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German Pages 284 Year 2019
Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau
Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 132
Barbara Zehnpfennig [Hrsg.]
Die Sophisten Ihr politisches Denken in antiker und zeitgenössischer Gestalt
© Titelbild: Protagoras. Gestaltung: Nomos Verlagsgesellschaft.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-1451-3 (Print) ISBN 978-3-8452-5497-5 (ePDF)
1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Glo‐ balisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Wei‐ marer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden.
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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Stu‐ dierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmit‐ telbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Inhaltsverzeichnis
Barbara Zehnpfennig Einführung
I.
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Die Sophisten im griechischen Alltag
Thomas Buchheim Sophistische Kunst und die Mittel menschenmöglicher Korrektur am Gegebenen
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II. Die Sophisten in den platonischen Dialogen Barbara Zehnpfennig Was ist der Sophist? Eine Spurensuche in Platons Dialogen
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Viktoria Bachmann Sophistische Anthropologie am Beispiel des Protagoras
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Bettina Fröhlich Sophistische Selbsterkenntnis im Dialog Charmides
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Hendrik Hansen Sophistische Vertragstheorie: Protagoras
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Raul Heimann Das Recht des Stärkeren in den sophistischen Machttheorien
143
III. Die Sophistik in Moderne und Postmoderne Johannes Frank Hoerlin Antiker und moderner Relativismus? Protagoras und Judith Butler
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Benjamin A. Hahn Freiheit, Relativismus und politische Praxis – Ein struktureller Vergleich zwischen Protagoras und Michel Foucault
195
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Vanessa Jansche Subjektivität und Macht: Protagoras, Nietzsche und Foucault im Vergleich
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Peter Kainz Sophistik und Spieltheorie. Die Modernität sophistischen Denkens und die Grenzen des (methodologischen) Individualismus
241
Christina Kast Die Geburt der Tyrannis aus dem Geiste der Sophistik – Thrasymachos und Nietzsche
265
Die Autoren
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Barbara Zehnpfennig Einführung
„Sophistik als Avantgarde normalen Lebens“ – der Titel, den Thomas Buchheim, Autor dieses Bandes, seiner Dissertation aus dem Jahr 1986 gab1, fasst prägnant zu‐ sammen, was bis heute das Frappierende an der Sophistik ist: Trotz ihres theoreti‐ schen Anspruchs ist sie sehr lebensnah. Jene sophistischen Weisheitslehrer, die vor‐ nehmlich im 5. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland umherreisten und ihre Kunst einem zahlungswilligen Publikum offerierten, hatten ihre Einsichten und Theorien sozusagen dem Alltagsleben abgelauscht. So unterschiedlich die Posi‐ tionen der Sophisten inhaltlich auch waren, kamen sie doch darin überein, Kenntnis‐ se und Techniken zu vermitteln, die aus dem Leben stammten und für das Leben verwendbar waren. Der Mensch stand für sie im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Damit unterschieden sie sich deutlich von der vorsokratischen Philosophie, der es primär um die Erkenntnis der Natur gegangen war. Die Philosophie vor Sokrates suchte nach den Prinzipien, die den Kosmos be‐ stimmen, und wenn sie dabei wie die eleatische Philosophie das menschliche Den‐ ken ins Spiel brachte, dann aus ontologischer Perspektive: Das Sein hat den Vorrang. Sich ganz dem Menschen zuzuwenden, war die genuin sophistische Leistung; mit den Sophisten war eine neue Stufe des Verhältnisses des Menschen zur Welt, zu Gott und vor allem zu sich selbst erreicht. Wahrnehmung, Denken, Sprache, Gemein‐ schaftsbildung – all dies wurde nun zum Gegenstand des Nachdenkens, und beson‐ ders für einen menschlichen Bereich fühlten sich die Sophisten zuständig: für die menschliche Tugend. Als Tugendlehrer ließen sie allerdings die traditionelle Sitt‐ lichkeit, das überlieferte, größtenteils religiös fundierte Tugendverständnis hinter sich. Ihr neuer Tugendbegriff war nicht zuletzt politisch ausgerichtet; Tauglichkeit zeigt ein Mann, wenn er die Techniken der Selbstdurchsetzung beherrscht, was nicht zuletzt in der politischen Arena von unschätzbarem Wert ist. Wissen ist Macht. Man konnte das sophistische Wissen als Herrschaftswissen gebrauchen. Das ist einer der Gründe für die Ambivalenz des Phänomens Sophistik. Schon zu ihrer Zeit, nicht erst im Lauf der weiteren Geschichte, ernteten die Sophisten große Bewunderung, stießen aber auch auf heftige Ablehnung. Galten sie den einen als Zerstörer der Tradition, so waren sie für die anderen die Wegbereiter einer neuen Zeit, einer Zeit, in der die alten Götter gestürzt werden und der Mensch sein Schick‐
1 Buchheim 1986.
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sal selbst in die Hand nimmt. Insofern waren die Sophisten die ersten uns bekannten Vertreter der Aufklärung: Mit ihrer Rückführung der für das Leben entscheidenden Maßstäbe auf den Menschen traten sie als Intellektuelle auf, die frühere Verblen‐ dungszusammenhänge bewusst machen und den Menschen zu sich selbst befreien wollten. Damit sie hiermit, zumindest bei einem Teil ihrer Zeitgenossen, Erfolg ha‐ ben konnten, musste das Überkommene jedoch bereits fraglich geworden sein, sonst hätte das Neue nicht greifen können. Aufklärung tritt so gut wie immer in Umbruch‐ situationen auf. In dieser aufklärerischen Tendenz der Sophistik ist auch ihre überraschende Nähe zur Gegenwart begründet: Moderne und Postmoderne als nach-metaphysische Zeit‐ alter beleben Gedanken der Sophistik neu. Vieles, was in der Sophistik vorgedacht wurde, z. B. die Relativität der Wahrnehmung, die Konventionalität des Rechts, die Begründung der politischen Gemeinschaft durch Vertrag oder Kampf, taucht in Mo‐ derne und Postmoderne wieder auf. Es ist dann entsprechend neu gewandet, greift jedoch im Kern auf dieselben Denkstrukturen zurück, die sich schon in der Sophistik finden. Vor allem ein Sophist kann mit seinem erkenntnistheoretischen Relativismus und seinem kontraktualistischen Staatsverständnis als Vordenker unserer Zeit gelten: Protagoras. Deshalb spielt er in dem vorliegenden Band auch eine so prominente Rolle. Der Aufbau des Bandes ist von folgenden Überlegungen bestimmt: I. Der einführende Artikel von Thomas Buchheim soll die großen Linien ziehen. Hier wird der universelle Anspruch der Sophistik dokumentiert, und es werden die von ihr verwendeten Mittel zur Untermauerung dieses Anspruchs dargestellt. In diesem weitgezogenen Bogen greift der Autor auf überlieferte Fragmente und die Auseinandersetzung von Platon und Aristoteles mit den Sophisten zurück. II. Da unsere Hauptinformation über die Theorien der Sophisten aus dem platoni‐ schen Werk stammt, ist diesem der zweite große Themenblock gewidmet. Der Artikel der Herausgeberin dieses Bandes beleuchtet an ausgesuchten Beispielen, wie Platon das Wesen des Sophisten deutet und welche Konsequenzen für die politische Theorie der Sophistik sich daraus ergeben. Viktoria Bachmann befasst sich anhand der Position des Protagoras mit der sophistischen Anthropologie, wobei sie deren Verständnis des Menschen aus der Entgegensetzung zur religiö‐ sen und naturphilosophischen Sicht entwickelt. Bettina Fröhlich untersucht unter Rückbezug auf den platonischen Dialog „Charmides“ die sophistische Selbster‐ kenntnis als Grundlage jenes neuen menschlichen Selbstverhältnisses, das sich in der Sophistik artikuliert. Dass die Vertragstheorie keine Erfindung der Neuzeit ist, sondern bereits in der Sophistik als gesellschaftsbegründendes Modell ge‐ dacht wurde, zeigt der Beitrag von Hendrik Hansen am platonischen Dialog „Protagoras“. Den Gang durch das platonische Werk schließt Raul Heimann ab,
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der sich der Alternative zum Vertragsdenken widmet: der Theorie des Rechts des Stärkeren, die sich in Platons „Politeia“ und dem „Gorgias“ findet. III. Weil uns die Sophistik mit ihren Thesen, Themen und Methoden so nahe steht, ist der Wiederkehr sophistischen Denkens in Moderne und Postmoderne der drit‐ te Block dieses Bandes gewidmet. Den Beginn markiert Johannes Hoerlin, der in Judith Butlers Genderkonzept eine große strukturelle Ähnlichkeit zu Protagoras’ Relativismuskonzept findet. Benjamin Hahn unternimmt einen ähnlichen Ver‐ gleich von antikem und postmodernem Relativismus anhand von Protagoras und Michel Foucault. Er stellt bei beiden Denkern den Zusammenhang von Freiheits‐ streben, Relativismus und politischer Praxis heraus. Ebenfalls mit Bezug zu Prot‐ agoras, dessen Bedeutung für unsere Zeit in diesem dritten Teil des Bandes damit eindrücklich vor Augen geführt wird, untersucht Vanessa Jansche die Macht‐ theorie von Nietzsche und Foucault und zeigt, dass der erkenntnistheoretische Subjektivismus zu ganz unterschiedlichen politischen Konsequenzen führen kann. Wie man auch eine der großen Entscheidungs-theoretischen Modelle der Gegenwart, die Spieltheorie, auf sophistisches Denken zurückführen kann, weist Peter Kainz mittels des Dreisprungs Thrasymachos – Hobbes – moderne Spiel‐ theorie nach. Und zu guter Letzt erklärt Christina Kast, auf welch ähnlichen Prä‐ missen Thrasymachos und Nietzsche ihre Machttheorien aufbauen und was es politisch bedeutet, die Wahrheitsfrage zu suspendieren, wie es diese beiden Ver‐ treter des erkenntnistheoretischen Subjektivismus vorführen.
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I. Die Sophisten im griechischen Alltag
Thomas Buchheim Sophistische Kunst und die Mittel menschenmöglicher Korrektur am Gegebenen*
1. Historische Ursprünge der Sophistik Charakteristisch für die Sophisten war es, ihre ‚sophistische Kunst‘ (sophistikê technê) nicht als jüngst errungene Neuerfindung, sondern als ein altes gemein‐ menschliches Anliegen auszugeben, das in ihrer Zeit nur endlich den Namen und Rang eines bestimmten und offen ausgeübten Berufes erhalten habe. Protagoras war die Gründergestalt der Sophistik, die zuerst öffentlich behauptete „ich stimme zu, ein Sophist zu sein und Menschen erziehen zu wollen“,1 wie es zwar vor ihm schon viele Dichter, Musiker und andere Granden in Künsten und Kultus getan,2 sich dabei in ihrem wahren und allgemeinen Anspruch aber verborgen gehalten hätten.3 Denn das Geschäft der Menschenerziehung und Bildung zu allgemeiner Lebensklugheit und Lebensbewältigung sei eines, das man nur ungern exklusiv bestimmten Persön‐ lichkeiten aufgrund ihrer besonderen wissenschaftlichen Kompetenz zuspreche, son‐ dern von dem alle erwachsenen Bürger mit Vorliebe versichern, es auch sehr gut selbst zu vermögen; so dass es fast unvermeidlich Neid und Ablehnung errege, wenn jemand eine solche ‚Kunst’ (technê) gerade für sich in Anspruch nehme und auch anderen (gegen angemessene Bezahlung) zu vermitteln verspreche. Welcher eta‐ blierte Bürger möchte nicht von sich glauben, er sei, um mit Protagoras zu reden, hinreichend mit „Wohlberatenheit“ (euboulia) begabt, „um sowohl seine privaten Güter aufs Bestmögliche zu verwalten, als auch in der Polis seine politischen Belan‐ ge maximal durchsetzungsstark (dynatôtatos) im Handeln und Reden zur Geltung zu bringen“?4 Dennoch scheint es spezifisch mit dem Anspruch eines ‚Sophisten‘ ver‐ * Die wissenschaftliche Bearbeitung des Manuskripts wurde 2013 abgeschlossen. Aus verschiedenen Gründen hat sich die Herausgabe des Bandes jedoch länger hinausgeschoben. 1 Platon, Protagoras 317b: ὁμολογῶ τε σοφιστὴς εἶναι καὶ παιδεύειν ἀνθρώπους. 2 Protagoras (im gleichnamigen Dialog 316d-e) nennt außer Dichtern (Homer, Hesiod, Simoni‐ des) und Musikern (Agathokles und Pythokleides) einige Mystagogen (Orpheus und Musaios), Athleten (Ikkos) und Ärzte (Herodikos). 3 Der wahre Anspruch geht nämlich auf eine erfolgreiche Lebensgestaltung und Durchsetzungs‐ stärke in allen privaten und politischen Belangen überhaupt. Vgl. das ἐπάγγελμα (Ankündigung, Lehrversprechen) des Protagoras selbst wie weiter unten zitiert (Platon, Protag. 319a). 4 Siehe Platon, Protagoras 319a. Man geht in der Forschung davon aus, dass Platon mit diesem Satz das Lehrversprechen (ἐπάγγελμα) des Protagoras mehr oder weniger wörtlich wiedergege‐ ben hat.
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bunden gewesen zu sein, dass er die allgemeine Lebensklugheit und Einsichtsfähig‐ keit von anderer Seite und durch eine Art unwiderstehlicher technischer Maßnahme, die einem ‚Zwang‘ gleichkommen sollte, an seine Kundschaft zu vermitteln ver‐ sprach: „Einen gewaltigen Sophisten verlangst du da, wenn er vermögend sein soll zu erzwingen, dass Unkluge zu einem rechten Denken kommen“ – so umschreibt Euripides an einer Stelle des Hippolytos ironisch die von Theseus ersehnte „Kunst“. 5 Das offen aufgestellte Lehrversprechen der Sophisten wurde aus diesem Grund oft als Bestreitung einer ebenbürtigen Kompetenz bei den übrigen Zeitgenos‐ sen wahrgenommen. Tatsächlich finden wir sowohl Bezeichnung wie auch Tätigkeit des ‚Sophisten‘ und lebensklugen Allgemeinberaters (sophizesthai) vor dem letzten Drittel des 5. Jahrhunderts besonders bei berühmten Dichtern und anderen Reformern von Politik, öffentlichem Leben und Kultus.6 Der Elegiendichter Theognis zum Beispiel siegelte seine ethische Lehrdichtung mit solch einem quasi ‚sophistischen‘ Selbstverständnis ab: „meiner in diesen Versen dargelegten ‚sophistischen Lehre‘ (sophizomenôi emoi) sei hiermit das Siegel erteilt“.7 Pindar bezeichnete diejenigen, die wie er selbst Ruh‐ mestaten der glanzvollen Athleten und Adelsfamilien mit dichterischer Rede würdi‐ gen und so erst zu einem bleibenden Vorbild gelungenen Menschenseins erheben, als ‚Sophisten‘ (z.B. Isth. 5, 28). Xenophanes spricht selbstbewusst von ‚unserer Weisheit‘ – nämlich der der Dichter – die mehr wiege als alle athletische Kraft, Schnelligkeit der Füße oder Rennställe voll preisgekrönter Pferde: „selbst wenn je‐ mand all dies besäße, so wäre er doch nicht so viel wert wie ich: denn besser als Männerkraft und Pferde ist unsere Weisheit“, dank derer nämlich im Unterschied zu all den sportlichen Erfolgen einzelner „viel eher das Gemeinwesen in einen Zustand gedeihlicher Ordnung (eunomia) gelangt“ (Xenophanes DK B 2, 10–19). Man kann erkennen, dass mit Vorliebe diejenigen Exponenten von Dichtung und Kultur ‚So‐ phisten‘ genannt wurden, die auf umfassende Nützlichkeit und Reformen für das Le‐ ben der Allgemeinheit zielten. So nennt Herodot den politischen Reformer Solon einen Sophisten (I, 29), anderswo Pythagoras, den angeblichen Lehrer des Zalmoxis (IV, 95), oder diejenigen, die wichtige Elemente des Dionysos-Kults nach Griechen‐ land brachten (I, 49). Der Ausdruck ‚Sophist‘, so kann man sagen, wurde von Haus aus nicht für den auf Einkehr und ruhige Kontemplation bedachten Weisen ge‐ braucht, sondern für die auf allgemein sichtbare Wirksamkeit zielenden Reformer und Kultfiguren, die manchmal auch einen Stich ins Magische (Zalmoxis), Allüber‐ 5 δεινὸν σοφιστὴν εἶπας, ὅστις εὖ φρονεῖν τοὺς μὴ φρονοῦντας δυνατὸς ἐστ’ ἀναγκάσαι Euripi‐ des, Hippol. 921 f. Der Hippolytos wurde 428 uraufgeführt, d.h. 5 Jahre früher als die Wolken der Aristophanes. Somit handelt es sich, obwohl selten angeführt, um ein äußerst wertvolles, für den Ruf und Beruf der ursprünglichen ‚Sophisten‘ sehr aussagekräftiges Zitat. 6 Eine sehr reichhaltige Darstellung des historisch-zeitgenössischen Wortgebrauchs für den So‐ phisten und die Sophistik findet sich in Scholten 2003, S. 18–27. 7 Theognis, Elegien I, 19 f.
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legene (Solon) und schillernd Undurchsichtige (Pythagoras) aufwiesen.8 Auch die Medizin als Leitwissenschaft ihrer Zeit mit ihrem Anspruch, die ganze Lebensweise des Menschen in seiner jeweiligen natürlichen Umgebung mit den vorteilhaftesten Regeln versorgen zu können, ist durch vielfache Affinitäten und teils kritische, aber teils auch positive Echos mit der Entwicklung der sophistischen Kunst in der zwei‐ ten Hälfte des 5. Jahrhunderts verbunden gewesen.
2. Was ist ein Sophist? Allgemein gesprochen Beide großen Klassiker des griechischen Denkens, Platon und Aristoteles, sehen die Besonderheit des Phänomens ‚Sophistik‘ übereinstimmend darin, dass ein universel‐ ler Anspruch des Wissens und zugleich kunstmäßigen Zurechtkommens mit der Welt und allen Dingen erhoben wird. Zwar waren auch die sogenannten vorsokrati‐ schen Philosophen wie z.B. Parmenides und Anaxagoras auf eine Erkenntnis des Alls der Dinge und ihres Werdens und Vergehens aus, doch fehlte bei ihnen der tech‐ nische Schlüssel und gleichsam die Kenntnis der Schnittstelle zwischen dem, was Menschen können und in der Hand haben, und der Situation und Eigenart der Dinge selbst. Die Sophisten behaupteten nicht nur, Wissen und Einsicht über die Dinge zu haben, sondern auch zu wissen, wie es geht, dass man sich in das Gefüge der Ver‐ hältnisse einfädelt und so die Dinge im eigenen Sinn und Interesse beeinflussen kann. Im Unterschied zu anerkannt ‚seriösen‘ Einzelwissenschaftlern der damaligen Zeit wie den Mathematikern, Astronomen, technisch Sachverständigen und Hand‐ werkern zeichneten sich die Sophisten durch ihren Anspruch aus, über alles Be‐ scheid zu wissen und folglich mit allen Dingen kompetent und effektiv umzugehen. Platon und Aristoteles sind sich einig darin, dies als das eigentlich definierende Ele‐ ment der sophistischen Denkströmung insgesamt anzugeben. 9 Ein auf uns heute vielleicht etwas hilflos wirkendes Beispiel für den Universalitätsanspruch der So‐ 8 Das gilt auch für den Musiker Damon, den Plutarch einen ἄκρων σοφιστής nennt (s. DK 37 A 4) und der als Musiklehrer des Perikles in dessen Umkreis viel politische Wirkung entfaltet hat. 9 Für Platon vgl. z.B. Sophistes 233a und 234c: „Glaubst du, es sei tatsächlich möglich, [...] dass irgendein Mensch über alles Wissenschaft zu haben fähig ist? – Auf keinen Fall. – Was ist aber dann wohl der wunderbare Kniff (θαῦμα) des sophistischen Vermögens? [...] wie mit der Male‐ rei für die Sicht aus der Ferne [...], so gewärtigen wir im Feld der Reden eine andere Kunst, die es möglich macht, junge Leute und welche, die der Wahrheit der Dinge fernstehen, mit Reden durch die Ohren zu verzaubern, indem man über alles gesprochene Bilder (εἴδωλα λεγόμενα περὶ πάντων) vorzeigt, und sie so glauben macht, dass man die Wahrheit spricht und der Spre‐ cher in allem der Weiseste von allen sei“. Für Aristoteles s. Metaph. IV 2, 1004b17–26: „Dialektiker und Sophisten tauchen in demselben Schema unter wie die Philosophen [...] denn sie verbreiten sich im Stil dialektischer Auseinan‐ dersetzung über alles, allem gemeinsam aber ist eben das ‚seiend‘. Und das machen sie, weil es klarerweise der Domäne der Philosophie zugehört. Denn um dies Genre drehen sich Sophistik und Dialektik ebenso wie die Philosophie, wobei letztere sich aber durch den Modus des Vermö‐ gens, erstere durch ihre Absicht für das Leben unterscheidet: Denn die Dialektik probiert nur
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phisten bietet Hippias von Elis in seinem Bestreben, einerseits alles Wissen seiner Zeit in eine Art Enzyklopädie oder Lexikon zu versammeln10 und andererseits in seiner Person alle Künste und Wissenschaften vereinigen zu wollen.11 Bei näherer Sichtung der Testimonien zeigt das Bemühen des Hippias bemerkenswerte Ausma‐ ße: Hat er doch ernstzunehmende Studien der Mathematik und Astronomie ebenso wie der Sprach- und Musiktheorie und Historischen Forschung betrieben; auf letzte‐ rem Gebiet wird berichtet, dass er unter anderem eine Liste von ‚Olympioniken‘ (DK 86 B 3) und eine Abhandlung über die ‚Benennungen der Volksstämme‘ (DK 86 B 2) verfasst haben soll. Ein weiterer Beleg für den von Sophisten erhobenen An‐ spruch auf „allseitiges Wissen“ aus dem Kreis der Sophistik selbst ist dem sophisti‐ schen Traktat Dissoi logoi (‚Zwiefache Argumentationen‘) zu entnehmen. Dort heißt es in Kapitel 8: „Es ist Sache desselben Mannes und derselben Kunst, meine ich, imstande zu sein, eine Unterhaltung in knapper Wechselrede zu führen, die Wahrheit über die Sachverhalte zu wissen, auf rechte Weise einen Prozess zu führen, in der Lage zu sein, vor dem Volk zu sprechen, die Argumentationstechniken zu kennen und über die Natur aller Dinge, wie sie sich verhalten und wie sie entstanden sind, zu belehren.“ (DK 90 8,1)12
Wir finden somit im Kreis unstreitig der Sophistik zugehöriger Texte und Nachrich‐ ten Belege für das hauptsächliche Definiens der Sophistik nach Platon und Aristote‐ les. Und es gibt daher keinen überzeugenden Grund, den beiden großen Klassikern der Philosophie und dabei Kritikern des sophistischen Denkens in dieser Generaldia‐ gnose der sophistischen Kunst nicht zu folgen. Dies umso weniger, als man hier zu‐ gleich das Motiv erkennen kann, warum die genannten Klassiker die Sophisten so kritisch beurteilt haben. Denn es ist der gleiche Anspruch – mit triftiger Kompetenz für alles Wissen und Können entwickeln zu können – welchen auch die Philosophie bei gleichzeitiger Abgrenzung von der Sophistik immer beseelt hat.13 Während aber die Philosophie dergleichen durch besonders exquisite und daher esoterisch sich aus‐
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aus (πειραστικήv), wo die Philosophie erkennen möchte, während die Sophistik den Anschein erzeugt (φαινομένη), es ihr aber nicht wirklich ernst ist.“ Wahrscheinlich unter dem Titel Συναγωγή (‚Zusammenführung‘) kündigte Hippias im Proömi‐ um dieser Schrift an, „aus allen Dichtern sowie Prosaschriftstellern sowohl der Griechen wie Barbaren, das Wichtigste und jeweils Zusammengehörige zu einem neuen und vielgestaltigen Logos“ – dem Lexikon – vereinen zu wollen (DK 86 B 6). Vgl. dazu im einzelnen Patzer 1986. Dafür wird Hippias bereits in seiner Zeit teils bewundert, teils auch schon damals verspottet: „alles, was er am Leibe trage, sei sein eigenes Werk“, brüstet sich Hippias bei Platon (Hipp. Min. 368b = DK 86 A 12 und ähnlich bei Xenophon (Mem. IV 4–5 = DK 86 A 14). Übersetzung nach Becker / Scholz ed. 2004, 87. Vgl. z.B. Aristoteles, Metaph. IV 2, 1004a34-b4: „Es ist Aufgabe der Philosophie, über sämtli‐ che Gegenstände (πάντων) Betrachtungen anstellen zu können. Denn wenn nicht der Philo‐ soph, wem obliegt es dann zu untersuchen, ob Sokrates und der sitzende Sokrates dasselbe ist, oder ob immer eines einem entgegengesetzt oder was das Gegensätzliche eigentlich ist oder auf wie vielfache Weise es verstanden wird und alles dieser Art so ähnlich?“.
wirkende logisch-analytische Anstrengungen erreichen wollte, die naturgemäß einen akademischen Rückzug aus der Öffentlichkeit verlangten, glaubten die Sophisten dasselbe durch bestimmte allen offenstehende Mittel und Medien zuwege zu brin‐ gen, die man modern als ‚Schlüsselqualifikationen‘ des Menschen bezeichnen könn‐ te. Die medialen Schlüssel zur Welt, welche die Sophistik aufdeckte und zu techni‐ scher Einsatzfähigkeit zu entwickeln versuchte, waren im wesentlichen drei: der lo‐ gos oder die menschliche Sprachfähigkeit; der nomos oder die Ausbildung von ge‐ meinsamen Konventionen; und das metron als Vermögen zur Messung und Gewich‐ tung der Phänomene. An diesen drei medialen Schlüsseln zur Welt, und wie die So‐ phisten sie zu finden und zu bedienen lehrten, orientieren sich die nachfolgenden Abschnitte. Jeder von ihnen ist durch die Überlieferung für uns besonders mit einem Namen verbunden: das metron mit Protagoras, der logos mit Gorgias und der nomos mit dem Sophisten Antiphon. Zunächst ist zuzugeben, dass diese drei Schlüssel, welche uns alle Dinge der Na‐ tur und Lebenswelt vermitteln und mediatisieren, ausschließlich in der Kompetenz des Menschen (im Unterschied zu allen Tieren) liegen und dass sie erst von den So‐ phisten auf mannigfache Weise zu allgemeinem Bewusstsein und wenigstens ver‐ suchsweise in den Griff einer technischen oder kunstmäßigen Verfügbarkeit gebracht wurden. Die Philosophie ist, wenn überhaupt, der Sophistik in diesem Bewusstsein erst nachgefolgt, während die frühere Vorsokratik jene universalistischen Schlüssel in der Hand des Menschen und nur des Menschen noch nicht im selben Ausmaß ent‐ deckt hat. Vielmehr haben die Dichter und Denker der vorsophistischen Epoche im‐ mer wieder beklagt und beschrieben, wie konstitutive Schwächen des menschlichen Tuns und Erkennens den Menschen hindern, sich aus eigener Kraft im Besitz eines sicheren Wissens der Wahrheit zu wähnen: „Das Sichere (to saphes) hat kein Mensch gesehen und wird nie einer gewiss werden über die Götter und über alles, was ich hier sage; denn auch wenn es einem gelänge, das am meisten Vollendete zu sagen, so weiß er es dennoch nicht: allen Dingen ist der An‐ schein (dokos) aufgelegt“ (Xenophanes DK B 34).
Verlässliches Wissen liegt deshalb nicht in unserer Macht, sondern bleibt von all un‐ seren Versuchen getrennt, allein den Göttern vorbehalten: „So vieler Leute Reden ich hörte, keiner gelangte dahin zu erkennen, dass das Weise (to sophon) von allen getrennt ist.“ (Heraklit DK B 108) „Sichere Klarheit (saphênaia) über die unsichtba‐ ren und die sterblichen Dinge haben die Götter, den Menschen bleibt das Auslegen von Anzeichen“ (tekmairesthai) (Alkmaion DK B 1). Soweit daher die vorsokrati‐ schen Entwürfe der Philosophie wahres Wissen über die Welt und alle Dinge zu ver‐ künden beanspruchten, inszenierten sie sich als Reportagen göttlichen Ursprungs oder mit göttlicher Lizenz – so am deutlichsten Parmenides und Empedokles, weni‐ ger offensichtlich auch Heraklit, Anaxagoras und Pythagoras. Es sind also göttliche Instanzen, die, wenn überhaupt irgendwelche, diese Zugänge zu allem verwalten 19
und, wie Heraklit es ausdrückte, das ‚sophon‘ innehaben. Dass Wissen und Wissen‐ schaft, ja to sophon selbst – Heraklits Prinzip aller Weisheit und Weltlenkung – im Gegenteil eine durch und durch menschliche Veranstaltung sei, das entdeckten und lehrten zuerst die Sophisten. Sie haben das Prinzip des Wissens radikal dem Men‐ schen verbunden. Woher dieser krasse Unterschied?
3. Die Entdeckung der Mittelbarkeit aller Dinge im Menschen Die Vorsokratiker hatten die Natur des Wissens ausnahmslos in seinem wahren In‐ halt, gewissermaßen den Sachverhalten selbst, gesucht, die einem Wissenden offen vor Augen liegen müssen, und hatten dabei die eigentümliche Mittelbarkeit und Form, der alles Wissen sich anbequemen muss, wo immer es sich einstellt, nahezu völlig übersehen. Wissen entspringt, wie später Aristoteles klar macht, immer und notwendigerweise aus einer Überführung des für uns und zuerst Nahen und sich Zei‐ genden in das der gewussten Sache selbst Nahe und Kenntliche.14 Ohne diesen in‐ tern vermittelnden Transfer gibt es nach Aristoteles gar keine Wissenschaft. Zudem kann ein Wissen, wie Platon schon vor Aristoteles demonstriert hat, nicht gleichsam wahrnehmungsartig in einer bloßen Registratur und Aufnahme von Inhalten beste‐ hen, so evident diese auch sein mögen, sondern muss eine bestimmte Formulierung und Gliederung erhalten, die durch logos und Sprache induziert wird. Beide Mittelbarkeiten des Wissens: sprachliche Artikulation und Bindung an Phä‐ nomene hatten im Prinzip die Sophisten entdeckt, ohne sie bereits methodisch rich‐ tig auswerten und einsetzen zu können. Vielmehr beharrten sie auf der Rolle sprach‐ licher Medialität so stark und ausschließlich, dass sie umgekehrt dazu tendierten, über der vermittelnden Form und sprachlichen Darstellung das Erfordernis eines wahren Gehalts, auch unabhängig von der vermittelnden Form, aus den Augen zu verlieren: Pas ho legôn peri pantos tinos pragmatos alêthôs legei – „jeder, der über irgend eine Sache redet, spricht wahr“, wie Protagoras die sophistische Auffassung nach Asklepios’ Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles aussprach;15 oder Prodi‐ kos laut einem 1941 gefundenen Turapapyros,16 der behauptete: ouk estin antilegein – „widersprechen ist unmöglich“, weil jeder, der überhaupt formgerecht spricht, eine Wahrheit von dem aussagt, wovon er da spricht.17 Von demselben aber könne man nicht anders sprechen als so, während jemand, der Gegenteiliges sagt, von etwas an‐
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Siehe z.B. Aristoteles Physik I 1, 184a16–21; Metaph. VII 3, 1029b3–12. Asklepios, Kommentar zur Metaphysik (CAG 6, 2) 188v = Frg. 2, ed. Capizzi 1955. Siehe Binder / Liesenborghs 1976. Vgl. auch Platon, Euthydemos 286c und Kratylos 429d; Sophistes 236e.
derem redet.18 In Beziehung auf die Mittelbarkeit der Phänomene hatte Protagoras die sophistische Überzeugung so formuliert: to dokoun hekastôi alêthes: „Das jedem Scheinende ist wahr“.19 Die zwei geschilderten Grundmuster der Argumentation, welche eine Mittelbar‐ keit aller Dinge im menschlichen Reden und Wahrnehmen herausstreichen, verraten die typisch sophistische Neigung zur Übertreibung: Weil phänomenale Bindung und sprachliche Artikulation notwendige Bedingungen alles Wissens sind, die die So‐ phistik kontrapunktisch zu den diversen vorsokratischen Weltentwürfen entdeckt und ins Bewusstsein gehoben hat, soll sich alles Wissen auch sogleich erschöpfen in den medialen Zügen seiner Ausbildung und Präsentation. Vor allem das Medium der Sprache wurde rundum und in einem nie gekannten Ausmaß Gegenstand sophistischer Erforschung, öffentlicher Propagierung und schulmäßiger Einübung:20 Der semantisch treffendste sprachliche Ausdruck,21 die Differenzierungen von grammatischen Formen,22 rhetorischen Topoi23 und Argu‐ mentationstechniken,24 die Funktionen, Gattungen und Wirkungsweisen dichteri‐ scher und prosaischer Rede,25 die Sammlung und Sichtung, kritische Interpretation und Kommentierung von älterer und neuerer Dichtung26 sowie literarischer und wis‐ senschaftlicher Prosa,27 nicht zuletzt die Abfassung und der Vortrag von technisch versierten und durchsetzungstarken Musterreden und Beispieltexten für die verschie‐ 18 Vgl. dazu mit ausführlicher Erklärung und weiteren Hintergründen Buchheim 1986, S. 32–42; als ein Lemma in der Synagôgê des Hippias versucht das Prinzip Patzer 1986, S. 66–71 zu er‐ weisen. Auch moderne Theorien, wie z.B. der Konstruktivismus etwa Foucaults, der spätere Wittgenstein oder auch neuerdings der „Neutrale Realismus“ Gabriels nehmen wieder Zuflucht zu dieser ursprünglich sophistischen Grundthese, dass jeder Realitätsbezug erst durch die sprachliche Formulierung und deren Formgesetze gestiftet werde, so dass Wahrheit und ‚Sei‐ endes‘ nicht absolut gegebene Größen jenseits des jeweiligen Sprachspiels, sondern inneres Er‐ zeugnis formgerechten Sprechens darüber sei. 19 Elias, Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles (CAG 18, 1) 265v = Frg. 1b, ed. Capizzi 1955. 20 Den immer noch materialreichsten, wenn auch nicht ganz trennscharf auf die professionellen Sophisten bezogenen Überblick über die sophistische Spracherkundung bietet Pfeiffer 1978, S. 52–77. 21 Siehe das für Protagoras überlieferte Stichwort der ὀρθοέπεια (‚rechter Wortgebrauch‘: Platon Phaidros 267c = DK 80 A 26) und Prodikos’ Bemühen um „Richtigkeit der Bezeichnungen“, die Platon im Kratylos aufgreift (384b), sowie auch sein bekannter Hang zur „Synonymik“ in DK 84 A 13–19; vgl. B 7. 22 Vgl. Protagoras’ Unterscheidung der Genera Verbi (DK 80 A 27) und unterschiedlicher Satz‐ formen wie Frage, Antwort, Befehl und Bitte (DK 80 A 1,53). 23 Laut Quintilian betrifft dies nahezu alle Sophisten der ersten Generation: DK 80 B 6; vgl. DK 84 A 10. 24 Vgl. den Schrifttitel ‚Antilogika‘ (‚Kontroversen‘) bei Protagoras DK 80 B 5 und die allgemei‐ ne Möglichkeit „gegensätzlicher Reden über jegliche Angelegenheit“ DK 80 B 6a; vgl. außer‐ dem durchwegs die Dissoi Logoi (DK 90). 25 Siehe z.B. Gorgias, Lob der Helena, Frg. 11,9. 26 Z.B. Protagoras über Homer und Simonides (80 B 25); Gorgias über die Tragödie (Gorgias, Frg. 23–25). 27 Vgl. das schon erwähnte Lexikon (Συναγωγή) von Hippias (DK 86 B 6).
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densten Zwecksetzungen28 sowie der öffentliche Austrag von Redegefechten und Disputationen29 – dies alles belegt, dass die Sophisten die Sprache und Rede zu einem allgemeinen und systematisch differenziert einsetzbaren Instrument der Pro‐ blembewältigung in allen Lebenslagen entwickeln wollten.30 Auf diese Weise glaub‐ ten sie, durch eine Beherrschung der Medialität der Dinge auch schon die Dinge selbst der Kontrolle durch ihre Künste unterwerfen zu können. Das Ding oder die Sache, um die es geht, ist gar nicht für sich ein unabhängiger Gegenstand möglicher Wissenschaft, sondern eine Figur oder Geste in der Hülle virtuos beherrschter Me‐ dialität.
4. Der Mensch als Maß: Protagoras und die Mittelbarkeit aller Dinge in den Phänomenen Während ein Parmenides, Anaxagoras und andere Vorsokratiker die beschränkten Perspektiven des Menschen auf eine Weise hinter sich lassen wollten, um einen übergeordneten, göttlichen Standpunkt zu gewinnen, meinten Protagoras, Gorgias, Antiphon und die anderen als Sophisten auftretenden Figuren,31 man müsse das Bett an den Zipfeln zurechtziehen, die der Inliegende auch erreichen kann. Dass der Mensch „ein Maß“ aller Dinge ist, bedeutet, dass er deren Ausmaße, Rollen und Wert wenigstens im Verhältnis zu sich zu bestimmen vermag. Das mag ein bloßes ‚Phänomen‘ sein, wie Protagoras selbst seinen Homo-Mensura-Satz wohl weiter er‐ klärt hat. Aber die Projektion aller Dinge auf eine gleichartige Projektionsfläche macht immerhin einen Vergleich zwischen ihnen und damit zumindest die Bestim‐ mung ihrer Wertigkeit für den Menschen möglich, die dann wiederum Vorzugsord‐ nungen und Wahlmöglichkeiten begründet. Es wird kein übergeordneter Standpunkt gesucht, sondern ein interner Vergleichspunkt eingenommen. Aus dem internen Ver‐ 28 So das klare Zeugnis des Aristoteles für die Fachausbildung etwa bei Gorgias: Frg. 14. 29 Siehe z.B. Gorgias, Lob der Helena, Frg. 11,13; Protagoras DK 80 A 1,52. 30 Aristophanes (Vögel 1694–1705) redet bezüglich der Sophisten böswillig, aber treffend von einem „Volk der Gorgiasse und Philipposse“, „die in Scheinland gleich bei der Wasseruhr mit der Verdauungskraft ihrer Zungen jeden Anschlag auszuführen fähig sind“ (= Gorgias, Test. 5a). 31 Das Auftreten und die zustimmende Selbstbezeichnung als ‚Sophist‘ ist, wie eingangs erwähnt, wichtig, um diesen Beruf und seine Vertreter als solche ansehen zu können. Deshalb scheiden einige Gestalten im zeitgenössischen Umfeld, die für uns gewisse sophistische Ideen und Posi‐ tionen wiederzugeben scheinen, aus der Gruppe der Sophisten im engeren Sinn aus. Das gilt z.B. für sophistisch dilettierende Aristokraten wie Kritias oder Kallikles, wenn letzterer über‐ haupt eine reale Gestalt des 5. Jahrhunderts gewesen ist; es gilt aber auch für Mediziner, Histo‐ riker und Tragödiendichter, deren Sophistik-affine Reflexe nicht dazu verleiten sollten, das be‐ treffende Gedankengut der Sophistik im engeren Sinn zuzuschreiben. Die hiesige Abhandlung legt sich deshalb die Beschränkung auf, im Wesentlichen nur die Aussagen als originär sophis‐ tisch zu berücksichtigen, wo wir entweder Originaltexte besitzen oder über zuverlässig authen‐ tische Berichte und Darstellungen verfügen.
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gleich, so behaupteten die Sophisten, lässt sich im Wettstreit der Meinungen das Wahre und Beste bestimmen.32 Nach allen antiken Berichten hat Protagoras das von ihm behauptete „Maß“ in Verbindung mit der Situation in Anschlag gebracht, dass der ‚Mensch‘, d.h. je ir‐ gendein Mensch, in all seinen Wahrnehmungen, Ansichten und Handlungen mit ge‐ wissen Phänomenen – d.h. Erscheinungen, in denen sich ihm die Lage der Dinge zeigt – konfrontiert ist. Ähnliches dürfte für jedes wahrnehmende Wesen, d.h. auch die Tiere, gelten, denen insofern ebenfalls ‚Phänomene‘ zuteil werden. Das Beson‐ dere im Falle des Menschen aber sei eben dies, dass er selbst zugleich mit den Phä‐ nomenen, die auf ihn fallen, auch ein „Maß“ dieser Phänomene ist – sehr im Unter‐ schied zu irgendwelchen Tieren, die zwar auch Phänomene haben, aber nicht zu‐ gleich ein Maß für sie sind. Worin besteht nun das Spezifische des Messens, und wie ist die Lehre des Protagoras damit in Verbindung zu bringen? Maß und Messen müssen, wie man es auch anstellt, das, was gemessen wird, ir‐ gendwie, d.h. unter einem bestimmten Aspekt, wiederholen, um so herauszustellen, welche Abmessungen das Gemessene hat. Meter für Meter oder Liter für Liter nimmt ein Maß das zu Messende durch, um es so zur Gänze auszuschöpfen. Diese für jedes Maß und alles Messen essentielle Wiederholung hat man immer klar ausge‐ drückt gefunden in dem berühmten Homo-Mensura-Satz des Protagoras: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“33
Oder noch deutlicher, was die von Protagoras ausgedrückte innere Wiederholung be‐ trifft, in einer anderen Übersetzung: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, derer die sind, daß sie sind, derer die nicht sind, daß sie nicht sind.“ 34
Der Wiederholungscharakter liegt hier auf der Hand: „derer die sind, daß sie sind; derer die nicht sind, daß sie nicht sind“. In dem Wörtchen hôs stellt sich heraus, was für eine Abmessung das Gemessene hat. Da die abhängigen Sätze hôs estin und hôs ouk esti, ungeachtet dessen, wie man hôs interpretiert (als Konjunktion ‚dass‘ oder als Relativsatz ‚inwieweit‘), das Messergebnis bezeichnen, ist klar, dass der berühm‐ te Satz des Protagoras dem Menschen nicht nur zuspricht, Maß zu sein, sondern 32 Platon sagt im Dialog Politikos, es sei eine fast wichtigere und langwierigere Frage als die des Seins von Nichtseiendem, welche im Sophistes erörtert wurde, ob für die Erzielung von jegli‐ chem Gut, eine Messung nicht nur als Vergleich zwischen den Dingen, sondern in Bezug auf ein unabhängig definiertes Maß erforderlich sei (Politikos 283–284). Er selbst Platon, setzte sich mit aller Kraft für das letztere ein; die Sophisten meinten, mit dem ersten, also der verglei‐ chenden Messung genug haben zu können. 33 πάντων χρημάτων μέτρον ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστι (DK 80 B 1; gr. Wortlaut nach Diogenes Laertios). 34 Die treffende deutsche Übersetzung, die den wiederholenden Charakter gut herausbringt, stammt von Schirren / Zinsmeier Hgg. 2003, S. 37.
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auch, eine Messung vorzunehmen. Nicht gemeint ist indessen, dass irgendein Ge‐ messenes seine Abmessung durch das Maß erst bekommt. Denn dann wäre das Mes‐ sen keine Wiederholung von irgendwas; und wenn keine Wiederholung, dann auch kein Messen, sondern ein Stiften oder Hervorbringen des Gemessenen. Dies wollte Protagoras offenbar nicht sagen, wenn er den wiederholenden Aussagecharakter so deutlich hervorhebt, wie er es tut. Der Mensch, das ‚Maß der Dinge‘ ist von Prot‐ agoras nicht als Zurechtstutzung aller Dinge nach unserem Gusto gemeint, sondern als dasjenige Gefäß, in das eingeflossen35 alles erst einen Aufschluss bekommt.36 Schon zeitgenössisch provozierend ist allerdings der Aspekt, unter dem Protago‐ ras behauptete, dass die Messung vorgenommen werde. Denn der betreffende As‐ pekt ist der erschöpfendste und triftigste, den man sich denken kann. Es geht nicht um die Größe der Dinge oder ihr Gewicht oder eine Qualität wie Kalorien oder Energie. Es geht vielmehr um das Sein – offenbar in jeder Hinsicht, die man in dem, was ist oder was es gibt, entdecken kann (zu nennen sind insbesondere Sein qua Charakteristik und qua Alêtheia, die auch ‚Existenz‘ mit einschließt – vgl. den mut‐ maßlichen Titel von Protagoras’ Schrift Alêtheia ê Kataballontes – ‚Die Wahrheit oder Niederwerfende Argumente‘). Obwohl also der Unterschied von Sein und Nichtsein das ganze Ausmaß der Dinge in sich schließt – nicht nur irgendeine uns zugekehrte Seite von ihnen – ist dennoch der Mensch und nur er nach These des Protagoras das fassende Maß dafür. Wie so oft im Denken der Sophistik liegen auch hier Wahrheit und falsche Über‐ treibung nah beieinander: Allein der Mensch ist von allen irdischen Wesen so kon‐ struiert, dass er nicht nur Wahrnehmungen und Phänomene hat, sondern in ihnen eine Messung und Gewichtung vornimmt, die auf ein ‚dass es ist‘ und ‚dass es nicht ist‘ zielt. Dies ist im Grunde nichts anderes, als was auch Parmenides behauptet hat‐ te, wenn er als die „zwei einzig zu denkenden Wege der Forschung den ‚dass (etwas) ist und nicht zu sein nicht möglich ist‘... und den andern ‚dass (etwas) nicht ist und nicht zu sein notwendig ist‘“ aufstellte (DK 28 B 2,2–5). Es ist eben ganz eigentüm‐ lich und treffend, die menschliche Auffassungsweise so zu beschreiben, dass sie einen in sich wiederholenden und dadurch forschenden oder messenden Charakter besitzt. Falsch oder zumindest voreilig aber war es zu meinen, dass eine solch innere Wiederholung auf Anhieb die Wahrheit erziele und nicht nur überhaupt Aufschluss gebe, sondern sogleich das authentisch Seiende und Richtige aufgedeckt habe. In dieser Hinsicht hat es sich, so weit wir sehen, Protagoras allzu einfach gemacht, und 35 Das Wort μέτρον wird im Griechischen häufig und gerne als ‚Volumenmaß‘, nicht in erster Li‐ nie als separat geführter ‚Maßstab‘ verstanden; als Volumenmaß aufgefasst, ist ein μέτρον das, was etwas Gemessenes bis zu der ihm zukommenden Eichung oder Grenze ausschöpft und so vollständig zum Aufschluss bringt; vgl. dazu und für den allgemeinen Wortgebrauch von μέτρον Buchheim 1986, S. 48 ff. 36 Vgl. die sehr gute Darstellung des Satzes bei Taureck 1995, S. 98–111: „Der Mensch verstellt die Welt nicht [wie etwa Parmenides lehrte], sondern er schließt sie erkennend auf.“ (110).
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dafür wurden die klassischen Philosophen nicht müde, Protagoras zu kritisieren: Nicht jedes Messen ist ein sachtreffendes und sogar sacherschöpfendes Messen, wie es im ‚dass es ist‘ oder ‚dass es nicht ist‘ suggeriert wird. Dass nicht schon der erste Aufschluss uns auch eine Erkenntnis der wahren Verfassung aller Dinge beschert, das hat Protagoras geflissentlich unter den Tisch fallen lassen. Die geschilderte und bei näherem Hinsehen bescheidener als gedacht klingende Pointe des Homo-Mensura-Satzes hebt Aristoteles in seiner Erklärung des protago‐ reischen Prinzips hervor, nicht ohne hinzuzufügen, dass Protagoras hiermit wahrhaf‐ tig nichts Neues, aber dies immerhin in recht großen und deutlichen Worten ausge‐ sprochen habe: „Sowohl die Wissenschaft als auch die Wahrnehmung nennen wir ein Maß der Dinge aus demselben Grund: weil wir durch sie etwas erkennen (gnôrizomen ti), obwohl sie ja mehr gemessen werden als messen. Doch ergeht es uns dabei so, wie wenn wir, wo ein anderer uns misst, dadurch dass er die Elle auf soviel von uns anlegt,37 erkennen, wie groß wir sind. Protagoras aber meint seinen Satz, der Mensch sei das Maß aller Dinge, genau so, als sage er: der Wissende bzw. der Wahrnehmende – und diese deswegen, weil sie im einen Fall Wahrnehmung, im anderen Wissenschaft haben, was wir als ‚Maße‘ der zu‐ grundeliegenden Dinge bezeichnen. Obwohl er also nichts Außergewöhnliches sagt, gibt er sich doch den Anschein, etwas Besonderes zu sagen“ (Metaph. X 1, 1053a31-b4).
Die unaufgeregte Erläuterung des Satzes von Protagoras, wie sie Aristoteles hier gibt, halte ich für die zutreffendste in der gesamten Überlieferung zum Homo-Men‐ sura-Satz, obwohl sie in kaum einer Sammlung zur Sophistik genannt wird: Wissen und Wahrnehmung sind nach Aristoteles per se gewisse Messungen,38 d.h. die Bil‐ dung von regulären Entsprechungen in der Seele des Menschen,39 aufgrund derer wir eben „erkennen“, was jeweils in Erscheinung tritt. Natürlich ist sich Aristoteles im Kontext seiner Ausführung zum ‚Maß‘ im zehnten Buch der Metaphysik mehr als Protagoras in seinem Satz bewusst, dass dies nur der Anfang einer wissenschaftli‐ chen Analyse im Phänomen sein kann. Aber im Prinzip meinte auch Protagoras nach dezidierter Erklärung seines Satzes durch Aristoteles eben dies: dass der Mensch in Konfrontation mit seinen Phänomenen immer als Maß der darin gegebenen Verhält‐ nisse fungiert, deren weiterer Analyse sich Protagoras allerdings – anders als Aristo‐ teles – überhoben glaubte.
37 1053a35: lies ἡμῶν nach E J. 38 Vgl. z.B. Aristoteles, De anima II 11, 424a4 f.: „insofern als die Wahrnehmung wie eine Be‐ zugsmitte (μεσότης) der in den Wahrnehmungsobjekten liegenden Gegensätzlichkeit funktio‐ niert“. Menn 2002, S. 130 hat treffend herausgearbeitet: „it might be most precise to say that the senses are μετρητικαίv of the proper sensibles.“ 39 Diese Entsprechungsbildung nennt Aristoteles einen ‚logos‘ der wahrgenommenen bzw. in den Fokus des Erkennens genommenen Sache: vgl. z.B. De anima II 12, 424a21–28.
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5. Die ontologischen Verdienste des protagoreischen Prinzips Auch für Protagoras dürfte auf der Hand gelegen haben, dass die Wiederholungsfor‐ meln ‚Seiendes, dass und inwieweit es ist‘ und ‚Nichtseiendes, dass und inwieweit es nicht ist‘ nicht so zu verstehen sind wie ‚Großes, dass und inwieweit es groß ist‘ oder ‚Warmes, dass und inwieweit es warm ist‘. Die Rede vom Seienden ist für Prot‐ agoras vielmehr eine klare Anknüpfung an und Aufnahme der Debatten seiner Zeit gewesen, in denen mit Parmenides und Zenon, mit Gorgias und Empedokles, mit Anaxagoras und Demokrit und noch anderen eben das Seiende (und Nichtseiende) als solches und in seiner Besonderheit entdeckt und ins Auge gefasst worden war. Dabei darf es als ein großer Fortschritt des Protagoras im Zuge der damaligen De‐ batte angesehen werden, dass erstens dem Seienden überhaupt das Nichtseiende an die Seite gestellt und damit ebenso einem Messen und Erkennen überantwortet wird wie das Seiende. Dies galt für Parmenides und die Schule des Eleatismus bis hin zu Gorgias und anderen als ein Ding der Unmöglichkeit. Aber gerade dadurch, dass Protagoras ganz offenkundig das Erkennen nicht als ein bloßes Registrieren (wie z.B. Parmenides und Empedokles), sondern eben als Messen begreift, d.h. als ein wiederholendes sich Abzeichnen in Beziehung auf ein Maß, wird es denkbar, dass auch das Nichtseiende gemessen und damit erkannt werden kann (z.B. dass die Dia‐ gonale nicht kommensurabel oder Sokrates nicht ein Sophist ist). Dies, dass Prot‐ agoras als erster auch das Nichtseiende beachtet hat, scheint Platon in seiner Ausein‐ andersetzung mit Protagoras komplett zu übergehen, obwohl er in seinem Sophistes selbst so hingebungsvoll das Nichtseiende gegen Parmenides als legitime Idee für eine Erkenntnis zugänglich machte. Der zweite große Schritt des Protagoras besteht darin zu sagen, dass mithilfe des Seienden und Nichtseienden alle konkreten chrêmata der Welt, d.h. alle Qualitäten, Vorkommnisse, Dinge und Angelegenheiten, vertreten werden können. Wenn wir z.B. an den wenig älteren Zeitgenossen Anaxagoras denken, da finden wir das Wort eonta – seiende – wie eine Art prädikativen Zusatz zu eben den chrêmata, von de‐ nen auch Protagoras zu sprechen scheint: „Alle chrêmata waren zugleich, unbegrenzt an Menge und Kleinheit, denn auch das Klei‐ ne war unbegrenzt. Und wo alle zugleich seiende waren, war nichts darin deutlich wegen der Kleinheit“ (DK 59 B 1).
Erst ein aufkommender Wirbel im ‚Alles-Zugleich‘ schafft nach Anaxagoras unter‐ schiedliche Massierungen des einen oder anderen, und damit treten die ‚eonta chrêmata‘ hervor und werden als solche spürbar. Deshalb gilt nach Anaxagoras das berühmte Prinzip, dass nichts entstehen und nichts vergehen kann:
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„Kein chrêma entsteht und keines wird zerstört, sondern von seienden chrêmata wird es zusammengemischt und zerstreut.“40
Hier klebt das eon, das Seiendsein, noch an den chrêmata selbst, wie eine Art Ge‐ wicht oder Fülle, aber vertritt sie nicht. Deshalb kann es nach Anaxagoras auch kei‐ ne ouk onta chrêmata geben, was für Protagoras, wie wir an den Fragmenten sehen können, offenbar guten Sinn machte. Die Berührung der Tangente in einem Punkt ist nach Protagoras z.B. ein ouk on chrêma (vgl. DK 80 B 7) oder auch „Kunst ohne Übung“ (DK 80 B 10) ist ein ouk on chrêma. Beides, wenn es sich so verhält, sagt etwas Wichtiges aus über die Welt, etwas, für das die Zeitgenossen des Protagoras keinerlei Sensus noch Ausdrucksmittel besaßen. Ohne dass dem Protagoras dies deutlich bewusst gewesen sein müsste, liegt in dem eben Erklärten auch die spezielle Auszeichnung des Menschen, welche nur ihn, anders als Affe oder Schwein,41 dazu qualifiziert, wirklich das Maß aller Dinge zu sein. Denn vermöge der Alternative von Sein und Nichtsein, die zuerst Protagoras so ausdrücklich zugelassen zu haben scheint, werden gemäß dem angelegten Maß alle Dinge in ihrem ganzen Umfang aufgenommen und vertreten. Der Mensch oder jedes Wesen, das die Alternative von Sein und Nichtsein auf die Dinge beziehen würde, ist in der Lage, ihr volles Ausmaß wahrzunehmen und folglich durch die Messung ein vollständiges Äquivalent der Dinge zu formulieren. Ein Tier dagegen oder jedes un‐ vernünftige Lebewesen klebt an den partiellen Aspekten, die es registriert, und hat keine Chance, das Nichtseiende irgendwie wahrzunehmen und von ihm wiederho‐ lend herauszustellen, dass es nicht ist. Erst die Alternative, die Protagoras eröffnet, macht es möglich, die Dinge in ihrem ganzen Gewicht zu messen, d.h. wirklich Maß aller Dinge im vollen Umfang zu sein. Erst die Verneinung des Seins macht den gan‐ zen Unterschied zur Bejahung deutlich. Protagoras war auch sonst ein Virtuose der Verneinung: Einige Beispiele wurden schon angeführt (die Berührung der Tangente in einem Punkt; Kunst ohne Übung – beides ist Nichtseiendes nach Protagoras). Sodann gab es bei Protagoras regelrechtes Training in Sachen Verneinung, indem er seine Schüler darin unterrichtete, „über je‐ de Sache einander entgegengesetzte Reden“ vorbringen zu können; oder wenn es das erklärte Ziel seiner sophistischen Kunst war, „die schwächere Rede zur stärkeren zu machen“, was zuerst einmal bedeutet: die schwächere eben nicht als schwächer und stärkere nicht als stärker bestehen zu lassen (DK 80 B 6a und 6b). Auch ist ein Schrifttitel überliefert, nach dem Protagoras ein Werk ‚Über die Handlungen, die für Menschen nicht richtig sind‘ geschrieben haben soll (DK 80 B 8e). Diese Menge an Anstrengungen in Sachen Verneinung und Nichtseiendes kann in der Tat erstaunen. 40 οὐδὲν γὰρ χρῆμα γίγνεται οὐδὲ ἀπόλλυται, ἀλλ’ ἀπὸ ἐόντων χρημάτων συμμίσγεταί τε καὶ διακρίνεται (DK 59 B 17). 41 So die etwas höhnische Kritik Platons im Theaitetos (161c): Warum nicht das Schwein oder der Affe?
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Mit Bezug auf die Götter wird sogar die ganze Alternative von Bejahung und Ver‐ neinung des Seins noch einmal ausdrücklich verneint. Dass die angedeutete Begründung des Anspruchs, der im Satz des Protagoras er‐ hoben wird (der Mensch und nur er sei das Maß aller Dinge, weil er allein in der Lage ist, die Dinge sowohl in Beziehung auf ihr Sein wie auch ihr Nichtsein wahr‐ zunehmen), auch für ihn selbst nicht ganz hergeholt ist, zeigt ein genauerer Blick auf das eben erwähnte Götterfragment (DK 80 B 4). Denn dort schildert Protagoras einen Fall, in dem seines Erachtens das Maß, das der Mensch ist, seinen Dienst ver‐ sagt: „Über die Götter kann ich weder wissen, dass sie sind, noch dass sie nicht sind, noch welche Gestalt sie haben, weil vieles am Wissen hindert: sowohl die Unvorzeigbarkeit (adêlotês) als auch, weil das Leben des Menschen kurz ist.“ (DK 80 B 4)
Interessant ist hier besonders die Nennung der Hindernisse (ta kôlyonta); denn of‐ fenbar müsste sich nach Protagoras’ Meinung ein chrêma in ganzer Ausdehnung einen Auftritt verschaffen können, um als seiend oder nichtseiend gemessen zu wer‐ den. Doch scheitert allein schon die Möglichkeit dafür an der prinzipiellen „Unvor‐ zeigbarkeit“ von Göttern, was wiederum insbesondere an der Kürze des menschli‐ chen Lebens im Verhältnis zum unsterblichen Gott liegt. Deshalb bleibt auch das Nichtsein der Götter unausgemacht; denn wir haben nach Protagoras gar nicht die Statur, um unsere Mess-Alternative von Sein und Nichtsein in Anschlag zu bringen. Die von Protagoras klar ausgesprochene Diagnose, dass die Zielpunkte des tradi‐ tionellen Götterglaubens phänomenal unauslotbar sind, hat sich auch bei anderen Sophisten zu neuen Auffassungen über den Ursprung des Göttlichen verdichtet. Denn die Ansicht, dass in den Phänomenen eine Art Ausweis des Seienden und Nichtseienden zu finden sein müsse, ist ja nicht bloß eine Privatmeinung des Prot‐ agoras gewesen, sondern eine von der Sophistik allgemein propagierte neue Art der Weltauffassung überhaupt. Entsprechend treffen wir mit einem Mal einige, teils de‐ struktive, teils aber auch durchaus konstruktiv zu nennende Versuche an, die wahren Wurzeln des Glaubens an Götter in dem, was wir auch erfahren, aufzudecken. Prodi‐ kos’ von einigen verlässlichen Berichten bezeugte Idee, die Verehrung von Göttern und göttlichen Mächten auf das zurückzuführen, was den Menschen von jeher am meisten Gedeihen und Nutzen bringt, gehörte zu den eher konstruktiven Versuchen in dieser Angelegenheit. Dass fruchtbare Erde, Korn, die freundliche Wirkung des Weinstocks, die Sonne, der Nil und das Meer, Wasser und Feuer usw. Dankbarkeit oder Ehrfurcht, und möglicherweise Überhöhung und Verehrung in den Menschen, die davon existieren, hervorrufen, ist keine subversiv zu nennende Götterkritik, son‐ dern ein durchaus plausibler Grund, diejenigen Götter, denen in Griechenland oder Ägypten tatsächlich der religiöse Kultus gewidmet war, mit Blick auf die phänome‐
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nale Realität zu erklären.42 Prodikos habe „als erster“ derartige Erklärungsthesen in einem seine Bücher aufgestellt, so berichten es übereinstimmend Philodemos, Cice‐ ro und andere Zeugnisse (DK 84 B 5). Zur zweifellos subversiveren Sorte von Er‐ klärungen des Götterglaubens gehört der Verdacht, wie er im berüchtigten Satyrspiel Sisyphos vorgebracht wird, ohne dass uns (vom Sprecher Sisyphos abgesehen) der nähere Zusammenhang der beißenden Religionskritik in diesem Stück greifbar wäre. In der Sammlung von Diels-Kranz wurden die erhaltenen Verse prominent in die Fragmente des aristokratischen, angeblich der Sophistik nahestehenden Schriftstel‐ lers Kritias, einer Führungsgestalt im gefürchteten Regime der dreißig Tyrannen, aufgenommen (DK B 88), neuere Arbeiten tendieren dagegen eher dazu, sie dem Euripides zuzusprechen:43 Die Götter seien von einem „gewitzten und weisen Mann“ erfunden worden, um die Verbindlichkeit von Sitte und Gesetz „durch Furcht“ vor überlegenen Beobachtern zu stärken, die auch all das, was man vor den Augen anderer Menschen verborgen tut, bemerken und mit Strafe vergelten können. Der Autor bezeichnet die Einführung des Götterglaubens ausdrücklich und unge‐ wöhnlicher Weise als den „angenehmsten“ oder „bequemsten aller Lehrinhalte (did‐ agmatôn hêdiston), der die Wahrheit mit einem falschen logos verschleiert“ (DK 88 B 25,25), die Wahrheit nämlich, dass der Mensch von sich aus zu jedem Frevel auf‐ gelegt ist, solange er keine Strafe fürchten muss. ‚Bequem‘ dürfte er jene Lehre wohl deshalb heißen, weil sie den Erfinder gar nichts kostet und keinen Aufwand braucht, solange die Menschen ihr Glauben schenken. Auch diese Herkunftserklä‐ rung bemüht sich, eine Wurzel für den Götterglauben in der uns zugänglichen Erfah‐ rung aufzuzeigen, die freilich mehr von einem gewissen Ressentiment zeugt als von kühler Rationalität. Wer nun auch immer (und in welchem Zusammenhang des sati‐ rischen Bühnenstücks) der wirkliche Autor ist – Euripides oder Kritias – in keinem Fall lässt sich die Ansicht als eine positiv vertretene These der Gruppierung der So‐ phisten im engeren und professionellen Sinn des Worts zuordnen.44
6. Maß der Dinge und Alternativen des Handelns Erst wo die menschliche Wahrnehmung und Auffassung als eine messende in Bezie‐ hung auf den Unterschied von ‚Sein‘ und ‚Nichtsein‘ bewusst wird, tun sich an ihr,
42 Es geht ja, bei den griechischen und allgemein mythologischen Göttern nicht so sehr um die Frage, ob sie ‚an und für sich‘, d.h. unabhängig von der Welt unserer Erfahrung existieren, sondern vielmehr um die, welche Mächte es sind, denen die menschliche Verehrung am meis‐ ten gebührt. 43 Vgl. Dihle 1977 und Kahn 1997. 44 Hier ist Scholtens Meinung m.E. nicht Recht zu geben, wenn sie (2003, S. 241) schreibt: „Auch wenn die Zuordnung des Textes ungewiß bleibt, so handelt es sich doch um ein Beispiel einer sophistisch geprägten Sozialtheorie des 5. Jahrhunderts“.
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wie am Beispiel des Protagoras deutlich zu sehen, auch klar voneinander abgehobe‐ ne Alternativen des Handelns und Reagierens auf die wahrgenommene Situation auf. Dass „es zwei einander entgegengesetzte Reden über jegliche Angelegenheit (prag‐ ma) gibt“ (DK 80 B 6a), das wird einem erst klar, wenn diese Angelegenheit einen in bestimmter Hinsicht gemessenen oder festgestellten Charakter besitzt; dass „eine schwächere Rede zur stärkeren zu machen“ hervorragende Aufgabe und Möglichkeit eines geschickten Redners und Sophisten ist (DK 80 B 6b), das tritt erst zutage, wenn nicht nur die Sachen, die diese Reden verhandeln, sondern auch die Situatio‐ nen, in denen sie vorgebracht werden, einen ‚gemessenen‘ Startpunkt für die gefor‐ derte Umwendung markieren. Man kann tatsächlich sagen, dass nicht allein Protago‐ ras, sondern die Sophistik in ihrem ganzen Umfang jene Handlungsvoraussetzung eines klar markierten Startpunkts für alternative Reaktionen spezifisch interessiert hat und sie auf unterschiedliche Weise versuchte, diesem Element technisch auf die Spur zu kommen. Der Terminus, der dafür von der Sophistik geprägt und zu einem Schlagwort inflationiert wurde, lautet kairos – was soviel wie ‚günstiger Moment‘ für eine bestimmte Handlung bedeutet. Von Protagoras wird berichtet, er habe „als erster die Teile der Zeit unterschieden und das Potential des kairos (dynamis kairou) herausgestellt sowie Wettstreite von Reden angesetzt und ‚sophismata‘ für die Handlungsabwägung (pragmatologousi) zur Verfügung gestellt.“45 So unbestimmt und wenig stringent diese Aufzählung bei Diogenes Laertios wirkt, so könnte es doch mit der systematischen Verknüpfung von Zeitlauf, Argumentationskunst und Handlungsentscheidung mit dem Ziel, den kairos richtig zu bestimmen, in Bezie‐ hung auf die Denkabsichten der Sophistik etwas mehr auf sich gehabt haben. Denn bei Gorgias, der nach guter Quelle seinerseits „als erster versuchte, systematisch über den kairos zu schreiben, aber dabei doch nichts, was der Rede wert wäre, zu‐ stande gebracht hat, [...] weil der kairos nun einmal nicht durch Wissenschaft, son‐ dern nur durch Meinung zu treffen ist“,46 findet sich auch in der im Original überlie‐ ferten Rede Verteidigung des Palamedes eine sehr aufschlussreiche Feststellung über den allgemeinen Funktionszusammenhang von Reden und Handeln: „vor allen anstehenden Taten müssen vorher notwendig Reden stattfinden“, weswegen auch in seinem Fall „das Prinzip (archê) der [ihm vorgeworfenen] Verratshandlung eine Re‐ de hätte sein müssen“ (Frg. 11a, 6). Wie gelangte Gorgias zu solch einer Auffas‐ sung? Offenbar begreift er den expliziten logos ganz allgemein als notwendige ‚archê‘ einer bewusst zur Entscheidung gebrachten Handlung, ganz ähnlich dem, was Aristoteles später systematisch gelehrt hat.47 Denn der logos ist es, der in Bezie‐ hung auf eine Angelegenheit die gegensätzlichen Alternativen einer handelnden An‐ 45 Diogenes Laertios 9, 52 (= DK 80 A 1,52). 46 Dionysios von Halikarnassos, De compositione verborum 12,5 (= Gorgias Frg. 13). 47 Vgl. die sehr grundsätzlichen Ausführungen des Aristoteles zu den rationalen oder „mit Rede (μετὰ λόγου) verbundenen Vermögen“ in Metaph. IX 2, bes. 1046b19–24: „Der logos ist von beiden [gegensätzlichen Alternativen], wenn auch nicht auf die gleiche Weise, und er ist ja in
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knüpfung deutlich werden lässt. Und erst wenn diese deutlich sind, dann zeigt sich auch der kairos für das gebotene Handeln in voller Schärfe. So haben es die Rede‐ wettkämpfe der Sophistik und auch die politischen Schlagabtäusche von Reden, wie sie etwa Thukydides manchmal, aber vor ihm auch schon Herodot erzählt, offenkun‐ dig intendiert.48 Es ist also kein Zufall, dass in der Sophistik immer wieder auf die Rolle des kai‐ ros für ein rational gerechtfertigtes Handeln und Meinen hingewiesen wurde.49 Ein solcher kairos stellt sich nicht von allein und sozusagen instinktmäßig ein. Kein Tier kann je einen ‚kairos‘ treffen durch sein Verhalten. Vielmehr entspringt der kairos, protagoreisch gesprochen, durch eine Messung der Situation oder der sich zeigenden Phänomene in Beziehung auf gegensätzliche Valenzen, die in ihnen beschlossen lie‐ gen; und solche gegensätzlichen Valenzen werden mithilfe von logoi expliziert und vor Augen geführt, kraft derer erst im Anschluss daran der kairos bestimmt und eine begründete Entscheidung getroffen werden kann. Ähnliches finden wir in der Sophistik so häufig und intensiv beschrieben, dass man es legitimer Weise für einen Grundsatz sophistischen Denkens halten darf.50 Für den Sophisten Prodikos beispielsweise schildert Xenophon die berühmte Fabel von Herakles am Scheideweg in dessen Werk Horen (d.h. etwa: ‚Lebensgezeiten‘), die als ein Sinnbild jeder moralischen oder ethischen Entscheidung zu verstehen ist: Der junge, gerade zur ‚Selbstherrschaft‘ (autokratôr gignomenos) seiner Entschei‐ dungen gelangte Herakles ist in einer ‚Aporie‘ über den künftigen Weg, den er in seinem Leben verfolgen soll, ob dies ein Leben anstrengender Tugend oder der üp‐ pig verwöhnten Lasterhaftigkeit sein soll. Da erscheinen ihm die beiden Gestalten möglichen Lebenswandels als Göttinnen mit ihren typischen Attributen und halten jeweils gegenteilige Reden über ihre Vorzüge, die sie den ihnen Nachfolgenden ver‐ heißen, und versuchen auch, die damit verbundenen Schwierigkeiten in ein unauffäl‐ liges bzw. verlockendes Licht zu tauchen. Gefragt, wie sie heiße, antwortet die Üp‐ pige „Meine Freunde nennen mich ‚Glückseligkeit‘ (eudaimonia), die selbst unter‐ drückten Hasser hingegen heißen mich ‚Schlechtigkeit‘ (kakia)“ (DK 84 B 2,26). Woraufhin sich voller Empörung die Tugend einschaltet und ihren Sermon beginnt der Seele, die ein Prinzip der Bewegung besitzt, so dass diese beides im Ausgang von demsel‐ ben Prinzip in Bewegung bringen kann, da sie es in Beziehung auf dieselbe Sache kombiniert hat. Deshalb bringt das gemäß einem logos Vermögende durch das ohne logos Vermögende ge‐ gensätzliche Dinge hervor; denn durch ein Prinzip umfasst es sie mithilfe des logos.“ Hier sind es nicht mehr explizit gegensätzliche Reden, die zu halten wären, sondern es ist der rationale logos allein, der per se die gegensätzlichen Valenzen des Handelns in sich vereinigt. Doch scheint mir eine Affinität dieses aristotelischen Grundgedankens zu sophistischem Gedanken‐ gut im oben geschilderten Sinn recht evident zu sein. 48 Vgl. dazu genauer Buchheim 1986, S. 12–18 und S. 92–99. 49 Ein wenn auch etwas formelhaft und schulmäßig ausgefallenes Beispiel dafür bieten auch die sogenannten Dissoi logoi oder ‚Zwiefachen Argumentationen‘, z.B. 3,20: „Pauschal ausge‐ drückt gilt: alles ist durch den kairos gehörig und wider den kairos ungehörig.“ 50 Zum Themenkomplex antilogischer Argumentation in der Sophistik vgl. Kraus 2006.
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und so sich ein längerer Schlagabtausch gegensätzlicher Reden entspinnt. Auch hier wird offenbar vorgeführt, wie eine Situation ethischer Entscheidung durch gegen‐ sätzliche logoi zuerst ganz explizit zu machen ist, soll eine begründete und den For‐ derungen des Moments genügende Handlung erfolgen. An der die Musterrede des Prodikos ziemlich genau nachvollziehenden Darstellung Xenophons lässt sich ein weiterer Clou des sophistischen Verfahrens gut ablesen, dass nämlich die Argumente der jeweils anderen Seite auch im Lichte der Gegenansicht betrachtet und so durch die wechselseitig vorgehaltenen logoi eine gewissermaßen doppelte Phänomenalität der Angelegenheit präsentiert wird. Das ist eine Kunst, wie wir sie bis heute dort üben, wo es um politische oder ethische Entscheidungen zu tun ist. Auch der aus der platonischen Politeia bekannte Thrasymachos zeichnet sich in dem einzigen origina‐ len Zitat, das wir besitzen, durch diese Technik aus, dieselbe Angelegenheit nicht nur mit den Augen der einen, sondern zugleich auch aus umgekehrtem Blickwinkel mit denen der gegnerischen Partei zu betrachten. Da zeigt sich oft, dass ein Antago‐ nismus nur scheinbar aufgerichtet und es in Wirklichkeit beiden um einen Vorteil für sich selbst in gleicher Sache zu tun ist: „Ich werde demonstrieren, dass die in Reden gegeneinander Verhedderten das erleiden, was notwendig passiert, wenn man sich ohne Weitsicht (gnômê) um Vorteile streitet: Denn sie glauben nur, einander Gegensätzliches zu sagen, und bemerken nicht, wie sie dasselbe tun, und auch nicht, wie die Rede der jeweils anderen in ihrer eigenen Rede ent‐ halten ist.“ (Thrasymachos DK 85 B 1, Bd. II, 323,13–17)
In einer methodisch verwandten Weise, wie hier dem Prodikos oder Thrasymachos zu entnehmen, hat wiederum Aristoteles die von Protagoras herausgestellte Messfä‐ higkeit des Menschen für Fragen der praktischen Philosophie und Ethik, die dem Denken Protagoras ohnehin näher gelegen haben dürften, aufgegriffen und weiter‐ entwickelt. Das lässt sich erkennen an einer wichtigen Stelle in der Nikomachischen Ethik, wo Gedanken des Protagoras deutlich im Hintergrund stehen, obwohl sein Name nicht genannt wird. Aristoteles stellt dort ein gravierendes Dilemma auf, das sich ergeben würde, wenn man nicht so wie Protagoras dächte, dass alles Messen beim jeweiligen Menschen und in dessen Erscheinungen anfangen muss, obwohl es mit dem ersten Auftritt des Phänomens noch nicht, wie Aristoteles anschließend zu‐ mindest teilweise auch gegen Protagoras formuliert, schon sein wahres Ausmaß ge‐ zeigt hat: „Leuten, die sagen, das zu wollen Mögliche sei das Gute (to boulêton t’agathon), passiert es, dass das, was jemand will, ohne richtig zu wählen, gar nicht ein Gewolltes ist (denn wäre es gewollt, so wäre es auch Gutes, doch war es, wenn es sich so zutrug, eben schlecht); für die anderen hingegen, die sagen, das je erscheinende Gut sei das zu wollen Mögliche (to phainomenon agathon to boulêton), gibt es kein der Natur der Sache nach (physei) zu Wollendes, sondern nur das, was dem jeweiligen so dünkt. (NE III 6, 1113a16–22)
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Hier wird sichtlich ein Reflex der alten sokratisch-platonischen Lehre, daß niemand willentlich schlecht handeln könne, mit der Vulgärausgabe des Protagoras, nach der gut ist, was jedem einzelnen so erscheint, in Opposition gebracht und zu einem an‐ scheinend ausweglosen ethischen Grundlagen-Dilemma verdichtet. Denn weder das eine noch das andere kann man gelten lassen, wenn man überhaupt eine funktions‐ tüchtige ethische Theorie aufbauen möchte. Die sokratisch-platonische Auffassung führt in letzter Konsequenz dazu, daß man jemanden für das Unheil, das er stiftet, nicht zur Rechenschaft ziehen kann: Denn was er getan hat, tat er nicht mit Willen. Die vulgär-protagoreische These dagegen mündet bei einer ethisch-moralischen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Handlungen und Lebensauffassun‐ gen, seien sie in den Augen mancher auch noch so verwerflich: Denn was jedem so erscheint, das ist auch tatsächlich gut mit Bezug auf ihn. Dieses Dilemma des Aris‐ toteles ist in der Tat völlig untragbar, und es fragt sich, wie dem überhaupt zu ent‐ kommen ist, wenn man doch anscheinend entweder das einem erscheinende Gut oder das, was an sich gut ist, zum Maß des ethisch gebotenen Wollens erheben muß. Die Lösung liegt in einer typisch aristotelischen Wendung des Gedankens, die bei‐ des verbindet, aber dabei, wie es scheint, dem Satz des Protagoras mehr Recht gibt als der platonisch-sokratischen These: „Wenn einem das also nicht gefällt, dann ist zu sagen, dass schlechthin und der Wahrheit nach das zu wollen Mögliche das Gute, aber für den Einzelnen das erscheinende Gut sei. Dem Bewährten (spoudaios) erscheint nun das der Wahrheit entsprechende, dem Tauge‐ nichts dagegen das, was sich gerade trifft, wie auch in den körperlichen Belangen für die in guter Kondition das wahrhaft Gesunde gesund ist, während den Kranken anderes, ebenso Bitteres und Süßes und Warmes und Schweres und alles andere. Der Bewährte nämlich beurteilt alles richtig und in allen Dingen erscheint ihm das Wahre. Denn in je‐ der Verfassung (hexis) sind die schönen und guten Dinge eigentümliche, und am meisten zeichnet sich der Bewährte wohl dadurch aus, dass er das Wahre in sämtlichen Dingen sieht und so ihr Kanon und Maß ist. Den Vielen hingegen kommt durch die Lust leicht eine Täuschung zustande: denn das, was es nicht ist, erscheint als gut. So wählen sie das Lustvolle als (hôs) Gutes und fliehen das Unlustmachende als (hôs) schlecht.“ (NE III 6, 1113a22-b2)
Ganz analog wie im oben beschriebenen Erkenntniszusammenhang, wo Protagoras mit seinem Satz namentlich genannt wird, ist auch hier der Ausdruck ‚Maß‘ auf den übertragen, der die Dinge richtig misst, d.h. auf theoretischem Gebiet Wissenschaft bzw. untrügliche Wahrnehmung besitzt und im praktischen eben erprobt und be‐ währt in der Schätzung des wahrhaft Guten ist. Aber dies darf einen nicht vergessen machen, dass auch ein solcher jede Messung mit dem phainomenon für ihn beginnen muss und sich erst dazu emporarbeitet, das Seiende oder Gute richtig zu messen. Aristoteles, in der Auflösung des anscheinend unauflösbaren Dilemmas, blendet also beide Thesen – die Platons und die des Protagoras – übereinander und erzeugt so eine Art teleskopische Betrachtungsweise des Guten und Seienden, nach welcher
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wir immer beginnend mit der Erscheinung aus einer gewissen Entfernung das Gute und Wahre in den Blick nehmen und erst so versuchen können, das Teleskop scharf zu stellen, d.h. die Messung richtig zu vollziehen. Sie muss ansetzen bei dem, was jedem so erscheint, und muss auch wiederum enden in einer Erscheinung des Wah‐ ren oder Guten für jemanden. Auch Aristoteles operiert hier mit einer systematisch herzustellenden doppelten Phänomenalität der Dinge, die durch den logos erzeugt werden kann. Niemals können wir aussteigen aus dem Phänomen; niemals können wir direkt aufsteigen wollen zu den Ideen, dem Guten und dem Wahren selbst. Das ist der große Unterschied zu Platon. Und das ist die Anerkennung der Wahrheit des Satzes des Protagoras durch Aristoteles, die, wie man leicht erkennen kann, einige Grundsätze seiner Ethik, aber bei näherem Hinsehen auch der theoretischen Philoso‐ phie bestimmt. Das Wahre und das Gute lassen sich immer nur teleskopisch betrach‐ ten. Wir können die Situation der Wahrnehmung nicht aufgeben zugunsten höherer Ansichten der Sache selbst. Dies birgt Irritationen in Menge und in unzähligen ver‐ wirrenden Formen, durch die wir uns – Maß, das wir sind – messend hindurchmanö‐ vrieren müssen, immer möglichst am Leitfaden dessen bleibend, was die Erschei‐ nungen uns an Anhaltspunkten zur Wahrheit und zum Guten gewähren. Das meinte auch Protagoras. Nur hat er sich und seinen Satz, typisch sophistisch und schnellfer‐ tig, allzu leicht einem ontologischen und ethischen Kurzschluss des Phänomenalen in erster Instanz in den Rachen geworfen, anstatt die Messung methodisch bewusst und systematisch gerechtfertigt zu Ende zu führen.
