lateinischen Prätexten ersichtlich, wie Didos und Medeas Tragik neu motiviert wird. Anders als in der Antike resultiert das Unglück nicht etwa aus dem Fehlverhalten der weiblichen Hauptfigur, die sich für das Handeln der Götter allzu empfänglich zeigt oder sich dem Affekt der Leidenschaft bedenkenlos hingibt; stattdessen wird die Minne als entscheidender, kausaler Faktor präsentiert. Sie ist eine übermächtige Gewalt, gegen die sich die Figuren nicht zur Wehr setzen können. Dabei ist die tragische Liebe in der höfischen Epik differenzierter gestaltet, als es ein von außen über die Figuren verhängtes

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Fatum je sein könnte. Die Minne wird als ein ambivalenter Wert charakterisiert, der zugleich höchstes Glück und tiefstes Leid mit sich bringt. Wenn das Begehren erwidert wird, schenkt die Minne größte Freuden; bleibt eine Erfüllung jedoch verwehrt, verursacht sie schwere Qualen und führt im schlimmsten Fall zum Tod. Ursache für Didos Selbstmord im ‚Eneasroman‘, Tristans Konfusion bei Gottfried von Straßburg und Medeas Verschwinden im ‚Trojanerkrieg‘ ist die widersprüchliche Struktur der Minne. Ihre dialektische Balance wird in allen drei Mustertexten außer Kraft gesetzt, als der negative Aspekt überhandnimmt und keine Hoffnung mehr auf eine Vereinigung mit dem oder der Geliebten besteht. Insofern das Leid der Minne inhärent und in einer Liebesgeschichte von Beginn an präsent ist, erscheint das Unglück der Protagonisten final motiviert, ohne allerdings zwangsläufig eine solche Entwicklung nehmen zu müssen. Damit überlagern sich kausale und finale Handlungsmodelle, so dass keine eindeutige Zuordnung zu einer etablierten Tragödientheorie mehr möglich ist. Nicht nur aufgrund des großen Interesses des höfischen Publikums ist die Liebesthematik für die Frage nach dem Tragischen besonders relevant. Vielmehr wird mit Hilfe der Minne eine spezifische Motivierungsform des Unglücks entwickelt, die somit als ein genuin höfisches Tragikkonzept gelten darf. Das weltanschauliche Tragikverständnis der Moderne bildete die Prämisse für die These vom untragischen Mittelalter. Nach der Analyse verschiedener Formen des Tragischen in der höfischen Dichtung lässt sich das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter neu in den Blick nehmen. Kann die Philosophie des Tragischen auch in dieser Hinsicht auf die Vormoderne übertragen werden? Die bedeutenden gesellschaftlichen Veränderungen des 12. und 13. Jahrhunderts eignen sich als Bezugspunkt, das Phänomen des Tragischen nicht nur auf die Literatur zu beschränken, sondern es in der höfischen Kultur zu verorten. Als Erklärungen bieten sich zum einen ein sozial- und ereignisgeschichtlicher und zum anderen ein institutions- und bildungsgeschichtlicher Ansatz an. In literaturgeschichtlichen Abhandlungen wird das hohe Mittelalter als eine Phase des gesellschaftlichen Umbruchs und der Orientierungslosigkeit beschrieben. Viele der alten Ordnungsbegriffe verloren im Verlauf dieser Periode ihre Bedeutung und wurden nur allmählich in eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung überführt, so dass oft widersprüchliche Erscheinungen nebeneinander auftraten.1 Wenngleich die hierarchischen Strukturen der Gesellschaft durch diesen Prozess nicht prinzipiell durchlässig wurden, so erweiterte sich doch der Umfang der deutschen Feudalgesellschaft fast um das Dreifache; durch den Aufstieg der Ministerialen _____________ 1

Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 33; Wehrli, Geschichte, S. 237f.