7. Logos und „die Augen der Doxa“: Die Welt im Medium der Sprache nach Gorgias Nicht nur zeigen sich uns die Dinge kraft Vermittlung der Phänomene, sondern durch die Macht der Sprache können wiederum die Phänomene umgestaltet und zwischen vielen Menschen geteilt und verbreitet werden. Der logos befähigt uns zu einer zweifach gebrochenen Mediatisierung der Welt, die ihre Verhältnisse nicht nur aufnimmt und darstellt, sondern sie im Medium auch amplifiziert und verwandelt. Gorgias von Leontinoi hat wie kein zweiter diese mehrfache Mediatisierung durch die Sprache aufgedeckt und ihre Potentiale in alle Richtungen erforscht und durch‐ exerziert: „Der logos, der eine Seele glauben macht, zwingt die, die er glauben macht, dem Gesag‐ ten zu trauen und den Taten zuzustimmen. Deshalb tut der, der glauben macht, weil er einen Zwang ausübt, Unrecht, während die Überzeugte, weil sie durch die Rede gezwun‐ gen wurde, grundlos Vorwürfe hört.“ (Gorgias, Lob der Helena, Frg. 11,12)
Das ist die Quintessenz der gorgianischen Entlastungsstrategie für die Buhfrau der griechischen Mythologie, nämlich Helena, die nach Gorgias in jedem Fall nur durch 34
„Gewaltmittel“ – sei es göttlichen Ursprungs oder Redegewalt oder der erotischen Überwältigung – dazu gebracht wurde, mit Paris nach Troia zu fliehen. Das Kern‐ problem, das nach Gorgias die fast uneingeschränkte Zwangsmacht der Sprache be‐ gründet, besteht darin, dass die menschliche Seele mit dem was Doxa – Ansicht oder Meinung – heißt, sozusagen aus demselben Stoff gemacht ist, wie auch die Rede: „Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie die Dosie‐ rung von Giften zur Natur der Körper. Und wie andere Gifte andere Säfte aus dem Kör‐ per herausbringen, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen von den Reden die einen Leid, die andern Genuss und dritte Furcht und wieder andere versetzen die Hörer in Zuversicht, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer schlimmen Überzeugung“ (Gorgias, Lob der Helena, Frg. 11, 14)
Dieser Stoff, aus dem Doxa und Logos sind, transportiert zwar immer eine gewisse ‚Sichtigkeit‘, d.h. beide lassen etwas sehen oder suggerieren es, aber sie gewähren keine gesicherte Transparenz auf die Dinge selbst. „Wie viele machten und machen noch wie viele von wie vielem glauben, indem sie eine irreführende Rede bildeten! Wenn freilich alle an alles Vergangene Erinnerung, auf alles Gegenwärtige und Voraussicht auf alles Kommende hätten, dann wäre die (Rolle der) Rede, obwohl selbst die gleiche, nicht gleich. Doch jetzt, wo es weder mit dem Erinnern des Vergangenen gut geht noch mit dem Bedenken des Gegenwärtigen noch mit dem Weissagen des Kommenden, da bestellen also die meisten die Doxa zum Beirat ihrer Seele. Aber die Doxa – trügerisch und unsicher wie sie ist – umgibt den, der sich ihrer bedient, mit trügerischen und unsicheren Geschicken.“ (Gorgias, Lob der Hele‐ na, Frg. 11,11)
Das Fatale ist also, dass die Rede sich so gibt, als würde sie uns die Sachen selbst sehen lassen.51 Dieser Eindruck aber ist eine gleichsam optische Täuschung. Des‐ halb vermag eine entschlossen vorgebrachte Rede jede Seele zu prägen, wie sie es will. Schon die alten ‚Meteorologen‘, sagt Gorgias – und damit meint er die von den Himmelsdingen und Weltursprüngen redenden Naturphilosophen – hätten mit ihren Reden immer nur „eine Doxa statt einer anderen, die eine wegnehmend, die andere einbildend, das Unglaubliche und Unsichtbare den Augen der Ansicht (tois tês doxês ommasin) scheinen gemacht“ (Gorgias, Lob der Helena, Frg. 11,13); und ähnlich die „Zwang ausübenden Reden-Wettspiele, bei denen eine Rede eine große Menschen‐ menge hinreißt und überzeugt, weil sie mit virtuoser Technik geschrieben, nicht et‐ wa mit Wahrheit gesprochen ist“ (ebd.). An solchen Beispielen könne man sehen, was die mediale Kraft der Rede bewirkt: „Rede ist ein großer Bewirker; mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten: vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu 51 Platon spricht im ‚Sophistes‘ von den eidôla legomena – gesprochenen Bildern der Dinge; Thukydides lässt Diodotos paradox formulieren, wir seien „Beschauer von Reden und Hörer von Taten“.
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mehren“ (ebd. 11,8). Hier lässt sich die Opazität des logos mit Händen greifen: Die Rede verweist nicht auf etwas anderes, das sie uns bedeuten und was sie transparent darstellen würde, sondern sie ist in sich eine bestimmte Gebärde und Performanz, die unmittelbar eingreift in das, was der Seele ‚scheint‘. In einer wahrscheinlich früher verfassten Abhandlung Über das Nichtseiende hat Gorgias eine interessante Rechtfertigung für dieses gestische statt semantisch-trans‐ parente Verständnis sprachlicher Performanz gegeben. Nach dem Bericht des Sextus Empiricus vertrat Gorgias dort die Auffassung, dass der logos zwar ein Instrument des ‚Zeigens‘ oder ‚Deutens‘ (hôi mênyomen), aber dabei völlig intransparent in Be‐ zug auf die äußeren Dinge sei und also nicht semantisch auf etwas anderes als eben ‚logos‘ und sein ‚Deut-Material‘, die Worte, verweise: „Denn das, womit wir bedeuten, ist die Rede, Rede aber ist das Vorhandene und Seiende nicht. Nicht also zeigen wir unseren Adressaten das Seiende, sondern Rede, die etwas an‐ deres ist als das Vorhandene. Wie nun das Sichtbare wohl kaum hörbar werden dürfte und umgekehrt, so wenig kann wohl auch das Seiende, als außen vorhanden, unsere Rede werden.“ (Gorgias, Über das Nichtseiende, Frg. 3,84 nach Sextus Empiricus).
Zwar könne es umgekehrt betrachtet richtig sein, dass die Sprachlaute und Worte von dem kausalen Zusammentreffen mit äußeren Umständen hervorgerufen würden, wie auch z.B. die Wahrnehmung und der Ausdruck von Farbe durch eben die Begeg‐ nung mit der Farbe: „Auf diese Weise aber“, so erklärt Gorgias weiter, „ist nicht die Rede eine Darreichung des Äußeren, sondern das Äußere wird ein Deutungsmittel (mênytikon) der Rede“ (ebd. 85). Denn wir können wahrnehmen, was es ist, das je‐ mand mit diesen oder jenen Sprachlauten quittiert. Es ist nicht ganz leicht, diesen Überlegungen des Gorgias etwas entgegenzusetzen, das eine semantisch transparen‐ te Funktion der Rede zu wahren vermöchte. Denn die Dinge präsentieren sich uns in der Wahrnehmung, d.h. in den Phänomenen wiederum auf eine Weise, die uns eben ‚sagt‘, wie wir die Worte zu nehmen und zu verstehen haben, mit denen wir dann auch auf sie hinweisen können. Deshalb sind uns die ‚äußeren‘ Dinge nach Gorgias ebenso nur eine ‚Deutung‘ des mit Sprache Gemeinten, wie umgekehrt die sprachli‐ chen Zeichen ein Meinen von Dingen, wie sie uns gewöhnlich umgeben. Das ganze Verhältnis dreht sich im Kreis und bestätigt sich so nur scheinbar durch sich selbst. Erst indem wir wissenschaftlich strenge Methoden entwickeln, von denen Gorgias noch auf keine Weise Ahnung besaß, ist es uns möglich, diesen Zirkel stellenweise zu durchbrechen. Für Gorgias bleibt die Rede im Verbund mit dem, was wir wahr‐ nehmen, letztlich ein ‚enigmatisches‘ Gebilde oder vielmehr Gehäuse, in dem der Mensch gefangen ist. Unter den Fragmenten findet sich ein von Clemens Alexandri‐ nus überliefertes Zitat des Gorgias, das diesen enigmatischen Charakter der Rede allgemein zum Ausdruck zu bringen scheint: „Der Wettkampf, den wir nach dem Leontiner Gorgias zu bestehen haben, erfordert zwei‐ fache Tugend: Mut und Weisheit; Mut, sich dem Wagnis zu unterziehen, Weisheit, das
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Enigma (ainigma) zu erkennen. Denn die Rede (logos) ist wie die Ausrufung bei den Olympischen Spielen: Sie ruft zwar den Willigen, bekränzt aber den Könner.“ (Gorgias Frg. 8)52
Man hat in der Vergangenheit diesen vertrackt enigmatischen Zug unserer sprach‐ lich-doxastischen Realität, in der wir nach Gorgias existieren, nicht klar gesehen, obwohl es so etwas wie eine uns greifbare Vorprägung dessen ist, was Platon mit seinem Höhlengleichnis beschrieben hat. Deshalb, weil man dies nicht so sehen wollte, hat man Fragmente und Zitate, die eine solche Ansicht des Gorgias auszu‐ drücken schienen, entweder nicht gewürdigt oder wie etwa das gerade angeführte Fragment 8 in seinem Wortlaut verändert. Nicht gewürdigt hat man beispielsweise ein längeres Zitat aus syrischer Überlieferung, dessen sprachlicher Ausdruck für uns freilich einen ganz anderen Ton anschlägt als das Griechische, das aber dem Sinn nach gut zu den oben erläuterten Verhältnissen passt: „Gorgias53 hat gesagt: Die hervorragende Schönheit von etwas Verborgenem ist da gege‐ ben, wo die weisen Maler es nicht mit ihren erprobten Farben malen können. Denn ihre viele Arbeit und ihr großes Abmühen legt ein wunderbares Zeugnis dafür ab, wie herrlich es in seiner Verborgenheit ist. Und wenn die Stufen ihrer Arbeit ein Ende erreicht haben, so geben sie ihm wiederum den Kranz des Sieges, indem sie schweigen. Das aber, was keine Hand erfasst und was kein Auge sieht – wie kann die Zunge es aussagen oder das Ohr des Zuhörers es vernehmen?“ (Gorgias Frg. 28)
Wie auch anderswo54 hat Gorgias hier die sprachliche Darstellung der Dinge mit der Aufgabe eines Malers verglichen, das, was an sich gar nicht sichtbar oder nicht ein‐
52 Der hier übersetzte Text entspricht dem griechischen Wortlaut, wie er bei Clemens Alexandri‐ nus (Stromateis I 51) überliefert und in einen durchaus stimmigen Kontext christlich-religiöser Reflexion eingebettet ist, in deren Zusammenhang Clemens jedoch vielfach auf antike Vorbil‐ der zurückgreift, die er einflicht und zitiert: καὶ τὸ ἀγώνισμα ἡμῶν κατὰ τὸν Λεοντῖνον Γοργίαν διττῶν ἀρετῶν δεῖται, τόλμης καὶ σοφίαςˑ τόλμης μὲν τὸ κίνδυνον ὑπομεῖναι, σοφίας δὲ τὸ αἴνιγμα γνῶναι. ὁ γάρ τοι λόγος καθάπερ τὸ κήρυγμα τὸ Ὀλυμπίασι καλεῖ μὲν τὸν βουλόμενον, στεφανοῖ δὲ τὸν δυνάμενον. Textkritik des 19. Jahrhunderts hat aus diesem Satz bei Clemens, der zunächst einmal sprachlich in Ordnung ist, durch Auslassung und ‚Emendie‐ rung’ von Worten einen völlig anderen Sinn konstruiert, den sie für dem Gorgias angemessener hielt: καὶ τὸ ἀγώνισμα [ἡμῶν κατὰ τὸν Λεοντῖνον Γοργίαν] διττῶν ἀρετῶν δεῖται, τόλμης καὶ σοφίαςˑ τόλμης μὲν τὸ κίνδυνον ὑπομεῖναι, σοφίας δὲ τὸ πλίγμα(?) γνῶναι. ὁ γάρ τοι [λόγος καθάπερ] τὸ κήρυγμα [τὸ Ὀλυμπίασι] καλεῖ μὲν τὸν βουλόμενον, στεφανοῖ δὲ τὸν δυνάμενονin dieser Form zum ‚Fragment’ gestempelt, das vermeintlich aus dem Olympikos des Gorgias stammen sollte, erhielt es bei DK (82 B 8) folgende Übersetzung: „Das Kampfspiel erfordert zwei Tugenden: Wagemut und Wissen; zum Wagemut gehört, die Gefahr auf sich zu nehmen, zum Wissen, die Falle (?) zu erkennen. Denn der Heroldsruf ladet zwar jeden, der will, kränzt aber nur den, der etwas kann.“ Vom logos ist in diesem ‚Fragment‘ also gar nicht mehr die Rede. 53 Der syrisch geschriebene Name ist wörtlich zu lesen als ‚Gorgoni(a)s‘; bekanntlich wurde Gor‐ gias’ Name und Rhetorik von Platon spöttisch assoziiert mit dem ‚Gorgonenhaupt‘, das einen in Schreckensstarre versetzt (Symposion 198c). 54 S. Gorgias, Lob der Helena, Frg. 11,18 und vgl. zum Vergleich der Redekunst mit der Malerei näher Buchheim 1985.
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mal irgendwie manifest vorhanden sein muss, in Farben zum Ausdruck zu bringen. Den ‚Kranz des Sieges‘ bekommt zuletzt die Schönheit von etwas, das jenseits all unserer Ausdrucksfähigkeiten immer noch ‚Verborgenes‘ bleibt. Man sage nicht, dass Gorgias eine solche, modern poetisch anmutende Auffassung über die unauflös‐ liche Verborgenheit des Realen noch nicht habe vertreten können, sondern sie nur in unverständliche Texte von ihm hineininterpretiert sei. Auch in seiner anderen über‐ lieferten Musterrede, der Verteidigung des Palamedes, finden wir eine ähnliche Auf‐ fassung über die Unerreichbarkeit des Tatsächlichen jenseits von Logos und Doxa ausgesprochen. Der Palamedes ist geradezu eine Studie über die Verborgenheit des Wahren jenseits der Erreichbarkeit durch den logos und die Beurteilbarkeit der Phä‐ nomene: Der zu Unrecht des Hochverrats angeklagte Palamedes bleibt von Beginn an mit seiner privaten Wahrheit allein und reflektiert darüber, dass die Richter, in‐ dem sie jedenfalls aufgrund einer Doxa ihr Urteil fällen müssen, „die Herrscherge‐ walt“ auch über das besitzen, was eigentlich in der alleinigen Verfügung des Ange‐ klagten liegt: „Obwohl dies zwei verschiedene Dinge sind, habt ihr Herrschergewalt über das Gesamte, von dem indessen ich das eine regiere: vom Recht bin ich es, von der Gewalt aber ihr. Denn totmachen könnt ihr mich leicht, wenn ihr wollt, da ihr eben Herrschaft über die beiden Dinge habt, von denen ich gerade über keins Herrschaft ausüben kann.“ (Gorgias, Palamedes Frg. 11a 2).
Das ist eine höchst fatale Situation, in der sich Palamedes, so viel er will, auf die Wahrheit berufen kann, die hier im privaten Jenseits von Logos und Doxa verharrt: „Eine unbewiesene Anschuldigung versetzt einen in helle Fassungslosigkeit, aufgrund aber der Fassungslosigkeit ist der Rede notwendig die Bahn versperrt, sollte ich nicht von Seiten der Wahrheit selbst und der gegenwärtigen Zwangslage Weisung beziehen, in de‐ nen ich freilich eher gefahrenträchtige als problemlösende Lehrer habe“ (ebd. 11a 4)
Gefährlich ist die Wahrheit als ‚Lehrer‘ in solch einer Situation, weil, wie Palamedes anschließend ausführt, nur der die Wahrheit wissen kann, der selbst bei dem Verrat dabei gewesen ist. Also „Mitwisserschaft“ ist die einzige Art der Wahrheitskenntnis (vgl. 11a 5 und 22). Das ist höchst gefährlich, weil ein Mitwisser aus anderen Moti‐ ven als dem der Wahrheitsfindung handeln und vielmehr zu entsprechenden Ab‐ wehrmaßnahmen greifen wird. Auch die Zwangslage, in der sich der Angeschuldigte befindet, schlägt in den Augen der Richter allzu leicht zu seinen Ungunsten aus, weil sie aus ihrer Sicht seine Beteuerungen von vornherein entwerten muss. So zieht denn Palamedes am Ende auch ein entsprechend skeptisches Fazit: „Wenn nun durch die Reden (dia tôn logôn) die Wahrheit der Taten klar werden könnte für die Hörer und offenkundig, dann würde eine Entscheidung schon vom Gesagten her freie Bahn haben. Nachdem es sich aber nicht so verhält, behaltet meinen Körper in Ge‐ wahrsam, bleibt noch mehr Zeit damit befasst und trefft die Entscheidung nach der Wahr‐
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heit. Denn für euch ist die Gefahr groß, als welche, deren Ungerechtigkeit zum Scheinen kam, den einen Ruf (doxa) niederzureißen und einen anderen zu erwerben.“ (ebd. 11a 35)
Die Reden machen nach Gorgias prinzipiell nicht die Wahrheit der Taten und Dinge (erga) deutlich, sondern diese bleiben im Verborgenen oder in einer nur privaten Evidenz eingeschlossen. Deshalb sind auch die Richter wie alle anderen dem Aus‐ tauschgeschehen der Doxa ausgeliefert, in dem man nach Möglichkeit das für die ei‐ gene Lage Günstigste zu erreichen strebt. Ob es die Wahrheit ist oder nicht, bleibt dahingestellt. Jedoch gibt es doxai, die irgendwann ihrer Schwäche und Aushöhlung überführt werden, und solche, die sich in der allgemeinen Auffassung als wahr eta‐ blieren. Darauf kann eine Rede sicherlich hinwirken, aber kann auch daran schei‐ tern, wie man am Beispiel der Helena sehen kann: „Klar ist, dass ihre Mutter Leda war, ihr Vater der Entstehung nach ein Gott, dem Reden nach aber ein Sterblicher: Tyndareos und Zeus, von denen der eine wegen des Seins (dia to einai) in den Ruf kam, während der andere wegen des Vorgebens (dia to phanei), bloß‐ gestellt wurde.“ (Gorgias, Lobpreis der Helena, Frg. 11,3)
Insgesamt bleibt es bei der Diagnose des Gorgias, die er laut einem isoliert überlie‐ ferten Zitat folgendermaßen stellte: „Das Sein ist ohne Anschein (aphanes), erlangt es nicht das Meinen (dokein), das Meinen aber ohne Kraft (asthenes), erlangt es nicht das Sein“ (Gorgias Frg. 26). Das dazwischenliegende ‚Erlangen‘ (tynchanein) ist zwar durch die Rede zu bewerkstelligen und veränderlich, aber eben niemals ganz sicher zu machen. 8. Nomos ‚draufgesetzt‘ auf Physis: Antiphon und die Bindung der Natur durch Konvention Menschen messen nicht nur ihre Phänomene und sind in der Lage, sie vermittels des logos zu artikulieren, umzugestalten und zu verbreiten; sondern sie können den logos wiederum dazu verwenden, um unter sich ‚Homologien‘ herzustellen und so Regeln und nomoi, nach denen sie ihr Leben einrichten, zu erschaffen.55 „Alle Be‐ lange der Gesetze sind Homologien“, stellte der Sophist Antiphon ganz prinzipiell fest, und deshalb veränderlich, „während die Belange der Natur notwendig sind“ und damit unabänderlich. Was wir aber rational tun können, um die Natur für unser Leben zu mediatisieren, ist ein möglichst passendes und rationales Verhältnis der ‚Aufsetzung‘ von nomos auf physis zu erzielen: „Die Belange der Gesetze sind ‚aufgesetzt‘ (epithenta), die der Natur aber notwendig; und die vonseiten der Gesetze sind per Homologie (homologêthenta), aber nicht gewach‐ sen; die vonseiten der Natur dagegen gewachsen, nicht per Homologie.“ (Antiphon, DK 87 B 44a Col. 1,23–2,1) 55 Auch nach Auffassung des wenig Beachtung findenden Sophisten Lykophron, den Aristoteles mehr als einmal zitiert und ausdrücklich als ‚Sophisten‘ tituliert hat, ist „der Nomos“, generell gesprochen, kraft Übereinkunft und deshalb „untereinander ein Bürge (oder Garant – ἐγγυήτης) für das, was gerecht ist“ (DK 83 A 4 = Aristoteles, Politik III 9, 1280b10 f.).
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So sind wir Dank des nomos in der Lage, die Tendenzen der Natur zu verschärfen oder zu mildern und sie auf diese Weise durch Bildung von gemeinsamen Konven‐ tionen, Bräuchen und Gesetzen für uns auszunutzen, d.h. die Natur nach dem eige‐ nen oder vermeintlichen Vorteil zu brechen und zu ‚beugen‘ wie das Licht im Was‐ ser. Auch diese dritte Mediatisierung der Wirklichkeit, die die beiden anderen Ver‐ mittlungsschritte voraussetzt, hat die Sophistik zuerst systematisch erfasst und be‐ schrieben, wovon uns glücklicherweise mit einem Papyrusfund aus der Alêtheia des Antiphon erhebliche Gedankenstücke im Original erhalten geblieben sind. Für den in Beziehung auf die Sophistik vielbeschworenen Gegensatz von Nomos und Physis ist es entscheidend, nicht von vornherein die platonischen Zeugnissen zum Verständnishintergrund zu wählen, sondern die zu diesem Thema vorhandenen Originaltexte aus sophistischer Feder unabhängig von platonisierenden Vorannah‐ men zu würdigen. Der einzige längere und allerdings auch sehr aussagekräftige Text, den wir zum Thema aus der Sophistik besitzen, stammt vom Sophisten Antiphon,56 der nach überwiegender Auffassung der heutigen Forschung von dem Gerichtsred‐ ner Antiphon zu unterscheiden ist.57 Indessen sind dem Sophisten auch nach der mo‐ dernsten und vor dem Hintergrund aller erreichbaren Zeugnisse gerechtfertigten Ausgabe der Fragmente mindestens die beiden Werke – zum einen Peri alêtheias (Über Wahrheit), in der auch die berühmte Kritik des Nomos enthalten ist, und zum andern Peri homonoias (Über Konsens)58 – zuzuschreiben. Da aller Nomos nach Auffassung des Antiphon selbst, wie er sie in der erstgenannten Schrift darlegt, aus konsensueller Übereinkunft entstammen, d.h., wie er es bezeichnet, insgesamt ho‐ mologêthenta sind, hat man die dort durchgeführte Kritik des Nomos oft für nur schwer vereinbar mit der Überschrift und den sehr geläufigen ethisch-moralischen Ansichten aus jenem zweiten Werk des Antiphon gehalten.59 Doch ist dies bei nähe‐ rer Betrachtung ein bloßer Schein, der durch eine ungenaue und im Raster klassischplatonischer Ansichten gefangene Interpretation der Fragmente in die Welt gesetzt wurde. Geht man unvoreingenommen an die Lektüre der als original bezeugten Fragmen‐ te des Antiphon, so zeigt sich bald, dass die Intention dieses Autors weder auf eine 56 Der sogenannte ‚Anonymus Iamblichi‘ (= DK 89) kann m.E. nicht als authentische Quelle für das sophistische Denken im 5. Jahrhundert angesehen werden. 57 Ich folge damit der neuesten gründlichen Untersuchung dieser Frage durch Pendrick 2002; für die gegenteilige Auffassung s. z.B. Gagarin 1990 und Scholten 2003, S. 192–194. 58 Es ist nicht leicht zu erkennen, was ‚homonoia‘ hier heißen soll und wie es zu dem Titel, der nicht unbedingt von Antiphon stammen muss, überhaupt gekommen ist. Denn über das Thema der ‚bürgerlichen Eintracht‘ scheint Antiphon gar nichts zu sagen (vgl. für homonoia in diesem Sinn vielmehr das längere Originalzitat aus einer Rede des Thrasymachos, DK 85 B 1), und auch nicht, wie manchmal vermutet, über die innere Eintracht der Seele mit sich selbst. Sehr wohl äußert sich Antiphon hier zu verbreiteten und eher egoistisch gestimmten Moralauffas‐ sungen über Erziehung, Familien- und Wirtschaftsleben sowie zu den teils natürlichen, teils in vieler Augen typischen Regeln des menschlichen Lebens im Allgemeinen. 59 Prominent s. z.B. Heinimann 1972, S. 134 und 141.
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blanke Entgegensetzung von Nomos und Physis zielt, der zufolge das, was der Nomos verlangt, immer „naturwidrig“ sei,60 noch gar, dass man nach Antiphon statt der überkommenen nomoi die Natur zu einem besseren Nomos für ethisch richtiges Handeln machen solle.61 Einer der zentralen Fußpunkte von Antiphons Argumentati‐ on ist es vielmehr, dass die Natur mit dem „Leben und Sterben“ der Wesen62 allein einen Möglichkeitsspielraum vorgegeben habe,63 der durch Gesetzgebung und Bräu‐ che per Übereinkunft so oder anders ausgefüllt und auf diese Weise zusätzlich deter‐ miniert werden könne. „Die Belange der Gesetze sind ‚draufgesetzt‘ (epithêta), die der Natur hingegen notwendig“ (DK 87 B 44a Col. 1,23–27).64 Für alles, was nur zusätzlich zur Natur an Bestimmungen draufgesetzt wird, bleiben daher viele ver‐ schiedenen Möglichkeiten offen: „Wenn etwas von dem mit der Natur Mitgewachsenen entgegen dem Möglichen (para to dynaton) gewaltsam behandelt wird, so ist das, auch wenn es allen Menschen verborgen wäre, nicht weniger ein Übel, und auch nicht mehr, wenn alle es sehen; denn es schadet nicht durch Meinung (doxa), sondern durch Wahrheit. Diese Sachen sind es, denen meine Untersuchung gilt, weil nämlich das Gros der nach einem Gesetz gerechten Dinge der Natur feindlich festgelegt ist. So gibt es gesetzliche Festlegungen sowohl für die Augen, was sich gehört, dass sie sehen, und was sich nicht gehört; wie auch für die Ohren, was sich gehört, dass sie hören, und was sich nicht gehört; und für die Zunge, sowohl was sein darf, dass sie sagt, als auch was nicht sein darf; und für die Hände, sowohl was sich gehört, dass sie tun, als auch was sich nicht gehört; und für das Denken, wessen es be‐ gehren soll und wessen nicht. Was nun ihren freundlicheren oder einheimischeren Wert für die Natur betrifft, so haben Verhaltensweisen, von denen die Gesetze die Menschen abwenden, denen, wo sie sie zuwenden, zunächst nichts voraus.“ (DK 44a Col. 2,10– 3,25)
Dieser Gedanke, dass die Natur innerhalb eines Rahmens von Notwendigkeit den‐ noch unterschiedliche Möglichkeiten der sekundären Fortbestimmung toleriert, wel‐ che durch Gesetze und Bräuche entweder „naturfreundlicher“ oder aber (wie nach 60 Vgl. etwa Heinimann 1972, z.B. S. 136 f. sowie Scholten 2003, z.B. S. 212–214; S. 217–219. 61 So wird es bekanntlich von Platon als gemeinsophistische These aufgebaut und z.B. von der Figur des Kallikles im platonischen Gorgias vertreten. Vgl. dazu Pendrick 2007, S. 265: „Comparison of the doctrine of the Platonic Callicles with the argument of Antiphon’ On Truth thus fails to find anything comparable to Callicles’ normative conception of nature in the most extensive discussion of the νόμος – φύσις antithesis we possess from the pen of an actual fifthcentury sophist.“ 62 „[...] das Leben aber ist Sache der Natur wie auch das Sterben, und das Leben bezieht man vom Zuträglichen, das Sterben vom Unzuträglichen [...]“ (DK B 44a, Col. 3,25–34). 63 Antiphons Formulierung hebt gezielt auf die Möglichkeit ab: „Aber wenn etwas von dem mit der Natur Mitgewachsenen entgegen dem Möglichen (παρὰ τὸ δυνατόν) gewaltsam behandelt wird, so ist das, auch wenn es allen Menschen verborgen wäre, nicht weniger ein Übel, und nicht mehr eines, wenn es alle sehen.“ (DK B 44a, Col. 2,10–20). 64 Völlig zurecht hat z.B. Walther 2002, S. 46 f. darauf hingewiesen, dass das verbreitete Fehlver‐ ständnis Antiphons, er wolle ein Recht der Natur anstelle des Rechts der Gesetze verteidigen, seine Quelle zum guten Teil in der bei DK 87 B 44 (Bd. II, 346) fälschlich vorgenommenen Ergänzung des Wortes „Gebote der Natur“ haben könnte.
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Antiphons Meinung leider zumeist) „naturfeindlicher“ festgelegt werden, ist nicht nur in dem berühmten Papyrus klar ausgesprochen, sondern wird auch in den übri‐ gen überlieferten Zitaten und Zeugnissen angetroffen. Aristoteles, an bekannter Stel‐ le der Physik (B 1, 193a13–17), berichtet, Antiphon habe der physis immer nur das stets gleiche und ungeformte Wesen (z.B. ‚Sprießen‘ oder ‚Fortleben‘ als Holz aus Holz)65 zugeschrieben, während die Form (wie z.B. die einer Bettstatt) eine diathe‐ sis kata nomon sei. In ein und derselben Sache lassen sich also nach Antiphon pri‐ märe, aber nur einen Rahmen vorgebende physis und durch nomos festgelegte, ver‐ änderliche Verfassung zusammenbringen und vereinigen. Antiphon hat den Aus‐ druck ‚diathesis‘ (‚Verfassung‘) häufig für eine im Prinzip wandelbare, zu einer not‐ wendigen physis oder einem natürlichen Ausgangspunkt erst hinzugebrachte und darum entweder ‚gut‘ oder auch ‚schlecht‘ auszuführende Verfassung der Sache ver‐ wendet.66 Sein wichtiger diesbezüglicher Vorschlag lautet also, dass alle ‚epitheti‐ sche‘, d.h. gemäß irgendwelcher nomoi oder technai auf die physis „draufgesetzte“ Verfassung oder Gebrauch oder normative Regelung der Dinge nach Möglichkeit „der Natur eher freundlich“ als „feindlich“ eingerichtet sein sollte, sofern man möchte, dass sie Bestand hat und der „richtigen Vernunft“ entspricht. „Was nun ihren freundlicheren oder einheimischeren Wert für die Natur betrifft, so haben Verhaltensweisen, von denen die Gesetze die Menschen abwenden, denen, wo sie sie zu‐ wenden, zunächst nichts voraus. Das Leben aber gehört der Natur und auch das Sterben, wobei ihnen das Leben vom Zuträglichen, das Sterben vom Unzuträglichen kommt. Die Zuträglichkeiten, soweit von den Gesetzen festgelegt, sind Fesselungen (desmoi) der Na‐ tur, die von der Natur hingegen sind frei. Demzufolge sind es also nicht die schmerzbe‐ reitenden Verrichtungen, die, zumindest richtiger Vernunft nach, der Natur mehr nützen als die vergnüglichen; und auch zuträglich sind wohl nicht die Unlust bereitenden mehr als die lustvollen. Denn was durch das Wahre zuträglich ist, das muss so sein, dass es nicht schadet, sondern nützt. Die durch Natur zuträglichen Dinge sind also diese“ (Anti‐ phon B 44a Col. 3,18–4,24).
Die Kennzeichnung der vom Gesetz festgelegten Zuträglichkeiten als „Fesselungen“ oder „Bindungen“ (desmoi) der Natur besagt im Kontext nicht mehr, als dass es sich wie beschrieben um künstlich eingeschränkte Zu- oder Abwendungen zu irgendwel‐
65 Aristoteles spricht von βλαστόν, während die wahrscheinlich wörtliche Zitation von Harpocra‐ tion ἔμβιος γένοιτο sagt; beides s. DK 87 B 15. 66 DK 87 B 14: „entblößt von der ursprünglichen Tendenz (ἀφορμή) würde sie vieles, was schön ist, in schlechte Verfassung gebracht haben“. B 24a: „Antiphon gebraucht dieses Wort (διάθεσις) in Bezug auf die Intention (γνώμη) oder den Verstand (διάνοια), auch für das Ausge‐ stalten einer Rede, d.h. für die bestimmte Ausdrucksweise (ἐξαγγεῖλαί τι). Im zweiten Buch der ‚Wahrheit‘ hat derselbe [Antiphon] es für die Ausdifferenzierung der ganzen Ordnung (διακόσμησις) gebraucht“. B 63: „Verfassung (διάθεσις) anstelle von ‚Organisationsweise‘ (διοίκησις) kommt bei demselben [Antiphon] in ‚Über Konsens‘ vor: »doch weil sie die Ver‐ fassung kennen, hören sie zu«.“
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chen Dingen oder Verrichtungen handelt.67 Während auf der anderen Seite Dinge, denen wir uns „frei“ und natürlicherweise zuzuwenden neigen, Lust und Vergnügen bereiten. Der Vorschlag Antiphons lautet nicht, all die gesetzlichen Normen durch ein Leben nach ‚freier‘ Natur zu ersetzen. Vielmehr insistiert er darauf, dass das, was per Gesetz als gerecht und richtig bestimmt wird, oftmals eine ungünstigere Lustbilanz als nötig aufweist. Die Hauptintention Antiphons geht also dahin: zu kri‐ tisieren, dass, obwohl die gesetzlich festgelegten Gebote und Verbote für alle Le‐ bensverrichtungen einen immer gleichen ‚Freundlichkeitswert‘ gegenüber der Natur besitzen, dennoch das nach dem Gesetz Gerechte seiner Gesamttendenz nach das, was Lust und Freude macht, untersagt, während es das, was Unlust und gar Schmerz bereitet, gebietet. Dies, so meint Antiphon, und er meint es mit Recht, kann nicht der „richtigen Vernunft“ entsprechen. Denn es höhlt die Gesetze mit der Zeit immer mehr aus: „Wenn Gerechtigkeit heißt, die Gesetzesbestimmungen der Stadt, in der man Bürger ist, nicht zu übertreten, dann dürfte man den für einen selbst günstigsten Gebrauch von jener Gerechtigkeit machen, wenn man unter Zeugen die Gesetze hochhält, aber isoliert von Zeugen die Belange der Natur.“ (Antiphon DK 44a Col. 1,6–23).
Mit denkbar großem Raffinement sagt Antiphon von sich aus nichts darüber, was seiner Überzeugung nach wirklich gerecht ist. Vielmehr zeigt er nur, warum man bei Voraussetzung einer gewissen gängigen Auffassung darüber (‚die Gesetze des eige‐ nen Gemeinwesens nicht übertreten‘ bzw. ‚nicht Unrecht tun, wo einem nicht Un‐ recht zugefügt wird‘68) zu dem Schluss gelangen muss, dass in den meisten Fällen das so als gerecht Geltende unvernünftig konstruiert ist und eben deswegen einer un‐ bemerkt um sich greifenden Erosion unterliegt. Nirgends sagt Antiphon, man solle die Natur zum Gesetz machen. Das vielmehr ist gar nicht möglich, geschweige denn nötig, weil die Natur von Haus aus notwendig ist, aber nur Leben und Sterben und die damit verwachsenen Zuträglichkeiten regiert. Allein der Spielraum, den sie au‐ ßerdem für gesetzliche Festlegungen lässt, der wird meistens falsch genutzt – das ist die These Antiphons. Dabei ist er sicher kein genereller Gegner von Gesetzen und Gebräuchen und der Regelung des Lebens durch sie dort, wo eben jener Spielraum des Möglichen gegeben ist. Dies erhellt aus einer anderen Stelle des Papyrus, die erst in den letzten Jahren eine korrekte Ergänzung gefunden hat. Dort schreibt Anti‐ phon:
67 Etwa den Vorsitz oder das erste Wort zu haben oder die Entscheidung zu treffen oder Zugang zum Innersten des Tempels oder nicht durchsucht zu werden usw. – dergleichen sind ‚Zuträg‐ lichkeiten‘, die das Gesetz gewährt und die, wie vorher beschrieben, in Abhaltungen oder An‐ haltungen bezüglich des Einsatzes unserer natürlichen Vermögen bestehen. Insofern sind dies alles ‚Fesselungen‘ oder ‚Bindungen‘, d.h. generell Einschränkungen der Natur. 68 Diese zweite gängige Gerechtigkeitsdefinition legt Antiphon an einer anderen Stelle zugrunde: DK 87 B 44c (= Pap. 1797) Col. 1,12–15 und 2,19–21.
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„[die Gesetze der uns nahe Wohnenden] kennen wir und ehren (sebomen) wir, die der fern Wohnenden hingegen kennen wir weder noch ehren wir sie. Darin machen wir uns gegenseitig zu Barbaren, da wir doch durch Natur in allen Belangen alle gleich verfasst sind, sowohl Barbaren wie Griechen. Betrachtung davon bietet das, was durch Natur für alle Menschen notwendig ist... und darin ist keiner von uns als Barbar oder als Grieche bestimmt: denn wir atmen alle in der Luft durch Mund und Nase, und lachen alle, wenn wir uns freuen, und weinen, wenn wir traurig sind. Und mit dem Gehör vernehmen wir die Laute; und dank dem Lichtstrahl sehen wir mit dem Sichtorgan; und mit den Händen arbeiten, mit den Füssen gehen wir.“ (44b Col. 1,35–2,34)69
Hier wird ein Hang zur wechselseitigen Barbarisierung der Menschen diagnostiziert und mit guten Gründen zurückgewiesen. Wir neigen dazu, nur die je eigenen, uns ‚nahen‘ Gesetze ‚in Ehren zu halten‘, solche von uns fernstehenden Völkern aber zu verachten. Wenn eine solche wechselseitige Barbarisierung verfehlt ist, dann wäre nach Antiphon also vielmehr eine Haltung angebracht und richtig, die dem, was ir‐ gendwo Gesetz ist, generell gleichen Respekt entgegenbringt. Es wird nicht gesagt, dass alle Gesetze abzuschaffen seien und nur nach der Natur gelebt werden soll; son‐ dern es wird gesagt, dass die Gültigkeit von Gesetzen immer relativ auf diejenigen Völker und Lebensgemeinschaften ist, die darin zu einer Übereinkunft gefunden ha‐ ben. Dass solche gesetzlichen Korpora wiederum unter rationalen Gesichtspunkten zu bewerten und oft als ‚naturfeindlicher‘ denn nötig zu kritisieren sind, wurde wei‐ ter oben schon deutlich. Es sind also stets zwei Grundsätze, die laut Antiphon alle Gesetzgebung zu beachten hat: Gesetze müssen erstens so verfasst sein, dass sie nicht mehr als unbedingt nötig gegen die natürlichen Anreize der Natur, d.h. gegen eine relativ günstige Bilanz von Lust und Unlust verstoßen. Zweitens müssen sie eine Umkehrung der Perspektive zulassen zwischen denen, die in einem gewissen Umkreis im Recht sind, und denen, die es nicht sind. Diese Umkehrbarkeit fordert Antiphon auch innerhalb der Gesetze des je eigenen Gemeinwesens ein: Wer mit dem Recht seiner Stadt agiert, setzt sich oft selbst einer systematisch unvermeidli‐ chen Ungerechtigkeit aus, die, sollen die Verhältnisse richtig sein, mithilfe künstli‐ cher und durch Gesetze selbst gestaltbarer Maßnahmen ausgeglichen werden muss. Es ist schier unglaublich, dass ein solches Maß an Rechtsklugheit in einem Text des 5. Jahrhunderts klar und deutlich ausformuliert wird: „Sowohl die, die sich gegen ein Leid zur Wehr setzen möchten und es nicht selbst in die Hand nähmen; als auch solche, die den Eltern, auch wenn sie schlecht zu ihnen sind, wohl tun; und wiederum die, die anderen zugeben, einen Eid zu leisten, selbst aber nicht Schwörende sind – unter all den aufgezählten Fällen fände man vieles, was der Natur feindlich ist. Und in ihnen liegt mehr an Beschwernis beschlossen, wo weniger möglich (exon), und weniger an Lust, wo mehr möglich, und Übelleiden, wo nicht zu leiden mög‐ lich ist. Wenn nun denen, die sich auf solche Dinge einlassen, irgendeine Unterstützung seitens der Gesetze entstünde, denen, die sich nicht darauf einlassen, sondern entgegen‐ 69 Griechischer Text nach Pendrick 2002, S. 180–182.
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gesetzt handeln, eine Schwächung, dann wäre die Treue zu den Gesetzen nicht unvorteil‐ haft.“ (DK 87 44a Col. 4,32–6,3)
Wiederum sagt Antiphon nichts darüber, was seiner Meinung nach inhaltlich gerecht wäre; erst recht nicht behauptet er, man solle statt den Gesetzen lieber der Natur fol‐ gen oder die Natur zum Gesetz des Handelns erheben. Vielmehr argumentiert er rein formal in Bezug auf die Struktur gesetzlicher Korpora, dass sie ohne den künstlich gesetzten Ausgleich systematischer Ungerechtigkeiten der Natur ‚feindlicher‘ sind als nötig und man sich deshalb nicht wundern darf, wenn Gesetzestreue untergraben wird. Klar ist natürlich, dass die elaborierte Position Antiphons nicht die einzige zeitge‐ nössisch wichtige Position gewesen ist. Zumindest stellenweise treffen wir auch ab‐ seits von Platon diejenigen Auffassungen an, die er mit stärkster Ablehnung bedacht hat, nämlich vor allem die, dass man die Natur und natürliche Überlegenheit zum Rechtstitel erklärt und damit den Nutzen und die Durchsetzung des Stärkeren zu einem legitimen Nomos ohne jeglichen Konsens erhebt. Finden sich viele indirekte Belege einer solchen Auffassung etwa in berühmten Reden bei Thukydides und in einigen dramatischen Texten, so ist es doch nicht leicht, originale Anhaltspunkte da‐ für in überlieferten Texten der Sophisten selbst anzutreffen. Ein Beispiel könnte wie‐ derum zunächst in Gorgias gefunden werden, obwohl gerade da der Nomos vielmehr als eine Korrekturinstanz gegen die Aktion des natürlich Stärkeren ins Feld geführt wird: „Von Natur aus gilt, dass nicht das Stärkere vom Schwächeren gehindert, sondern das Schwächere vom Stärkeren beherrscht und geleitet wird, und also das Stärkere führt, das Schwächere aber folgt. [...] Wenn sie [sc. Helena] somit durch Gewalt geraubt und ge‐ setzlos (anomôs) überwältigt wurde und ungerechtem Frevel ausgesetzt war, so ist klar, dass ihr Räuber als Frevler Unrecht tat, während die Geraubte als Opfer des Frevels ein schlimmes Los traf. Verdient hat mithin der Barbar, der Hand anlegte zu diesem barbari‐ schen Unterfangen, dass man ihn durch Rede sowohl wie durch Gesetz und Aktion, und zwar kraft des ersten mit Schuld, kraft des zweiten mit Unehre und kraft des dritten mit Strafe belädt.“ (Gorgias, Lob der Helena, Frg. 11,6–7)
Hier ist der Nomos, neben Rede und rechtlicher Aktion, offenbar eines der Mittel, die uns bleiben, um gegen die Drift der Naturverhältnisse anzuschwimmen. Das al‐ lerdings erfordert nach Gorgias wiederum eine Aufbietung von Kraft und Motivati‐ on, die unseren eigenen natürlichen Trieben zuwider nur durch die Abschreckung und angstbesetzte Erfahrungen provoziert wird: „Wo etwa kriegerische Elemente einen kriegerischen Akt zu kriegerischer Absicht in eine Formation aus Erz und Eisen wappnen – dem einen zur Wehr, gegen den anderen Front – gerät das Sehen, wenn es das anschaut, in Aufruhr und versetzt die Seele in Unruhe; so dass man oft, ist das, was bevorsteht, eine Gefahr, sich außer Fassung zur Flucht wendet. So wurde die Wahrheit des Gesetzes machtvoll eingepfählt durch den Schrecken aus dem
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Anblick, der mit seinem Eintreten bewirkt hat, es lieber zu haben, wenn das Schöne kraft Gesetz entschieden wird und das Gute kraft Recht zu Stande kommt.“ (Gorgias, Lob der Helena, Frg. 11,16)70
Das menschliche Gesetz hat keine hehren oder göttlichen Wurzeln, so wie vielleicht frühere Zeiten vor der Sophistik meinten, sondern menschliche: Es ist ein Instrument in unserer Hand zur Korrektur der natürlichen Gegebenheiten und wird etabliert als eine einvernehmliche Regel aufgrund der wiederum sehr natürlichen Abschreckung vor aus der Reihe tanzenden Unternehmungen und Gefahren. Was sollte daran nicht richtig und rational gedacht sein? Dass auch diese abschreckende Wirkung ihre Kraft verlieren kann, wurde nach Beschreibungen bei Thukydides im Peloponnesi‐ schen Krieg mehr als deutlich, so dass man umso mehr der Strategie Antiphons Be‐ wunderung zollen muss, nach der nicht länger der Schrecken oder die Unlust den ge‐ setzesbildenden Faktor abgeben sollen, sondern vielmehr ein mit der Natur konfor‐ mer Anreiz und die auf die Gesamtbilanz bezogen überwiegende Lust. Obwohl auf die geschilderte Weise der Nomos, wenn auch nur in kritisch revi‐ dierter Form, von den Sophisten als ein in vieler Hinsicht taugliches Instrument zur Mediatisierung und Ausbalancierung der puren Naturverhältnisse anerkannt und ver‐ teidigt wurde, gibt er doch zumindest nach Gorgias nicht mehr das höchste Ziel ethi‐ schen Handelns vor, wie es noch zur Zeit der Perserkriege manchmal gesehen wur‐ de. Vielmehr wird sehr deutlich, dass höchste Vortrefflichkeit oder ‚Tugend‘ (aretê) des Menschen über den Nomos hinaus und darum in einer Art Überbietung des ge‐ wöhnlichen Nomos gesehen wird, die aber gerade nicht stattdessen wieder in die Physis rückfällig werden soll. Gorgias hat dies in seinem Epitaphios auf im Krieg gefallene Athener recht deutlich ausgesprochen: „Diese [Gefallenen] besaßen Göttliches, was ihre Tüchtigkeit (aretê), Menschliches da‐ gegen nur, was ihr Sterblichsein anbelangt, weil sie vielfach das gegenwärtig Angemes‐ sene (to paron epieikes) dem selbstgewissen Rechtsstandpunkt (authades dikaion) vorzo‐ gen und ebenso oft der Genauigkeit eines Gesetzes (nomou akribeia) die Richtigkeit der Argumente (logôn orthotêta), wobei sie dies für das göttlichste und allgemeinste Gesetz 70 Die deutsche Übersetzung folgt hier genau dem überlieferten Wortlaut des Griechischen, das zwar, wie anderswo bei Gorgias auch, mit etwas schwülstigen und übertriebenen Worten einen jedoch durchaus interessanten und wichtigen Gedanken ausdrückt (ἰσχυρὰ γὰρ ἡ ἀλήθεια τοῦ νόμου διὰ τὸν φόβον εἰσῳκίσθη τὸν ἀπὸ τῆς ὄψεως, ἥτις ἐλθοῦσα ἐποίησεν ἀσμενίσαι καὶ τοῦ καλοῦ τοῦ διὰ τὸν νόμον κρινομένου καὶ τοῦ ἀγαθοῦ τοῦ διὰ τὴν δίκην γιγνομένου). Auch in diesem Fall hat eine allzu voreilige Textkritik den griechischen Text ins glatte Gegenteil ver‐ kehrt. Bei DK 82 B 11,16 (Bd. II, 293,13–16) ist folgender an vier Stellen umstandslos verbes‐ serter Text zum Abdruck gekommen, der das Bild des Gorgias in dieser Frage stark geprägt und verfälscht hat: ἰσχυρὰ γὰρ ἡ συνήθεια τοῦ νόμον διὰ τὸν φόβον ἐξῳκίσθη τὸν ἀπὸ τῆς ὄψεως, ἥτις ἐλθοῦσα ἐποίησεν ἀμελῆσαι καὶ τοῦ καλοῦ τοῦ διὰ τὸν νόμον κρινομένου καὶ τοῦ ἀγαθοῦ τοῦ διὰ τὴν νίκην γιγνομένου, was auf Deutsch so viel heißt wie: „Die machtvolle Ge‐ wohnheit des Gesetzes wurde ausgesiedelt durch den Schrecken aus dem Anblick, der mit sei‐ nem Eintreten bewirkt hat, dass man aufgibt, was als das Schöne durch das Gesetz entschieden wird und als das Gute durch den Sieg zu Stande kommt.“
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(theiotatos kai koinotatos nomos) hielten: das Gebotene, wo es geboten ist, zu sagen und zu verschweigen und zu tun.“ (Gorgias, Epitaphios, Frg. 6,2).
Wieder kann man den paradox-gescheiten und zugleich treffend formulierten Gedan‐ ken Gorgias’ nur bewundern, dessen oft hochintelligente Pointen von den modernen Forschungen zur Sophistik bei weitem noch nicht genug gewürdigt wurden: Der ge‐ wöhnliche Nomos, der längst als durchaus menschliche Veranstaltung zur Erfüllung bestimmter Zwecke bei der Organisation von Gemeinwesen durchschaut wurde, kann wegen seiner selbstbezogenen Starrheit und Insensibilität für die einzelne Si‐ tuation nicht das letzte Wort in Sachen ethischer Tüchtigkeit haben. Vielmehr muss das Verhältnismäßige und Billige in der je gegenwärtigen Situation (to paron epiei‐ kes) unter Hintanstellung der Gesetze und des formalen Rechtsstandpunktes von der gnômê (Weitsicht: ebd. 6,3) des einzelnen Menschen erst noch getroffen werden. Oft zeigt sich in solchen Situationen, dass die ‚Richtigkeit der Argumente‘ nicht mit dem genauen Buchstaben der Gesetze in Einklang ist. Dann muss man jener Richtig‐ keit unbedingt den Vorzug geben, will man nicht nur ein im gewöhnlichen Sinn, son‐ dern ein außergewöhnlich tugendhafter Mensch heißen. Diese über das menschliche Gesetz hinausgehende Anforderung ist dann nach Gorgias nicht mehr irgendeines der vielen, sondern das „göttlichste und allgemeinste Gesetz“, das jeden Einzelfall auf die richtigste und ihm angemessenste Weise behandelt. Gorgias spricht damit ein Ideal aus, das, obwohl natürlich nur ein Ideal, viele Philosophen und nicht nur Philo‐ sophen nach ihm formuliert und für unentbehrlich erklärt haben. „Das Gebotene, wo es geboten ist (to deon en tôi deonti) zu sagen und zu verschweigen und zu tun“, ist tatsächlich zugleich göttlich und ohne Ausnahme allgemein, weil solch ein Handeln jedem Einzelfall durchaus gerecht würde. Dass es ein sophistischer Meister der rhe‐ torisch beeindruckenden Rede war,71 der dieses Ideal mehr um der Rede willen als zu Zwecken der Moralpredigt formuliert hat, macht einen guten Gedanken ja um keinen Deut dümmer.
71 Platon hat später einen ähnlichen Gedanken mit zum Teil denselben Worten wie Gorgias for‐ muliert, von dem man ihn gerne aufgenommen hat, ohne des wahren Autors zu gedenken. Vgl. Politikos 294a-b und 297a-b.
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II. Die Sophisten in den platonischen Dialogen
Barbara Zehnpfennig Was ist der Sophist? Eine Spurensuche in Platons Dialogen
„Was Platon angeht, so ist er einerseits der wichtigste Gewährsmann, andererseits der heftigste Gegner der Sophisten. Entsprechend darf er unter keinen Umständen als objek‐ tiver und zuverlässiger Informant gelten [....], vielmehr sind seine Angaben zumeist mit größter Vorsicht aufzunehmen.“1
Nicht selten wird Platon unterstellt, was auch in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, nämlich die Sophisten in seinen Dialogen verzeichnet zu präsentieren. Dieses Urteil basiert im allgemeinen auf der Annahme, inhaltliche Gegnerschaft verzerre den Blick. In der Tat ist Platons Sicht auf die Sophistik kritisch. Die Sophisten in Platons Dialogen treffen auf einen Sokrates, der ihre Position so lange dialektisch auseinan‐ dernimmt, bis sie schlicht in sich zusammenfällt. Das könnte die Vermutung nahele‐ gen, hier würde um des Sieges im Meinungskampf willen der Gegner möglichst schwach vorgeführt. Andererseits spielen die Sophisten in den platonischen Dialo‐ gen eine eminent wichtige Rolle, kein anderer antiker Denker nimmt die Sophisten so ernst wie Platon. Schon das sollte zur Vorsicht im Urteil über die platonische Dar‐ stellung animieren. Offenbar ist das sophistische Denken für Platon von größtem Gewicht, sonst würde er dessen Prüfung nicht einen wesentlichen Teil seines Werks widmen.2 Was weiterhin zu denken gibt, ist die Tatsache, dass es auch den großen Philoso‐ phen seiner Zeit in den Dialogen nicht anders ergeht als den Sophisten. Bleiben etwa Heraklit und Parmenides, Anaxagoras und Demokrit ungeprüft und ungeschoren?3 Der sokratischen Prüfung werden sie alle ausgesetzt, und da diese, wie noch zu zei‐ gen ist, auf die Grundlagen des geprüften Denkens zielt, ist das Ergebnis eigentlich immer der Erweis der Bodenlosigkeit der untersuchten Theorie. Insofern wird den Sophisten keine Sonderbehandlung zuteil, sie müssen sich derselben Auseinander‐ setzung mit ihren basalen Annahmen aussetzen wie alle anderen, mit denen Sokrates den Dialog führt und bei denen nicht unbedingt unterstellt wird, dass Platon sie ver‐ zeichne.
1 Meister 2010, S. 14. 2 Die überragende Bedeutung der Sophistik für die platonische Philosophie betont auch Stenzel: „Es gibt kein Motiv der Sophistik, das in der Einheit Sokrates-Platon nicht zur Erfüllung und ausdrücklichen Überwindung kommt.“ (Stenzel 1961, S. 53). 3 Das geschieht nicht immer mit namentlicher Nennung, aber doch erkennbar unter Bezugnahme auf ihre Philosophie.
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Zudem ist der Vorwurf, Platon stelle die Sophisten aus interessierter Perspektive dar, empirisch kaum zu belegen. Denn aus welchen Quellen speist sich diese Annah‐ me? Leider sind nur wenige Fragmente aus dem ursprünglich wohl umfangreichen Schrifttum der Sophisten erhalten.4 Die wichtigste Quelle für unsere Kenntnis der Sophistik ist in der Tat das platonische Werk. Es gibt also gar keinen Prüfstein, an dem man die Realitätsnähe oder -ferne der platonischen Darstellung messen könnte – außer der Annahme, so könne es nicht gewesen sein. Von daher erscheint es doch recht spekulativ zu behaupten, dass Platon die Sophisten in seinen Dialogen aus Ei‐ geninteresse schlechter wegkommen lässt als ihnen zusteht. Denkbar ist allerdings, dass er ihre Positionen konzentrierter und konsequenter darstellt, als sie selbst es gewollt oder gekonnt hätten. Das nämlich ist eine Eigenart der platonischen Dialoge: Die in ihnen von Sokrates vorgeführte Dialektik erfordert es, die vom jeweiligen Dialogpartner dargebotene Position bis in ihre letzte Konse‐ quenz hinein zu durchdenken. Dazu bedarf es auch einer kritischen Sichtung der Prämissen, von denen der andere ausging. So ergibt sich, in der Zusammenschau von Prämissen und Konsequenzen, eine Gesamtsicht des untersuchten Ansatzes, ein großer Zusammenhang, den herzustellen eben erst in der dialektischen Prüfung ge‐ lingt. Deshalb sind die Dialogpartner des Sokrates auch häufig überrascht, was in der Prüfung ihres Ansatzes herauskommt.5 In dieser Folgerichtigkeit hatten sie ihre eigenen Annahmen nicht durchdacht. Damit wird ihnen aber nicht Gewalt angetan, sondern vor Augen geführt, was sie vorausgesetzt hatten, ohne sich der Folgen be‐ wusst zu sein. Es wäre also vorstellbar, dass Platon die sophistischen Theorien in der genannten Weise präsentiert – konsequenter zu Ende gedacht, als von ihren Urhebern unter‐ nommen. Ein generelles Misstrauen gegenüber der platonischen Darstellung recht‐ fertigt das jedoch nicht. Die platonischen Dialoge sind auf jeden Fall die reichste Quelle, aus der wir unser Wissen über die Sophisten schöpfen können. Diese Quelle soll im Folgenden genutzt werden, um vor allem die politische Dimension der So‐ phistik sichtbar zu machen.
4 Als Sammlung der Fragmente nach wie vor das Standardwerk: Diels/Kranz 1960. 5 S. z. B. die Reaktion des Polemarchos in Politeia I, 334 b (Platon 1977, Bd. IV). Auf die Frage des Sokrates: „Sagtest Du nicht so?“ antwortet er ganz verwirrt: „Nein, beim Zeus. Aber ich weiß selbst nicht mehr, was ich sagte.“ Die Verwirrung entsteht daraus, dass sich das von Pole‐ marchos Gesagte bei der Prüfung in sein Gegenteil verkehrt hat. Ähnlich Thrasymachos im sel‐ ben Buch 339 d: „Was sagst Du?“ fragt er, und Sokrates antwortet: „Was Du sagst, denke ich wenigstens.“ Denn was Sokrates vorträgt, ergibt sich logisch aus den Prämissen seines Ge‐ sprächspartners.
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1. Philosophie und Sophistik: Das Verhältnis zum Wissen Wie schon ausgeführt, befasst sich ein großer Teil der platonischen Dialoge mit So‐ phisten oder mit sophistischen Positionen. So sind den Sophisten Protagoras, Hippi‐ as, Euthydemos, und Gorgias die gleichnamigen Dialoge gewidmet. Doch auch noch andere Sophisten treten in diesen oder weiteren Dialogen auf, etwa Thrasymachos in der Politeia, Prodikos im Protagoras, Polos und Kallikles im Gorgias oder Dionyso‐ doros im Euthydemos. So vielfältig präsentiert, zeigt sich die große Bandbreite so‐ phistischer Interessensgebiete: Hippias setzt sich mit Sprachtheorie auseinander, Protagoras mit Erkenntnistheorie und politischer Theorie, Thrasymachos mit einer Theorie der Macht und die im Gorgias versammelten Sophisten mit der Redekunst. Aber auch dies ist nur ein Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum sophistischer Theoriebildung, wie wir sie aus den Fragmenten sowie anderen Zeugnisse erschlie‐ ßen können.6 Und selbst, wenn man sich auf die politischen Äußerungen der Sophis‐ ten beschränkt, wird man eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen vorfinden. Diese Unterschiedlichkeit verschärft die Frage nach dem Gemeinsamen. Was ist das gemeinsame Kennzeichen der Sophisten? Ist es das Interesse an Rhetorik, wie Theodor Gomperz behauptet?7 Ist es die Professionalisierung in der Wissensvermitt‐ lung, wie Kerferd ausführt?8 Oder sind die Sophisten gar als der entscheidende his‐ torische Faktor zu sehen, durch den die Entwicklung der Wissenschaft in Gang ge‐ setzt wurde, wie Tenbruck nahelegt?9 Versucht man die platonische Einschätzung dessen, was den Kern der Sophistik ausmacht, auf den Punkt zu bringen, so könnte man auf den Grundgegensatz verwei‐ sen, den Platons gesamte Auseinandersetzung mit der Sophistik durchzieht: den zwi‐ schen der Philo-Sophie, der Liebe zur Weisheit, und der Sophistik, die Weisheit oder Wissen zu sein beansprucht.10 Der Philosoph ist auf der Suche nach Erkenntnis, der Sophist hingegen vermittelt Kenntnisse, über die er also bereits verfügen muss. Was der eine erst erwerben möchte, besitzt der andere mit solch unzweifelhafter Gewiss‐ heit, dass er als Lehrer auftreten kann. An diesem Anspruch reiben sich die platoni‐ schen Dialoge. Doch was ist gegen die Verbreitung von Kenntnissen, wie sie die So‐ phisten als Weisheitslehrer unter die Leute brachten, einzuwenden? In der Literatur wird oft als ein wesentlicher Grund für die platonische Kritik an der sophistischen Lehrtätigkeit die Tatsache genannt, dass die Sophisten für ihre
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Vgl. Kerferd/Flashar 1998, S. 1–137. Gomperz 1965, S. 282. Kerferd 1981, S. 25. Tenbruck 1996, S. 140 ff. Welche Folgen diese unterschiedlichen Haltungen für das Verhältnis zu sich selbst hat, unter‐ sucht der Artikel zur sophistischen und philosophischen Selbsterkenntnis von Fröhlich in die‐ sem Band.
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Lehre Geld verlangten.11 In der Tat wird in den Dialogen öfter, und keineswegs mit Zustimmung, durchaus aber mit Ironie, auf diesen Sachverhalt verwiesen.12 Ist es vielleicht Platons aristokratischer Dünkel, der ihn auf die Erwerbstätigkeit der So‐ phisten herabblicken lässt? Doch als soziales Vorurteil lässt sich die Sophistik-Kritik wohl nicht abtun. Denn dem mittellosen, aus einfachen Verhältnissen stammenden Sokrates, der in den Dialogen das Wort führt, kann der Gelderwerb als solcher kaum anstößig erscheinen, zumal er sich mit Vorliebe mit Schustern, Webern und Töpfern unterredet. Die Kritik des Sokrates muss sich vielmehr auf die Art des Gelderwerbs beziehen, auf die „Ware“, die die Sophisten anbieten. Denn welche Sorte von Kennt‐ nissen findet Abnehmer, die dafür zu zahlen bereit sind? Mit großer Wahrscheinlich‐ keit sind es nur solche, von denen der Käufer zu profitieren glaubt bzw. die sein Wohlgefallen erregen. Sehr deutlich drückt sich diese Einschätzung in Politeia, Buch VI aus, wenn So‐ krates darstellt, wodurch philosophische Naturen verdorben werden können. Es sind nicht einzelne Sophisten, die einen negativen Einfluss auf sie haben könnten, son‐ dern es ist die Menge, die ihrerseits sophistisch denkt. Der Erfolg der Sophisten, auch der monetäre, beruht also auf der Übereinstimmung ihrer Lehren mit den Er‐ wartungen der Leute. So ist es offenkundig, „dass jeder von diesen Laien, welche die Leute für Sophisten ausgeben und für ihre Ge‐ genkünstler halten, nichts anderes lehrt als eben diese Meinungen der Vielen, die sie ver‐ treten, wenn sie versammelt sind, und dass er dies Weisheit nennt, wie wenn einer eines großen und starken Ungetüms, das er sich aufzieht, Zorn und Begierden verstehen gelernt hätte, von welcher Seite man sich ihm nahen muss und von welcher es berühren und wann es am wildesten ist oder wieder am zahmsten und wodurch es beides wird...., und, nachdem er dies alles gelernt hat durch lange Erfahrung und Umgang, es dann Weisheit nennen und als eine Kunst zusammenstellen wollte, um sich als Lehrer darin aufzuwerfen und, ohne in Wahrheit irgend etwas von diesen Meinungen und Begierden zu wissen, was davon gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht ist, doch alle diese Benennungen brauch‐ te für die Meinungen des großen Tieres“13
Die Übereinstimmung von sophistischem Denken und der Einstellung der Menge liegt demnach in der Fokussierung auf Bedürfnisse, Meinungen und Gefühle, ohne für diese einen übergeordneten Maßstab zu haben. Was an ihnen gut ist, was schlecht, ist nicht Gegenstand sophistischer Prüfung, obwohl die Sophisten mit die‐ sen Kategorien arbeiten. Das Können der Sophisten besteht vielmehr darin, empi‐ risch zu ermitteln, wie man diese Bedürfnisse, Meinungen und Gefühle operationali‐ siert. Durch Kenntnis der Menge verstehen die Sophisten es, diese zu lenken, ohne 11 Kerferd 1981, S. 25–28. 12 Z. B. in: Protagoras 310 d (Platon 1977, Bd. I), Hippias I 281 b, c (Platon 1977, Bd. I) und Politeia I, 337 d. 13 Platon, Politeia 493 a-c (Die Übersetzung ist hier und im folgenden gegenüber der Schleierma‐ cher’schen mitunter etwas modifiziert, BZ).
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sich selbst substantiell von ihr zu unterscheiden.14 Das bedeutet, sie geben mit ihrer Wissensvermittlung ein Werkzeug aus der Hand, das sie mangels Maßstab gar nicht einzuschätzen vermögen. Aber gibt es einen solchen Maßstab überhaupt? Die Sophisten verzichten nicht nur auf einen übergeordneten Maßstab für die von ihnen vertretenen Positionen, sie liefern auch eine theoretische Begründung, weshalb es gar nicht möglich ist, einen solchen zu finden. Im Dialog Theaitetos setzt sich Sokrates mit dem so eminent wichtigen erkenntnistheoretischen Ansatz von Protagoras auseinander, aus dem her‐ vorgeht, wieso die philosophische Suche nach Erkenntnis, also nach einer Subjektunabhängigen Begründung von Wissen, in die Irre gehen muss. Protagoras behaup‐ tet: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht-sei‐ enden, dass sie nicht sind.“15 Welcher Lesart man bei diesem Satz auch folgt, ob Protagoras hier den ganz und gar individuellen Menschen16 oder den Menschen an sich17 gemeint haben mag – auf jeden Fall folgt aus dieser Position die Subjektge‐ bundenheit aller Weltwahrnehmung und aller Urteile,18 was eine Bemühung um ob‐ jektive Erkenntnis zum Scheitern verurteilt sein lässt. Nun wird dieser Satz von Protagoras allerdings nicht weiter begründet. Er verall‐ gemeinert in ihm vielmehr die alltägliche Erfahrung, dass die Wahrnehmung rein subjektiv ist, und identifiziert Letztere offenbar schlicht mit der Erkenntnis. Sokrates macht gegen diese Sichtweise eine Reihe von Argumenten geltend:19 Die Wahrneh‐ mung des Kranken hätte danach ebenso viel Geltung wie die des Gesunden; wenn tatsächlich jeder selbst das Maß der Dinge ist, wozu bedarf es dann sophistischer Lehrer?;20 etwas Wahrgenommenes ist damit noch lange nicht verstanden, es gibt al‐ so einen Unterschied zwischen Wahrnehmen und Erkennen; wenn alles gleicherma‐ ßen – eben subjektiv – wahr ist, gibt es auch nichts Falsches usw.
14 Zu dieser Form von maßstabsloser Manipulation seitens der Sophisten s. Fleischer 1973. 15 Platon, Theaitetos 152 a (Platon 1977, Bd. 6). Der erkenntnistheoretische Ansatz von Protago‐ ras ist in seiner philosophischen Bedeutung wie in seiner Aktualität gar nicht zu überschätzen, deshalb spielt er in diesem Band auch eine so zentrale Rolle – vgl. die Artikel von Buchheim, Bachmann, Hoerlin, Hahn und Jansche. 16 Kerferd 1981, S. 86. 17 Scholten 2002, S. 54. Zur Diskussion darüber Hoffmann 1997, S. 15, Anm. 15. Letztlich ist die Lesart, der Mensch an sich sei gemeint, aber nicht schlüssig, weil damit wieder etwas Allge‐ meines zum Maßstab gemacht würde, dessen Existenz Protagoras mit seinem Satz ja gerade leugnet. 18 Dass mit der sophistischen „Selbstthematisierung des Subjekts“ philosophiegeschichtlich eine neue Stufe erreicht ist, wie Eichler betont (Eichler 1991, S. 1128), ist zweifellos richtig, und ohne die Auseinandersetzung mit der Sophistik hätte sich die sokratisch-platonische Philoso‐ phie wahrscheinlich nicht herausbilden können. Dennoch bleibt die subjektzentrierte Position logisch defizitär. 19 Theaitetos 161 b – 172 c, 177 c – 186 d. 20 Zum möglichen Zusammenhang zwischen dem Protagoräischen Homo Mensura-Satz und der sophistischen Lehrtätigkeit vgl. Buchheim 1984.
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Der Umfang und der intellektuelle Aufwand der sokratischen Widerlegung ma‐ chen deutlich, dass es sich hier um einen Kernbestand des sophistischen Denkens handelt, den der Philosoph so nicht stehen lassen kann: Ein erkenntnistheoretischer Relativismus lässt alles gleichgültig werden. Er ebnet den Unterschied zwischen Wissendem und Nicht-Wissendem ein, er liefert alles der bloßen Meinung aus, er hat auch höchst bedenkliche politische Folgen. Denn wenn es für die Richtigkeit der Meinungen keinen Maßstab gibt, kann „Richtigkeit“ nur quantitativ ermittelt wer‐ den: Je mehr Menschen eine Sache glauben, umso „richtiger“ ist sie.21 Das weist voraus auf die Hobbes’sche Überzeugung: Auctoritas, non veritas facit legem,22 die Macht und nicht die Wahrheit schafft das Recht – eine Auslieferung der Politik an die faktischen Machtverhältnisse, und sei es die Übermacht der Mehrheit. Auch die‐ se ist, das zeigt das Phänomen des Populismus, nicht unbedingt die Hüterin des Rechts und des allgemeinen Guten, nicht einmal unter demokratischen Vorzeichen. Nun besteht die philosophische Gegenposition nicht darin, für sich eben die Er‐ kenntnis in Anspruch zu nehmen, deren Nicht-Existenz der sophistische Relativis‐ mus behauptet (was natürlich wiederum eine Erkenntnis voraussetzt, nämlich die der Relativität aller Dinge). Die philosophische Gegenposition besteht vielmehr darin, zunächst einmal auf eine andere als die von Protagoras bemühte Empirie zu verwei‐ sen: Dann, wenn es darauf ankommt, nämlich z. B. bei Krankheit, im Krieg oder auf hoher See, vertraut jeder sich doch lieber dem Fachmann an als dem nächsten Bes‐ ten, der zu all dem bloß eine Meinung hat.23 Die Praxis der Leute zeigt, dass sie auf Kompetenzunterschiede setzen, mögen sie sich nominell auch zum Relativismus be‐ kennen. Die philosophische Konsequenz daraus ist, für jenes Wissen, jene Kenntnis, die man letztlich doch überall als notwendig voraussetzen muss, eine Grundlage zu suchen. Was unterscheidet die bloße Meinung vom Wissen? Das will seinerseits er‐ kannt sein. Welchen Weg der platonische Sokrates in seiner Erkenntnissuche einschlägt, soll hier nicht in extenso dargestellt werden.24 Zur Richtung der Suche sei nur so viel ge‐ sagt: Bei der Prüfung der Meinungen, die seine Dialogpartner ihm darbieten, stößt Sokrates immer auf eine letzte, nicht hintergehbare Grundlage: Alle setzen letztlich voraus zu wissen, was gut ist.25 Dieses vermeintliche Wissen ist die Basis, von der aus sie alle ihre Entscheidungen treffen, von der aus sie ihr ganzes Leben einrichten. Dabei widersprechen sie in der Bestimmung dessen, was gut ist, aber nicht nur ein‐
21 Theaitetos 171 a. An dieser Stelle wird das Argument jedoch gegen Protagoras gewendet: Je mehr Menschen nicht an seinen Satz glauben, umso unwahrer wird er. 22 Hobbes 1966, S. 202. 23 Theaitetos 170 a, b. 24 Vgl. dazu Zehnpfennig 2012. 25 So kommt z. B. in den sogenannten Tugenddialogen am Ende immer das Gute als der entschei‐ dende, aber ungeklärte Maßstab ins Spiel, vgl. Laches 199c (Platon 1977, Bd. 1), Charmides 174 (ebd.) c, Euthyphron 15 a (ebd.), Politeia I 353 e.
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ander, sondern auch sich selbst. Das könnte Anlass für Erkenntnisresignation sein, aber auch der Anstoß, nach einer widerspruchsfreien Begründung der Vorstellung des Guten zu suchen. Von einem Erfolg in dieser Suche künden die Aufstiegsschil‐ derungen im platonischen Werk;26 für Platon ist die Letztbegründung dem Menschen zugänglich, sofern er sich sein Leben lang auf entsprechende Weise darum bemüht hat. Doch unabhängig vom Erfolg der Erkenntnissuche ist der zentrale Punkt, in dem sich Philosophie und Sophistik gemäß der platonischen Darstellung voneinander un‐ terscheiden, die Einstellung zum Wissen bzw. der Erkenntnis. Wenn der Mensch Maßstab von allem ist, dann ist er es ebenfalls in Bezug auf sein Wissen. Wenn er aber nicht Maßstab von allem ist, dann hat er sich dem Maßstab, der ihm übergeord‐ net ist, zu unterstellen. Der Philosoph dient der Wahrheit, der Sophist sieht sich in der Wahrheit – selbst, wenn er sie leugnet. Was aber kann er dann lehren, wenn er sich doch in derselben Lage sehen muss wie jeder andere Mensch auch? Da die So‐ phisten explizit als Lehrer auftreten, setzt sich das platonische Werk nicht nur mit ihren Lehren, sondern ebenfalls mit ihrer Lehrtätigkeit auseinander.
2. Die sophistische Lehre und die politische Tugend Die Inhalte der sophistischen Lehre decken, wie zuvor angedeutet, nicht nur so gut wie alle Wissensgebiete ab, z. B. Sprachtheorie, Naturtheorie, politische Theorie, Rhetorik, Hermeneutik etc. Sophisten vertreten auch ganz unterschiedliche ideologi‐ sche Positionen, wie gleich noch zu zeigen sein wird: Von ihnen ist das Plädoyer für die demokratische Herrschaft ebenso zu vernehmen wie die Rechtfertigung der Ty‐ rannis. Insofern sind sie mit ihren Lehren in der Tat sehr nahe am Alltagsleben.27 Was sie davon unterscheidet, ist, dass sie die im Umlauf befindlichen Meinungen theoretisch zu fassen vermögen – und dass sie mit dem auf diese Weise gewonnenen Wissen instrumentell verfahren. Sie geben es jedermann, der dafür zu zahlen bereit ist, an die Hand und überlassen ihm die Verwendung. Doch für welche Art der Ver‐ wendung eignet sich ein Wissen, das inhaltlich wie politisch derart divers ist? Gibt es auch hier einen gemeinsamen Nenner? Die Sophisten gelten nicht zuletzt als Tu‐ gendlehrer, und was unter „Tugend“ zu verstehen ist, erklärt Protagoras in Platons gleichnamigem Dialog.
26 In Politeia 506 d – 519 a, Symposion 209 e – 212 a (Platon 1977, Bd. 3), Phaidros 253 c – 256 e (Platon 1977, Bd.5), Siebter Brief 342 a – 344 d (ebd.) Mit dem „Aufstieg“ bezeichnet Pla‐ ton den Weg zur Erkenntnis der letzten Ursache. Vgl. dazu Schrastetter 1989; Zehnpfennig 2017, S. 113–125, 130–155, 217–220. 27 Vgl. dazu Buchheim 1986 sowie seinen Beitrag in diesem Band.
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Dort bekennt sich der Sophist dazu, Menschen erziehen zu wollen, Menschen al‐ so dazu zu verhelfen, „besser“ zu werden.28 Welches Wissen er seinem Schüler dazu vermittelt, erklärt Protagoras folgendermaßen: „Diese Kenntnis aber ist die Klugheit in seinen eigenen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwaltet, und dann auch in den Angelegenheiten des Staates, wie er am geschicktesten sein wird, diese sowohl zu handhaben als auch darüber zu reden.“29
Sokrates fasst das Gesagte unter „Techne politike“ zusammen, also als Staatskunst oder, genauer, politische Kompetenz, womit die Verwaltung des eigenen Haushalts ebenso gemeint ist wie die der Polis. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, wie die inhaltliche Vielfalt der sophistischen Lehre doch wieder in einen gemeinsa‐ men Zweck mündet: Der sophistisch Geschulte kann seine eigenen Dinge in Wort und Tat besser zur Geltung bringen, sowohl im Oikos, dem Haus, als auch in der Po‐ lis, dem öffentlichen Raum. Die sophistische Lehre verhilft zum persönlichen Nut‐ zen; die „Besserung“, die der Belehrte erfährt, besteht in der Fähigkeit, seine eige‐ nen Interessen erfolgreicher zu vertreten. Nun wäre allerdings auch eine Deutung des oben angeführten Zitats möglich, nach der der sophistisch Erzogene sein neu erworbenes Wissen nicht nur für sich nutzt, sondern auch in den Dienst der Polis stellt. Wie Eigeninteresse und politische Tätigkeit in den Augen des Protagoras aber letztlich wieder zusammenfallen, ma‐ chen seine weiteren Ausführungen klar. Um die von Sokrates provokativ vorgebrachte These, die durch Protagoras ins Spiel gebrachte politische Tugend sei doch gar nicht lehrbar,30 zu widerlegen, erklärt Protagoras sein Verständnis von Politik mittels eines Schöpfungs-Mythos31 und ver‐ weist anschließend auf das Verhalten der Leute, das seine Sicht angeblich belegt. Gemäß dem Mythos ist der Mensch von Natur aus ein Mängelwesen, weil er, anders als das Tier, physisch so schlecht ausgestattet ist, dass sein Überleben gefährdet ist. Als Kompensation für diesen Mangel bekommt er durch den Eingriff des Prome‐ theus in die Schöpfung die Kunst des Hephaistos und das Wissen der Athene, also Technik und Wissenschaft. Mit ihrer Hilfe kann der Mensch sich nun auf künstliche Weise jene Existenz-sichernden Lebensumstände schaffen, die ihm von der Natur verwehrt waren, z. B. durch die Herstellung von Kleidung, die Beschaffung von
28 Protagoras 317 b, 318a. 29 Protagoras 318 e – 319 a. 30 Dass Sokrates hier als advocatus diaboli spricht, wird schon daran deutlich, dass er nach dem Gespräch, als dessen Ergebnis, die gegenteilige These vertritt. In beiden Fällen äußert er aber nicht seine „Meinung“, denn um Meinungen geht es nicht in seiner philosophischen Prüfung, sondern er bezieht Positionen, um den Dialogpartner zur Offenbarung seiner eigenen Sichtwei‐ se zu motivieren. Anders Grossmann 1987, S. 510 f., der die am Ende des Dialogs von Sokra‐ tes geäußerte Meinung für die eigentlich sokratische hält. 31 Zu diesem berühmten „Kulturschaffungsmythos“ des Protagoras (Protagoras 320 c – 322 d) vgl. die ausführliche Deutung von Hansen in diesem Band.
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Nahrung und den Hausbau. Was ihm aber immer noch fehlt, ist die politische Kunst: sich kriegerisch gegen die Tiere zu verteidigen und sich friedlich mit seinesgleichen zu einigen. Also werden ihm vom Göttervater Zeus auch noch „Scham und Recht“ verliehen, Scham wohl im Sinne einer Akzeptanz der Regeln des Zusammenlebens und Recht im Sinne dieser Regeln selbst. „Scham und Recht“, darauf legt Protagoras Wert, sollen gleichermaßen unter alle Menschen verteilt werden. Wer aber nicht in der Lage ist, sie sich anzueignen, ist des Todes, weil er das Überleben aller gefähr‐ det. Hier wird deutlich, was Protagoras unter der Techne Politike oder allgemein der Tugend versteht: Es ist die Kunst, sein Überleben zu sichern. Wer klug ist, unter‐ nimmt das im Verbund mit den anderen. Da alle gleichermaßen um ihr Überleben kämpfen, sollten sie das nicht gegeneinander tun, sondern den Kampf untereinander durch friedliche Einigung beenden. In diesem kontraktualistischen Gedanken fallen Eigennutz und Gemeinschaftsbildung also zusammen. Die Gemeinschaft ist sozusa‐ gen der notwendige Umweg, um das Eigene zu sichern. Protagoras bestätigt das, wenn er auf das Verhalten der Leute zu sprechen kommt: „denn jedem von uns, glaube ich, nützt die Gerechtigkeit und Tugend der anderen; des‐ halb lehrt jeder so gern den anderen das Gerechte und das Gesetzmäßige“32.
Tugend, so wie der Sophist sie interpretiert, ist demnach eine Funktion des eigenen Nutzens. Dass darin eine Kampfansage an das traditionelle Tugendverständnis liegt,33 ist offensichtlich, und es erklärt auch, wieso die Sophisten in der Bevölke‐ rung auf so unterschiedliche Reaktionen stießen. Wurden sie von den einen begeis‐ tert aufgenommen und als Lehrer geschätzt, so erschienen sie den anderen, nicht zu‐ letzt durch ihre Religionskritik und ihren Relativismus, als Zerstörer der traditionel‐ len Sittlichkeit. Das ist nun aber ein Schicksal, dass allen Aufklärungsbewegungen in der Geschichte zuteil wurde:34 Die einen fühlen sich durch die neuen Lehren vom Ballast der Tradition und der Fremdbestimmung befreit, die anderen, die sich in den bestehenden Verhältnissen eingerichtet hatten, sehen durch die modernen Zeiten ihre Felle davonschwimmen. Allerdings ist das Auftreten von Aufklärern in der Regel ein deutliches Symptom dafür, dass sich eine Epoche bereits überlebt hat. Sie rufen die Krise nicht hervor, sondern werden ihrerseits von der Krise hervorgebracht. In seinem Mythos hatte Protagoras die politische Tugend als eine allen Menschen zugeteilte Mitgift dargestellt – kein Wunder, wenn sich hinter der Tugend nichts an‐ deres als der Wille zur Selbsterhaltung verbirgt. Der ist in der Tat allen Menschen 32 Protagoras 327 b. 33 Vgl. dazu Scholten 2003. 34 Damit ist nicht nur die Epoche gemeint, welche die Aufklärung im Namen trägt, sondern bspw. auch der Renaissance-Humanismus. Immer ist mit der Aufklärung der Sturz überkommener (geistiger) Autoritäten verbunden sowie eine Rückbesinnung auf Kräfte, die dem Menschen selbst innewohnen und derartige Autoritäten überflüssig zu machen scheinen.
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eigen. Wie begründet Protagoras aber vor diesem Hintergrund seine Lehrtätigkeit? Wieso soll man sich aneignen, was man schon hat? Hier beruft sich Protagoras wieder auf die Empirie, das Verhalten der Leute, das er nun jedoch vollständig anders deutet als Sokrates.35 Hatte Sokrates darauf verwie‐ sen, dass in politischen Dingen offenbar jeder mitreden kann und dafür nach Ansicht der Leute anscheinend keine besondere Kompetenz erforderlich ist, ist Protagoras derselbe Sachverhalt nur Indiz dafür, dass eben jeder glaubt, man müsse die Tugend haben, selbst wenn man sie nicht hat. Vermisste Sokrates die sonstigen Lehrer der Tugend, die es doch gäbe, wenn man Tugend für lehrbar hielte, so erklärt Protago‐ ras, dass tatsächlich die ganze Polis als Tugendlehrer tätig ist, nämlich durch Kinder‐ erziehung, wechselseitige Belehrung der Bürger untereinander sowie das Strafsys‐ tem. Wunderte sich Sokrates darüber, dass selbst die erfolgreichsten und angese‐ hensten Bürger ihren Kindern keine entsprechenden Lehrer besorgt haben und auch durch ihr Vorbild das Missraten ihrer Kinder nicht verhindern konnten, so schließt Protagoras daraus, dass es eben auf Anlage und Lehre ankommt. Und die besten Lehrer in puncto Tugend seien nun einmal die Sophisten. Diese Argumentation ist aus inhaltlichen wie formalen Gründen interessant. In‐ haltlich zeigt sich, dass Protagoras die Tugend in gewisser Weise als allgemeine Ausstattung des Menschen betrachtet, die es aber durch Belehrung zu optimieren gilt. Das ist insofern schlüssig, als er Tugend mit dem aufgeklärten Eigeninteresse identifiziert: Die Polis kann nur bestehen, wenn alle sich irgendwie „die Gerechtig‐ keit und die Besonnenheit und das Fromm-Sein“36 zueigen machen; die Akzeptanz der Regeln, der sittlichen wie der gesetzlichen, ist die Voraussetzung des eigenen Überlebens. Die Art des Überlebens lässt sich aber dadurch verbessern, dass man sich in allen möglichen Kenntnissen schulen lässt und sich auf diese Weise einen Wettbewerbsvorteil vor den anderen sichert. Das Erste und Grundlegende, was Prot‐ agoras vermittelt, ist allerdings die Einsicht in den genannten Zusammenhang: Das eigene Überleben ist an das der anderen gebunden; sich in die vorhandene Ordnung einzufügen, stellt deshalb ein Gebot der Klugheit dar. Der Sophist macht damit be‐ wusst, was die Menschen unbewusst immer schon geahnt und gelebt haben. Er legi‐ timiert ihren Eigennutz, indem er ihn theoretisch überhöht. Was formal an der Argumentation des Protagoras aufschlussreich ist, ist die Tat‐ sache, dass er sich auf eine Empirie beruft, die man so oder so deuten kann. Sie selbst ist nicht eindeutig. Deshalb bedient sich Sokrates empirischer Beobachtungen auch nur, um den anderen zu einer Positionierung zu bewegen. Seine eigene Unter‐ suchung zielt immer auf rationale Begründung, deren Eindeutigkeit in der logischen Schlüssigkeit liegt. Dem Sophisten ist hingegen gar nicht an logischer Eindeutigkeit gelegen, sondern am Widerspruch: Deutet Sokrates das Phänomen so, dann gibt ihm 35 Protagoras 322 d – 328 d. 36 Protagoras 324 d- 325 a.
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Protagoras die gegenteilige Wendung. Denn er verbindet mit dem Gespräch ein gänzlich anderes Interesse als Sokrates, der die Wahrheit der Dinge zu erfahren trachtet. Protagoras praktiziert, was er auch andere lehrt: Wie man im Gespräch ob‐ siegt, bzw. wie man es schafft, „das schwächere Wort zum stärkeren zu machen“.37
3. Die Kunst des Streits und die Kunst der Rede Eristik und Rhetorik, also Streit- und Redekunst, waren zentrale Betätigungsfelder der Sophisten,38 was angesichts des eben dargelegten Tugend-Verständnisses nicht verwundert: Die Fähigkeit zur Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung lässt sich steigern, wenn man bestimmte Redetechniken beherrscht, die einem den Vorsprung vor den anderen sichern. Das war vor allem in der Volksversammlung und vor Ge‐ richt von Bedeutung, Orte, an denen man seinen Interessen ganz unmittelbar zur Durchsetzung verhelfen konnte. Hier ging es erkennbar nicht um die Sache, sondern um den Sieg im Meinungskampf; das von den Sophisten vermittelte Wissen war da‐ bei ein neutrales Werkzeug, das sich allen Zwecken als dienlich erwies.39 Nicht nur Platon sah darin ein Problem. Auch Aristoteles kritisierte die Entkoppelung von Ar‐ gumentationstechnik und Wahrheitsanspruch und widmete den „sophistischen Wi‐ derlegungen“ einen Teil seines „Organons“.40 Weil die Rhetorik sich auf jedes Thema anwenden lässt, ist sie selbst schwer zu fassen: Was ist sie eigentlich, wenn sie allen Herren dient? Mit dieser Frage setzt sich Platon im Gorgias auseinander und lässt Sokrates die Sophisten Gorgias und Polos sowie ihren Gastgeber Kallikles befragen, der seinen Gästen zur Hilfe kommt, als ihre Redekunst vor der sokratischen Dialektik versagt.41 Gorgias, neben Protagoras wohl einer der anerkanntesten Sophisten seiner Zeit, rühmt sich im gleichnamigen Dialog, auf jede Frage eine Antwort zu haben,42 tut sich aber schwer damit zu bestimmen, was eigentlich der Gegenstand seiner Kunst, der Rhetorik, ist. Denn das Fachwissen kann es nicht sein, weil dafür der jeweilige Fachmann zuständig ist. Schließlich führt die Untersuchung Gorgias dazu, seiner Kunst zuzuschreiben, das größte Gut von allen verschaffen zu können, nämlich selbst frei zu sein und über andere zu herrschen.43 Das ist zwar noch immer kein In‐ halt, aber es lässt erkennen, was für Gorgias der Inbegriff des gelungenen Lebens ist: 37 Diels/ Kranz 1960, Bd. 2, Protagoras 80, 6 b, S. 266. 38 Zur sophistischen Rhetorik vgl. Fuhrmann 1984, S. 7–30. 39 Ptassek (1995) sieht in der sophistischen Rhetorik und der philosophischen Reflexion zwei per se unterschiedliche Wirkungs- und Wirklichkeitsbereiche; insofern relativiert sich für ihn die Spannung zwischen ihnen. 40 Aristoteles 1968. 41 Zur ausführlichen Deutung des Gorgias s. den Artikel von Kainz in diesem Band. 42 Gorgias 447d–448a (Platon 1977, Bd. 2). 43 Gorgias 452 d.
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Sich selbst den Regeln entziehen zu können, die man den anderen oktroyiert. Und wodurch vermag der Redner das? Er bewirkt das durch die Kunst der Überredung. Dafür bedarf es keines Fachwissens, aber indem der Redner über den Fachmann herrscht, hat er sein Wissen sozusagen auch in seiner Gewalt. Gorgias interessiert daran vor allem die politische Dimension, die Wirkung der Überredung in der Ago‐ ra: „Denn hast du dies in deiner Gewalt, so wird der Arzt dein Knecht sein, der Turnmeister dein Knecht sein, und von diesem Erwerbsmann wird sich zeigen, dass er für einen ande‐ ren erwirbt und nicht für sich selbst, sondern für dich, der du es verstehst zu reden und die Menge zu überreden.“44
Es geht also schlicht um Macht; die Instrumentalisierung des Wortes dient der In‐ strumentalisierung von Menschen. Wie es sich mit der Sache verhält, zu der der Rhetor die Menschen überredet, kann er selbst nicht beurteilen, denn er ist ja kein Fachmann. Ihm genügt der Effekt: dass er Menschen dorthin lenken kann, wo er sie haben möchte. Was Gorgias dabei natürlich unterstellt, ist zu wissen, was gut ist – und sei es nur für ihn selbst. Die Manipulation von Menschen soll schließlich zu sei‐ nem Nutzen erfolgen. Diese basale Prämisse, bereits zu wissen, was gut ist, stellt für Platon den entscheidenden Sophismus dar, eben auch den des alltäglichen Denkens. Ein solcher verkappter Wissensanspruch widerstreitet aber dem sophistischen Relati‐ vismus ebenso wie dem bewussten Verzicht des Redners auf einen Sachgehalt seiner Rede. Das zeigt sich auch beim nächsten Dialogpartner, Polos. Der verstärkt den Machtaspekt der Rhetorik noch einmal, indem er darauf ver‐ weist, dass der geschickte Rhetor die Macht habe, Menschen berauben, töten und vertreiben zu können wie ein Tyrann. Das überzeugt Sokrates allerdings nicht: „Ich behaupte nämlich, Polos, Macht haben Redner sowohl als Tyrannen eigentlich am wenigsten in den Staaten; sie tun nämlich nichts von dem, was sie wollen, um es gerade‐ heraus zu sagen. Sie tun jedoch das, von dem sie meinen, dass es das Beste sei.“45
Die Krux ist stets der Glaube, schon zu wissen, was gut und richtig ist – nur so kommt es auch zur Vergötzung der Macht wie bei den beiden Sophisten. Ein fun‐ diertes Fachwissen brauchen sie nicht, und was gut ist, weiß ohnehin jeder. Von die‐ sem Irrglauben ausgehend, meinen sie, dass jeder Machtzugewinn auch einen Zuge‐ winn an individuellem Nutzen mit sich brächte. Was Sokrates dagegen klar zu ma‐ chen versucht, ist die Tatsache, dass niemand nur den scheinbaren, sondern jeder den tatsächlichen Nutzen haben möchte. Um sich hier nicht zu irren, bedarf es also doch der Erkenntnis, deren Notwendigkeit oder auch nur Möglichkeit die Sophisten gera‐ de bestreiten. Ohne diese Erkenntnis tut man zwar, was man will, aber nicht unbe‐ dingt, was einem guttut. Und das ist es doch, was man eigentlich will. 44 Gorgias 452 e. 45 Gorgias 466 d, e.
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Dies führt zu einer für den Sophisten unerträglichen Konsequenz. Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, so die sokratische Argumentation, dass man sich selbst einen seelischen Schaden zufügt, wenn man anderen Unrecht tut, weil man dadurch unge‐ recht wird. Das Übel ist dann größer als der vermeintliche Nutzen. In einem solchen Fall ist eine Strafe, die zur seelischen Besserung beiträgt, etwas Gutes. Damit ist das Weltbild der Sophisten natürlich auf den Kopf gestellt, und der drit‐ te Sophist im Bunde, Kallikles, hält das, was Sokrates ausführt, deshalb auch für einen Scherz: „Denn wenn du es ernst meinst und das wahr ist, was du sagst, so wäre ja wohl das menschliche Leben unter uns ganz verkehrt und wir täten in allen Dingen das gerade Ge‐ genteil, wie es scheint, von dem, was wir sollten?“46
In dieser fassungslosen Feststellung des Gorgias bringt Platon noch einmal auf den Begriff, was für ihn den entscheidenden Gegensatz zwischen Philosophie und So‐ phistik ausmacht: Die philosophische Wahrheitssuche nimmt keine Rücksicht auf das alltäglich für richtig Gehaltene. Denn dies ist im Zweifelsfall immer Ausdruck eines Eigeninteresses, das nur den eigenen Vorurteilen folgt. Insofern erreicht es sein Ziel gar nicht, nämlich das Gute für sich selbst zu besorgen, weil es dazu der Ein‐ sicht bedarf, was tatsächlich gut ist. Indem die Sophisten diesen Alltagsverstand aber in einer Weise über sich selbst aufklären, die sein Vorgehen auch noch legiti‐ miert, verkörpern sie in der Tat die Gegenposition zur philosophischen Suche. Sie bestärken die Menschen in ihrem So-Sein, obwohl diese mit dem Beharren auf dem für richtig Gehaltenen immer wieder Opfer ihrer eigenen Irrtümer werden. Einer dieser Grundirrtümer, das versucht Sokrates Kallikles im Folgenden nach‐ zuweisen, ist die Identifikation des Guten mit dem Angenehmen. Für Kallikles ist es von größtem Nutzen, wenn es dem Redner gelingt, sich auf Kosten der anderen zu bereichern. Er entwickelt nun eine Machttheorie,47 mit der er begründet, weshalb es gut ist, sich in seinen Bedürfnissen keine Hemmungen aufzuerlegen. Gut ist alles, was die Bedürfnisse befriedigt, am besten aber das, was sie noch steigert. Nun muss Kallikles allerdings zugeben, dass es auch Bedürfnisse gibt, deren Befriedigung schändlich oder töricht ist. Die Lust, das Angenehme, ist also nicht identisch mit dem Guten. Die Rhetorik kümmert sich jedoch nicht um das Gute, sondern nur um das Angenehme – um das, was die Leute hören wollen. Denn wenn man sie manipu‐ lieren will, darf man ihnen keine unbequemen Wahrheiten sagen. Deswegen, so das Ergebnis, kann die Rhetorik nicht das geeignete Instrument sein, um sich die erhoff‐ te Macht, das erhoffte Glück zu verschaffen. Denn weder den Zuhörern noch dem Rhetor vermittelt sie das eigentlich Gute, sondern bestenfalls dessen Schein. Ein
46 Gorgias 481 c. 47 Auf diese wird im nächsten Kapitel noch einmal eingegangen.
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scheinbarer Nutzen ist de facto aber gar keiner, und so löst sich auch die vermeintli‐ che Macht des Redners in nichts auf. Damit ist natürlich ebenfalls die Rhetorik in den Bereich der Scheinkünste ver‐ wiesen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht über ein beachtliches Arsenal an Techniken verfügte, um Menschen in die gewünschte Richtung zu dirigieren. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man im Gorgias so manche Waffe aus diesem Arsenal wieder; die Rhetorik wird im Dialog nicht nur theoretisch behandelt, sondern auch praktisch vorgeführt. Zu den rhetorischen Kniffen der Sophisten gehört es z. B., das Gegenüber durch lange Reden vom eigentlichen Thema abzulenken, es durch La‐ chen oder latente Drohungen einzuschüchtern, mittels Hinweis auf die Zuhörer die Eitelkeit anzustacheln oder Konformitätsdruck auszuüben, auf Sachfragen mit Wert‐ urteilen zu antworten, etwas als nebensächlich abzutun, wenn einem die Argumente fehlen usw. Das Ganze ist schlicht ein Kampfgeschehen, es geht, zumindest auf so‐ phistischer Seite, um Sieg oder Niederlage. Nun müssen sich die Sophisten hier allerdings auch auf einem ihnen fremden Ter‐ rain behaupten, im Dialog. Normalerweise halten sie Monologe, da sie andere beleh‐ ren wollen. Der sokratische Dialog, die philosophische Auseinandersetzung, nötigt sie jedoch immer wieder, über ihr Denken Rechenschaft abzulegen, ein Verfahren, das sie nicht gewöhnt sind. Insofern wehren sie sich tatsächlich mit allen Mitteln, schon um ihre Reputation nicht zu verlieren. Da die Sophisten aber gänzlich von der sozialen Anerkennung leben, ahnt man hinter diesem Wortgefecht den existentiellen Ernst, der mit dem Ringen um die Selbstdurchsetzung verbunden ist. Diesen existentiellen Ernst vermittelt ein anderer Dialog, in dem es um die so‐ phistische Streitkunst geht, der Euthydemos, zunächst einmal nicht, denn hier steht die Komik im Vordergrund. Die beiden Sophisten Euthydemos und Dionysodoros, nach eigenen Angaben Lehrer der Tugend, liefern sich mit Sokrates ein so irrsinni‐ ges Wortgefecht, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Ohne sich darum zu küm‐ mern, wie sich die Sache verhält, um die es geht, nutzen sie alle dialektischen Tricks und Finten, um die Oberhand im Gespräch zu behalten. Dabei spielen sie sich wech‐ selseitig die Bälle zu und „beweisen“ A ebenso wie sein Gegenteil B: Nur die Dum‐ men lernen, denn sie sind unwissend. Nein, nur die Klugen lernen, denn sie alleine sind lernfähig. Man lernt, was man weiß, denn an völlig Unbekanntes kann man gar nicht anknüpfen. Nein, man lernt, was man nicht weiß, denn man gewinnt beim Ler‐ nen eine Erkenntnis dazu, die man noch nicht hatte.48 Der Witz bei dieser Sache ist der ständige Wechsel des Bezugspunkts, so er‐ scheint alles als relativ. Das wird auf der Meta-Ebene fortgesetzt, wenn es um Wahr‐ heit und Lüge geht: Wenn man etwas sagt, dann ist das Gesagte etwas. Insofern kann man nichts Nicht-Seiendes aussagen, also gibt es auch keine Lüge. Daraus folgt,
48 Euthydemos 276 a-277 c (Platon 1977, Bd. 2).
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dass es ebensowenig einen Widerspruch gibt. Denn wenn beide Gesprächspartner nur Seiendes sagen können, sagen sie entweder dasselbe über dasselbe oder sie sa‐ gen Verschiedenes über Verschiedenes. In beiden Fällen liegt kein Widerspruch vor. Hier wird schon deutlicher sichtbar, worauf das Ganze zielt: auf die Zerstörung des Wahrheitskriteriums, das der eigenen Willkür Grenzen setzen könnte. Die nächste Stufe besteht in dem Nachweis des eigenen All-Wissens: Wenn man zugleich wissend und unwissend wäre, wäre man, was man ist, und man wäre es auch wieder nicht. Da das nicht sein kann, weiß man, wenn man etwas weiß, alles. Aus diesem Grund kann man auch über alles reden, und damit ist tatsächlich das so‐ phistische Selbstverständnis beschrieben:49 Die Kriterien für Wahrheit und Lüge sind aufgehoben, Widersprüche gibt es nicht, und da man auf diese Weise von allen Restriktionen befreit ist, kann man sich schlechterdings über jeden Gegenstand äu‐ ßern. Als Sokrates den Spieß umzukehren und die Sophisten mit ihren eigenen Waf‐ fen zu schlagen versucht, weichen sie auf immer verrücktere Schein-Syllogismen aus. Sie weisen nach, dass der Vater eines der Anwesenden der Vater von allem ist, also auch der der Stinte, jungen Hunde und Ferkel, sie zeigen, dass der, der schweigt, es auch für die Redenden tut, sie leiten aus der Tätigkeit des Kochs ab, dass es ihm zukommt, geschlachtet und gebraten zu werden, und sie erklären Sokra‐ tes zum Besitzer der Götter und insofern für befugt, diese zu verkaufen, zu verschen‐ ken oder hinzumetzeln. Im Euthydemos ist die Eristik also auf die Spitze getrieben, und die Zuhörer amü‐ sieren sich entweder prächtig oder geraten immer mehr in Wut. Letzteres hat durch‐ aus ebenfalls etwas Komisches an sich, aber eine ernste Note hat der Dialog letztlich doch. Das von den Sophisten vorgeführte Spiel mit dem Wechsel des Bezugspunkts, mit grammatischen Doppeldeutigkeiten, mit der Aufhebung des Satzes vom Wider‐ spruch ist, wie im Dialog mehrfach betont wird, schnell zu erlernen50 und vielseitig zu verwenden. Derartige Rabulistik hat in der politischen Arena, nicht zuletzt aber auch vor Gericht ihre Wirkung. Ihr möglicher äußerer Erfolg kann jedoch weiterge‐ hende innere Konsequenzen haben, nämlich die Bemühung um Erkenntnis, Wahrheit und den sachgemäßen Gebrauch des Wissens als überflüssig oder sogar abträglich erscheinen zu lassen, weil es deutlich weniger von äußerem Erfolg gekrönt ist. Da‐ rauf verweist Sokrates als Konterpart in diesem Dialog, und darauf verweist auch sein Schicksal vor Gericht: Mit seinen philosophischen Mitteln gelang es ihm nicht, die Richter von der Unrechtmäßigkeit der Anklage gegen ihn zu überzeugen.
49 Euthydemos 294 a, b. Die praktische Seite dieses Anspruchs auf Allkompetenz führte anschei‐ nend Hippias vor, der nach antiken Zeugnissen nicht nur mit selbstverfassten Reden und Ge‐ dichten, sondern auch mit selbstgefertigten Kleidungsstücken auftrat. (Stenzel 1961, S. 51). 50 Euthydemos 272b, 304 c.
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4. Macht oder Recht: Was ist stärker? Angesichts der Flexibilität der sophistischen Standpunkte kann man sich vorstellen, dass Positionen je nach Gelegenheit bezogen wurden. Das fand sicherlich auch statt, doch ebenso hatten einige Sophisten zu bestimmten Fragen recht eindeutige Mei‐ nungen. Eine ganz wesentliche Frage, die damals diskutiert wurde, betraf die Her‐ kunft des Rechts – beruht es auf Konvention oder besteht es von Natur?51 Dieser Nomos-Physis-Gegensatz findet sich in den platonischen Dialogen wieder, und je nachdem, für welche Seite plädiert wird, ergeben sich daraus gravierende politische Konsequenzen. Dass das Recht auf eine Übereinkunft der Menschen untereinander zurückzufüh‐ ren ist, hatte Protagoras mit seinem Mythos nahegelegt. Denn wenn es auch Zeus ist, der den Menschen „Scham und Recht“ überbringen lässt, wird das Regelsystem doch erst dadurch geschaffen, dass die Menschen es akzeptieren und sich damit ge‐ genseitig binden. Die Grundlage des Rechts ist die Reziprozität. In der Politeia nimmt Platon diesen Vertragsgedanken in der Person des sokratischen Dialogpart‐ ners Kephalos auf, der Gerechtigkeit als „Wiedergeben, was man empfangen hat“ definiert.52 Und im 2. Buch der Politeia ist ganz ausdrücklich vom Vertrag die Re‐ de,53 als es darum geht zu erklären, wie Menschen dazu kommen, sich einer Rechts‐ ordnung zu unterstellen. Was ist in diesem Vertragsgedanken impliziert? Der Vertrag setzt die Gleichheit der Vertragspartner voraus, und er führt die Festlegung des Rechts auf einen Wil‐ lensakt der Menschen zurück. Sie bestimmen, welchen Inhalt das Recht hat, und sie entscheiden auch über seine Geltung. In diesem Rechtsverständnis spiegelt sich also die Selbstermächtigung des Menschen wider, die Protagoras mit seinem homo men‐ sura-Satz („Der Mensch ist das Maß aller Dinge“) schon auf erkenntnistheoretischer Ebene behauptet hatte.54 Wenn jeder selbst der Maßstab des Guten und Gerechten ist, kann eine Verbindlichkeit dieses Maßstabs über den Einzelnen hinaus nur durch einen Konsens begründet werden. Ein Oktroi widerspräche dem Gleichheitsprinzip, das in der gleichen Urteilsfähigkeit aller begründet ist. So wirkt die Protagoräische Vertragstheorie zunächst einmal demokratisch. Gegen diesen „Nomos“-Ansatz treten nun in der Politeia der Sophist Thrasyma‐ chos, im Gorgias der Sophist Kallikles an und machen dagegen den „Physis“-Ansatz
51 52 53 54
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Vgl. dazu Heinimann 1945. Politeia I, 331 c. Politeia II, 359 a. So auch Schmitz 1988, S. 574 f. Seine weitergehende Schlussfolgerung, Platon sei in seiner Spätphilosophie der modifizierten Nomos-Position zuzurechnen, beruht m. E. aber auf einer problematischen Zusammenfügung einzelner platonischer Argumentationsstränge zu einer „Lehre“.
geltend.55 Danach gibt es ein Recht, das nicht auf menschlicher Setzung beruht, son‐ dern von der Natur vorgegeben ist: das Recht des Stärkeren. Die Natur gebietet, so Kallikles, dass der Bessere mehr hat als der Schlechtere. Und Thrasymachos defi‐ niert die Gerechtigkeit als das „dem Stärkeren Zuträgliche“.56 Nun behaupten die beiden Sophisten aber nicht nur ihren eigenen Standpunkt, sie entlarven vielmehr auch den der Gegenseite. Denn wer hat ein Interesse an einem Recht, das dem natür‐ lichen Recht des Stärkeren Einhalt gebietet? Wer setzt auf den Konsens, statt auf die Durchsetzung des Stärkeren? „Allein ich denke, die die Gesetze geben, das sind die Schwachen und der große Haufen. In Beziehung auf sich selbst also und auf das, was ihnen nutzt, bestimmen sie die Geset‐ ze sowie das Lobenswerte, das gelobt, und das Tadelnswerte, das getadelt werden soll; und um stärkere Menschen, welche mehr haben könnten, in Furcht zu halten, damit diese nicht mehr haben mögen als sie selbst, sagen sie, es sei hässlich und ungerecht, mehr ha‐ ben zu wollen, und das sei das Unrechttun, danach zu streben, mehr zu haben als die an‐ deren. Denn sie selbst, meine ich, sind ganz zufrieden, wenn sie das Gleiche bekommen, weil sie die Schlechteren sind.“57
Mit dieser Entlarvungspsychologie erklärt Gorgias den Nomos-Ansatz zur Ideologie der Schwachen: Wer unfähig zum Kampf um die Selbstdurchsetzung ist, sucht die Einigung mit seinesgleichen. So können die Schwachen die Stärkeren im Zaum hal‐ ten, weil nun alle den Regeln der Schwachen unterworfen sind. Der Trick dabei ist, das eigene Interesse als Ausdruck höherer Moral auszugeben: Weil sie mangels Durchsetzungsstärke nicht mehr haben können, als sie haben, geben die Schwachen vor, gar nicht mehr haben zu wollen, und setzen damit die Durchsetzungsstarken moralisch ins Unrecht.58 „Denn nicht aus Furcht, Ungerechtes zu tun, sondern zu lei‐ den, schmäht die Ungerechtigkeit, wer sie schmäht“,59 erklärt ergänzend Thrasyma‐ chos und gibt damit zu erkennen, dass er die höhere Moral des Vertragsschlusses ebenfalls für eine heuchlerische Verdeckung der tatsächlichen eigenen Interessen hält. In Wahrheit sähen sich die Schwachen gerne an der Stelle der Starken, tun aber so, als ob sie sie verachteten.60 Bisher sah es so aus, als wäre die Nomos-Position die der Demokraten, die Phy‐ sis-Position die der Tyrannen. Dieser Eindruck relativiert sich allerdings, als Thrasy‐ machos seinen Ansatz empirisch zu belegen versucht. Denn das Recht des Stärkeren sieht er in allen Staaten am Werk, also auch den demokratischen, weil es immer der
55 Zu deren Machttheorien vgl. den Artikel von Heimann in diesem Band, zur Theorie des Thra‐ symachos noch ausführlicher Heimann 2015. 56 Gorgias 483 d, Politeia 338 c. 57 Gorgias 483 b, c. 58 Die Ähnlichkeit dieses Gedankengangs mit der Argumentation, die Nietzsche in der „Genealo‐ gie der Moral“ entwickelt, ist unübersehbar. Vgl. dazu den Artikel von Kast in diesem Band. 59 Politeia I, 344 c. 60 Zum Zusammenhang zwischen Vertrag und Naturgesetz in Politeia I vgl. Zehnpfennig 2008.
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Stärkere ist, der dem Schwächeren die Regeln diktiert. Im Fall der Demokratie ist das eben die Mehrheit, die die Minderheit unterdrückt. Insofern bildet die politische Hierarchie die natürliche ab. Unterstellt ist dabei natürlich, dass Herrschaft immer zugunsten der Herrschenden, also zum Nachteil der Beherrschten erfolgt. Wenn das aber so ist, dann herrscht tatsächlich überall das Naturgesetz. Insofern bestätigt die Theorie, das Gesetz beruhe auf Übereinkunft, faktisch den Naturrechts‐ standpunkt, weil die vertragliche Einigung der Domestizierung der Starken und in‐ sofern dem Machtwillen der Schwachen dient. Allerdings liegt in dieser Zügelung, die doch Ausdruck des Naturgesetzes ist, in den Augen von Kallikles und Thrasyma‐ chos zugleich seine Perversion. Denn die Schwachen erschleichen sich die Macht durch Zusammenrottung, durch das bloße Gewicht ihrer Zahl. Diese Beurteilung ist jedoch logisch nicht konsistent, wie Sokrates Kallikles nachweist: Man kann nicht einerseits das Recht des Stärkeren propagieren, das ganz wertfrei nur die quantitative Überlegenheit misst, und dann andererseits unter der Hand doch wieder einen qualitativen Maßstab dafür einführen, wann diese Herr‐ schaft unrechtmäßig ist. Warum soll der Machtwille der Vielen weniger legitim sein als der der Wenigen?61 Wer die Stärke für den entscheidenden Maßstab des Politi‐ schen hält, muss sie in jeder Form akzeptieren, selbst wenn sie sich aus der Summie‐ rung von Schwäche ergibt. In der platonischen Auseinandersetzung mit den beiden politischen Paradigmen Macht und (Vertrags-)Recht offenbaren sich also die Defizite beider; sie widerlegen einander, aber auch sich selbst. Bei der Physis-Position wurde das eben ausgeführt, bei der Nomos-Position zeigt das Sokrates in der Widerlegung des Kephalos: Den Vertrag zu erfüllen, „wiederzugeben, was man empfangen hat“, ist nicht in jedem Fall gerecht – dann nicht, wenn die Vertragserfüllung einem anderen schadet.62 Denn das ist offensichtlich: Kein Konsens hat den Maßstab des Richtigen schon in sich. Menschen können sich auf alles Mögliche einigen und bspw. auch Verträge zu‐ ungunsten Dritter schließen. Von daher scheint an beiden sophistischen Positionen, der Machttheorie und der Vertragstheorie, wieder jener Mangel auf, den Platon den Sophisten stets vorhält: Was das Gute ist, das durch Stärke oder Einverständnis er‐ reicht werden soll, bleibt die große Leerstelle.
5. Was ist nun der Sophist? Den Sophisten in seinem Kern zu erfassen, fällt schwer – so vielgestaltig erscheint er, so unterschiedlich sind seine Themen und seine Positionen, so wenig greifbar ist er in seiner Wendungs-reichen Argumentation. Dieses Fazit legt Platon in seiner 61 488 b – 489 b. 62 Politeia I, 331 c, d.
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Darstellung der Sophisten nahe, und der ihnen ausdrücklich gewidmete Dialog So‐ phistes kommt dann auch zu sehr merkwürdigen Bestimmungen des schillernden Phänomens. Ein unbekannter Fremder,63 nicht Sokrates, versucht den Sophisten „einzufangen“ und charakterisiert ihn wenig schmeichelhaft als Händler mit Kennt‐ nissen, Jäger reicher Jünglinge, Kunstfechter im Streitgespräch und Ähnliches mehr.64 Was aber ist das Gemeinsame? In allen Erscheinungsformen des Sophisten erkennt der Fremde die Wirkung des Scheins; der Sophist erweckt den Schein des Allwissens, ohne in irgendetwas Fachmann zu sein. Aber gibt es neben Sein und Nicht-Sein noch eine dritte Kategorie? Was ist denn das Sein des Scheins? Nach langwierigen Untersuchungen kommt man zu dem Ergebnis, dass das, was sich von etwas unterscheidet, dieses nicht ist, ohne deshalb überhaupt nicht zu sein. Es ist nur etwas anderes, und in der Verwechslung von etwas mit etwas anderem liegt dann auch die von den Sophisten geleugnete Möglichkeit des Irrtums, der Lüge usw. Die abschließende Bestimmung des Sophisten als Scheinkünstler ist dann aber so verwi‐ ckelt und begrifflich so verquast,65 dass der Kommentar des Zuhörers: „Auf alle Weise gewiss“ wohl nur als ironisch gebrochene Spiegelung dieses mäßig gelunge‐ nen Versuchs, den Sophisten zu bestimmen, verstanden werden kann. Doch wie soll man den Schein auch angemessen erfassen, da er sich dem rationalen Zugriff immer wieder entzieht? Was als Gesamteindruck aus den platonischen Dialogen bleibt, ist, dass die So‐ phistik ihre Wirkung vielleicht tatsächlich aus der theoretischen Überhöhung des Alltagsdenkens bezieht. Sie greift alle Themen auf, die die Menschen bewegen, sie unterstellt bei sich dieselbe Urteilsfähigkeit, von der im Grunde jeder ausgeht, sie systematisiert die Techniken, mit denen man sich im Gespräch und im Leben durch‐ zusetzen versucht, sie bezieht die politischen Positionen, die bis heute den Mei‐ nungskampf bestimmen. Deshalb ist die Sophistik auch kein geschichtlich entferntes Phänomen, sondern sie ist uns Heutigen sehr nah. Gilt das ebenso für die sokratische Kritik? Wenn sie berechtigt ist, zweifellos. Und ob sie berechtigt ist, zeigt sich an einem Punkt: Wer die Logik auf seiner Seite hat, kann auf einen Maßstab verweisen, der jenseits bloßer Meinung und subjektiver Werturteile liegt.
63 Dieser Fremde kommt aus Elea und ist offenbar ein Parmenides-Schüler. Von daher ist er wohl von der Sein – Nicht-Sein Dichotomie des Parmenideischen Denkens geprägt und tut sich schwer mit der sophistischen Position, die ganz offenbar zwischen Sein und Nicht-Sein ange‐ siedelt ist. 64 Sophistes 221 d-231 c (Platon 1977, Bd. 6). 65 Sophistes 268 c, d.
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Viktoria Bachmann Sophistische Anthropologie am Beispiel des Protagoras
Protagoras’ berühmter Satz, der Mensch sei das Maß aller Dinge, bringt die von den Sophisten akzentuierte Hinwendung zum Menschen auf den Begriff und kann des‐ halb als gemeinsame Leitthese der Sophistik auffasst werden1. Obwohl die politi‐ schen Positionen der Sophisten teilweise stark differieren, lässt sich doch das Ausge‐ hen vom Menschen als erkenntnistheoretische Neuerung dieser Denkströmung fest‐ halten. In den vorhergehenden Denktraditionen (mythisch-religiöse Dichtung und vorsokratische Naturphilosophie) hatte der Mensch eine gänzlich andere Stellung in‐ ne. Im Mythos werden die Menschen stets von den Göttern her gedacht, die in jegli‐ cher Hinsicht als Maß fungieren2. Die Vorsokratiker interessieren sich in erster Linie für metaphysische Fragen des Seins, so dass der Mensch für sie keinen Forschungs‐ gegenstand im eigentlichen Sinne darstellt3. Diese beiden Traditionen bilden den geistigen Hintergrund, vor dem die Sophistik entsteht. Bevor hier das protagoreische Verständnis des Menschen selbst untersucht wird, soll deshalb im ersten Schritt die Stellung des Menschen in dem Denken vor der Sophistik kurz umrissen werden. Im zweiten Schritt soll das Verständnis des Menschen bei Protagoras aus den platonischen Dialogen herausgearbeitet werden, da das platonische Werk unsere wichtigste Quelle für das protagoreische Werk dar‐ stellt4. Hierbei lege ich die Auseinandersetzung mit dem Homo-Mensura-Satz im Theaitetos als Hauptquelle zugrunde. Im dritten und letzten Schritt soll die Frage ge‐ stellt werden, was das spezifisch Sophistische an dem Menschenbild des Protagoras ist.
1 Vgl. Landmann 1962, S. 29–46; Buchheim 1986, S. 43; Kerferd/Flashar 1998, S. 3–9; Nerczuk 2010, S. 69–98; Dalfen 2006, S. 421. 2 Vgl. Fröhlich 2017, S. 208–216. 3 Vgl. Buchheim 2010, S. 31–68. 4 Vgl. Kerferd/Flashar 1998, S. 7; Nerczuk 2010, S. 70f. Notomi hat die Quellenlage zum Sophis‐ ten Protagoras aufgearbeitet und weitere 330 Testimonien festgestellt. Platon bleibt aber die Re‐ ferenzquelle. Notomi bemüht sich darum, Platons Äußerungen zu prüfen. Er stellt fest, dass die anderen Quellen den platonischen Darstellungen nicht widersprechen, ihre Aussagen zu Prot‐ agoras aber weniger klar sind (vgl. Notomi 2013, S. 11–36).
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1. Anthropologie vor der Sophistik: der Mensch unter dem Maß der Götter oder des Seins a) Der Mensch aus mythisch-religiöser Sicht Das dominante Motiv in der mythisch-religiösen Dichtung von Homer, Hesiod5, Pindar6 u.a. ist die gleichzeitige Ähnlichkeit und Verschiedenheit von Göttern und Menschen. Deshalb kann die vorherrschende implizite Anthropologie als eine Diffe‐ renzanthropologie bezeichnet werden. Die sehr anthropomorph gezeichneten Götter unterscheiden sich insgesamt nicht qualitativ von den Menschen, sondern nur quantitativ durch die Steigerung dersel‐ ben Vermögen bis zur Vollkommenheit7. Das wesentliche Merkmal des Menschen im Vergleich mit den Göttern ist deshalb seine Begrenztheit8. In diesem Zusammen‐ hang sind sowohl die physische Sterblichkeit des Menschen gemeint als auch die Grenzen seines Erkenntnisvermögens. Die Menschen teilen mit den Göttern außer‐ dem die Vorstellung eines glücklichen Lebens als Besitz und Genuss bestimmter Gü‐ ter. Auch hier unterscheiden sich Götter und Menschen nur hinsichtlich der Dauer‐ haftigkeit des Besitzes der Glücksgüter. Menschen können ihr Glück durch bspw. Schicksalsschläge (s. Ödipus), göttliche Strafen (s. Büchse der Pandora) oder ein‐ fach den Tod verlieren. Ein zentraler, ethischer Topos der Dichtung ist in diesem Zu‐ sammenhang der richtige Umgang mit Gütern, Menschen und Göttern und die Ver‐ antwortlichkeit des Menschen für sein Handeln9. Bei Homer ist das Leben der Menschen und Götter von Kämpfen und Streitigkei‐ ten bestimmt. Die Welt selbst besteht aus Gegensätzen. „Solche Gegensatzpaare sind: Erde – Meer, Tag – Nacht, Alter – Jugend, Götter – Men‐ schen, Worte – Taten, Hochzeit – Streit u.ä. Wollte man Homers poetische Ontologie auf eine Formel bringen, so ließe sich sagen: Die Welt existiert als Streit“10.
Bei Hesiod wird die Differenzanthropologie noch um eine Abgrenzung des Men‐ schen vom Tier erweitert. Vom Tier unterscheidet den Menschen dabei die Fähig‐
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Vgl. Hesiod: „Wie aus gleicher Geburt geworden sind Götter und Menschen“ (Werke und Ta‐ ge, 108). 6 Vgl. Pindar: „Eins ist der Menschen – ein andres der Götter Geschlecht. Aber von Einer Mut‐ ter haben den Odem wir beide. Es trennt nur die ganz verschiedene Kraft: Das eine ist nichts – der eherne Himmel aber dauert, ein unerschütterter Sitz, in Ewigkeit. Aber dennoch kommen in etwas wir, an großem Sinn oder Natur, den Unsterblichen nahe, ob wir gleich nicht wissen das Ziel des Tages, oder zu welchem Schicksal nach den Nächten uns zu laufen bestimmt ist“ (6. Nemeische Ode, 1–7). 7 Vgl. Fröhlich 2017, S. 209. 8 Vgl. Buchheim 2010; Pleger 2013, S. 17–34. 9 Vgl. Dalfen 1974. 10 Pleger 2013, S. 19.
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keit, sich nach Recht und Gesetz zu richten11. Recht und Gesetz schenken den Men‐ schen die Götter und ermöglichen damit einen Ausweg aus dem Streit. Bei Pindar scheint diese Fähigkeit in einer Ethik des Maßes zu gefasst zu sein, die den Men‐ schen vor Hybris bewahren und ihm damit ein glückliches Leben in der Gunst der Götter ermöglichen soll. Der Mensch hat demnach die Freiheit, sich dem göttlichen Gesetz gemäß oder entgegen zu verhalten. Wenn der Mensch auf die Orientierung an dem göttlichen Gesetz verzichtet und sich damit über die Götter stellt, verfällt er der vielfach kritisierten Hybris, die mit Unglück bestraft wird12. Insgesamt kann man davon sprechen, dass die Lage des Menschen in der my‐ thisch-religiösen Sicht von drei Elementen geprägt ist. Erstens ist der Mensch gottähnlich, d.h. er besitzt vielfältige großartige Fähigkeiten, die er nach Belieben zu seinem Glück einsetzen will und kann. Zweitens ist der Mensch nicht gottgleich, d.h. seinen Fähigkeiten sind grundsätzliche Grenzen gesetzt wie bspw. Sterblichkeit und Unkenntnis der Zukunft. Diese Begrenzungen erfordern einen bedachten Ein‐ satz der Fähigkeiten, der dem eigenen Wohlergehen nicht schadet. Das dritte, zwi‐ schen den ersten beiden vermittelnde Element ist das göttliche Gesetz, das als Maß und Richtschnur des Umgangs mit sich und anderen verstanden wird. Es ist kritisch anzumerken, dass die anthropomorphe Göttervorstellung eine gelingende Orientie‐ rung erschwert. Da die homerischen Götter bspw. ebenso menschlich miteinander umgehen, indem sie Ränke gegeneinander schmieden oder andere zu Ehebruch ver‐ leiten u.ä., kann ein Maß des richtigen Verhaltens nicht unmittelbar aus der mythi‐ schen Götterdarstellung entnommen werden13. Das göttliche Maß kann nicht durch Nachahmung angeeignet werden. Die ethische Aufforderung zur Selbsterkenntnis (γνῶθι σαυτόν), wie sie in der delphischen Tradition praktiziert wurde, scheint hier einen Umweg über den Menschen selbst einzuschlagen. Die geforderte Selbster‐ kenntnis soll die menschliche Tendenz zur Selbstüberhöhung begrenzen und ihm da‐ durch erst die Möglichkeit zur Entfaltung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten
11 Vgl. Hesiod: „Höre du jetzt auf das Recht und schlag die Gewalt aus dem Sinn dir! Denn ein solches Gesetz erteilt den Menschen Kronion: Fische zwar sollten und wildes Getier und gefie‐ derte Vögel fressen einer den andern, weil unter ihnen keinen Recht ist. Aber den Menschen gab er das Recht bei weitem als bestes Gut“ (Werke und Tage, 273–279). 12 Vgl. Fröhlich 2017, S. 74–88. 13 Diese Schwierigkeiten wurden schon in der Antike kritisiert. Vgl. Xenophanes „Aber die Men‐ schen meinen, Götter würden geboren, und hätten Kleidung, Stimme und Körper wie sie selbst. Doch wenn Ochsen oder Löwen Hände hätten, so dass sie mit den Händen malen und Bildwerke herstellen könnten wie eben Menschen, dann würden Pferde pferdeähnlich und Ochsen ochsenähnliche die Gestalten der Götter malen und solche Körper bilden, wie sie gera‐ de jeweils selbst die Gestalt hätten“ (DK 21 B14,15). Außerdem Sokrates’ bzw. Platons philo‐ sophische Auseinandersetzung mit dem verbreiteten Götterverständnis seiner Zeit im Euthy‐ phron und in der Politeia (II, 377d – III, 392a) oder die eher komödiantische Auseinander‐ setzung von Aristophanes in den Wolken.
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eröffnen14. Damit führt diese von den Göttern her denkende Tradition schließlich zu einer Notwendigkeit für den Menschen, auch über sich selbst nachzudenken.
b) Der Mensch aus naturphilosophischer Sicht Nicht der Mensch oder die Götter, sondern das Ganze der Natur, der Kosmos, und seine Ursache, die Arché, beschäftigen die Vorsokratiker wie bspw. Heraklit, Par‐ menides, Demokrit oder Anaxagoras. Im Kosmos ist der Mensch aber nur ein Faktor unter vielen, so dass aus naturphilosophischer Perspektive das Verständnis des Men‐ schen nur ein Aspekt des Seinsverständnisses zu sein scheint15. Die naturphilosophi‐ sche Denktradition scheint sich als Gegenentwurf zu einer religiösen Weltdeutung zu entwickeln. Laut Buchheim lässt sich allerdings aus dem mythologischen Umfeld ein anthropologisches Problem herausarbeiten, das nicht eine ethische Lösung, wie die delphische, erfordert, sondern eine kosmologisch-naturphilosophische: „Dass der Mensch – obwohl aus einem Nichts-von-ihm entstanden und in ein Nichtsvon-ihm vergehend – dennoch an das Göttliche und Allbeherrschende heranreicht und ihm verbunden ist, kann als das anthropologische Grundproblem der vorsokratischen Philosophie bezeichnet werden“16. „Wie also lässt sich, wenn das All voll von unsterbli‐ chen und unvergänglichen Göttern und Prinzipien ist, ein Ursprung angeben für den we‐ sentlich sterblichen Menschen?“17
Dieses anthropologische Problem lässt sich in ein naturphilosophisches umformulie‐ ren, wenn man die sterblichen Menschen als Repräsentanten des Werdens und die unsterblichen Götter als Repräsentanten des Seins auffasst. Dann lässt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Göttern und Menschen verstehen als eine Frage nach dem Zusammenhang von Sein und Werden und damit als eine Suche nach dem einen Grund der vielen alltäglichen Erscheinungen. Diese Stoßrichtung des Denkens wird üblicherweise als die Suche nach der Ar‐ ché, d.h. nach der einen universellen Ursache, bezeichnet18. Die darin enthaltene Neuerung besteht zum einen in einer Abkehr von mythischen Erklärungen des Welt‐ geschehens, wie sie in den homerischen Epen überliefert sind19, hin zu physischen Erklärungen. Die zweite Neuerung gegenüber den Erklärungsversuchen, bei denen viele verschiedene Götter für die jeweiligen Vorgänge in der Welt verantwortlich waren, ist die Fokussierung auf eine Ursache, die alles erklärt. Auf diese Weise ver‐ ändert sich allerdings nicht nur das Weltbild. Auch die Stellung des Menschen in der 14 15 16 17 18 19
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Vgl. Fröhlich 2017, S. 214–216. Vgl. Landmann 1962, S. 10 – 18. Buchheim 2010, S. 33. Buchheim 2010, S. 38. Vgl. Hirschberger 1980, S. 17–51. Vgl. Rechenauer 2005, S. 9–18.
Welt und seine Möglichkeiten zur Einflussnahme auf das Weltgeschehen müssen neu gedacht werden. Denn insofern die Ursache eine ist, ist auch der Mensch in sei‐ nem Sein durch diese Ursache bestimmt20. Wenn die Ursache dabei physisch ver‐ standen wird (bspw. als Luft, Wasser oder Feuer), dann kann der Mensch auf ihr Wirken zunächst keinen Einfluss nehmen (bspw. durch Gebet und Opfer), sondern ist von ihr durchgehend beherrscht21. Eine große Schwierigkeit für eine Auseinandersetzung mit dem Denken der Vor‐ sokratiker stellt die fragmentarische und vermittelte Überlieferungslage dar. Da wir eigentlich keine Quellen haben, die uns die Texte der Vorsokratiker direkt überlie‐ fern, sind wir auf spätere Kompendien und Zitate in den Werken anderer Philoso‐ phen angewiesen. Wie so oft sind Platon und Aristoteles die beiden ältesten Quel‐ len22. In Platons Phaidon fasst Sokrates die in seiner Jugend aktuellen naturphiloso‐ phischen Erklärungen der Entstehung von Lebewesen und des menschlichen Den‐ kens kritisch zusammen23. An späterer Stelle im Phaidon folgt eine Auseinander‐ setzung mit der Nous-Lehre des Anaxagoras24 und im Dialog Parmenides mit der Lehre desselben. Aristoteles stellt u.a. in der Metaphysik (I, 3–5) das Denken seiner Vorgänger kritisch dar und kategorisiert es zugleich. Nach aristotelischer Kategorisierung stellen die Naturphilosophen anfänglich rein stoffliche Ursachen von Sein und Werden vor, wie Wasser oder Luft25. Nach fort‐ schreitender Forschung werden allerdings die Prinzipien, die die konkrete Anord‐ nung des Stoffes erklären, selbst betrachtet und damit die rein physische Betrach‐ tungsweise überschritten26. Zentral scheint hierbei die Notwendigkeit, die jeweils sehr konkrete Ursache, wie bspw. das Feuer oder die Luft, mit der faktisch wahr‐ nehmbaren vielfältigen Wirklichkeit zu vereinbaren. Im Verlauf dieser vertieften Forschung konzipieren die Vorsokratiker Sein, Werden und deren Ursache nicht mehr bloß stofflich-mechanisch, sondern ähnlich anthropomorph wie schon die Dichter die Götter: Anaximander versteht das Werden und Vergehen als eine Art
20 Ein Beispiel für die physikalische Sicht auf den Menschen stellt die Psychologie Heraklits dar, vgl. Buchheim 2005, S. 174–202; oder Betegh 2007, S. 3–32. Betegh zeichnet anhand verschie‐ dener Fragmente nach, wie die menschliche Seele als „exhalation“ (ἀναθυμίασιας – Buchheim übersetzt es mit „Aufsteigung“) aus Wasser und Erde durch Feuer verstanden wird. Die Seele sei als solche eine Phase in einem großen physischen Kreislauf (vgl. Betegh 2007, S. 18–27). Die Aufsteigung weist Buchheim außerdem als Prinzip der Bildung des Kosmos und als ei‐ gentlichen Kern der Flusslehre Heraklits nach (vgl. Buchheim 2005, S. 201). 21 Die verstärkte Entwicklung der technischen Künste kann vor diesem Hintergrund als eine Re‐ aktion auf das Ohnmachtserlebnis des Menschen in einer durch elementare Kräfte beherrschten Welt gedeutet werden. Die technischen Künste wären dann ein Ausdruck des Bestrebens, den Einfluss auf die Welt und das eigene Leben wiederzuerlangen. 22 Vgl. zur Diskussion der Quellenlage: Kirk/Raven/Schofield 1994, S. 3–7; Rapp 1997, S. 22–26. 23 Vgl. Platon Phaidon 96a-97b. 24 Vgl. Platon Phaidon 97b-99c. 25 Vgl. Aristoteles Metaphysik I, 983b-984a. 26 Vgl. Aristoteles Metaphysik I, 984a-985b.
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Vergeltung von Ungerechtigkeit27; bei Empedokles sind Liebe und Hass die Ursa‐ chen28; Heraklit bestimmt – neben dem Feuer – den Krieg zum ordnenden Prinzip29; Anaxagoras den Nous oder die Vernunft30; bei Parmenides31 ist das Sein eins mit dem Denken u.ä.m. Die genannten Beispiele illustrieren, dass hier die Vorgänge in der Natur in genu‐ in menschlichen Kategorien beschrieben werden. Die Naturvorgänge können auf diese Weise allerdings nur verstanden werden, wenn die entsprechenden Phänomene Krieg, Liebe, Denken etc. in ihrem eigentlichen Umfeld und d.h. in Zusammenleben der Menschen verstanden sind. Erst im Anschluss daran kann die Übertragung sol‐ cher Begriffe in den Bereich der Natur durch Strukturanalogien etwas aufhellen. An‐ derenfalls werden nur die unreflektierten Alltagsvorurteile in die Natur hineinproji‐ ziert. Obwohl also die Vorsokratiker über den Kosmos nachdenken und bei dem nichtmenschlichen Sein beginnen, greifen sie bei der Theoriebildung auf ein implizi‐ tes Verständnis des menschlichen Seins zurück, das selbst unreflektiert bleibt. Die naturphilosophischen Seinserklärungen beruhen damit auf ungeklärten Vorausset‐ zungen und beziehen ihre Erklärungskraft aus tendenziell uneinheitlich verwendeten Alltagsbegriffen. Der Mensch wird implizit zum Maß des Seins, so dass eine Selbst‐ reflexion des Menschen aus methodologischen Gründen notwendig wird.
c) Anknüpfungspunkte für die Sophistik Sowohl in der mythisch-religiösen Dichtung als auch in der Naturphilosophie lässt sich eine gewisse Notwendigkeit, den Menschen ins Zentrum des Nachdenkens zu 27 Vgl. Anaximander: „Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das grenzen‐ los-Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung“ (DK 12 B1). 28 Vgl. Empedokles: „Ein Doppeltes will ich verkünden. Bald wächst nämlich Eines zu alleini‐ gem Sein aus Mehrerem heran, bald scheidet es sich auch wieder, Mehreres aus Einem zu sein. Doppelt der sterblichen Dinge Entstehung, doppelt auch ihre Abnahme. Denn die eine zeugt und zerstört die Vereinigung aller Stoffe, die andere, eben herangewachsen, fliegt wieder aus‐ einander, wenn sie sich wieder trennen. Und dieser beständige Tauschwechsel hört nimmer auf: bald vereinigt sich alles durch Liebe zu Einem, bald auch trennen sich wieder die einzel‐ nen Stoffe im Hasse des Streites“ (DK 31 B12). 29 Vgl. Heraklit: „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien“ (DK 22 B53). 30 Vgl. Anaxagoras: „[…] Denn er ist das feinste aller Dinge und das reinste und er besitzt von allem die Kenntnis und hat die größte Kraft. Und was nur Seele hat, die größten wie die kleine‐ ren Wesen, über alle hat der Geist die Herrschaft. Auch über die gesamte Umdrehung hat der Geist die Herrschaft angetreten, so dass er dieser Umdrehung den Anstoß gab. […] Und wie es werden sollte und wie es war, was jetzt nicht mehr ist, und alles was jetzt ist und wie es sein wird, alles ordnete der Geist an […]“ (DK 59 B12). 31 Vgl. Parmenides: „denn dasselbe ist Denken und Sein“ (DK 28 B3).
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rücken, feststellen. Die Gründe dafür sind durchaus unterschiedlich. Im Zusammen‐ hang der Dichtung erfordert die ethische Schwierigkeit des richtigen, nicht selbst‐ schädigenden Umgangs mit Möglichkeiten und Grenzen des Menschen eine Selbst‐ erkenntnis des Menschen. Im Zusammenhang der Naturphilosophie ist es die metho‐ dologische Schwierigkeit, genuin soziale Begriffe in kosmologische Zusammenhän‐ ge zu übertragen. Die sophistische Hinwendung zum Menschen erscheint vor die‐ sem Hintergrund als nahezu notwendig, mindestens aber als sinnvoll und nahe lie‐ gend. In dem programmatischen Homo-Mensura-Satz des Protagoras könnten beide Hinsichten vereinigt werden. Zum einen kennzeichnet die Einordnung des Men‐ schen als Maß funktional die weder in den Mythen noch in der Naturphilosophie ex‐ plizierte Stellung des Menschen. Denn das menschliche Selbstverständnis ist auch für diese Strömungen das vorausgesetzte Fundament des Nachdenkens über die Göt‐ ter oder die Natur. Zum anderen bietet diese Einordnung einen Ansatz für einen Um‐ gang mit den genannten Schwierigkeiten. Da der Mensch sowohl im ethischen als auch im epistemischen Sinne als Maß verstanden werden kann, lässt sich in dieser neuen Perspektive erstens untersuchen, auf welche Weise das menschliche Selbst‐ verständnis dem Nachdenken über andere Sachverhalte zugrunde liegt. Zweitens lässt sich dieses explizierte Selbstverständnis bei Bedarf selbst einer kritischen Re‐ flexion und Revision unterziehen.
2. Anthropologie bei Protagoras: der Mensch als Maß des Seins a) Forschungsstand und Quellenlage Trotz der greifbaren Kontinuität kann die Sophistik deutlich von Dichtung und Na‐ turphilosophie abgegrenzt werden. Bei allen Schwierigkeiten einer Charakterisie‐ rung der Sophistik als einheitliche Bewegung stellen Kerferd und Flashar mit Zeller folgende gemeinsamen Merkmale fest: „Der Gegenstand ihrer Beschäftigung war der Mensch, nicht die Natur, vor allem aber der Mensch in der Gesellschaft. Ihre Methoden waren eher empirisch und induktiv als deduktiv von ersten Grundsätzen ausgehend, und ihr Ziel war eher die Meisterung des Lebens als die Gewinnung von Erkenntnis um ihrer selbst willen“32.
In dieser Allgemeinheit bleibt allerdings undeutlich, was das Charakteristische des sophistischen Denkens ist und sie bspw. von dem späteren aristotelischen Vorhaben in der Nikomachischen Ethik unterscheidet. Denn schließlich beschäftigt sich Aristo‐ teles darin ebenfalls mit dem menschlichen Guten; dabei will er von den uns be‐ 32 Kerferd/Flashar 1998, S. 5.
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kannten, gesellschaftlichen Tatsachen ausgehen, mit dem Ziel tugendhaft zu werden und das Glück im Leben besser zu treffen33. Dieser Ähnlichkeit mit dem sophisti‐ schen Ansatz zum Trotz gilt Aristoteles als ein scharfer Kritiker der Sophisten, wo‐ bei er sich in besonderer Weise mit Protagoras und Gorgias auseinandersetzte34. Die‐ se beiden galten schon zu Lebzeiten als „Erzsophisten“ und Protagoras sogar als der erste Sophist schlechthin35. In Platons Dialog Protagoras wird Protagoras eingeführt als der erste Sophist, der sich auch als solcher bezeichnet36. Angesichts dieser histo‐ risch exponierten Stellung des Protagoras37 und seiner Urheberschaft der sophisti‐ schen Leitthese, der Mensch sei das Maß aller Dinge, erscheint es bei der Beschäfti‐ gung mit einer sophistischen Anthropologie als nahezu zwingend, das Denken die‐ ses Intellektuellen zu untersuchen. Eine direkte Erforschung des protagoreischen Denkens ist allerdings kaum möglich, da von ihm nur wenige zusammenhanglose Sätze und die Buchtitel überliefert sind38. Einer dieser dank Platon überlieferten Sätze ist der so genannte Homo-MensuraSatz (HMS): „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass (wie) sie sind, der nicht seienden, dass (wie) sie nicht sind“39,
der in der Forschung sehr kontrovers diskutiert wird40. Nahezu jedes Wort des Sat‐ zes stellt für sich eine Forschungsfrage dar: 1. Wer ist mit „Mensch“ gemeint: das Individuum oder die Gattung? 2. Welche „Dinge“ sind gemeint: empirische Tatsa‐ chen, Werte, Wesenheiten oder sinnliche Gegenstände? 3. Auf welche Weise ist der Mensch das Maß: als Erkenntniskriterium, als Herrscher oder als Sinn? 4. Welches „Sein“ der Dinge bemisst der Mensch: deren Existenz, deren Beschaffenheit oder
33 Vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik I. 34 Vgl. Emsbach 1980, S. 12f.; Buchheim 1986, S. 1–4; Kerferd/Flashar 1998, S. 7; Nerczuk 2010, S. 70f.. 35 Vgl. Notomi 2013, S. 11–19. 36 Vgl. Platon, Protagoras 316c-317c. 37 Vgl. zur Einordnung in das zeitgenössische Umfeld: Sinclair 1976, S. 67–126. 38 Vgl. DK 80 B1–12. „Von den zahlreichen Werken des Protagoras sind außer Titeln und einigen kurzen Hinweisen auf Inhalte nur fünf zusammenhanglose Sätze im originalen Wortlaut erhal‐ ten“ (Dalfen 2006, S. 413). 39 ῾πάντων χρημάτων μέτρον ἐστὶν ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν, τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν᾿ (DK 80 B1 oder Platon, Theaitetos 152a). 40 Vgl. Kerferd/Flashar 1998, S. 28–43. In dem Abschnitt „D. Lehre 1. Ontologie und Wahrneh‐ mungslehre“ (ebd. S. 32–38) findet sich eine Zusammenstellung der Diskussionen zur Ausle‐ gung nahezu jedes einzelnen Wortes des HMS. Wie darin sehr deutlich nachgezeichnet wird, vermischen sich hierbei philologische Übersetzungs- und Auslegungsfragen mit philosophi‐ schen Sachfragen. Aufgrund der schwierigen Quellenlage werden oftmals die eigenen philoso‐ phischen Positionen zur Vereindeutigung des Protagorassatzes herangezogen. Vgl. dazu: Nen‐ nen 2004, S. 17–35. Nennen thematisiert exemplarisch, wie sich in der jeweiligen Auslegung des HMS der Leser spiegelt und sich damit selbst zum Maß erhebt. Emsbach diskutiert eben‐ falls die Schwierigkeiten einer unvoreingenommenen Lektüre der protagoreischen Fragmente (vgl. Emsbach 1980, S. 12f.).
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deren Wahrheit? Über diese Deutungsfragen hinaus ist schon die deutsche Über‐ setzung und Formulierung selbst kontrovers41. Die Frage nach dem authentischen Verständnis des HMS so, wie der historische Protagoras ihn verstanden hat, gilt an‐ gesichts dieser schwierigen Quellenlage zwar als weitgehend unlösbar. Die zentrale Bedeutung des Satzes für die Sophistik fordert aber immer wieder zu Deutungsver‐ suchen42 heraus. Dalfen hat angesichts der fragmentarischen Überlieferung gefordert, in dem geis‐ tigen Umfeld des Protagoras nach möglichen Erklärungen des Gemeinten zu suchen. Aus dem zeitgenössischen Diskussionszusammenhang könne man eine authenti‐ schere Deutung entwickeln, als uns durch Platons Theaitetos suggeriert worden sei43. Aber auch darüber, wie die Darstellung im Theaitetos einzuschätzen ist, herrscht innerhalb der Forschung keine Einigkeit. Im Gegensatz zu Dalfens Urteil hält Emsbach die platonische Darstellung für durchaus authentisch, da Platon das so‐ phistische Wissen des Protagoras in Analogie zu dem praktischen Fachwissen be‐ trachte und damit die spezifisch praktische Ausrichtung des sophistischen Wissens verdeutliche44. Buchheim45 und Nerczuk sehen zudem gerade unter Berücksichti‐ gung des zeitgenössischen Diskussionsumfelds die Analysen Platons in bestimmten Teilen (sowohl die Verbindung zu Heraklits Flusslehre als auch die Problematisie‐ rung einer Weltbetrachtung, die alles Sein als bloße Erscheinung deutet) als stimmig an. An dieser Stelle soll die Frage, wie der historische Protagoras auf die gegenwärti‐ gen Forschungsfragen geantwortet hätte, nicht weiter verfolgt werden, da eine sol‐ che Auskunft aufgrund der skizzierten Quellenlage schwierig ist. Stattdessen will ich mich auf das sophistisch-protagoreische Menschenbild konzentrieren, wie es sich in platonischer Darstellung zeigt, um es für weitere Forschungsfragen zugäng‐ lich zu machen. Auch wenn gerade seine kritische Auseinandersetzung mit den So‐ phisten immer wieder als ein Argument gegen Platon als Quelle vorgebracht wird46, so ist doch Platon bzw. Sokrates derjenige Denker, der die Sophisten philosophisch 41 Vgl. Dalfen 2004, S. 1–16. Dalfen schlägt als alternative Formulierung, die dem griechischen Wortlaut, der Grammatik und der historischen Verwendung der Worte besser entspräche, vor: „Aller Dinge Maß ist Mensch, der seienden, dass und wie sie sind, der nicht seienden, dass und wie sie nicht sind“ (Dalfen 2006, S. 434). 42 Vgl. Zecha 2000, S. 19–39. Zecha stellt „spielerisch“ 54 rein kombinatorische Möglichkeiten einer zusammenhanglosen Auslegung des HMS dar und zeigt damit zugleich die Fruchtlosig‐ keit eines solchen Unterfangens. Zur ernsthaften Aktualisierung vgl.: Ophuijsen/Raalte/Stock 2013. 43 Vgl. Dalfen 2004, S. 2f..; Dalfen 2006, S. 413. 44 Vgl. Emsbach 1980, S. 19–22. 45 Vgl. Buchheim 1986, S. 55. 46 Diese Quellenkritik ist Teil einer alten Diskussion, in der sowohl engagierte Gegner wie Befür‐ worter Platons vertreten sind. Vgl. Natorps Auseinandersetzung mit Halbfass: Natorp 1989, S. 1–62. Neumann bringt im Anschluss an eine kritische Sichtung des Forschungsstandes als zusätzliches Argument für die Authentizität von Platons Darstellung der protagoreischen Lehre im Theaitetos vor, dass die Zeitgenossen Platons eine Verfälschung bemerkt hätten, da sie Prot‐
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sehr ernst genommen hat47. Diese Ernsthaftigkeit lässt sich an verschiedenen Punk‐ ten festmachen. Erstens stellen die platonischen Texte das sophistische Denken in einem systema‐ tischen Zusammenhang dar. Damit berücksichtigt Platon ganz ausdrücklich den Kontext der vorgebrachten Theorien48, wie Dalfen es von den heutigen Forschern einfordert. Platon geht damit sowohl über die bloße Wiedergabe von Einzelzitaten als auch über eine spekulative Auslegung von Einzelaussagen hinaus. Aufgrund sei‐ ner Darstellung in einem systematischen Zusammenhang wird außerdem eine Ausle‐ gung sophistischer Theoreme nach Maß des jeweiligen Interpreten erschwert49. Der Interpret wird stattdessen dazu herausgefordert, sich auf die Sachlogik der zeitgenös‐ sischen Diskussion einzulassen. Zweitens untersucht Sokrates in den platonischen Dialogen die verschiedenen sophistischen Theoreme sehr detailliert50, was dafür spricht, dass er darin bedeutsame Beiträge zur philosophischen Erkenntnissuche sieht, die in einer rationalen Analyse aufgeschlüsselt werden müssen. Für die philo‐ sophische Notwendigkeit einer intensiven Auseinandersetzung spricht drittens die Tatsache, dass die Sophisten in ihrer Zuwendung zum Menschen nicht nur implizite Voraussetzungen der Naturphilosophen explizieren, sondern auch das unartikulierte Alltagsdenken auf den Begriff bringen51. Damit machen sie dieses Denken der phi‐ losophischen Prüfung zugänglich, die Sokrates und Platon ins Zentrum des Philoso‐ phierens stellen52. Dazu müssen sie das sophistische Denken sehr ernst nehmen. Aufgrund ihrer systematischen Darstellung des sophistischen Denkens sind die pla‐ tonischen Texte also auch jenseits der Kritik eine hervorragende Quelle für eine phi‐ losophische Beschäftigung mit der antiken Sophistik.
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agoras’ Reden kannten. Eine solche Verfälschung wäre also damals diskutiert worden und hätte sich in der Tradition niedergeschlagen. Neumann deutet das Fehlen solcher Zeugnisse als einen Hinweis dafür, dass die platonische Deutung des HMS die anerkannte war (vgl. Neumann 1938, S. 368–379). Vgl. Zehnpfennig 2014. Im Theaitetos weist Sokrates bspw. ganz ausdrücklich darauf hin, dass Protagoras’ These über den Menschen (HMS) im Zusammenhang der ontologischen Theorien von Heraklit und Par‐ menides zu betrachten sei (vgl. 152d-e, 180c-181b). Auf die Relevanz dieser Denker für Prot‐ agoras’ These weisen gegenwärtig auch Buchheim 1986, 1994 und Emsbach 1980 hin. Im Protagoras, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wird der Anspruch des Sophisten, den Men‐ schen bessern zu können, in den Zusammenhang der zeitgenössischen Diskussion über die Lehrbarkeit der Tugend gestellt (vgl. 319a-320c). Gegenwärtig weist Nerczuk 2010 darauf hin, dass die Diskussion über die richtige Art der Bildung ein wichtiger Faktor bei der Entstehung der Sophistik war. Vgl. Nennen 2004 oder Kerferd/Fashar 1998. Vgl. die Untersuchung des HMS im Theaitetos 151e-186e; die Untersuchung des Satzes von der Unmöglichkeit oder Unnötigkeit der Wahrheitssuche im Menon 80d-86c; die Untersuchung der Lehrbarkeit der Tugend ebenfalls im Menon 86d-100b; Untersuchungen im Zusammen‐ hang der Nomos-Physis-Debatte im Gorgias 481b-506c oder Politeia I, 338c-354a; u.a.m.. Vgl. Buchheim 1986, S. VII-IX. Vgl. Platon, Apologie 38a; Phaidon 107b; Theaitetos 150b-c; Politeia VII, 531d-540c. Zur Be‐ deutung der Prüfung in der sokratisch-platonischen Philosophie außerdem: Fröhlich 2007; Bachmann 2013; Heimann 2015.
Diese Einbindung der sophistischen Theoreme in größere Diskussionszusammen‐ hänge stellt den Interpreten allerdings vor die methodische Schwierigkeit, innerhalb der Texte platonisches von sophistischem Gedankengut begründet unterscheiden zu müssen. Darüber hinaus gilt es festzustellen, welche Teile des sophistischen Gedan‐ kenguts tatsächlich so von uns bekannten Sophisten vertreten wurden und welche Teile eine platonische Weiterführung dieses Denkens sind. Schließlich noch schwie‐ riger ist es zu beurteilen, ob etwas, wenn es als eine platonische Weiterführung iden‐ tifiziert werden kann, eine angemessene oder eine böswillige Weiterführung dar‐ stellt. Die Identifizierung von originär sophistischen Theoremen kann erleichtert werden, indem auf ggf. vorhandene nichtplatonische Quellen verwiesen wird, was bei Protagoras problematisch ist. Die Frage nach der Angemessenheit argumentati‐ ver Weiterführung kann allerdings nicht durch Verweis auf andere Quellen beant‐ wortet werden. Die Angemessenheit kann nur immanent aus dem sachlogischen Zu‐ sammenhang heraus geprüft werden. Um eine solche Prüfung durchführen zu kön‐ nen, soll hier der argumentative Zusammenhang des für den HMS relevanten plato‐ nischen Dialogs Theaitetos nachvollzogen und diskutiert werden.
b) Das protagoreische Verständnis des Menschen Sokrates setzt sich in vielen platonischen Dialogen mit sophistischen Denkern und deren Theoremen auseinander. Dabei werden jeweils spezifische thematische Schwerpunkte gesetzt. Im Gorgias werden Nutzen und Gegenstand der Rhetorik in ihrer Funktion als übergeordnete politische Kunst untersucht; im Protagoras die grundsätzliche Notwendigkeit und Möglichkeit, die politisch-bürgerliche Kunst bzw. Tugend zu erlernen. In diesen beiden Dialogen werden also das sophistische Selbst‐ verständnis und der sophistische Anspruch dargestellt und geprüft. Im Gorgias wer‐ den im zweiten Teil außerdem das Verhältnis von Natur, Macht, Gesellschaft und Glück analysiert, ebenso in der Politeia II; im Theaitetos schließlich das Verhältnis des Menschen zu Sein und Wahrheit überhaupt u.a.m.. Die zweite Gruppe setzt sich damit kritisch mit den ethischen und epistemischen Grundlagen des sophistischen Selbstverständnisses auseinander. Protagoras’ programmatische These, der Mensch sei das Maß aller Dinge, wird von Sokrates im Theaitetos untersucht. Dieser Dialog hat die Form eines aporetischen Frühdialogs und verläuft grob in folgenden Schritten: Sokrates fragt den jungen Theaitetos nach seinem Verständnis der Erkenntnis, da ihm dieser von dem früheren Protagorasschüler und Mathemati‐ ker Theodoros als besonders begabt empfohlen wird (143c-146c). Theaitetos bringt vier Antworten zur Bestimmung der Erkenntnis vor und wird jedes Mal von Sokra‐ tes widerlegt. Als erstes zählt Theaitetos praktische und theoretische Künste auf, wie Schuhmacherei oder Mathematik, und setzt auf diese Weise verschiedene Beispiele
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einer Erkenntnis mit dem gemeinsamen Begriff gleich (146c-151d). Als zweites be‐ stimmt er Erkenntnis als Wahrnehmung, weil jeder Erkennende etwas wahrnehme, und hält damit eine notwendige Bedingung von Erkenntnis für die Sache selbst (151d-186e). Drittens bestimmt er Erkenntnis als richtige Vorstellung, ohne den Un‐ terschied zwischen richtiger und falscher Vorstellung erklären zu können (187a-201c). Im vierten und letzten Versuch bestimmt er Erkenntnis als richtige Vor‐ stellung mit Begründung, kann die nötige Begründung für seine Vorstellung aber nicht einbringen (201c-210b). Den Satz des Protagoras führt Sokrates im Zusammenhang mit der zweiten Be‐ stimmung der Erkenntnis als Wahrnehmung ein. Der Homo-Mensura-Satz wird da‐ mit erstens in einen Zusammenhang zu dem vorreflexiven Denken in Beispielen ge‐ stellt (146c-147c; 152a-c). Zweitens werden die für seine Gültigkeit notwendigen ontologisch-epistemischen Hintergrundannahmen entwickelt (152d-157d) und drit‐ tens seine Konsequenzen für den ethisch-politischen Bereich analysiert (166d-173c). Der zweite Teil steht in einem engen Zusammenhang mit der vorsokratischen Natur‐ philosophie. Der dritte Teil nimmt das in der mythisch-religiösen Dichtung themati‐ sierte Problem eines guten menschlichen Zusammenlebens wieder auf. Die drei Schritte stimmen durchaus mit der Charakterisierung der Sophistik durch Kerferd und Flashar zusammen, deshalb werde ich im Weiteren diese drei Teile des Dialogs auf das darin vorgeführte Verständnis des Menschen hin analysieren. Theaitetos’ erste Antwort auf die Frage, was Erkenntnis sei, ist eine reine Aufzäh‐ lung von Beispielen: „Ich glaube also, dass sowohl dasjenige, was jemand vom Theodoros lernen kann, Er‐ kenntnisse sind, die Messkunst nämlich und die anderen, welche du jetzt eben genannt hast, als auch auf der anderen Seite die Schuhmacherkunst und die Künste der übrigen Handwerker scheinen mir alle und jede nichts anders zu sein als Erkenntnis“ (146c-d).
Was leistet eine solche Antwort53 und für wen ist sie hilfreich? Zunächst zeigt die Aufzählung von Beispielen, dass Theaitetos davon ausgeht, dass es Erkenntnis tat‐ sächlich gibt. Allerdings erfährt derjenige, der nicht weiß, was Erkenntnis ist, durch die Beispiele nur, wovon es Erkenntnisse geben kann und wer Erkenntnisse hat, nicht aber, was Erkenntnis ist. Derjenige, der meint zu wissen, was Erkenntnis ist, kann darüber hinaus durch die Aufzählung an den eigenen impliziten Erkenntnisbe‐ griff erinnert werden. Die Schwierigkeit dieses Vorgehens besteht unter anderem da‐ rin, dass der Verweis auf Beispiele nicht zugleich den Hinweis enthält, welches Ele‐
53 Die Leistungsfähigkeit der ersten Antwort des Theaitetos durch Beispiele, die in der Literatur für gewöhnlich nur als Vorrede betrachtet und nicht als eigenständige Antwort gezählt wird, wird bspw. von Heitsch 1988, S. 24–27 oder Hardy 2001, S. 19–27 diskutiert. Hardy sieht die‐ se Antwort auf einer vortheoretischen Ebene als durchaus hinreichend an (vgl. ebd. S. 22) und deutet die sokratische Frage und weitere Untersuchung von dort her als eine Explikation des vortheoretischen Begriffs.
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ment des Beispiels den gemeinten Sachverhalt veranschaulichen soll. Deshalb kön‐ nen die Beispiele ganz verschiedene Verständnisweisen von Erkenntnis implizieren. So könnte die zweite Bestimmung der Erkenntnis als Wahrnehmung gemeint sein, da alle Künstler etwas wahrnehmen müssen. Aber auch die dritte Antwort, Er‐ kenntnis sei richtige Vorstellung, die die Schwierigkeiten der zweiten überwinden soll, könnte an den Bespielen verdeutlicht werden. Denn alle Künstler müssen bei der Kunstausübung ihren jeweiligen Sachgegenstand richtig vorstellen. Dass der Künstler ein Erkennender sein soll, erklärt also noch nicht, warum und wodurch er als solcher gelten kann. Jeder kann das Beispiel nach Maß der eigenen, impliziten Vormeinung auslegen und dann Theaitetos zustimmen, ohne dasselbe zu meinen. Eine solche grundlegendere Uneinigkeit bei vordergründiger Zustimmung fällt aller‐ dings ohne eine Explikation des unterstellten Erkenntnisbegriffs nicht auf. Das All‐ tägliche an dieser Antwort scheint genau diese Unterstellung zu sein, dass alle Betei‐ ligten wissen, was Erkenntnis ist. Da es von den jeweiligen Vormeinungen abhängt, ob jemand einen konkreten Einzelfall als ein Beispiel für Erkenntnis akzeptiert, kann man festhalten, dass in dieser Denkhaltung der jeweils Einzelne als Maßstab für die Beurteilung von Wirklichkeit fungiert. Mit der zweiten Antwort überschreitet Theaitetos den alltäglichen Umgang mit Begriffen, insofern er seinen vorher bloß angewandten Begriff expliziert: „Mir also scheint, wer etwas erkennt, dasjenige wahrzunehmen, was er erkennt; und wie es mir jetzt erscheint, ist Erkenntnis nichts anders als Wahrnehmung“ (151e).
Diese Antwort ist einerseits eine mögliche Explikation einer Gemeinsamkeit der an‐ fänglichen Beispiele, andererseits ist sie mehr als das. Der Geltungsbereich der zweiten Antwort ist größer als der der ersten. Sie umfasst jetzt nicht nur die in der ersten Antwort genannten Künstler, sondern alle Wahrnehmenden und damit alle Menschen. Diese scheinbar fälschliche Ausweitung des Geltungsbereichs entspricht der Denkhaltung, die durch Beispiele an eine Vormeinung über die Erkenntnis ap‐ pelliert. Die grundlegendere Unterstellung der ersten Antwort, jeder hätte eine zurei‐ chende Meinung über die Erkenntnis, obwohl nicht jeder ein Künstler ist, zeigt sich in der zweiten Antwort. In diesem Sinne verbleibt diese in der alltäglichen Denkhal‐ tung. Wenn Sokrates also an dieser Stelle des Dialogs Protagoras’ Satz zitiert: „Und gar keine schlechte Erklärung scheinst du gegeben zu haben von der Erkenntnis, sondern welche auch der Protagoras gibt; nur dass er dieses nämliche auf eine etwas an‐ dere Weise ausgedrückt hat. Er sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der Seienden, wie sie sind, und der Nichtseienden, wie sie nicht sind“ (151e-152a)54, 54 Auch Aristoteles sieht die Lehre oder den Satz des Protagoras in einem engen Zusammenhang mit der Auffassung, der Wissende sei ein Wahrnehmender (vgl. Metaphysik IX, 1047a und X, 1053a-b). Zur Bedeutung der Wahrnehmung als Weltzugang im vorsokratischen Denken vgl.: Schirren 1998. Schirren stellt in seiner Studie fest, dass die für uns seit Platon so geläufige Un‐ terscheidung der Erkenntnisgegenstände in nur wahrnehmbare und nur denkbare für die Vorso‐
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dann kann der Zusammenhang zwischen Alltagsdenken und sophistischem Denken untersucht werden. Protagoras’ Satz scheint den in der ersten Antwort mitgedachten Anspruch zu ex‐ plizieren, jeder wisse, was Erkenntnis ist, und könne deshalb darüber urteilen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auf die Forschungsfrage, ob im HMS mit „Mensch“ ein Individuum oder die Gattung gemeint sei, eine erste Antwort entwickeln. Da der Wahrnehmende – wie oben ausgeführt – aufgrund seiner Vormeinung darüber ent‐ scheidet, ob das konkrete Phänomen ein Beispiel für Erkenntnis ist, scheint das je‐ weilige Individuum gemeint zu sein. Wenn aber diese Kompetenz jedem Wahrneh‐ menden schlechthin zugestanden wird, dann wird die Behauptung, Maß zu sein, zu einer Aussage über die gesamte Gattung. Ein Mensch zu sein, wäre gleichbedeutend damit, Maß aller Dinge zu sein. Eine solche in erster Linie anthropologische Aussa‐ ge erübrigt eine Unterscheidung zwischen Gattung und Individuum. Denn alle Indi‐ viduen einer Gattung müssen die wesentlichen Gattungsmerkmale vorweisen und können sie auf eine jeweils andere Art und Weise verwirklichen. Betrachtet man den Satz des Protagoras wieder im Zusammenhang mit der ersten, an einen unterstellten Vorbegriff appellierenden Antwort, dann ist eine solche Deutung naheliegend: die Beurteilung von wahrgenommenen Phänomenen nach Maß der eigenen Vormeinun‐ gen wäre das Gattungsmerkmal, das individuell ausgefüllt wird. Die Behauptung, al‐ ler Dinge Maß zu sein, würde dann sowohl auf die Gattung als auch auf das Indivi‐ duum zutreffen, nur in verschiedenen Hinsichten. Als Gattung wäre der Mensch for‐ mal Maß, insofern er überhaupt Vormeinungen hat, und als Individuum wäre er auch inhaltlich Maß, insofern er eine ganz konkrete Vormeinung der Beurteilung von Wirklichkeit zugrunde legt. „Nicht wahr, er meint dies so, dass wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl als ich“ (152a).55
Sokrates scheint im weiteren Verlauf des Theaitetos die von Protagoras nur angedeu‐ tete Verbindung zwischen Menschen und Dingen in Bezug auf zwei Fragen auszule‐ gen56: Welcher Dinge (χρήματα) ist der Mensch Maß und auf welche Weise ist er deren Maß (μέτρον)? Sokrates beginnt die Auslegung anhand eines Beispiels: kratiker unüblich war. Sie hätten Wahrnehmung mehr als ein Ereignis verstanden, das als eine jähe und sinnlich vermittelte Durchdringung der situativen Befindlichkeit zu charakterisieren sei. Dieses Verständnis entspreche nicht dem Verständnis der Wahrnehmung seit Platon als eine spezifische Ausrichtung eines bestimmten Vermögens auf seinen Gegenstand. 55 Diese Auslegung deckt sich mit der Textstelle bei Sextus Empiricus (DK 80 B1) und wird auch von Aristoteles geteilt (vgl. Metaphysik XI, 1062b-1063b). 56 In der Forschung besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass Protagoras auf die Seinslehre des Parmenides reagiert und diese kritisiert (vgl. bspw. Buchheim 1986, S. 43–61; Dalfen 2004, S. 8f.; Farrar 1988, S. 44–47). Buchheim bspw. sieht in Protagoras’ HMS sogar den Versuch, die Wahrheit aus der Verborgenheit, in der sie von vorsokratischen Denkern verortet wurde, in die Lebenswelt der Menschen zurückzuholen. In jedem Fall aber setzt eine kritische Auseinan‐
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„Wird nicht bisweilen, indem derselbe Wind weht, den einen von uns frieren, den andern nicht? Oder den einen wenig, den andern sehr stark? – Jawohl. – Sollen wir nun in die‐ sem Falle sagen, dass der Wind an und für sich kalt ist oder nicht kalt? Oder sollen wir dem Protagoras glauben, dass er dem Frierenden ein kalter ist, dem Nichtfrierenden nicht? – So wird es wohl sein müssen. – Und so erscheint er doch jedem von beiden? – Freilich. – Dieses Erscheint ist aber eben das Wahrnehmen. – So ist es. – Erscheinung also und Wahrnehmung ist dasselbe in Absicht auf das Warme und alles, was dem ähnlich ist?57 Denn wie ein jeder es wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein. – Das leuchtet ein. – Wahrnehmung ist also wohl immer des Seienden und untrüglich, wenn sie ja Erkenntnis ist. – So scheint es.“ (152b-c).