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Fazit

bildete sich ein neuer Stand des niederen Adels.2 Insbesondere die Zeit nach der Doppelwahl des Staufers Philipp von Schwaben und des Welfen Otto IV. zum König im Jahr 1198 war durch politische Instabilität und militärische Auseinandersetzungen gekennzeichnet.3 Einen literarischen Niederschlag findet das Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung im ersten Spruch des ‚Ersten Reichstons‘, wenn Walther von der Vogelweide klagt: untriuwe ist in der sâze, / gewalt vert ûf der strâze, / fride und reht sint sêre wunt.4 Diese schwierigen politischen Verhältnisse um 1200 ließen sich mit der literarischen Gestaltung des Tragischen korrelieren. Wegen des sozialen Wandels und der fehlenden Rechtssicherheit, wegen innerer Kriege und öffentlicher Wirren herrschte eine angstbesetzte Einstellung gegenüber der Welt vor, die die Zeitgenossen für das Tragische empfänglich machte. Die im eigenen Leben erfahrbare und außerhalb der Literatur existierende Tragik führte demnach zur Ausbildung spezifischer Formen des Tragischen. Die moderne Tragikvorstellung könnte so auf die mittelalterliche Lebenswelt und Alltagserfahrung rückprojiziert und die literarische Inszenierung des Tragischen mit dem negativen oder ambivalenten Weltbild der adligen Gesellschaft begründet werden.5 Auch aus institutionengeschichtlicher Perspektive ist das hohe Mittelalter als eine Zeit des Wandels zu bezeichnen: Die Kirche verlor ihr Bildungsmonopol, klerikale Autoren erhielten von Laien Konkurrenz, und der Hof etablierte sich als literarisches Zentrum neben dem Kloster. Diese Entwicklung könnte den Schluss nahelegen, dass die Lösung aus dem religiösen Kontext die entscheidende Voraussetzung für tragisches Erzählen im Mittelalter bildete. Erst als die Kirche ihre Vorherrschaft einbüßte und sich eine höfische Laienkultur entwickelte, wäre somit eine Gestaltung des Tragischen möglich. Problematisch ist an dieser Deutung, dass die beiden Institutionen kontrastiert werden, als ob sie verschiedene Weltanschauungen repräsentierten. Der Eindruck könnte entstehen, dass im Kloster kein Raum für Tragik blieb, weil die theologische Perspektive dominierte, wohingegen am weltlich ausgerichteten Hof Formen des Tragischen entfaltet werden konnten. Das Vorurteil eines untragischen Christentums würde _____________ 2 3 4 5

Vgl. Fleckenstein, Entstehung; ders., Rittertum, S. 428. Vgl. von Eickels, Otto IV. und Philipp. Vgl. Walther von der Vogelweide, Leich, Nr. 2, Str. 1, V. 21–23 (= L 8,24–26). Vgl. auch Kern, Reichston; Serfas, Entstehungszeit. Die problematischen Aspekte der Stauferzeit geraten bei Bollinger (Das Tragische, S. 4, 65) nicht in den Blick, vielmehr setzt sie die höfische Kultur mit der in der Dichtung inszenierten Lebensfreude gleich und schließt daraus auf eine „Auflösung des Tragischen durch dieses höfische Kulturideal“. Dagegen betont Bumke (Höfische Kultur, bes. S. 11) den Gegensatz zwischen literarischer Fiktion und Historie. Die Jahrzehnte, in denen die höfische Dichtung ihre höchste Blüte erlebt habe, seien in Deutschland eine schlimme Zeit grausamer Auseinandersetzungen gewesen.

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auf diese Weise reproduziert und eine der mittelalterlichen Lebenswelt unangemessene Trennung zwischen einer christlich-geistlichen und einer höfisch-weltlichen Sphäre konstruiert.6 Überzeugend erscheint dieser Ansatz jedoch insofern, dass die höfische Dichtung an den gesellschaftlichen Entstehungsort gebunden und die literarische Interessenbildung des höfischen Publikums berücksichtigt wird. Weil die Werke für einen konkreten Adressatenkreis konzipiert wurden, spiegeln sich in ihnen kulturspezifische Interessen.7 Wie bei der Verortung der zentralen Elemente des Tragischen innerhalb der zeitgenössischen Diskurse deutlich geworden ist, griffen die höfischen Dichter in ihren Werken aktuelle Themen auf, die in der mittelalterlichen Kultur insgesamt von Relevanz waren. Die Problematik der Schuld und die Frage nach einer verminderten Schuldlosigkeit wurden in der Theologie und Kanonistik erörtert und Lösungswege bei einem schwierigen Konflikt in der Rhetorik und Ethik diskutiert. Nur bei der Liebesthematik offenbart sich eine grundlegende Differenz zwischen literarischer Fiktion und historischer Praxis. Der Stellenwert der Minne in der höfischen Dichtung unterscheidet sich eklatant von den Normen feudaler Heiratspolitik und der kirchlichen Ehevorstellung. Möglicherweise resultierten gerade aus dieser Diskrepanz das große Interesse an unglücklichen Liebesgeschichten und eine besondere Disposition für den Entwurf einer tragischen Liebe. Der Fokus dieser Studie lag jedoch ganz auf den literarischen Inszenierungen, nicht auf den gesellschaftlichen Voraussetzungen des Tragischen. Untersucht wurden weder die Tragik des Hofes im Sinne einer tragischen Zerrissenheit der adligen Lebenswelt in der Stauferzeit noch die laikale Abgrenzung gegenüber einer religiösen Weltsicht und eine daraus resultierende neue Sensibilität für die unsichere Grundsituation des Menschen. Daher ist der Tragikbegriff im Titel dieser Studie nicht im ideologischen, sondern im poetologischen Sinne zu verstehen; er bleibt gebunden an die Literatur, die im höfischen Kontext entstanden ist.