In diesem kurzen Beispiel wird das Verhältnis des Menschen zur sinnlichen Welt thematisiert, so dass eine vorläufige Antwort auf die beiden Forschungsfragen nach Metron und Chremata entwickelt werden kann. Zum einen wird der Gegenstandsbereich von Theaitetos’ Bestimmung der Er‐ kenntnis als Wahrnehmung im Bereich sinnlich wahrnehmbarer Qualitäten (Wärme u.ä.) präzisiert. Wenn der Zugang des Menschen zu diesen Dingen also das Wahr‐ nehmen ist, dann ist die These, die Wahrnehmung des Einzelnen bestimme die Er‐ scheinung eines jeweiligen Dinges, nichts weiter als eine Explikation. Die Verbin‐ dung zum HMS lässt sich auf folgende Weise darstellen: Im Wahrnehmungsvorgang wird dem Ding, hier Wind, aufgrund der Intensität des persönlich erlebten Frierens eine bestimmte Eigenschaft, hier Wärme/Kälte, zugemessen. Damit ist der frierende Mensch Maß dessen, wie der Wind als ein Seiendes ist. Zugleich wird zugestanden, dass Wahrnehmung sich als Erkenntnis nicht nur auf etwas Seiendes bezieht, son‐ dern auch untrüglich ist (152c). Der Verweis auf die Untrüglichkeit kennzeichnet den Anspruch auf Wahrheit, der mit Erkenntnissen notwendig verknüpft ist. Im Windbeispiel erscheint zunächst der Wind als das Seiende. Damit der Ein‐ druck eines Menschen aber angesichts abweichender Eindrücke anderer Menschen als untrüglich gelten kann, kann die Aussage, dieser Wind sei kalt, nicht mehr als eine Aussage über eine objektive Windeigenschaft verstanden werden, die man bspw. mithilfe eines Thermometers messen könnte. Die Aussage muss vielmehr als eine Aussage über die Empfindung aufgefasst werden, die die Begegnung mit dem Wind bei dem Wahrnehmenden hinterlässt. Die Aussage bezieht sich damit auf eine Art Selbstwahrnehmung, so dass das beurteilte Seiende nicht mehr der Wind, son‐ dern der Wahrnehmende selbst ist. Auf diese Weise kann das Wahrnehmungsurteil nicht mehr an einem objektiven Kriterium geprüft werden, so dass es nur noch in
dersetzung mit Parmenides eine Beschäftigung mit ontologischen Fragen voraus, so dass es durchaus nachvollziehbar ist, dass Protagoras sich auch auf diesem Gebiet äußerte. Im Verlauf des Theaitetos wird auch die Verbindung zum Bereich des Politischen hergestellt (vgl. 166d-168c), so dass keine fälschliche Vereinseitigung der Auslegung vorliegt, sondern im Ge‐ genteil eine Vervollständigung der als typisch sophistisch geltenden politischen Perspektive. 57 Hervorhebungen in Zitaten sind, wenn nicht anders vermerkt, immer von mir, VB.
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Bezug auf das Individuum gültig ist und zugleich mangels eines externen Bezugs‐ punktes als untrüglich behauptet werden kann. Die gemeinten Chremata wären also nur vordergründig die sinnlich-wahrnehmba‐ ren Dinge. Diese sind nur insofern gemeint, als der Mensch in der Begegnung mit ihnen in einen bestimmten maßgeblichen Zustand (Frieren) gerät, dessen Ursache (Kälte) er in den Dingen (Wind) vermutet. In seinem Urteil, der Wind ist kalt, schreibt der Mensch dem konkreten Phänomen ein Sein zu. In dieser vom eigenen Sein ausgehenden Zuschreibung ist der Mensch Maß ihres Seins und bestimmt da‐ rüber, wie das Seiende ist58. Das Windbeispiel verdeutlicht, dass der HMS als eine unproblematische, nahezu triviale Aussage erscheint, wenn er ausschließlich auf den Bereich sinnlicher Eindrücke bezogen wird. Allerdings beschränkt sich Protagoras nicht auf diesen Geltungsbereich, da der Mensch aller Dinge59 Maß sein soll. Ob‐ wohl es aber unproblematisch zu sein scheint, wenn die Gültigkeit des Urteils über die Windtemperatur auf den Urteilenden beschränkt wird, so hat doch eine Verallge‐ meinerung dieser Relativierung weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der Welt und des Menschen selbst. Wie Sokrates im weiteren Dialogverlauf entwickelt, wird eine Weltsicht notwen‐ dig, in der die Dinge kein festes Sein mehr haben. Denn wenn man davon ausgeht, dass jedes Ding in sich bestimmte Eigenschaften hat, dann haben die Eigenschaften, die der Mensch den Dingen aufgrund des eigenen Erlebens zuschreibt, nicht den Stellenwert von Erkenntnis. Sein Erleben wäre nicht das Maß der Dinge. Es wäre vielmehr ein Erleiden der Dinge, wie sie unabhängig von seinem Erleben sind. Da‐ mit der Mensch also zum Maß aller Dinge werden kann, muss das Seiende in seinem Sein veränderlich sein. Sokrates kann in diesem Zusammenhang auf bekannte Leh‐ ren aus Dichtung und Naturphilosophie verweisen: „es ist gar keine schlechte Rede, dass nämlich gar nichts ein an und für sich Bestimmtes ist, und dass du keinem Dinge mit Recht welche Eigenschaft auch immer beilegen kannst, vielmehr wenn du etwas groß nennst, wird es sich auch klein zeigen, und wenn schwer, auch leicht, und so gleicherweise in allem, dass eben nichts weder Ein gewesenes ist noch auch irgendwie beschaffen; sondern durch Bewegung und Veränderung und Ver‐ mischung alles untereinander nur wird, wovon wir sagen, dass es ist, nicht richtig be‐ zeichnend; denn niemals ist eigentlich irgend etwas, sondern immer nur wird es. Und
58 Dalfen kritisiert Platons Auslegung des μέτρον (vgl. Dalfen 2004, S. 14–16; Dalfen 2006, S. 417–421, 428–433). Platon hätte unterstellt, der Mensch misst die Dinge als Kriterium, wo‐ bei richtig sei, dass der Mensch das Kriterium in sich trage und deshalb das Sein der Dinge an dem Menschen gemessen werde. Wie die obige Interpretation verdeutlicht, zeigt der platoni‐ sche Text genau das, was Dalfen einfordert: an der Selbstwahrnehmung des Menschen bemisst sich das Sein der Dinge; das Kriterium, das der Mensch in sich trägt, sind seine Vorstellungen oder Vorbegriffe, die er zur Artikulierung dieser Wahrnehmung verwendet. Zur Vielschichtig‐ keit des Metron-Verständnisses bei Platon vgl.: Berkel 2013, S. 37–67. 59 Nach Dalfen reicht das Bedeutungsspektrum in der zeitgenössischen Verwendung des Begriffs χρήματα von konkretem Gegenstand bis Gedanke (vgl. Dalfen 2004, S. 9f.).
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hierüber mögen denn der Reihe nach alle Weisen, den Parmenides ausgenommen, einig sein, Protagoras sowohl als Herakleitos und Empedokles und so auch von den Dichtern, die Anführer von beiden Dichtungsarten, Epicharmos der komischen, und der tragischen, Homeros; denn wenn dieser sagt. Dass ich den Vater Okeanos schau und Thetys, die Mutter, will er andeuten, dass alles entsprungen ist aus dem Fluß und der Bewegung60“ (152d-e).
Damit macht Sokrates bzw. Platon genau das, was Dalfen gefordert hat: er sucht in dem geistigen Umfeld des Protagoras nach einer Interpretationshilfe für den HMS. Er greift dabei auf die Seins- und Wahrnehmungslehren von Heraklit61 und Empedo‐ kles62 zurück (153a-154b; 156a-157c). Die Lehre des Heraklit begreift das Sein als Bewegung63 und bietet damit für den Menschen die Möglichkeit dar, die veränderli‐ chen Eigenschaften der Dinge zu bestimmen. Die Lehre des Empedokles erklärt da‐ rüber hinaus die Entstehung von Seienden und deren Wahrnehmungen in einer voll‐ ständig bewegten Welt durch Begegnung64 verschiedener Bewegungsarten bzw. Ele‐ mente. Diese Lehre ermöglicht es, die Gültigkeit eines Urteils auf den Augenblick zu reduzieren und zugleich den Wahrheitsanspruch für dieses Urteil aufrechtzuerhal‐ ten. Denn das Wahrgenommene, der Wahrnehmende und der Wahrnehmungsein‐ druck existieren genau so nur in der aktuellen Begegnung. Im Zusammenhang mit Protagoras’ These über den Menschen ist ein Aspekt der sokratischen Ausführungen besonders interessant. Seine Anknüpfung an Heraklits Seinslehre zeigt auf, dass die sophistische Hinwendung zum Menschen, wie es sich oben schon andeutete, nicht einfach mit der Naturphilosophie bricht. Protagoras’ Lehre kann auf der Ontologie des Heraklit aufbauen, ohne selbst Seinsspekulationen anstellen zu müssen. Protagoras muss dafür lediglich aufzeigen, inwiefern die Bewe‐ 60 Zu der Stellung und Diskussion der Okeanos-Lehre im vorsokratischen Denken vgl. Kirk/ Ra‐ ven/ Schofield 1994, S. 11–19. 61 Vgl. DK 22 B 12, 30, 31, 36, 49a, 51, 55, 60, 64–67, 80, 84a, 88, 90, 91, 126. 62 Vgl. DK 31 B 3, 8, 9, 12, 17, 21, 22, 26, 84, 89, 100, 107–109a. 63 Dilcher führt in seiner Analyse von Heraklits Fluss-Fragment (B12) recht detailliert aus, dass die Fluss-Metapher nicht nur auf die äußeren vom Menschen unterschiedenen Dinge bezogen sei, sondern auch den Menschen als den im Fluss Stehenden erfasse. Der Fluss meine die Zeit‐ lichkeit des menschlichen Seins. Allerdings erfährt nach Dilcher der Mensch das eigene Sein als Kontinuum in dem vorbeifließenden Zeitstrom dadurch, dass alles andere, was er in diesem Strom erfährt, sich fortlaufend verändert (vgl. Dilcher 2005, S. 203–216). Damit deutet sich der Zeitstrom als Maß aller Dinge an. Ob aber der Zeitstrom außerhalb der menschlichen Selbstwahrnehmung eine eigene Realität hat und somit Maß für etwas sein kann, müsste erst noch untersucht werden. 64 Buchheim führt in dem zweiten Schritt seiner Charakterisierung des vorsokratischen Denkens aus, inwiefern die Verschmelzung von Sein und Erkennen als Wahrnehmen ein notwendiges Element dieses Denkens ist. Diese Verschmelzung wird dabei durchaus aus verschiedenen Per‐ spektiven reflektiert. Bei Empedokles bedeute diese, dass es nur in der Begegnung mit ande‐ rem möglich sei, etwas zu sein. Außerhalb der Begegnung sei für den Menschen nichts bzw. nur das Apeiron (vgl. Buchheim 1994, S. 42ff.). In diesem Zusammenhang sei der HMS sogar als ohnmächtiger Ausdruck der Abhängigkeit des Menschen von der allgemeinen Bewegung des Seins verstehbar (ebd. S. 35).
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gungslehre den Menschen als Maß der Dinge impliziert. Ob der historische Protago‐ ras diese Verknüpfung selbst vorgenommen hat, muss offen bleiben. Sokrates aber verdeutlicht am Beispiel eines Mengenvergleichs (154c-155e), dass der Grund für die scheinbare Veränderung oder Beständigkeit der Dingeigenschaften im Menschen und genauer in den Annahmen zu suchen ist, die seiner Weltbetrachtung zugrunde liegen: wenn man sich fragt, ob bspw. sechs Bohnen viele oder wenige sind, dann ändert sich das Urteil je nach Vergleichsmenge (im Vergleich mit vier Bohnen sind es mehr, also viele, und im Vergleich mit zwölf weniger). Damit variiert die Ein‐ schätzung der Vielheit, obwohl bei den sechs Bohnen nichts weggenommen oder da‐ zugegeben wird (154c-d). Sokrates expliziert drei Annahmen, die zu diesem Paradox führen (155a-b): 1. etwas wird nicht mehr oder weniger, solange es es selbst bleibt; 2. etwas, zu dem nichts hinzukommt oder von dem nichts entnommen wird, bleibt gleich; und 3. ohne Werden kann etwas nicht ein anderes als vorher sein. Betrachtet man die drei Annahmen, so wird deutlich, dass das paradoxe Urteil kein Problem der Dinge oder des Wahrnehmens, sondern ein Problem des Denkens darstellt. Das wechselnde Urteil scheint auf der Basis dieser Annahmen unerklärlich, ob‐ wohl es trotzdem gefällt und auch als richtig angesehen wird. Es kann also nicht vor diesen Hintergrundannahmen gefällt worden sein. Es muss vielmehr auf anderen Annahmen basieren, die zunächst unthematisiert bleiben. Wenn man die Hinter‐ grundannahmen hin zu einer Lehre vom Sein als Bewegung ändert, dann lässt sich das als richtig angesehene Urteil aufrechterhalten, ohne in Konflikte zu geraten. Man würde in diesem Fall die Annahme von einem gleich bleibenden Sein der Dinge auf‐ geben, um das eigene Urteil beibehalten zu können, und wäre auf diese Weise also das Maß dieser Dinge. Damit zeigt sich an der sokratischen Verknüpfung von Heraklit und Protagoras, dass der Mensch aus dieser Perspektive nicht nur durch Zuschreibung bestimmter Eigenschaften das Maß von einzelnen Aspekten der Dinge ist, sondern im umfassen‐ den Sinne durch eine bestimmte Ontologie das Sein der Dinge als Seiende bemisst. Je nach Ontologie wird den Dingen ein eigenes festes Sein zugestanden oder abge‐ sprochen. Auch der Ausgangspunkt dieser Perspektive wird deutlich: es ist die Un‐ terstellung, die Wahrheit im Grunde schon zu kennen. Wenn man diese Unterstel‐ lung fallen ließe, gäbe es keinen Grund, an der Richtigkeit des eigenen Urteils fest‐ zuhalten und nur die Hintergrundtheorie anzupassen. Diese Unterstellung entspricht der oben festgehaltenen alltäglichen Einstellung. In der nachfolgenden Anwendung der Bewegungslehre auf verschiedene Phäno‐ mene veranschaulicht Sokrates recht detailliert, wie sich die für uns gewohnte Sicht auf die Welt und auch auf uns selbst radikal verändert, wenn das alltägliche Festhal‐ ten an der eigenen scheinbar richtigen Meinung konsequent durchgehalten wird. Denn in Verbindung mit der ebenfalls notwendigen Wahrnehmungslehre des Empe‐ dokles wirkt sich die Bewegungslehre so aus, dass das Sein in jedem Augenblick ein
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anderes und für einen anderen ist, da es nur in der Begegnung genau dieser beiden Bewegungen besteht (157c-160d). Um an der Richtigkeit eines bestimmten Urteils festhalten zu können, scheint es also notwendig zu werden, die gesamte Weltsicht anzupassen. Das Ich, das auf der Richtigkeit des eigenen Urteils beharrt, setzt alles andere in Bewegung, so dass das ganze Sein – fremdes wie eigenes – nur noch in diesem Urteil zu bestehen scheint. Damit wird die obige Annäherung an eine anthro‐ pologische Deutung des HMS bekräftigt. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser Auffassung wurden schon viel‐ fach diskutiert65 und sollen an dieser Stelle nicht im Zentrum stehen. Hier soll statt‐ dessen auf einen anderen Aspekt fokussiert werden: Es wurde verdeutlicht, dass Protagoras’ These verstehbar ist als eine Bekräftigung und Verallgemeinerung der alltäglichen Einstellung, die von der Richtigkeit der eigenen Vorstellungen aus‐ geht66. Wenn diese Haltung konsequent durchgehalten wird, dann wird das gesamte Sein gemäß der eigenen Vorstellung gedacht, wie es offenbar schon die Naturphilo‐ sophen getan haben. Ein Problem stellen in dieser Sicht auf den Menschen einzig die anderen Menschen dar, wenn sie dieselbe Haltung einnehmen. Denn wenn jeder Maß aller Dinge ist, wie gestaltet sich dann das menschliche Zusammenleben? Wer oder was ist Maß für ein gutes Miteinander? Diese Frage stellt Sokrates im Theaitetos nicht direkt. Allerdings problematisiert er die Konsequenzen der protagoreischen These für Erziehung und Wissenschaft (161c-162a), so dass das Verhältnis zwischen Menschen trotzdem betrachtet wird. Das Problem lässt sich kurz zusammenfassen: Wenn jeder Mensch Maß ist und also alles, was er wahrnimmt und vorstellt, wahr ist, dann ist Erziehung unnötig und Wis‐ senschaft unmöglich. Denn im Erziehungsprozess lernen die Heranwachsenden, was als gut, richtig und wahr gilt. Die Wissenschaftler untersuchen, ob das für wahr Ge‐ haltene tatsächlich wahr ist. Entfallen diese beiden Aufgaben, dann wird auch der Sophist als Lehrer von Tugend und Weisheit überflüssig. Im Theaitetos versucht So‐ krates selbst, Protagoras zu verteidigen, und vertieft damit die bisher entfaltete Sicht auf den Menschen. „Denn ich [Protagoras vertreten durch Sokrates, VB] behaupte zwar, dass sich die Wahr‐ heit so verhalte, wie ich geschrieben habe, dass nämlich ein jeder von uns das Maß, des‐ sen sei, was ist und was nicht, dass aber dennoch der eine unendlich viel besser sei als der andere, eben deshalb, weil dem einen dieses ist und erscheint, dem andern etwas an‐ deres. Und weit entfernt bin ich zu behaupten, dass es keine Weisheit und keinen Weisen gebe; sondern eben den nenne ich gerade weise, welcher, wem unter uns Übles ist und erscheint, die Umwandlung bewirken kann, dass ihm Gutes erscheine und sei“ 65 Vgl. bspw. die sehr umfassende, vergleichende Studie von Lee 2005. 66 Buchheims Deutung der Sophistik als Steigerung der menschlichen Normalität (vgl. Buchheim 1986, S. 80) wäre hier auf einen bestimmten Aspekt dieser Normalität spezifiziert. Denn die ebenfalls normale Anerkennung der besonderen Kompetenz von Fachleuten wird in der These des Protagoras mindestens vernachlässigt (vgl. Theaitetos 170a-d; 177c-179b).
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(166d). „Der Arzt nun bewirkt seine Umwandlungen durch Arzneien, der Sophist aber durch Reden. Und niemals hat einer einen, der Falsches vorstellte, dahin gebracht, her‐ nach Wahres vorzustellen. Denn es ist weder möglich, das, was nicht ist, vorzustellen, noch überhaupt anderes, als in jedem erzeugt wird; dieses aber ist wahr. Sondern nur demjenigen, der, vermöge einer schlechteren Beschaffenheit seiner Seele, auch auf eine ihr verwandte Art vorstellt, kann eine bessere bewirken, dass er anderes und solche Erscheinungen vorstelle, welche dann einige aus Unkunde Wahres nennen, ich aber nenne nur einiges besser als anderes, wahrer hingegen nenne ich nichts“ (167a-b).67
Die Unterschiede zwischen Menschen begründen sich also nicht daraus, ob einer et‐ was Wahres erkennt, denn in Bezug auf Wahrheit gelten alle Vorstellungen als gleich. Die Unterschiede begründen sich aus der Qualität der Erscheinungen. Dem besseren und weisen Menschen erscheint aufgrund seiner Seelenbeschaffenheit Gu‐ tes als Wahres. Diese Aussage entspricht der epistemischen Feststellung, Wahrneh‐ mung sei stets Selbstwahrnehmung. Ein anderer Grund für die guten Erscheinungen als die eigene Seele wäre innerhalb der diskutierten Position gar nicht möglich, weil alles am Menschen selbst gemessen wird. Aufgrund dieser Erscheinungen und also aufgrund des eigenen Seins hat Protagoras offenbar zwei Fähigkeiten: er kann ers‐ tens nach Maß der eigenen Vorstellung feststellen, wem Gutes und wem Übles er‐ scheint, und er kann zweitens den Inhalt der Erscheinungen bei Bedarf durch Reden verändern. Die erste Fähigkeit wird man in der bisher entwickelten Sicht auf den Menschen, allen Menschen zuschreiben müssen, da in Ermangelung eines anderen Maßstabes jeder die Ansichten des anderen nach Maß der eigenen Vorstellungen beurteilt. Ebenfalls wird jeder die eigenen Vorstellungen für gute halten, so dass alle abwei‐ chenden Vorstellungen schlechte sind. Insofern bleibt nur die zweite Fähigkeit als Besonderheit des Sophisten. Der Sophist zeichnet sich also durch seine Fähigkeit aus, andere Menschen dazu zu überreden, ihre eigene Überzeugung aufzugeben und die Überzeugung des Sophisten anzunehmen. Deshalb ist er der Weise und Bessere (166d). Damit hängt die soziale Stellung eines Menschen von seiner Durchsetzungs‐ fähigkeit ab. Die Wichtigkeit der Rhetorik und des Redewettstreits, wie es für die Sophistik überliefert ist, wird durch diese Deutung erklärt und belegt sie zugleich. Vor dem Hintergrund der Bewegungslehre ist diese Einschätzung der gesellschaftli‐ chen Wirklichkeit nur konsequent. Denn wenn das Seiende nur in der Begegnung
67 Auch hier lässt sich eine Parallele zur Lehre Heraklits feststellen. Nach Betegh 2007, S. 23 nimmt Heraklit ebenfalls an, die Menschen insgesamt würden sich nicht irren, obwohl Einzel‐ ne tugendhafter und weiser sein können. Dabei verstehe Heraklit die Seele physisch, so dass Erkenntnis und Tugend von dem physischen Zustand der Seele (trocken-feucht und je feuchter desto schlechter) abhängen (vgl. ebd. S. 30). Bei Protagoras werden aber zusätzlich zur physi‐ schen Konstitution des Menschen auch die Inhalte seiner Vorstellungen als Teil der Seele be‐ rücksichtigt. Es wäre eine interessante Frage, ob der feuchte oder trockene Seelenzustand bei Heraklit ähnlich als gute oder schlechte Vorstellung ausgedeutet werden könnte.
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der Bewegungen ist, dann ist die Bewegung, die andere Bewegungen überformt, maßgeblich für das Sein. Die Folgen dieser Lehre für Politik und Ethik deutet Sokrates stellvertretend für Protagoras am Beispiel der Gerechtigkeit an: „Denn was jedem Staate schön und gerecht erscheint, das ist es ihm ja auch, solange er es dafür erklärt; der Weise aber macht, dass anstatt des bisherigen Verderblichen ihnen nun Heilsames so erscheint und ist“ (167c).
Wenn man davon ausgeht, dass für jeden das wahr ist, was ihm wahr zu sein scheint, dann müsste auch für jeden Menschen im Umgang mit sich und anderen das gerecht sein, was ihm als gerecht erscheint. Wieso wird nun der Staat als Maß der Gerechtig‐ keit eingesetzt? Die Einführung einer Vermittlungsinstanz ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Gerechtigkeit klassischerweise den zwischenmenschlichen Um‐ gang regelt. Wenn aber jeder nach seiner Privatvorstellung vom richtigen Umgang mit anderen agiert, kann es sehr leicht zu Konflikten darüber kommen, wer wen ge‐ recht oder ungerecht behandelt hat. Nach der Lehre des Protagoras ist ein solcher Konflikt rational unentscheidbar, da alle Vorstellungen als gleichermaßen wahr gel‐ ten. Hier zeigt sich ein Leben gemäß der protagoreischen Lehre als gesellschaftsge‐ fährdend. Die Lösung der Problematik eines schädlichen Umgangs mit sich und an‐ deren Menschen wurde schon in der mythisch-religiösen Dichtung in einem göttli‐ chen Gesetz gesucht68. Wenn man die Gemeinschaft erhalten will, dann ist die Einführung einer Vermitt‐ lungsinstanz, die eine Regelung festschreibt, notwendig. Da aber auch im Staat gilt, dass alle Vorstellungen gleichermaßen wahr sind, kann allein die Quantität über die Verbindlichkeit einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung für alle entscheiden. Das demokratische Mittel des Mehrheitsentscheids wäre dann allerdings nur eine Reaktion auf einen Wahrheitsrelativismus, der die Möglichkeit eines sachlichen Ent‐ scheidungskriteriums negiert und damit das Bestehen von Gemeinschaften gefähr‐ det. Die undemokratische Alternative wäre eine Entscheidung durch Gewalt oder dogmatisch-ideologische Setzung einer Vorstellung durch einen Stärkeren69. 68 Diese Problematik wird in etwas anderer Gestalt auch in dem Kulturschaffungsmythos in dem platonischen Dialog Protagoras (320c-322d) diskutiert. Die Menschen sind kurz davor auszu‐ streben, da sie einzeln lebend von den Tieren erlegt wurden, aber nicht in Gemeinschaft leben konnten. Denn „wenn sie sich aber gesammelt hatten, so beleidigten sie einander“ (Platon, Protagoras 322b). Erst die von Zeus gegebenen „Scham und Recht“ ermöglichen das Zusam‐ menleben und zugleich das Überleben der Menschen. Vor dem Hintergrund des HMS wird es nachvollziehbar, wieso die Menschen einander ohne das zwischen ihnen vermittelnde Gesetz beleidigen: jeder handelt nur gemäß der eigenen Vorstellung, die dem anderen nicht als gut er‐ scheinen muss. 69 Diese problematische Wendung wird oftmals übersehen. Zilioli bspw. sieht in Protagoras’ rela‐ tivistischer Weltsicht eine für unsere globalisierte Welt heilsame Perspektive, ohne eine mögli‐ che dogmatische Kehrseite zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Zilioli 2007, S. 10–12; 146). Im Gor‐ gias aber wird die Möglichkeit des fließenden Übergangs von einer demokratischen Haltung des sophistischen Redners (Gorgias) hin zu einer Bewunderung (Polos) und Befürwortung des
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Vor diesem Hintergrund gewinnt die Rolle des Sophisten als politischer Redner an Gewicht. Er kann die Entscheidung beeinflussen, indem er eine Mehrheit von sei‐ ner Ansicht überzeugt. Da vor der Abstimmung keinerlei Maßstäbe für eine gemein‐ schaftliche Gerechtigkeit vorliegen, gibt es auch nichts, was die Wahl seiner Überre‐ dungsmittel einschränken könnte. Nur die Zuhörer selbst stellen einen Maßstab für den Sophisten dar, weil er eine genau auf diese Zuhörerschaft abgestimmte Rede halten muss (172e-173b). In diesem Sinne wäre der Mensch auch im politischen Be‐ reich das Maß: erstens, da der Redner seine Meinung den anderen Bürgern als Ge‐ rechtigkeit vorschlägt und damit zum Maß weiterer politischer Entscheidungen wird; und zweitens, da die Zuhörer von ihrer persönlichen Wahrnehmung der Rede her abstimmen und somit als Gesamtheit zum Maß der Gerechtigkeit werden. Hier deutet sich die ambivalente Stellung des Redners an: er kann entweder ganz dem Willen der Zuhörer ausgeliefert sein, so dass er nur das ausspricht, was die Zuhörer für richtig halten70; oder aber er kann die Zuhörer so stark beeinflussen, dass sie sei‐ ne Ansicht für die eigene halten und er als Starker alles durchsetzen kann71. Je nach‐ dem also, ob man die epistemische Gleichwertigkeiten aller Vorstellungen vom Gu‐ ten oder deren politische Unterschiedlichkeit betont, könnte aus der demokratischfriedfertig erscheinenden Theorie, die alle Menschen durch Nivellierung von Wahr‐ heitsansprüchen gleich macht, der fließende Übergang zu einer tyrannischen Theorie vom Recht des Stärkeren vollzogen werden.
3. Schlussbetrachtung: Was ist das spezifisch Sophistische an der protagoreischen Anthropologie? Was kann nun abschließend als spezifisch sophistisches Verständnis des Menschen festgehalten werden? Bei der sokratischen Auslegung des protagoreischen Fragments wird der Mensch als Maß in verschiedenen Kontexten betrachtet. In Bezug auf die sinnlichen Dinge ist er Maß, insofern er ein Knotenpunkt ist, in dem sich mehrere Bewegungen be‐ gegnen. Im Prozess der Wahrnehmung schreibt er den Dingen die Eigenschaften zu und in der Reflexion der dafür notwendigen Hintergrundannahmen entwirft er das gesamte Sein nach seinem Maß. Maßsein zeigte sich in diesem Zusammenhang als ein Festhalten an und Ausgehen von der eigenen Vorstellung. Denn die Tatsache, dass jemand eine bestimmte Vorstellung über etwas als eigene Vorstellung vorfindet, reicht aus, um diese Vorstellung als wahr zu qualifizieren. An diesem Punkt zeigt Tyrannen (Kallikles) von Platon bzw. Sokrates systematisch durchdacht. Protagoras selbst ist innerhalb dieses Kontinuums vermutlich ebenso wie Gorgias als ein Befürworter der Demokra‐ tie einzuordnen, der aber über keine Mittel gegen eine undemokratische Wendung verfügt. 70 Vgl. Politeia VI, 493a-e. 71 Vgl. Gorgias 457a-b.
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sich, dass Protagoras den Menschen nicht nur als Maß der sinnlichen Dinge verstan‐ den haben konnte, sondern auch als Maß der nichtsinnlichen Dinge. Der Mensch wird zum Maß der Wahrheit, indem Wahrheit als Faktizität aufgefasst wird. Obwohl der HMS oftmals als eine Geste der Selbstherrlichkeit des Menschen an‐ gesehen wird, kehrt in gewisser Weise die an den naturphilosophischen Ansätzen be‐ merkte Ohnmacht des Menschen hier wieder. Denn der Einzelne ist dem Faktum sei‐ ner Vorstellungen ebenso ausgeliefert, wie er in naturphilosophischer Perspektive dem Sein ausgeliefert war. Einerseits gewinnt der Mensch also gegenüber dem Sein eine Art Machtposition, da er das Sein nicht mehr bloß beschreibt, sondern zu‐ schreibt. Andererseits ist er nun machtlos gegenüber der Zufälligkeit seiner Vorstell‐ ungen, die in seinen Zuschreibungen wirksam sind72. Er scheint nur das Maß frem‐ den Seins, also von allem, was nicht Ich ist, zu sein. Diese Ambivalenz spiegelt sich im Verhältnis zu anderen Menschen. Denn einer‐ seits ist jeder selbst ein Maß und insofern jegliche Ansicht wahr, andererseits ist die Ansicht des einen besser als die des anderen, wenn sie sich durchsetzen kann. Das Faktum der stärkeren Meinung entscheidet sowohl über Werte, wie Gerechtigkeit, als auch über die soziale Stellung des Einzelnen als denjenigen, der Träger der stär‐ keren Meinung ist. Die rhetorische Kunstfertigkeit dient als Werkzeug in diesem Kampf, das Wertmaß auch für die anderen Menschen zu sein. Das Besondere des Menschen im Unterschied zu anderem Seienden kann nach Protagoras zusammenfassend in der Fähigkeit gesehen werden, das eigene faktische Sein als das Sein überhaupt aufzufassen und durchzusetzen. Diese Durchsetzung kann entweder theoretisch durch Umdeutung anderer Theorien vom eigenen Stand‐ punkt aus oder praktisch durch Überzeugung anderer vollzogen werden. Abschließend bleibt noch die Frage, was das Sophistische an diesem Verständnis des Menschen ist? Nimmt man den Begriff „Sophist“ wörtlich, dann bezeichnet er einen Weisen und einen Wissenschaftler. Beide können aufgrund einer besonderen Befähigung für andere maßgeblich sein. Derjenige, der sich selbst als „Sophist“ be‐ zeichnet, nimmt diese Stellung – zu Recht oder zu Unrecht – für sich in Anspruch. Diesen Anspruch scheint Protagoras in der Behauptung, aller Dinge Maß ist der Mensch, unterschiedslos und unabhängig von ihrer Befähigung für alle Menschen zu erheben. Das Sophistische daran wäre genau das: die Gleichsetzung des Faktischen mit dem Maßgeblichen.
72 Buchheim beschreibt etwas Ähnliches in seiner Einschätzung der sophistischen Leistung (vgl. 1986, S. 77–79). Die Sophisten hätten eine Zirkularität der menschlichen Praxis aufgedeckt, die darin bestehe, Situationen bewältigen zu müssen, ohne einen externen Standpunkt dazu einnehmen und sie angemessen einschätzen zu können. Der Mensch scheint also einerseits Si‐ tuationen praktisch gestalten zu können, aber andererseits auch von den zufälligen Begeben‐ heiten einer Situation abzuhängen.
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Bettina Fröhlich Sophistische Selbsterkenntnis im Dialog Charmides
Das Problem der Selbsterkenntnis ist im antiken Griechenland in so intensiver Weise diskutiert worden, dass das gesamte griechische Denken als ein Ringen um diese Einsicht erscheint. Nachdem bereits bei Homer der Appell zur Selbsterkenntnis eine große Bedeutung hatte1, wird das γνῶθι σαυτόν in der apollinisch inspirierten Dich‐ tung und Historiographie der klassischen Zeit2 und schließlich bei Sokrates und Pla‐ ton zum Leitmotiv des Nachdenkens. Umso erstaunlicher ist es, dass sich kaum Hin‐ weise auf eine sophistische Beschäftigung mit der delphischen Maxime finden las‐ sen. Zweifellos verfügte die als Sophistik bezeichnete Aufklärungsbewegung3 des 5. vorchristlichen Jahrhunderts über eine Anthropologie, die den Menschen in seinen spezifischen Fähigkeiten zu bestimmten suchte. Darauf deuten die Überlegungen zu Wert und Bedeutung der menschlichen Wissensfähigkeit hin, die in den überlieferten Texten zu finden sind.4 Wie insbesondere im platonischen Protagoras-Mythos5 deut‐ lich wird, betrachteten die Sophisten das Wissen als spezifisches Merkmal des Men‐ schen, das ihn vom Tier unterscheidet und seine Autarkie und Autonomie begründet. Man könnte von daher vermuten, dass die Selbsterkenntnis im sophistischen Denken ein zentrales Thema war. In den uns überlieferten Texten sind jedoch weder Bezug‐ nahmen auf das γνῶθι σαυτόν noch Erörterungen des Begriffs der Selbsterkenntnis zu finden. Einzig und allein bei Platon lassen sich Spuren einer sophistischen Aus‐ einandersetzung mit dem Thema der Selbsterkenntnis entdecken. Im folgenden Bei‐ trag sollen diese Spuren untersucht werden. Zunächst wird ein allgemeiner Über‐ blick über die Darstellung der sophistischen Selbsterkenntnis bei Platon gegeben. Im zweiten Schritt erfolgt eine Erörterung der im Dialog Charmides präsentierten so‐ phistischen Konzeption eines selbstbezüglichen Wissens. Abschließend soll der Ver‐ such unternommen werden, die platonische Kritik an der sophistischen Theorie zu
1 Vgl. insbes. Homer Il. 5, 439–444 und 22, 7–13. Vgl. auch Il. 1, 93–100. Indem Apollon hier – vermittelt über den Seher Kalchas – den Grund seines Zorns benennt, fordert er die Achaier zur Einsicht in das eigene Fehlverhalten auf. 2 Vgl. insbes. Pindar, Sophokles und Herodot. 3 Zur Sophistik als Aufklärungsbewegung vgl. Tenbruck 1996. 4 Vgl. z. B. Protagoras DK B3; Gorgias DK B11, B29; Antiphon DK B2, B8. 5 Vgl. Platon, Prot. 320c-322d. Während die ältere Forschung den Mythos als Erfindung Platons betrachtete, hat sich in der jüngeren Forschung die Auffassung durchgesetzt, dass der Mythos in formaler und inhaltlicher Hinsicht den historischen Protagoras widerspiegelt. Zur Authentizität des platonischen Protagoras-Mythos, vgl. Meister 2010, S. 105f.
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rekonstruieren und die Differenzen zwischen sophistischer und philosophischer Selbsterkenntnis zu beleuchten.
1. Sophistische Selbsterkenntnis im Platonischen Werk In der platonischen Darstellung der sophistischen Lehren wird an vielen Stellen eine wissensorientierte anthropologische Konzeption angedeutet. Relevant sind in diesem Zusammenhang insbesondere der Dialog Protagoras, das 7. Buch der Politeia und der Sophistes. Platon thematisiert die sophistische Anthropologie dort in unter‐ schiedlichen Hinsichten. Im Zentrum stehen genealogische, intentionale, axiologi‐ sche und paideutische Aspekte. Von besonderem Interesse ist der bereits erwähnte Protagoras-Mythos. Die in Prot. 320c-322d dargestellte Erzählung des berühmten Sophisten enthält eine Kul‐ turentstehungstheorie, die in mythologischer Einkleidung6 die Genese und Funktion der menschlichen Wissenskompetenzen beschreibt. Der sachliche Gehalt des My‐ thos besteht in der Aussage, dass die technischen Fertigkeiten (Prot. 321d1f.) und die staatenbildende praktische Vernunft (Prot. 322b5) im Verlauf der Menschheitsge‐ schichte als Lösungsstrategien zur Behebung von Hunger, lebensgefährdenden Um‐ welteinflüssen und bedrohlichen Angriffen anderer Lebewesen entwickelt worden sind. Sieht man von der in sophistischen Lehrvorträgen gern verwendeten mythi‐ schen Einkleidung ab, so wird eine naturalistische Kulturentstehungstheorie sichtbar, die auf drei Prämissen beruht: 1) Der Mensch ist ein natürliches Lebewesen, das auf‐ grund seiner physischen Schwäche und seiner dürftigen Ausstattung (Prot. 321c6f., 322b) einer besonderen Gefahr im Überlebenskampf ausgesetzt ist. 2) Die im Ver‐ lauf der Kulturgeschichte entwickelten Wissenskompetenzen sind analog zu den physischen Ausstattungsmerkmalen der anderen Lebewesen auf die Sicherung des Überlebens ausgerichtet (Prot. 321d4, 322b9f.). Technik, Wissen, praktische Ver‐ nunft dienen der Erhaltung der menschlichen Gattung und haben insofern instrumen‐ tellen Charakter. 3) Die Wissensfähigkeit ist das spezifische Merkmal des Men‐ schen, das ihn von anderen Lebewesen unterscheidet (Prot. 321c1f, 324b1f.) und seine Herrschaft über die Natur begründet. Die vom Protagoras-Mythos entwickelte Theorie über die gattungserhaltende Funktion des Wissens wird im Dialog, der ja die Lehrbarkeit der Tugend erörtert, durch einen individuellen Aspekt erweitert. Auf Sokrates‘ Frage nach dem Gegen‐ stand von Protagoras‘ Lehrtätigkeit antwortet dieser mit praktischen Kompetenzen 6 Zur Verwendung der mythischen Darstellungsform in der Sophistik vgl. Meister 2010, S. 105. Zum Gebrauch des Mythos in der von Platon dargestellten protagoräischen Kulturentstehungs‐ theorie vgl. Taureck 1995, S. 51f. Taureck vertritt die Auffassung, dass Protagoras‘ mythische Erzählung von Zeus als Stifter von Scham und Recht dem Zweck der Überredung dient.
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(εὐβουλία; Prot. 318e6) und rhetorischen Fähigkeiten (Prot. 319a2). Beides befähige zur Übernahme von staatlichen Ämtern und bahne den Weg zur politischen Karriere (Prot. 319a). Diese Zweckbestimmung lässt sich mit den Aussagen des Mythos sinn‐ voll verbinden. Das Wissen sichert demnach zum einen das Überleben der menschli‐ chen Art und ist funktional auf den Gattungserfolg bezogen. Zum anderen aber be‐ fördert es den individuellen Erfolg, d. h. die öffentliche Wirksamkeit in der politi‐ schen Gemeinschaft und den damit verbundenen Ruhm, der das Fortleben der Per‐ son im kollektiven Gedächtnis garantiert. In der Politeia thematisiert Platon im Rahmen einer kritischen Diskussion der gängigen Auffassungen über das Gute den axiologischen Aspekt der sophistischen Wissenstheorie. Nachdem das Gute (τὸ ἀγαθόν) von Sokrates als höchstes Wertprin‐ zip bestimmt worden ist, das alles andere erst nützlich (χρήσιμος) und heilsam (ὠφέλιμος) macht (rep. 505a), werden verschiedene Auffassungen diskutiert: „Aber das weißt du ja doch wohl auch, daß der Menge die Lust (ἡδονή) das Gute zu sein scheint, denen aber, die sich mehr dünken, die Einsicht (φρόνησις)“7 (rep. 505b6–8). Der Begriff der Phronesis bezeichnet in diesem Zusammenhang eine praktisch aus‐ gerichtete Vernunft, die mit der Euboulia-Konzeption in engem Zusammenhang steht. Wie sich mit Hilfe des Protagoras zeigen lässt, sind mit den ‚gebildeten Schichten‘ („die sich mehr dünken“) insbesondere die Sophisten gemeint. In der Lust-Untersuchung (Prot. 351bff.) stellt Platon der populären hedonistischen Ethik eine Vernunftethik gegenüber, die die Erkenntnis8 als handlungsbestimmende, regie‐ rende Instanz begreift und unter die Wertbegriffe des Schönen (καλόν; Prot. 352c3) und Mächtigen (κράτιστον; Prot. 352d2) subsumiert. Durch das Bekenntnis der Prot‐ agoras-Figur zu dieser Vernunftethik (Prot. 352d) wird die Übereinstimmung mit so‐ phistischem Gedankengut angezeigt. Die in der Politeia angedeutete sophistische Verknüpfung der Wissenskompetenz mit dem höchsten Wertprinzip hat zwei Implikationen: 1) Die Erkenntnisfähigkeit ist die beste Kraft im Menschen. 2) Das Wissen begründet die Richtigkeit und Bestheit des Handelns und sichert den Handlungserfolg. In seiner Kritik (rep. 505b/c) zeigt Platon auf, dass diese beiden Annahmen nur unter der Bedingung als begründet gel‐ ten dürfen, dass die Erkenntniskraft auf das Gute (τὸ ἀγαθόν) bezogen und das Wis‐ sen eines vom Guten ist (505b11f.). Die Überlegung, dass Erkenntnisvermögen und Wissenskompetenzen als solche noch keinen intrinsischen Wert darstellen, sondern auf ein begründendes Wertprinzip angewiesen sind, findet sich bereits in den plato‐ nischen Frühdialogen. Darauf wird am Ende dieses Beitrags noch genauer einzuge‐ hen sein. 7 Alle platonischen Schriften werden nach folgender Ausgabe zitiert: Platon, Werke in acht Bän‐ den, gr.-dt., hrsg. v. G. Eigler, bearbeitet v. H. Hofmann, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt 2001. 8 Die Ausdrücke ἐπιστήμη, σοφία und φρόνησις werden an dieser Stelle von Platon synonym ge‐ braucht.
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Im Spätwerk greift Platon noch einmal das Thema der sophistischen Anthropolo‐ gie und Selbsterkenntnis auf und akzentuiert dabei den Bildungsgedanken. Die dort dargestellte sophistische Erziehung (sop. 229c-231b) wird als mehrstufiges Verfah‐ ren kenntlich gemacht. Vor der eigentlichen Vermittlung (διδασκαλία) von Kenntnis‐ sen und Lehrgegenständen sei eine prüfende Unterweisung (ἔλεγχος) nötig, die den Auszubildenden von Scheinweisheit (δοξοσοφία) und Wissensanmaßung befreit und insofern eine kathartische Funktion besitzt. Als Zweck des prüfenden Verfahrens wird die Erweckung der Lernmotivation angeführt: „daß keiner darin, worin er schon stark zu sein glaubte, noch etwas würde lernen wollen, und nach vieler Arbeit die […] Unterweisung doch nicht viel ausrichten würde“ (soph. 230a; vgl. auch 230c/d). Die Wissensvermittlung hat nur dann Erfolg, wenn beim Schüler ein deutli‐ ches Bewusstsein der Wissensdefizite vorhanden ist und er zum Lernen bereit ist. Die ganze Passage ist für das Thema der sophistischen Selbsterkenntnis insofern re‐ levant, als hier in Ergänzung zum anthropologischen Konzept eine individuelle Selbsterkenntnis entworfen wird, die in der richtigen Einschätzung des eigenen Wis‐ sensstandes besteht.9 Im platonischen Werk finden sich also sowohl Hinweise auf eine allgemeine so‐ phistische Bestimmung des Menschen als auch auf das Konzept einer individuellen Selbsterkenntnis. Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext neben den bereits angeführten Texten der Dialog Charmides. In dieser frühen platonischen Schrift werden beide Formen der Selbsterkenntnis im Zusammenhang dargestellt und aus‐ führlich erörtert. Der Dialog bietet sich daher für eine Rekonstruktion der sophisti‐ schen Selbsterkenntnis in besonderer Weise an.
2. Sophistische Selbsterkenntnis im Dialog Charmides a) Die Kritias-Figur als Sprachrohr sophistischer Überzeugungen? Versucht man auf der Grundlage des Dialogs Charmides eine sophistische Konzepti‐ on der Selbsterkenntnis zu rekonstruieren, so sieht man sich zunächst zwei Einwän‐ den ausgesetzt. Erstens kann entgegnet werden, dass hier nicht sophistisches Gedan‐ kengut zur Darstellung kommt, sondern Platon seine eigenen Auffassungen bzw. die seines Lehrers Sokrates entwickelt. Diese Sichtweise wird in der modernen Platon‐
9 Die Beschreibung dieser Selbsterkenntnis und des prüfenden Verfahrens (soph. 230b/c) weist große Ähnlichkeiten mit der im Frühwerk dargestellten sokratischen Selbsterkenntnis und Elenktik auf. Das im Sophistes beschriebene Prüfverfahren wird von Platon jedoch ausdrücklich der Sophistik zugeordnet, wenn auch einer herausgehobenen Form („edle und vornehme Sophis‐ tik“ soph. 231b9).
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forschung häufig vertreten und in verschiedenen Varianten ausformuliert.10 Bei der Begründung stützen sich die Interpreten zumeist auf die Ähnlichkeit mit der von Platon im Alkibiades I und in der Apologie konzipierten Selbsterkenntnis. Ein ge‐ nauer Vergleich zeigt jedoch, dass hier erhebliche Unterschiede bestehen und die im Charmides dargestellte Theorie keineswegs mit der sokratisch-platonischen Auffas‐ sung identisch ist. Legt man die Annahme zugrunde, dass die Kritias-Figur in Anlehnung an den hi‐ storischen Kritias gestaltet wurde und nicht als Sprachrohr platonischer Auffassun‐ gen fungiert, bleibt eine Rekonstruktion sophistischer Auffassungen dennoch Ein‐ wänden ausgesetzt. Es könnte kritisch angemerkt werden, dass der historische Kriti‐ as nicht als Sophist einzustufen ist und die Aussagen der von Platon gestalteten Fi‐ gur entsprechend skeptisch zu betrachten sind. Die beiden Einwände sollen im Folgenden diskutiert werden. Dabei werden Ar‐ gumente vorgetragen, die eine Zuordnung der im Dialog dargestellten Selbsterkennt‐ nis zur Sophistik plausibel machen. Zunächst sei kurz der Argumentationsgang des Dialogs skizziert. Das Motiv der Selbsterkenntnis wird im Charmides im Rahmen eines Gesprächs über die Tugend der Besonnenheit (σωφροσύνη) erörtert. Dabei werden zunächst traditionelle, in der griechischen Dichtung und Literatur vielfach reflektierte Auffassungen der Sophro‐ syne11 diskutiert. Gesprächspartner ist anfänglich der junge Charmides, der von sei‐ nem Vetter Kritias als besonders tugendhaft und begabt ausgezeichnet wurde (157d) und nun von Sokrates geprüft wird (158eff.), ob er über die ihm zugesprochene So‐ phrosyne tatsächlich verfügt. Nachdem die ersten beiden Anworten, die die gesuchte Tugend im Bereich der wahrnehmbaren Phänomene (ruhiges Verhalten, ἡσυχιότης 159b) und auf der Ebene der charakterlichen Dispositionen (Scham, αἰδώς 160e)12 verortet haben, aufgrund ihrer Ambivalenz gescheitert sind, bestimmt Charmides im dritten Anlauf das ‚Tun des Seinen‘ (τὸ τὰ ἑαυτοῦ πράττειν 161b)13 als Sophrosyne. Diese Bestimmung bezeichnet ein allgemeines Handlungsprinzip, das Orientierung vermitteln und Verhaltensmuster sowie charakterliche Dispositionen begründen soll. Da der Bedeutungsgehalt des Begriffs des ‚Seinen‘ nicht unmittelbar evident ist und das Prinzip in sehr unterschiedlicher Weise verstanden werden kann, wird in der fol‐ 10 Zu unterscheiden sind 1) konstruktive Deutungen, die im Dialog die platonische Konzeption einer anthropologischen oder wissenschaftstheoretischen Selbsterkenntnis sehen (vgl. z. B. Gloy 1986 und Göbel 2002); 2) aporetisch-kritische Deutungsansätze, die den Charmides als Darstellung der platonischen Zweifel an Möglichkeit und Leistungsfähigkeit der Selbsterkennt‐ nis interpretieren (vgl. z. B. Benson 2003, Sorabji 2006) und 3) konstruktiv-kritische Deutun‐ gen, die im Dialog eine sophistische (166c) und eine sokratische (167a) Theorie der Selbster‐ kenntnis vermuten (vgl. z. B. Sue 2006). 11 Zum Begriff der Sophrosyne in der antiken Dichtung und Literatur vgl. North 1966 und Rade‐ maker 2005. 12 Zum Aidos-Begriff in der griechischen Tradition vgl. Cairns 1993. 13 Das ‚Tun des Seinen‘ knüpft ebenfalls an traditionelle Vorstellungen an. Vgl. Herodot 1,8,4; 3,15,2; 5,33,4.
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genden Argumentation nach der inhaltlichen Ausfüllung gefragt (162b). Kritias, der an dieser Stelle ins Gespräch einsteigt und der diskutierten Tugendbestimmung, die seiner eigenen Auffassung entspricht (vgl. 162b/c), argumentativ beizustehen ver‐ sucht, legt das Handlungsprinzip als ‚Tun des Guten‘ (τῶν ἀγαθῶν πρᾶξιν 163e) aus. In seiner Argumentation bezieht er sich auf den technischen Bereich der Güterher‐ stellung und verbindet die Poiesis mit den Kategorien des Guten und Schönen: Das ‚Tun des Seinen‘ sei eine Hervorbringung von schönen und nützlichen Werken (ἔργα) (163b/c). Diese Tugendbestimmung erweist sich jedoch in der Untersuchung als problematisch, da sie einseitig das Tätigkeitsmoment und die qualitativ wertvol‐ len Handlungsresultate zum Kriterium der Tugendhaftigkeit erhebt und dabei das Wissenselement der mit der Phronesis so eng verbundenen Sophrosyne völlig unbe‐ achtet lässt. Auf einen entsprechenden Einwand des Sokrates hin (164a-c) bestimmt Kritias die Besonnenheit schließlich als ein Sich-selbst-Kennen (τὸ γιγνώσκειν ἑαυτόν).14 Die unter Berufung auf den delphischen Spruch γνῶθι σαυτόν entwickelte Defini‐ tion wird im Folgenden inhaltlich expliziert. Dabei gelangt Kritias zur Auslegung der Besonnenheit als selbstbezügliche Erkenntnis: „sie [die Besonnenheit B.F.] al‐ lein aber ist sowohl das Wissen von den anderen Arten des Wissens als auch selbst ihrer selbst“ (ἡ δὲ μόνη τῶν τε ἄλλων ἐπιστημῶν ἐπιστήμη ἐστὶ καὶ αὐτὴ ἑαυτῆς 166c1–3). Diese Art der Wissensreflexion erfährt in der weiteren Argumentation eine Ergänzung durch eine epistemische Urteilskraft, die den Wissensstand einer Person richtig einzuschätzen und das Scheinwissen als solches zu identifizieren ver‐ mag: „und dies ist also das Sich-selbst-Kennen, zu wissen, was einer weiß und was er nicht weiß“ (καὶ ἔστιν δὴ τοῦτο […] τὸ ἑαυτὸν αὐτὸν γιγνώσκειν τὸ εἰδέναι ἅ τε οἶδεν καὶ ἃ μὴ οἶδεν 167a). Wie bereits angedeutet, werden die beiden Bestimmungen der Selbsterkenntnis in der Literatur zumeist mit sokratisch-platonischen Auffassungen identifiziert. Für diese Sichtweise scheint die große Ähnlichkeit mit Konzepten zu sprechen, die sich im Alkibiades I15 und in der Apologie finden. In dem berühmten Augengleichnis des Großen Alkibiades (Alk. I 132c-133c) entwickelt Platon im Rahmen einer Identitäts‐ reflexion eine interkommunikativ vermittelte Selbsterkenntnis, die die Erkenntnisfä‐ higkeit und die entsprechenden Qualitäten der Weisheit (σοφία) und Vernunftein‐ sicht (φρόνησις) als das Wertvollste im Menschen (Alk. I 133c1f.) und als Zentrum der Personalität begreift. Hier liegt die Parallelisierung mit der ‚Erkenntnis der Er‐ 14 Die enge Verbindung von Selbsterkenntnis und Sophrosyne ist traditionelles Gedankengut. Vgl. Schwartz 1951, S. 55 und North 1966, S. 33. 15 Nachdem bereits Paul Friedländer (Platon, 31964, II) Schleiermachers Athetese angefochten und die Einwände zu entkräften versucht hat, ist in der jüngeren Forschung eine Tendenz zur Annahme der Echtheit zu beobachten. Zur aktuellen Diskussion vgl. Erler 2007, S. 290f., Sö‐ der 2009, S. 20, Fröhlich 2017, S. 388–392. Eine ausführliche Darstellung der Argumente für und gegen die Echtheit findet sich bei Denyer 2001, S. 14–26.
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kenntnis‘ des Charmides in der Tat nahe.16 In beiden Dialogen wird anscheinend das epistemische Vermögen in seinem Wert und seiner zentralen Funktion für Identitäts‐ bildung und Handlungskompetenz thematisiert. Eine ähnliche Nähe scheint zwischen der in Charm. 166e/167a entwickelten Er‐ kenntnis des eigenen Wissensstandes und der in der Apologie dargestellten sokrati‐ schen Prüfungskompetenz und Einsicht in das Nichtwissen zu bestehen. Das wird besonders deutlich, wenn man apol. 21d und Charm. 167a vergleicht. In der Apolo‐ gie beschreibt Sokrates seine Einsicht mit folgenden Worten: „allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht“ (ἀλλ᾿ οὗτος μὲν οἴεταί τι εἰδέναι οὐκ εἰδώς· ἐγὼ δέ, ὥσπερ οὖν οὐκ οἶδα, οὐδὲ οἴομαι apol. 21d4–6). Ähnlich heißt es im Charmides: „und ebenso auch wird er vermögend sein, andere zu beurteilen, was einer weiß und zu wissen glaubt, da er es ja weiß, und auch wieder, was einer zu wissen glaubt, es aber nicht weiß“ (τί τις οἶδεν καὶ οἴεται, εἴπερ οἶδεν, καὶ τί αὖ οἴεται μὲν εἰδέναι, οἶδεν δ᾿ οὔ Charm. 167a3–5). Im Folgenden wird aufzuzeigen sein, dass die Ähnlichkeit des Charmides mit der Apologie und dem Alkibiades I nur eine äußerliche ist und hier sehr verschiedene Konzepte der Selbsterkenntnis vorliegen. Gegen die These von einer platonischen Theorie im Charmides lässt sich zudem noch ein anderes Argument anführen. Seit den Platon-Studien von Julius Stenzel, Werner Jaeger und Paul Friedländer17, die das in der Forschung des 19. Jahrhunderts vorherrschende Missverständnis des Dia‐ logs als bloße künstlerische Einkleidung der platonischen Lehre korrigiert und die Dialogform wieder stärker beachtet haben, sind eine Fülle von Arbeiten zum Dialog als Strukturmoment des platonischen Philosophierens publiziert worden.18 In diesem Zusammenhang wurde häufig darauf verwiesen, dass die im Frühwerk gestalteten philosophischen Gespräche in einen öffentlich-sozialen Raum eingebettet sind. Pla‐ ton lässt als Gesprächspartner des ‚Protophilosophen‘ Sokrates Figuren auftreten, die dem politischen, bürgerlichen und intellektuellen Milieu entstammen und häufig die Namen von historischen Personen tragen.19 Da die Meinungen über die Tugend 16 So interpretiert z.B. Göbel 2002, S. 40 die selbstbezügliche Erkenntnis des Charmides als erste Entfaltung jener anthropologisch-psychologischen Einsicht, die im Alkibiades I als Selbster‐ kenntnis konzipiert werde: „Denn Erkenntnis der Erkenntnis ist Erkenntnis der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und als solche Voraussetzung, Grund und Möglichkeitsbedingung aller üb‐ rigen Erkenntnis. Sie ist Erkenntnis des Intellekts als Wesenskern des menschlichen Seins“. 17 Vgl. Julius Stenzel [1916] 1961 und [1928] 1961; Werner Jäger [1937] 1960; Paul Friedländer [1928/30] 1964. 18 Unter den zahlreichen Arbeiten seien hier hervorgehoben: Mittelstrass 1982, S. 138–159; Gris‐ wold 1988; Schildknecht 1990, S. 22–53; Wieland 21999; Gill 2002; Pleger 2006, S. 15–26 und 2009, S. 207–217. 19 Die Frage, inwieweit die als Partner des Sokrates auftretenden Dialogfiguren den historischen Personen, deren Namen sie tragen, entsprechen, ist aufgrund der Quellenlage ebenso schwierig zu beantworten wie die Frage nach der Authentizität der Sokrates-Figur. Zur fingierten Histori‐ zität der Dialoge vgl. Erler 2007, S. 69f.
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und das gute Leben, die den Figuren in den Mund gelegt werden, in vielen Fällen als zeitgenössische Auffassungen nachweisbar sind20, ist die These naheliegend, dass Platon in den Tugenddialogen in Anknüpfung an die in der Apologie thematisierte ‚Menschenprüfung‘ (apol. 29d-30b) eine philosophische Auseinandersetzung mit Tugendvorstellungen gestaltet, die den politischen, dichterisch-religiösen und so‐ phistischen Diskurs seiner Zeit bestimmten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Platon im Dialog Charmides von dieser Ge‐ staltungsform abgewichen ist und eine als Gesprächspartner des Sokrates eingeführ‐ te Figur als Sprachrohr der eigenen Auffassungen benutzt hat. Der platonische So‐ krates realisiert hier erkennbar dasselbe maieutisch-elenktische Verfahren wie in den anderen Tugenddialogen auch. Dieses Verfahren aber ist bekanntlich dadurch cha‐ rakterisiert, dass es von der Darstellung und Entwicklung eigener Theorien absieht und die Vorstellungen der Gesprächspartner expliziert und prüft.21 Nimmt man das Dialog-Prinzip ernst und betrachtet die Meinungen der KritiasFigur als Widerspiegelung zeitgenössischer Theorien, so können, wie oben bereits angedeutet, immer noch Zweifel daran artikuliert werden, dass hier spezifisch so‐ phistische Theorien zur Darstellung gelangen. Die jüngere Kritias-Forschung hält im Gegensatz zu älteren Positionen die Zuordnung des historischen Kritias zur Sophis‐ tik für problematisch.22 Im Wesentlichen werden hier zwei Argumente vorgetragen. 1) Während die ‚typischen‘ Sophisten Wanderlehrer gewesen seien, die ihre Kennt‐ nisse und rhetorischen Fertigkeiten gegen Bezahlung vermittelt hätten, habe Kritias keine bezahlte oder unbezahlte Lehrtätigkeit ausgeübt. 2) Die von Kritias verfassten Schriften besäßen sowohl hinsichtlich der Gattung als auch des Inhalts keinen spezi‐ fisch sophistischen Charakter. Wie insbesondere Harald Patzer23 hervorgehoben hat, verfasste Kritias Dichtungen – Hexameter, Elegien, Staatsverfassungen in Versform, möglicherweise auch dramatische Werke –, die für sophistisches Schrifttum eher un‐ typisch waren.24 Der einzige Text, der von der jüngeren Forschung eindeutig der Sophistik zuge‐ ordnet wird, ist das Sisyphos-Fragment25, das vermutlich aus einem Satyrspiel glei‐ chen Namens stammt. Die Autorschaft dieses Werkes war jedoch bereits in der Anti‐
20 So hat z. B. Pohlenz 1913, S. 30 darauf verwiesen, dass die im Dialog Laches der Figur des Nikias in den Mund gelegte Tapferkeitsvorstellung dem Zeitgeist entsprach und allgemeines Gedankengut war: „Aber wie nahe die ganze Auffassung Sokrates‘ Zeit lag, zeigt Thukydides II, 40 κράτιστοι δ᾿ ἂν ψυχὴν δικαίως κριθεῖεν οἱ τά τε δεινὰ καὶ ἡδέα σαφέστατα γιγνώσκοντες καὶ διὰ ταῦτα μὴ ἀποτρεπόμενοι ἐκ τῶν κινδύνων.“ 21 Vgl. Tht. 148e-151d, 157c/d, 161b. 22 Vgl. Patzer 1974, Kerferd/Flashar 1998, S. 81, Pechstein 1998, S. 317f., Meister 2010, S. 221. 23 Patzer 1974, S. 4. 24 Zu den Dichtungen, dramatischen Werken und Prosaschriften des Kritias vgl. Kerferd/Flashar 1998, S. 81ff. 25 Zum Sisyphos-Fragment vgl. Patzer 1974; Kerferd/Flashar 1998, 82ff.; Roßner 2002; Meister 2010, 219–227.
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ke umstritten.26 In der jüngeren Forschung wird im Anschluss an die Argumente von Dihle27 zunehmend Euripides als Verfasser des Satyrspiels vermutet.28 Auch wenn damit die Zuordnung des Kritias zu den Sophisten im engeren Sinn widerlegt zu sein scheint, sind die überlieferten Texte für eine Rekonstruktion so‐ phistischer Überzeugungen keineswegs irrelevant. Unumstritten ist, dass in den Kri‐ tias-Fragmenten Spuren sophistischen Gedankengutes enthalten sind. Wie Patzer29 anhand des Textmaterials detailliert aufgezeigt hat, finden sich in den Fragmenten viele Lehren und Themenfelder, die erkennbar dem sophistischen Kontext entstam‐ men. So wird z. B. die im sophistischen Denken so zentrale Wissens- und Bildungs‐ thematik verstärkt angesprochen.30 Das Fragment B 28 (Diels-Kranz) enthält eine Thematisierung der Selbsterkenntnis, die mit einer indirekten Aussage über den Wert von Einsicht und Erkenntnis verknüpft ist: „Furchtbar aber ist es, wann immer einer ohne Verstand (μὴ φρονῶν) glaubt bei Verstand (φρονεῖν) zu sein“31 (Übers. Schirren/Zinsmaier). Das in diesem Satz artikulierte Werturteil über die falsche Ein‐ schätzung der eigenen Verfasstheit enthält zum einen die oben angedeutete Konzep‐ tion der individuellen Selbsterkenntnis im Sinn der richtigen Beurteilung der eige‐ nen Kompetenzen und Defizite und zum anderen eine besondere Wertschätzung des Erkenntnisvermögens und der entsprechenden Qualitäten der Einsicht, Klugheit, Ur‐ teilskraft. In zwei weiteren Fragmenten wird deutlich, dass Kritias ein der Sophistik nahestehendes Bildungs- und Erziehungsideal vertreten hat, das der Ausbildung der Erkenntniskräfte durch Übung und Gewöhnung einen besonderen Stellenwert ein‐ räumt: „Es erkennen (γιγνώσκουσι) nur diejenigen Menschen, die daran gewöhnt (εἰθισμένοι) sind, im Verstande (γνῶμῃ) gesund zu sein“32 (B 39 Diels-Kranz; Übers. Schirren/Zinsmaier), so in einem von Galenus überlieferten Satz aus der Aphorismensammlung des Kritias. Eine ähnliche Aussage enthält Fragment B 40: „Wenn du dich aber selbst trainierst (ἀσκήσειας), daß dein Verstand (γνώμῃ) hinrei‐ chend ist, wirst du so am wenigsten von diesen ins Unrecht gesetzt“33 (Übers. Schir‐ ren/Zinsmaier). Die Aufforderung zur Ausbildung der Verstandeskräfte verbindet der Autor an dieser Stelle mit dem praktischen Nutzen der Vermeidung des Unrecht‐ leidens, was den sophistischen Überzeugungen durchaus entspricht.34 In Fragment B 26 Zur Diskussion der Verfasserfrage in Antike und Moderne vgl. Meister 2010, 220ff. 27 Dihle 1977, S. 28–42. 28 Zu den Zeugnissen und Argumenten, die für Euripides als Verfasser sprechen, vgl. Meister 2010, S. 222–224. 29 Vgl. Patzer 1974. 30 Vgl. dazu Momigliano 1976, S. 465–477 und Roßner 2002, S. 136. 31 Δεινὸν δ᾿ ὅταν τις μὴ φρονῶν δοκῇ φρονεῖν. B 28 Stobaeus III 23,1. 32 γιγνώσκουσι οἱ ἄνθρωποι εἰθισμένοι ὑγιαίνειν τῇ γνῶμῃ B 39 Galenus, Comm. in Hippocrates de officina I 1. 33 Εἰ δ᾿ αὐτὸς ἀσκήσειας, ὅπως γνώμῃ ἔσῃ ἱκανός, ἥκιστα ἂν οὕτως ὑπ᾿ αὐτῶν ἂν ἀδικηθείης. B 40 Galenus, Comm. in Hippocratis de officina I 1. 34 Vgl. z. B. die Aussagen der Gorgias-Figur über den Nutzen der Rhetorik in Platons Gorgias 456bff., insbes. 456ef.
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9 wird die in der Sophistik intensiv diskutierte Lehrbarkeit der Tugend thematisch aufgegriffen: „Aus Übung (μελέτης) sind mehr tüchtig denn von Geburt (φύσεως)“35 (Übers. Schirren/Zinsmaier). Kritias scheint hier für die in der sophistischen Bewe‐ gung verbreitete Lehrbarkeitsthese zu plädieren und gegen eine naturalistische oder genealogische Tugendkonzeption zu argumentieren. Auch wenn bei Kritias sophisti‐ sches Gedankengut erkennbar mit adlig-elitären Idealen verbunden36 und damit kon‐ servativ ‚eingefärbt‘ ist, sind doch die Spuren sophistischen Denkens deutlich zu se‐ hen. Man wird Kritias insofern eine gewisse Nähe zu dieser intellektuellen Bewe‐ gung bescheinigen können. Entscheidend für die Beurteilung der Kritias-Figur im Charmides ist jedoch, dass Platon diese Gestalt in die Nähe des sophistischen Gedankengutes rückt. Wie bereits angedeutet, erscheint Kritias bei Platon als ein vornehmlich von Prodikos beein‐ flusster Theoretiker. Die im Charmides (163a-e) und im pseudoplatonischen Eryxias (396aff.) auftretende Kritias-Figur ist mit den Theorien dieses Sophisten in besonde‐ rer Weise vertraut und argumentiert erkennbar auf der Basis von Prodikos‘ synony‐ mischen und sprachtheoretischen Überlegungen.37 Im Dialog Protagoras stellt Pla‐ ton einen im Haus des Kallias veranstalteten ‚Sophisten-Kongress‘ dar, an dem die intellektuelle und gesellschaftliche Elite Athens teilnimmt, unter anderem auch Kri‐ tias und Alkibiades, deren persönliche Bekanntschaft mit Prodikos, Protagoras und Hippias an späterer Stelle des Dialogs (Prot. 336b-337a) aufscheint. Diese Gestal‐ tung weist darauf hin, dass die Kritias-Figur38 vom Leser als eine intellektuelle Per‐ sönlichkeit wahrgenommen werden soll, die von der sophistischen Strömung stark beeinflusst ist. Beim Versuch einer Rekonstruktion der Sophistik auf der Grundlage der platonischen Dialoge kann folglich die Kritias-Figur des Charmides herangezo‐ gen werden.
b) Selbsterkenntnis als Reflexion der Wissensfähigkeit (Charm. 166c) Im Dialog Charmides wird Kritias als theoretisch ambitionierte Persönlichkeit ge‐ staltet, die mit dem traditionellen und zeitgenössischen Bildungsgut in besonderer Weise vertraut ist und in ihren ethischen, politischen und anthropologischen Lehr‐ meinungen verstärkt auf die epistemischen Fähigkeiten des Menschen rekurriert. Die Auffassungen der Selbsterkenntnis, die Kritias im Dialog entwickelt, sind erkennbar von der Wertschätzung des Wissens bestimmt, die eine Nähe zum sophistischen Ge‐ dankengut erkennen lässt. 35 36 37 38
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᾿ Εκ μελέτης πλείους ἢ φύσεως ἀγαθοί. B 9 Stobaeus III 29,11. Vgl. Patzer 1974 und Roßner 2002, S. 136. So auch Martens 1973, S. 33f. und 1990, S. 118f. Es ist umstritten, welche historische Person hinter der Kritias-Figur des Timaios und Kritias steht. Vgl. Lampert/Planeaux 1998, S. 87–125.
In einer Reinterpretation der delphischen Maxime γνῶθι σαυτόν konzipiert Kriti‐ as zunächst einen Begriff der Selbsterkenntnis, der auf das Bewusstsein der mensch‐ lichen Wissensfähigkeit zielt (Charm. 165c-166c). Die Bestimmung des besonderen Gegenstandes der Selbsterkenntnis erfolgt durch eine Abgrenzung von verschiede‐ nen Wissenschaftsbereichen und Wissensarten. Thematisiert und spezifiziert werden in diesem Zusammenhang die praktisch-hervorbringenden und die theoretischen Wissenschaften. Die poietischen Kompetenzen – wie z. B. Heilkunst und Baukunst – sind dadurch charakterisiert, dass sie mit Hilfe von Sachwissen und technischem Können etwas herstellen oder hervorbringen (165c/d). Die theoretischen Wissen‐ schaften wie Mathematik und Geometrie sind zwar auch durch die Bezogenheit auf einen bestimmten Sachgegenstand gekennzeichnet (166a/b); das Verhältnis zu die‐ sem Gegenstand ist jedoch rein epistemischer Natur (165e/166a). In Abgrenzung zu diesen beiden Wissensformen bestimmt Kritias die Selbsterkenntnis als Wissen, das allen konkreten Wirkungsbereichen und Gegenstandsbezügen enthoben ist. Die Selbsterkenntnis sei von ganz anderer Art als die hervorbringenden Künste, da sie – analog zu den theoretischen Wissenschaften – kein konkretes Werk (ἔργον) erzeuge (165ef.). Von den theoretischen Wissenschaften sei sie insofern unterschieden, als sie keinen Objektbereich außerhalb ihrer selbst besitze, sondern sich auf das Erken‐ nen selbst beziehe. Die anderen Wissenschaften und Fachkompetenzen „sind Arten des Wissens von etwas anderem, aber nicht von sich selbst, sie allein [die Selbster‐ kenntnis; B.F.] aber ist sowohl das Wissen von den anderen Arten des Wissens als auch selbst ihrer selbst“ (ἀλλ᾿ αἱ μὲν ἄλλαι πᾶσαι ἄλλου εἰσὶν ἐπιστῆμαι, ἑαυτῶν δ᾿ οὔ, ἡ δὲ μόνη τῶν τε ἄλλων ἐπιστημῶν ἐπιστήμη ἐστὶ καὶ αὐτὴ ἑαυτῆς 166c1–3). Die von Kritias entwickelte Konzeption einer selbstbezüglichen Erkenntnis hat keineswegs die Funktion einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, sondern steht durch ihre Einbindung in die Tugendproblematik – im Dialog geht es ja um die Erörterung der Sophrosyne – in einem praktischen Kontext. Die angeführte ἐπιστήμη ἑαυτῆς bezeichnet das Selbstwissen als epistemisches Subjekt, das auf der Grundlage von Erkenntnis agiert und in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens am Wissen orientiert ist. Das gemeinte Selbstbewusstsein ist über den handlungstheoretischen Aspekt hinaus mit verschie‐ denen Annahmen verbunden, die im Folgenden expliziert werden sollen. 1) Durch die Bestimmung der Wissensreflexion als Selbsterkenntnis erfolgt eine indirekte Identifizierung von Erkenntnisfähigkeit und Selbst. Die Erkenntniskraft mit ihren verschiedenen Ausformungen wird hier als zentrale Qualität zugrunde ge‐ legt, über die sich die Person primär bestimmt und die das personale Handeln in den verschiedenen Lebensbereichen koordiniert, lenkt, leitet. Dieses Identitätskonzept befindet sich in größter Nähe zur sophistischen Anthropologie, die das Wissen als spezifisch menschliche Fähigkeit und als maßgebliche Voraussetzung für eine selbst‐ bestimmte und selbstverantwortliche Gestaltung der Lebensbereiche betrachtet.
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2) Eine zweite wichtige Prämisse von Kritias‘ Konzeption besteht in der Leit‐ funktion der Selbsterkenntnis. Betrachtet man die vollständige Bestimmung der So‐ phrosyne („sie allein aber ist sowohl das Wissen von den anderen Arten des Wissens als auch selbst ihrer selbst“ ἡ δὲ μόνη τῶν τε ἄλλων ἐπιστημῶν ἐπιστήμη ἐστὶ καὶ αὐτὴ ἑαυτῆς 166c1–3), so wird deutlich, dass hier eine umfassende Wissensreflexion gemeint ist. Epistemisches Selbstbewusstsein umfasst bei Kritias nicht nur das Wis‐ sen von der allgemeinen menschlichen Wissensfähigkeit, sondern ist mit dem Be‐ wusstsein der besonderen Wissensformen – technische, praktische, theoretische Kompetenzen – und der besonderen Objektbereiche verbunden. Dieses umfassende, auf einer Metaebene angesiedelte Wissenschaftsbewusstsein begründet nach Kritias die Führungsfunktion der Selbsterkenntnis im Wissenschaftssystem. Die bean‐ spruchte Leitfunktion wird in der Gegenstandsbestimmung (Charm. 165c-166c) deutlich. Kritias nimmt an dieser Stelle nicht nur eine Differenzierung der Wissen‐ schaften, sondern auch eine Hierarchisierung vor: Die theoretischen Wissenschaften sind den praktisch-hervorbringenden Künsten übergeordnet; die Selbsterkenntnis hingegen ist beiden Wissensarten vorgeordnet und steht über allen Kenntnissen an der Spitze der Wissenspyramide.39 An späterer Stelle des Dialogs wird die Leitfunktion der Selbsterkenntnis explizit formuliert und in einen politischen Kontext gerückt. Im Zusammenhang mit der Nutzen-Thematik betont Kritias die Herrschaftsfunktion der Selbsterkenntnis gegen‐ über den anderen Wissenschaften und verbindet diese Führungsrolle mit politischen Aufgaben. Die ἐπιστήμη ἑαυτῆς ist das Regierende (τὸ ἄρχον) über alle Künste und Wissenschaften (174e). Da die Wissenschaften wesentliche Bereiche des Polis-Le‐ bens bestimmen, kommt der Selbsterkenntnis nach Kritias‘ Verständnis die Rolle ei‐ nes politisch relevanten Leitprinzips zu. Darauf wird später noch einzugehen sein. 3) Von besonderer Bedeutung sind die Wertannahmen, die in Kritias‘ Konzeption impliziert sind. Durch die thematische Einbindung der Selbsterkenntnis in die Tu‐ gendproblematik werden hier bestimmte Annahmen über das Gute und die mensch‐ liche Bestheit zugrunde gelegt. Die Formulierung der Selbsterkenntnis als selbstbe‐ zügliches Wissen ist ja im Dialog eine Antwort auf die Frage nach der Sophrosyne (vgl. 164d-165b), die das Leitthema des gesamten Gesprächs darstellt. Das epistemi‐ sche Selbstbewusstsein wird damit unter Wertbegriffe subsumiert und mit der Tu‐ gend, d. h. mit der menschlichen Bestheit identifiziert. Das implizierte Wertverständnis lässt sich noch weiter ausloten, wenn man die funktionale Bedeutung der Selbsterkenntnis in den Blick nimmt. Die Einführung der Selbsterkenntnis hat im Dialog erkennbar die Funktion, das zuvor angeführte Hand‐ 39 Die überlegene Stellung der Selbsterkenntnis wird an dieser Stelle nicht explizit begründet. Aus dem Kontext lässt sich jedoch erschließen, dass der exklusive Rang durch das Wissen von Bedeutung und Wert der Wissensfähigkeit sowie der Kenntnis der zentralen Wissensbereiche (vgl. 174d7ff.) begründet wird.
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lungsprinzip ‚Tun des Guten‘ (τῶν ἀγαθῶν πρᾶξιν) zu begründen. Der Begrün‐ dungszusammenhang erschließt sich über die handlungsleitende Bedeutung, die hier dem Wissen zugesprochen wird. Das Wissen ist das fundierende Moment, das die Richtigkeit und Bestheit des Handelns gewährleistet (vgl. Charm. 172a2, 173d3).40 Es ist, wenn man es in Wertkategorien ausdrücken will, das Gute an der Handlung. In der Selbsterkenntnis, so wie Kritias sie versteht, wird dieses Prinzip bewusst ge‐ macht und damit ein am Wissen orientiertes Wertbewusstsein gewonnen, das es er‐ möglicht, das eigene Handeln vor sich und anderen als richtig und gut auszuweisen. Mit der Einbindung des epistemischen Selbstbewusstseins in die ethische Wert‐ diskussion werden also nicht nur Aussagen über die Tugend getroffen, sondern auch Annahmen über das Gute zugrunde gelegt. Die Wissensfähigkeit wird hier implizit mit dem Guten identifiziert. Auch darin lässt sich eine Nähe zur Sophistik beobach‐ ten.41
c) Selbsterkenntnis als Einschätzung der individuellen Wissenskompetenzen (Charm. 167a) Neben der skizzierten Reflexion der Wissensfähigkeit findet sich im Charmides noch eine zweite Bestimmung der Selbsterkenntnis, die Platon zwar von der Sokra‐ tes-Figur entwickeln lässt, die jedoch als Explikation des Kritias-Logos kenntlich gemacht wird (167a8)42 und insofern der Kritias-Figur zuzurechnen ist. Im An‐ schluss an Kritias‘ Bestimmung der Sophrosyne als selbstbezügliche Erkenntnis zeigt Sokrates auf (166e/167a), dass das konzipierte epistemische Selbstbewusstsein eine Urteilskraft impliziert, die den Wissensstand einer Person richtig einzuschätzen 40 Der Begründungszusammenhang wird in Charm. 173d expliziert. Nachdem Sokrates seinen Zweifel darüber bekundet hat, dass die Orientierung am Wissen nicht als solche schon ein gu‐ tes und glückliches Leben verbürgt, antwortet Kritias: „Aber [...] du wirst doch nicht leicht ein anderes Ziel des Gutlebens finden, wenn das erkenntnismäßig dir zu schlecht ist“ (Ἀλλὰ μέντοι, ἦ δ᾿ ὅς, οὐ ῥᾳδίως εὑρήσεις ἄλλο τι τέλος τοῦ εὖ πράττειν, ἐὰν τὸ ἐπιστημόνως ἀτιμάσῃς Charm. 173d5f.). Das Wissen ist nach Kritias Garant des guten Handelns und Lebens und nimmt damit selbst den Stellenwert des höchsten Wertes ein. Diese These wird in der fol‐ genden Passage in Frage gestellt und modifiziert: Nicht das Wissen überhaupt, sondern die Er‐ kenntnis des Guten verbürgt das gute und glückliche Leben (Charm. 174b/c). 41 Vgl. die in Platon rep. 505b diskutierte Auffassung des Guten, die wohl insbesondere der So‐ phistik zuzuschreiben ist. 42 Die Argumentation in Charm. 166e/167a hat erkennbar die Funktion, Implikationen und Be‐ deutungsgehalt des Kritias-Logos zum Zweck der anschließenden prüfenden Untersuchung zu exponieren. Der Explikationscharakter der Argumentation wird durch die abschließende Frage „Ist es dieses, was du meinst?“ (Ἆρα ταῦτά ἐστιν ἃ λέγεις; Charm. 167a8) deutlich betont. In der nachfolgenden kritischen Diskussion betont Sokrates wiederholt, dass es um die Prüfung und Begründung von Kritias‘ Auffassung geht (vgl. Charm. 169b5–7, 169d7f., 171d2f.). Das lässt sich als weiterer Hinweis darauf deuten, dass Sokrates die in 167a dargestellte Selbster‐ kenntnis nicht als eigenen Bestimmungsvorschlag versteht, sondern als eine Exegese, die die Implikationen des Kritias-Logos offenzulegen versucht.
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und vorhandene Fachkompetenzen sowie Wissensdefizite zu erkennen vermag. Die‐ se Art von Selbsterkenntnis wird in mehreren Schritten argumentativ entwickelt. Zu‐ nächst erfolgt eine Ergänzung des selbstbezüglichen Erkennens durch die Einsicht in epistemische Mangelzustände: „Müßte sie nicht auch [...] der Unkenntnis Erkenntnis sein, wenn der Erkenntnis?“ (Charm. 166e8f.43). Die so erweiterte Konzeption wird im zweiten Schritt mit einer materialen Wissensreflexion verbunden: „Der Besonne‐ ne also allein wird sich selbst erkennen und imstande sein zu ergründen, was er wirklich weiß und was nicht“ (῾Ο ἄρα σώφρων μόνος αὐτός τε ἑαυτὸν γνώσεται καὶ οἷός τε ἔσται ἐξετάσαι τί τε τυγχάνει εἰδὼς καὶ τί μή 167a1–3). Das Wissen des Wis‐ sens und Nichtwissens, das hier zunächst als Einsicht in die eigene epistemische Verfasstheit gemeint ist, erfährt im letzten Argumentationsschritt eine Ausdehnung auf andere Personen: „und ebenso auch wird er vermögend sein, andere zu beurtei‐ len, was einer weiß und auch zu wissen glaubt, da er es ja weiß, und auch wieder, was einer zu wissen glaubt, es aber nicht weiß“ (Charm. 167a3–5). Die Beurteilung der Wissensverfassung wird hier als eine Fähigkeit verstanden, deren Anwendungs‐ bereich prinzipiell alle epistemischen Subjekte umfasst, die also nicht auf die eigene Person beschränkt ist, sondern in ähnlicher Weise auf andere Personen angewendet werden kann.44 Versucht man diese Art von prüfender Urteilskraft im Zusammenhang mit der zu‐ vor diskutierten Bestimmung zu deuten, so ist zunächst festzuhalten, dass beide For‐ men der Selbsterkenntnis als unauflösliche Einheit betrachtet werden. Es handelt sich um zwei Aspekte der Wissensreflexion, die durch ihre gemeinsame praktische Zielstellung miteinander verbunden sind. Für die Handlungsorientierung ist nicht nur die allgemeine Einsicht in Bedeutung, Wert und Funktion der Wissensfähigkeit relevant, sondern auch die Erkenntnis der besonderen Wissenskompetenzen und De‐ fizite des Handlungssubjekts. Die Konzeption einer richtigen Einschätzung des personalen Wissensstandes birgt drei Momente in sich45, die die Nähe zum sophistischen Denken erkennen lassen und die Verbindung mit den Kritias-Fragmenten herstellen. 43 Vgl. rep. 598d. 44 Zehnpfennig 1987, S. 69 begründet diese Ausweitung mit der von allen Teilnehmern zugrunde gelegten universalen Gültigkeit der Wahrheit: „Die Wahrheit, die auch die Metareflexion zum Ziel haben muß, ist eine universal gültige und verbindliche – wie es ja überhaupt Wesen der Wahrheit sein muß, weder historisch noch subjektiv zu sein. Verfügt der Besonnene also über den Maßstab, das eigene Wissen beurteilen zu können, so muß er diesen Maßstab ebenfalls an andere anlegen können“. 45 Anhand der drei Momente – Gegenstandsbereich, Einsicht in Wissen und Wissensdefizite, Prüffähigkeit – lässt sich sehr gut die Differenz zur sokratischen Selbsterkenntnis, so wie sie in Platons Frühwerk dargestellt wird, herausarbeiten. 1) Während in der Kritias-Theorie alle Künste und Wissenschaften gemeint sind, hat Sokrates primär die ethischen Gegenstände (τὰ μέγιστα) im Blick. 2) Ist Kritias‘ Selbsterkenntnis vorrangig auf das Wissen der vorhandenen Wissenskompetenzen bezogen, so steht bei Sokrates die Einsicht in die Erkenntnisdefizite im Vordergrund. 3) Eklatante Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Begründung der Prü‐
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1) Gegenstandsbereich: In Anknüpfung an das zuvor geltend gemachte Bewusst‐ sein der verschiedenen Wissenschaften („Wissen von den anderen Arten des Wissens“ 166c2) ist die Beurteilung der Kompetenzen einer Person nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eingeschränkt, sondern umfasst alle mög‐ lichen Sachbereiche und Wissensarten.46 Die darin aufscheinende Wertschätzung sämtlicher Wissenskompetenzen, insbesondere der hervorbringenden Künste und technischen Fertigkeiten (170b/d, 173a-174d), ist auch im sophistischen Denken zu beobachten. Sie spiegelt sich im Protagoras-Mythos (321c-322d) wider und wird durch die thematisch breit gefächerte Lehrtätigkeit der Sophisten eindrucks‐ voll bezeugt. Die Nähe zur Sophistik lässt sich auch noch in anderer Hinsicht aufzeigen. Die Wissenskompetenzen sind in der im Charmides dargestellten Theorie erkennbar auf praktische Zwecke ausgerichtet (vgl. Charm. 173a-c). Die Entwicklung von technischer Intelligenz und die richtige Einschätzung der per‐ sonalen Wissensverfassung wird mit der Zielstellung verbunden, „daß wir eben gesünder sein werden am Leibe als jetzt und besser aus Gefahren zur See und im Kriege errettet werden, und daß unser Hausgerät, Kleidung, Beschuhung und was sonst hierher gehört, fachmännisch wird gearbeitet sein“ (173b/c). Hier las‐ sen sich mühelos Parallelen zum Protagoras-Mythos (Prot. 321c-322a) ziehen. In ganz ähnlicher Weise wird das Wissen dort im Zusammenhang mit der Thematik der Selbsterhaltung und der Optimierung aller Lebensbedingungen diskutiert. 2) Einsicht in Wissensdefizite: Die Konzeption einer richtigen Einschätzung des ei‐ genen Wissensstandes umfasst neben dem Bewusstsein der vorhandenen Sach‐ kompetenzen auch die Einsicht in die eigenen Defizite. Durch diesen Aspekt wird die Thematik des Lernens und der Wissensvermittlung angedeutet, die in der Sophistik einen zentralen Stellenwert besitzt. Das Konzept einer prüfenden Urteilskraft basiert erkennbar auf der Annahme der Lehrbarkeit der Tugend. Durch die Einsicht in bestehende Kenntnislücken soll nicht nur unsachgemäßes Handeln vermieden (Charm. 171d/e), sondern bei entsprechender Begabung die Motivation geweckt werden, die fehlenden Kenntnisse durch Unterricht zu er‐ werben (172b). An dieser Stelle ist besonders deutlich zu erkennen, dass sich die platonische Darstellung der Kritias-Figur in größter Nähe zu den überlieferten Kritias-Fragmenten befindet. Wie oben aufgezeigt, wird dort die Lehrbarkeits‐ doktrin aufgegriffen und verstärkt diskutiert (vgl. B 40; B 9 Diels-Kranz). 3) Das Problem der Doxosophia: Die Einschätzung der Wissensverfassung einer Person wird im Charmides mit einer Prüffähigkeit verbunden (167a2 und a4), die fungskompetenz. Die sokratische Prüffähigkeit ist nicht im selbstbezüglichen Wissen begrün‐ det, sondern in der philosophischen Suche nach der Sache. 46 In Charm. 170b/d werden vor allem hervorbringende Künste angeführt: Heilkunst (ἰατρική), Baukunst (οἰκοδομητική), Tonkunst (μουσική). Daneben findet hier jedoch auch die Staats‐ kunst (πολιτική) Beachtung. An späterer Stelle (173a-174d) werden noch andere Künste ge‐ nannt: Steuermannskunst, strategische Kunst, Schusterhandwerk, Weberei.
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auf das Problem der Wissensanmaßung verweist („was einer zu wissen glaubt, es aber nicht weiß“ Charm. 167a5). Das Problem der Wissenseinbildung (δοξοσοφία) ist offenbar nicht erst von Sokrates und Platon47, sondern in anfäng‐ licher Weise bereits in der Sophistik im Zusammenhang mit der Lehrbarkeitsthe‐ matik diskutiert worden. Bei Platon finden sich einige Hinweise auf diesen Dis‐ kurs48 und in den Kritias-Fragmenten wird ein entsprechendes Problembewusst‐ sein deutlich artikuliert.49 Analog zur Konzeption der selbstbezüglichen Erkenntnis erfüllt auch die Beurtei‐ lung der personalen Wissenskompetenzen eine bestimmte Begründungsleistung. Die Begründungsfunktion bezieht sich wiederum auf das Handlungsprinzip ‚Tun des Seinen/Guten‘, meint jedoch einen anderen Aspekt. Während die Einführung der selbstbezüglichen Erkenntnis den Wertaspekt (Tun des Guten; τῶν ἀγαθῶν πρᾶξιν) zu fundieren suchte, soll jetzt das selbstreferentielle Moment (Tun des Seinen; τὰ ἑαυτοῦ πράττειν) begründet werden.50 Der Begründungszusammenhang ist folgen‐ der: Die mit der Formel ‚was man weiß und was nicht‘ (167a3) gemeinte richtige Einschätzung der eigenen Wissenszustände ermöglicht eine sachgerechte Bestim‐ mung der eigenen Aufgabe innerhalb der Polis und ordnet die individuelle Leistung in ein gemeinschaftliches Ganzes ein. Das ‚Tun des Seinen‘ wird in diesem Kontext als Ausübung der eigenen Aufgabe oder Berufung verstanden. Um das ‚Seine‘ wäh‐ len und tun zu können, muss es zunächst erkannt werden. Die Erkenntnis und Be‐ stimmung des Seinen aber erfolgt nach dem Kriterium des Könnens, das hier unter den Kategorien des Wissens gefasst wird. Diese Überlegungen zeigen die enge Ver‐ bindung von Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, die in dem praktisch orientier‐ ten Konzept der Selbsterkenntnis von Anfang an angelegt war. Die Reflexion auf das eigene Können und Wissen wirkt auf die Lebensplanung, die berufliche Ausrich‐ tung und die Tätigkeitswahl zurück und hat Orientierungsfunktionen bezüglich der Stellung innerhalb der Gemeinschaft.
d) Selbsterkenntnis als politisches Leitprinzip (Charm. 171d-172a) Die skizzierte Konzeption der Selbsterkenntnis wird an späterer Stelle des Dialogs in ihrer politischen Bedeutung diskutiert. Das mag zunächst überraschen, da die Selbsterkenntnis im Zusammenhang mit dem ‚Tun des Seinen‘ als eine Einsicht er‐ 47 Vgl. Platon apol. 29a7; symp. 204a5; Phaidr. 275b2; Phil. 49a2; soph. 231b7; leg. 732a6, 863c5. 48 Vgl. Platon soph. 229c-231b und rep. 537e-539a. 49 Vgl. insbes. Fragment B 28 Diels-Kranz: „Furchtbar aber ist es, wann immer einer ohne Ver‐ stand glaubt bei Verstand zu sein“ (Übers. Schirren/Zinsmaier). 50 Dass das Wissen des Wissens und Nichtwissens tatsächlich in Zusammenhang mit dem ‚Tun des Seinen‘ steht, wird an späterer Stelle (Charm. 170a-171c) deutlich.
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örtert worden war, die auf individuelle Fähigkeiten rekurriert. Da das ‚Tun des Sei‐ nen‘ hier jedoch gemeinschaftsbezogen verstanden, d. h. auf ein funktionsfähiges Ganzes ausgerichtet wird, ist die politische Dimension in der Bestimmung impli‐ ziert. Die Entfaltung der politischen Bedeutung findet im Rahmen einer Erörterung von Nutzen51 und praktischer Wirksamkeit der Selbsterkenntnis statt (Charm. 171d-175a).52 Auf der Basis von Kritias‘ Theorie spricht Sokrates hier der Selbster‐ kenntnis Regulierungs- und Koordinierungsaufgaben zu, die auf eine Kompetenzsi‐ cherung in den zentralen Bereichen der Polis zielen. Die gemeinte Aufgabe umfasst die Kontrolle der Einhaltung von Wissensstandards sowie die Gewährleistung von Sachkenntnis in den einzelnen Tätigkeitsfeldern: „weder würden wir selbst etwas zu tun unternehmen, was wir nicht verständen, sondern diejenigen ausfindend, welche es verstehen, würden wir es ihnen überlassen, noch auch würden wir den übrigen, welche wir regierten, verstatten, irgend etwas anderes zu tun als das, was sie, wenn sie es tun, auch richtig tun werden. Dies wäre aber das, wovon sie das Wissen ha‐ ben“ (171e). Diese Funktionsbestimmung der Selbsterkenntnis verweist auf die Ori‐ entierung an einer Wissensgesellschaft, die der fachlichen Kompetenz als Funda‐ ment von Leistung und Erfolg größte Bedeutung beimisst und den Sachverstand als ein maßgebliches Kriterium bei der Verteilung von Aufgaben ansieht. Der Zusammenhang mit der von Kritias entwickelten Konzeption lässt sich an‐ hand von vier Aspekten aufzeigen: 1) Kritias‘ Theorie liegt die Annahme zugrun‐ de,dass das Wissen für ein Gelingen des praktischen Handelns maßgeblich ist. In die politische Praxis übersetzt bedeutet dies, dass in den verschiedenen Tätigkeitsberei‐ chen der Polis auf Kompetenz zu achten ist, um Qualität und Funktionstüchtigkeit zu gewährleisten. 2) Selbsterkenntnis umfasst nach Kritias nicht nur das Bewusst‐ sein der allgemeinen menschlichen Wissensfähigkeit, sondern auch das Wissen von den besonderen Wissensbereichen und -formen. Diese Art von Überblick über die gesamte Wissenschaftslandschaft schafft die Grundlagen für übergeordnete Regulie‐ rungstätigkeiten – wie z. B. die Kompetenzsicherung in den zentralen Bereichen der Polis. 3) Das umfassende Wissenschaftsbewusstsein begründet nach Kritias die Leit‐ funktion der Selbsterkenntnis im Wissenschaftssystem. Diese Führungsrolle, die zu‐ nächst im Sinn einer Wissenshierarchie gemeint ist, bedeutet im politischen Kontext die Ausübung einer regierenden, leitenden Funktion. In Anknüpfung an seine Theo‐ 51 Die Notwendigkeit einer Explikation von Nutzen und praktischer Wirksamkeit der Selbster‐ kenntnis resultiert aus der von allen Gesprächsteilnehmern zugrunde gelegten Prämisse, dass die Tugend ein gutes Leben bewirkt (175e) und die Sophrosyne ein großes Gut ist (175e; vgl. auch 172a5 und 172d4). 52 Die Überlegungen zur praktischen Dimension der Selbsterkenntnis (171dff.) basieren auf der Annahme der Möglichkeit einer personalen Wissenseinschätzung. Die in der selbstbezüglichen Erkenntnis begründete Prüffähigkeit hatte sich zwar im vorherigen Gespräch als problematisch erwiesen (167c-171c), zum Zweck der Nutzen-Erörterung wird sie hier jedoch hypothetisch zugrunde gelegt.
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rie betont Kritias am Ende des Gesprächs, dass die Selbsterkenntnis alle für die Polis maßgeblichen Künste und Wissenschaftsbereiche regiert (ἄρχειν 174e). 4) Kritias‘ Theorie der Selbsterkenntnis enthält eine Urteilskraft, die Personen hinsichtlich ihrer vorhandenen Wissenskompetenzen und Wissensdefizite richtig einzuschätzen ver‐ mag. Diese Prüffähigkeit ermöglicht ein Urteil darüber, ob ein Fachmann „wirklich das Seinige versteht“ (171c), ob er in seinem Fach ein fundiertes Wissen und Kön‐ nen besitzt oder nur ein Scheinwissen. Die gesellschaftliche Relevanz der prüfenden Urteilskraft ist evident. Sie ermöglicht zum einen die Gewährleistung von fachkun‐ digem Personal in den zentralen Tätigkeitsbereichen und trägt zum anderen zur Ver‐ meidung von Mängeln bei, die auf Inkompetenz beruhen (171e). Sie ist insofern die entscheidende Voraussetzung für die geltend gemachte Kompetenzsicherung. Die politische Dimension von Kritias‘ Selbsterkenntnis zeigt sich noch deutlicher, wenn man deren Leistungen auf politische Endzwecke bezieht. Nach Kritias‘ Auf‐ fassung trägt die Selbsterkenntnis entscheidend zum Gemeinwohl bei und ist damit ein wichtiges politisches Prinzip, das die gute Verfasstheit der staatlichen Gemein‐ schaft befördert. Zur Begründung dieses Satzes wird folgende Argumentation ange‐ führt: 1) Die durch Selbsterkenntnis bewirkte Kompetenzsicherung hat ein sachkun‐ diges, d. h. richtiges (ὀρθός), fehlerfreies (ἀναμάρτητος) Agieren in den verschiede‐ nen Tätigkeitsbereichen der Polis zur Folge (171d/e). 2) Die Optimierung des Han‐ delns in allen zentralen Bereichen der Gesellschaft führt zu Sicherheit und materiel‐ lem Wohlstand (173b/c) und befördert das gute Leben (καλῶς καὶ εὖ πράττειν) der Bürger (172a).53 3) Die Personen, die ein gutes Leben führen, sind glücklich (εὐδαίμων 172a3). 4) Eine Regierung, die das gute und glückliche Leben der Bürger befördert, übt eine gute Politik aus. 5) Ein Staat, der in dieser Weise organisiert und eingerichtet ist, befindet sich in bester Verfassung (171e). Der in dieser Argumentation entwickelte Zusammenhang von Selbsterkenntnis und guter Politik lässt sich in verkürzter Form wie folgt darstellen: Die Selbster‐ kenntnis als politisches Leitprinzip dient der Kompetenzsicherung in allen wichtigen Bereichen der Polis. Das Wissen führt in allen Gebieten zu Qualitätssteigerung, Leistungsoptimierung und Funktionstüchtigkeit und fördert damit das Gemeinwohl. Eine das Wohl der Bürger fördernde Politik aber ist eine gute Politik. Fazit: Auf‐ grund dieser praktischen Wirksamkeit kann die Selbsterkenntnis als ein großes Gut (μέγα ἀγαθὸν) bezeichnet werden (172a5, 172d4, 175e).
53 „Denn wenn das Fehlen beseitigt ist und das Richtighandeln überall obwaltet, so müssen, die in dieser Verfassung sind, notwendig ein schönes und gutes Leben führen“ (Charm. 171e7– 172a3).
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3. Sophistische und Philosophische Selbsterkenntnis Die im Charmides dargestellte Selbsterkenntnis ist eine komplexe Konzeption, die zunächst plausibel erscheint. Im prüfenden Dialog zeigt Platon jedoch auf, dass das Konzept zuletzt auf fragwürdigen Prämissen beruht. Dabei wird ansatzweise das ei‐ gene Verständnis der Selbsterkenntnis sichtbar, das sich von der sophistischen Selbstreflexion deutlich unterscheidet. Die platonische Kritik soll abschließend kurz skizziert werden. Das Grundproblem der sophistischen Selbsterkenntnis sieht Platon in den zugrun‐ de gelegten Wertannahmen. Als problematisch erscheint zum einen die Identifizie‐ rung von epistemischem Selbst und dem Guten und zum anderen die daraus abgelei‐ tete wissens- und wohlstandsorientierte Bestimmung des guten Lebens. Die platoni‐ schen Dialoge des frühen und mittleren Werks verweisen darauf, dass Wissensfähig‐ keit, technisches Handeln und Lebensgüter nicht selbst schon einen höchsten Wert bezeichnen, sondern einer Begründung bedürfen. Das Gute (ἀγαθόν) zeigt sich in den dialektischen Untersuchungen stets als das sinngebende, erfüllende Prinzip, auf das Erkenntniskraft und Wissenschaften bezogen bleiben, das Orientierung bietet und den Gebrauch der vorhandenen Fähigkeiten, Kenntnisse und Lebensgüter regu‐ liert. Die kognitiven Vermögen sowie die technischen Kenntnisse und Lebensgüter werden insbesondere in den frühen und mittleren Dialogen in ihrer axiologischen In‐ differenz aufgezeigt. Im Laches wird der Gedanke entwickelt, dass die hervorbrin‐ genden Künste insofern begrenzt sind, als die bloße Fachkompetenz noch kein Urteil über den Zweck und Nutzen der hervorgebrachten Werke und den sinnvollen Einsatz des Fachwissens impliziert (vgl. La. 195b-196a). Der Fachmann kann als solcher nicht einschätzen, ob die Anwendung seines Wissens in einer bestimmten Situation tatsächlich gut und vorteilhaft für eine individuelle Person, eine Institution oder die Polis ist. Ein ähnlicher Gedanke wird im Charmides entwickelt: Die Künste sind auf die Hervorbringung von bestimmten Lebensgütern beschränkt und enthalten als sol‐ che noch keine praktische Urteilskraft, die über Anwendung und Gebrauch zu ent‐ scheiden vermag. Dazu bedarf es einer übergeordneten Werteinsicht, die dafür sorgt, „daß alles gut (εὖ) geschehe und zu unserem Nutzen (ὠφέλεια)“ (Charm. 174c8f.). Diese Einsicht – hier als Erkenntnis des Guten benannt (174d4f.) – fungiert als lei‐ tendes, regulierendes Prinzip, das alles zum Besten ordnet und der Sicherung von materiellem Wohlstand und Leben eine Begründung verleiht. Das gute Leben, so die Aussage im Charmides, ist nicht bereits mit der Sicherung von Wissensstandards und der Güterversorgung gegeben, sondern ist von der Erkenntnis des Guten abhän‐ gig.
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Die in diesen Überlegungen bereits angedeutete Unterscheidung zwischen der Er‐ kenntniskraft als gegebenem Vermögen und dem Wertprinzip des Guten54 wird in der Politeia noch deutlicher artikuliert. Im Rahmen der dort thematisierten Umlen‐ kung der Seele (περιαγωγή) führt Platon aus, dass die Fähigkeit des Erkennens einem Göttlichen angehört, „welches seine Kraft niemals verliert, nur aber durch Lenkung nützlich und heilbringend oder auch unnütz und verderblich wird“ (ὃ τὴν μὲν δύναμιν οὐδέποτε ἀπόλλυσιν, ὑπὸ δὲ τῆς περιαγωγῆς χρήσιμόν τε καὶ ὠφέλιμον καὶ ἄχρηστον αὖ καὶ βλαβερὸν γίγνεται rep. 518e3–519a1). Die Erkenntniskraft hat zwar einen herausgehobenen, übergeordneten Stellenwert innerhalb des Seelengan‐ zen – sie ist das Göttlichste in der Seele. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie einen intrinsischen Wert besitzt.55 Um Bestheit zu erlangen und zum Nutzen der individu‐ ellen Person und der Gemeinschaft wirken zu können, bedarf dieses Organ (ὄργανον rep. 518c5) einer Lenkung.56 Von dieser Aussage her lässt sich Platons eigenes Ver‐ ständnis der Selbsterkenntnis erschließen. Selbsterkenntnis geht nach platonischer Auffassung nicht im epistemischen Selbstbewusstsein auf, sondern ist wesentlich auf die Bildung des Erkenntnisorgans durch Ausrichtung auf das Gute bezogen. Wie stark Platon die Selbsterkenntnis mit der Einsicht in das Gute verknüpft, wird insbe‐ sondere im Frühdialog deutlich. Die sokratische Prüfung zielt auf eine Einsicht, die die eigenen Defizite hinsichtlich der Begründung des Wertwissens erkennt und da‐ mit eine auf das Gute bezogene Erkenntnissuche in Gang setzt. Diese anhand der Sokrates-Figur anschaulich vorgeführte Suche verbindet Platon mit Bildungsprozes‐ sen, die sowohl für die eigene Lebensführung als auch für die Übernahme von politi‐ scher Verantwortung von Bedeutung sind. Im Gegensatz zur sophistischen Konzepti‐ on, die das epistemische Selbst und das entsprechende Selbstwissen als regierende Instanz setzt (vgl. Charm. 174e1), ist bei Platon der Gedanke vorherrschend, dass nur das gebildete Selbst und die damit verbundene Einsicht in das Gute in der Lage sind, Regierungs- und Steuerungsfunktionen bestmöglich zu erfüllen.
Literatur Benson, H. H. (2003): A Note on Socratic Self-Knowledge in the Charmides, in: Ancient Phi‐ losophy 23, S. 31–47. Cairns, D. L. (1993): Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford.
54 Eine ähnliche Differenzierung ist bereits im Augen- und Spiegelgleichnis des Alkibiades I 133a-c angedeutet. 55 Vgl. die Differenzierung zwischen der Erkenntnisfähigkeit und dem Guten in rep. 508a-c. 56 Vgl. insbes. das Sonnengleichnis (rep. 508c-509b) und das Höhlengleichnis (rep. 514a-516c) sowie rep. 517c.
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Hendrik Hansen Sophistische Vertragstheorie: Protagoras
Gängige Darstellungen der Theorie des Gesellschaftsvertrags beginnen mit Thomas Hobbes und John Locke1 und sehen im Kontraktualismus eine geistige Entdeckung des 17. und 18. Jahrhunderts. Während „vormoderne“ politische Denker die staatli‐ che Ordnung von einem den Menschen transzendierenden Ordo her gedacht haben (Platon, Aristoteles) oder von der göttlichen Ordnung her begründen (Augustinus, Thomas von Aquin), zielen die Vertragstheoretiker auf eine Legitimation der politi‐ schen Herrschaftsbeziehungen aus der freien Entscheidung der Individuen, die der Herrschaft zustimmen, weil sie ihr Überleben, ihren Besitz und ihre Freiheit sichert.2 In der Sophistik könne man allenfalls „Spuren des Gesellschaftsvertrags“ ausma‐ chen.3 Auch ausführliche Darstellungen der Ideengeschichte sehen in den Sophisten zwar Vordenker einer Theorie der Gleichheit (Antiphon), der Demokratie (Protago‐ ras) und der Macht (Thrasymachos), nicht aber einer Theorie des Gesellschaftsver‐ trags.4 Andere Autoren verweisen hingegen darauf, dass die Grundgedanken der Theorie des Sozialvertrags bereits von den Sophisten vertreten wurden: Schröder nennt u.a. den (mutmaßlichen) Gorgias-Schüler Lykophron sowie den anonymen Autor An‐ onymus Iamblichi als sophistische Vertreter der Theorie, dass die Menschen sich auf die Errichtung einer Staats- und Rechtsordnung geeinigt haben, um den ursprüngli‐ chen Zustand der Gesetzlosigkeit zu überwinden.5 Kerferd / Flashar sehen die Theo‐ rie des Gesellschaftsvertrags in der Nomos-Physis-Debatte angelegt und beziehen sich für diese Einschätzung insbesondere auf die sophistischen Gegner der Vertrags‐ theorie: Kallikles, Thrasymachos und die von Glaukon im Zweiten Buch der „Poli‐ teia“ referierte (aber von ihm nicht geteilte) Kritik der Vertragstheorie, dass der Ver‐ trag ein Zusammenschluss der Schwächeren sei, der sich gegen die von Natur Stär‐ keren wendet.6 Die Frage, ob in der Sophistik eine frühe Variante der Theorie des Gesellschafts‐ vertrags vertreten wurde, ist nicht allein aus philosophiegeschichtlichen Gründen re‐ levant. Es geht nicht um eine „Spurensuche“, bei der zu untersuchen wäre, wieviel 1 2 3 4 5 6
Hobbes 1984, Locke 1977. So z.B. Kersting 1995, S. 680f. Ebd., S. 680. Ottmann 2001, S. 216–233. Schröder 2001, Sp. 963. Kerferd/Flashar 1998, S. 16f. Ähnlich: Kahn 1981.
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von den heutigen Einsichten der Moderne in der Sophistik bereits vorweggenommen wurde. Vielmehr geht es um die Frage, wie aktuell die politischen Debatten des 5. Jahrhunderts v. Chr. für die Gegenwart sind. Denn wenn es so ist, dass die Grundzü‐ ge der Vertragstheorie bereits in der Sophistik vertreten wurden, dann können die politischen Theorien von Platon und Aristoteles nicht einfach als „vormodern“ zu‐ rückgewiesen werden: 7 Beide haben ihre Vorstellungen von der staatlichen Ordnung explizit aus der kritischen Auseinandersetzung mit der sophistischen Vertragstheorie entwickelt. Auch die Kritik der Vertragstheorie von Thrasymachos und Kallikles be‐ käme dann eine ganz andere Aktualität, weil sich die Frage stellt, wieviel sie von der Kritik dieser Theorie im 19. und 20. Jahrhundert vorwegnehmen (u. a. Nietzsche, Foucault; siehe dazu die Beiträge im dritten Teil des vorliegenden Bandes). Ob und inwieweit die Theorie des Gesellschaftsvertrags in der Sophistik bereits vertreten wurde, ist die zentrale Frage dieses Beitrags. Er konzentriert sich dabei auf die politische Theorie von Protagoras, denn in seinem Mythos von der Schöpfung der menschlichen Kultur und in seiner Rede über die Lehrbarkeit der Tugend (Prot. 320c-328d) findet sich die umfassendste Geschichtsphilosophie und Legitimations‐ theorie der politischen Herrschaft, die von den Autoren der Sophistik überliefert ist. Im Mittelpunkt dieses Mythos steht das Anliegen von Protagoras, die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz zu begründen und zugleich zu erklären, welche Unter‐ schiede zwischen den Bürgern bestehen, die eine Erziehung zur Tugendhaftigkeit – wie er sie als Sophist anbietet – erforderlich machen. Maßstab einer guten Erziehung im Sinne von Protagoras ist der Erfolg in der Polis, und damit legitimiert er zugleich eine erhebliche Ungleichheit. Im folgenden wird zunächst untersucht, wie Protagoras im Kulturschöpfungsmy‐ thos die Gleichheit der Menschen begründet und die politische Ordnung vertrags‐ theoretisch legitimiert. Im zweiten Abschnitt wird gezeigt, welche Unterschiede zwi‐ schen den Bürgern trotz der grundsätzlichen Gleichheit bestehen bleiben und wie sie durch die Erziehung und die Strafjustiz gemildert werden. Der dritte Abschnitt ana‐ lysiert, welches Tugend- und Selbstverständnis der politischen Theorie von Protago‐ ras zugrundeliegt. Abschließend wird die Position von Protagoras mit derjenigen von Perikles verglichen. Bei ihm zeigt sich noch deutlicher als bei dem ihm naheste‐ henden Protagoras, wie die vertragstheoretische Begründung des Staates in die Legi‐ timation des Rechts des Stärkeren umschlagen kann.
7 Vgl. zu diesem Vorwurf z.B. Schnädelbach 1986.
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1. Gleichheit der Bürger: vertragstheoretische Begründung der Isonomie Die Ausgangsfrage von Protagoras, auf die er mit dem Kulturschöpfungsmythos ant‐ wortet, unterscheidet sich deutlich von modernen vertragstheoretischen Texten. Bei Hobbes und Locke – um nur zwei Beispiele zu nennen – steht am Anfang die Frage nach der Legitimität politischer Ordnung überhaupt (Hobbes) oder die Frage, welche politische Ordnung legitim sei (in Abgrenzung von Ordnungen, denen die Legitimi‐ tät abgesprochen wird; Locke).8 Bei Protagoras lautet die Ausgangsfrage hingegen, ob die „Wohlberatenheit“ (εὐβουλία) in eigenen Angelegenheiten und in denen des Staates lehrbar sei. Protagoras behauptet gegenüber Sokrates, gerade diese Wohlbe‐ ratenheit zu lehren (Prot. 318e-319a); Sokrates entgegnet ihm, dass dies doch der grundlegenden Annahme der Demokratie widerspreche, dass jeder Bürger diese Ei‐ genschaft bereits habe (Prot. 319c-d). In seiner Rede zielt Protagoras darauf zu be‐ gründen, dass zwar alle Menschen in gleicher Weise an der politischen Kunst (πολιτική τέχνη) teilhaben, aber die Fähigkeit, sich in den Angelegenheiten der Stadt zu beraten – also die Tugend – dennoch lehrbar sei. Mit dem Mythos (Prot. 320c-322d) erläutert Protagoras das erste dieser beiden Argumente: die fundamentale Gleichheit der Menschen hinsichtlich ihrer Fähigkei‐ ten, als Bürger an den Geschicken ihrer politischen Gemeinschaft mitzuwirken.9 Das zweite Argument, demzufolge die Menschen doch insoweit ungleich seien, als sie der Erziehung zur Tugend bedürfen (insbesondere der Erziehung durch den Sophis‐ ten), ist Thema des zweiten Teils der Rede, in der Protagoras sich nicht mehr auf einen Mythos, sondern auf den Logos stützt (Prot. 323c-328d; siehe Abschnitt 2 die‐ ses Beitrags). Äußerlich verwendet Protagoras mit dem Mythos die Sprache der (griechischen) Religion und stellt die politische Ordnung und das Recht als von den Göttern gege‐ ben dar; bei näherer Betrachtung wird sich jedoch zeigen, dass das Verständnis von Recht und politischer Ordnung dem der archaischen Zeit diametral entgegengesetzt ist und dass der Mythos die politische Ordnung ganz vom Menschen her begründet. Der Mythos schildert in drei Stufen die Erschaffung der Lebewesen (Stufe 1), der menschlichen Kultur (Stufe 2) und der Fähigkeit der Menschen zur Gründung politi‐ scher Gemeinschaften (Stufe 3). Bei der Erschaffung der Lebewesen bildeten die Götter zunächst die „Rohlinge“ der Lebewesen ohne spezifische Eigenschaften10 und beauftragten Prometheus und Epimetheus mit der Verteilung der Eigenschaften. Epimetheus, dessen Name wörtlich der „Nach-Denker“ bedeutet, überredete Prome‐ theus, den „Vor-Denker“, sie vornehmen zu dürfen; Prometheus hingegen solle die 8 9
Vgl. dazu Hansen 2008, S. 171–182 (zu Hobbes) und S. 223–228 (zu Locke). Auf den Mythos folgt noch eine kurze argumentative Begründung der Gleichheit: Prot. 322d-323c. 10 Zur Schaffung der Menschen aus Erde und Feuer sowie aus denjenigen Stoffen, die sich mit Erde und Feuer verbinden lassen, siehe Manuwald 1999, S. 183.
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Kontrolle der Verteilung übernehmen. Damit stand schon am Beginn der Kulturge‐ schichte eine Verkehrung: Derjenige, der durch seine Fähigkeit zum Planen und Vor‐ ausschauen dazu berufen war, die Verteilung der Eigenschaften vorzunehmen, tauschte diese Aufgabe mit demjenigen, dem die Kontrolle des Ergebnisses zuge‐ kommen wäre. So kommt es denn auch in der Folge zu einem gravierenden Fehler. Epimetheus verteilte die Eigenschaften so, dass die Fähigkeiten der Lebewesen ausgeglichen wa‐ ren: Jede Art konnte sich vor den anderen schützen, weil sie entweder Stärke verlie‐ hen bekam, um sich zu verteidigen, oder Schnelligkeit, um zu fliehen. Ebenso erhielt jede Art die Fähigkeit, die jeweiligen klimatischen Bedingungen zu ertragen und sich die notwendige Nahrung zu verschaffen. Alle Eigenschaften verteilte er so, „dass nicht eine Gattung gänzlich verschwände“ (Prot. 321a) und stellte damit ein Gleichgewicht zwischen den Arten her. Nur den Menschen hatte er bei seiner Vertei‐ lung übersehen: „Wie aber Epimetheus doch nicht ganz weise war, hatte er unver‐ merkt schon alle Kräfte aufgewendet für die unvernünftigen Tiere; übrig also war ihm noch unbegabt das Geschlecht der Menschen, und er war wieder ratlos, was er diesem tun sollte.“ (Prot. 321c) Als Prometheus bei der Überprüfung der Verteilung den Menschen „nackt, unbe‐ schuht, unbedeckt, unbewaffnet“ (ebd.) sah und feststellte, dass keine Eigenschaft mehr übrig war, die man ihm zu seiner Rettung hätte zuteilen können, stahl er von Athene, der Göttin der Weisheit und der Künste, und Hephaistos, dem Gott des Feu‐ ers und der Schmiedekunst, den technischen Verstand und das Feuer und gab sie den Menschen. Der Verstand des Menschen ist folglich nicht etwas, was ihn gegenüber anderen Lebewesen besonders auszeichnet; vielmehr ist er eine Kompensation für seine fehlende physische Lebenstüchtigkeit: Weil er weder Fell noch Klauen noch Flügel bekommen hat, erhält er als Ersatz den Verstand, um mit seiner Hilfe das Überleben zu sichern. Prometheus wurde von den Göttern für seinen Diebstahl bestraft; die Menschen hingegen können zunächst überleben. Durch ihre Verwandtschaft mit den Göttern entwickeln sie die Religion und die Sprache und sie sind in der Lage, sich Nahrung zu beschaffen und Wohnungen zu bauen (Prot. 322 a). Da ihnen aber die bürgerliche bzw. politische Weisheit (πολιτική τέχνη) fehlt, sind sie nicht in der Lage zusam‐ menzuleben, weil sie immer wieder in Streit miteinander geraten. Leben sie aber vereinzelt, so sind sie nicht fähig, sich gegen die wilden Tiere zu verteidigen (Prot. 322b). Das menschliche Geschlecht drohte unterzugehen, und so beschloss Zeus, persönlich einzugreifen und den Menschen durch den Götterboten Hermes „Scham und Recht“ (αἰδώς und δίκη, Prot. 322c) bringen zu lassen, „damit diese der Städte Ordnungen und Bande würden, der Zuneigung Vermittler“ (ebd.). Auf Nachfrage von Hermes ordnet Zeus an, dass Scham und Recht im Unterschied zu den techni‐ schen Künsten unter allen Menschen gleich verteilt werden sollen: „alle sollen teil
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daran haben; denn es könnten keine Staaten bestehen, wenn auch hieran nur wenige Anteil hätten wie an den anderen Künsten. Und gib auch ein Gesetz von mir, dass man den, der Scham und Recht sich anzueignen unfähig ist, töte wie einen bösen Schaden des Staates.“ (322d) Dieser Mythos bedient sich, wie bereits erwähnt, nur äußerlich der Sprache der archaischen Religion, die sich dadurch auszeichnet, dass sie in Zeus die Quelle der Gerechtigkeit und des Rechts sieht. Das zeigt sich zum einen in Hesiods Prome‐ theus-Mythos, der Zeus als Quelle der Gerechtigkeit darstellt,11 zum anderen wird es in Sophoklesʼ „Antigone“ in einer der berühmtesten Konfrontationen des archai‐ schen und des sophistischen Verständnisses von Recht und Gerechtigkeit deutlich. Für Antigone ist das menschliche Recht vom göttlichen abhängig und darf zu letzte‐ rem nicht in Widerspruch stehen. Die politische Tugend besteht darin, die von den Göttern gewollte Ordnung zu verwirklichen. Kreon hingegen vertritt einen aufkläre‐ rischen Standpunkt: Die politische Ordnung ist nicht das Werk der Götter, sondern der Menschen – genauer gesagt das Werk der Herrschenden, die die Ordnung nach ihrem Maß (also in Hinblick auf ihren Nutzen) gestalten; die Untergebenen haben sich diesem Maß zu fügen.12 Eben diese Position, dass die politische Ordnung ein Werk der Menschen sei, vertritt auch Protagoras in seinem Prometheus-Mythos, aber ausgehend von der Annahme der Gleichheit der Bürger: Bei Protagoras schafft nicht ein einzelner Herrschender das Recht, sondern die Volksversammlung; Maßstab der Gesetzgebung ist nicht der Nutzen eines Einzelnen, sondern der Nutzen der Menge. Diese Opposition zur archaischen Religion zeigt sich in allen drei Phasen des My‐ thos. Erstens wird sie in der Grundstruktur der biologischen Welt deutlich, die im Zu‐ sammenhang mit der Ausstattung der Lebewesen mit ihren Fähigkeiten beschrieben wird. Diese Grundstruktur ist nicht auf Gott ausgerichtet, sondern auf die Erhaltung des Gleichgewichts. Im Verlauf der Schöpfung der Lebewesen wurden ihre Fähig‐ keiten so verteilt, dass es im Konkurrenzkampf der Gattungen um lebensnotwendige Ressourcen zu einem Gleichgewicht kommt, bei dem das Überleben jeder Gattung gesichert ist. Mit dem Bild der Schöpfung ist also nicht die Ordnung der biologi‐ schen Welt auf einen transzendenten Seinsgrund hin gemeint, sondern die zentrale These von Protagoras lautet, dass die Natur auf ein Gleichgewicht zielt. Die Logik des Gleichgewichts ist nichts anderes als die Übertragung des Ziels der Überlebens‐ sicherung auf die Ebene des Gesamtsystems: alle Gattungen sollen eine Überlebens‐ chance bekommen, weil ein Ungleichgewicht zwischen den Gattungen den dauer‐ haften Bestand des Systems gefährden könnte. Dieser Zweck ist im folgenden auch maßgeblich für die Gestaltung der politischen Ordnung, denn auch hier geht es pri‐ mär um die Sicherung des Überlebens der Gemeinschaft der Bürger, und nur sekun‐ 11 Vgl. Ottmann 2001, S. 46. 12 Sophokles: Antigone, Vers 450–495. Siehe dazu Ottmann 2001, S. 191–196.
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där um die individuelle Verwirklichung eines gelingenden Lebens innerhalb der Ge‐ meinschaft.13 Zweitens zeigt sich die Opposition zur archaischen Religion in der Darstellung der nächsten Phase der Kulturschöpfung nach der Ausstattung der Menschen mit dem technischen Verstand und dem Feuer; sie ähnelt auffallend den Beschreibungen der Anarchie durch spätere Vertragstheoretiker.14 Die Menschen stehen in einem Konkurrenzkampf mit den Tieren, aber vor allem untereinander – und es gibt weder Gesetze, die ihrem Machtstreben Grenzen setzen, noch eine verbindliche Instanz, die die Gesetze durchsetzt. In diesem Zustand der Gesetz- und Herrschaftslosigkeit ist das menschliche Leben – wie Hobbes es später formulierte – „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“.15 Die Tatsache, dass die Menschen in dieser Phase Prot‐ agoras zufolge zuallererst die Sprache und die Religion entwickeln (Prot. 322a/b), könnte man als Durchbrechung der Logik ansehen, dass alles Streben auf das Ziel der Überlebenssicherung ausgerichtet ist. Doch damit übersieht man den Zweck der Ausstattung des Menschen mit Verstand und Feuer: Prometheus ging es nicht primär um eine „Verwandschaft mit Gott“ (Prot. 322a), sondern um die Sicherung des Überlebens der Menschen. Die „Verwandschaft mit Gott“ ist nur ein Nebenprodukt des primären Ziels. Drittens erscheint Zeus im Mythos nicht als Gesetzgeber, sondern als derjenige, der die Menschen mit der Fähigkeit ausstattet, Gesetze zu geben: Er lässt ihnen von Hermes nicht eine Rechtsordnung bringen, sondern die bürgerliche bzw. politische Weisheit (πολιτικὴ τέχνη, Prot. 322b). Diese Fähigkeit hat zwei Seiten: auf der einen Seite die Fähigkeit, eine Rechtsordnung zu schaffen, die die Handlungsspielräume der Bürger so bestimmt, dass es nicht zu Konflikten kommt (δίκη), auf der anderen die Fähigkeit zur Verinnerlichung dieser Rechtsordnung im Rechtsempfinden („Scham“, αἰδώς). Dieses Rechtsempfinden soll sicherstellen, dass die Bürger die Gesetze von sich aus befolgen und deren Einhaltung nicht ständig kontrolliert wer‐ den muss. Im Ergebnis wird deutlich, dass es in dem Mythos nicht darum geht, dass die Menschen von Gott eine objektiv gute Rechtsordnung bekommen, die ihnen in der politischen Praxis als Richtschnur des Handelns dienen soll, sondern dass hier die Voraussetzungen für eine politische Ordnung reflektiert werden, in der die Bürger das Gute aus ihrer Sicht verwirklichen. Protagoras verfolgt gewissermaßen einen 13 Das Primat der Biologie über die Politik ist jedoch bei Protagoras wie in der Moderne nur ein scheinbares. Schon bei Protagoras ist es so, dass er seine Aussagen zum Überlebenskampf der Arten von der Betrachtung der menschlichen Gesellschaft auf die Tierwelt überträgt – er war Sozialphilosoph, nicht Biologe. Ebenso verhält es sich mit den biologischen Theorien des 19. Jahrhunderts: Charles Darwin wurde bei der Formulierung der Evolutionstheorie u.a. von Thomas Malthus’ Theorie der Bevölkerungsentwicklung beeinflusst; die Grundzüge der Evo‐ lutionstheorie wurden vor Darwin in der Philosophie entwickelt (Rensch 1972). 14 Vgl. Hobbes 1984, S. 94–98; Locke 1977, S. 209–215 (§§ 16–24). 15 Hobbes 1984, S. 96.
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transzendentalphilosophischen Ansatz: Seine Frage ist nicht diejenige nach der rich‐ tigen oder guten Rechtsordnung, sondern die nach der Bedingung der Möglichkeit einer guten Ordnung. Im Wandel vom archaischen zum protagoreischen Rechtsden‐ ken kann man mit Kant von einer kopernikanischen Wende sprechen16: von der Um‐ wendung vom objektivistischen Denken hin zu einer aufklärerischen Position, die nach den Voraussetzungen fragt, die auf Seiten der Rechtssubjekte erfüllt sein müs‐ sen, um eine gute politische Ordnung zu schaffen. Protagorasʼ politische Theorie steht damit fraglos der Moderne – dem Denken der Aufklärung – sehr nahe. Offen bleibt aber noch die Frage, ob er in dem Mythos eine Vertragstheorie entwickelt hat, denn das Konzept eines Gesellschaftsvertrags wird von ihm nicht explizit erwähnt. Doch die Parallelen zu modernen Vertragstheorien wie denjenigen von Hobbes und Locke sind nicht zu übersehen; sie zeigen sich ins‐ besondere in der Anthropologie, in der Legitimation der Herrschaft und in der durch die Gesellschaftsbildung konstitutierten Freund-Feind-Unterscheidung: •
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Anthropologie: Der Mensch ist ein Mängelwesen, dessen intellektuelle Fähigkei‐ ten eine Kompensation für seine mangelhafte physische Ausstattung sind. Die Vernunftbegabung des Menschen erscheint aus dieser Sicht nicht als eine Aus‐ zeichnung des Menschen vor allen anderen Lebewesen, sondern als Ausdruck seiner Defizienz: Weil er weder Fell noch Klauen noch Flügel hat, braucht er den Verstand, um sein Überleben zu sichern. Dieses Verständnis der geistigen Fähig‐ keiten des Menschen liegt z. B. auch bei Hobbes zugrunde. Hobbes charakteri‐ siert den Verstand als bloßes Mittel für die Verfolgung der von den Leidenschaf‐ ten vorgegebenen Ziele. Im „Leviathan“ unterscheidet er zwei Formen des Den‐ kens: Alle Lebewesen sind in der Lage zu überlegen, mit welchen Mitteln sie ein bestimmtes Ziel erreichen können (z. B. wie sie ihren Hunger oder Durst stillen können), doch nur der Mensch kann „bei der Einbildung eines beliebigen Dings nach allen möglichen Wirkungen suchen, die damit hervorgebracht werden kön‐ nen“.17 Die Fähigkeit, angesichts eines Gegenstandes danach zu fragen, zu wel‐ chem Zweck dieser Gegenstand ein Mittel (Werkzeug) sein kann, ist die eigent‐ lich menschliche Fähigkeit. Der Verstand dient der Erweiterung der Möglichkei‐ ten der Selbstdurchsetzung – das ist die moderne Variante der Theorie von Prot‐ agoras, dass die geistigen Fähigkeiten ein Instrument der Überlebenssicherung sind.18 Legitimation der Herrschaft: Protagoras legitimiert die politische Ordnung wie moderne Vertragstheoretiker aus einem (fiktiven) vorgesellschaftlichen Zustand,
16 Vgl. Kant 1983a, B XVI-XVIII. 17 Hobbes 1984, S. 20. 18 Die Charakterisierung des Menschen als Mängelwesen im Mythos von Protagoras weist zudem markante Ähnlichkeiten zu modernen Anthropologien wie derjenigen von Arnold Gehlen aus, vgl. Gehlen 2016.
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in dem die Menschen sich im Kriegszustand befinden. Die beiden zentralen Bot‐ schaften des Mythos von Protagoras, nämlich dass erstens der politische Zusam‐ menschluss dem Überleben und dem Nutzen der Bürger dient und zweitens alle Menschen in politischer Hinsicht die gleichen Fähigkeiten haben, sind auch die wesentlichen Prämissen der neuzeitlichen individualistischen und liberalen poli‐ tischen Theorie. Dabei steht Protagoras Locke näher als Hobbes: Bei beiden re‐ giert der Souverän mit Gesetzen, doch Hobbes setzt für die Durchsetzung der Gesetze auf die Macht des Souveräns, der jenseits des Vertrags steht,19 während Locke den Souverän selbst an die Gesetze bindet und betont, dass die Menschen einer inneren Motivation bedürfen, um die Gesetze zu befolgen. Freiheit darf für die Bürger nicht darin bestehen, zu tun, was ihnen beliebt, sondern „unter einem feststehenden Gesetz zu leben, das für jeden dieser Gesellschaft Gültigkeit be‐ sitzt und von der legislativen Gewalt (…) verabschiedet worden ist.“20 Freiheit setzt somit nach Locke voraus, dass die Bürger in ihrem Handeln die Grenzen ihrer Freiheit stets mitdenken. Das ist die zentrale Voraussetzung, mit der er die von ihm kritisierte Gewaltherrschaft des Hobbes’schen Leviathans vermeiden will: Eine ständige Kontrolle der Untertanen lässt sich nur umgehen, wenn die Menschen als Bürger das Recht aus eigenem Antrieb respektieren. In diesem Sinne lässt sich auch Protagorasʼ Hinweis deuten, dass es neben dem Recht der „Scham“ bedarf, um eine politische Ordnung zu konstituieren. Freund-Feind-Unterscheidung: An „Scham und Recht“ sollen auf Geheiß von Zeus alle Menschen gleichermaßen Anteil haben. Zeus fügt im Gespräch mit dem Götterboten Hermes eine bemerkenswerte Ergänzung hinzu: „Und gib auch ein Gesetz von meinetwegen, dass man den, der Scham und Recht sich anzueig‐ nen unfähig ist, töte wie einen bösen Schaden des Staates.“ (Prot. 322d) Die Schaffung einer politischen Ordnung konstituiert damit den Unterschied zwi‐ schen Freund und Feind: Freund ist derjenige, mit dem man innerhalb der politi‐ schen und rechtlichen Ordnung lebt, Feind der, der außerhalb dieser Ordnung steht. Das bemerkenswerte an dieser Sichtweise ist, dass, wie in den späteren Vertragstheorien von Hobbes und Locke demjenigen, der außerhalb der Ordnung steht, keine Rechte zukommen – er ist der absolute Feind, der rechtlos ist. Hobbes erläutert dies im Zusammenhang mit der Erörterung des Zustandekom‐ mens des Gesellschaftsvertrags: wer sich dem Vertrag nicht anschließt, verbleibt im Naturzustand und die anderen haben alle Rechte, ihn zu vernichten.21 Ähnlich erklärt Locke an verschiedenen Stellen in der „Zweiten Abhandlung über die Re‐
19 „Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten.“ (Hobbes 1984, S. 131.). 20 Locke 1977, S. 214 (§ 22). 21 Hobbes 1984, S. 138.
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gierung“, dass derjenige, der sich nicht an den Vertrag hält, vernichtet werden darf wie ein wildes Tier.22 Protagoras spricht zwar nicht explizit von einem Gesellschaftsvertrag, dennoch ist seine Theorie der Legitimation der politischen Ordnung eine kontraktualistische: Die Menschen begründen die Polis, weil dies für sie nützlich ist, und die Nützlich‐ keit ist auch die Richtschnur für alle politischen Entscheidungen. Diese Position knüpft am erkenntnistheoretischen Relativismus von Protagoras an23: Das „Gute“ für die politische Gemeinschaft, das in den demokratischen Entscheidungen getrof‐ fen werden soll, „schillert […] und verwandelt sich immer wieder“ (Prot. 334 b/c). Mit der Gründung der Polis soll eine Ordnung geschaffen werden, die es den Bür‐ gern ermöglicht, ihre jeweilige Vorstellung vom Guten mit Mehrheitsbeschlüssen zu ermitteln und umzusetzen.24 Aus der Gleichheit der Menschen folgt die Gleichwer‐ tigkeit ihrer Vorstellungen vom Guten und damit auch die Notwenigkeit, in Erman‐ gelung eines qualitativen Maßstabs auf das quantitative Maß der Mehrheit zu rekur‐ rieren. Da es keine übergeordnete Wahrheit gibt, sondern nur gleichwertige Vorstell‐ ungen von der Wahrheit, ist die größere Zahl das einzig mögliche Maß für politische Entscheidungen. Das zeigt sich auch in dem auf den Mythos folgenden „Beweis“ (τεκμήριον, Prot. 323a). Dass alle Menschen gleichermaßen Anteil an der Tugend haben, begründet Protagoras nämlich auch mit dem Argument, dass „wirklich alle Menschen anneh‐ men, ein jeder habe Anteil an der Gerechtigkeit und der übrigen bürgerlichen Tu‐ gend“ (Prot. 323a). Die Menschen sagen, „ein jeder müsse wenigstens behaupten, er sei gerecht, möge er es nun sein oder nicht, oder er wäre verrückt“ (Prot. 323b). Hier legt Protagoras streng genommen keinen logischen Beweis vor, sondern argumeniert mit dem Hinweis auf die Empirie. Dass Protagoras die Möglichkeit, dass die Men‐ schen in ihrer Meinung irren könnten, gar nicht in Erwägung zieht, liegt daran, dass er die herrschende Meinung als letzte Instanz anerkennt. Diese Position impliziert den Kontraktualismus, denn die politische Ordnung kann auf der Grundlage der An‐ nahme der Gleichberechtigung aller Meinungen nur auf dem Mehrheitsentscheid be‐ ruhen. Folge des Kontraktualismus ist die oben schon erwähnte Freund-Feind-Unter‐ scheidung: Sie beruht darauf, dass diejenigen, die sich dem Mehrheitsbeschluss zur Gründung einer Polis nicht anschließen, ihr gegenüber im Kriegszustand verbleiben.
22 Locke 1977, S. 206 (§ 11), 210 (§ 16) und 315 (§ 181). 23 Siehe dazu den Beitrag von Bachmann in diesem Band. 24 Vgl. Theait. 171a.
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2. Ungleichheit der Bürger in der Tugendhaftigkeit und ihre Lehrbarkeit Während Protagoras im Mythos den Fokus darauf legt, dass die Bürger alle gleicher‐ maßen Anteil an der bürgerlichen Tugend haben, erläutert er im zweiten Teil seiner Rede, dass diese Tugend trotz der bei allen Menschen vorhandenen Anlage lehrbar sei und in unterschiedlichem Maße verwirklicht wird. Es zeigt sich hier, dass die Unterschiede in der Tugend in der Konkurrenz der Bürger um wirtschaftlichen, so‐ zialen und politischen Erfolg eine wesentliche Rolle spielen: Das kontraktualistische Argument der Gleichheit dient nicht der Überwindung des Kampfes um Selbst‐ durchsetzung, der den Naturzustand prägte, sondern seiner Domestizierung durch die Transformation des Kampfes zu einem Wettstreit um sozialen, ökonomischen und politischen Erfolg. Protagoras erläutert in diesem Teil der Rede zunächst, war‐ um die Tugend lehrbar ist, obwohl alle an ihr Anteil haben, und geht dann auf seine eigene Rolle als Tugendlehrer ein, wobei er sein spezifisches Verständnis der Tu‐ gend andeutet (siehe dazu Abschnitt 3). Der Beweis der Lehrbarkeit der Tugend hat eine ähnliche Qualität wie der zuvor behandelte Beweis, dass alle gleichermaßen an der Tugend Anteil haben. Protagoras verweist wiederum auf die herrschende Meinung, derzufolge die Erziehung, die wechselseitigen Ermahnungen der Bürger und die Bestrafungen durch den Staat den Zweck haben, jene in ihren bürgerlichen Tugenden zu bessern, die Unrecht getan ha‐ ben (Prot. 323d-324a). Bei diesen Handlungen, so Protagoras, gehen die Bürger of‐ fensichtlich davon aus, dass die Tugend lehrbar und somit die Anlage zur Tugend unterschiedlich entwickelt ist. Dies zeigt Protagoras zunächst mit einigen kurzen Be‐ merkungen über den Zweck der Strafe, dann mit einer längeren Ausführung über die Erziehung. Die Strafe habe, so Protagoras, nicht den primären Zweck, Vergeltung zu üben, sondern künftiges Unrecht zu verhindern. Ihr Zweck liegt damit in der Prävention: „Wer aber mit Vernunft sich vornimmt, einen zu strafen, der bestraft nicht um des begangenen Unrechts willen – denn er kann ja doch das Geschehene nicht ungesche‐ hen machen – sondern des zukünftigen wegen, damit nicht auf ein andermal wieder weder derselbe noch einer, der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht bege‐ he.“ (Prot. 324b) Mit der Strafe soll demjenigen, der Unrecht getan hat, mittels der Abschreckung (άποτροπή, ebd.) die Tugend anerzogen werden. In diesen Ausführungen wird vielfach eine moderne Strafzwecktheorie gesehen, mit der das archaische Verständnis der Strafe als Rache für begangenes Unrecht überwunden wird. Gegen die Vergeltungstheorie, nach der die Strafe den Zweck hat, begangenes Unrecht zu vergelten, stellt Protagoras die Präventionstheorie, nach der sie der Verhinderung künftiger Straftaten dient. Dabei unterscheidet er in dem oben angeführten Zitat die Spezialprävention (Verhinderung künftiger Straftaten durch den Straftäter) und die Generalprävention (Einwirkung der Strafe auf das Verhalten
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der Allgemeinheit). Doch Protagoras spitzt die Opposition polemisch zu: die Vergel‐ tung bezeichnet er als „vernunftlos wie ein Tier“ und übergeht damit den Unter‐ schied zwischen blinder Rache (die maßlos ist) und gezielter Vergeltung nach dem Talionsprinzip („Auge um Auge, Zahn um Zahn“), bei dem die Verhältnismäßigkeit der Strafe zum verursachten Unrecht gefordert wird. Letzteres findet im übrigen in der neuzeitlichen Rechtsphilosophie prominente Vertreter: So lehnt Kant jeden über die Vergeltung hinausgehenden Strafzweck ab, damit die Bestrafung nicht zum Mit‐ tel für einen über die Wiederherstellung des Rechts hinausgehenden Zweck wird.25 Zugleich beschränkt Protagoras die Prävention auf die Abschreckung, die ledig‐ lich bewirkt, dass jemand aus Angst vor der Strafe kein Unrecht begeht. Eine tat‐ sächliche pädagogische Wirkung erzielt das Strafrecht erst, wenn es auf die Einsicht des Unrechttuenden zielt und darauf, den übrigen Bürgern zu signalisieren, dass ein bestimmtes Handeln unrecht ist. In den Worten der modernen Strafzwecktheorie be‐ schränkt Protagoras den Zweck der Strafe auf die negative Spezialprävention (Ab‐ schreckung des Täters vor weiteren Straftaten) und die negative Generalprävention (Abschreckung der Allgemeinheit). Er übersieht jedoch die positive Spezialpräventi‐ on (Besserung des Straftäters) und die positive Generalprävention (Förderung der Rechtstreue aller Bürger bzw. – in der Formulierung der deutschen Strafgesetzbu‐ ches – „Verteidigung der Rechtsordnung“, §§ 47 I und 56 III StGB).26 Wesentlich ausführlicher als die Strafe behandelt Protagoras die Erziehung, um sein Argument, dass die Tugend lehrbar sei, zu untermauern und auf Sokratesʼ Ein‐ wand zu reagieren, dass die vortrefflichsten Mitbürger wie Perikles offensichtlich nicht imstande seien, ihre Söhne zu erziehen (Prot. 319e/320a). Protagoras betont hier zunächst noch einmal die allgemeine Bedeutung der Tugend der Bürger für die Stadt: Alle Bürger müssen Anteil an der Tugend haben, damit es eine Polis geben kann. Auffallend ist, dass er hier nun von der allgemeinen Tugend des Mannes spricht (ἀνδρὸς ἀρετήν, Prot. 325a), während er zuvor von der politischen Tugend sprach (πολιτική τέχνη, Prot. 322b, bzw. πολιτική ἀρετή, Prot. 323a). Die Aufzäh‐ lung der Tugenden (Gerechtigkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit, Prot. 325a) unter‐ streicht, dass die Polis auf die Tugendhaftigkeit ihrer Bürger ganz allgemein ange‐ wiesen ist und Protagoras keinen besonderen Unterschied zwischen den bürgerlichen (politischen) Tugenden und den allgemein-menschlichen Tugenden sieht.27 Diese Tugenden stehen von frühester Kindheit an im Fokus der Erziehung. Prot‐ agoras unterscheidet in seiner Darstellung drei Altersstufen: •
Bereits kleine Kinder werden von ihren Eltern und Erziehern ständig ermahnt, was recht bzw. unrecht oder gut bzw. schlecht ist. Das sittlich gute Verhalten ist das oberste Ziel der Früherziehung von Kindern. Wenn ein Kind nicht gehorchen
25 Vgl. Kant 1983b, S. B 229, B 170–172. 26 Zu den Strafzwecktheorien vgl. z. B. Kaspar 2017, S. 24–26 (Rdnr. 8–17). 27 Anders Aristoteles: Politik, Buch III, Kapitel 4.
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•
•
will, gilt es, es „wie ein Holz, das sich geworfen und verbogen hat, wieder gera‐ de zu machen durch Drohungen und Schläge“ (Prot. 325d). Auch in der Schule ist die Vermittlung von Tugendhaftigkeit das wichtigste Ziel der Bildung: Die Befassung mit Dichtung und Musik soll die Schüler nicht nur lehren, „Maß und Ton [zu] halten“, sondern auch „geschickter zum Reden und Handeln“ zu werden (Prot. 326b). Die Leibesübungen hingegen fördern die Tap‐ ferkeit und die Fähigkeit, „der richtigen Gesinnung dienen zu können“, und zwar „im Kriege oder bei anderen Geschäften (πράξεςιν)“ (Prot. 326c).28 Im Erwachsenenalter „nötigt wiederum die Stadt sie, die Gesetze zu lernen und nach diesen zu leben“ (Prot. 326c/d). Wer von ihnen abweicht, wird von den Mit‐ bürgern belehrt und zurechtgewiesen (Prot. 324a, 327b) oder von der Stadt be‐ straft (Prot. 326d/e). Die Rechtsordnung der Polis hat somit nicht allein die Funktion, Freiheitsspielräume der Bürger zu definieren, sondern soll pädago‐ gisch wirken. In den Gesetzen sind die Erfahrungen und Einsichten von „treffli‐ chen alten Gesetzgebern“ (Prot. 326d) geronnen und sie dienen wie die schuli‐ sche Erziehung der Förderung der Tugendhaftigkeit der Bürger. Hier wird – trotz des aufklärerischen Duktus von Protagoras – ein zutiefst konservativer Zug sei‐ ner politischen Theorie deutlich.
Die Entwicklung der Anlage zur Tugend, die dem Mythos zufolge alle Menschen haben, ist folglich eine lebenslange Aufgabe. Warum scheint die Erziehung zur Tu‐ gend dann aber ausgerechnet bei den Söhnen „vortreffliche[r] Männer“ (Prot. 326e) zu misslingen? Schon die Tatsache, dass Sokrates bei der Formulierung dieses Ein‐ wandes gegen die Lehrbarkeit der Tugend als prominentes Beispiel die Söhne des Perikles nennt (Prot. 319e), musste von Protagoras als Provokation aufgefasst wer‐ den – war er doch wohl selbst ein enger Vertrauter von Perikles.29 Zudem waren die Söhne von Perikles bei dem Gespräch anwesend (so Sokrates, ebd.), und vielleicht zählten sie zu seinen Hörern.30 Protagoras antwortet auf den Einwand mit einer Analogie: Wenn eine Polis nur unter der Bedingung Bestand haben könnte, dass alle Bürger Flötenspieler wären und sie sich alle gegenseitig im Flötenspielen unterrichten würden, so würden den‐ noch die Söhne guter Flötenspieler nicht notwendig besser spielen als die der schlechten Flötenspieler. Der Erfolg hängt vielmehr davon ab, „wessen Sohn die besten Anlagen zum Flötenspielen hätte“ (Prot. 327b/c). Hier ergänzt Protagoras sei‐ 28 Auffallend ist die Parallele zur Behandlung der Erziehung in Platons „Politeia“ (Bücher II und III): Auch dort spielen Dichtung, Musik und Sportunterricht eine zentrale Rolle in der schuli‐ schen Förderung der Besonnenheit und der Tapferkeit. Doch die Tugend, die vermittelt werden soll, wird dort gänzlich anders verstanden – dieser Unterschied wird im folgenden noch deut‐ lich werden. 29 Kerferd/Flashar 1998, S. 29; Silvermintz 2015. 30 In den historischen Schriften (Plutarch, Diogenes Laertius) über Protagoras bzw. Perikles gibt es dazu jedoch keine Angaben; vgl. z.B. Podlecki 2013.
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ne These, dass „Scham und Recht“ allen Menschen zuteil werden, um einen wichti‐ gen Zusatz: Zwar haben alle Menschen daran Anteil, aber nicht alle in gleichem Ma‐ ße. Die Ungleichheit in der Entwicklung der Tugend ist jedoch nicht eine Folge der sozialen Herkunft, sondern der ungleichen Anlage.31 Die ungleichen Anlagen und die daraus resultierenden Unterschiede in der Tu‐ gendhaftigkeit dürfen nach Protagoras aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Vergleich zu Menschen ohne jede Erziehung alle Bürger Athens ihre Anlage zur Tu‐ gend mehr oder weniger gut ausgebildet haben. Käme Sokrates in eine Gesellschaft von „Wilden“, die „gar keine Erziehung haben, keine Gerichtshöfe, keine Gesetze und überall keinen Zwang“, so würde er „jammern aus Sehnsucht nach der Schlech‐ tigkeit der hiesigen Menschen“ (Prot. 327d/e). Wiederum bemüht Protagoras eine Analogie zur Bekräftigung seines Arguments: So wie Sokrates keinen Lehrer der Tugend sieht, weil alle Athener solche Lehrer sind, würde er auch vergeblich „Leh‐ rer im Hellenischsprechen“ suchen, da alle diese Fähigkeit haben (Prot. 328a). Den‐ noch gibt es Menschen, die sich in der Tugend „nur um ein weniges besser (…) ver‐ steh[en]“, so dass man ihre Dienste dankbar annehmen sollte – und zu diesen zählt Protagoras auch sich selbst (Prot. 328a/b). Protagoras kommt damit am Ende seiner langen Rede auf seine eigene Rolle zu sprechen. Statt nun aber noch auf die Frage einzugehen, was es denn ist, was er lehrt – diese Frage hatte ja erst zu derjenigen nach der Lehrbarkeit der Tugend geführt (Prot. 318a) – geht er abschließend nur noch auf die Honorarfrage ein (328b/c): Sei‐ ne Schüler sollen entweder den von ihm geforderten Preis zahlen (der wohl sehr hoch war, vgl. Men. 91d32), oder er „geht […] in den Tempel und schwört dort, wie hoch er die erworbenen Kenntnisse schätze, und soviel gibt er dann.“ (Ebd.) Sein Selbst- und Tugendverständnis wird jedoch in der Rede bereits hinreichend deutlich und soll im folgenden Abschnitt betrachtet werden.
3. Erziehung zum Erfolg: das Selbst- und Tugendverständnis von Protagoras Protagoras trat offen als Sophist auf und rühmt sich schon zu Beginn des Gesprächs seiner Offenheit (Prot. 317b): Er versteckt seine Kunst nicht hinter anderen Gegen‐ ständen wie der Poesie, den Mysterien, den Leibesübungen oder der Musik (Prot. 316a), sondern sagt „gerade heraus“, dass er „ein Sophist [ist] und die Menschen er‐ ziehen will“ (Prot. 317b). Die Kenntnis, die er seinen Schülern vermittelt, ist „die Klugheit (εὐβουλία) in seinen eigenen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am 31 Dann fragt es sich aber, warum „die Reichsten“ es am besten vermögen, ihre Kinder zu erzie‐ hen, wie Protagoras es oben (326c) behauptet hat. 32 „Denn ich weiß, daß der einzige Protagoras mit dieser Weisheit mehr Geld erworben hat als Pheidias, der doch so ausgezeichnet schöne Werke verfertigte, und noch zehn andere Bildhauer dazu.“ (Sokrates im Dialog „Menon“, 91d).
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besten verwalten, und dann auch in den Angelegenheiten des Staats, wie er am ge‐ schicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden.“ (Prot. 318e-319a). Die Eubulie, die Schleiermacher mit „Klugheit“ übersetzt und die auch als „Wohlberatensein“ bezeichnet wird33, zielt somit auf den Erfolg im Privaten (gu‐ te Verwaltung des Hauswesens einschließlich der Besitztümer) und im öffentlichen Leben. Der Schwerpunkt liegt auf letzterem, und hier unterscheidet Protagoras noch zwischen der Praxis der guten Führung des Staates (πράττειν) und der Theorie, d.h. der Fähigkeit, über die Kunst der Staatsführung zu reden (λέγειν). Das entscheidende Kennzeichen von Protagorasʼ Verständnis der Eubulie ist ihr Zweck: der Erfolg. Klugheit und Wohlberatenheit zielen darauf, den Bürger vermö‐ gender zu machen (δυνατώτατος, 319a), um dadurch einflussreicher und erfolgrei‐ cher zu sein. Das zeigt sich nicht nur in dem hier zitierten Teil des Gesprächs (Prot. 318e-319a), sondern auch an anderen Stellen: •
•
•
In der Analogie der Tugend mit der Kunst des Flötenspielens, in der Protagoras das Bild einer Polis zeichnet, in der alle Bürger Flötenspieler sind – so wie (nach seiner Darstellung) alle Athener Anteil an der Tugend haben –, ist der Maßstab des Erfolgs die Berühmtheit, die als selbstverständliches Ziel der Flötenkunst an‐ genommen wird (Prot. 327c). Im Dialog „Theaitetos“ ist der Sophist nicht derjenige, der festsetzt, was schön, gerecht und fromm ist (Theait. 172a), sondern derjenige, der besser als andere er‐ messen kann, was für einen Staat nützlich ist – nämlich in Hinblick auf die vom Staat festgesetzten Maßstäbe (Theait. 172a/b, s.a. 167c). Auch hier ist die Eubu‐ lie des Sophisten also die Kunst, Staatsmänner und die Bürger einer Polis darin zu beraten, wie sie die Polis erfolgreicher machen können. Schließlich versteht Protagoras sich auch selbst als Beispiel der Eubulie und ver‐ weist stolz auf seinen eigenen Erfolg als Sophist (Prot. 328a/b und 317 b/c). Die‐ ser Erfolg wird – wie schon erwähnt – auch von anderen bezeugt (Men. 91d). Im besonderen betont Protagoras seine Fähigkeit, im „Kampf des Redens“ zu siegen (ἀγώνα λόγων, Prot. 335a).
Diese Eubulie des Protagoras ist eine ganz andere als diejenige, von der Platon in der „Politeia“ spricht.34 Dort wird darunter die „Erkenntnis“ (ἐπιστήμη, Pol. 428c) verstanden, „nicht über irgend etwas von dem in der Sadt Rat“ zu geben, „sondern über sie selbst ganz, auf welche Weise sie mit sich selbst und mit anderen Städten am besten umgehen soll“ (Pol. 428d). Hier ist das Ziel nicht der äußerliche Erfolg 33 Holtkemper 1972, Sp. 818. 34 Diesen Unterschied übersieht Holtkemper, wenn er den Unterschied zwischen den beiden Dia‐ logen so charakterisiert, dass im „Protagoras“ die praktische und in der „Politeia“ die wissen‐ schaftlich-theoretische Eubulie bestimmt wird. (Holtkemper 1972, Sp. 818) Es handelt sich nicht um zwei Aspekte eines Eubulie-Verständnisses, sondern um die Fundamentalopposition zwischen dem sophistischen und dem platonischen Verständnis der Eubulie.
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nach einem vorgegebenen Maßstab (Reichtum, militärische Macht etc.), sondern die Bestimmung dessen, was eigentlich als gut und erstrebenswert für die Polis wie auch für den einzelnen angesehen werden soll. Das Ziel der Lehre von Protogoras ist somit der Erfolg – was aber ist ihr Inhalt? Protagoras lehrt zum einen die Techniken des Erfolgs wie die Rhetorik als Fähigkeit, den „Kampf des Redens“ (s.o.) zu bestehen. Zum anderen lehrt er – wie er es in der Rede vorführt – das geistige Fundament, das das individuelle Erfolgstreben in der Politik und in anderen Lebensbereichen legitimiert: das System der domestizierten Selbstdurchsetzung. Dieses System besteht aus den beiden Elementen, die Protago‐ ras in seiner Rede erläutert: • •
Die Gleichheit aller Bürger in der Anlage der Tugend und damit auch in der grundsätzlichen Fähigkeit, am Wettbewerb um Erfolg teilzuhaben, die Ungleichheit zwischen den Bürgern in der Verwirklichung dieser Anlage und im Erfolg beim Streben nach Reichtum, Einfluss und Ansehen.
Die Gleichheit, um die es Protagoras im Mythos geht, impliziert, dass alle Bürger die gleichen Chancen haben, im Wettbewerb mit den anderen Bürgern erfolgreich zu sein, und dass dieser Wettbewerb bestimmten Regeln unterworfen sein muss, die die Chancengleichheit sicherstellen. Diese Ordnung schafft den Rahmen für ein indivi‐ duelles Erfolgstreben, in dem es zu einer erheblichen Ungleichheit und zur Konkur‐ renz um die angestrebten Güter (Reichtum, Macht, Ansehen) kommt. Damit wird der Kampf des Naturzustandes (als dem Zustand, bevor den Menschen die πολιτική τέχνη zuteil wurde) nicht überwunden, sondern lediglich domestiziert: Der Kampf um Selbstdurchsetzung ist nicht mehr ein Kampf auf Leben und Tod, sondern ein Kampf, der Regeln unterworfen wird und vorwiegend mit intellektuellen Mitteln ge‐ führt wird. Was die Schüler des Protagoras somit bei ihrem Lehrer lernen, ist zum einen die Legitimation ihres Strebens nach Erfolg und damit die Bewusstmachung der geisti‐ gen Grundlagen ihres Strebens; zum anderen sind es die Techniken dieses Strebens. In dem zentralen Aspekt der Lehre von Protagoras, eine Theorie der domestizierten Selbstdurchsetzung zu formulieren, findet sich wiederum eine wichtige Parallele zur neuzeitlichen Vertragstheorie. Bei Thomas Hobbes verfügt der Souverän über umfassende Vollmachten, um jede Gefährdung der staatlichen Ordnung bestrafen zu können. Vor diesem System der Abschreckung sind alle Untertanen gleich. Dies ist aber nur die eine Seite der politi‐ schen Theorie von Hobbes, denn die Untertanen sind zugleich in allem, was der Souverän nicht durch Vorschriften reguliert, frei – und diese Freiheit bezieht sich vor allem auf die Ökonomie.35 Hobbesʼ Souverän schafft zumindest auf nationaler Ebe‐
35 Vgl. Hobbes 1984, Kapitel 21; Kainz 2012, S. 118–123.
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ne den Raum für ein wirtschaftsliberales System,36 aus dem eine entsprechende Un‐ gleichheit resultiert. Diese Ungleichheit ist aus der Sicht von Hobbes solange unpro‐ blematisch, wie sie nicht die Stabilität des Staates gefährdet. Deutlicher noch als bei Hobbes wird die Ungleichheit im Vertragszustand bei John Locke legitimiert. Die Menschen sind von Natur aus gleich, „in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig ist“.37 Doch während die Gleichheit der Bürger vor dem Recht und die Gleichheit in politischer Hinsicht im Vertragszustand bestehen bleiben, ermöglicht die Einführung des Geldes als Tausch- und Wertaufbe‐ wahrungsmittel die Herausbildung einer wirtschaftlichen Ungleichheit durch die Ak‐ kumulation von Besitz. Diese Ungleichheit ist nach Locke legitim, weil die Bürger ihr mit der Übereinkunft, das Geld als Tauschmittel einzuführen, zugestimmt haben: „Da aber Gold und Silber (…) ihren Wert nur von der Übereinkunft der Menschen erhalten haben (…), ist es einleuchtend, daß die Menschen mit einem ungleichen und unproportionierten Bodenbesitz einverstanden gewesen sind.“38 Der tiefere Sinn der Ungleichheit im Besitz liegt darin, dass sie die unterschiedlichen Leistungen der Bürger widerspiegelt. Diese Legitimation der wirtschaftlichen Ungleichheit spielt in der politischen Theorie von Locke eine zentrale Rolle: Innerhalb des Systems der politischen Gleichheit und der Gleichheit vor dem Recht besteht eine Konkurrenz der Bürger um wirtschaftlichen Erfolg.39 Die politische Theorie von Protagoras ähnelt diesen Positionen der neuzeitlichen Vertragstheorie, insofern auch bei ihm das Plädoyer für die Anerkennung der Gleichheit der Bürger durch die gleiche Teilhabe an der politischen Tugend verbun‐ den ist mit einer Theorie, die bei näherem Hinsehen eine erhebliche Ungleichheit le‐ gitimiert. Doch es gibt einen wichtigen Unterschied: Bei Hobbes und Locke bezieht sich die Ungleichheit primär auf den Bereich des Besitzes und der Ökonomie; bei Protagoras hingegen spielt dieser Bereich zumindest in seiner Darstellung eine Ne‐ benrolle, und seinen Hörern scheint es primär um das Streben nach Macht im politi‐ schen Wettstreit um Macht und Einfluss zu gehen. Die Ökonomie als „Klugheit in seinen eigenen Angelegenheiten“ erwähnt er nur am Rande (Prot. 318e-319a). Doch auf einer anderen Ebene spielt die Ökonomie auch bei ihm eine zentrale Rolle, denn er richtet sich dezidiert an die Söhne der „Reichsten“, die es am besten vermögen, für die Erziehung ihrer Kinder Sorge zu tragen (vgl. Prot. 326c). Ange‐ sichts der Honorarforderungen von Protagoras war es auch nur ihnen möglich, die Kosten der Ausbildung zu tragen. In Verbindung mit der Legitimation der Selbst‐ durchsetzung zeigt sich hier die oligarchische Seite der politischen Theorie und des 36 Der Außenhandel unterliegt Restriktionen, die sicherheitspolitisch motiviert sind (Kainz 2012, S. 120). 37 Locke 1977, S. 201 (§ 4). 38 Locke 1977, S. 230 (§ 50); siehe dazu Hansen 2008, S. 223–225. 39 Es wäre jedoch eine Verkürzung, die politische Theorie von Locke auf eine Theorie des Besitz‐ individualismus zu reduzieren (so z.B. Macpherson 1990).
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Wirkens von Protagoras, die neben der demokratischen – der Betonung der Gleich‐ heit der Bürger – steht. Dazu passt auch die gelegentlich durchscheinende Verach‐ tung des Volkes. So heißt es in seiner Selbstcharakterisierung als Sophist zu Beginn des Gesprächs mit Sokrates: „der große Haufe, daß ich es kurz heraus sage, merkt überall nichts und singt nach, was jene [die Mächtigen, H.H.] ihm vorsagen“ (Prot. 317a). Mit dieser Abneigung gegenüber dem „Pöbel“, wie Machiavelli40 es aus‐ drückte, steht Protagoras seinem Gegner Thrasymachos nahe, und es zeigt sich, dass die beiden Positionen zwar äußerlich zunächst sehr unterschiedlich sind, es aber beim näheren Hinsehen einen wesentlichen Bezugspunkt zwischen ihnen gibt: Nicht erst Thrasymachos will die Selbstdurchsetzung als Prinzip der Politik legitimieren, sondern dieser Gedanke findet sich bereits bei Protagoras. Der Unterschied liegt da‐ rin, dass die Selbstdurchsetzung bei Protagoras noch domestiziert wird, weil sie ge‐ wissen Schranken unterliegt. Wie leicht diese Schranken aber beiseite geräumt wer‐ den können, zeigt sich am Machtstreben Athens unter Perikles.
4. Fazit: die Ambivalenz des Freiheitsstrebens Die Verbindung der Theorie der Gleichheit der Bürger und der Legitimation des in‐ dividuellen Strebens nach Selbstdurchsetzung, die das politische Denken von Prot‐ agoras charakterisiert, ist symptomatisch für das politische Selbstverständnis der athenischen Demokratie: Gleichheit und Freiheit der Bürger einerseits und Willkür‐ herrschaft im Inneren wie im Äußeren andererseits kennzeichneten Athens Politik. In dieser Ambivalenz der athenischen Demokratie wird deutlich, zu welcher Hybris eine Volksherrschaft fähig ist. Diese Ambivalenz wird nicht nur bei Protagoras sichtbar, sondern auch bei Peri‐ kles, der in seinen politischen Überzeugungen Protagoras sehr nahe stand.41 Perikles erscheint als der Praktiker, der die Theorie von Protagoras zur Richtschnur seines politischen Handelns erhob. Der Zusammenhang zwischen dem demokratischen Prinzip der Gleichheit einerseits und dem Streben nach Macht und Selbstdurchset‐ zung andererseits wird von Perikles selbst thematisiert, und zwar in seiner berühm‐ ten Rede auf die gefallenen Soldaten des ersten Kriegsjahres des Peloponnesischen Krieges (Epitaph), die er im Winter 431/430 hält. Perikles ehrt in dieser Rede die Gefallenen, indem er die Größe der Stadt beschreibt, für die sie gestorben sind. Das Kennzeichen dieser Stadt sei es, „daß sie zu Krieg und Frieden sich völlig selber ge‐ nügen kann“.42 Ausdruck des Willens „sich völlig selber [zu] genügen“ ist die De‐ mokratie, die es den Athenern ermöglicht, dass ein jeder ein Leben in Freiheit füh‐ 40 Vgl. Machiavelli 1986 S. 140 (Kapitel XVIII). 41 Zur Beziehung von Protagoras und Perikles vgl. z. B. O'Sullivan 1995, Silvermintz 2015. 42 Thukydides, 2002, II.36.
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ren kann, wie er es will, und dass die Gemeinschaft der Athener unabhängig ist von äußeren Bindungen. Die Gleichheit der Bürger vor dem Recht (Isonomie) ist ver‐ bunden mit der Grundhaltung der Autarkie (αὐτάρκεια): dem Streben nach Freiheit und Selbstständigkeit. Die Freiheit benötigt nach Perikles jedoch ein Korrektiv, damit gewährleistet ist, dass alle das Recht respektieren: Perikles thematisiert hier das Grundproblem einer jeden freiheitlichen Ordnung: die Gefahr, dass Zwanglosigkeit in Anarchie und Missachtung der Gesetze entartet. Die Freiheit bedarf deshalb – wie bei Protagoras – des Rechts als Schranke, und dieses wiederum ist auf eine innere Instanz in den Rechtssubjekten angewiesen, damit diese das Recht auch respektieren – Protagoras sprach von der Scham, Perikles nennt es die Furcht vor der Strafe bei den geschrie‐ benen und vor der Schande bei den ungeschriebenen (Sitten-)Gesetzen. Die Demokratie und die mit ihr verbundene Freiheit haben Athen zum Vorbild für Griechenland gemacht – zur „Schule von Hellas“.43 Perikles beschreibt die Athener als Bürger einer Stadt, die den höchsten Idealen der Tugendhaftigkeit entsprechen. Als Beleg für die Richtigkeit seiner Einschätzung führt er die Macht Athens an: „Daß dies nicht Prunk mit Worten für den Augenblick ist, sondern die Wahrheit der Dinge, das zeigt gerade die Macht unseres Staates, die wir mit diesen Eigenschaften erworben haben.“44 Die Machtfülle Athens dient Perikles als Beleg für die Tugend‐ haftigkeit der Stadt und ihrer Bürger: „zu jedem Meer und Land erzwangen wir uns durch unsere Wagemut den Zugang, und überall leben mit unseren Gründungen Denkmäler unseres Wirkens im Bösen wie im Guten auf alle Zeit.“45 Die Macht und Stärke Athens ist Ausweis der Tugendhaftigkeit der Bürger, die Freiheit wiederum der Grund für die erworbene Macht. Dieser Zusammenhang wird von Perikles bekräftigt, wenn er im weiteren Verlauf der Rede die Gefallenen ehrt. Sie sind Vorbilder für die anderen Bürger Athens, weil sie ihr Leben für die Freiheit und die Größe ihrer Stadt geopfert haben. Die Überlebenden fordert er auf, sich die‐ ses Opfers würdig zu erweisen. Sie sollen sich „die Macht unserer Stadt in der Wirk‐ lichkeit betrachten und mir wahrer Leidenschaft lieben […]“46: „Mit solchen Vorbil‐ dern sollt auch ihr das Glück in der Freiheit sehen und die Freiheit im kühnen Mut […]“47 Hier offenbart sich Perikles’ Verständnis der Freiheit: Die Macht Athens ist nicht nur Folge der Freiheit; sie ist ihr oberstes Ziel – so wie sich bei Protagoras die Selbstdurchsetzung als oberstes Ziel zeigte. Nach Perikles besteht das Ziel der Frei‐ heit darin, Stärke zu erlangen, um sich die anderen Staaten Griechenlands untertan zu machen. So warnt er in einer späteren Rede die Athener davor, in der Stunde der 43 44 45 46 47
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Ebd., II.41. Ebd., II.41. Ebd., II.41. Ebd., II.43. Ebd., II.43.