_____________ 6

7

Welche engen Verbindungen bei der Literaturproduktion bestehen, zeigt Reuvekamp-Felber (Volkssprache) bei seiner Untersuchung von Hofgeistlichen. Diese verfassten ihre Werke zwar für ein höfisches Publikum und im Auftrag fürstlicher Mäzene, blieben aber institutionell an das Kloster gebunden und hielten sich nur zeitweilig am Hof auf. Zum Verhältnis von Gattung, Fiktionalität und historischem Kontext vgl. auch Müller, Höfische Kompromisse, S. 35–41.

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Forschungsliteratur

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Witthöft, Christiane: Selbst-loses Vertrauen? Probleme der Stellvertretung im ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg und im ‚Nibelungenlied‘. In: Frühmittelalterliche Studien 39 (2005), S. 387–409. Wittmann, Michael: Die Ethik des Hl. Thomas von Aquin. In ihrem systematischen Aufbau dargestellt und in ihren geschichtlichen, besonders in den antiken Quellen erforscht. München 1933. Wlosok, Antonie: Vergils Didotragödie. Ein Beitrag zum Problem des Tragischen in der Aeneis. In: Herwig Görgemanns; Ernst A. Schmidt (Hg.): Studien zum antiken Epos. Meisenheim a. Glan 1976 (Beiträge zur Klassischen Philologie 72), S. 228–250. Wolf, Gerhard: Verborgene Kalküle. Pierre Bourdieus ‚Reflexive Anthropologie‘, Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten. In: Ursula Peters (Hg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Stuttgart; Weimar 2001, S. 215–244. Wolf, Jürgen: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue. Darmstadt 2007. Wolff, Ludwig; Schröder, Werner: Heinrich von Veldeke. In: VL 3 (1981), Sp. 899– 918. ― Der ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach (1934). In: Rupp, Wolfram von Eschenbach, S. 388–426. Wolfzettel, Friedrich (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Tübingen 1999. Worstbrock, Franz Josef: Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‚Erec‘ Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterstudien 19 (1985), S. 1–30. ― Der Tod des Hercules. Eine Problemskizze zur Poetik des Zerfalls in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘. In: Haferland, Erzählungen, S. 273–284. ― Wiedererzählen und Übersetzen. In: Haug, Mittelalter, S. 128–142. ― Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds ‚Tristan‘ (1995). In: ders.: Ausgewählte Schriften, hg. v. Susanne Köbele; Andreas Kraß. 2 Bde. Stuttgart 2004, Bd. 1, S. 229–245. ― Zur Tradition des Trojastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar. In: ZfdA 92 (1963), S. 248–274. Wynn, Marianne: Der Witz in der Tragik. Das erste Buch von Wolframs ‚Willehalm‘ und sein Schluß. In: Wolfram-Studien 7 (1982), S. 117–131. Wyss, Ulrich: Ich taete ê als Rûmolt. Ein Aperçu zur nibelungischen Intertextualität. In: Zatloukal, 3. Pöchlarner Heldenliedgespräch, S. 187–202. ― Legenden. In: Volker Mertens; Ulrich Müller (Hg.): Epische Stoffe des Mittelalters. Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 40–60. Yeandle, David N.: Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach’s Parzival (116,5–138,8). Heidelberg 1984. ― ‚schame‘ im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung. Heidelberg 2001 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). Young, Christopher: Narrativische Perspektiven in Wolframs ‚Willehalm‘. Figuren, Erzähler, Sinngebungsprozeß. Tübingen 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 104).

504 Zatloukal, Klaus (Hg.): 3. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Die Rezeption des Nibelungenliedes. Wien 1995 (Philologica Germanica 16). Zimmermann, Bernhard: Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2000. Zotz, Nicola: Programmatische Vieldeutigkeit und verschlüsselte Eindeutigkeit. Das Liebesbekenntnis bei Thomas und Gottfried von Straßburg (mit einer neuen Übersetzung des Carlisle-Fragments). In: GRM 50 (2000), S. 1–19. Zuntz, Günther: Ödipus und Gregorius: Tragödie und Legende. In: Kuhn, Hartmann von Aue, S. 87–107. Zurowski, Marian: Die Erstreckung der Strafsanktion auf nicht schuldige Personen, die zum Straffälligen in Beziehung stehen, nach der Lehre der Dekretisten und Dekretalisten. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Kanonistische Abteilung) 59 (1973), S. 175–190. Zutt, Herta: Parzivals Kämpfe. In: Werner Besch; Siegfried Grosse; Heinz Rupp (Hg.): Festgabe für Friedrich Maurer. Zum 70. Geburtstag am 5. Januar 1968. Düsseldorf 1968, S. 178–198. Zwierlein, Otto: Spuren der Tragödien Senecas bei Bernardus Silvestris, Petrus Pictor und Marbod von Rennes. In: Mittellateinisches Jahrbuch 22 (1987), S. 171–196.