Not mit den Feinden einen Frieden aushandeln zu wollen; denn sie werden wegen ihrer tyrannischen Herrschaft gehasst und dürfen deshalb keine Nachsicht erwarten. Der hier angedeutete Umschlag des demokratischen Strebens nach Freiheit in die Tyrannis wird einige Zeit nach Perikles Tod in besonderer Weise deutlich, wenn die Athener sich in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern auf das Recht des Stärke‐ ren berufen. Im sogenannten „Melierdialog“48 verhandelten die Athener im Sommer 416 mit den Meliern über deren bedingungslose Kapitulation. Die Melier hatten sich im Krieg zwischen Athen und Sparta neutral verhalten, bis Athen die Neutralität nicht mehr duldete und von den Meliern die völlige Unterwerfung forderte. Athen entsandte Truppen nach Melos, doch vor dem Kampf kam es zu einer Verhandlung zwischen athenischen Gesandten und den Ratsherren von Melos, in der die Gesand‐ ten die Melier dazu bewegen wollten, sich freiwillig den Athenern zu unterwerfen, während die Melier ihre Unabhängigkeit zu wahren versuchten und sich dabei auf das Recht beriefen. Die Athener wiesen dies mit dem Argument zurück, dass eine Berufung auf das Recht nur unter Ebenbürtigen möglich sei; zwischen Stärkeren und Schwächeren hingegen gelte das Recht des Stärkeren: Die Melier wüssten ebenso gut wie die Athener. Diese Berufung auf das Recht des Stärkeren steht, wie es in der Leichenrede des Perikles deutlich wurde, nicht in Widerspruch zu den Ideen von Freiheit und Gleich‐ heit, sondern ist die Folge eines spezifischen Verständnisses von Freiheit und Gleichheit, wie es in Perikles „Epitaph“ zum Ausdruck kommt und in Protagoras’ Theorie der domestizierten Selbstdurchsetzung begründet wird. Diese Begründung ist, wie hier gezeigt wurde, im Kern eine vertragstheoretische. Auch in den neuzeitli‐ chen Vertragstheorien dient die Freiheit im Inneren dem Streben nach Erfolg und im Äußeren der Bekämpfung der Feinde – sie erscheint also, wie bei Protagoras und Pe‐ rikles, letztlich als ein Mittel der Selbstdurchsetzung.
Literatur Aristoteles, 1957: Politica, Oxford. Dt.: Politik, übersetzt von Eugen Rolfes, Einleitung von Günther Bien, Hamburg 1981. Gehlen, Arnold, 2016: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt a.M. Hansen, Hendrik, 2008: Politik und wirtschaftlicher Wettbewerb in der Globalisierung. Kritik der Paradigmendiskussion in der Internationalen Politischen Ökonomie, Wiesbaden. Hobbes, Thomas, 1984: Leviathan, Frankfurt a. M. Holtkemper, Franz-Josef, 1972: Artikel „Eubulie“, in: Historisches Wörterbuch der Philoso‐ phie, Bd. 2, Darmstadt, Sp. 818f.
48 Ebd., V.84 – 113.
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Raul Heimann Das Recht des Stärkeren in den sophistischen Machttheorien
Nicht das Recht soll herrschen, sondern der von Natur Stärkere, so lautet das be‐ kannte Diktum der radikalen Strömung innerhalb der griechischen Sophistik.1 Auch wenn das Recht des Stärkeren schon lange vorher politisch praktiziert wurde, die Sophisten brachten es zum ersten Mal in eine theoretische Form.2 Die machttheoreti‐ sche Rechtsbegründung reagierte auf traditionelle Formen der Rechtsbegründung, die das Recht des Stärkeren ablehnten, und verstand sich als radikaler Bruch mit ih‐ nen.3 Das traditionelle Rechtsdenken ist durch einen Grundkonflikt geprägt, der oft als Nomos-Physis-Gegensatz bezeichnet wird.4 Auf der einen Seite steht das unverän‐ derliche, göttliche oder natürliche Recht (Physis), auf der anderen Seite das verän‐ derliche, menschliche oder gesetzliche Recht (Nomos). Das gesetzliche Recht kann inhaltlich sowohl dem Prinzip des reziproken Ausgleichs als auch dem Prinzip des Rechts des Stärkeren folgen. Diese beiden grundlegenden Möglichkeiten, das menschliche Recht zu denken, bilden den Ausgangspunkt zweier Strömungen inner‐ halb der Sophistik.5 Eine Strömung, zu der u.a. Protagoras und Antiphon gezählt werden können, sieht das Recht durch einen Vertrag unter Gleichen begründet.6 Die andere Strömung der Sophistik, zu der sich Thrasymachos und Kallikles zählen las‐ sen7, begründet das Recht in der Macht des Stärkeren. Hier gilt dasjenige als Recht, was eine überlegene Partei im eigenen Interesse gegen die unterlegene durchsetzen kann. Dieses machttheoretische Rechtsverständnis knüpft dabei an die Tradition der 1 Vgl. Flashar 1998, S. 14. 2 Vgl. Ottmann 2001, S. 212. 3 Zu dieser Tradition zählen: 1.) die archaisch-religiöse Dichtung (v.a. Homer, Hesiod), in der das Recht eine göttliche Ordnung darstellt, 2.) die vorsokratische Philosophie (z.B. Anaximander, Pythagoras, Heraklit), die das Recht als eine kosmische Ordnung versteht, 3.) die Tragödien‐ dichtung (Aischylos, Sophokles, Euripides), die den Konflikt zwischen menschlichem und gött‐ lichem Recht thematisiert und 4.) die Geschichtsschreibung (Thukydides, Herodot), die die tat‐ sächlichen Rechtsordnungen beschreibt (vgl. Ottmann 2001, S. 19ff). 4 Zur Entwicklung der verschiedenen Konzepte des Nomos-Physis-Gegensatzes, z.B. auch in der Medizin, siehe: Heinimann 1945. 5 Nach Ottmann beginnt mit der Sophistik die Reflexion auf den Menschen und mit ihr auf die Geltung des Rechts (Ottmann 2001, S. 214). 6 Vgl. Ottmann 2001, S. 216. Ottmann unterteilt diese Strömung weiter in die „Sophistische Lin‐ ke“ (Antiphon, Alkidamas, Hippias, Lykophron), die eine natürliche Gleichheit der Menschen annehmen und die „Sophistische Mitte“ (Protagoras, Gorgias). 7 Ottmann zählt diese beiden Sophisten und Kritias zu den „Sophistischen Rechten“ (vgl. Ott‐ mann 2001, S. 216).
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willkürlich herrschenden und rechtssetzenden Götter an, transferiert den Gedanken der Rechtssetzung durch den Stärkeren jedoch vollständig in die menschliche Sphä‐ re. Die Machttheoretiker spitzen die Entwicklung des Rechtsdenkens noch einmal zu, indem sie das Recht in die Hand Einzelner legen und den durch die Rechtsord‐ nung versprochenen Nutzen auf den Herrschenden einschränken. Die Machttheorien hatten über die Blütezeit der Sophistik hinaus weitreichende Wirkungen auf die abendländische Geistesgeschichte. Nahezu jede bedeutende Moral- oder Rechtstheo‐ rie späterer Zeit setzte sich mit den Grundgedanken der sophistischen Machttheorien auseinander und entwickelte sich in Ablehnung oder Anknüpfung zu diesen.8 In deutlicher Spannung zu der Relevanz steht die Beobachtung, dass bisher kaum geklärt ist, worin die sophistischen Machttheorien eigentlich bestehen. Zwar finden sich in der Forschung verschiedene Studien zu dieser Frage. Aber diese beschränken sich entweder auf eine historisch-philologische Darstellung der verschiedenen Quel‐ len ohne eine systematische Klärung der theoretischen Strukturen, die überhaupt erst eine Zuordnung zu den Machttheorien ermöglichen.9 Oder die Machttheorien wer‐ den aus einer eigenen systematischen Perspektive betrachtet und vernachlässigen da‐ bei die Frage, wie die Sophisten selbst ihre Theorien verstanden haben.10 Diese Lücke möchte die vorliegende Untersuchung schließen helfen, indem sie die Quel‐ lenlage zu den Machttheorien erörtert und anhand dieser Quellen den systematischen Gehalt der Machttheorien rekonstruiert.
Forschungslage zu den sophistischen Machttheorien a) Allgemeine Merkmale der Machttheorien Versucht man, bestimmte Sophisten als Machttheoretiker einzuordnen, bietet es sich an, zunächst einige zentrale Strukturmerkmale der Machttheorien zu identifizieren. Aus der obigen Unterscheidung zu den Vertragstheorien lassen sich drei Identifikati‐ onsmerkmale feststellen. Das hervorstechendste Merkmal der Machttheorie ist ihre positivistische Rechtsbegründung: als Recht gilt dasjenige, was die jeweils herr‐
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Die Grundgedanken der sophistischen Machttheorien wurden z.B. von Machiavelli oder Nietz‐ sche positiv aufgenommen und ausgebaut (vgl. Nestle 1912, S. 574ff). 9 Z.B. Jordovic analysiert die historischen Hintergründe und die Kontexte zur Entstehung der Theorie des Rechts des Stärkeren. Worin diese Theorie besteht, bleibt offen (vgl. Jordovic 2005, S. 98ff). 10 Z.B. Kersting deutet und beurteilt die Machttheorien systematisch vom Standpunkt der morali‐ schen Intuitionen her. Die Argumente der Machttheorien gegen diesen Standpunkt werden schlicht als „unplausibel“ oder „unintuitiv“ zurückgewiesen (vgl. Kersting 1999, S. 30).
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schende Institution, Gruppe oder Einzelperson als solches setzt.11 Die Machttheorie kennt somit zwei Arten des Rechts: das jeweils konkrete, positive Recht und das all‐ gemeine, zugrunde liegende Recht des Herrschenden auf die Rechtsetzung. Ein zweites Merkmal der Machttheorien betrifft die anthropologischen Annahmen über die Rechtssubjekte, vor allem die Ungleichheit der Menschen.12 Ohne die Annahme übermächtiger Götter können die Machttheoretiker die Differenzierung der Rechts‐ subjekte in den menschlichen Bereich übertragen. Die Unterscheidung zwischen stärkeren und schwächeren Menschen ist die Voraussetzung einer sinnvollen Rede vom Recht des Stärkeren. Als drittes zentrales Merkmal sind die Annahmen über das Rechtsobjekt, d.h. über den Gegenstand und den durch ihn intendierten Nutzen zu nennen. Insofern es nach Aufgabe der göttlichen Sphäre keinen Maßstab für das Recht jenseits des Menschen gibt und im Bereich des Menschlichen nur die Starken ihre Interessen durchsetzen können, gerät das Eigeninteresse des Stärkeren zum al‐ leinigen Maßstab des Rechts.13
b) Vertreter der sophistischen Machttheorien Als bekannteste Vertreter der Machttheorien gelten die Sophisten Thrasymachos und Kallikles. Darüber hinaus werden in der Forschung auch die weitgehend unbekann‐ ten Autoren Anonymus Iamblichi (430–420 v.Chr.?)14 und Pseudo-Xenophon (430– 420 v.Chr.?)15 sowie Antiphon (5. Jh. v.Chr.)16 und Kritias (455–403 v.Chr.)17 als 11 Flashar sieht die Annahme, dass der von Natur Stärkere über den von Natur Schwächeren herr‐ sche als ein zentrales Charakteristikum der machtpolitisch orientierten Sophisten (vgl. Flashar 1998, S. 14). 12 Ottmann grenzt die „sophistische Linke“ vor allem durch die Annahme der natürlichen Gleich‐ heit von der „sophistischen Rechten“ ab (vgl. Ottmann 2001, S. 216). 13 Hoffmann sieht die Konzentration des Nutzens auf das Ego eines Einzelnen als grundlegende Gemeinsamkeit der sophistischen Theorien des Rechts des Stärkeren (vgl. Hoffmann 1997, S. 388). 14 Die im Nachlass des Neuplatonikers Iamblichos gefundenen Fragmente (DK 89), thematisieren zwar das Recht des Stärkeren, die Ungleichheit der Menschen und das Mehrhabenwollen. Al‐ lerdings kritisiert der Verfasser die Lehre der unbegrenzten Pleonexie, betont die Stärke der Menge gegenüber dem Einzelnen und die Angewiesenheit auch des starken Einzelnen auf Recht und Gesetz (vgl. Ottmann 2001, S. 226f). 15 Für den Verfasser der im Nachlass von Xenophon gefundenen Schrift „Staat der Athener“ ist alle Politik Interessenpolitik, d.h. alle Schichten regieren zu ihrem eigenen Vorteil. Auch will er grundsätzliche Unterschiede zwischen den wenigen Edlen und den vielen Schlechten sehen. Dennoch hat jede Schicht dasselbe Recht auf Herrschaft und auf Verfolgung des Eigennutzes. Eine Unterscheidung von verschiedenen Arten des Rechts findet nicht statt (vgl. Ottmann 2001, S. 227f). 16 In Antiphons Schrift „Wahrheit“ (DK 87, A44) findet sich eine Abhandlung über Gerechtig‐ keit, die explizit zwischen Natur- und Gesetzesrecht unterscheidet und den Eigennutz als Maß‐ stab des Rechts behauptet. Aber auch Antiphon setzt die Stärke des Rechts und die prinzipielle Gleichheit der Menschen voraus, so dass er nicht eindeutig zu den Machttheorien gezählt wer‐ den kann (vgl. Meister 2010, S. 86–92).
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mögliche Machttheoretiker diskutiert.18 Allerdings lassen sich bei diesen Autoren die Merkmale der Machttheorien nur teilweise oder gar nicht nachweisen19. Einzig bei Thrasymachos und Kallikles lassen sich alle drei genannten Merkmale finden, weshalb diese die einzigen, uns überlieferten Sophisten zu sein scheinen, die sich als „reine“ Machttheoretiker bezeichnen lassen. Von Thrasymachos (ca. 455–399 v. Chr.)20 wissen wir vor allem aus den Texten Platons. Insbesondere die von ihm verfochtene These im ersten Buch der Politeia (Pol. 336b-354a), „das Gerechte sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgli‐ che“ (Pol. 338c) machte ihn als Machttheoretiker bekannt.21 Darüber hinaus wird er von Platon an verschiedenen Stellen des Werkes erwähnt, als Zuhörer (Pol. 1.328b, 5.450ab, 6.498cd, 9.590d), als Rhetor (Phaidr. 261c, 266c, 267cd, 269cd, Clt. 406a, 410d) und als Rhetoriklehrer (Phaidr. 271a). Aristoteles (Rhet. 1404A14–15) und Plutarch (Quaest. Conv. 616d) erwähnen von Thrasymachos verfasste Schriften zur Rhetorik. Einzelne erhaltene Fragmente werden ebenfalls Thrasymachos zugeschrie‐ ben. Darunter befindet sich ein ca. 35 Zeilen umfassendes Fragment einer Rede, in dem der Verfasser die Athener zur politischen Einheit in Kriegszeiten ermahnt (DK 85 B1) und schließlich eine Schrift, in der der Verfasser behauptet, die Götter wür‐ den sich nicht um die Menschen kümmern, da die Menschen sonst das größte Gut, die Gerechtigkeit, anwenden würden, was sie laut Thrasymachos aber nicht tun (DK 85 B8). Versucht man, die verschiedenen Quellen zu einer kohärenten Position zusam‐ menzufügen, stößt man schnell an Grenzen.22 Die von Dritten nur erwähnten Schrif‐ ten sind vor allem Lehrschriften zur Rhetorik, während die Thrasymachos selbst zu‐ geschriebenen Reden vor allem politischer Natur sind. In diesen Reden fordert er Gerechtigkeit und politische Einheit, bei Platon lobt er die Ungerechtigkeit und die Tyrannis (Pol. 344a-c). Solche Widersprüche werden auch in Platons Darstellung 17 Kritias war Sophist und einer der Anführer der Dreißig Tyrannen in Athen um 404 v. Chr. (Vgl. Nestle 1948, S. 262f.). Der mutmaßliche Einfluss durch die Sophisten Gorgias und Thra‐ symachos auf Kritias sowie seine darauf folgende Politik in Athen lassen sich als Hinweise auf eine geistige Verwandtschaft sehen (Vgl. Nestle 1948, S. 316). Das bekannteste von Kritias verfasste „Sisyphos-Fragment“ (Diehls/Kranz 88 B25) enthält einen Mythos über die Entste‐ hung der Religion und der Gesetze. Danach ist die Religion eine Lüge, die als Motivation zur Einhaltung der Gesetze erfunden wurde. Das Fragment verdeutlicht zwar, dass Kritias kein Vertreter der Vertragstheorie ist, allerdings fehlen in den Quellen explizite Hinweise auf eine Machttheorie (vgl. Ottmann 2001, S. 230). 18 Vgl. Ottmann 2001, S. 226. 19 Offen bleibt die Zuordnung auch bei denjenigen Sophisten, von denen die Äußerung überlie‐ fert ist, dass das von Natur Stärkere über das von Natur Schwächere herrsche (Gorgias [Diehls/ Kranz B 11,6], Thukydides [Gesch. I 76,2], Euridipes [Diehls/Kranz 261N), Chairemon [Diehls/Kranz 23]). Neben dieser Feststellung finden sich bei den Autoren keine Hinweise auf eine Theorie des Rechts des Stärkeren. Vgl. Hoffmann 1997, S. 145. 20 Zu den biographischen Daten siehe: Nails 2002, S. 288. 21 Vgl. Ottmann 2001, S. 225. 22 Zur Forschung über die Vereinbarkeit der Fragmente zur Politeia I siehe: Hoffmann 1997, S. 95.
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selbst gefunden, wenn Thrasymachos einmal als nüchterner Analytiker der Macht erscheint (insbes. Pol. 338d-339a) und wenig später als ein glühender Verehrer der unbeschränkten Machtpolitik (Pol. 344a-c). Diese vermeintlichen Widersprüche ver‐ anlassen nicht wenige Forscher zur Vermutung, Platons habe die „eigentliche“ Posi‐ tion des Thrasymachos bewusst verfälscht, um eine negative Kontrastfolie für seinen eigenen Entwurf zu schaffen.23 Aus dieser Sicht erscheint die „eigentliche“ Position des Thrasymachos als die eines Machtanalytikers, der die bestehenden Verhältnisse beschreibt, um sie zu kritisieren.24 Der Maßstab, von dem her dieses Urteil gefällt wird, ist jedoch keineswegs sicher. Thrasymachos stammte aus Chalkedon, einer Kolonie Athens, und galt damit als Ausländer. Er durfte daher in Athen keine eigenen Reden vor der Volksversammlung halten, wohl aber durfte er stellvertretend für Athener Bürger die Reden verfassen. Es ist also offen, ob die überlieferten Reden Thrasymachos’ eigene Meinung wieder‐ geben oder die des Auftraggebers.25 Beurteilt man Platons Darstellung nach demsel‐ ben historischen Maßstab, dann muss auch hier zumindest offen bleiben, ob Platon die Position des Thrasymachos authentisch oder verfälscht darstellt. In jedem Fall bleibt unterstellt, dass eindeutig geklärt ist, worin die Position von Thrasymachos ei‐ gentlich besteht. Für die Frage nach dem systematischen Gehalt der Position kann die Echtheitsfrage jedoch zunächst suspendiert werden. Möglicherweise lässt sich erst vor dem Hintergrund einer systematischen Rekonstruktion die Echtheitsfrage beantworten. Als primäre Quelle für die Rekonstruktion von Thrasymachos’ machttheoreti‐ scher Position bietet sich das oben genannte erste Buch von Platons „Politeia“ an, insbesondere der Abschnitt des Gesprächs zwischen Sokrates und Thrasymachos über das Wesen der Gerechtigkeit (Pol. 338a-347d). Zum einen enthält dieser Ab‐ schnitt die ausführlichste und philosophisch gehaltvollste Darstellung von Thrasy‐ machos’ Rechtsauffassung, zum anderen ist Thrasymachos vor allem durch diesen Abschnitt als Machttheoretiker bekannt. Ähnliches wie zu Thrasymachos lässt sich zu Kallikles sagen. Allerdings gibt es außerhalb von Platons Dialog „Gorgias“ (insbes. Gorg. 482c-527e) keine Zeugnisse von dem oder über den Sophisten.26 Aus diesem Grund wurde die Figur des Kallik‐ les in der früheren Forschung als rein fiktiv oder als Maske einer anderen histori‐ schen Figur angenommen.27 Da diese Vermutung im Bereich der Spekulation bleibt 23 So z.B. Taureck 1995, S. 12; Flashar 1998, S. 57; Schröder 2002, S. 170. 24 So z.B. Hoffmann 1997, S. 90f; Ottmann 2001, S. 216; Jordovic 2005, S. 110. 25 Der scheinbare Widerspruch innerhalb der platonischen Darstellung zwischen der deskriptiven Machtanalyse und dem normativen Lob der Ungerechtigkeit kann mithin nicht einfach durch einen Verweis auf die Fragmente zugunsten einer Position aufgelöst werden. So versucht es z.B. Flashar 1998, S. 57. 26 Aristoteles bezieht sich in den „Sophistischen Widerlegungen“ (173a7) auf diesen Dialog, wes‐ halb er nicht als eigenständige Quelle gelten kann (Flashar 1998, S. 85). 27 Zur Übersicht über die vertretenen Varianten siehe: Dodds 1959, S. 12f.
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und Platon in der Regel seine Figuren weder frei erfindet noch chiffriert, anerkennt die Mehrheit der modernen Forschung Kallikles als echte historische Figur.28 Die Zweifel beziehen sich vornehmlich darauf, ob eine historische Person die im „Gorgi‐ as“ dargestellte Position überhaupt hätte vertreten können. Kallikles’ Kritik der Volksherrschaft und seine Behauptung des Naturrechts des Stärkeren hätten im de‐ mokratischen Athen niemals öffentlich geäußert werden dürfen.29 In diesem Urteil schwingt erkennbar ebenfalls der Vorwurf der Verfälschung durch Platon mit. Aller‐ dings ist auch hier die Beweislage mehr als dürftig. Denn die oben genannten Quellen anderer Autoren, die Kritik an der Volksherr‐ schaft üben (z.B. Pseudo-Xenophon) oder das Naturrecht des Stärkeren behaupten (z.B. Thukydides) weisen darauf hin, dass die als problematisch angesehenen Ele‐ mente von Kallikles’ Position durchaus in Athen vertreten werden konnten, wenn vielleicht auch nur in intellektuellen Kreisen. Die Annahme, Platon hätte Kallikles eine unhaltbare Machttheorie untergeschoben, lässt sich gerade angesichts der Quel‐ lenlage ohne ein systematisches Verständnis der Machttheorie kaum begründen. Es spricht also vieles dafür, das Hauptaugenmerk auf Platons Darstellung von Kallik‐ les’ Position zu legen, insbesondere die Abschnitte über dessen Verständnis des Rechts des Stärkeren (Gorg. 482c-484c, 487b-499b).
Die sophistischen Machttheorien a) Die sophistische Kritik der konventionellen Rechtsvorstellungen In den beiden platonischen Frühdialoge „Politeia I“ und „Gorgias“ setzt sich der Protagonist Sokrates jeweils mit verschiedenen Rechtsvorstellungen auseinander. Trotz des ähnlichen Themas unterscheiden sich die Kontexte und die zentralen Fra‐ gestellungen der beiden Dialoge. In der „Politeia I“ steht die Frage nach der Bedin‐ gung des guten, gelungenen Lebens im Zentrum.30 Für die beiden Gesprächspartner Kephalos und Polemarchos ist die Gerechtigkeit diese Bedingung, was Thrasyma‐ chos zur Gegenthese provoziert. Im „Gorgias“ stellt Sokrates die Frage nach dem Wesen und der Funktion der Rhetorik.31 Die Sophisten Gorgias, Polos und Kallikles sehen die Redekunst als das entscheidende Mittel zum gelungenen Leben an. Durch 28 Vgl. Flashar 1998, S. 85. 29 Ebd. 30 Sokrates leitet den Dialog mit einer an den Greis Kephalos gerichteten Frage nach der Qualität des Lebens ein (Pol. 328e). Auch im späteren Verlauf der Argumentation verweist Sokrates auf den existentiellen Kontext des Dialogs: „Denn es ist nicht von etwas gemeinem die Rede, son‐ dern davon, auf welche Weise man leben soll“ (Pol. 352d). 31 Die thematische Frage des „Gorgias“ stellt Sokrates gleich zu Beginn: „Denn ich will gern von ihm erfahren, was doch die Kunst des Mannes [Gorgias, RH] eigentlich vermag und was das ist, was er ankündigt und lehrt“ (Gorg. 447c).
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den unvermeidlichen Bezug der Redekunst auf Gerechtigkeitsfragen untersucht So‐ krates entsprechend auch die Rechtsvorstellungen der drei Sophisten. In beiden Dia‐ logen geht es also um die Frage nach dem Recht als Maßstab eines gelungenen Le‐ bens des Einzelnen und der Gemeinschaft. Während Kephalos, Polemarchos, Gorgi‐ as und Polos das konventionelle Vertragsrecht als den Maßstab für das gute Zusam‐ menleben direkt oder indirekt anerkennen32, lehnen Thrasymachos und Kallikles diesen Maßstab ab und plädieren für das Recht des Stärkeren. Ansatzpunkt der sophistischen Kritik des Vertragsgedankens ist dessen zentrale Forderung an den Einzelnen, auf die Durchsetzung seines Eigennutzes in Form des unbegrenzten Mehrhabenwollens zu verzichten. Thrasymachos nennt dieses Gerech‐ te aufgrund der geforderten Ausrichtung des Einzelnen auf den Nutzen der Anderen, „ein fremdes Gut“ (Pol. 343c).33 Kallikles betont die Kehrseite der gesetzlichen For‐ derung zum Rechttun: die Verurteilung des Unrechttuns als ein Übel (Gorg. 483a-b). Beide kritisieren den geforderten Verzicht auf den Eigennutz als illusorisch ange‐ sichts der menschlichen Natur. Thrasymachos betont mit Blick auf die politischmenschliche Realität, dass jeder, der die Fähigkeit und Möglichkeit dazu hat, seinen Eigennutz verfolgt. Das zeige sich insbesondere an den Herrschern, „die … [nichts] anderes bedenken bei Tag und bei Nacht, als wie sie doch sich selbst den meisten Vorteil verschaffen können“ (Pol. 343b). Kallikles sieht das Eigennutzstreben nicht nur unter den Menschen, sondern in der gesamten Natur wirken. Die Natur selbst zeige, „dass es gerecht ist, dass der Stärkere mehr habe als der Schwächere“ (Gorg. 483d). Die Forderung nach einem Verzicht auf den Eigennutz unterstellt, der Mensch könne seine egoistische Natur überwinden. Angesichts einer vom Eigen‐ nutzstreben beherrschten politischen und natürlichen Realität erscheint diese Unter‐ stellung jedoch weltfremd und das auf ihr basierende Vertragsrecht irrational. Wer den eigenen Nutzen erstrebt, der muss ihn konsequent im Auge behalten. Die von den Sophisten ausgesprochene Forderung, nicht den fremden Nutzen, sondern den eigenen zu verfolgen, erscheint vor diesem Hintergrund als die realistischere und der menschlichen Natur angemessenere. Von dieser Prämisse des natürlichen Eigennutz‐
32 Kephalos bringt in der Gerechtigkeitsdefinition „Wahrhaftigkeit und Wiedergeben, was einer empfangen hat“ (Pol I. 331c) die konventionelle Rechtsvorstellung zum Ausdruck, die in einer Verpflichtung zum sozialen und ökonomischen Ausgleich besteht. Dieser Verpflichtung liegt das Reziprozitätsprinzip zugrunde, das Polemarchos auf den Begriff bringt mit: „Freunden Gu‐ tes tun und Feinden Böses“ (Pol. 332d). Dieses Prinzip ist die Grundidee des Gesellschaftsver‐ trages, in dem sich Einzelne auf den wechselseitigen Nutzen verpflichten. Zu einer ausführli‐ chen Deutung der „Politeia I“ siehe: Heimann 2015, S. 37–152. 33 Oft wird in der Forschung diese Aussage als eigenständige Position von Thrasymachos (z.B. Kerferd 1976, S. 545f.) oder als These Platons, die er Thrasymachos in den Mund legt (z.B. Maguire 1971, S. 142f.) gedeutet. Hoffmann weist darauf hin, dass dabei die Aussage aus ihrem Kontext herausgelöst wird und übersehen wird, dass Thrasymachos lediglich die kon‐ ventionelle Gerechtigkeitsauffassung wiedergibt, um sie zurückzuweisen (vgl. Hoffmann 1997, S. 71).
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strebens ausgehend können die Sophisten das herkömmliche Vertragsrecht umwer‐ ten und sein tieferliegendes Motiv entlarven. Innerhalb der Vertragstheorie ist die Gerechtigkeit ein positiver Wert. Sie wird vor allem deshalb gelobt, weil sie die Gemeinschaft erhält und mit ihr das Leben und das Eigentum aller Gemeinschaftsmitglieder. Wenn die Forderung nach Gerech‐ tigkeit für den Einzelnen jedoch Verzicht auf den Eigennutz bedeutet, dann ist sie vor allem für die jeweils anderen von Nutzen, aber nicht für den „Gerechten“ selbst. Jeder profitiert von der Gerechtigkeit anderer, nicht von seiner eigenen. Entspre‐ chend verweist Thrasymachos darauf, „dass der Gerechte überall schlechter daran ist als der Ungerechte“ (Pol. 343d): in privaten Geschäften lasse sich der Gerechte durch den Ungerechten übervorteilen (Pol. 343d) und aus öffentlichen Ämtern ziehe er keinen Vorteil für sich und die Seinen (Pol. 343d-e). Kallikles zieht daraus die Konsequenz, dass ein Leben, das eher Unrecht erleidet, als es zu tun, nicht lebens‐ wert ist.34 Die vertragstheoretische Forderung nach dem Verzicht auf den Eigennutz scheint theoretisch und praktisch dem Eigennutz zu widersprechen und Ausdruck eines in‐ konsequenten Eigennutzstrebens zu sein. Aus der Perspektive des konsequenten Ei‐ gennutzstrebens kann allein die konventionelle Ungerechtigkeit, das unbegrenzte Mehrhabenwollen, die Grundlage eines gelungenen Lebens sein. Damit ist die kon‐ ventionelle Ungerechtigkeit umgewertet, denn ihr kommt nunmehr der positive Wert zu, der aus der Perspektive der Vertragstheorie der Gerechtigkeit zukommt. Thrasy‐ machos nennt daher „die Ungerechtigkeit kräftiger und edler und vornehmer als die Gerechtigkeit“ (Pol. 344e) und für Kallikles ist das Unrechttun schöner als das Un‐ rechtleiden, denn „von Natur ist allemal jedes das Unschönere, was auch das Üblere ist, also das Unrechtleiden, gesetzlich aber ist es das Unrechttun“ (Gorg. 483a).35 Warum wird der Vertragsgerechtigkeit überhaupt ein Wert zugesprochen, wenn sie so offensichtlich nachteilig für den Gerechten ist? Die Antwort der Sophisten lautet: das Vertragsrecht ist ein Recht der Schwachen. Um das zu zeigen, entlarven Thrasymachos und Kallikles das Motiv hinter der Forderung nach allgemeinem Ver‐ zicht auf das Eigennutzstreben als die Furcht, in einem möglichen Kampf um Besitz und Leben zu unterliegen, d.h. selbst Unrecht zu leiden. Wer aufgrund eigener Schwäche nicht imstande ist, für seinen Nutzen zu sorgen und mehr zu haben, der möchte wenigstens nicht weniger haben. Diese Überlegung findet sich in Thrasyma‐ chos' Darstellung des ambivalenten Verhältnisses der Menschen zum Tyrannen, der Personifizierung des Unrechts. Während die Menschen das kleine Unrecht des Ta‐ schendiebes verurteilen, bewundern sie das große Unrecht des Tyrannen, der „nicht 34 „Auch dies ist wahrlich kein Zustand für einen Mann, das Unrechtleiden, sondern für ein Knechtlein, dem besser wäre zu sterben als zu leben, weil er beleidigt und beschimpft nicht imstande ist, sich selbst zu helfen noch einem anderen, der ihm wert ist“ (Gorg. 483ab). 35 Hoffmann betont gegen Dodds und Irwin, dass Kallikles mit dieser Kritik nicht nur die demo‐ kratischen Gesetze angreift, sondern die Moral insgesamt (Hoffmann 1997, S. 125 Fußnote).
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im Kleinen sich fremdes Gut mit List und Gewalt zueignet, heiliges und unheiliges, Gemeingut und Eigentum, sondern gleich insgesamt alles“ (Pol. 344a) und „außer dem Vermögen seiner Mitbürger auch noch sie selbst in seine Gewalt bringt und zu Knechten macht“ (Pol. 344c). Damit will Thrasymachos zeigen, dass die Menschen selbst gern Tyrann wären, wenn sie könnten, und nur deshalb auf das unbegrenzte Mehrhabenwollen verzichten, weil sie zu schwach sind und befürchten, weniger zu haben36. Kallikles weitet diese Überlegung ins Politische aus, indem er das Gesetzes- bzw. Vertragsrecht insgesamt als ein Recht der Schwachen bezeichnet: „Allein ich denke, die die Gesetze geben, das sind die Schwachen und der große Haufe. […] und um kräftigere Menschen, welche mehr haben könnten, in Furcht zu halten, da‐ mit diese nicht mehr haben mögen als sie selbst, sagen sie, es sei hässlich und ungerecht, für sich immer auf mehr auszugehen. […] Denn sie selbst, meine ich, sind ganz zufrie‐ den, wenn sie nur gleiches erhalten, da sie die Schlechteren sind“ (483bc).
Der Grund der Forderung nach Ausgleich und dem Verzicht auf das Eigennutzstre‐ ben ist also keine höhere Moral, sondern schlicht die Angst der vielen Schwachen, gegen das Mehrhabenwollen eines Stärkeren nicht bestehen zu können und selbst weniger Eigentum zu haben. Das Eigennutzstreben teilen also alle Menschen, nicht aber die Fähigkeiten, es durchzusetzen. Thrasymachos und Kallikles entlarven somit das Lob der Gerechtigkeit als einen Versuch der Schwachen, ihre Unfähigkeit zur Selbstdurchsetzung mit höheren moralischen Weihen zu versehen.
b) Das Recht des Stärkeren Die Kritik der Sophisten an dem Gedanken der Vertragsgerechtigkeit zielt nicht auf das diesem zugrunde liegende Eigennutzstreben, sondern auf die inkonsequente Be‐ gründung dieses Gedankens. Demgegenüber beanspruchen die sophistischen Macht‐ theoretiker eine konsequente Herleitung des Rechtsbegriffs aus dem Eigennutzstre‐ ben. Dieses Vorhaben hat, wie schon in der Kritik angedeutet, nicht nur einen neuen Rechtsbegriff zur Folge, sondern auch ein neues Verständnis des Menschen und des Nutzens. Die Neubestimmung des Rechtsbegriffs führt bei Thrasymachos und Kallikles zur Unterscheidung von zwei Arten des Rechts. Neben dem Gesetzesrecht, das von den Menschen gesetzt ist, gibt es ein Naturrecht, das unabhängig von menschlichen Sat‐ zungen gilt. Dieses Recht bezeichnet Thrasymachos als „das dem Stärkeren Zuträg‐ liche“ (Pol. 338c). Zur Erläuterung dieser Bestimmung des Rechts geht Thrasyma‐
36 „Denn nicht aus Furcht, Ungerechtes zu tun, sondern zu leiden, schimpft die Ungerechtigkeit, wer sie schimpft“ (Pol. 344c).
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chos von den existierenden Staaten aus, in denen „einige Staaten tyrannisch regiert werden, andere demokratisch und noch andere aristokratisch“ (Pol. 338d). Diese Aufzählung erfasst die wesentlichen Grundformen politischer Herrschaft: die Herr‐ schaft durch alle, wenige oder einen. Trotz ihrer Unterschiede teilen diese Herr‐ schaftsformen das Prinzip des Eigennutzes, denn „jegliche Regierung gibt die Geset‐ ze nach dem, was ihr zuträglich ist“ (Pol. 338e). Im Unterschied zur Vertragstheorie sind für Thrasymachos die Gesetze also nicht allein Regeln zum Nutzen der von dem Gesetz Betroffenen, denn dies gilt nur, wenn Herrscher und Beherrschte identisch sind wie in der Demokratie. Vielmehr sind die Gesetze ganz allgemein ein Mittel der jeweils Herrschenden, für ihren eigenen Nut‐ zen zu sorgen. Die Gesetze vermitteln den Beherrschten die konkrete Nutzenvorstel‐ lung des Herrschers, so dass die Beherrschten wissen, was von ihnen verlangt ist, z.B. in Form von Straf- oder Steuerrecht. Darüber hinaus statten die Gesetze den Herrscher mit der Möglichkeit zur Anwendung von Zwang gegen die Beherrschten aus, um sicherzustellen, dass die Beherrschten tatsächlich für den Nutzen des Herr‐ schers sorgen.37 Während das konkrete Gesetzesrecht nach der Nutzenvorstellung des jeweiligen Herrschers inhaltlich individuell ausgestaltet ist, ist „das der beste‐ henden Regierung zuträgliche“ (Pol. 338e) formal in allen Staaten Recht. Dieses Recht liegt allen menschlichen Satzungen zugrunde und ist demzufolge nicht wiede‐ rum vom Menschen gesetzt.38 Kallikles folgt im Grundsatz diesen Überlegungen, indem er das Naturrecht be‐ stimmt als „dass der Stärkere39 über den Schwächeren herrsche und mehr habe“ (Gorg. 483d).40 In zwei Hinsichten weicht er jedoch von Thrasymachos ab. Zunächst weitet er die Phänomene, an denen er das grundlegende Naturrecht aufzeigen will, von den politischen Verhältnissen auf die gesamte Wirklichkeit aus. Das Naturrecht zeige sich nicht nur „an den übrigen Tieren als auch an ganzen Staaten und Ge‐ schlechtern der Menschen“ (Gorg. 483d), sondern auch „an den Taten des Herakles“ (Gorg. 484c). In allen tierischen, menschlichen und göttlichen Bereichen herrscht 37 Diese notwendige Verknüpfung von Recht und Herrschaft durch das Gesetz verleitet einige Forscher zu der Deutung, Thrasymachos würde Gerechtigkeit mit Gesetzesgehorsam gleichset‐ zen, d.h. er wäre ein Legalist (z.B. Hourani 1962, S. 120; Kersting 1999, S. 30). 38 In der Forschung ist umstritten, ob Thrasymachos' These normativ im Sinne einer Forderung nach Ungerechtigkeit (z.B. Kerferd 1976, S. 545f) oder deskriptiv in Sinne einer Analyse der Folgen von Gerechtigkeit (z.B. Schröder 2002, S. 110) verstanden werden soll. Nach der hier vorgeschlagenen Deutung beschreibt Thrasymachos eine allgemeine Norm, d.h. seine Methode ist deskriptiv, sein Gegenstand normativ. Die Unterscheidung normativ-deskriptiv spielt für Thrasymachos keine wesentliche Rolle. 39 Griechisch „kreito“, wie bei Thrasymachos „der Stärkere“. Schleiermacher übersetzt abwei‐ chend mit „der Bessere“, weshalb zum besseren Vergleich eine einheitliche Übersetzung ge‐ wählt wird. 40 Hoffmann (ders. 1997, S. 144) gibt eine Übersicht über die Forschung zur Position von Kallik‐ les. Einige Forscher bezeichnen Kallikles als Immoralist (z.B. Hösle), legen dabei aber das Maß der von Kallikles kritisierten Moral an. Ohne dieses Maß erscheint anderen Forschern Kallikles als ein Naturrechtler in einem nicht-modernem Sinn (z.B. Kerferd).
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nach Kallikles das Naturrecht des Stärkeren. Dieses besteht, analog zu Thrasyma‐ chos, in der Herrschaft des Stärkeren, dem es zuvörderst um seinen eigenen Nutzen geht. Davon hebt er das Gesetzesrecht ab, „welches wir selbst willkürlich machen“ (Gorg. 483e). Im Unterschied zu Thrasymachos meint Kallikles mit dem Gesetzes‐ recht vor allem das Vertragsrecht. Denn die Gesetze unterstellen nach Kallikles die Gleichheit aller unter sie fallenden Menschen und fordern: „alle müssen gleich ha‐ ben, und dies sei eben das Schöne und Gerechte“ (484a). Die von Thrasymachos be‐ tonte Notwendigkeit, dass auch der Tyrann Gesetze erlassen muss, um regieren zu können, lässt Kallikles unerwähnt.41 Die Darstellungen von Thrasymachos und Kallikles betonen jeweils einen ande‐ ren Aspekt des Naturrechts des Stärkeren und ergänzen sich zu einem umfassenden Begriff des Naturrechts des Stärkeren.42 Dieses Naturrecht besteht in der Herrschaft des Stärkeren über den Schwächeren zum eigenen Nutzen. Es gilt überall und jeder‐ zeit, unabhängig von menschlichen Setzungen. Das Naturrecht zeigt sich allerdings besonders in diesen Setzungen, da sie stets das Eigeninteresse der Herrschenden ab‐ bilden, seien es viele Schwache oder ein einzelner Starker. Hieraus ergibt sich ein komplexes Verhältnis von Gesetzes- und Naturrecht.43 Einerseits unterliegt jedes Gesetzesrecht dem Naturrecht, da ein Gesetz immer zum Nutzen desjenigen ist, der es gegeben hat. Andererseits kann ein konkretes Ge‐ setz inhaltlich vom Naturrecht abweichen, indem es nicht dem Stärkeren, sondern dem Schwächeren zuträglich ist wie im Vertragsrecht. Diese Spannung lässt sich durch einen Vergleich mit einem physikalischen Naturgesetz veranschaulichen. Das Naturgesetz, dass sich Massen anziehen, gilt in der gesamten Natur. Ein Mensch, der sich in seinem Verhalten nach ihm richtet, kann es zu seinem Vorteil nutzen, wäh‐ rend ein Mensch, der dieses Gesetz zu ignorieren versucht, sich selbst schädigen wird. Übertragen auf das Naturrecht bedeutet das, dass ein Herrscher nur dann Nut‐ zen durch das von ihm gegebene Gesetz hat, wenn es eindeutig am Maßstab des Na‐ turrechts, dem Nutzen des Stärkeren, ausgerichtet ist. Aus dieser Überlegung erklärt sich die unterschiedliche Bewertung der verschiedenen Herrschaftsformen. Das Na‐ turrecht des Stärkeren, für seinen eigenen Nutzen zu sorgen, tritt am konsequentes‐ ten in der Tyrannei hervor, da ein Herrscher den gesamten Nutzen durch die Be‐ 41 Ein Grund dafür könnte sein, dass der Tyrann als alleiniger Gesetzgeber außerhalb von allen Gesetzen steht, die deshalb für ihn als übergeordneter Maßstab keine Rolle spielen. 42 Nach Hoffmann ist die Gleichsetzung der Rechtstheorien von Thrasymachos und Kallikles un‐ zulässig, weil Thrasymachos nirgends den Begriff des Naturrechts nennt (vgl. Hoffmann 1997, S. 359). Jedoch lässt sich dagegen einwenden, dass das Fehlen eines Wortes noch nicht das Fehlen einer Sache impliziert. Flashar weist daraufhin, dass Thrasymachos zwar nicht das Recht des Stärkeren nennt, es aber mit dem „Nutzen des Stärkeren“ erläutert und zugleich überbietet (Flashar 1998, S. 56). 43 Hoffmann sieht im Naturrechtsbegriff einen physikalischen Naturbegriff mit einem metaphysi‐ schen Sollensbegriff verknüpft, lässt aber die Art der Verknüpfung offen (Hoffmann 1997, S. 145).
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herrschten ungeteilt für sich beansprucht. Je mehr Individuen an der Herrschaft be‐ teiligt sind, desto inkonsequenter kommt das Eigennutzprinzip zur Geltung, da die Herrschenden nach dem Vorbild des Vertragsrechts untereinander auf die Durchset‐ zung des Eigennutzprinzips verzichten müssen.44 Für Thrasymachos und Kallikles ist also die Tyrannei die dem Naturrecht am ehesten entsprechende Herrschaftsform, weshalb sie sich ausdrücklich zur Tyrannei bekennen (vgl. Pol. 344a, Gorg. 484a).45 Der Maßstab eines Gesetzes entscheidet demnach für die Sophisten über dessen Le‐ gitimität. Ist der Maßstab der Eigennutz des Stärkeren, entspricht das Gesetz dem Naturrecht und ist legitim, andernfalls ist es abzulehnen. Trotz dieses erklärten Gegensatzes zum Vertragsrecht knüpfen die Machttheoreti‐ ker an zentrale Elemente der Vertragstheorien an und entwickeln sie weiter. Wäh‐ rend innerhalb der Vertragstheorie viele Menschen festlegen, was als Recht gilt, schränkt die Machttheorie die Rechtsetzungsmacht auf einen Menschen ein. Der zu‐ grunde liegende Gedanke, ein natürliches Recht zur Setzung der Gesetze im jeweils eigenen Interesse zu besitzen, bleibt durch diesen quantitativen Unterschied unbe‐ rührt. Bezüglich der Rechtssubjekte setzen die Machttheoretiker die Unterscheidung von Herrscher und Beherrschten an die Stelle der vertragstheoretischen Unterschei‐ dung von Vertragspartnern und Außenstehenden. Die anthropologische Prämisse der Ungleichheit der Menschen ersetzt die Annahme der Gleichheit. Allerdings spielt dieser Unterschied keine wesentliche Rolle für die jeweilige Rechtsbegründung. Da das Vertragsrecht mit der quantitativen Stärke der Masse deren Interessen gegen alle Gegner, auch einzelne qualitativ Stärkere, durchsetzt, ist es selbst eine Form des Rechts des Stärkeren. In Bezug auf das Rechtsobjekt ersetzen die Sophisten die Sicherung des Besitzes, auf die das Vertragsrecht zielt, durch dessen unbegrenzte Anhäufung. Damit führt die Machttheorie kein kategorial anderes Nutzenverständnis ein, sondern lehnt ledig‐ lich die partielle Zügelung des Eigennutzes ab und verallgemeinert das vertrags‐ rechtliche Verhältnis zum Feind. Das Naturrecht des Stärkeren stellt daher keinen ra‐ dikalen Bruch mit dem Vertragsrecht dar, sondern dessen konsequente Fortführung.
44 Im Grenzfall der demokratischen Herrschaft aller, wie sie im Vertragsgedanken vorgestellt ist, fallen Herrscher und Beherrschte zusammen, so dass eine konsequente Verfolgung des Eigen‐ nutzes nicht mehr möglich ist. 45 Flashar sieht im Lob der Tyrannis eine freie Ausgestaltung durch Platon, um das spätere Lob der Gerechtigkeit vorzubereiten (Flashar 1998, S. 56). Selbst wenn dieser Vorwurf zutrifft, so ist das Lob der Tyrannis eine logische Konsequenz aus Thrasymachos' Position.
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c) Begriff der Stärke Der entscheidende Unterschied der Machttheorie gegenüber den Vertragstheorien re‐ sultiert aus den veränderten Begriffen der Stärke und des Nutzens. Der Begriff der Stärke bezeichnet innerhalb der Machttheorien vor allem eine Differenz zwischen Menschen. Die Differenzierung in Starke und Schwache lässt sich aus der Annahme erklären, dass die Herrschaft das grundlegende Prinzip der Wirklichkeit ist. Ob in der Politik oder der Natur, stets herrscht jemand oder wird beherrscht. Für das Bild des Menschen sind daher vor allem die Eigenschaften der Menschen relevant, in de‐ nen sich Differenzen zwischen den Menschen zeigen. Zunächst erklären Thrasymachos und Kallikles einhellig, dass sie die Stärke nicht als rein physische Kraft verstanden wissen wollen. Weder ist die körperliche Überle‐ genheit eines Einzelnen, wie „Polydemus de[s] Hauptkämpfer[s]“ (Pol. 338c), ge‐ meint, noch die physische Übermacht eines „Haufen Knechte […] oder allerlei an‐ derer Leute, an denen weiter gar nichts ist, als dass sie vielleicht körperliche Kräfte haben“ (Gorg. 489c). Der Grund für die Ablehnung dieses physischen Stärke-Be‐ griffs ist dessen unmittelbarer und begrenzter Wirkungsbereich. Der Starke soll nicht nur die physisch erreichbaren Menschen durch unmittelbaren Zwang beherrschen, sondern möglichst alle Menschen innerhalb eines bestimmten politischen Bereichs. Thrasymachos und Kallikles verstehen die Stärke daher vor allem als die politi‐ sche Macht zur Gesetzgebung und -durchsetzung. Für Kallikles besteht die politi‐ sche Macht darin, dass, wenn die Herrschenden „etwas behaupten, dass dann eben dieses das Gesetzliche sei“ (Gorg. 489c). Auch Thrasymachos sieht die Gesetzge‐ bung als ein wesentliches Mittel zur Durchsetzung der Interessen des Stärkeren, er‐ gänzt es jedoch um das Element der Strafe zur Durchsetzung der Gesetze.46 Da die Strafen die Anwendung physischer Gewalt einschließen, wird deutlich, dass der po‐ litische Stärkebegriff eine Verallgemeinerung des physischen ist. Die Gewalt des Herrschers wird nicht von ihm persönlich, sondern von den durch ihn Beherrschten gegen andere Beherrschte ausgeübt oder angedroht. Der Unterschied von politischer und physischer Stärke ist lediglich ein gradueller. Diese formale Definition der Stärke als Gesetzgebungsgewalt lässt nicht nur den Inhalt der Gesetze offen, sondern auch die Gründe und Zwecke der Stärke. Die bei‐ den Sophisten vertreten hier also einen positivistischen Rechtsbegriff, der die Gel‐ tung eines Gesetzes nicht von der Übereinstimmung mit einer allgemeinverbindli‐ chen Gerechtigkeit her bestimmt, sondern von der Setzung einer Institution. Der al‐ leinige Maßstab des Gesetzesrechts ist die positive politische Macht. Der scheinbare Vorteil einer rein formalen Rechtsbegründung liegt darin, auf einen transzendenten 46 „Und jegliche Regierung gibt Gesetze nach dem, was ihr zuträglich ist […]. Und den dieses Übertretenden strafen sie als gesetzwidrig und ungerecht handelnd. [Die Regierung] aber hat die Gewalt […]“ (Pol. 338e).
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metaphysischen Rechtsgrund verzichten zu können, dessen faktische Geltung in der Politik umstritten wäre. Die Kehrseite der positivistischen Rechtsbegründung ist je‐ doch eine Instabilität des Rechtsbegriffs. Eine praktische Problematik zeigt sich an der von Thrasymachos betonten Geset‐ zesdurchsetzung als Mittel der politischen Stärke. Nach der Rechtsbestimmung des Thrasymachos gibt der Herrscher die Gesetze nach seiner eigenen Meinung davon, was ihm nutzt. Allerdings kann in der Praxis die Meinung über das vermeintlich Nützliche von dem tatsächlich Nützlichen abweichen. Die Herrscher können sich ir‐ ren (Pol. 339c). Der Irrtum kann sich entweder auf die Ausarbeitung des Gesetzes oder auf dessen Wirkung beziehen. In beiden Fällen schadet die Durchsetzung eines Gesetzes dem Herrscher, „denn das dem Stärkeren Unzuträgliche wird dann den Schwächeren anbefohlen zu tun“ (Pol. 339e). Das Gesetz würde in diesem Fall dem Naturrecht, für den Nutzen des Herrschers zu sorgen, widersprechen und in der Pra‐ xis die Selbstzerstörung des Herrschenden nicht verhindern.47 Dazu bedürfte das Ge‐ setz eines inhaltlichen, überpositiven Maßstabes. Zu einem analogen Ergebnis gelangt die Analyse von Kallikles' positivistischem Rechtsbegriff. Aus der formalen Definition der Stärke folgt, dass der Herrschende immer der Stärkere ist, unabhängig davon, ob Viele herrschen oder Einer herrscht. Sofern die vielen Schwachen mittels des Gesellschaftsvertrags die Gesetze für den Einzelnen geben, beherrschen sie ihn48. Entsprechend sind „die Vielen von Natur stärker als der Eine, da sie ja auch die Gesetze geben für den Einen“ (Gorg. 488d). Die inhaltliche Unterscheidung von stark und schwach wird inhaltsleer. Gesetzes‐ recht und Recht des Stärkeren würden notwendig immer zusammenfallen und eine Kritik am Vertragsrecht nicht zulassen (Gorg. 489ab). Die Kritik am Vertragsrecht deutet jedoch darauf hin, dass der Unterscheidung von Stärke und Schwäche implizit ein inhaltlicher, überpositiver Machtbegriff zugrunde liegt.49 Aufgrund der Instabilität des positivistischen Rechtsbegriffs sehen sich Thrasy‐ machos und Kallikles gezwungen, den in ihren Machttheorien zugrunde gelegten geistigen Stärkebegriff zu explizieren. Diese Stärke besteht in einem Wissen um die Gesetzgebung, d.h. ein Wissen davon, was die richtigen Gesetze zu dem richtigen
47 Flashar sieht in der Beschreibung der bestehenden Machtverhältnisse als Zwangsherrschaft oh‐ ne einen übergeordneten Maßstab einen widerspruchsfreien Gedanken (vgl. Flashar 1998, S. 56). Die Untersuchung zeigt allerdings, dass die maßstabslose Herrschaft eben nicht wider‐ spruchsfrei gedacht werden kann. 48 Schröder hält deswegen die Naturrechtsvorstellung von Kallikles für wenig überzeugend, denn die konventionelle Rechtsvorstellung wäre genauso plausibel (vgl. Schröder 2001, S. 169). Da‐ bei lässt Schröder jedoch außer Acht, dass sich dasselbe Argument ebenso gegen das konven‐ tionelle Recht anwenden lässt, d.h. beide Rechtsvorstellungen unplausibel wären. 49 So auch Hoffmann, der schon aufgrund von Kallikles' Forderung, dass der Stärkere herrschen soll, in ihm keinen Positivisten sieht (vgl. Hoffmann 1997, S. 125).
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Zweck sind und wie sei auf die richtige Weise durchgesetzt werden müssen. Dieses Wissen bietet den Inhalt zur Unterscheidung von legitimer und illegitimer Stärke.50 So verweist Thrasymachos darauf, dass ein Herrscher nur dann wahrhaft Herr‐ scher genannt werden kann, wenn er mit Wissen regiert.51 Denn nur mittels dieses Wissens lässt sich nach Thrasymachos der Irrtum vermeiden und der eigene Nutzen garantieren. Die damit behauptete epistemische Grundstruktur der Herrschaft erlaubt die Analogie zu den Künsten, die ebenfalls ein Wissen zu einem bestimmten Zweck anwenden. Die Künste umfassen zwei Arten des Wissens: erstens das Wissen vom Zweck der Kunst und zweitens das Wissen um die Mittel, diesen Zweck zu errei‐ chen. Angewandt auf die Herrschaft bedeutet diese Erkenntnisstruktur, dass der Herrscher ein konkretes Wissen vom eigenen Nutzen und von den Mitteln seiner Er‐ reichung, d.h. von der Gesetzgebung, haben muss. Die mit diesem geistigen Stärkebegriff verbundene praktische Seite, also die Fä‐ higkeit zur Anwendung des Wissens, bleibt bei Thrasymachos noch implizit im Be‐ griff der Herrschaftskunst unterstellt. Kallikles expliziert diese Seite, indem er die Stärkeren bestimmt als die, „die in den Angelegenheiten des Staates einsichtsvoll sind und wissen, wie er gut kann verwaltet werden und nicht nur einsichtsvoll, sondern auch tapfer, so dass sie imstande sind, was sie ersonnen haben, auch auszuführen […]“ (Gorg. 491b).
Die genannte Einsicht in Staatsangelegenheiten lässt sich mit Thrasymachos als das Wissen vom Zweck und den Mitteln der Herrschaft verstehen.52 Der Starke hat diese Einsicht und verdient deshalb die Herrschaft. Die Betonung der Fähigkeit, das Wis‐ sen nicht nur zu besitzen, sondern es auch praktisch umzusetzen, verweist darüber hinaus darauf hin, dass das Herrschaftswissen ohne die Herrschaftspraxis nutzlos bleibt. Die theoretische und die praktische Seite der Herrschaft gehören bei Thrasyma‐ chos und Kallikles untrennbar zusammen. Der geistige Stärkebegriff soll den politi‐ schen keineswegs ersetzen, sondern vielmehr ergänzen. Entscheidend dabei ist, dass nur die geistige Stärke die politische Stärke theoretisch begründen und praktisch er‐
50 Kerferd sieht im Naturrecht die allgemeine Forderung „all men should act as the superior few already do“ (Kerferd 1974, S. 50). Dagegen wendet Schröder ein, dass für Kallikles ein Recht auf das Recht des Stärkeren nur aufgrund bestimmter Eigenschaften eines Menschen besteht (Schröder 2001, S. 169). Beide unterstellen dabei offenbar ein politisches Verständnis der Stär‐ ke. Wie dieses aussieht, lassen sie offen. 51 „Denn nur, wenn die Wissenschaft ihn im Stich lässt, fehlt der Fehlende, insofern als er kein Meister ist. So dass kein Meister oder Weiser oder Herrscher irgend fehlt, dann wann er Herr‐ scher ist“ (Pol. 340e). 52 Hoffmann hingegen kritisiert an Kallikles, dass er nicht bestimme, worin die geforderte Ein‐ sicht besteht (vgl. Hoffmann 1997, S. 131).
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halten kann.53 Das natürliche Recht des Stärkeren lässt sich somit zusammenfassend verstehen als das Recht zur politischen Herrschaft desjenigen, der das Herrschafts‐ wissen besitzt und anwendet. Der geistige Stärkebegriff verdeutlicht die normative Grundstruktur des Rechts des Stärkeren, die in der Kritik des Vertragsrechts voraus‐ gesetzt wird. Nur wenn der Wissende faktisch herrscht, stimmen Gesetzesrecht und Naturrecht inhaltlich überein. In allen anderen Fällen, z.B. im Fall des Vertrags‐ rechts, fallen sie auseinander und das Gesetzesrecht ist abzulehnen. Durch den epistemischen Bezug auf einen überpositiven Maßstab stellt sich die Frage, wie dieser zu verstehen ist. Was ist der Inhalt des Herrschaftswissens? Was weiß der Starke mehr als die Schwachen? Da das Wissen um die Mittel der richtigen Herrschaft abhängig vom Wissen um deren Zweck ist, stellt sich das Wissen vom Inhalt des eigenen Nutzens als das entscheidende Wissen des Herrschers dar. Was also ist der Nutzen der Herrschaft?
d) Begriff des Nutzens Die explizite Begrenzung des Nutzens auf den Stärkeren deutet bereits an, dass der Nutzen kein allgemeines Gute sein kann, zu dem jeder Mensch gleichen Zugang hat. Vielmehr ist es ein individuelles Gut, von dem alle anderen ausgeschlossen bleiben. Durch die Ablehnung eines allgemeinen Guten bleibt es aus Sicht der Sophisten dem Menschen überlassen, das für ihn Nützliche und Gute festzulegen. Insofern der Stär‐ kere seinen Nutzen durchsetzen kann, wird dieser zum entscheidenden Maßstab der von ihm beherrschten Wirklichkeit. Diesen Nutzen-Begriff entfalten die Machttheo‐ retiker analog zum Stärke-Begriff im äußeren, materiellen Verhältnis zu anderen Menschen und im inneren, geistigen Verhältnis zu sich. Für Thrasymachos steht der materielle Nutzen im Vordergrund. Besonders deut‐ lich wird der Nutzen des Rechts des Stärkeren am Beispiel der Tyrannei, in der die‐ ses Recht in konsequentester Form als „vollendetste Ungerechtigkeit“ (Pol. 344a) vorliegt.54 Die gewaltsame Aneignung von fremden Gütern ist der Zweck des Rechts des Stärkeren. Bei dieser Charakterisierung des Nutzens fällt auf, dass er we‐ der im Gebrauch noch im Besitz eines Gutes liegt. Die Güter sind nicht Zweck, son‐ dern Mittel für weitere Güteraneignung. Damit wird das Mehrhaben zum Selbst‐ zweck und das Mehrhabenwollen (pleonexia) zur Grundmotivation des menschli‐ chen Lebens. Es liegt also nahe, dass Thrasymachos auch die Menschen in das 53 Schröder beschränkt den Stärkebegriff von Kallikles auf den politischen Aspekt und gerät da‐ durch in das Problem, dass Inhalt und Begründung des Rechts des Stärkeren fehlen. Allerdings scheint dies nicht das Problem der Theorie von Kallikles zu sein (vgl. Schröder 2001, S. 170). 54 „Dies aber ist die so genannte Tyrannei, welche nicht im Kleinen sich fremdes Gut mit List und Gewalt zueignet, heiliges und unheiliges, Gemeingut und Eigentum, sondern gleich insge‐ samt alles…“ (344a).
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Mehrhabenwollen des Tyrannen einbezieht, „wenn aber einer außer dem Vermögen seiner Mitbürger auch noch sie selbst in seine Gewalt bringt und zu Knechten macht […]“ (Pol. 344b). Das unbegrenzte Mehrhabenwollen stellt die zentrale Begründung des Rechts des Stärkeren dar. Jeder Mensch strebt danach, selbst der Stärkste zu sein und mehr zu haben. Wer dieses Streben konsequent verfolgt und darin erfolgreich ist, der kann seinen Willen gegen alle Schwächeren durchsetzen und somit die politi‐ sche Wirklichkeit nach dem Naturrecht des Stärkeren ordnen. Denjenigen Men‐ schen, der dieses Ziel erreicht hat und Tyrann geworden ist, nennt Thrasymachos „glückselig und preiswürdig“ (Pol. 344b). Ist das Glück als ein Zweck des Naturrechts zu verstehen, der über das Mehrha‐ benwollen hinausgeht? Was Thrasymachos unter dem Glück des Tyrannen versteht, expliziert er nicht weiter. Da der Zweck nicht der Güterbesitz ist, lässt sich das dem Tyrannen zugeschriebene Glück als die Lust an der Besitz- und Machtaneignung verstehen. Diese Lust ist allerdings auf den Moment der Aneignung begrenzt, so dass der Tyrann gezwungen ist, um dieser Glücksmomente willen sich immer neuen Besitz anzueignen. Diese subjektive Seite des Mehrhabenwollens expliziert Kallik‐ les folgendermaßen: „Das ist eben das von Natur Schöne und Rechte, was ich dir nun ganz frei heraus sage, dass, wer richtig leben will, seine Begierden muss so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen; und diesen, wie groß sie auch sind, muss er dennoch Genüge zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht, und worauf seine Begierde jedes Mal geht, sie befriedigen“ (Gorg. 491e-492a).
Die unbeschränkte Befriedigung der Begierden benennt Kallikles als den Zweck des Naturrechts und identifiziert diese mit dem Glück, denn „Üppigkeit und Ungebun‐ denheit und Freigebigkeit, wenn sie nur Rückhalt haben, sind eben Tugend und Glückseligkeit“ (Gorg. 492c). Durch seine Forderung nach Steigerung der Begierden vertritt er ein konsequent hedonistisches Glücksverständnis. Gegenüber einem ge‐ mäßigten, aber inkonsequenten Hedonismus, der sich mit der Beseitigung der die Begierden begleitenden Unlust zufrieden gibt, fordert Kallikles konsequent die Stei‐ gerung der Begierden um eines Maximums an Lust willen. Die Lustmaximierung folgt keinem weiteren Zweck, sie ist der Selbstzweck, zu dem die Herrschaft und das Mehrhaben nur Mittel sind. Die Nutzen-Begriffe von Thrasymachos und Kallikles hängen trotz ihrer augen‐ scheinlichen Differenzen eng zusammen. Beide akzentuieren zwei Seiten des Mehr‐ habenwollens. Während Thrasymachos den Gegenstand, das Objekt des Willens, ins Zentrum rückt und damit die politische Dimension erfasst, fokussiert Kallikles auf
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die psychologische Dimension, das Subjekt des Willens.55 Diese beiden Seiten des Mehrhabenwollens lassen sich unter dem Begriff des Willens zur Macht zusammen‐ fassen.56 Die innere und äußere Steigerung und Befriedigung des Machtwillens ist somit der umfassend verstandene Nutzen des Rechts des Stärkeren und damit die letzte Voraussetzung der sophistischen Machttheorie. Der Machtwille ist das in der gesamten Natur wirkende Prinzip, das in dem Recht des Stärkeren zum Ausdruck kommt und dessen Steigerung Ziel der Herrschaft des Stärkeren ist. Zur erfolgrei‐ chen Durchsetzung des eigenen Machtwillens bedarf es vor allem eines klaren Be‐ wusstseins von der Selbstzweckhaftigkeit des Machtwillens, um nicht unwissentlich etwas anderes anzustreben als das Mehrhabenwollen und die Lustmaximierung und somit den Willen zu schwächen. Das Wissen vom Machtwillen als des letzten Prin‐ zips der Natur und seine Durchsetzung als letzter Nutzen der Herrschaft, des Rechts und der Politik sind somit als der Inhalt des Herrschaftswissens zu verstehen. Aus diesem Zusammenhang des Stärke- und Nutzen-Begriffs lässt sich ein um‐ fassender Begriff des Naturrechts des Stärkeren formulieren: das Recht auf politi‐ sche Herrschaft desjenigen, der das Wissen von der Durchsetzung der Macht als Mittel und Zweck der Herrschaft hat. Insofern die Machttheorien von Thrasymachos und Kallikles den Machtwillen als Prinzip der Natur und Zweck der Herrschaft be‐ wusst machen, liegt es nahe, die Machttheorien selbst als dieses Herrschaftswissen zu verstehen. Wer mittels der Machttheorien die verschiedenen Seiten des Machtwil‐ lens erkannt hat, besitzt die geforderte Einsicht und verdient die Herrschaft. Der Machtwille erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch als eine instabile Prämisse. Indem nämlich die Machttheoretiker den Machtwillen zum letzten Zweck erheben, erklären sie etwas Relatives zu etwas Absolutem. Eine Analyse des Mehr‐ habenwollen zeigt, dass dieses zum einen intentional zu verstehen ist, d.h. stets auf etwas gerichtet ist, und zum anderen, dass es Ausdruck eines Mangels, des Zuwe‐ nighabens, ist. Worauf ist das Mehrhabenwollen gerichtet? Da es als letzter Zweck behauptet wird, zielt es letztlich auf sich selbst. Der Machtwille will sich im Mehr‐ habenwollen um seiner selbst willen durchsetzen, er will nur sich selbst und nichts außerdem. Diese Selbstbezüglichkeit des Willens ist die Kehrseite der Ablehnung ei‐ nes transzendenten Guten, denn wenn der je subjektive Wille die einzige Wirklich‐ keit darstellt, dann ist alles darüber hinausgehende bloßer Schein. Die Voraussetzung dafür ist jedoch der Selbstwiderspruch, den Mangel als Fülle zu behaupten. Das Mehrhabenwollen bleibt ein zielloses, leeres Wollen, das weder einen Zweck, noch
55 Flashar sieht in der Position, dass der Mensch mit seiner Wahrnehmung und seinen Begierden der alleinige Maßstab der Wirklichkeit ist, ebenfalls eine Gemeinsamkeit zwischen Kallikles und Thrasymachos (Flashar 1998, S. 56). Allerdings teilen diese Gemeinsamkeit auch andere Sophisten, wie z.B. Protagoras. 56 Auf die Verbindung des Mehrhabenwollens mit dem Willen zur Macht weist auch Zehnpfennig hin (vgl. Zehnpfennig 2001, S. 50).
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einen Nutzen darstellen kann. Das Wissen von dem Mehrhabenwollen als Selbst‐ zweck ist daher nur ein scheinbares, weil unbegründetes Wissen. Eine Analyse der Begierden zeigt die selbstzerstörerischen praktischen Konse‐ quenzen des selbstzweckhaften Machtwillens. Da die Steigerung der Begierden nach Kallikles nicht begrenzt werden darf, unterliegen die Begierden keinem äußeren oder inneren Maßstab.57 Die Begierden werden selbst zum letzten Maßstab des Menschen. Sofern jedoch nur die faktisch herrschenden Begierden zum Maßstab er‐ hoben werden, droht ein Rückfall auf das Problem des Positivismus (Gorg. 499b). Denn entweder kann eine maßstabslose Steigerung der Begierden die Selbstschädi‐ gung und -zerstörung des Individuums nicht verhindern oder mit der Unterscheidung zwischen schädlichen und nützlichen Begierden ist letztlich wieder ein allgemein‐ verbindlicher Maßstab anerkannt. Auch das Herrschaftswissen des Kallikles bleibt letztlich unbegründet.58 Die zentrale Schwierigkeit der Machttheorien liegt in ihrer Prämisse, dass der Wille zur Macht der letzte Maßstab der Natur und des Menschen ist. Entweder be‐ zieht sich der Machtwille nur auf sich selbst und widerspricht damit der intentiona‐ len Struktur des Willens oder er bezieht sich auf etwas außerhalb von sich und wi‐ derspricht damit der Prämisse, letzter Maßstab zu sein.59 Dieser Widerspruch entfal‐ tet seine zerstörerische Wirkung in den zentralen Bereichen des menschlichen Le‐ bens. Im Bereich des Geistigen zeigt sich wegen der Widersprüchlichkeit des Mehr‐ habenwollens „der Ungerechte als der Törichte und Schlechte“ (Pol. 350c). Im So‐ zialen, „einer Stadt oder einem Geschlecht, einem Heere oder wem nur sonst“ (Pol. 351e) führt das das Mehrhabenwollen zu „Zwietracht und Hass und Streit“ (Pol. 351d) und bewirkt, dass „dieses zuerst unfähig macht etwas auszurichten mit sich selbst, wegen der Zwietracht und Streitigkeiten“ (Pol. 352a). Schließlich zerstört der unbedingte Machtwille auch das Leben des einzelnen Menschen, indem es „ihn un‐ fähig mach[t], etwas auszurichten, weil er im Zwiespalt ist und nicht einig mit sich selbst“ (Pol. 352a). Das durch das Recht des Stärkeren angestrebte gute Leben wird gerade durch dieses verhindert (Pol. 354a).
57 Seinen Widerstand gegen jede Form der Unterordnung unter einen Maßstab formuliert Kallik‐ les folgendermaßen: „Denn wie könnte ein Mensch glückselig sein, der irgendwem diente?“ (Gorg. 491e). 58 Hoffmann, der auf eine Analyse des Stärke- und Nutzenbegriffs verzichtet, sieht in der Mei‐ nung des Kallikles, dass der Stärkere herrschen und den Begierden nachgehen soll, eine wider‐ spruchsfreie Position (Hoffmann 1997, S. 140). Er führt den Widerspruch im Text darauf zu‐ rück, dass Sokrates Kallikles zum Wechsel seiner Gleichsetzung von der Lust und dem Guten zur Gleichsetzung von guter Lust und dem Gutem zwingt (Hoffmann 1997, S. 141). Wäre Kal‐ likles bei seiner Position geblieben, dann, so ließe sich schließen, wäre sie widerspruchsfrei. Dabei übersieht Hoffmann jedoch, dass Sokrates lediglich die Ambivalenz der Lust aufzeigt und damit, dass der Nutzenbegriff sich selbst nicht genügt. 59 Vgl. Heimann 2015, S. 233.
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Schluss Der gemeinsame Grundgedanke eines unbedingten Machtwillens zeigt, dass sich die Machttheorien von Thrasymachos und Kallikles nicht widersprechen, sondern wech‐ selseitig ergänzen. Thrasymachos betrachtet vor allem die politische Wirklichkeit als Bereich des Machtwillens und den Zusammenhang von dem Recht des Stärkeren und dem Gesetzesrecht. Kallikles weitet dagegen den Blick sowohl auf die gesamte Natur als auch auf die Seele des Einzelnen als Wirkbereich des Machtwillens aus, um daran die Bedingungen des menschlichen Glücks herauszuarbeiten. Während Thrasymachos also die politische Seite der Machttheorie expliziert, legt Kallikles das Schwergewicht auf die psychologische Seite. Trotz ihrer in sich widersprüchli‐ chen Prämissen und zerstörerischen Konsequenzen üben die sophistischen Macht‐ theorien eine bleibende Faszination auf Denker der Philosophiegeschichte aus.60 Woher rührt diese Faszination? Diese Frage lässt sich möglicherweise am ehesten durch die in dieser Studie vor‐ genommene Einordnung der Machttheorien beantworten. Die Machttheoretiker Thrasymachos und Kallikles lassen sich als Reaktion auf die sophistischen Vertrags‐ theorien verstehen. Die Vorstellung des Rechts als eines Vertrags unter Gleichen zum wechselseitigen Nutzen führen die Machttheoretiker auf die Prämisse des Ei‐ gennutzes zurück. Von dieser Prämisse her kritisieren sie das Vertragsrecht als Aus‐ druck einer inkonsequenten Verfolgung des Eigennutzes, da es auch den Nutzen An‐ derer berücksichtigt. Dagegen versprechen die Machttheoretiker, mit dem Recht des Stärkeren eine konsequent auf der Prämisse des Eigennutzes beruhende Theorie zu entwickeln. Aus dieser Einordnung der Machttheorien wird ersichtlich, dass sie einen Großteil ihrer Überzeugungskraft aus der argumentativen Inkonsequenz der Vertragstheorien ziehen. Diese erweisen sich als wehrlos gegen die Kritik der Machttheoretiker, weil sie letztlich unbewusster Ausdruck des menschlichen Macht‐ willens sind. Ihnen bleibt daher nur der Verweis auf die zerstörerischen Folgen einer konsequenten Anwendung des Rechts des Stärkeren. Solange die Kritik des Rechts des Stärkeren jedoch auf der Grundlage der konventionellen Rechtsvorstellungen geäußert wird, übt die Theorie des Rechts des Stärkeren wahrscheinlich auch weiter‐ hin Faszination auf jeden konsequenten Denker aus.
60 Zehnpfennig erkennt in der Gerechtigkeitskritik des Thrasymachos zentrale Thesen von Nietz‐ sches Philosophie wieder (vgl. Zehnpfennig 2001, S. 50) und in der Position des Kallikles in wesentlichen Punkten eine Vorwegnahme der Stärke-Ideologie Hitlers (vgl. Zehnpfennig 2008, S. 112). Schröder sieht zahlreiche Übereinstimmungen zwischen Kallikles und Nietzsche und findet es erstaunlich, wie überhaupt jemand auf die Position des Kallikles zurückfallen könne (vgl. Schröder 2001, S. 169). Trotz dieser Bedenken plädiert Dahrendorf für die Wiederaufnah‐ me von Thrasymachos' Ansatz, Geschichte, Politik und Gesellschaft vom Prinzip des Herr‐ schaftszwangs statt vom Prinzip des Ausgleichs her zu verstehen (Dahrendorf 1967, S. 294ff).
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III. Die Sophistik in Moderne und Postmoderne
Johannes Frank Hoerlin Antiker und moderner Relativismus? Protagoras und Judith Butler
Die Radikalität von Judith Butlers Gender Trouble liegt besonders in der Infragestel‐ lung einer gewöhnlich als selbstverständlich hingenommenen Wahrheit: Die Annah‐ me eines unveränderlichen, biologischen Geschlechtskerns (sex), der unabhängig von der wandelbaren sozialen Konstruktion der Geschlechterrolle (gender) sein soll.1 Diese Dekonstruktion des Geschlechts geschieht mit dem Impetus, „das aufzu‐ brechen, was zu eingebürgertem Wissen und zu wissbarer Realität geworden ist.“2 Tatsächlich ist für Butler die Annahme eines solchen Geschlechtskerns ein Diskurs‐ effekt wie das gender auch. Dass das sex, das als Wahrheit des Geschlechts gilt, aber als Effekt von Diskursen3 entlarvt werden kann, zeigt, dass diese in der Lage sind, festzulegen, was als wahr und was als falsch gilt. Die Frage der Wahrheit ist also weniger eine Frage der Erkenntnis als eine der Macht.4 Damit scheint hinter Butlers Dekonstruktion des sex eine klassisch relativis‐ tische Annahme zu stehen: Die Ablehnung absoluter und universeller Wahrheiten unter dem Hinweis, dass es Wahrheit stets nur als bedingte gibt; dass also beispiels‐ weise, was als wahr gilt, durch gesellschaftliche Machtverhältnisse bestimmt ist. Seit Platons Theaitetos – eine der ersten historisch greifbaren Auseinandersetzun‐ gen mit dem epistemologischen Relativismus – ist das Grundproblem einer solchen Position bekannt: In der Erörterung des Homo-Mensura-Satzes des Protagoras zeigt sich, dass der Relativist entweder für seinen Relativismus doch Wahrheit beanspru‐ chen muss oder aber dieser sich selbst relativiert. Mit dieser einfachen Überlegung mag ein Grundproblem des Relativismus benannt sein, doch zeigt der platonische Dialog ebenso wie die darauf folgende Ideengeschichte, dass sich das relativistische Denken dadurch nicht stören lässt. Wichtiger, als auf diesem Widerspruch zu beharren, ist es also zu verstehen, war‐ um das Denken darauf stößt und inwiefern er notwendig ist. Ein solches Verständnis kann nun gerade durch den Vergleich zweier sehr unterschiedlicher Positionen erfol‐ gen, die aber trotz aller Unterschiedlichkeit eine relativistische Ausgangsprämisse teilen. Es soll die Frage gestellt werden, ob sich eine gemeinsame Denkstruktur der
1 2 3 4
Vgl. Butler 2007, S. 9–10. Butler 2009, S. 51. Vgl. Butler 2007, S. xxxi. Vgl. Butler 2009, S. 49–50.
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antiken Position des platonischen Protagoras5 und der poststrukturalistischen Butlers nachweisen lässt – ob man also Protagoras als den ersten Dekonstruktionisten6 oder umgekehrt den Postmodernismus als moderne Sophistik betrachten kann. Dieser Frage wird durch einen Vergleich zweier Texte nachgegangen, die auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben: Auf der einen Seite der Theaitetos, ein erkenntnistheoretischer Dialog Platons, in dem unter anderem eine relativistische Epistemologie entwickelt und widerlegt wird; auf der anderen Seite Butlers Bodies That Matter, eine Sammlung von Aufsätzen, die sich genealogisch mit Körpern und deren Materialität auseinandersetzen. Die Unterschiedlichkeit zwischen dem antiken und dem zeitgenössischen Text scheint zunächst gewaltig zu sein, der Vergleich sich zu verbieten. Bei näherem Blick zeigt sich jedoch, dass im platonischen Dialog Themen der aktuellen Diskussi‐ on vorweggenommen werden: In der Gender-Theorie findet sich die Auseinander‐ setzung mit dem epistemologischen Relativismus in der Debatte um den feministi‐ schen Postmodernismus wieder, mit dem Butler häufig in Verbindung gebracht wird.7 Gewöhnlich wird der Begriff mit der Relativierung universeller Wahrheiten sowie mit der Kritik des einheitlichen und autonomen Erkenntnissubjekts assoziiert8 – beides wird bereits im Theaitetos diskutiert. Auch darf über Butlers dekonstruktivistische Ausrichtung – ihr Ziel ist es natür‐ lich nicht, eine kohärente und systematische Ontologie zu entwickeln, sondern die Möglichkeit einer solchen durch den Verweis auf ihre Bedingtheit durch Macht in Frage zu stellen – nicht vergessen werden, dass sie sich in Bodies That Matter dafür selbst in einen erkenntnistheoretischen und ontologischen Diskurs begibt. Sie arbei‐ tet keine systematische Erkenntnistheorie und Ontologie aus, aber Aussagen zum ontologischen Status und der Erkennbarkeit von Materie kann und will sie nicht ver‐ meiden. Obgleich also die Unterschiedlichkeit der Anliegen einen inhaltlichen Vergleich der Texte verbietet, so kann doch gefragt werden, ob sich eine Gemeinsamkeit zwi‐ schen dem protagoräischen Relativismus und dem Dekonstruktivismus Butlers auf struktureller Ebene finden lässt: Gibt es eine gemeinsame, ‚relativistische‘ Argu‐ mentationsstruktur? Lassen sich bei Butler Parallelen zu der Argumentation des platonischen Protago‐ ras aufzeigen, so wäre dies ein Hinweis, dass es sich tatsächlich um allgemeine Denkstrukturen handelt, die auf bestimmten Prämissen fußen – und dass sich folg‐ lich auch der postmoderne Relativismus vor der sokratischen Frage auszuweisen hat. Der Blick auf den Theaitetos soll dabei dem Zweck dienen, die Logik des Relativis‐ 5 Damit bleibt offen, inwiefern die platonische Darstellung der historischen Position des Protago‐ ras entspricht. 6 Vgl. Putnam 1984, S. 233. 7 z.B. Benhabib 1995, S. 20–21, Gill 1995, S. 177–178. 8 Vgl. z.B. Benhabib 1995, S. 20, Flax 1990, S. 41, Ramazanoğlu/Holland 2004, S. 89–90.