Register Verzeichnis historischer Personen, literarischer Figuren und Werke Abaelard 315 – ‚Ethik‘ 204f. Abraham 295 Achill 67, 402 (Anm. 281), 425 Adam 49, 150, 295 Aelred von Rievaulx – ‚Speculum caritatis‘ 27 Aeneas 323, 331f., 334–336, 340f., 343, 345f., 402 (Anm. 279) Aigeus 410 (Anm. 306), 427 (Anm. 368), 438 Aischylos 4–6 Albertini di Prato, Niccolò 5 Albertus Magnus – ‚De generatione et corruptione‘ 24 Albrecht von Johansdorf 445 (Anm. 418) Alkmeon 52 ‚Alliterative Morte Arthure‘ 18 (Anm. 71) Ambrosius 39 Amelius 282 Amicus 282 Amor 182 (Anm. 287), 332f., 335, 385 (Anm. 213) Andreas Capellanus – ‚De amore‘ 448f. Anfortas 128, 131, 136 (Anm. 145), 142, 156, 158–160 Anna 327, 330, 338–342, 354f., 357 (Anm. 121) Anselm von Canterbury – ‚De concordia praescientiae‘ 203f. Antanor 126 (Anm. 121) Antigone 67, 80 Arabel 243, 248 (Anm. 137), 251f., 265 (Anm. 184), 266, 269, 273 Arator 4 Aristoteles 70, 74, 77, 82f., 113, 320, 352, 447 – ‚Eudemische Ethik‘ 66 (Anm. 200) – ‚Nikomachische Ethik‘ 64, 66 (Anm. 200)

– ‚Poetik‘ 2–4, 13, 15, 18, 25, 28, 30f., 36, 51– 67, 78 (Anm. 247), 123, 152–154, 157, 159f., 201, 299, 452, 454 Arnoldus de Villanova – ‚De amore heroico‘ 448 (Anm. 431) Arofel 244, 250f., 261 Artemis 298 Arthur 18 (Anm. 71) Artus 85f., 90, 93, 98, 115, 117, 125f., 129, 132, 136, 151, 155f., 426 (Anm. 362) Ascanius 327 (Anm. 15), 332f., 336, 345 Augustinus, Aurelius 49, 147 (Anm. 176), 149 (Anm. 185), 203 (Anm. 361), 446 – ‚Confessiones‘ 201f. – ‚De civitate dei‘ 39f. Averroës 3 Bartholomäus Brixiensis – ‚Glossa ordinaria‘ 315 (Anm. 339) Basilius von Cäsarea – ‚Ad adolescentes‘ 41 ‚Bataille d’Aliscans‘ 242, 261 Belakane 142 (Anm. 159) Benjamin, Walter 36 (Anm. 80) – ‚Ursprung des deutschen Trauerspiels‘ 33f. Benoît de Sainte-Maure 404 (Anm. 287), 406 (Anm. 295), 415 (Anm. 317) – ‚Roman de Troie‘ 401f., 407 (Anm. 297), 423f. ‚Beowulf‘ 14 Bernard von Utrecht – ‚Commentum in Theodulum‘ 29 (Anm. 35) Beroul 362 Bibel (vgl. auch Paulus) – ‚Genesis‘ 46–50 – ‚Ijob‘ 45 – ‚Samuel‘ 45 Blanscheflur 362, 377 (Anm. 181), 380, 384 (Anm. 209), 391f., 436 (Anm. 391) Bloch, Ernst 47 (Anm. 124) Blödel 166, 180 (Anm. 276), 195, 216

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Register

Boccaccio, Giovanni – ‚De claris mulieribus‘ 48f. Boethius 4, 13, 18, 82f., 122, 160, 192, 210, 240, 273, 381, 426, 449f., 452f. – ‚De consolatione philosophiae‘ 24 (Anm. 9), 28, 63, 71–77, 346, 353, 453 Bonaventura – ‚In secundum librum sententiarum‘ 203 (Anm. 360), 205 Brangäne 371, 374f., 377, 381, 394, 399 (Anm. 266) Brecht, Bertolt – ‚Notate‘ 35 (Anm. 78) Brünhild 163, 171, 175–177, 182, 189–192 Byblis 396 Cadoc 91, 112f., 117 Camerarius, Joachim 7 Camilla 246 (Anm. 131) Castelvetro, Lodovico 3, 59 (Anm. 174) Chrétien de Troyes – ‚Erec et Enide‘ 85, 88, 95 (Anm. 24), 99 (Anm. 30), 116 (Anm. 89), 118f. – ‚Perceval‘ 130 (Anm. 132), 145, 148, 152, 160 Cicero, Marcus Tullius 63 (Anm. 191) Condwiramurs 127, 132f., 135–137, 140–142 ‚Corpus iuris canonici‘ 203 Correr, Gregorio – ‚Progne‘ 6 Creusa 409 (Anm. 304), 420 (Anm. 334) Creon 409 (Anm. 304) Cundrie 130, 132, 135, 138, 140, 142, 146, 148 (Anm. 179), 154, 157–160, 207 Cunneware 126 (Anm. 121) Cupido 333, 340, 385, 431 Curvenal 125 (Anm. 119) Cyprian 39–41 – ‚Ad Donatum‘ 41 (Anm. 98) Dädalos 441 (Anm. 403) Dancwart 220 Dares Phrygius 401 ‚De casu Cesena‘ 8 ‚Decretum Gratiani‘ 202, 314, 316, 447 Deidamia 425 Dictys Cretensis 401 Dido 20, 59f., 322–360, 388, 396, 411, 420, 422, 429, 432, 435, 438f., 443, 451, 454f. Dietrich von Bern 165f., 173, 179, 194–198, 216, 235 Dietrich von Brabant 276f., 279, 281–297, 302–310, 316 Dürrenmatt, Friedrich – ‚Theaterprobleme‘ 35

Eckewart 179, 214 Ehmereiz 246, 248, 254 Eilhart von Oberg – ‚Tristrant und Isalde‘ 362, 370 (Anm. 158), 373, 385 (Anm. 213), 394f. Ekkehard IV. von St. Gallen – ‚Casus Sancti Galli‘ 24 Eneas 59, 323, 326–330, 333–360, 442, 451 Engelhard 20, 211, 274–312, 316, 320f., 444, 453f. Engeltrud 277–281, 285–287, 289f., 296 (Anm. 271), 300–302, 306, 309, 444 Enite 86–93, 95–105, 108–122, 162 (Anm. 227), 200, 311f., 442 Erasmus, Desiderius 7 Erec 20, 84–124, 153, 160 (Anm. 219), 200, 209, 311, 442, 453 Eson 407f., 415 Etzel 164–167, 173, 179f., 194–198, 212–226, 231, 234–241 Euripides 4–6, 34, 60, 67 (Anm. 202), 153, 298f., 437 – ‚Iphigenie in Aulis‘ 298 – ‚Medea‘ 400f. Eva 48f. ‚Excidium Troie‘ 401 Ezzelino 6 Faustinian 76 (Anm. 240) Feirefiz 132, 135, 138f., 142, 261 (Anm. 165) Friedrich I. 24 Friedrich von Hausen 444 (Anm. 415) Fruote von Dänemark 276–280, 284, 300f., 308f. Gahmuret 124, 126, 136 Galen 447 Gandin 365 (Anm. 146), 367, 376 Gawan 124, 129f., 132, 137f., 140, 152, 159, 200, 319 (Anm. 351) Gawein 90, 103f., 117 Geoffrey of Vinsauf – ‚Documentum‘ 28 Gernot 166, 175, 215, 218, 224, 233f. Gibert 29 Giburg 11, 20, 211, 242–273, 275, 293, 300, 309–311, 316, 320f., 454 Ginover 126 (Anm. 121) Giselher 165f., 174, 177f., 194, 196, 215, 217f., 224–226, 234 (Anm. 82) Gornemant 126 (Anm. 120) Gotelind 212, 214f., 223, 233f. Gottfried von Straßburg 125 (Anm. 119), 439, 443 (Anm. 409), 455