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mus zu erschließen, um sie mit Butlers Schrift zu vergleichen. Aber auch hinsicht‐ lich der Interpretation des platonischen Dialogs lohnt sich der Vergleich: Die HomoMensura-Lehre des Protagoras wird im Verlauf des Dialogs schrittweise erweitert und radikalisiert; wenn sich in Butlers Argumentation analoge Schritte nachweisen lassen, so zeigt dies, dass Platons Auslegung der Homo-Mensura-Lehre keineswegs willkürlich ist, sondern ein konsequentes Durchdenken der relativistischen Position darstellt. Nach einer Zusammenfassung der Texte hinsichtlich ihrer für den Vergleich rele‐ vant erscheinenden Passagen (1. und 2.), wird zunächst der Zusammenhang von Er‐ kenntnistheorie und Ontologie im Theaitetos untersucht. Es wird die Frage gestellt, ob die sog. Flusstheorie, die hier im Namen des Protagoras entwickelt wird, in der Konsequenz des Homo-Mensura-Satzes liegt – und ob dieser Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Ontologie sich in vergleichbarer Form auch bei Butler finden lässt (3.). Sodann wird untersucht, ob auch die subjekttheoretischen Konsequenzen, die sich im Theaitetos ergeben, für einen konsequenten Relativismus notwendig sind und dementsprechend ihrer Struktur nach auch bei Butler nachgewiesen werden können (4.). Schließlich wird gezeigt, dass sich die im Dialog entwickelte Erkennt‐ nistheorie, Ontologie und Subjekttheorie durch eine spezifische Praxis rechtfertigen muss. Ein solches, für den Relativismus charakteristisches Theorie-Praxis-Verhältnis lässt sich sowohl bei Protagoras als auch bei Butler finden (5.).
1. Der Homo-Mensura-Satz in Platons Theaitetos Im Theaitetos präsentiert Sokrates die relativistische Erkenntnistheorie des Protago‐ ras, den Homo-Mensura-Satz – ergänzt durch eine Ontologie, nach der alle Dinge sich in ständigem Fluss befinden. Den Gesprächspartnern Theaitetos und Theodoros gelingt es allerdings nicht, diese Lehre gegen die Einwände des Sokrates aufrechtzu‐ erhalten; der protagoräische Relativismus endet in der Aporie, ebenso wie alle ande‐ ren Definitionen von Erkenntnis, die im Verlauf des Dialogs geprüft werden. Zu Beginn des Dialogs wirft Sokrates, nachdem er auf Theodoros und dessen be‐ gabten Schüler Theaitetos getroffen ist, die Frage auf, was Erkenntnis sei. Nach einem ersten missglückten Definitionsversuch bestimmt der Knabe diese als Wahr‐ nehmung.9 Dies ist der Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung und der Auftakt zur Erörterung der Lehre des Protagoras. Sokrates zufolge deckt sich Theaitetos' Antwort mit dessen Homo-Mensura-Satz, der besagt, „der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind.“10 Dem Ho‐ mo-Mensura-Satz zufolge ist für einen Menschen alles so, wie es ihm erscheint; 9 Vgl. Platon, Theait. 143d-151e. 10 Platon, Theait. 152a.
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Wahrnehmung bezieht sich folglich stets auf Seiendes und ist untrüglich, was ihre Gleichsetzung mit Erkenntnis begründet.11 Es wird nun ein Zusammenhang zwischen diesem epistemologischen Relativis‐ mus und einer weit verbreiteten Ontologie hergestellt. Protagoras, so Sokrates, sei mit Heraklit und vielen anderen Weisen in einem Punkt einig gewesen: Nichts exis‐ tiere an sich, und weder könne man einem Ding bestimmte Eigenschaften zuschrei‐ ben noch überhaupt Dinge sprachlich fixieren. Stattdessen befinde sich alles im Fluss und sei nie, sondern werde stets nur.12 Im Rahmen dieser Ontologie werden alle Wahrnehmungen auf Bewegungen zu‐ rückgeführt. Aus dem „Begegnen und der Reibung“13 einer wirkenden und einer lei‐ denden Bewegung entstünden Erzeugnisse, die immer als Zwillinge, d.h. stets gleichzeitig auftreten: zum einen das vom Subjekt Wahrgenommene, also das Sehen, das Hören, das Riechen, aber auch Lust und Begierde; zum anderen das miterzeugte Wahrnehmbare der Dinge, also dem Sehen die Farben, dem Hören die Töne etc. Al‐ les Existierende wird auf ein solches Interagieren von Wirken und Leiden zurückge‐ führt: Menschen, Tiere, selbst das Gute und Schöne sind demnach nichts als das Pro‐ dukt von Bewegungen. Selbst das Wirkende und das Leidende bestehen nicht unab‐ hängig voneinander, sondern ein in einem Fall Wirkendes kann im nächsten Moment als Leidendes auftreten und umgekehrt.14 Kurzum: Nichts ist an und für sich etwas, weshalb „das Sein aber überall ausgestoßen werden muss […].“15 Die Kritik der entwickelten Theorie unternimmt Sokrates in drei Schritten: Zu‐ nächst wird der Homo-Mensura-Satz selbst widerlegt, daraufhin die problemati‐ schen Konsequenzen der Flusstheorie aufgezeigt und schließlich dargelegt, weshalb Wahrnehmung nicht mit Erkenntnis gleichgesetzt werden kann. Die Widerlegung des Homo-Mensura-Satzes beginnt Sokrates mit dem Hinweis auf einige problematische Konsequenzen: Warum macht Protagoras den Menschen, nicht aber das Schwein oder den Affen zum Maß aller Dinge, wenn Erkenntnis al‐ lein auf Wahrnehmung beruht? Auch erscheint Protagoras‘ eigene Tätigkeit als Leh‐ rer fragwürdig, wenn der Mensch das Maß der Dinge ist und also keiner Belehrung bedarf. Mehr noch, jeglicher Austausch von Argumenten scheint sinnlos zu werden, wenn alle Vorstellungen stets korrekt sind. Sind so die Kompetenzunterschiede zwi‐ schen den Menschen und die Differenz zwischen Mensch und Tier nivelliert, so wird, schließlich, auch die Unterscheidung zwischen Menschen und Göttern frag‐ würdig.16
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Vgl. Platon, Theait. 152c. Vgl. Platon, Theait. 152d. Platon, Theait. 156a. Vgl. Platon, Theait. 156a-157c. Platon, Theait. 157a. Vgl. Platon, Theait. 161c-162d.
Sokrates wehrt diese Kritik in einer von ihm selbst vorgetragenen Gegenrede ab, nur um sogleich weitere Einwände gegen den Homo-Mensura-Satz zu formulieren. So stellt sich, wenn Wahrnehmung mit Erkenntnis identifiziert wird, das Problem, wie das Phänomen der Fremdsprachen zu verstehen ist: Hier nehmen wir offenbar wahr, verstehen aber, wenn wir der Sprache unkundig sind, doch das Gesagte nicht. Auch der Vorgang der Erinnerung ist aus dieser Perspektive kaum zu verstehen: Hat jemand, der sich an etwas erinnert, keine Erkenntnis, weil er ja aktuell nichts wahr‐ nimmt? Schließlich stellt Sokrates die „gewaltigste Frage“17, die aus der Definition des Theaitetos folgt, nämlich, ob jemand, der nur mit einem Auge sieht, zugleich er‐ kennt und nicht erkennt. Nimmt er doch mit dem einen Auge wahr, mit dem andern aber nicht. Es ergibt sich der Widerspruch, dass gleichzeitig erkannt und nicht er‐ kannt wird. In einer erneuten Gegenrede wird Erinnerung als Form von Wahrnehmung, die sich allerdings auf andere Objekte als die der Sinneswahrnehmung bezieht, konzi‐ piert. So nimmt der Erinnernde durchaus wahr und hat mithin auch Erkenntnis, wenn auch Erkenntnis von einem anderen Ding als der sinnlich Wahrnehmende. Auch dass man gleichzeitig wissen und nicht wissen könne, muss nicht ausgeschlos‐ sen werden, ebenso wenig, dass „überhaupt jemand Der und nicht vielmehr Die, und zwar unzählig viele Werdende […]“18 sei. Die Tätigkeit des Protagoras als Lehrer schließlich wird damit erklärt, dass es die Rolle des Weisen sei, denjenigen, dem Schlechtes erscheint, in einen Zustand zu bringen, dass ihm Gutes erscheine. Folglich ist nicht die Wahrheit, sondern der Nut‐ zen einer Lehre entscheidend.19 Hier setzt die eigentliche Widerlegung ein, die nun mit Theodoros als Gesprächs‐ partner durchgeführt wird, sich aber weiter an den Prämissen des Protagoras orien‐ tieren soll. Zunächst weist Sokrates auf das faktische Bestehen der Fachkunde hin. Wie lässt sich die Annahme, alle Vorstellungen seien wahr, mit jener vereinbaren? Denn die Fachkunde basiert auf der Prämisse, dass sich die Kundigen durch Einsicht hervortun. Es ergibt sich folgendes Dilemma: Entweder ist die Vorstellung, dass es Fachkunde, d.h. richtige und falsche Meinungen über einen Sachbereich gibt, falsch; dann aber gibt es offenbar zumindest eine falsche Meinung, nämlich genau diese. Oder aber sie ist richtig – dann gibt es ebenso falsche Meinungen, nämlich die der Unkundigen. Daraufhin wendet Sokrates den Homo-Mensura-Satz auf diesen selbst an: Gilt der Satz für Meinungen über den Homo-Mensura-Satz, so müsste Protago‐ ras denen, die ihn ablehnen, nach seiner eigenen Lehre Recht geben, und der Satz
17 Platon, Theait. 165b. 18 Platon, Theait. 166b. 19 Vgl. Platon, Theait. 167a-d.
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wäre für keinen wahr. Der protagoräische Relativismus, zu seiner äußersten Konse‐ quenz getrieben, relativiert sich selbst.20 Man kommt zu dem Schluss, dass im Gegenstandsbereich der Fachkunde keines‐ wegs jeder das Maß aller Dinge ist – ebenso wenig wie für das Zukünftige, wo der Kundige bessere Prognosen als der Laie stellt.21 Deshalb gilt die Lehre des Protago‐ ras den Gesprächspartnern als widerlegt, und man fährt mit der Kritik der Flusstheo‐ rie fort. Hier stellt sich folgendes Problem: Wenn sich alles bewegen soll, so muss dies sowohl als Ortsbewegung als auch als Veränderung des Dings selbst geschehen, denn andernfalls gäbe es sehr wohl etwas Konstantes. Wenn sich aber alles auf diese beiden Arten bewegt, dann kann auch eine Wahrnehmung nicht darin verharren, Wahrnehmung zu sein. Folglich kann die Wahrnehmung, die stets in Nicht-Wahr‐ nehmung umschlägt, nicht als Definiens für Erkenntnis dienen, und die Ausgangs‐ frage bleibt unbeantwortet.22 Im letzten Schritt der Widerlegung zeigt sich, dass sich die wichtigsten Dinge wie das Sein und das Nicht-Sein oder der Nutzen einer Sache keinesfalls mit den Wahrnehmungsorganen, sondern nur in einem Denkakt erfassen lassen. In den Sinneseindrücken kann folglich keine Erkenntnis liegen, wohl aber in den Schlüssen daraus.23 Weder der Homo-Mensura-Satz noch die Flusslehre noch auch die Behauptung, Erkenntnis sei Wahrnehmung, können aufrechterhalten wer‐ den.
2. Butlers Konzept der Materialisierung in Bodies That Matter Die Infragestellung der Unterscheidung zwischen sex und gender in Butlers Gender Trouble zog die Kritik nach sich, Butler betreibe eine „Entkörperung“24 und stehe für eine „Diskursontologie“25, die alles auf Sprache reduziert. Butler wird unterstellt, dass sie den Dingen keine eigenständige Existenz außerhalb der Diskurse zugestehe. So schreibt Lorey: „Es gibt für Butler nichts, was außerhalb einer sprachlichen Bezeichnungspraxis zu ver‐ orten wäre. […] Der Körper ist materiell nur über die Materialität des ihn bezeichnenden Zeichens. Damit wird der Körper zum Text.“26
Ein solches Verständnis von Konstruktion hält jedoch auch Butler für unbefriedi‐ gend. In der Einleitung zu Bodies That Matter versucht sie daher ein Konzept von 20 21 22 23 24 25 26
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Vgl. Platon, Theait. 170a-171d. Vgl. Platon, Theait. 171d-172c; 178a-179c. Vgl. Platon, Theait. 182c-183c. Vgl. Platon, Theait. 184b-186e. Duden 1993. Landweer 1993, S. 41. Lorey 1993, S. 15.
Materie zu entwickeln, dass den Gegensatz von Essentialismus und Konstruktivis‐ mus überwindet. Butler plädiert für ein „understanding of construction as constitutive con‐ straint“27. Damit ist gemeint, dass Konstruktionen nichts Künstliches und Verzicht‐ bares sind, sondern geradezu konstitutiv sein können: Ohne bestimmte Konstruktio‐ nen sei es schlichtweg unmöglich zu denken. Es sind diskursive Konstruktionen – verstanden als „constitutive constraints“ – die bestimmen, welche Körper denkbar und welche undenkbar sind. So sind menschliche Körper beispielsweise nur denk‐ bar, sofern sie ein biologisches Geschlecht28 aufweisen, d.h. sich den Normen des sex unterwerfen.29 Aus dieser im Materiellen durchaus herrschenden Notwendigkeit lässt sich für Butler indessen nicht ableiten, dass somit unveränderlich vorgegebene Fakten ge‐ schaffen sind. Das biologische Geschlecht ist „not a simple fact or static condition of a body, but a process whereby regulatory norms materialize ‚sex‘ and achieve this materialization through a forcible reiteration of these norms.“30
Materie ist weder unveränderlich vorgegeben noch eine beliebig zu verändernde Konstruktion. Vielmehr beruht sie auf einem Prozess, der durch die wiederholte Un‐ terwerfung unter Normen operiert. Materialisierung ist daher auch nie abgeschlos‐ sen, die ständig wiederholte Unterwerfung unter die Normen ist nötig. Die Vorstel‐ lung einer vorgegebenen und statischen Materie wird somit durch einen Prozess er‐ setzt – daher spricht Butler von Materialisierung: „What I would propose [...] is a return to the notion of matter, not as site or surface, but as a process of materialization that stabilizes over time to produce the effect of boundary, fixity, and surface we call matter.“31
Der Körper ist nach Butler folglich durchaus materiell zu verstehen, jedoch ist die Materie ein Effekt von Macht, denn die wiederholte Zitierung der Normen ist er‐ zwungen.32 Insofern die Normen bestimmten Körpern den Anspruch auf Wirklichkeit verwei‐ gern – also beispielsweise jenen, die nicht in das binäre Schema von Männlichkeit und Weiblichkeit passen – schlägt die Konstruktion von Materialität fehl; die nicht den Normen entsprechenden Körper werden aus dem Bereich des Wirklichen ausge‐ schlossen, sie sind nicht intelligibel. Die Menschlichkeit dieser „abject beings“33 27 28 29 30 31 32 33
Butler 2011, S. x. Der Begriff wird hier als Übersetzung des englischen sex verwendet. Vgl. Butler 2011, S. xiii. Butler 2011, S. xii. Butler 2011, S. xviii. Herv. i.O. Vgl. Butler 2011, S. xii. Butler 2011, S. xiii.
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wird somit fragwürdig. Obwohl diese ausgeschlossenen Wesen einerseits Effekt des Diskurses sind, ist aber andererseits die Konstruktion des Körpers nicht möglich, oh‐ ne einen solchen Bereich der nicht-intelligiblen Körper zu produzieren. Konstrukti‐ on beruht demnach notwendig auf Exklusion: „[…] the construction of the human is a differential operation that produces the more and the less ‚human,' the inhuman, the humanly unthinkable. These excluded sites come to bound the ‚human‘ as its constitutive outside [...]“34
Dieses Verständnis von Materialisierung als wiederholte Zitierung von Normen, durch die ein Diskurs jene Phänomene, die er zu benennen vorgibt, überhaupt erst produziert, ist nach Butler weder essentialistisch noch konstruktivistisch. Konstruktivistisch sei diese Position nicht, weil nicht abgestritten werde, dass es etwas außerhalb des diskursiv Konstruierten gibt. Nur sei dies kein absolutes Außer‐ halb, keine „ontological thereness that exceeds or counters the boundaries of dis‐ course […]“35. Auch essentialistisch soll sie nicht sein, weil auch das Außerdiskursi‐ ve, das notwendig mit der Materialisierung des Körpers einhergehe, nur in seinem Bezug zu einem Diskurs, nämlich als dessen Grenze zu verstehen sei.36 Butler wen‐ det sich damit gegen einen „discursive monism“37, welcher behauptet, alles sei dis‐ kursiv konstruiert. Das Außerhalb des Konstruierten zeichnet sich gerade dadurch aus, dass seine erfolgreiche Konstruktion misslingt. Nur durch die Exklusion eines Bereichs des Nicht-Intelligiblen, eines Bereichs von Körpern, die der Norm nicht entsprechen, ist Materialisierung erfolgreich. Somit kann Butler grundlegende biologische Tatsachen einräumen. Dieses Zuge‐ ständnis mag notwendig sein, doch es erfolgt stets innerhalb eines Diskurses mit der Kraft „to produce – demarcate, circulate, differentiate – the bodies it controls.“38 Nicht die Materie zu leugnen, sondern den Diskurs über sie zu verändern, ist Butlers Ziel: Indem ein Diskurs, der vorgegebene Dinge zu benennen vorgibt, als sie erst schaffend entlarvt wird, soll die Möglichkeit eröffnet werden, bislang ausgeschlosse‐ nen Formen von Körperlichkeit ihr Recht zu gewähren.
3. Der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Ontologie Die schrittweise Erweiterung und Zuspitzung, die Sokrates an der These des Theai‐ tetos vornimmt, kulminiert in der Behauptung des Sokrates, diese These, der HomoMensura-Satz und die Flusslehre seien identisch: 34 35 36 37 38
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Butler 2011, S. xvii. Butler 2011, S. xvii. Vgl. Butler 2011, S. xvii. Butler 2011, S. xvii. Butler 2011, S. xii.
„[...] es fällt in eins zusammen, daß nach dem Homeros, Herakleitos und ihrem ganzen Stamm alles sich wie Ströme bewegt, daß nach dem Protagoras, dem sehr weisen, der Mensch das Maß aller Dinge ist, und daß nach dem Theaitetos, wenn dieses sich so ver‐ hält, die Wahrnehmung Erkenntnis wird.“39
Wie ist diese Gleichsetzung zu verstehen? Burnyeat unterscheidet zwei grundlegen‐ de Lesarten. Nach einer ersten Auslegung (reading A) handelt es sich bei der Erwei‐ terung des Homo-Mensura-Satzes um die Flusslehre um eine Einführung von philo‐ sophischen Theoremen, denen Platon selbst verpflichtet war. Flusslehre und HomoMensura-Satz sind zutreffende Theorien – solange sie auf den Bereich der Wahrneh‐ mungen beschränkt werden. Hier ist tatsächlich jeder das Maß der Dinge und alles stets im Fluss. Doch gerade deshalb gibt es hiervon kein Wissen, das nach Platons Auffassung nur als Wissen der Ideen möglich ist.40 Die Gleichsetzung ist somit nur Vorwand, um ein eigenes Theoriegebäude zu präsentieren. Nach einer zweiten Lesart (reading B) handelt es sich bei der schrittweisen Er‐ weiterung der Definition des Theaitetos um eine reductio ad absurdum. Der HomoMensura-Satz wird als Auslegung der Definition eingeführt, die Flusslehre wiede‐ rum als ontologische Begründung der protagoräischen Epistemologie. Durch deren Widerlegung ist somit auch die ursprüngliche Definition ad absurdum geführt.41 Klassischer Vertreter der Lesart A ist Cornford, der eine vermeintlich charakteris‐ tisch platonische Annahme im Theaitetos im Hintergrund am Werke sieht, nämlich die „world of intelligible ‚Forms‘ seperate from the things our senses perceive.“42 Der Dialog untersucht den Anspruch der Sinneserfahrung auf Wissen und sein apo‐ retisches Ende ist dadurch zu erklären, dass das einzig legitime Objekt von Wissen – die Idee – nicht eingeführt wird.43 Homo-Mensura-Satz und Flusstheorie werden so‐ mit als platonische Theorie der Sinneserfahrung eingeführt, scheitern aber, insofern sie den Anspruch erheben, Theorien des Wissens zu sein. Sich gegen die Annahme wendend, die Auflösung des Dialogs sei in der Ideen‐ lehre zu finden, glaubt Heitsch hingegen, im Dialog durchaus eine Theorie des em‐ pirischen Wissens finden zu können. Widerlegt werde nur eine einseitige Radikali‐ sierung der Flusslehre. Der Leser sei angehalten, Widerlegtes von Unwiderlegtem zu sondern, um so zur platonischen Lehre der Sinneswahrnehmung zu gelangen.44 Auch Heitsch bleibt somit Burnyeats Lesart A insofern verpflichtet, als er die Erwei‐ terung des Homo-Mensura-Satzes um die Flusslehre für die Einführung einer plato‐ nischen Theorie hält.
39 40 41 42 43 44
Platon, Theait. 160d-e. Vgl. Burnyeat 1990, S. 8–10. Vgl. Burnyeat 1990, S. 9–10. Cornford 2000, S. 2. Vgl. Cornford 2000, S. 7. Ähnlich z.B. auch Apelt 1911, S. 10–15. Vgl. Heitsch 1988, S. 45–47.
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Beide Varianten dieser Lesart nehmen damit zwei Schlüsselstellen des Dialogs nicht ernst: Erstens die Selbstcharakterisierung des Sokrates als Hebamme – ohne selbst Wissen hervorzubringen, beansprucht er, mit dem Wissen der Anderen sach‐ gerecht umzugehen;45 und zweitens das grundsätzliche Scheitern jeder Erkenntnis‐ theorie, das letztlich auf ihrer notwendig zirkulären Herangehensweise beruht, näm‐ lich dass das Wissen, das gesucht wird, stets schon vorausgesetzt werden muss.46 Ein selektives Lesen, das davon ausgeht, dass „Meinungen und Überlegungen des Autors nur indirekt, in sozusagen verschlüsselter Form“47 im Dialog zum Ausdruck kommen, ist schon deshalb verdächtig, weil es ganz widersprüchliche Ergebnisse produziert, wie die Positionen von Heitsch und Cornford zeigen. Offenbar sind es aus anderen Dialogen gewonnene Annahmen darüber, was das charakteristisch Pla‐ tonische ausmacht, welche entscheiden, was berücksichtigt wird und was nicht. Wie aber sind diese Annahmen gewonnen – wieder durch selektives Lesen? Auch ist nicht einsichtig, weshalb die impliziten Lösungen, die Cornford und Heitsch anbie‐ ten, vom Autor verschwiegen werden sollten, handelt es sich doch offensichtlich um unproblematisch kommunizierbares Wissen, das die Interpreten dem Leser dann auch ohne Schwierigkeiten mitteilen. Eine Auslegung, die sich an der Selbstbeschreibung des Sokrates als Hebamme der Erkenntnis orientiert, wird also Burnyeats Lesart B näherstehen, insofern sie die Prüfung des Sokrates als Widerlegung der schrittweise entfalteten Theorie ernst nimmt.48 Der Zusammenhang der drei Theoreme, den Sokrates herstellt, kann dann als Akt der Geburtshilfe verstanden werden: Der an sich leere Satz des Theaitetos – es handelt sich nicht um eine Definition im engen Sinne, sondern um eine Gleichset‐ zung zweier unbekannter Größen – wird durch Sokrates‘ Maieutik gefüllt und da‐ durch erst prüfbar gemacht. Mit der Widerlegung von Flusstheorie und Homo-Men‐ sura-Satz ist er damit zwar nicht schlechthin als falsch erwiesen, wohl aber eine mögliche, vielleicht auch die einzig stringente Auslegung.49
45 46 47 48
Vgl. Platon, Theait. 149a-151d. Vgl. Platon, Theait. 196d-e. Heitsch 1988, S. 8. Dieser Lesart folgt auch Burnyeat selbst. Dies bringt ihn jedoch zu dem Ergebnis, der Dialog verlaufe ergebnislos und wolle allein zum erkenntnistheoretischen Weiterfragen anregen: „The dialogue’s final message is: let us try to formulate, in detail, a better answer to the question ‚What is know-ledge?‘“ (Burnyeat 1990, S. 241) Gerade diese Frage ist zirkulär – es wird ein Wissen des Wissens gesucht – und verweist daher auf die nicht-zirkulären Untersuchungen des Frühdialogs. 49 Wie Becker (Becker 2007, S. 274–245) feststellt, ist also genau genommen nicht der Satz wi‐ derlegt – was gar nicht möglich ist, ohne ihn inhaltlich zu füllen –, sondern seine Begründung.
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a) Flusstheorie und Homo-Mensura-Satz Die erkenntnistheoretischen Implikationen der These des Theaitetos werden durch den Homo-Mensura-Satz aufgezeigt; durch die Flusstheorie werden die ontologi‐ schen Konsequenzen entwickelt und die bislang entfaltete Theorie dadurch zugleich gestützt. Wenn der Homo-Mensura-Satz nicht nur eine skeptische Position darstellen soll, sondern den einzelnen Menschen wirklich zum Maß aller Dinge erheben will, muss jeder mögliche Maßstab außerhalb des Menschen und nicht nur dessen Erkennbar‐ keit geleugnet werden. Dies leistet die Flusstheorie, indem sie besagt, dass nichts an und für sich existiert und dass daher keinem Ding eine Eigenschaft oder ein Sein zu‐ gesprochen werden kann. Eine unabhängig vom Menschen existierende Welt-an-sich ist damit ausgeschlossen. Der enge Zusammenhang zwischen epistemologischer und ontologischer Theorie wird deutlich, wenn Sokrates erläutert, wie es nach der Flusstheorie zu konkreten Wahrnehmungen kommt: Diese entstehen als Folge der Begegnung einer wirkenden und einer leidenden Bewegung. Das Wahrnehmbare wird so stets gleichzeitig mit der Wahrnehmung erzeugt.50 Folglich gibt es nichts, was der Wahrnehmung voran‐ ginge und an dem diese auf ihre Richtigkeit überprüft werden könnte. Nur dann nämlich ist tatsächlich jeder Mensch das Maß aller Dinge: Seine Wahrnehmungen sind untrüglich, weil sie sich nicht auf eine vorangehende Sache beziehen – diese existiert nicht unabhängig von ihrem Wahrgenommen-Werden. Wie die ontologische Theorie die epistemologische Stellung des Subjekts erklärt, so kann auch umgekehrt aus dem Maß-Sein des Menschen die ständige Bewegung der Welt, welche die Flusstheorie postuliert, abgeleitet werden. Die Lehre des Prot‐ agoras besagt, dass eine Sache genau so ist, wie sie dem Subjekt erscheint.51 Da‐ durch gerät die Welt in der Tat in Bewegung: Wenn die Dinge selbst nichts Be‐ stimmtes sind, sondern erst durch die menschliche Wahrnehmung zu etwas werden, diese Wahrnehmung aber für jedes Subjekt individuell und zugleich untrüglich ist, so müssen sich die Dinge beständig ändern – denn jede Wahrnehmung schafft ein ihr zugeordnetes Wahrgenommenes, jede Meinung betrifft eine ihr zugehörige Welt. Die Instabilität der Welt der Objekte ergibt sich so aus der Homo-Mensura-Lehre; die Untrüglichkeit des Subjekts verlangt nach einer stets wandelbaren Welt.52 Die Erweiterung der Homo-Mensura-Lehre um die Flusstheorie ist somit eine fol‐ gerichtige Zuspitzung: Ein konsequenter Relativismus muss die Existenz einer ob‐ jektiven und stabilen Welt der Dinge bestreiten, da sie einen Maßstab böte, nach 50 Vgl. Platon, Theait. 156b. 51 Vgl. Platon, Theait. 152a. 52 Diesen Zusammenhang betont auch Burnyeat (Burnyeat 1990, S. 17): „[...] stability through time, no less than objectivity between different observers, would constitute an independent fact of the matter by reference to which one perception could be counted right, another wrong.“
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dem sich Aussagen als wahr oder falsch beurteilen ließen. Die Flusstheorie schafft diesen Maßstab ab: Eine Wahrnehmung kann nicht richtiger als die andere sein, da das Wahrgenommene jeweils erst gleichzeitig mit ihr entsteht.
b) Der Diskurs und das Ding an sich Butler wird demgegenüber gelegentlich auf die bescheidenere erkenntnistheoretische These beschränkt, dass wir die Welt immer nur über Sprache wahrnehmen könnten; daher wüssten wir nur, wie die Welt uns diskursiv vermittelt erscheint, aber nie, wie sie selbst ist. Davon geht etwa Vasterling aus, die in Butlers Theorie einen „linguis‐ tic turn of Kant“53 sieht. Nach Vasterling ist es für Butler nicht das transzendentale Subjekt, sondern die Sprache, welche unseren Zugang zur Realität zugleich ermög‐ licht und beschränkt.54 Der Kantischen Logik folgend, verneine Butler nicht die Möglichkeit einer ontologisch unabhängigen und außersprachlichen Realität, son‐ dern beschränke sich auf die epistemologische These, dass wir keinen direkten Zu‐ gang zu dieser Welt hätten.55 Somit deutet Vasterling Butlers Anliegen als ein primär erkenntnistheoretisches, welches sich auf das ontologische Minimalzugeständnis, dass eine Welt außerhalb der Diskurse existieren muss, beschränkt. Bliebe Butler tatsächlich auf dieser erkenntnistheoretischen Ebene stehen, so wä‐ re der Homo-Mensura-Satz des Protagoras deutlich radikaler: Den Menschen als Maß aller Dinge anzusetzen, bedeutet gerade nicht, ihn als ein in seiner Erkenntnis‐ fähigkeit beschränktes Wesen zu sehen. Vielmehr soll die Welt tatsächlich so sein, wie sie ihm erscheint. Doch ist bei Butler tatsächlich Platz für eine Materie-an-sich, die unberührt vom diskursiven Zugriff bleibt und damit das vom Menschen unab‐ hängige Maß bietet, das Protagoras abstreitet? In Bodies That Matter äußert Butler eine explizite Kritik an einer „Kantian for‐ mulation of the body“.56 Die Psyche ist für Butler kein Raster, durch das ein a priori gegebener Körper als „ontological in-itself“57 erscheint. Aus der Perspektive Kants hingegen ist klar, dass eine Erscheinung nicht zustande käme, wenn die Sinne nicht durch ein Objekt affiziert würden, das unabhängig vom Subjekt existiert. Dies folgt nach Kant notwendig aus dem Begriff der Erscheinung: Die Erscheinung setzt vor‐ aus, dass es etwas gibt, „[…] was da erscheint.“58 Butler dagegen lehnt es ab, einen Körper-an-sich, der unabhängig von Diskursen wäre, zu postulieren, denn „[t]o posit a materiality outside of language is still to po‐ 53 54 55 56 57 58
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Vasterling 2006, S. 167. Vgl. Vasterling 2003, S. 207–208; 2006, S. 167. Vgl. Vasterling 2006, S. 167. Butler 2011, S. 36. Butler 2011, S. 36. Kant 1983, S. B XXVII.
sit that materiality, and the materiality so posited will retain that positing as its con‐ stitutive condition.“59 Die Behauptung, mit Begriffen etwas Vorsprachliches, der Materie selbst Eigenes auszudrücken, erfolgt ihrerseits sprachlich. Dies hat zur Kon‐ sequenz, dass sich über Vordiskursives überhaupt nicht sprechen lässt, weil es gera‐ de dadurch einem Diskurs einverleibt würde: „Indeed, to ‚refer‘ naively or directly to such an extra-discursive object will always re‐ quire the prior delimitation of the extra-discursive. And insofar as the extra-discursive is delimited, it is formed by the very discourse from which it seeks to free itself.“60
Der Diskurs, der sich auf einen nicht-sprachlich konstruierten Körper beruft, etwa auf einen rein biologischen Geschlechtskern, schafft und formt diesen dadurch erst: „[...] the constative claim is always to some degree performative.“61 Eine diskurs‐ theoretische Wendung Kants dagegen würde diesen Zusammenhang ignorieren: Die Behauptung, unsere Begriffe beruhten auf einer nicht-sprachlichen Materie-an-sich, ist nicht nur eine Illusion, sondern verschleiert auch ihre eigene perfomative Kraft.
c) Linguistischer Monismus Genauso wenig will Butler jedoch einem linguistischen Monismus das Wort reden, der den Körper auf Sprache reduziert. Ihr Ausweg aus diesem Dilemma sind die Be‐ griffe der „exclusion, erasure, violent foreclosure, abjection“.62 Damit bezieht sie sich auf die erzwungene Exklusion jener Körper, die den Normen eines Diskurses nicht entsprechen und daher verworfen werden. Diese stellen einen Bereich des Außerdiskursiven dar, welcher notwendig mit jeder Materialisierung entsteht. Butler zufolge materialisieren sich Körper, insofern sie den Normen eines Diskurses ent‐ sprechen, während andere davon ausgeschlossen werden. Diese ausgeschlossenen Körper konstituieren den außerdiskursiven Bereich der „abject bodies“, welcher al‐ lerdings erst durch den gewaltsamen Ausschluss durch den vorherrschenden Diskurs geschaffen wird und keine unabhängige ontologische Existenz besitzt. Den Vorwurf des linguistischen Monismus kann Butler abwehren, indem sie betont, dass das Außerdiskursive zwar erst mit dem Diskursiven entsteht und von diesem abhängig ist, jedoch niemals vollends von ihm erfasst werden kann. Das Außerdiskursive ist somit Produkt des Diskurses, ohne diesem vollends verfügbar zu sein; zugleich kon‐ stituiert es diesen aber auch, indem es als dessen Grenze fungiert:
59 60 61 62
Butler 2011, S. 37. Butler 2011, S. xx. Butler 2011, S. xix. Butler 2011, S. xvii.
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„For there is an ‚outside’ to what is constructed by discourse, but this is not an absolute ‚outside,’ an ontological thereness that exceeds or counters the boundaries of discourse; as a constitutive ‚outside,’ it is that which can only be thought – when it can – in relation to that discourse, at and as its most tenuous borders.“63
Das Außerdiskursive ist nicht der unberührte, natürliche Körper, wie es der traditio‐ nelle Diskurs des Geschlechtes will, sondern selbst eine Konstruktion eben jenes Diskurses, mit der die Entmenschlichung jener Körper einhergeht, die den Normen des Diskurses nicht entsprechen. Das tatsächlich Außerdiskursive sind also jene ent‐ menschlichten Körper selbst, die als Grenze des Diskurses fungieren, nicht etwa ein vom Diskurs unabhängiges Ding-an-sich. Der Struktur nach entspricht dieses Verhältnis von Diskursivem und Außerdiskur‐ sivem jenem von Wahrnehmung und Wahrgenommenen in der Flusstheorie: Keines geht dem anderen voran und erzeugt das andere, sondern beide konstituieren sich wechselseitig und gleichzeitig. Für Butler erfüllt dieser Gedanke auch ähnlich wie die Flusstheorie für die protagoräische Erkenntnistheorie eine relativistische Funkti‐ on: Sie dient dazu, die Möglichkeit eines an sich bestehenden Körpers als Wahrheit der Sexualität abzustreiten.
d) Die Konstruktion des Materiellen Wenn also weder das Materielle auf Sprachliches reduziert noch es – in linguisti‐ scher Wendung von Kant – auf ein unerkennbares Außerdiskursives zurückgeführt werden soll, wie entsteht die Materialität des Körpers nach Butler? Materialität beruht auf einer performativen Praxis, die das, was sie zu benennen vorgibt, überhaupt erst schafft.64 Der Diskurs des biologischen Geschlechts etwa gibt vor, etwas an sich Bestehendes sprachlich wiederzugeben; tatsächlich handelt es sich um eine Norm, die sich in den als männlich oder weiblich bezeichneten Kör‐ pern materialisiert: Die „materiality of sex is constructed through a ritualized repeti‐ tion of norms […].“65 Durch diese performative Praxis produzieren Diskurse die ihnen zugehörigen Körper. Doch darf daraus nicht geschlossen werden, so Butler, dass die heterosexu‐ ellen Normen einen unabhängigen Status von ihrer Zitation besäßen: Vielmehr hängt ihre Gültigkeit von ihrem Zitiert-Werden ab.66
63 64 65 66
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Butler 2011, S. xvii. Vgl. Butler 2011, S. xxi. Butler 2011, S. ix. Vgl. Butler 2011, S. xxiii.
Den Normen ist mithin kein von ihrer Zitation unabhängiger, überzeitlicher Status zuzusprechen: „The force and necessity of these norms […] is thus functionally dependent on the appro‐ ximation and citation of the law; the law without its approximation is no law […].“67
Umgekehrt bedeutet dies jedoch nicht, dass ein von der Norm unabhängiges Subjekt die Wahl hätte, mit dieser konform zu gehen oder nicht; denn das Subjekt wird selbst erst durch die Unterwerfung unter jene Norm konstituiert. So beruht Materialität weder auf einer beliebigen Konstruktion eines unabhängig existierenden Subjekts noch auf einem unabhängig von seiner Zitation existierenden Gesetz. Die Struktur der Flusstheorie kehrt damit erneut wieder: Die Normen, auf deren Zitation die Materialität beruht, bestehen ihrerseits nicht unabhängig von die‐ ser Zitation, sondern müssen durch diese stets wieder bestätigt werden – wie auch das Wahrgenommene keinen ontologischen Status unabhängig von seinem Wahrge‐ nommen-Werden besitzt. Es gibt somit durchaus Materialität, doch keine Materiali‐ tät-an-sich, die unabhängig vom Akt der Materialisierung wäre. Was sich als materi‐ ell und damit wirklich erweist, ist so keine Frage der Erkenntnis, sondern eine Frage der Macht, weil letztlich auf der Verbindlichkeit der die Materialität erschaffenden Normen beruhend.
e) Flusstheorie und Diskurstheorie Die strukturelle Gemeinsamkeit zwischen der Flusstheorie und der Diskurstheorie liegt in dieser wechselseitigen Konstitution von Diskursivem und Außerdiskursi‐ vem, Zitiertem und Zitierendem, Wahrgenommenem und Wahrnehmendem, Leiden‐ dem und Wirkendem. Keine Seite existiert an und für sich. Im Theaitetos entspringt die These, dass nichts an und für sich existiere, einer Erweiterung der relativisti‐ schen Erkenntnistheorie auf die Objektseite. Die relativistische Logik, die in der On‐ tologie zum Ausdruck kommt, lässt sich wie folgt charakterisieren: Wenn das Wahr‐ genommene erst gleichzeitig mit dem Wahrnehmen entsteht, so gibt es keinen außer‐ subjektiven Maßstab, an dem die Wahrnehmung gemessen und damit als falsch er‐ wiesen werden könnte. Und diese relativistische Logik lässt sich bei Butler wiederfinden: Wenn das, über das der Diskurs zu sprechen vorgibt, von diesem erst geschaffen wird, so können auch Diskurse nicht richtig oder falsch sein. Der Diskurs, der das biologische Ge‐ schlecht formt, verschleiert nur seine produktive Funktion durch diesen Wahrheits‐ anspruch.
67 Butler 2011, S. xxii. Herv. i.O.
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Eine zweite Gemeinsamkeit zwischen Fluss- und Diskurstheorie lässt sich ausma‐ chen: Bei Protagoras gerät durch den Homo-Mensura-Satz die Welt der Objekte in den Fluss; ebenso erklärt Butler mit ihrem Konzept der Materialisierung den stetigen Wandel, der sich aus der Annahme ergibt, dass die Dinge für sich genommen nichts sind, nun zum Wesen der Sache. Sie ersetzt den Begriff der Materie daher durch den der Materialisierung, also durch einen Begriff, der den Prozesscharakter des Materi‐ ellen betont, weil der Bereich des Materiellen auf der performativen Zitierung von Normen beruht. Das Nachdenken über die Materialität habe sie, so Butler in der Ein‐ leitung zu Bodies That Matter, ständig in neue Bereiche geführt, „but this movement beyond their own boundaries, a movement of boundary itself, ap‐ peared to be quite central to what bodies ‚are.‘ […] I began to consider that perhaps this resistance to fixing the subject was essential to the matter at hand.“68
Anders als im platonischen Dialog wird in Butlers Schriften freilich keine umfassen‐ de Ontologie entwickelt. Damit entstehen allerdings eigene Schwierigkeiten, auf die Meijer/Prins hinweisen:69 Einerseits behauptet Butler, dass die ausgeschlossenen Körper an der Materialisierung scheitern, d.h. nicht jenen Normen entsprechen, die entscheiden, was zum Bereich des Materiellen zählt. Auf der anderen Seite sollen die verworfenen Körper jedoch als „abject bodies“ existieren und das konstitutive Außen der erfolgreich materialisierten Körper bilden. Sie scheint die Existenz dieser Körper gleichzeitig vorauszusetzen und zu bestreiten. Butler bleibt hier mehrdeutig, da die Beantwortung dieser Frage nicht ohne weite‐ re ontologische Postulate auskäme. Stattdessen begeht sie bewusst einen performati‐ ven Widerspruch, wie sie in einem Interview erklärt: „Indeed, in a strictly philosophical sense, at once to say that ‚there are‘ abject bodies and that they do not have claim to ontology appears to be what the Habermassians would call a performative contradiction. […] I perform that contradiction on purpose.“70
4. Subjekttheoretische Konsequenzen der Ontologie und Epistemologie Die Kritik an einem einheitlichen und autonomen Subjekt, das Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist, gilt als spezifisch postmodern beziehungsweise poststrukturalis‐ tisch.71 Doch wie Chappell feststellt, findet sich im Theaitetos bereits ein „clearly
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Butler 2011, S. viii. Vgl. Meijer/Prins 1998, S. 279–280. Butler in: Meijer/Prins 1998, S. 280. Herv. i. O. Vgl. z.B. Benhabib 1995, S. 20–21, Weedon 1991, S. 49, Ramazanoğlu/Holland 2004, S. 89– 90.
articulated sceptical account of the self, perhaps the first in the history of Western philosophy.“72 Diese Subjektkritik wird im Dialog in Folge einer Reihe von Einwänden des So‐ krates gegen die protagoräische Lehre entwickelt.73 Zwar lassen sich die polemi‐ schen74 Einwürfe – beispielsweise ob man, wenn man sich ein Auge zuhalte, gleich‐ zeitig erkenne und nicht erkenne – aufheben, doch nur um den Preis einer Radikali‐ sierung des Homo-Mensura-Satzes und dessen Ausweitung auf die Sphäre des Sub‐ jekts. Die Einwände setzen ein einheitliches Erkenntnissubjekt voraus, mit dessen Auf‐ lösung auch die Gültigkeit der Kritik verfällt. Die aus der Gleichsetzung von Wahr‐ nehmung und Erkenntnis folgende Paradoxie, dass, wer sich ein Auge zuhalte, Er‐ kennender und Nicht-Erkennender zugleich sei, verliert ihre Schlagkraft, wenn die‐ ses einheitliche Subjekt fallen gelassen wird. So werden auch die anderen Einwände des Dialogabschnitts entkräftet, indem das Subjekt nicht als Einheit, sondern als Vielheit aufgefasst wird. Die Flusstheorie führt so zu subjekttheoretischen Konsequenzen: Wenn alles stets im Fluss und nichts an und für sich sein soll, so kann diese Ontologie nicht vor dem Menschen und dessen Sein halt machen.75 Da Wahrnehmung und Wahrgenommenes stets gleichzeitig entstehen, können weder Subjekt noch Objekt der Erkenntnis eine eigenständige Existenz besitzen. Nicht nur die wahrnehmbaren Objekte, sondern auch der Mensch wird daher auf einzelne Bewegungen reduziert, er ist nicht mehr als deren Zusammenfassung.76 Das protagoräische Subjekt ist die Gesamtheit einer Reihe von Wahrnehmungszuständen, ohne dass diese in einer zentralen Instanz zu‐ sammenliefen. Damit sind die zwei zentralen Merkmale der Flusstheorie – die Zu‐ rückweisung alles an sich Bestehenden und die allumfassende Bewegung – auf das Subjekt übertragen. Besteht ein ähnlicher Zusammenhang zwischen der Diskurs‐ theorie Butlers und ihrer Subjektkonzeption?
72 Chappell 2004, S. 84. 73 Vgl. Platon, Theait. 166b. S. o. S. 5 ff. 74 Werden diese Argumente außerhalb des Kontextes – die Entwicklung der protagoräischen Epistemologie – betrachtet, so müssen sie sophistisch erscheinen. So ist das Argument, wenn man nur mit einem Auge sehe, erkenne man auf dem einen, auf dem anderen nicht, für Runci‐ man „fairly obviously a joke“ (Runciman 1962, S. 13), für Cooper eine leicht durchsichtige Provokation mit rein dramatischer Funktion (vgl. Cooper 1990, S. 68–69) und auch für Bur‐ nyeat eine „outrageous premise“ (Burnyeat 1990, S. 22). Dabei ist die Konklusion durch einfa‐ che Substitution der zuvor gleichgesetzten Termini ‚Erkennen‘ und ‚Wahrnehmen‘ erreicht. Tatsächlich verweist Sokrates darauf, dass man nicht vorschnell durch derlei Argumente den Protagoras als widerlegt betrachten sollte. Dies scheint jedoch weniger den Grund darin zu ha‐ ben, dass es sich um bewusst sophistische Argumente handelt (so z.B. Burnyeat 1990, S. 22, McDowell 1985, S. 162–164), sondern dass sie auf einer Prämisse beruhen, die Protagoras be‐ streiten kann – und muss, nämlich die des einheitlichen Subjekts. 75 Vgl. Platon, Theait.157b-c. 76 Vgl. Platon, Theait. 156b-c.
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a) Subjektwerdung als Unterwerfung Mit dem Terminus ‚Subjekt‘ bezeichnet Butler eine sprachliche Kategorie, die ein Individuum annehmen muss, um Verständlichkeit gegenüber seinen Mitmenschen zu gewinnen, d.h. das Subjekt ist die „sprachliche Bedingung seiner [des Individuums, J.F.H.] Existenz und Handlungsfähigkeit“77. Auf diese Weise Existenz zu erlangen, ist nach Butler nicht möglich, ohne sich den Spielregeln gesellschaftlicher Macht zu unterwerfen: Subjektivation bedeutet also, dass Subjekte durch Macht gebildet und geformt werden.78 Diese Macht legt fest, welche Subjektpositionen in gesellschaftlichen Diskursen intelligibel sind, d.h. welche Subjekte als solche anerkannt werden. Subjekte entste‐ hen demnach durch die Unterwerfung unter die Normen vorherrschender Diskurse.79 Konkret heißt dies, dass das Subjekt durch eine Reihe von Abgrenzungen gegenüber alternativen Identitäten – die „abject beings“, welche der Diskurs schafft und durch die er zugleich begrenzt wird – konstruiert wird. Diese fungieren als die konstituti‐ ven Grenzen des Subjekts.80 Der Begriff des Außerdiskursiven wird so auf das Sub‐ jekt angewendet: Die Subjektwerdung produziert notwendig Nicht-Subjekte, von de‐ ren (Nicht-)Existenz das Subjekt zugleich abhängt. Damit wird die klassisch-humanistische Vorstellung des Subjekts als einer auto‐ nomen, einheitlichen, der sozialen und natürlichen Welt vorangehenden Instanz ab‐ gelöst von einem Subjekt, das Produkt von Diskursen ist; diese Diskurse können durch das Subjekt niemals verlassen werden, weil es sonst seine eigene Existenz ris‐ kierte. Ausgeschlossen ist damit ein „voluntarist subject“81, das unabhängig von den es erschaffenden Normen existiert. Doch da die Normen ihre Kraft nur dadurch erlan‐ gen, dass sie zitiert werden, existieren auch die Normen nicht unabhängig vom Sub‐ jekt.82 Dies ist die Ablehnung einer Existenz-an-sich in ihrer Anwendung auf das Subjekt: Das Subjekt wird durch die Norm geschaffen, auch wenn die Norm nicht unabhängig vom Subjekt existiert. Der Gedankengang verläuft also analog zu dem im Theaitetos: Weil nichts an und für sich besteht, sondern – bei Butler – Diskurse bestimmen, was Existenz erlangt, so kann auch das Subjekt keine vordiskursiv exis‐ tierende Entität sein. Daraus folgt eine weitere Analogie zum Gedankengang im Theaitetos, nämlich die stetige Wandlung des Subjekts. Diese stellt sich bei Butler wie folgt dar: Die Un‐ terwerfung unter Normen, die das Subjekt konstituiert, muss durch dieses ständig 77 78 79 80 81 82
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Butler 2001, S. 15. Vgl. Butler 2001, S. 7–8. Vgl. Butler 2001, S. 8; 2011, S. xxiv. Vgl. Butler 1995a, S. 46. Butler 2011, S. xxiii. Vgl. Butler 2011, S. xxiii.
wiederholt werden, damit das Subjekt im Bereich des gesellschaftlich Anerkannten verbleibt. Auch Butlers Subjekt ist also stets in Bewegung: „For if the subject is constituted by power, that power does not cease at the moment the subject is constituted, for that subject is never fully constituted, but is subjected and pro‐ duced time and again.“83
Weil es neben dem sexuellen Diskurs weitere Diskurse gibt, die das Subjekt ermög‐ lichen und zugleich beschränken – beispielsweise Rassen- und Klassendiskurse84 – kehrt schließlich auch der Gedanke der Vielheit des Subjekts bei Butler wieder. Die Pluralität der das Subjekt produzierenden Diskurse spiegelt sich in diesem wider, ge‐ nauer: es ist nichts als die Schnittstelle dieser Diskurse: „For there is no self-identical subject who houses or bears these relations, no site at which such relations converge. This converging and interarticulation is the contemporary fate of the subject. In other words, the subject as a self-identical entity is no more.“85
Während Protagoras das Subjekt auf eine Reihe von Wahrnehmungen reduziert, wird es bei Butler zu einer Summe von Abgrenzungen gegenüber alternativen Iden‐ titäten, die durch Macht erzwungen werden. Nicht nur die Welt der Objekte, sondern auch das Subjekt ist für Butler folglich ein Effekt von Macht, d.h. Diskurse legen nicht nur fest, was Materialität, sondern auch wer Subjektivität erlangt. Bei Protago‐ ras und Butler ergibt sich dieselbe Konsequenz: Die Einheitlichkeit und Autonomie des Subjekts wird zur Illusion.
b) Auflösung des Subjekts und Relativismus Dass eine solche Subjektkonzeption wiederum in engem Zusammenhang mit dem erkenntnistheoretischen Relativismus steht, zeigen Sokrates‘ Erläuterungen zu den Voraussetzungen von Erkenntnis. Die Erkenntnis von Sein und Nichtsein, Ähnlich‐ keit und Unähnlichkeit, Einheit und Verschiedenheit setzt eine einheitliche erken‐ nende Instanz voraus, da sich alle diese Eigenschaften vergleichend auf verschiede‐ ne Wahrnehmungen beziehen.86 Diese Instanz mag man „Seele oder wie sonst im‐ mer nennen [...]“87. Eine solche Instanz fehlt bei Butler wie Protagoras gleicherma‐ ßen. Es stellt sich dann auch bei Butler die Frage, wie Erkenntnis möglich ist, wenn das Subjekt einem „hölzernen Pferde“88 gleicht, das keine zentrale Instanz aufweist, in dem die Wahrnehmungen zusammengeführt werden. Auch die Erweiterung der 83 84 85 86 87 88
Butler 1995a, S. 47. Vgl. Butler 2011, S. 91. Butler 2011, S. 175. Herv.i.O. Vgl. Platon, Theait.186a-e. Platon, Theait. 184d. Platon, Theait. 184d.
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ontologischen These, dass nichts an und für sich bestehe, auf die Subjektseite steht so im Einklang mit der relativistischen Logik, die die Möglichkeit von Erkenntnis bestreitet. Für die Poststrukturalistin erscheint die Frage nach der Möglichkeit von Erkennt‐ nis freilich irrelevant, da sie diese Möglichkeit angesichts der Abhängigkeit des Sub‐ jekts von gesellschaftlicher Macht ohnehin in Zweifel zieht. Das Subjekt ist unfähig, die Grenzen der Macht zu transzendieren, sondern ist gezwungen, in den ihm vorge‐ gebenen Kategorien und Begriffen zu reden und zu denken: „Subjekt zu werden heißt, einer Gruppe von impliziten und expliziten Normen unterwor‐ fen zu werden, die das Sprechen beherrschen, das als Sprechen eines Subjekts lesbar wird. […] Sich außerhalb des Bereichs des Sagbaren zu begeben, heißt seinen Status als Subjekt aufs Spiel zu setzen.“89
Die umfassende Befreiung des Menschen, die der Homo-Mensura-Satz des Protago‐ ras impliziert, indem er ihm zum Maß aller Dinge erklärt, wird in einer solchen Sub‐ jektkonzeption von vorneherein als illusionär betrachtet. Die Handlungsfähigkeit des Subjekts wird bei Butler auf die subversive Zitierung gesellschaftlicher Normen be‐ schränkt, die deren Veränderung herbeiführen soll.90 Trotz dieser postmodernen Skepsis Butlers ergibt sich ein ähnliches Theorie-Praxis-Verhältnis, wie im Folgen‐ den gezeigt wird.
5. Theorie und Praxis Wahrheit besteht weder in der Widerspiegelung vorgegebener Objekte, noch ist sie im Subjekt zu verorten. Die Ontologie und die Kritik des Subjekts, die im Theaitetos entwickelt werden, stellen so, wie gezeigt wurde, eine konsequente Auslegung des Homo-Mensura-Satzes dar. Wie haltlos dieser jedoch ist, zeigt Sokrates, indem er ihn auf Meinungen über den Homo-Mensura-Satz selbst bezieht; Protagoras müsste jenen, die den Satz für falsch halten gemäß seiner eigenen Lehre zustimmen, womit er für keinen mehr richtig ist: „Von allen also, beim Protagoras angefangen, wird bestritten werden, oder vielmehr von ihm doch zugestanden, wenn er dem, der das Gegenteil von ihm behauptet, zugibt, er stelle richtig vor, dann muß auch Protagoras selbst einräumen, daß weder ein Hund noch auch der erste beste Mensch das Maß ist, auch nicht für eine Sache, die er nicht erlernt hat.“91
89 Butler 1998, S. 189–190. Herv.i.O. 90 Vgl. Butler 2007, S. 202–203; 1998, S. 222–223; 1995b, S. 135–136. 91 Platon, Theait. 171b-c.
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a) Die Selbstwiderlegung des Protagoras in der Literatur In der Literatur hat sich eine Debatte darüber entwickelt, ob Protagoras damit tat‐ sächlich auf der Grundlage seiner eigenen Prämissen widerlegt ist. Diejenigen Auto‐ ren, welche die von Sokrates vorgetragene Argumentation für ungültig halten, stüt‐ zen sich darauf, dass nach dem Homo-Mensura-Satz Wahrheit stets nur Wahrheitfür-jemanden sei, während es für eine absolute Wahrheit keinen Platz gebe. Weil So‐ krates dies in der Widerlegung nicht berücksichtige, komme er zu dem Schluss, dass Protagoras jenen, die seinen Satz bestreiten, zustimmen müsse. Dies aber sei ein Fehlschluss, tatsächlich sei der Homo-Mensura-Satz nur für die anderen, nicht aber für Protagoras selbst falsch.92 Andere halten die Selbstwiderlegung zwar nicht für gültig, glauben jedoch, das Argument verdeutliche eine problematische Konsequenz, die aus dem protagoräi‐ schen Relativismus folge: Unfähig, seine Lehre aufgrund der eigenen Prämissen zu verteidigen, müsse sich der Relativist in Sprachlosigkeit zurückziehen.93 Tatsächlich macht, wie Sokrates aufzeigt, der Homo-Mensura-Satz den Austausch von Argumenten sinnlos.94 Durch den Solipsismus, der aus der These folgen würde, der Homo-Mensura-Satz möge für alle anderen falsch sein, nicht aber für Protagoras selbst, wäre die Widerlegung zwar scheinbar abgewendet. Tatsächlich ist aber dieser Ausweg de facto bereits in dem Moment versperrt, in dem Protagoras seine Lehre ausspricht. Protagoras steht paradigmatisch für den Sophisten, der eine relativisti‐ sche Theorie vertritt, die er durchaus für verbindlich hält. Der Relativismus kann sich unter Beachtung seiner eigenen Prämissen nicht argumentativ rechtfertigen, kippt also entweder in Dogmatik um oder löst sich in Solipsismus auf. Hinzu kommt, wie Burnyeat feststellt, dass die Beschränkung der relativen Wahr‐ heit auf Protagoras – der Homo-Mensura-Satz sei falsch für die anderen, wahr aber für Protagoras – keineswegs einen Ausweg aus dem Dilemma des Relativismus bie‐ tet: muss doch auch diese Beschränkung wieder absolut behauptet werden.95
b) Wahrheit und Interesse Dieses Dilemma von Selbstwiderlegung und Solipsismus ist eine Konsequenz der Auffassung, jede Meinung sei gleichermaßen wahr. Ferner folgt aus dieser Prämisse, dass keiner vernünftiger als der andere ist und somit niemand eines Lehrers bedarf.96 92 z.B. Sayre 1994, S. 88, McDowell 1985, S. 170–171, Bostock 1988, S. 89–90, Grote 1992, S. 347–348. 93 z.B. Becker 2007, S. 293–295, Chappell 1995, S. 337–338, Emilsson 1994, S. 144–145. 94 Vgl. Platon, Theait. 161e. 95 Vgl. Burnyeat 1990, S. 30. 96 Vgl. Platon, Theait. 161d-e.
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Dann aber stellt sich die Frage nach der Rolle des Sophisten selbst: Wenn er keine Wahrheit vertreten kann, welches Ziel verfolgt seine Lehre? Für Protagoras ist es die Nützlichkeit, die der Fachmann herbeiführen können muss: „Und weit entfernt bin ich zu behaupten, daß es keine Weisheit und keinen Weisen gebe; sondern eben den nenne ich gerade weise, welcher, wem unter uns Übles ist und er‐ scheint, die Umwandlung bewirken kann, daß ihm Gutes erscheine und sei.“97
Ein objektiv Gutes kann damit allerdings nicht gemeint sein, wenn jeder Mensch selbst das Maß aller Dinge und somit auch des Guten ist. Es bleibt allein das indivi‐ duelle Nutzenkalkül. Die fehlende Möglichkeit, den Relativismus theoretisch zu rechtfertigen, führt zum Sprung in eine durch den individuellen Nutzen gekenn‐ zeichnete Praxis, die diese Rechtfertigung übernimmt. Wem dieser Nutzen gewährt wird, muss zur Frage des Politischen werden: Wie der Kulturschaffungsmythos im Protagoras zeigt, ist es das Überleben des Einzel‐ nen, das Protagoras zum Staatsziel macht.98 Diese Auffassung ist mit dem HomoMensura-Satz kompatibel: Denn wo der Maßstab für das objektiv Gute fehlt, kann nur der Einzelne entscheiden, was ihm als gut gilt; Grundvoraussetzung dafür wie‐ derum ist die Sicherung seines Überlebens. Da die Wahrheit über Gut und Böse wegfällt, ist das gut, was die meisten Individuen – in ihrer Funktion als Maß der Dinge – für gut halten. Ausgeschlossen bleiben dann diejenigen, die das Überleben der anderen gefähr‐ den: Derjenige, dem Sittlichkeit und Rechtsgefühl, die Voraussetzungen für das Be‐ stehen des Staates, nicht zukommen, sei zu töten als ein Schaden am Staat.99 Es ist an den Sophisten Kallikles im Dialog Gorgias und Thrasymachos in der Politeia, ein solches Staatsziel als bloßes Machtstreben der Vielen zu entlarven.100 Es zeigt sich somit, dass Protagoras' pragmatischer Anspruch auf einen Machtkampf hinausläuft: Wessen Nutzen es ist, dem die Fachkunde dient, bestimmt sich danach, wer die Macht in den Händen hält und die Theorie für sich instrumentalisieren kann.
c) Theorie und Praxis bei Butler Bei Butler ist diese Konsequenz klarer benannt, da Wissen und Macht von vorneher‐ ein als untrennbar verschränkt betrachtet werden. Für Butler ist jede Theorie not‐ wendig von Macht durchdrungen und unfähig, dieses Verhältnis vollständig zu re‐ flektieren:101 97 98 99 100 101
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Platon, Theait. 166d. Vgl. Zehnpfennig 2005, S. 176. Vgl. Platon, Protag. 322d. Vgl. Platon, Gorg. 483a-e, Polit. 338c-339a, 343b-c. Vgl. Butler 1995a, S. 39; 2011, S. xxvi.
„[...] [A]ny analysis which pretends to be able to encompass every vector of power runs the risk of a certain epistemological imperialism which consists in the presupposition that any given writer might fully stand for and explain the complexities of contemporary power. No author or text can offer such a reflection of the world, and those who claim to offer such pictures become suspect by virtue of that very claim.“102
Ebenso wie für Protagoras ist es für Butler nicht möglich, die eigene Theorie von dieser Prämisse der Untrennbarkeit von Wissen und Macht auszuschließen. Wenn auch somit eine objektive Darstellung der Welt unmöglich ist, so ist es doch mög‐ lich, sie entsprechend der eigenen politischen Zielsetzungen zu verändern: „The failure of the mimetic function, however, has its own political uses, for the produc‐ tion of texts can be one way of reconfiguring what will count as the world.“103
Wenn die Theorie also auch die Welt nicht mimetisch wiedergeben kann, weil sie selbst den Bedingungen der Macht unterworfen ist, so soll sie sie stattdessen verän‐ dern. Die Theorie wird hier – ebenso wie bei Protagoras – durch einen Sprung in die Praxis gerechtfertigt, der notwendig ist, weil die relativistischen Prämissen ihre Selbstaufhebung implizieren. Einerseits wollen also weder Protagoras noch Butler Wahrheit für ihre Theorien beanspruchen; andererseits genügt es ihnen nicht, sich in Sprachlosigkeit und Solip‐ sismus zurückzuziehen, welche aus einem konsequenten Relativismus folgen wür‐ den. Wie Protagoras, für den der Fachkundige dem Einzelnen und der Polis zu nut‐ zen hat, tritt auch Butler offen mit praktischem und normativem Anspruch auf: Sie will eine „Philosophie der Freiheit“104 liefern. Butlers praktisches Ziel ist es, den vom vorherrschenden Diskurs unterdrückten und ausgeschlossenen Identitäten das Überleben zu ermöglichen.105 Wie bei Protagoras muss sich die Theorie, die sich ar‐ gumentativ nicht verteidigen kann, weil es ihr unmöglich ist, auf einer objektiven Wahrheit zu beharren, über ihren praktischen Wert legitimieren. Für dieses prakti‐ sche Ziel kann sie allerdings keinerlei Verbindlichkeit beanspruchen, weil dies wie‐ derum nur durch Rekurs auf etwas objektiv Gutes geschehen könnte. Weil sich die Macht weder abschaffen noch überwinden lässt,106 bleibt für Butler als Alternative, dem vorherrschenden Diskurs die eigenen Interessen entgegenzuset‐ zen, die sich theoretisch allerdings nicht rechtfertigen lassen. Stattdessen will Butler ihr Projekt über eine unmittelbare Einsicht rechtfertigen, die all jenen zukomme, die das Leben eines Ausgeschlossenen leben:
102 103 104 105 106
Butler 2011, S. xxvi. Butler 2011, S. xxvi. Butler 2009, S. 348. Vgl. Butler 2011, S. xxix; 2009, S. 347; Butler in: Meijer/Prins 1998, S. 277. Vgl. Butler 1995b, S. 137.
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„One might wonder what use ‚opening up possibilities’ finally is, but no one who has understood what it is to live in the social world as what is ‚impossible,’ illegible, unrea‐ lizable, unreal, and illegitimate is likely to pose that question.“107
Diese unmittelbare Einsicht ist also atheoretisch, für jemanden, der sie nicht selbst erlebt hat, nicht nachzuvollziehen. Darin besteht die Willkürlichkeit des Sprungs in die Praxis, die bereits bei Protagoras zu sehen war. Für Butler sind es nun die Inter‐ essen bzw. das Überleben nicht der Vielen, noch der wenigen Starken, sondern der wenigen Schwachen, welche die Theorie rechtfertigen. Beide, Butler wie Protagoras, sehen sich jedoch nicht in der Lage, etwa einer Position, welche die Stärke und das Wohl der Wenigen proklamiert, theoretisch entgegenzutreten. Danach zu fragen, welches dieser politischen Paradigmen Recht hat, ist für sie offensichtlich sinnlos, so dass gerade die im Machtkampf bisher Unterlegenen die Möglichkeiten der Politik auf diesen verengen.
6. Schluss: Wahrheit, Relativismus, Macht Die eingangs festgestellte Übereinstimmung der ansonsten sehr unterschiedlichen theoretischen Positionen in ihrer relativistischen Grundprämisse führte zu der Frage, inwiefern sich ausgehend von dieser Prämisse bestimmte Denkstrukturen wiederho‐ len. Es zeigte sich, dass sich solche strukturellen Gemeinsamkeiten finden lassen: Im Bereich der Ontologie wird von Butler wie Protagoras ein objektives Sein der Dinge bestritten, indem die Erscheinung nicht etwa auf ein ihr zugrunde liegendes Wesen, sondern auf eine Interaktion zweier Größen zurückgeführt wird, denen an sich keine Existenz zukommt: Protagoras' Homo-Mensura-Satz impliziert, dass das Wahrge‐ nommene und die Wahrnehmung gleichzeitig durch ein Zusammenspiel von Bewe‐ gungen entstehen. Bei Butler ist es die Sprache, die materielle Phänomene hervor‐ bringt. Nicht nur lehnt sie damit eine linguistische Wendung Kants ab, indem das Außerdiskursive nicht dem Diskurs vorangeht, sondern der Diskurs erst das Außer‐ diskursive als solches einsetzt; auch wiederholt sich die Struktur der Flusstheorie in der Vorstellung, dass die zitierte Norm, welche das Materielle hervorbringt, nicht unabhängig von ihrem Zitiert-Werden existiert. Somit gibt es für beide Positionen kein feststehendes Wesen der Dinge, auf dem die Erscheinungen beruhten, sondern nur Bewegung – Interaktion zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, Zi‐ tierendem und Zitiertem. Zweitens wurde deutlich, dass Butler die Auflösung des Subjekts, die im Theaite‐ tos vollzogen wird, wiederholt. Für Protagoras ist der Mensch eine Ansammlung
107 Butler 2007, S. viii.
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von Bewegungen wie die übrigen Dinge auch. Butlers Subjekt konstituiert sich als Schnittstelle von Diskursen, deren Normen es sich unterwirft. Schließlich musste eine Rechtfertigung für die eigene Stellung des Theoretikers gefunden werden, wenn der Rekurs auf Wahrheit umgangen werden soll. Bei Prot‐ agoras wird Wahrheit durch den Nutzen ersetzt, den der Fachmann bewirkt; wessen Nutzenkalkül zur Geltung kommt, ist dann allerdings eine Machtfrage. Dies wurde bei Butler noch deutlicher, die von vorneherein Macht nicht nur hinter der Welt der Dinge und dem Subjekt wirken, sondern auch alle Theorie von Macht durchdrungen sieht. Die Abschaffung des sachlichen Maßstabes, die Auflösung des Subjekts in eine Vielheit, die Ersetzung des Maßstabes der Wahrheit durch das Ziel des praktischen Nutzens – all dies sind Schritte, die in der Position des Protagoras vorweggenom‐ men und von Butler nachvollzogen werden. Das gemeinsame relativistische Argu‐ mentationsmuster äußert sich demnach in folgenden Punkten: Zunächst muss die Existenz einer vom Menschen unabhängigen, stabilen und objektiven Welt bestritten werden, da diese einen Maßstab böte, nach der sich Aussagen als falsch beurteilen ließen. Sodann muss das einheitliche Erkenntnissubjekt aufgelöst werden, so dass auch dieses nicht dazu taugt, ein Fundament für sicheres Wissen zu bieten. Dies ge‐ schieht durch die Ausdehnung der ontologischen Prämissen auf den Bereich des Subjekts. Schließlich, nachdem die Theorie für unfähig erklärt wurde, die Welt ob‐ jektiv zu erfassen, erfolgt der Sprung in die Praxis, um die Stellung des relativisti‐ schen Theoretikers zu rechtfertigen. Diese Praxis muss allerdings atheoretisch blei‐ ben, da der Rekurs auf ein objektiv Gutes untersagt bleibt, wenn die Wahrheit abge‐ schafft werden soll. Die eigene Theorie wird durch ein rein subjektives Interesse le‐ gitimiert. Diese Schritte lassen sich bei Butler und Protagoras gleichermaßen feststellen. Die postmoderne Position unterscheidet sich von der antiken dadurch, dass sie von vorneherein eine konsistente Theorie für unmöglich erklärt und daher das Ziel der Theorie auf die Veränderung des Diskurses im eigenen Interesse beschränkt. Der Sprung in die Praxis erfolgt damit bei Butler gewissermaßen noch willkürlicher als bei Protagoras: Bei diesem geschah er, weil die Zuspitzung der relativistischen Theorie so weit getrieben werden musste, dass jegliche Aussagen über die Welt sinnlos wurden. Bei Butler fehlt von vorneherein das Ziel, die Welt durch sprachli‐ che Aussagen sinnvoll zu erfassen. Das Ziel ist ein rein politisches: Die vorherr‐ schenden Diskurse zu unterlaufen und ihnen die eigenen, subjektiven Interessen ent‐ gegenzusetzen. Allerdings ist Butlers Position dadurch in einem Punkt klarer als die des Protagoras: Alle Theorie ist durch Macht bestimmt, wenn der Maßstab der Wahrheit abgeschafft wird. Der protagoräische Relativismus hat dies zwar auch zur Konsequenz, allerdings muss er erst durch die Sophisten Thrasymachos und Kallik‐ les entlarvt werden.
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Die Ausweitungen und Radikalisierungen, die Platon am Homo-Mensura-Satz vornimmt, erfolgen so keineswegs beliebig, sondern denken seine Konsequenzen zu Ende. Es ist das Grundmuster des relativistischen Denkens, das hierdurch herausge‐ arbeitet wird. Dass Butler trotz aller theoretischen und historischen Unterschiede analoge Schritte vollzieht, kann hierfür als Beleg gelten. Hinter allen Argumentationsschritten steht eine Erkenntnistheorie, die den Men‐ schen zum Maß der Dinge macht, doch die menschliche Erkenntnistätigkeit damit paradoxerweise zugleich entwertet: Wenn der sachliche Maßstab fehlt und die Ein‐ heitlichkeit des Subjekts bestritten wird, wird der Mensch zur passiven Ansammlung von Eindrücken. Diese relativistische Basis ist, wie Sokrates klar macht, entweder widersprüchlich, sofern sie mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit vertreten wird, oder theoretisch irrelevant, weil sie nicht argumentativ gerechtfertigt werden kann. Der relativistische Theoretiker muss ausweichen und ein Gutes zum Ziel sei‐ ner Theorie erklären, das jedoch nur ein subjektiv Gutes sein kann, für das er also keinerlei Verbindlichkeit beanspruchen kann. Damit wird der Streit um die Wahrheit durch einen offenen Streit der Interessen ersetzt. Der moderne Gemeinplatz, eine re‐ lativistische Auffassung von Wahrheit führe zu einem friedlicheren Umgang der Menschen, weil niemand davon überzeugt sei, sich im Besitz einer absoluten Wahr‐ heit zu befinden, wird dadurch höchst fragwürdig. Vielmehr ist der relativistische Theoretiker gezwungen, rationale Argumentation durch einen Machtkampf zu erset‐ zen. Durch diesen Verzicht auf den Wahrheitsanspruch schließt sich der Theoretiker von einem Diskurs aus, der nicht durch Interessen bestimmt ist, sondern sich um die Sache bemüht. Ein alternatives Verhalten zeigt der Knabe Theaitetos im Dialog: das Erstaunen über die Widersprüche des Denkens als Beginn der philosophischen Wahrheitssuche.108
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Benjamin A. Hahn Freiheit, Relativismus und politische Praxis – Ein struktureller Vergleich zwischen Protagoras und Michel Foucault
„[Die griechische Kultur der Sophisten] hat schließlich Recht bekommen: jeder Fort‐ schritt der erkenntnißtheoretischen und moralistischen Erkenntniß hat die Sophisten resti‐ tuirt… unsere heutige Denkweise ist in einem hohen Grade [...] protagoreisch“1
Das Diktum eines Fortschritts durch Wiederkehr scheint prima facie paradox. Damit etwas wiederkehren kann, muss es bereits überwunden und vergangen sein. Ein Fortschritt zeichnet sich indes gerade dadurch aus, dass er „eine durch menschliches Handeln bewirkte Zustandsveränderung zum Besseren im Sinne einer Höher- oder Weiterentwicklung hervorbringt.“2 Etwas Wiederkehrendes kann also nur dann als Progress erscheinen, wenn man die Entwicklungslinie des Fortschreitens nicht als kontinuierlich betrachtet. In den Bereichen der Erkenntnistheorie und der Moral scheint die zeitgenössische Lehrmeinung dieser diskontinuierlichen Perspektive zu entsprechen. Lässt man sich zumindest versuchsweise auf diese Sichtweise ein, so wäre es im nächsten Schritt nur folgerichtig zu fragen, welche Arten und Weisen des Denkens denn überhaupt wiederkehren könnten. In diesem Kontext erhält das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrags an einem Vergleich zwischen der Sophistik und der Postmoderne seine wissenschaftli‐ che Plausibilität. Ob man letztere tatsächlich als Wiederkehr ersterer verstehen kann, ist allein aus der Plausibilität heraus jedoch noch nicht hinreichend inhaltlich be‐ gründet. Eine inhaltliche Fundierung kann nur erfolgen, wenn man in den von bei‐ den Denkströmungen geteilten Grundprämissen und den daraus resultierenden theo‐ retischen Konsequenzen eine logische Notwendigkeit nachweisen kann. Der Nach‐ weis soll anhand von zwei paradigmatischen Positionen erfolgen: der Philosophie des Sophisten Protagoras und der des französischen Poststrukturalisten Michel Fou‐ cault. Wenn sich die theoretischen Standpunkte wie im vorliegenden Fall antipodisch zueinander zu verhalten scheinen, dann ist die Annahme gleicher Prämissen und Strukturen besonders zweifelhaft, aber auch im Sinne einer Falsifikation besonders fruchtbar: So behauptet Protagoras in seinem berühmten Homo-Mensura-Satz die unbedingte Souveränität des Subjekts in der Erkenntnis, wohingegen Foucault durch 1 Nietzsche 1972, S. 85 - Frühjahr 1888 14[116]. 2 Die Brockhaus Enzyklopädie Online 2015.
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sein Postulat vom „Tod des Menschen“ gerade das Ende einer Wissensordnung ver‐ kündet, die um das Subjekt zentriert ist. Lässt sich trotz dieses augenscheinlichen Unterschieds ein analoger Denkweg rekonstruieren, der auf denselben Grundannah‐ men aufbaut? Und wenn ja, kommen dann beide Autoren zu ähnlichen Konsequen‐ zen, was ihre erkenntnistheoretischen und ethischen Postulate anbelangt? Der Beitrag bejaht diese Fragen nicht nur, sondern will darüber hinaus aufzeigen, dass der von Protagoras und Foucault vertretene erkenntnistheoretische und ethische Relativismus in seiner praktischen Umsetzung unmittelbar politisch sein muss. In dieser Verknüpfung von Erkenntnistheorie und (politischer) Praxis versuchen diese primär erkenntnistheoretisch ansetzenden Ausführungen, einen Mehrwert für die Po‐ litische Theorie und Ideengeschichte zu erbringen.
1. Protagoras Protagoras‘ Ansatz soll anhand Platons Dialog „Theaitetos“ entwickelt werden. Der Ausgangspunkt des protagoräischen Denkens ist das eigene denkende und handeln‐ de „Ich“. Das „Ich“ wird aus einem – uns nicht fremden – lebensweltlichen Pragma‐ tismus in seinem Denken immer schon als wahr und in seinem Handeln als gut ge‐ setzt. Indem man alles, was einem (unmittelbar) als wahr und gut erscheint, als real bestehenden und normativ richtigen Sachverhalt in der Welt annimmt, macht man sich selbst zum Maßstab der objektiven und normativen Dimension der Welt. In die‐ ser subjektiven Setzung der Wahrheit und Richtigkeit als wirklich glaubt man sich frei und autonom.
a) Das Subjekt als Maß der Dinge Diese Grundhaltung erlangt durch ihre Verallgemeinerung im Homo-Mensura-Satz (HMS) den Status wissenschaftlicher Wahrheit3: Jede Form der Wahrnehmung ist Erkenntnis (Wahrnehmung = Erkenntnis).4 Wenn man Wahrnehmung den Status von Erkenntnis zuerkennt, so behauptet man, dass Wahrnehmung die Wirklichkeit er‐ fasst, und zwar immer.5 Dieser Zusammenhang lässt sich aus zwei Perspektiven be‐ schreiben: Einerseits ist das Sein des Erkenntnisgegenstandes mit der Erscheinung
3 Vgl. Theaitetos, 152a: „der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind.“ 4 Wahrnehmung muss, da sie gleichbedeutend mit dem Begriff der Erscheinung sein soll, sowohl als sinnliche als auch als geistige Rezeption verstanden werden. Vgl. Seeck 2010, S. 2, Becker 2007, S. 261. 5 Vgl. Theaitetos, 152c.
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des Objekts identisch (Erscheinung = Sein). Andererseits fällt das Für-wahr-Halten des Erkennenden mit dem Wahr-Sein permanent zusammen. Diese Implikationen lassen sich in einer ersten Annäherung durch die sprachliche Alltagspraxis stützen: Wie man am Beispiel unterschiedlicher Temperaturempfin‐ dungen deutlich machen kann, scheint im Bereich der unmittelbar sinnlichen Wahr‐ nehmung von Wärme/Kälte und ähnlich gearteter Phänomene die Annahme, dass Erkenntnis = Wahrnehmung = Erscheinung = Sein ist, plausibel. Diese Plausibilität hat jedoch auch für die Alltagspraxis nur eine eingeschränkte Reichweite. Im Be‐ reich der Naturwissenschaften, der Moral usw. 6 sind dem Satz vom Widerspruch entsprechend zwei sich widersprechende, wahre Prädikate für dasselbe Objekt aus‐ geschlossen.7 Der HMS kann nur dann in der ursprünglich beabsichtigten Allgemeingültigkeit erhalten bleiben, wenn man zeigen kann, dass er und der Satz vom Widerspruch gleichzeitig nebeneinander bestehen können.
b) Eine Ontologie des Werdens und der Ereignischarakter der Erkenntnis Die Funktion, eine solche Welt wie die von Protagoras entworfene zu beschreiben, übernimmt die Flussontologie Heraklits. Nach dem HMS treffen alle Urteile im Er‐ kennen zu. Folglich wären zwei sich widersprechende Prädikate für dasselbe Objekt möglich. Das Prinzip des Satzes vom Widerspruch wäre dadurch verletzt. Es bleibt nur deswegen gewahrt, weil sich nach der Flussontologie die Prädikate nur noch vermeintlich auf dasselbe Objekt beziehen. Vermeintlich deshalb, weil die Annahme eines permanenten Seins der Dinge aufgegeben wird. Die verschiedenen Prädikate beziehen sich nicht auf dasselbe Objekt, sondern auf verschiedene Objekte. Begrün‐ det wird dies durch 1) den ontologischen Status von Subjekt und Objekt. Davon ab‐ geleitet, ergeben sich gewichtige Konsequenzen für 2) die Sprachpraxis, und schließlich 3) den Bezug zur Welt, der im Erkenntnisakt hergestellt wird. Zu 1) Ontologischer Status: Alle Dinge erfahren durch Prozesse des Werdens in der Zeit fortlaufend räumliche und qualitative Veränderungen. Deswegen kann man nach der Flussontologie nicht davon ausgehen, dass es Entitäten mit zeitlich kon‐ stanten Eigenschaft gibt. Zudem sind nicht allein ihre Eigenschaften variierend, son‐ dern sie bestehen auch nicht „an und für sich“, d. h. ohne Relation zu einer anderen Entität.8 Wie der HMS verdeutlicht, ist diese andere Entität das empirische Subjekt. Es gibt also kein Sein ohne eine wahrnehmende und interpretierende Subjektivität.9 6 Beispielsweise dürfen bei der Frage, ob Sokrates Athener oder kein Athener war, nicht beide Prädikate zugleich Gültigkeit beanspruchen. 7 Vgl. Theaitetos, 155a. 8 Theaitetos, 157a. 9 Vgl. Suarez Müller 2007, S. 53.