Register – ‚Tristan‘ 19 (Anm. 74), 48 (Anm. 126), 197 (Anm. 338), 278 (Anm. 224), 283 (Anm. 237), 316f., 322f., 361–400, 404, 414, 416, 422, 429, 432, 436 (Anm. 391), 451 Gottsched, Johann Christoph 31 Gratian 202, 446 Gregor der Große 317 – ‚Moralia‘ 314f. Gregorius 208f., 443 Greusa 409f. Guivreiz 89f., 92–94, 97, 112, 117f., 120f. Gunther 162–164, 166, 171, 176, 180f., 190, 192f., 197, 213, 215f., 223f., 226, 239, 444 (Anm. 414) Gurnemanz 126–128, 133–136, 139, 147, 149, 154 (Anm. 202), 155 (Anm. 209), 156f. Hagen 163–167, 172–199, 213, 215f., 218, 223f., 226, 231–234, 239–241 Hämon 80 Harpin 318f. Hartmann von Aue 130, 153, 274f., 388 (Anm. 234), 453 – ‚Erec‘ 84–124, 152, 199, 210, 311f., 442 (Anm. 408) – ‚Gregorius‘ 208, 299, 443, 451 – ‚Iwein‘ 197 (Anm. 338), 207, 318f., 442 (Anm. 408) – ‚Klage‘/‚Büchlein‘ 443 (Anm. 411) Hebbel, Friedrich – ‚Tagebücher‘ 82 (Anm. 258) – ‚Ein Trauerspiel in Sizilien‘ 35 (Anm. 76) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 47, 160, 241, 273, 320, 349, 388, 426, 452f. – ‚Vorlesungen über die Ästhetik‘ 25 (Anm. 17), 32f., 54–56, 60 (Anm. 176), 63, 77–83, 211, 310f., 439–441 Heimrich von Narbonne 246, 248, 254f., 262 (Anm. 168) Heinrich von Morungen 438 (Anm. 397), 444 (Anm. 415) Heinrich von Veldeke 362, 420, 422, 432, 435f., 450 – ‚Eneasroman‘ 19, 59, 322–360, 389, 429, 438f., 442 (Anm. 408), 455 Hektor 67 Helena 268, 344 Helmbrecht 12 Herbort von Fritzlar – ‚Liet von Troye‘ 401f., 407 (Anm. 297), 415f., 418 (Anm. 327), 424, 434f. Herkules 403, 422 (Anm. 341), 425–428 Hermann Alemannus 3 Hermann von Thüringen 401

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Herzeloyde 124f., 128 (Anm. 125), 139–145, 147, 149, 152, 154f. Heußler, Christoph 46 (Anm. 121) Hieronymus 39 Hildebrand 166, 197f., 275 (Anm. 214) ‚Hildebrandslied‘ 19 (Anm. 73), 275 (Anm. 214) Hiob 45 Homer 56 (Anm. 158) – ‚Ilias‘ 53, 268 (Anm. 199) Horaz 63 (Anm. 191) Iders 86, 96, 101, 109, 114f., 122 (Anm. 108) Ikaros 441f. Iphigenie 298 Iring von Dänemark 166, 237 Isalde 373f., 385 (Anm. 213), 394 (Anm. 252), 395 (Anm. 254) Isidor von Sevilla – ‚Etymologiae‘ 23, 25, 27–29 Isolde, die Blonde 20, 278 (Anm. 224), 322, 348 (Anm. 96), 361–400, 404, 414, 438f., 443, 451 Isolde von Irland 364–366 Isolde Weißhand 369f., 381f., 397 Ither 126f., 129, 131, 134, 136, 142–144, 146f., 152, 155–157, 159 Iulius Victor – ‚Ars rhetorica‘ 313 Iwein 317f., 442 Jarbas 332, 341 Jason 11, 322, 402–439, 451 Jeschute 125, 129, 133f., 155 Jesus Christus 13, 38 (Anm. 88), 42, 181, 205, 254, 260, 269f., 298 Johannes Balbi – ‚Catholicon‘ 23, 26, 28 Johannes Duns Scotus – ‚Quaestiones in librum quartum sententiarum‘ 203f. Johannes de Garlandia – ‚Parisiana Poetria‘ 4, 7f., 28 Johannes von Salisbury – ‚Polycraticus‘ 24 Johannes Teutonicus – ‚Glossa ordinaria‘ 315 (Anm. 339) Joseph 386 (Anm. 218) Juno 325, 331–333, 349f. Jupiter 332, 334, 341 Juvenal 40 Kaedin 369 (Anm. 154), 375, 381 Kahenis 131, 140f. Kaherdin 398 Kanake 396

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Register

Karnahkarnanz 125, 154f. Keie 102 (Anm. 40), 126, 136 ‚Kleine Ilias‘ 56 (Anm. 158) Klytemnästra 65 Konrad von Hirsau – ‚Dialogus super auctores‘ 4, 29, 38 Konrad von Würzburg 312, 316f., 450 – ‚Engelhard‘ 159 (Anm. 216), 274–310, 444, 451, 454 – ‚Trojanerkrieg‘ 11f., 19f., 322, 400–439, 455 Koralus 95, 98, 114f. Kreon 80 Kriemhild 20, 84, 161–200, 207, 209, 212– 223, 225–228, 231, 236–238, 240, 444, 453 Kroisos 73 ‚Kudrun‘ 197 (Anm. 338) ‚Kyprien‘ 56 (Anm. 158) Lac 86 Lactanz – ‚Divinae institutiones‘ 39f. Laios 67 Lavinia 323 (Anm. 7), 327 (Anm. 17), 347f., 357–360, 436 (Anm. 391), 442 Lessing, Gotthold Ephraim 2, 31 Loherangrin 133, 160 (Anm. 218) Lombardi, Bartolomeo 3 Loschi, Antonio – ‚Achilles‘ 6 Lovato Lovati 5 Lucan 4 Lunete 318 Mabonagrin 93f., 97, 101 Maggi, Vincenzo 3 Manutius, Aldus 3 Manzini, Giovanni 6 Marjodo 367, 381f. Marke 316f., 362–378, 380, 382, 398 (Anm. 260) Matthias von Linköping 3f. Medea 6, 11f., 20, 60, 65, 67 (Anm. 202), 71, 153, 323, 400–439, 443, 451, 454f. Meinhard von Bamberg 15 (Anm. 68) Melanchthon, Philipp 7 Meleager 52 Merkur 332, 334 Milton, John – ‚Paradise Lost‘ 50 (Anm. 134) Minos von Kreta 441 (Anm. 403) Morgan 364f., 368, 380 Morold 364, 366, 368, 380 Mussato, Albertino – ‚Ecerinis‘ 5f.

‚Nibelungenlied‘ 9–15, 20, 55 (Anm. 155), 62 (Anm. 189), 84, 144, 161–200, 207, 210– 242, 273, 293, 310, 317, 438 (Anm. 397), 444 (Anm. 414), 453f. Nietzsche, Friedrich – ‚Die Geburt der Tragödie‘ 32, 34f. Notker von St. Gallen 4 Novatian 39f. Ödipus 52, 67, 153, 299 Odysseus 67 (Anm. 201), 123 (Anm. 111), 402 (Anm. 279) Oetas 403, 405, 407 Orable 257 (Anm. 145) Orgeluse 141 Orilus 134 (Anm. 141) Oringles 91f., 102 (Anm. 40), 122 (Anm. 109) Ortlieb 166, 195f. Otto IV. 456 Otto von Freising – ‚Chronica‘ 24 Ovid 5–7, 336, 361, 393, 395, 404 (Anm. 287), 434, 437 – ‚Heroides‘ 345f., 401f., 409 (Anm. 304), 411 (Anm. 308), 414f., 418–421, 424, 431 – ‚Metamorphosen‘ 358 (Anm. 126), 401f., 405 (Anm. 291), 407–411, 417–419, 421f., 427, 430f., 438, 441 – ‚Remedia amoris‘ 339, 354 (Anm. 117), 358 (Anm. 126), 448 Papias Vocabulista 24 (Anm. 10) Paris 331, 423 (Anm. 344) Parzival 20, 123–160, 200, 207, 209, 261, 453 Paulus 73 – ‚Brief an die Römer‘ 49 – ‚Briefe an die Korinther‘ 446 Peleus 402f., 407, 409, 411f., 419f. Pelias 402 (Anm. 281), 409 (Anm. 302), 411 Perceval 126 (Anm. 120), 145, 148, 160 Perseus 73 Peter von Blois 7 Petitcrü 395 Petrarca, Francesco 8 Petrus Lombardus 205f., 446 Philipp von Schwaben 456 Phyllis 396 Piccolomini, Aeneas Silvius – ‚De liberorum educatione‘ 6 (Anm. 29) Platon – ‚Der Staat‘ 41f. Plinius der Jüngere 40 ‚La Prise d’Orange‘ 257 (Anm. 145) Prudentius 4

Register Quintilian – ‚Institutio oratoria‘ 313f., 316 Reinmar der Alte 438 (Anm. 397), 444 Rennewart 250, 262 (Anm. 169) ‚Rhetorica ad Herennium‘ 312 Ritschier 278–280, 301, 309 Riwalin 362, 376f., 380, 391f., 436 (Anm. 391) Robortello, Francesco 3 ‚Roman d’Eneas‘ 323, 325–327, 331 (Anm. 24), 333f., 336–339, 341–345, 349–354, 360 Rual 362–364 Rüdiger von Bechelaren 20, 60, 166, 173, 177–179 (Anm. 275), 195 (Anm. 334), 211–242, 273, 275, 293, 297, 300, 309– 311, 316, 320f., 453f. Sachs, Hans – ‚Tragedia von schöpfung, fal und außtreibung Ade auß dem paradeyß‘ 46 Sallust 4 Salutati, Coluccio 8 Salvian 39 Saul 45 Scheler, Max – ‚Zum Phänomen des Tragischen‘ 25 (Anm. 16), 32, 82 (Anm. 258), 234, 441f. Schelling, Friedrich Willhelm Joseph von 30f. – ‚Philosophie der Kunst‘ 32, 82 (Anm. 258) Schiller, Friedrich 31, 454 – ‚Über das Pathetische‘ 309, 311 – ‚Über die tragische Kunst‘ 54 Schlegel, August Wilhelm von – ‚Vorlesungen über philosophische Kunstlehre‘ 33 Schopenhauer, Arthur – ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ 31f. Seneca 4–6, 18, 82f., 201, 320, 352, 354, 400f., 411, 437, 439, 449, 452, 454 – ‚Agamemnon‘ 5 – ‚De ira‘ 63, 68–71, 102 (Anm. 39), 198f., 451 – ‚Epistola‘ 40 (Anm. 92) – ‚Hercules furens‘ 5 – ‚Hercules Oetaeus‘ 5 – ‚Medea‘ 5, 71, 401 (Anm. 273), 411 (Anm. 308) – ‚Octavia‘ 5 – ‚Phaedra‘ 5 – ‚Troades‘ 5 – ‚Tyestes‘ 5 Siegfried 162–164, 167–182, 185–195, 198– 200, 213, 221, 444 Siegmund 163, 177–179

509

Sigune 125, 128f., 131, 139f., 142, 156, 182, 207 Simon Aurea Capra – ‚Ilias‘ 401 Simplikios 2 (Anm. 7) Sophokles 4–6, 153 – ‚Antigone‘ 80 – ‚König Ödipus‘ 53, 299 Statius – ‚Achilleis‘ 401 Sychaeus 332, 335, 341f., 346, 351, 354f., 360 (Anm. 131) Tacitus 40 Telephos 52 Terramer 244, 246f., 250–254, 260–262, 264, 267–269, 271, 273 Tertullian – ‚De spectaculis‘ 38–41 Tervagant 253, 256 Theseus 410 (Anm. 306) Thiebaut 257 (Anm. 145) Thomas von Aquin 205 – ‚De malo‘ 203f. – ‚De quolibet‘ 315 – ‚De veritate‘ 206 – ‚Sentenzen des Petrus Lombardus‘ 206 (Anm. 374) – ‚Summa theologiae‘ 206 (Anm. 374), 316 Thomas von Britannien – ‚Tristan‘ 361f., 369 (Anm. 154), 374–376, 381–383, 398f., 438 Thyestes 52 Tibalt 243f., 246, 248 (Anm. 137), 250 (Anm. 140), 252f., 256f. Trevet, Nicolaus 5 – ‚Expositio super librum Boecii de consolatione‘ 28 Trevrizent 131–146, 149 (Anm. 185), 151, 155–160, 207 Tristan 20, 125 (Anm. 119), 316f., 322, 348 (Anm. 96), 361–400, 403, 438f., 443, 449 (Anm. 436), 451, 455 Tristrant 362, 373f. Venus 331–336, 349f., 416 (Anm. 320) Vergil – ‚Aeneis‘ 323, 331f., 334–346, 349–352, 354, 360, 401f., 422 (Anm. 340), 439 Vettori, Pietro 3 ‚Vie du Pape Saint Grégoire‘ 209 (Anm. 386) Vinzenz von Beauvais – ‚Speculum doctrinale‘ 26 (Anm. 22), 28 – ‚Speculum historiale‘ 5 Vivianz 245, 258

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Register

Volker von Alzey 194, 215, 217–219, 222, 240 Walther von der Vogelweide 278 (Anm. 224), 404, 456 Wernher der Gärtner – ‚Helmbrecht‘ 12 Wickram, Jörg 61 Wilhelm von Blois – ‚De Flaura et Marco‘ 7 Wilhelm von Moerbeke 3f. Wilhelm von St. Thierry – ‚Disputatio adversus Petrum Abaelardum‘ 205 (Anm. 370)

Willehalm 11, 242–272 Wolf, Christa – ‚Medea‘ 400f. Wolfram von Eschenbach 11, 199, 317, 388 (Anm. 234), 453 – ‚Parzival‘ 84, 123–160, 207f., 210, 261, 319 (Anm. 351) – ‚Willehalm‘ 20, 51 (Anm. 136), 211, 242– 273, 293, 310, 316, 454 Ysolt 398 Ziegler, Hieronymus – ‚Protoplastus‘ 46 (Anm. 121)