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Dieses Sein hat indes keine permanente Qualität, da es immer in Abhängigkeit zu einem Subjekt steht, welches selbst den Prozessen des Werdens unterworfen ist. Zu 2) Sprachpraxis: Dementsprechend bedarf es einer neuen Sprachregelung: Die Dinge sind nicht mehr, sondern werden nur noch. Das Verb „ist“ deutet nämlich eine Angabe zeitloser Verhältnisse an, wohingegen „werden“ einen zeitlich lokalisierten Prozess oder ein Ereignis impliziert.10 Es kann folglich auch gar nicht mehr in sinn‐ voller Weise von Subjekt und Objekt, verstanden als beständige Entitäten, die Rede sein, sondern nur noch von „Bewegungen“. So wird für das sich bewegende Objekt der Begriff des „Wirkenden“ und für das Subjekt der Begriff des „Leidenden“ einge‐ führt, um den veränderten ontologischen Gehalt der Begriffe zu fassen.11 In letzter Konsequenz können aber weder Erkenntnisobjekt noch Erkenntnissub‐ jekt einen einheitlichen Bezugspunkt der Wahrnehmung bilden, insofern sie immer nur Vielheit, nie aber Einheit sind.12 Eine funktionierende Kommunikation setzt in‐ des zwingend die Konstanz von „individuierbaren Entitäten“ voraus.13 Diese Grund‐ lage des sprachlichen Wirklichkeitsbezugs wird durch die Flussontologie aufge‐ löst.14 Wie sich zeigt, wird in der praktischen Konsequenz Sprache zu einem zweck‐ rationalen Werkzeug degradiert. Da die Wahrheit nach dem HMS jedem zukommt, kann die Sprache nicht der Wahrheitssuche dienen, sondern fungiert per se als Machtmittel, um den eigenen (subjektiven) Nutzen zu verwirklichen.15 Zu 3) Bezug zur Welt: Die Möglichkeit des Bezugs auf dasselbe Objekt in seiner zeitlichen Kontinuität in der Wahrnehmung wird verneint. Es stellt sich dann aller‐ dings die Frage, welche Art von Wirklichkeitsbezug in der Erkenntnis geleistet wird. Die erkannten Eigenschaften werden nicht als solche des wahrgenommenen Objekts, aber auch nicht als solche des wahrnehmenden Subjekts, sondern als Produkte dieser beiden Faktoren benannt.16 Die wahrgenommene Eigenschaft einer Sache lässt sich demnach als eine Art „[D]azwischen“17 bzw. als Ereignis beschreiben. Dieses Ereig‐ nis entsteht jedem Wahrnehmenden durch die spezifische Konstellation zwischen Subjekt („Leidendes“) und Objekt („Wirkendes“) „eigentümlich“ bzw. individuell.18
10 Vgl. Becker 2007, S. 266. 11 Es deutet sich im Vergleich zum HMS hier im Begriff des „Leidenden“ für das Subjekt eine deutliche Bedeutungsverschiebung hinsichtlich seiner Funktion an. Es ist nicht mehr der (zu‐ mindest nicht mehr der alleinig) aktive, einwirkende Part der Erkenntnis, sondern das passive Element, auf das eingewirkt wird, das also in gewisser Weise dem Wirkenden unterworfen ist, indem es sich passiv-rezeptiv verhält. 12 Vgl. Hardy 2001, S. 58. 13 Vgl. Ebd., S. 59. 14 Vgl. Theaitetos, 183a: „[D]ie, welche diesen Satz behaupten, müssen eine andere Sprache da‐ für einführen, denn bis jetzt noch gibt es für ihre Voraussetzung keine Worte“. 15 Hierzu insbesondere die Ausführungen in der sogenannten „Digression“. Vgl. Theaitetos, 172c ff. 16 Vgl. Heitsch 1988, S. 78. 17 Theaitetos, 154a. 18 Vgl. Theaitetos, 166c, Sedley 2004, S. 40.
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Die Wirklichkeit und Wahrheit der Dinge liegt dementsprechend in dem jeweili‐ gen Wahrnehmungsereignis; für jeden unmittelbar zugänglich, aber auch für nie‐ manden überschreitbar. So verstanden, bedeutet die Identifizierung von Wahrneh‐ mung und Erkenntnis die Preisgabe jedes objektiven Maßstabs, insofern Subjekt und Objekt nicht als persistente und voneinander unabhängige Entitäten gedacht werden. Infolgedessen kann kein unabhängiger Standpunkt mehr eingenommen werden.19 Selbst die Eigenschaft, überhaupt Subjekt oder Objekt zu sein, ist an die Interaktion gebunden: „Denn auch, daß das Wirkende etwas ist, und das Leidende unter ihnen etwas, läßt sich an einem nicht fest und sicher bemerken […]; denn weder ist etwas ein Wirkendes, ehe es mit einem Leidenden zusammentrifft, noch ein Leidendes, ehe mit dem Wirkenden; ja auch, was mit dem einen zusammentreffend ein Wirkendes wird, zeigt sich, wenn es auf ein anderes fällt, als ein Leidendes.“20
Wie die Dinge folglich abhängig sind vom Subjekt, so ist das Subjekt abhängig von den Dingen. Das Sein des Subjekts liegt also analog zum Objekt im jeweiligen Wahrnehmungsakt.21 Wenn beispielsweise dem gesunden Sokrates der Wein süß schmeckt, dem kranken Sokrates aber sauer, so handelt es sich weder um denselben Wein noch um dieselbe Person.22 Aus der qualitativen Differenz von süß/sauer bzw. gesund/krank erwächst nach der Flussontologie eine substanzielle Differenz. Die Substanz wird auf die Phänomenalität reduziert. Von der Identität einer Person im Sinne eines Mit-sich-selbst-identisch-Seins kann man in diesem Zusammenhang nur noch insofern ausgehen, als die „Identität“ des Einzelnen als Verkettung von disparaten Erfahrungen und Zuständen erscheint; neue Wahrnehmungen und Meinungen machen den Menschen zu einem anderen. In einer Welt, in der alles im Werden begriffen ist, kann sich auch das Subjekt diesem Prozess nicht entziehen. Es ist zersplittert in eine Serie von diskontinuierlichen Er‐ eignissen, und ihm kommt kein Vermögen zu, diese Mannigfaltigkeit in einem ein‐ heitlichen Selbstbewusstsein zur Einheit zu bringen. Das einheitsstiftendende Mo‐ ment – das Denken bzw. die Rationalität – ist im protagoräischen Denken gar nicht mitgedacht. Es handelt sich um ein Denken, das sich selbst verkennt. Es verkennt sich insofern, als das eigene unmittelbare „Ich“ zwar als wahr im Denken und gut im Handeln gesetzt wird, dieses „Ich“ allerdings nicht als zeitlich konstante und konti‐ nuierliche Entität verstanden werden darf. Ein persistentes „Ich“ mit konstanten Maßstäben steht nämlich mit den wechselnden, aus der Unmittelbarkeit heraus re‐ sultierenden Ansprüchen auf Richtigkeit und Wahrheit im Handeln und Denken in 19 Vgl. Zehnpfennig 1997, S. 160. Zur fehlenden Subjekt-Objekt-Spaltung in der Antike Vgl. Schirren; Zinsmaier 2011, S. 19. 20 Theaitetos, 157a. 21 Vgl. Theaitetos, 160c: „Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jedes‐ maligen Seins.“ 22 Theaitetos, 159b-e.
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Widerspruch. Das „Ich“ ist somit nicht Einheit und Kontinuität, sondern Diversität; nicht Maßstab, vielmehr den Umständen unterworfen.
c) Politik als Praxis der Freiheit Denkt man diese erkenntnistheoretischen Implikationen weiter, so erweisen sie sich in der sozialen Praxis als unmittelbar politisch.23 Der Anspruch auf Freiheit/Autono‐ mie, der im HMS deutlich wird, liegt darin, dass das individuelle Subjekt seine Maß‐ stäbe für Wahrheit und Richtigkeit selbst setzen kann und diese dann auch tatsäch‐ lich real sind. Aber nur, wenn diese Meinungen mit der sozialen Ordnung überein‐ stimmen, können sie im gesellschaftlichen Rahmen ausgelebt werden. Ansonsten setzt man sich der Gefahr der gesellschaftlichen Sanktionierung aus, die die Reali‐ sierung des subjektiven Maßstabs verhindert. Was also im Rahmen des gesellschaft‐ lichen Zusammenlebens wahr und gut ist, ist nicht notwendigerweise abhängig vom Dafürhalten des Einzelnen. Die Möglichkeit, seine eigenen Maßstäbe aktiv in die Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzubringen, wird dem An‐ spruch nach nur in der Demokratie allen Bürgern zuteil. Dieser Sachverhalt ist in der Theorie durch den Gedanken der Volkssouveränität erfasst. In der Praxis erweist sich im Sinne des Mehrheitsprinzips die Quantität der Meinenden als das ausschlag‐ gebende Kriterium für die Durchsetzung einer Meinung.24 Indem es nach dem HMS jedoch keinen sachlichen Maßstab außer dem subjekti‐ ven Für-wahr-Halten gibt, wird die Möglichkeit der argumentativen Begründung und somit des konsensorientierten Dialogs eliminiert. Wie zu zeigen sein wird, ver‐ liert der Mensch so aber nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern auch auf dem genuinen Gebiet des HMS – der politischen Praxis – seine immer schon als gegeben vorausgesetzte Selbstbestimmtheit. Dies umfasst zwei Dimensionen: den Verlust der Freiheit 1) im Prozess der Meinungsbildung für denjenigen, welcher der Mehrheits‐ meinung anhängt, und 2) in der demokratischen Ordnung als solcher für denjenigen, der die Mindermeinung vertritt. Zu 1) Prozess der Meinungsbildung: Einerseits ist der Verlust einer unbeschränk‐ ten Selbstbestimmtheit im Prozess der Meinungsbildung eine notwendige Folge aus der Natur der Demokratie, da man zur politischen Umsetzung seiner eigenen Mei‐
23 Die folgenden Ausführungen machen sich einige Begrifflichkeiten aus Habermas‘ Diskurs‐ ethik zunutze, der Sache nach sind diese Einsichten jedoch bereits bei Platon expliziert: Vgl. Habermas 2009. 24 Vgl. Theaitetos, 171a, 172a: „Ebenso auch in bürgerlichen Dingen; das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte, das Fromme und Unfromme, was in diesen Dingen ein Staat für Meinungen faßt und dann feststellt als gesetzmäßig, das ist es nun auch für jeden in Wahrheit, und in diesen Dingen ist um nichts weiser weder ein einzelner als der andere, noch ein Staat als der andere.“
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nung im demokratischen Meinungsbildungsprozess die Mehrheit an sich binden muss. Man macht sich also immer schon vom Für-wahr-Halten anderer abhängig. Andererseits wird diese soziale Abhängigkeit allein dann wirklich absolut, wenn man seine Vorstellungen nicht durch Bezug auf einen Sachverhalt in einer objekti‐ ven Welt rechtfertigen kann.25 Statt andere durch Argumente zu überzeugen, ihnen also aus der Argumentation einen immanenten Sachzwang darzulegen, bleibt nur die Möglichkeit der Überredung. Bei der Überredung handelt es sich um eine sprachli‐ che Interaktion, die durch externe Motivation in Form eines Belohnungsangebots oder einer Sanktionsandrohung ein bestimmtes Verhalten auszulösen versucht. Hier‐ bei ordnet sich der Adressat der Überredung nicht einem bestehenden Sachzwang unter, sondern das zwingende Moment liegt in der Einflussnahme des Sprechers auf den Adressaten durch sprachliche Machtausübung. Diese politische Praxis der Überredung korrespondiert unmittelbar mit dem zweckrationalen Verständnis von Sprache, das aus dem HMS resultiert. In diesem Kontext erschließt sich die ungeheure Bedeutung der Rhetorik für die Sophistik als Mittel zur politischen Selbstdurchsetzung. Denn die Rhetorik ist eben jene Kunst, auf den demokratischen Willensbildungsprozess durch Überredung einzuwirken und somit sein eigenes Für-wahr-Halten politisch zu verwirklichen. Damit eine so verstandene Überredung erfolgreich sein kann, muss an die Vor‐ meinungen der Adressaten – in Form von Ängsten und Wünschen – appelliert wer‐ den. Die Rhetorik kann als jene Kunst verstanden werden, diese Vormeinungen zu erkennen und die Meinung der Adressaten dementsprechend zu lenken. Nur wenn die Vormeinungen der Adressaten tatsächlich getroffen werden, kann der Überre‐ dungsversuch gelingen.26 Die Gültigkeit der vorgebrachten Argumente im Sinne ei‐ nes Überredungsversuchs hängt folglich nicht von demjenigen ab, der versucht zu überreden, sondern vollkommen von denjenigen, die überredet werden sollen. Die vermeintliche Autonomie im demokratischen Willensbildungsprozess zeigt sich als absolute soziale Heteronomie. Zu 2) Legitimität der demokratischen Ordnung: Ist der Willensbildungsprozess abgeschlossen, wird die Mehrheitsmeinung qua demokratisches Gesetzgebungsver‐ fahren gesetzlich verankert. Wenn Autonomie und Freiheit des Menschen in der Set‐ zung der eigenen Maßstäbe liegt, dann ist die demokratische Selbstgesetzgebung aber aus der Sicht des Individuums nur dann selbstbestimmt, wenn die Mehrheits‐ meinung mit der Einzelmeinung – bereits a priori oder als Resultat von Überredung – übereinstimmt. Für die unterlegene Meinung bleiben als einzige Motivation zur Anerkennung der sozialen Ordnung nur wiederum externe Gründe in Form von Gra‐ tifikation oder von Angst vor der gesamtgesellschaftlichen Sanktionsgewalt. 25 Theaitetos, 172c ff. 26 In der Annahme eines Bereichs der Vormeinungen, den die Rhetorik als Kunst zu treffen bean‐ sprucht, setzt sie also einen objektiven Gegenstandsbereich voraus.
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Eine intrinsische Motivation, die Mehrheitsentscheidung in der Demokratie als wahr bzw. richtig anzuerkennen, würde wiederum einen objektiven Maßstab, d. h. eine Einsicht in die Sinnhaftigkeit, voraussetzen. Aus der Sicht der unterlegenen Meinung würde sich die Demokratie durch ihren Zwangscharakter und die Herr‐ schaft eines anderen Maßstabs als des eigenen nicht mehr von der Tyrannis unter‐ scheiden. Die Gleichwertigkeit aller Arten von sozialer Ordnung scheint jedoch kon‐ trafaktisch zu sein. Im Gegensatz zur Tyrannis bleibt in der Demokratie wenigstens potenziell in der Einstimmigkeit einer Entscheidung die Freiheit aller gewahrt. Es bedarf zur Rechtfertigung also eines anderen Kriteriums: So wird die Wahrheitsdif‐ ferenz – die nach dem HMS gegenstandslos ist – durch das Kriterium des Nutzens ersetzt: Keine Form sozialer Ordnung ist wahrer als die andere, aber in ihrer Nütz‐ lichkeit unterscheiden sie sich. Der Nutzen darf allerdings ausgehend vom Subjekti‐ vismus des HMS wiederum nicht objektiv verstanden werden. Maßgeblich für die Frage, ob die Demokratie nützlicher ist als die Tyrannis, ist folglich nur der Glaube an die Nützlichkeit des demokratischen Mehrheitsprinzips. Obwohl die überstimmte Position im Gesetzgebungsprozess eine andere Entscheidung für richtig bzw. wahr gehalten hätte, müsste sie ausgehend von dem generellen Glauben an die Nützlich‐ keit der Mehrheitsentscheidung und der Aufgabe jedes objektiven Maßstabs ihre Meinung als falsch, d. h. wahr, aber nicht nützlich, anerkennen. Für Protagoras selbst scheint der Sinn sozialer Ordnung schließlich an die Überlebenssicherung ge‐ bunden: Jede Form von Herrschaft ist besser als Anarchie.27 Indes ist ein Handlungserfolg und der damit intendierte Nutzen – nicht nur bei Gesetzen, sondern bei allen Handlungen – nicht abhängig vom alleinigen Willens‐ entschluss, sondern ebenso von den Umständen der jeweiligen Handlung. Diese Be‐ dingungen für die Wirksamkeit einer Handlung unterliegen aber wieder dem Wahr‐ heitskriterium, weil sie vorliegen können oder nicht. Folglich erweist sich auch die Anwendung des HMS auf die politische Praxis als widersprüchlich, da das Konzept des Nutzens einen objektiven Gegenstandsbereich voraussetzt.28 So bleibt als einzi‐ ger Gegenstandsbereich eines unmittelbaren subjektiven Nutzens der „gegenwärti‐ ge[...] Zustand eines jeden [...], woraus die Wahrnehmungen und die sich auf sie be‐ ziehenden Vorstellungen entstehen“29. Der unmittelbare subjektive Nutzen solcher Vorstellungen lässt sich inhaltlich dann nur noch über das ihnen immanente Lustge‐ fühl bestimmen. Dem Politischen jedoch einen solchen Nutzenbegriff zu unterstellen, hieße dessen Natur zu verkennen. Denn ein Gesetz bzw. eine soziale Ordnung als Ganze zeichnet sich gerade durch einen zweckhaften Charakter aus. Ein Gesetz zielt auf den Nutzen und zwar den zukünftigen Nutzen für eine Gesellschaft: 27 Protagoras, 332d. 28 Vgl. Zehnpfennig 1997, S. 177. 29 Vgl. Theaitetos, 179c.
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„Es bezieht sich nämlich allemal auf die künftige Zeit. Denn wenn wir Gesetze geben, so geben wir sie, weil sie nützlich sein sollen auf die nachherige Zeit, und dies nennen wird doch richtig die Zukunft“ 30
Ein subjektiv relativierter Nutzenbegriff kann folglich auf den Bereich des Politi‐ schen keine Anwendung finden. Der objektive Nutzenbegriff entspricht zwar dem Politischen, aber der HMS enthebt das individuelle Subjekt jeder Möglichkeit zur Rechtfertigung seiner Meinung durch den Bezug auf einen objektiv erkennbaren Sachverhalt, auf den man sich intersubjektiv beziehen könnte. Was sich auf Basis der Erkenntnistheorie schon angedeutet hat, bestätigt sich nochmals eindringlich in der politischen Praxis: Nicht Freiheit und Autonomie, son‐ dern Abhängigkeit und Heteronomie des Subjekts sind die Konsequenzen des HMS.
2. Foucault „[I]ch schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zu‐ vor.“31 Denn was „kann die Ethik eines Intellektuellen sein [...], wenn nicht dies: sich permanent fähig zu machen, sich von sich selbst loszulösen […]?“32
Das Werk Michel Foucaults ist von dem unbedingten ethischen Anliegen getragen, ein anderer zu werden.33 Man wird zu einem Anderen in dem Sinn, dass das gegen‐ wärtige Ich mit dem vormaligen Ich nicht mehr identisch ist. Es soll keinerlei Ge‐ meinsamkeit mehr im Medium des Denkens geben.34 Was sich auf der Ebene der Er‐ kenntnistheorie als Konsequenz und somit Endpunkt des protagoräischen Denkens gezeigt hat, die Vielheit des Ichs, setzt Foucault als normativ anzustrebenden Aus‐ gangspunkt. Von dieser Grundprämisse aus lässt sich sein Ansatz systematisch ent‐ wickeln. Denken wird dabei allgemein als der „Akt“ begriffen, „der ein Subjekt und ein Objekt in all ihre verschiedenen möglichen Beziehungen zueinander setzt“35. Ein so verstandenes Denken lässt sich „in allen Weisen des Sagens, des Tuns und des Sich‐
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Theaitetos, 178a. Foucault 2005, S. 52. Ebd., S. 832. Diese Haltung wird nicht argumentativ begründet, sondern findet nur in der Abgrenzung zum Totalitarismus ihre geschichtliche Begründung. Vgl. Ebd., S. 61: „Die Welt und die Gesell‐ schaft, die uns vorschwebte, wäre nicht nur eine andere gewesen, sondern eine, in der auch wir andere gewesen wären; wir wollten völlig andere sein in einer völlig anderen Welt.“ Mikleni‐ tsch weist darauf hin, dass es in dieser Feststellung zu einer Verbindung von Marxens An‐ spruch, die Welt zu verändern, und Rimbauds Parole, „das Leben zu ändern“, kommt. Beides sind Autoren, die von entscheidenden Einfluss für den intellektuellen Werdegang Foucaults waren. Vgl. Miklenitsch 2015, S. 226. 34 Vgl. Ruhstorfer 2004, 56f. 35 Foucault 1994, S. 699.
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verhaltens“ finden.36 Es umfasst dementsprechend Erkenntnis und Handeln gleicher‐ maßen. Wenn Denken so definiert wird, dann ist der allgemeine Möglichkeitsbereich des Denkens durch die Menge der realisierbaren Konfigurationen von Subjekt und Objekt bestimmt. Dieser Bereich erfährt jedoch immer eine zweifache Begrenzung: 2.b) Einerseits ist das Denken durch die „universellen logischen Kategorien und for‐ malen Strukturen“ und 2.c) andererseits durch die Sozialität in Form „der Gesell‐ schaft, der Politik, der Wirtschaft und der Geschichte“ begrenzt.37
a) Methode: Systematischer Skeptizismus Entscheidend ist hierbei der universelle und notwendige Status, der diesen Begren‐ zungen zugebilligt wird: Es liegt bereits im Begriff des Notwendigen, das Mögliche zu beschränken. In objektiver Hinsicht ist die Notwendigkeit dem Zufall, in subjek‐ tiver Hinsicht der Freiheit entgegengesetzt.38 Ausgehend von der postulierten Defi‐ nition des Denkens muss jede Form von logischer und sozialer Notwendigkeit als von außen oktroyierter Zwang erscheinen, welcher der Freiheit des Denkens entge‐ gensteht. Denn gemäß Foucaults Ethos der Veränderung soll der Bereich des Denk‐ baren stets offenbleiben, um zumindest die Chance zur Selbstveränderung perma‐ nent zu gewährleisten. So ist es von ihm nur folgerichtig zu bekennen, dass sich alle seine Untersuchungen „gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein“39 richten. Die Negation jeder Form von universeller Notwendigkeit wird methodisch mit Hilfe eines „systematischen Skeptizismus“ erreicht.40 Es geht darum, den Bereich des Wissbaren und den damit verknüpften, unbedingten Wahrheitsanspruch zu be‐ grenzen: „Sind Sie, insofern Sie keine universellen Wahrheiten behaupten, […] ein skeptischer Denker? – Unbedingt. Das Einzige, das ich am skeptischen Programm nicht akzeptieren werde, ist der von den Skeptikern unternommene Versuch, in einem gegebenen Bereich zu einer bestimmten Anzahl von Ergebnissen zu gelangen – der Skeptizismus ist nämlich niemals ein vollständiger gewesen!“41
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Foucault 2005, 709f. Ebd., S. 960. Vgl. Die Brockhaus Enzyklopädie Online 2014. Foucault 2005, S. 961. Foucault 1994, S. 701. Zur Bedeutung der Skepsis bei Michel Foucault: Vgl. Suarez Müller 2004, Suarez Müller 2008. Die Kategorisierung Foucaults als skeptischen Denker stützt ebenso sein intellektueller Weggefährte Paul Veyne: Vgl. Veyne 2003, S. 33. 41 Foucault 2005, 872f.
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Die so verstandene Skepsis umfasst zwei Dimensionen: 1) einerseits ein negatives Moment in der Negation von Universalität und 2) andererseits ein positives Moment in der Identifikation von Erscheinung und Sein durch das Konzept des Ereignisses.42 Zu 1) Negatives Moment: Die Skepsis ist deswegen negativ, weil sie sich gegen die zeitliche Identität (Wesen, Substanz) des jeweils vorausgesetzten Untersuchungs‐ gegenstands richtet: Die Erkenntnis, die Macht, die Ethik und das Subjekt zu unter‐ suchen, bedeutet für Foucault, die These aufzustellen, dass die Gegenstandsbereiche, auf die sich diese allgemeinen Begriffe vermeintlich beziehen, in ihrer zeitlichen Kontinuität gar nicht existieren.43 Das besagt für ihn indes nicht, die „Realität sol‐ cher Erscheinungen“ zu leugnen. Er hält das, worauf sich die Begriffe beziehen, für „etwas wirklich in der Welt Vorhandenes“.44 Es wird einerseits sowohl für das Sub‐ jekt als auch für das Objekt an der Wirklichkeit der Erscheinungen festgehalten. An‐ dererseits wird ein allgemeines Sein, das die Ursache der Erscheinung wäre, negiert. Dieser Widerspruch besteht, aber nur, insofern man hinter der singulären Erschei‐ nung ein allgemeines Sein, ein Ding an und für sich, unterstellt. Sowohl Protagoras als auch Foucault versuchen jedoch, sich diesem Widerspruch ontologisch dadurch zu entziehen, dass sie sowohl das Sein des Objekts als auch des Subjekts durch das Prinzip der Zeit auf die Erscheinung reduzieren. Im Gegensatz zu Protagoras wird bei Foucault das Sein und somit die Wahrheit jedoch erkenntnistheoretisch nicht durch das Kriterium der individuellen Wahrnehmung relativiert. Die Relativierung geschieht über die Geschichtlichkeit der Bedingungen der Erkenntnis und des Han‐ delns.45 Zu 2) Positives Moment: Liegt das negative Moment der skeptischen Methode da‐ rin, den Dingen ihre Universalität zu entziehen, so kommt das positive Moment in der Bestimmung des Seins als „Ereignis“ zum Tragen. Den Ereignischarakter einer vermeintlichen Universalie hervortreten zu lassen, ist das primäre Anliegen der hi‐ storischen Untersuchungen, die Foucault allgemein als „Ereignishaftmachung“ be‐ schreibt.46 Auch hier zeigt sich wieder eine Nähe zu Protagoras: Das, was positiv er‐ kannt werden kann, ist nicht der Gegenstand in seiner zeitlichen Kontinuität. Statt‐ dessen erkennt man die Sache nur als Ereignis. Nähert man sich dem Konzept des „Ereignisses“ analytisch, so zeigt sich, inwiefern es sich auf begriffslogischer Ebene
42 Das Problem einer solchen skeptischen Position ist auf theoretischer Ebene natürlich, dass sie jede Form von Universalität leugnet, die Skepsis sich aber selbst als allgemein setzt. 43 Vgl. Ebd., S. 281, Foucault 2004b, S. 16, Foucault 2004a, S. 177: „Man kann zweifellos sagen, daß der Wahnsinn ‚nicht existiert‘, doch das heißt nicht, daß er nichts sei.“ 44 Foucault 1996, S. 179. 45 Vgl. Foucault 2002, S. 466: „Ich versuche, im höchsten Maße zu historisieren, um dem Trans‐ zendentalen so wenig Platz wie möglich zu lassen.“ 46 Vgl. Foucault 1992, S. 31.
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in die skeptische Methodologie einfügt.47 Grundsätzlich handelt es sich nämlich bei Ereignissen und Substanzen um gegensätzliche Begriffe. •
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Das Ereignis unterscheidet sich sowohl vom Allgemeinen – dem Gemeinsamen verschiedener Einzeldinge – als auch vom Partikularen – ein unter eine Allge‐ meinheit subsumierbares Einzelding. Das Ereignis wird als eine Singularität im strengen Sinn verstanden, da es eine Einzelerscheinung, etwas Einmaliges ist, das sich von anderem schlechthin unterscheidet: ein schlichtes „Dieses-hier“. Substanzen werden seit Descartes als Bewusstseinsträger verstanden. Das bedeu‐ tet, sie können denken und denken auch tatsächlich. Ereignissen hingegen kann nichts bewusst sein und somit haben sie auch nicht die Fähigkeit zu denken. Substanzen sind dadurch charakterisiert, dass sie Ausgangspunkte von Kausalität sind und etwas bewirken können. Ereignisse hingegen können geschehen, aber nichts bewirken. Denn Ereignisse folgen zwar aufeinander, aber in diesem Auf‐ einanderfolgen gibt es keinerlei Anhaltspunkte für einen objektiven kausalen Zu‐ sammenhang zwischen ihnen. Damit wird es aber unmöglich, davon zu sprechen, dass das eine Ereignis das andere bewirkt oder in seiner Realität notwendig be‐ dingt.48 Dies bedeutet allerdings nicht, dass ein Ereignis isoliert ist, sondern im Gegenteil, dass es in Relation zu etwas stehen muss. Erst durch die Skizzierung der mannigfaltigen Zusammenhänge, von denen das Ereignis ein Teil ist, sich zu‐ gleich aber auch unterscheidet, lässt sich präzisieren, worin seine Singularität be‐ steht.49 Das Ereignis kann überhaupt erst aus einer Relationalität, die sich als Be‐ dingung der Möglichkeit der Singularität beschreiben lässt, erwachsen. Dieses bedingende Beziehungsgeflecht eines Ereignisses wird als historisches Apriori bezeichnet. Letztlich zielt Foucault in der Beschreibung des historischen Apriori darauf ab zu zeigen, dass diese Mannigfaltigkeit eine endgültige kausale Sätti‐ gung und somit einen als notwendig zu betrachtenden Ursache-Wirkungs-Zu‐ sammenhang nie zulässt.50
Ihre konkrete Anwendung findet die skeptische Methode in der historischen Analyse der b) logischen und c) gesellschaftlichen Strukturen eines spezifischen Geschichts‐ abschnitts.
47 Zum Begriff des Ereignisses bei Foucault: Vgl. Raffnsøe et al. 2011, S. 75, Foucault 1992, S. 37. Allgemein zum Unterschied der Konzepte Substanz und Ereignis: vgl. Meixner 1998. 48 Vgl. Ebd., S. 91. 49 Vgl. Raffnsøe et al. 2011, S. 76. 50 Vgl. Foucault 2014, S. 778: Schlussendlich geht es darum, sich von der Vorstellung zu lösen, dass „eine Geschichte ohne Kausalität […] keine Geschichte mehr“ sei.
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b) Notwendigkeit logischer Kategorien und formaler Strukturen: Das universalistische Subjekt Für Foucault erblickt die Moderne den Ursprung universeller Notwendigkeit in den logischen Kategorien und formalen Strukturen des Subjekts. Der Fokus liegt dabei auf der seit Kant bestimmenden empirischen – transzendentalen Doppelstruktur des menschlichen Bewusstseins.51 So beschränkt der transzendentale Idealismus Kants die (Selbst-) Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung. Das Kontinuum der Erfahrung, in dem Erkenntnis möglich ist, ist durch das „Ding an sich“ und das „transzendentale Subjekt“ begrenzt. Beides sind jedoch ausschließlich negative Grenzbegriffe, welche die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis auf Seiten des Objekts (Ding an sich) und auf Seiten des Subjekts (transzendentales Subjekt) bestimmen.52 Das Ding an sich als Ursache der Erscheinung wirkt kausal auf das Subjekt ein und bringt somit Erscheinungen hervor. Das transzendentale Subjekt be‐ schreibt die Einheit des Selbstbewusstseins als notwendige Bedingung für jedwede Erkenntnis. Darüber hinaus gibt es jedoch für Kant keinerlei positive Erkenntnis die‐ ser Grenzbegriffe.53 In Foucaults Interpretation löst sich die moderne Philosophie nach Kant jedoch von der Nicht-Erkennbarkeit des Transzendentalen und strebt nach dessen positiver Erkenntnis. Insbesondere zielt man darauf ab zu bestimmen, was der Mensch universell ist. So wird das (transzendentale) Subjekt, trotz Kant’scher Kritik in den Paralogismen, als Substanz aufgefasst.54 Dieser für Foucault verhäng‐ nisvollen Tendenz, das Transzendentale ins Anthropologische55 zu wenden, begeg‐ net er damit, „jeden Bezug auf das Transzendentale […] zu vermeiden.“56 Es ist folglich nicht nur das transzendentale Subjekt als Garant objektiver Erkenntnis, son‐ dern ebenso das Ding an sich als formale Bedingung jeglicher Erscheinung zu ver‐ werfen. Zusammenfassend kann man sagen, dass das ethische Anliegen der Selbstverän‐ derung zu einer Kritik des Notwendigen führt. Die Moderne verortet das Notwendi‐ ge in den universellen Strukturen des Subjekts. Die Frage nach unserem Sein jedoch für Wandel offen zu halten und sie nicht schon a priori endgültig beantwortet zu se‐ hen, bedeutet für Foucault, all jene Theorien des Subjekts zurückzuweisen, die das Subjekt formal oder inhaltlich universell bestimmen. Das Streben nach Selbstverän‐
51 Vgl. Foucault 2008b, 293ff, 368ff. 52 Vgl. Kant 1974, B 311. 53 In Bezug auf das Ding an sich ist auch Veyne zu widersprechen, der von Foucault als Vertreter eines „historischen Kantianismus“ spricht. Vgl. Veyne 2003, S. 27. 54 Vgl. Kant 1974, B 399 ff. 55 Mit dem Anthropologischen ist in diesem Zusammenhang allgemein der Versuch gemeint, den Menschen universell zu bestimmen. 56 Foucault 2002, S. 466.
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derung äußert sich deshalb vor allem als ein Streben danach, das essentialistische Subjekt aufzulösen.57 Deshalb ist das Subjekt für Foucault auch „keine Substanz“.58 Denn wie bereits angedeutet wurde, sind mit der Behauptung des Substanzcharakters einer Entität zwei wesentliche Eigenschaft verknüpft: 1) permanente Identität und 2) ursprüngli‐ che Souveränität. Ersteres zielt auf die Allgemeinheit der Eigenschaften des Sub‐ jekts, weil der Begriff der Substanz eine zeitliche Kontinuität der Eigenschaften einer Entität behauptet. Letzteres impliziert eine a priori gegebene Denk- und Hand‐ lungsfähigkeit des Subjekts. Zu 1) Permanente Identität: Dem Aspekt der permanenten Identität wird von Foucault eine diskontinuierliche Vielheit entgegengesetzt. Es gibt kein einheitliches Selbstbewusstsein, kein einheitliches Selbstverhältnis in den verschiedenen Gegen‐ standsbereichen, in denen man sich befindet, und in den Rollen, die man in der Ge‐ sellschaft einnimmt: „Sie haben zu sich selbst nicht dieselbe Art von Verhältnis, wenn Sie sich als politisches Subjekt konstituieren, das zur Wahl geht oder das in einer Versammlung das Wort ergreift, als wenn Sie versuchen, Ihr Begehren in einer sexuellen Beziehung zu verwirklichen.“ Das Subjekt ist dementsprechend eine wan‐ delbare Funktion bzw. „Form, und diese Form ist weder vor allem noch durchgängig mit sich selbst identisch. […] Es gibt zweifellos Beziehungen und Interferenzen zwi‐ schen diesen verschiedenen Formen des Subjekts, aber man steht nicht demselben Typus von Subjekt gegenüber.“59 Die Formen der Subjektivität sind jedoch nicht be‐ liebig, sondern lassen sich zumindest analytisch nach drei Gegenstandsbereichen gruppieren: Sie sind dadurch bestimmt, • • •
welche Beziehung wir zur Wahrheit haben, die es uns erlaubt, uns als Erkennt‐ nissubjekt zu konstituieren; welche Beziehung wir zu einem Machtfeld haben, auf dem wir uns als Subjekte konstituieren, die im Begriff sind, auf die anderen einzuwirken; welche Beziehungen wir zur Moral haben, die es uns als ethisches Subjekt er‐ laubt, uns in einem bestimmten Verhältnis zu uns selbst zu verhalten.60
Zu 2) Ursprüngliche Souveränität: Wenn das Subjekt keine wirkende Kraft (Agens) ist, dann muss es im Umkehrschluss ein Abhängiges bzw. Leidendes sein. Das Den‐ ken, d. h. der Akt, Subjekt und Objekt in ein Verhältnis zueinander zu setzen, darf dementsprechend nicht mehr als genuin menschliche Selbsttätigkeit verstanden wer‐ den. Somit werden das Denken und dessen Elemente zu der Wirkung von etwas au‐ ßerhalb des Denkens Liegendem. Dieses außerhalb des Denkens Liegende ist eine
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Exemplarisch zur Auflösung des Subjekts: Foucault 2005, S. 54. Foucault 2013, S. 286. Ebd. Vgl. Foucault 2005, 474f [Hervorhebung im Original].
„archaische[…] Ebene, die die Erkenntnis und die Seinsweisen dessen, was gewußt werden kann, möglich macht.“61 Die Denkfähigkeit des Subjekts resultiert dann aber nicht aus einem ihm zukommenden Vermögen, sondern aus einer dem individuellen Subjekt immer vorgängigen Struktur62: „Die Art, wie die Menschen denken, schreiben, urteilen, sprechen [...], ihr ganzes Verhal‐ ten wird von einer theoretischen Struktur gesteuert, von einem System, das sich mit der Zeit und von der Gesellschaft zur Gesellschaft verändert, aber zu allen Zeiten und in al‐ len Gesellschaften präsent ist.“63
Allgemeiner gesprochen, bedeutet dies, dass das für die Erkenntnis und das Handeln konstitutive Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt durch ein tertium quid – eine „dritte Dimension“64, verstanden als System oder Struktur – reguliert wird. Diese Struktur wirkt regulativ, indem sie die historisch möglichen Konstellationen von Subjekt und Objekt bestimmt. Erkenntnis und Handeln sind somit schon immer in ein nicht allgemeines, historisches Apriori möglicher Erfahrung eingebettet, von dem sie sich nicht trennen lassen und das schlichtweg konstitutiv für sie ist.65 Wie noch zu zeigen sein wird, geht Foucault davon aus, dass Subjekt und Objekt durch diese Strukturen nicht nur in einer spezifischen Art und Weise in Beziehung gesetzt, sondern im Akt des Erkennens und Handelns erst erzeugt werden.
c) Soziale Notwendigkeit: gesellschaftlich institutionalisierte Normen Folgender Denkweg Foucaults wurde bisher beleuchtet: Begreift man Freiheit als ein Prinzip, das durch das Mögliche charakterisiert und durch das Notwendige be‐ grenzt ist, bedarf es zu einer Ausweitung von Freiheit der Suspendierung der Not‐ wendigkeit. Der Punkt, von dem aus Notwendigkeit in die Welt gebracht wird, ist für die Moderne das identische und souveräne Subjekt. Dieses Subjekt wird von Foucault in skeptischer Umkehrung als vielfältig und abhängig entlarvt. Mithin ver‐ schiebt sich das Notwendigkeit stiftende Prinzip in Strukturen, die dem Subjekt äu‐ ßerlich sind. Hieran anknüpfend stellen sich allerdings folgende Fragen: Was sind das konkret für Strukturen, von denen Foucault spricht? Woher kommen sie und warum verändern sie sich?
61 Foucault 2008b, S. 91, vgl. Foucault 2012, 268f, Veyne 2003, S. 38. 62 Foucault ist in der Benennung dieser Struktur nicht einheitlich, je nach Reichweite und Gegen‐ standsbereich verwendet er die Begriffe „Episteme“, „Diskurs“, „Dispositiv“ usw. Für unsere Zwecke ist weniger die Begrifflichkeit und deren genauer Begriffsumfang entscheidend als der gleichbleibende zugrundeliegende Sachverhalt. 63 Foucault 2014, S. 666. 64 Ebd., S. 1075. 65 Foucault 1996, S. 179.
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Zu Beginn seiner Forschungstätigkeit scheinen diese Strukturen für Foucault noch primär sprachlicher Natur zu sein. Spätestens mit der Fokussierung seiner For‐ schung auf die Begründung des historischen Wandels dieser Strukturen und die in diesem Rahmen aufgeworfenen Frage nach der Macht findet aber eine Verschiebung zur Sozialität im Allgemeinen statt.66 Die Strukturen, die das Verhältnis von Subjekt und Objekt bestimmen, sind also gesellschaftlicher Natur. Sie sind Produkte von Machtverhältnissen. Damit ist indes noch nichts über ihre Eigenschaften ausgesagt. Foucault bleibt jedoch auch in die‐ sem Zusammenhang seiner skeptischen Grundausrichtung treu: Das negative Moment des Skeptizismus kommt darin zu tragen, dass Foucault sich gegen die Tendenz des Marxismus oder auch des Strukturalismus wendet, Struktur essentialistisch als Substanz zu denken.67 Strukturen sind für ihn keines‐ wegs universell. Zudem sind sie nicht Ausgangspunkte von Kausalität, die sozusa‐ gen durch den Menschen denken bzw. wirken würde. Das Subjekt nicht mehr als Substanz zu verstehen, bedeutet daher im Umkehrschluss nicht, den Strukturen eben jenen Status zuzugestehen. Das positive Moment der Skepsis zeigt sich erstens darin, dass sich die gesell‐ schaftlichen Strukturen allein als Singularität beschreiben lassen. Ihre Eigenschaften differieren je nach kulturellem und historischem Kontext. Zweitens sind diese Struk‐ turen, wie bereits angedeutet, zwar konstitutiv für Subjekt und Objekt, aber nicht Ausgangspunkte von Kausalität. Sie selbst sind nicht mehr als Ereignisse. Was heißt das aber, Strukturen als konstitutiv, aber nicht kausal zu denken? Hier ergibt sich er‐ neut eine erstaunliche Analogie zu Protagoras: Subjekt und Objekt sind nichts an sich, vielmehr nur im Verhältnis zueinander wirklich. Die zeitlich begrenzte Wirk‐ lichkeit von Subjekt und Objekt ergibt sich also aus dem Verhältnis beider zueinan‐ der. Strukturen sind für Foucault nun nicht mehr als eben jenes historisch zu be‐ schreibende Verhältnis, welches zwischen Subjekt und Objekt hergestellt wird und somit beide Elemente in ihrem Sein konstituiert. Diese Relation entsteht durch das, „was man macht“. Es geschieht ebenso wie bei Protagoras durch die konkrete Praxis des Handelns und Erkennens. Unter Praktiken versteht Foucault generell den „Ort der Verknüpfung [...] zwischen dem, was man sagt und dem, was man tut, den Re‐ geln, die man sich auferlegt und den Gründen, die man gibt, den Projekten und den Evidenzen.“68
66 Besonders evident wird dies in Foucaults Antrittsvorlesung am Collège de France: vgl. Fou‐ cault 2003a. 67 In diesem Kontext wird auch verständlich, warum sich Foucault keinesfalls als Strukturalist verstanden wissen will. Der Strukturalismus fordert zwar den essentialistischen Humanismus heraus, führt aber mit der Kategorie der Struktur wieder ein transzendentales Prinzip ein, wel‐ ches ebenso universalistisch ist wie die Kategorie des Menschen. Vgl. Frank 1984, 36f. 68 Foucault 2005, S. 28.
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Die tatsächlich realisierten Praktiken des Handelns und Erkennens sind zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt jedoch immer limitiert. Es verwirklichen sich nie alle möglichen Praktiken. Daher verwirklichen sich auch nie alle möglichen Relatio‐ nen von Subjekt und Objekt. Diese historische Differenz von möglichen und tatsäch‐ lich realisierten Praktiken lässt sich als Norm (auch: Diskurs oder Dispositiv) be‐ schreiben. So ist beispielsweise der Diskurs „durch die Differenz zwischen dem konstituiert, was man in einer Epoche korrekt (gemäß den Regeln der Grammatik und der Logik) sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt wurde.“69 Diese Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit ist Ausdruck von Machtver‐ hältnissen, wobei auch hier Foucault davor warnt, der Versuchung zu erliegen, Macht essentialistisch zu denken: Macht ist keine Substanz oder ein Vermögen. Sie ist „eine Form handelnder Einwirkung auf andere“ bzw. präziser eine handelnde Einwirkung auf das Handeln anderer.70 Entscheidend ist dabei der Gedanke, dass durch Machtausübung der Möglichkeitsbereich von Handlungen überhaupt erst er‐ öffnet und zugleich jedoch eingeschränkt wird. Handlungen innerhalb des Möglich‐ keitsbereichs werden sozial belohnt – allein schon durch den Subjekt-Status, den man dadurch erwirbt. Liegen Handlungen jedoch außerhalb des Möglichkeitsbe‐ reichs, so werden sie sozial sanktioniert. Foucaults Untersuchungen des Wahnsinns, der Delinquenz und der Sexualität veranschaulichen diesen Zusammenhang für be‐ stimmte Lebensbereiche.71 Erst dadurch, dass ein Individuum innerhalb des durch Machtausübung eröffneten Spielraums handelt, konstituiert es sich als sozial anerkanntes Subjekt. Um Subjekt zu werden, muss man sich folglich der sozialen Normenstruktur „unterwerfen“. Der Mensch bzw. das Subjekt72 ist für Foucault mithin „nichts selbstverständlich Gege‐ benes, sondern etwas durch die kognitiven und normativen Kodifizierungen einer Kultur erst Hervorgebrachtes“73: „Denn in Wirklichkeit ist dieses neutrale Subjekt selbst ein historisches Erzeugnis. Es be‐ durfte eines ganzen Netzes aus Institutionen und Praktiken, damit dieser ideale Punkt zu‐ stande kam, dieser Ort, von dem aus die Menschen einen rein beobachtenden Blick auf die Welt werfen konnten.“74
Die soziale Normenstruktur bedingt also, welche Praktiken (Denken und Handeln) und somit welche Arten von Subjekten möglich sind. 69 70 71 72
Foucault 2014, S. 874. Foucault 2005, S. 285. Vgl. Foucault 1973, 2008c, Foucault 2008a. Vgl. Foucault 2014, S. 1002: Der Tod des Menschen „ist nur ein Sonderfall oder [...] eine der sichtbaren Formen eines weitaus allgemeineren Sterbens. Damit meine ich [...] den Tod des Subjekts, des Subjekts als Ursprung und Grundlage des Wissens [sic!] der Freiheit, der Spra‐ che und der Geschichte.“ 73 Honneth 1985, S. 121. 74 Foucault 2002, S. 776.
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d) Die Praxis der Freiheit Die gesellschaftlichen Normen können aber genauso wenig wie das Subjekt eine Letztbegründung der Wirklichkeit bilden. Beide Elemente werden nur durch die Praktiken des Erkennens und Handelns wirklich. Ähnlich wie bei Protagoras scheint daher auch bei Foucault der eigentliche Ort seines Denkens in der Praxis zu liegen: Foucault will dementsprechend seine gesamte intellektuelle Tätigkeit als „historischphilosophische[...] Praktik“75 verstanden wissen. Das Ziel dieser Praktik ist es nicht, Theorien zu entwickeln, sondern eine „Haltung“76 bzw. ein Ethos zu verwirklichen – eine Haltung, die darin besteht, sich durch diskursive und nicht-diskursive Praktiken „selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.“77 Eine solche Selbstveränderung kann nach dem bisher Dargestellten nur durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Normen geschehen, wobei eine Norm sich als der historisch realisierte Möglichkeitsbereich der Praktiken beschreiben lässt.78 Eine Veränderung der Normen geht folglich einher mit einer Ausweitung der realisierten Praktiken.79 Eine Ausweitung kann jedoch nur gelingen, wenn Praktiken jenseits der historisch tradierten Normenstruktur zugelassen und nicht durch soziale Sanktionierung ver‐ hindert werden. Ob eine solche Modifikation gelingt, ist jedoch wiederum eine Machtfrage, da die Normen selbst Ausdruck von Machtverhältnissen sind.80 Es geht daher wie bei Protagoras darum, auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse Ein‐ fluss zu nehmen. Diese Zusammenhänge lassen sich an Foucaults diskursiver Praxis als Intellektu‐ eller verdeutlichen. Gewichtig ist dabei die Bestimmung des eigenen Schaffens als Ethos. Dies impliziert eine Relativierung des theoretischen Wahrheitsanspruchs. Verstärkt wird diese Relativierung noch dadurch, dass Foucault seinen Arbeiten den Status von Fiktionen zuschreibt: „[I]ch bin mir dessen voll bewußt, daß ich niemals etwas anderes geschrieben habe als fictions. Ich will nicht sagen, daß das außerhalb von Wahrheit liegt. Es scheint mir die Möglichkeit zu geben, die Fiktion in der Wahrheit zum Arbeiten zu bringen, mit einem
75 76 77 78
Foucault 1992, S. 26. Foucault 2014, S. 113. Foucault 2005, S. 52. Vgl. Foucault 2004c, S. 266: „Dieser Einschnitt, durch den das Selbst sich von sich selbst trennt, auf sich verzichtet, um nach einem metaphorischen Tod anders wiedergeboren zu wer‐ den, befindet sich nicht innerhalb des Selbst. Wenn es einen Bruch gibt […], dann findet er im Verhältnis zu dem statt, was das Selbst umgibt. Damit das Selbst nicht mehr Sklave, nicht mehr abhängig ist und Zwängen unterliegt, muß es den Bruch mit dem, was es umgibt vollziehen.“ 79 Foucaults sexuelle Präferenzen, sein Drogenkonsum und sein zahlreiches soziales Engagement zeugen von einer solchen Haltung. 80 In diesem Kontext lässt sich auch Foucaults Suche nach Widerstandsformen verstehen. Vgl. Foucault 2005, 173f.
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Fiktions-Diskurs Wahrheitswirkungen hervorzurufen und so zu erreichen, daß der Wahr‐ heitsdiskurs etwas hervorruft, ‚fabriziert‘, was noch nicht existiert, also ‚fingiert‘.“81
Obwohl Foucault Teil des auf Wahrheit fokussierten wissenschaftlichen Betriebs ist, überschreitet er die Normen der Wissenschaftlichkeit durch einen fiktionalen An‐ satz. Foucaults Schriften liegen deshalb nicht „außerhalb von Wahrheit“, weil er sich formal den Normen des Diskurses in Gestalt der Methoden und Begriffe der Ge‐ schichtswissenschaft unterwirft.82 Dadurch kann er für sich legitimierweise eine Subjektposition innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses beanspruchen. Diese Subjektposition als Professor, Philosoph, Historiker usw. ermöglicht es ihm, als sozi‐ al anerkannte Autorität „Wahres“ zu sagen bzw. zu schreiben.83 Seine Zuhörer und Leserschaft sind Rezipienten dieses „Wahren“. Entscheidend ist jedoch nicht die his‐ torische Verifizierbarkeit, sondern die Wirkung des Gesagten auf Basis seines Sub‐ jektstatus. Die Wirkung soll das sein, was Foucault „Erfahrung“ nennt. Erfahrung ist für ihn gleichbedeutend mit etwas, aus dem man verändert hervorgeht: „Die Erfahrung, die es uns gestattet, bestimmte Mechanismen zu verstehen [...] und die Weise, in der wir fähig werden, uns von ihnen zu lösen, indem wir sie mit anderen Augen wahrnehmen, sind nur die beiden Seiten derselben Medaille. Dies ist in der Tat das Herz meines Unternehmens.“84
Foucaults Schriften müssen daher als Versuch verstanden werden, die „Wahrneh‐ mung“ der gesellschaftlichen Normen zu verändern: Die Allgemeingültigkeit der Normen im Lichte ihrer historischen Zufälligkeit aufzulösen und sie als veränderbar darzustellen. Die eigene Perzeption und die der anderen Menschen sollen verändert werden, um eine Veränderung der gesellschaftlichen Praxis und ihrer Normen einzu‐ leiten.85 Unklar bleibt allerdings bisher, was überhaupt der Maßstab für die von Foucault angestrebte Selbstveränderung ist. Man kann sich sowohl zum Guten als auch zum Schlechten verändern. Der Wert der Veränderung kann daher nicht in der Verände‐ rung selbst liegen, sondern die Qualität der Veränderung muss durch etwas Externes gestiftet werden. Was gibt der Veränderung also ihren Wert? Der Wert kann nicht in einer größeren Wahrheit oder Authentizität des Selbst lie‐ gen, die durch die Veränderung erreicht worden wäre. Schließlich verneint Foucault eine adäquate Repräsentation der Wirklichkeit. Es geht vielmehr um „nichts mehr 81 82 83 84 85
Foucault 1978, S. 117. Vgl. Foucault 2005, S. 55. Vgl. Ebd., 56f. Ebd., S. 57. Vgl. Foucault 2003b, 1004f: „Ich versuche ein Wechselspiel zwischen unserer Realität und un‐ serem Wissen über die geschichtliche Vergangenheit herzustellen. Wenn mir das gelingt, wird dieses Wechselspiel reale Auswirkungen auf unsere heutige Gesellschaft haben. Ich hoffe, mei‐ ne Bücher finden ihre Wahrheit, wenn sie geschrieben sind, nicht vorher. [...] Ich hoffe, dass die Wahrheit meiner Bücher in der Zukunft liegt“.
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und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.“86 Aus der Suspendierung einer allgemeinen Notwendigkeit im Den‐ ken ergibt sich das Mögliche. Das Mögliche im Denken und Handeln ist für Fou‐ cault im elementarsten Sinne Freiheit.87 In besonderer Prägnanz spiegelt sich dies in den Überlegungen zu Macht und Ethik88 wider, indem Freiheit als „ontologische“ Voraussetzung beider Konzepte bestimmt wird.89 Freiheit kann somit als der norma‐ tive Endzweck von Foucaults Philosophie bestimmt werden.90 Hier ist allerdings Vorsicht geboten: Freiheit darf in diesem Zusammenhang nicht essentialistisch verstanden werden. Sie ist nichts, was dem Subjekt per se zukom‐ men würde. Freiheit ist etwas, was sich nur im Handeln, in der Auseinandersetzung mit dem Handeln anderer und den Strukturen und Normen, auf denen Handlungsfä‐ higkeit im Allgemeinen basiert, verwirklichen kann: „Die Freiheit ist niemals etwas anderes [...] als ein aktuelles Verhältnis zwischen Regie‐ renden und Regierten, ein Verhältnis, bei dem das Maß des ‚zu wenig‘ an bestehender Freiheit durch das ‚noch mehr‘ an geforderte Freiheit bestimmt wird.“91
Freiheit hat so keinen Gehalt, der jenseits der historischen Faktizität der Anerken‐ nung eines Möglichkeitsraums liegen würde. Es gibt auch keine Chance, die Nor‐ men und die damit verbundene Macht endgültig durch beispielsweise eine anarchi‐ sche Gesellschaft oder einen herrschaftsfreien Diskurs zu transzendieren. In der re‐ flexiven Erfassung der Normen, auf denen unser Denken basiert, lässt sich eine rela‐ tive und flüchtige Freiheit verwirklichen; in der Beständigkeit der Kritik am eigenen Denken lässt sich diese Freiheit verstetigen. Freiheit wird also primär als Tätigkeit verstanden. Insofern geht es nicht allein darum, das Denken immer wieder von ex‐ ternen Zwängen durch das Soziale und die vermeintlich externe Notwendigkeit der Logik des Denkens zu befreien. Ziel ist es ebenso, sich vom immanenten Zwang einer Identität mit sich selbst bzw. einer zeitlichen Kontinuität im Denken zu eman‐ zipieren. So ist man bei fortwährender Auflösung seiner Identität stets ein anderer und kann sich somit auch nie widersprechen. Insofern erhebt sich das empirische Subjekt genau wie bei Protagoras zum Maß der Dinge, da jeder Maßstab – sei er nun extern oder immanent – eliminiert wird. Der Wert der Selbstveränderung liegt folglich im Nutzen, den einem die Freiheit bringt. Als einzig möglicher Maßstab und somit als positiver Inhalt der Freiheit ei‐ 86 Vgl. Foucault 2008b, S. 413. 87 Vgl. Lepold 2014, S. 304. 88 In gewisser Weise muss dies natürlich auch für den Bereich des Wissens gelten, insofern Macht und Wissen verschränkt sind. 89 Vgl. Foucault 2005, S. 287, 2013, S. 287: „Macht kann nur über ‚freie Subjekte‘ ausgeübt wer‐ den, insofern sie ‚frei‘ sind“, „Die Freiheit ist die ontologische Bedingung der Ethik. Aber die Ethik ist die reflektierte Form, die die Freiheit annimmt.“ 90 Vgl. Suarez Müller 2004, S. 188. 91 Foucault 2004b, S. 97.
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nes solchen Denkens bleibt das unmittelbare, sinnliche Empfinden und innerhalb dieses Bereichs insbesondere die Lust: „[Der Mensch] muss glücklicher sein können, er muss die Menge an Lust, zu der er in seinem Dasein fähig ist, vergrößern können.“92
Foucaults Denken mündet in letzter Konsequenz in einen Hedonismus.93 Wie schon die Auseinandersetzung mit Protagoras gezeigt hat, ist im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung wohl wirklich davon auszugehen, dass es keinen Maßstab jenseits des subjektiven Empfindens gibt.
3. Abschließender Vergleich Ausgehend von der These Nietzsches von der Wiederkehr der Sophistik wurden die Denkwege von Protagoras und Michel Foucault nachgezeichnet. Trotz der scheinbar unterschiedlichen Ausgangsposition haben sich hinsichtlich der ontologischen, er‐ kenntnistheoretischen und ethischen Grundannahmen und den theoretischen und praktischen Konsequenzen fundamentale Parallelen gezeigt. Im Folgenden sollen die allgemeinen Übereinstimmungen anhand von fünf Aspekten nochmals pointiert dargestellt werden. 1) Ethischer Subjektivismus: Beide Positionen erheben das subjektiv Angenehme zur ethischen Letztbegründung. Worin das angenehm Erscheinende konkret liegt, muss ausgehend von ihrem Subjektivismus weitgehend unbestimmt bleiben. Es ist jedoch sowohl bei Protagoras als auch bei Foucault die Tendenz erkennbar, das Angenehme im körperlichen Lustempfinden zu suchen. Fundiert wird diese Annahme durch die erkenntnistheoretischen Überlegungen. 2) Epistemologischer Relativismus: Um die jeweiligen Erscheinungen als wahr ver‐ allgemeinern zu können, bedarf es eines erkenntnistheoretischen Relativismus. Der Relativismus legitimiert die Untrüglichkeit der unmittelbaren Wahrneh‐ mung. Bei Protagoras ist dieser Relativismus in der Erkenntnis einerseits durch die Differenz zwischen den Individuen und andererseits durch die unterschiedli‐ chen Stadien des Individuums legitimiert. Bei Foucault lässt sich der Relativis‐ mus auf die historischen Normen der Erkenntnis, der Macht und der Ethik zu‐ rückführen, die nur bestimmte Denkweisen ermöglichen. 3) Negation des Seins: Ein solcher epistemologischer Relativismus ist aber nur dann konsequent, wenn man sich von der Vorstellung eines von der Erscheinung unabhängigen Dings an und für sich löst. Protagoras‘ HMS lässt sich deshalb mit der Flussontologie Heraklits verbinden: Letztere setzt das Werden und nicht das 92 Foucault 2002, S. 993. 93 Zur Einordnung Foucaults in den Hedonismus vgl. Suarez Müller 2008, 125ff.
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Sein als Letztbegründung der Realität. Foucault löst sich von der zeitlichen Kon‐ tinuität des Seins durch einen systematischen Skeptizismus. Allgemeinbegriffe haben keinen kontinuierlichen Gehalt. Beide Denker erheben so das zeitlich Sin‐ guläre zum Sein einer Sache. Die Singularität entsteht erst im Akt des Erkennens und Handelns, und ihre Kontinuität besteht in Aufrechterhaltung der jeweiligen Praxis. 4) Dezentrierung des Subjekts: Beide Denkansätze beinhalten entweder als Aus‐ gangspunkt oder als Konsequenz eine Dezentrierung des Subjekts. Dezentrierung bedeutet, dass das Subjekt nicht souverän und autonom, sondern abhängig und unfrei ist. Die Dezentrierung des Subjektes bei Protagoras erscheint als notwen‐ dige Konsequenz des HMS: Um mit sich selbst nicht in Widerspruch zu geraten, wird das Subjekt auf das jeweilige Wahrnehmungsereignis reduziert. Dadurch ist jedoch auch die Eigenschaft, überhaupt Subjekt zu sein, an das Ereignis gebun‐ den. Das Ereignis beschreibt eine zeitlich und räumlich lokalisierte Interaktion zwischen Entitäten. Dadurch, dass menschliche Interaktionen immer in einen so‐ zialen Kontext eingebettet sind, treten die sozialen Strukturen als entscheidende Faktoren für den Status des Subjekts auf. Die sozialen Strukturen bestimmen die Art und Weise der Interaktion und somit auch die Kriterien, wann ein Individu‐ um Subjekt ist. Foucault setzt unter dem Eindruck des Strukturalismus die De‐ zentrierung des Subjekts als gegeben voraus. Indem er jedoch Strukturen für Subjekt und Objekt als konstitutiv annimmt und sie als historisch-soziales Ver‐ hältnis von Subjekt und Objekt begreift, lässt sich ein zu Protagoras analoges Verständnis von Subjektivität aufzeigen. 5) Praxis der Freiheit: Da für beide das Sein von Subjekt und Objekt abhängig von der sozialen Praxis in Wissenschaft und Politik wird, gilt es, diese Praxis nach dem eigenen subjektiv Angenehmen umzugestalten. Das theoretisch ansetzende Interesse zeigt sich somit als Streben nach praktischer, politischer Intervention. Für Protagoras geht es darum, durch die Kunst der Rhetorik den demokratischen Abstimmungsprozess und die sich daraus ergebende soziale Ordnung in der Polis aktiv zu beeinflussen. Foucault versucht durch einen fiktionalen Ansatz die ge‐ sellschaftliche Wahrnehmung von Subjektivität zu verändern und somit die ge‐ sellschaftlichen Normen zu modifizieren. Mit Blick auf die fünf Vergleichsaspekte muss man für jeden einzelnen ein hohes Maß an Übereinstimmung feststellen. Insofern man nicht nur von einer Ähnlichkeit in den Prämissen beider Denker, sondern einem notwendigen Zusammenhang der theoretischen Annahmen ausgeht, kann man von einer Wiederkehr des protagoräi‐ schen Perspektive im Denken Foucaults sprechen. Geht man von der faktischen Wirkmächtigkeit Foucaults für die ganze Postmoderne aus, lassen sich Rückschlüsse für diese Denkrichtung im Allgemeinen ziehen. Mag die Postmoderne im philoso‐ 216
phischen Diskurs mittlerweile weitestgehend marginalisiert sein, so kommt ihr im Bereich der zeitgenössischen Sozialwissenschaften in Form der methodologischen Grundausrichtung doch weiterhin eine außerordentliche Bedeutung zu. So könnte man in diesem Bereich Nietzsche durchaus beipflichten: Wir befinden uns in einem protagoräischen Zeitalter!
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Vanessa Jansche Subjektivität und Macht: Protagoras, Nietzsche und Foucault im Vergleich
1. Einleitung In der gegenwärtigen Politischen Philosophie vollzieht sich vielerorts immer häufi‐ ger eine Abkehr von ‚der‘ Wahrheit, während Meinungen als legitimatorische Grundlage des politischen Handelns aufgewertet werden.1 Gemäß dem pluralisti‐ schen Paradigma stehen die unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Mei‐ nungen in einer Gesellschaft zunächst gleichberechtigt nebeneinander und werden im demokratischen Prozess der Willensbildung schließlich in politische Entschei‐ dungen übersetzt. Über das politisch Wahre entscheidet in einer Demokratie letzten Endes die Mehrheit. Für Hannah Arendt sind daher Philosophie und Politik klar voneinander getrennt. Während sich der Bereich des Staatsbürgers im steten Fluss befindet, verharrt der Philosoph in der Wahrheit über göttliche Dinge. Diese Spal‐ tung ist nicht unproblematisch: „Die eigentlich politische Schärfe des Konflikts [zwischen Wahrheit und Politik, Anm. V.J.] liegt in dieser Entwertung der Meinung, insofern nicht Wahrheit, wohl aber Mei‐ nung zu den unerläßlichen Voraussetzungen aller politischen Macht gehört.[…] Das aber heißt, daß innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten jeder Anspruch auf ab‐ solute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt.“2
Wahrheit und Meinung, Philosophie und Politik schließen sich nach dieser Sicht ge‐ genseitig aus. Es scheint, als müsse sich der Mensch für eine der zwei Sphären ent‐ scheiden. Doch lässt sich die Spannung zwischen (philosophischer) Wahrheit und (demokratischer) Meinung tatsächlich nicht auflösen? Wesentlich entschärft, wenn nicht gar aufgehoben wird der oben skizzierte Gegensatz durch die Annahme eines pluralistischen Wahrheitsbegriffs. Wird Wahrheit fortan nicht mehr als absolut gültig verstanden, sondern als relativ zum jeweiligen Diskurs und Argumentationsmuster, fügt sie sich ohne weiteres in den politischen Pluralismus ein.3
1 Vgl. Özmen 2013, S. 61ff. 2 Arendt 1972, S. 51. 3 Vgl. Welsch 1987, S. 5.
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Die Pluralisierung des Wahrheits- und Vernunftbegriffs ist die Grundaussage der Postmoderne und eines ihres prominentesten Vertreters: Michel Foucault; wobei die‐ ser sich in seinem Ansatz auf Nietzsche beruft.4 Beide eint ihr radikaler Historismus und Relativismus, beides lässt sich ideengeschichtlich auf Protagoras zurückführen. Dessen Homo-mensura-Satz formuliert die Kernthese der subjektivistischen Er‐ kenntnistheorie. Der Relativismus in seiner demokratischen Ausprägung ist sicherlich als spezifi‐ sches Phänomen der Gegenwart zu betrachten, die entsprechende erkenntnistheoreti‐ sche Position war jedoch bereits in der Antike bekannt. Doch ist die Demokratie die einzig denkbare politische Ordnung, die sich aus einer Pluralisierung und Relativie‐ rung der Wahrheit ergibt? Oder führt eine subjektivistische Erkenntnistheorie nicht nur zu unterschiedlichen Wahrheiten, sondern auch zu unterschiedlichen politischen Theorien? In diesem Beitrag wird nachgezeichnet, wie die antike Position des er‐ kenntnistheoretischen Subjektivismus (Protagoras) in Moderne (Nietzsche) und Postmoderne (Foucault) wieder aufgenommen wird und welche politiktheoretischen Konsequenzen aus diesem Ansatz gezogen werden.5
2. Protagoras: Sophistik im Interesse der Bürger Die Grundlagen der protagoräischen Erkenntnistheorie lassen sich anhand von Pla‐ tons Dialog Theaitetos rekonstruieren.6 Auf Sokrates‘ Frage, was Erkenntnis sei, antwortet der junge Mathematiker Theaitetos, Erkenntnis sei Wahrnehmung.7 Sokra‐ tes bringt diese Antwort mit Protagoras‘ Homo-mensura-Satz in Verbindung und er‐ weitert sie um Heraklits Lehre vom bewegten Sein. Der Zusammenhang ist folgen‐ der: Zu Beginn steht die Behauptung, dass bereits in der Wahrnehmung Erkenntnis ist. So wie ich die Dinge wahrnehme, so wie sie mir erscheinen, so sind sie mir auch. Da Wahrnehmung an das Subjekt gebunden ist und als Erkenntnis immer auf das Sein zielt, folgt, dass „der Mensch das Maß aller Dinge ist, der seienden, dass
4 Vgl. u.a. Foucault 2002a. 5 In der Forschung existieren bereits Vergleiche zwischen den Autoren, die aber immer nur paar‐ weise angeordnet sind. So stellen Goedert und Meyer u.a. einen Vergleich zwischen Nietzsches‘ Perspektivismus und dem Homo-mensura-Satz an (Vgl. Goedert 2004, S. 71–87, bzw. Meyer 2014), während Saar die Methode der Genealogie bei Nietzsche und Foucault herausarbeitet (Vgl. Saar 2007) und Súarez-Müller Protagoras und Foucault bzgl. Macht und Sprache gegen‐ überstellt (Vgl. Súarez-Müller 2007, S. 49–76). 6 Von Protagoras selbst sind nur Fragmente erhalten, weswegen der Rückgriff auf die Platoni‐ schen Dialoge als Primärquellen unabdingbar ist. Inwiefern der platonische dem historischen Protagoras entspricht, lässt sich angesichts der Quellenlage nicht mehr zweifelsfrei klären. Vgl. u.a. Döring 2010, S. 27, Dietz 1976, S. 7 und Dalfen 2004, S. 5. 7 Vgl. Platon, Theaitetos 151 e.
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sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind.“8 Wie erklärt sich nun aber, dass ein und derselbe Wind dem einen als kalt, dem anderen als warm erscheint? Hält man an der sensualistischen Ausgangsthese fest, dann ist mit jeder Wahrnehmung das tat‐ sächlich Seiende getroffen. Um die unterschiedlichen Wahrnehmungen zu erklären, muss die Entstehung von Wahrnehmung untersucht werden. Hierzu lohnt der Rück‐ griff auf Heraklits Lehre vom bewegten Sein: Wahrnehmung entsteht aus der Begeg‐ nung von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen. Wenn es sich nun um zwei ver‐ schiedene Wahrnehmende handelt, entstehen aus den unterschiedlichen Zuständen auch unterschiedliche Wahrnehmungen. Somit zeigt sich das Sein als ein Werden, denn es befindet sich in stetem Fluss. In einer kurzen Formel zusammengefasst heißt das: Aus der Bewegung entsteht das Sein/Werden. Welches Sein mir zukommt, ent‐ nehme ich meiner Wahrnehmung, die sich wiederum aus der Interaktion des sich ständig ändernden Wahrnehmenden mit dem sich ständig ändernden Wahrgenomme‐ nen ergibt. Gegen Protagoras‘ Theorie werden nun mehrere Einwände erhoben.9 Die weitere Untersuchung konzentriert sich auf einen Punkt, der für die Verbindung von Episte‐ mologie und politischer Ordnung entscheidend ist: Wenn Wahrnehmung bereits Er‐ kenntnis ist, das jeweilige Sein vom Wahrnehmenden abhängt und somit nur von ihm erkannt werden kann – was will Protagoras als Lehrer10 den Menschen vermit‐ teln? Aus dem bisher Gesagten muss man annehmen, dass keiner weiser ist als der andere, da er sich in seiner Wahrnehmung nicht täuschen kann und es keinen objek‐ tiven Maßstab gibt, an dem falsche und richtige Meinungen gemessen werden kön‐ nen. Wie erklärt nun Protagoras seine eigene Tätigkeit unter diesem Gesichtspunkt? Gemäß der von Sokrates vorgetragenen Apologie des Protagoras11 nimmt dieser durchaus einen Unterschied in der Weisheit an. Deren Maßstab ist nicht die Wahr‐ heit, sondern die Frage, ob das als wahr Vorgestellte nützt oder schadet. Dies zu er‐ kennen und die Wahrnehmung des Betroffenen dahingehend zu ändern, dass sie fort‐ an ‚gut‘ sei, ist die Aufgabe des Sophisten. Dieser vermag es durch seine Reden,
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Platon, Theaitetos 152 a. Die Verknüpfung von Sensualismus und Homo-mensura-Satz ist in der Forschung umstritten. Dass diese Verbindung von Platon willkürlich hergestellt wurde, meint u.a. Dalfen. Dementsprechend ist Platon „keine große Hilfe für das Verständnis des Ho‐ mo-mensura-Satzes“ (Dalfen 2004, S. 5). Eine andere Ansicht vertritt Neumann. Hätte Platon den Homo-mensura-Satz mutwillig verdreht, so hätte dies eine heftige Kritik ausgelöst, die mit den Überlieferungen nicht verloren gegangen wäre. (Vgl. Neumann 1976, S. 269). 9 Vgl. Platon, Theaitetos 161 c – 165 e. 10 Zu Protagoras‘ Tätigkeit und Selbsteinschätzung vgl. Platon, Protagoras 318 e. 11 Vgl. Platon, Theaitetos 166 a. Über die Seriosität der sokratischen Verteidigungsrede herr‐ schen unterschiedliche Ansichten. Für Versenyi ist dieser Ausschnitt authentisch, zeigt aber, dass Platon die bisherige Fehlinterpretation zurechtrücken wollte. (Vgl. Versenyi 1976, S. 292). Für Dalfen macht Platon durch die Apologie des Protagoras‘ nunmehr deutlich, dass er diesen von Anfang an mit Häme überzogen hat: „Das alles sind von Platon in den Text gesetzte Si‐ gnale dafür, dass man das, was über Protagoras gesagt wird, mit Vorsicht genießen muss“ (Dal‐ fen 2005, S. 4).
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schlechtere Wahrnehmungen in bessere zu transformieren. Ebenso verhält es sich im Staat: „Das, was jedem Staat schön und gerecht erscheint, das ist es ihm ja auch, solange er es dafür hält; der Weise aber macht, dass anstatt des bisherigen Verderblichen ihnen nun Heilsames so erscheint und ist.“12
Das Heilsame entsteht nicht erst aus einer Bewegung wie das Seiende, sondern ist etwas, das vom Fachmann ungeachtet seiner subjektiven Wahrnehmung erkannt werden kann. Mit dieser These führt Protagoras aber unvermerkt einen objektiven Maßstab ein, den es gemäß seinem eigenen Satz nicht geben darf.13 Diese Annahme ermöglicht es ihm jedoch, als Lehrer in der staatsbürgerlichen Tugend aufzutreten.14 Auf Sokrates‘ Frage im Dialog Protagoras, ob die Tugend überhaupt lehrbar sei, antwortet der Sophist zunächst mit einem Mythos: Als die Götter sterbliche Lebewesen erschaffen wollten, beauftragten sie Prometheus und Epimetheus, diese mit unterschiedlichen Fähigkeiten auszustatten. Epimetheus bat Prometheus, ihm die Aufgabe zu überlassen, und so verteilte er die Eigenschaften unter den Lebewesen dergestalt, dass der Bestand jeder Gattung gesichert war. Nur den Menschen übersah Epimetheus, und erst als alle Kräfte aufgebraucht waren, be‐ merkte er seinen Fehler. So war der Mensch immer noch „nackt, unbeschuht, unbe‐ deckt, unbewaffnet“,15 kurzum nicht überlebensfähig. Da sich Prometheus nicht an‐ ders zu helfen wusste, stahl er den Göttern das Feuer sowie die Kunst des Hephais‐ tos und der Athene und gab sie den Menschen. Durch diese Teilhabe an göttlichen Gaben erklärt sich auch, warum die Menschen als einzige Lebewesen von Beginn an Tempel bauten und eine Religion pflegten. So erreichten die Menschen dank der ver‐ arbeitenden Kunst eine gewisse Behaglichkeit, aber sie waren nicht fähig, Gemein‐ schaften zu bilden: „[…] wenn sie sich aber gesammelt hatten, so beleidigten sie einander, weil sie eben die bürgerliche Kunst nicht hatten, so dass sie wiederum sich zerstreuend auch bald wieder aufgerieben wurden.“16 Diese Unfähigkeit erwies sich als großer Nachteil, denn vereinzelt waren die Menschen den wilden Tieren, aber auch ihren Artgenossen, hilflos ausgeliefert. Besorgt um den Bestand des Menschen‐ geschlechts, beschloss Zeus, ihnen Recht und Scham zu verleihen, und schickte zu diesem Zweck Hermes auf die Erde. Zeus wies ihn an, die beiden Tugenden unter
12 Platon, Theaitetos 167 c. 13 Einige Autoren wie Hoffmann und Versenyi deuten diese Wendung als eine pragmatische Sichtweise: Der „Mensch ist das Maß aller potentiell nützlichen Dinge“ (Hoffmann 1997, S. 29). Ihn interessiert der Nutzen an einer Sache, nicht ihr Wesen (Vgl. Versenyi 1976, S. 295). Damit kündigt sich nicht nur eine allumfassende Instrumentalisierung durch den Willen an (vgl. Nietzsche 1988, S. 68 [314]), sondern auch der Widerspruch innerhalb der Erkenntnis‐ theorie bleibt bestehen. 14 Vgl. Platon, Protagoras 318 e. 15 Ebd., 321 c. 16 Ebd., 322 b.
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alle Menschen zu verteilen, „[…] denn so könnten keine Staaten bestehen, wenn auch hieran nur wenige Anteil hätten, wie an anderen Künsten.“17 Zudem ordnete er an, dass jeder, der sich diese Tugenden nicht aneignen kann, getötet werden muss. Was ergibt sich daraus für die politische Ordnung? Dass die Menschen im vorbür‐ gerlichen Zustand eine vage Idee davon haben, dass sie sich zusammenschließen sollten, ohne es aber zu vermögen, erinnert beispielsweise an das ambivalente Men‐ schenbild in Kants staatstheoretischem Entwurf. Im Menschen ist der Antagonismus einer ungeselligen Geselligkeit angelegt, so dass er einerseits die Nähe anderer Men‐ schen sucht, andererseits aber in der Gemeinschaft am liebsten seinen eigenen Wil‐ len durchsetzt.18 Der Problembefund ist bei Kant und Protagoras eindeutig: Der Mensch lebt von Natur aus vereinzelt, braucht aber die Gemeinschaft, um zu überle‐ ben. Der Einzelne hat also ein Interesse an einer politischen Gemeinschaft, um das eigene Leben zu sichern. Folgt man dem Mythos, so geht Protagoras anscheinend davon aus, dass die poli‐ tische Tugend einerseits bei jedem vorhanden ist, andererseits aber erst anerzogen werden muss. Wie passt das zusammen? Eine mögliche Antwort wäre, dass Zeus den Menschen mit Recht und Scham19 eine Veranlagung, aber noch keine vollkom‐ men ausgebildete Sittlichkeit verleiht.20 Die konkrete Rechtsordnung wird erst von den Menschen erschaffen und der Einzelne muss seine Tugendhaftigkeit selbst her‐ ausbilden.21 Dass die Erziehung zur Tugend möglich und sogar wünschenswert ist, macht Protagoras an mehreren Beispielen deutlich. Im Alltag ist zu beobachten, dass ständig getadelt und gestraft wird. Eine sinnvolle Strafe setzt voraus, dass der Übel‐ täter lernfähig ist und durch die Bestrafung gebessert wird. Dabei haben die Strafen‐ den nicht nur das Wohl der Täter im Auge, sondern in erster Linie ihr eigenes. Der wahre Beweggrund für die ständige Bestrafung und Disziplinierung ist der persönli‐ che Nutzen, der aus der Gerechtigkeit der anderen entspringt. Niemand will seinem Mitbürger durch unterlassene Ermahnung die Gerechtigkeit vorenthalten, denn auf‐ grund der geltenden Reziprozität kommt es einem selbst zugute, wenn sich der ande‐ re ebenfalls an die Gesetze hält.22 So ist der einzige Anreiz zur Gesetzestreue der eigene Vorteil, der durch das Leben in der Gemeinschaft entsteht. Letztlich bleibt noch zu klären, wo sich Protagoras selbst innerhalb dieses Sys‐ tems verortet und welche Aufgabe er sich zuschreibt. Den Einzelnen kann der So‐ phist lehren, wie er sich am geschicktesten der geltenden Gesetze bedient und dabei 17 Ebd., 322 d. 18 Vgl. Kant 1964, S. 37 [A 392]. Für Kant hat der Antagonismus eine wettbewerbsfördernde Funktion, der die Weltgeschichte und die Verwirklichung der menschlichen Vernunft voran‐ treibt. 19 Zehnpfennig interpretiert Scham als die innere Anlage, die zum Zusammenleben befähigt, während das Recht das äußere Regelwerk dazu liefert (Zehnpfennig 2005, S. 70). 20 Vgl. Hoffmann 1997, S. 49f. 21 Vgl. Platon, Protagoras 323 c. 22 Vgl. Ebd., 327 b.
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möglichst den eigenen Nutzen fördert.23 Dazu gehört auch, mit Hilfe der Rhetorik die eigene Meinung in der Volksversammlung oder vor Gericht durchzusetzen. Prot‐ agoras wird häufig als demokratischer Denker interpretiert. So betont beispielsweise Fromberg, dass Protagoras in seiner Theorie die seit den kleisthenischen Reformen propagierte Isonomie, die Gleichheit der Bürger, ausdrückt.24 Aus den bisher analy‐ sierten Texten geht jedoch hervor, dass Protagoras die Gleichheit der Menschen nicht konsequent berücksichtigt. Zum einen nimmt er einen fundamentalen Wissens‐ vorsprung des Sophisten gegenüber der Volksmasse an, was die Einsicht in den Nut‐ zen betrifft. Zum anderen sind es in erster Linie die Wohlhabenden, die die Unter‐ weisungen in der staatsbürgerlichen Tugend in Anspruch nehmen können. 25 Mögen die Bürger zwar alle eine Stimme haben und vor dem Gesetz gleich sein, in ihrer Meinungs- und Willensbildung sind sie es nicht. Nur der Sophist erkennt, was für sie nützlich ist, und der Weg zu diesem Wissen ist den Reichen vorbehalten. Dies wider‐ spricht augenscheinlich der These, dass der Verweis auf einen Meinungspluralismus ausreicht um demokratische Strukturen zu etablieren.
3. Nietzsche: Antidemokratie im Interesse der Starken War bei Protagoras der Mensch noch das Maß aller Dinge, ist für Nietzsche dieser Maßstab obsolet. Die Ontologie des Werdens zu Ende denkend, postuliert Nietzsche die Enttarnung des erkennenden Subjekts als bloße Konstruktion der Metaphysik.26 Es existiert für ihn kein Subjekt, nur die willkürliche Zusammenfassung verschiede‐ ner Perspektiven unter einen Begriff.27 Nietzsches Perspektivismus entspringt einer fundamentalen Kritik an der abendländischen Denktradition. Der Glaube an die Existenz einer allgemeingültigen Wahrheit entpuppt sich als Irrtum: „Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt.“28
23 Vgl. Döring 2010, S. 31. Döring unterteilt die politische Kunst in soziales Verhalten und Er‐ kennen des Nutzens. Jedoch bleibt unklar, warum Döring nur letzteres zum Repertoire des So‐ phisten zählt und nicht auch die Schulung im sozialen Verhalten. 24 Laut von Fromberg birgt die Gleichheit der Meinungen einen ständigen Konflikt in sich, der immer wieder aufs Neue ausgetragen werden muss, was in einer Demokratie die Regel sei. Da‐ mit unterscheide sich Protagoras von Platon, welcher „[…] das Denken wieder unter die Knute einer (in Platons Fall göttlichen) Obrigkeit […]“ bringen will. (Fromberg 2007, S. 89). 25 Vgl. Platon, Protagoras 326 c. 26 Bereits Sokrates macht darauf aufmerksam, dass mit dem Zerfließen des Objekts auch das Subjekt aufgelöst wird (Vgl. Platon, Theaitetos 157 c). 27 Vgl. Ries 2009, S. 111f. 28 Nietzsche 2005, S. 25 (Hervorhebung im Original). Sowohl Fink (vgl. Fink 1973, S. 13) als auch Ries (vgl. Ries 2009, S. 111) und Meyer (vgl. Meyer 2014, S. 222ff.) verstehen dies als Rückführung des Denkens auf Heraklit. Damit zeichnet sich eine Parallele zur platonischen Darstellung des Protagoras ab.
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Doch wie kommen die Menschen dazu, das Werden der Welt nicht zu erkennen und es in die Illusion eines konstanten Seins zu übersetzen? Seinen Ausgang nimmt der jahrtausendalte Irrtum in der Begriffsbildung. Via Sprache errichtet sich der Mensch zunächst eine eigene Welt.29 Im nächsten Schritt vermeint er nun, in den von ihn geschaffenen Begriffen das Wesen der Dinge erkennen zu können. Über die Zeit vergisst der Mensch, dass es sich bei einem Wort ursprünglich nur um eine will‐ kürliche „Metapher“ handelt, um eine „Abbildung eines Nervenreizes in Lauten“.30 Dieser subjektive und willkürliche Ursprung der Begriffsbildung entwickelt im Lauf der Zeit ein Eigenleben. Der Begriff wird immer weiter abstrahiert und auf ähnliche, aber ungleiche Fälle angewandt.31 Folglich ist die ‚Wahrheit‘, die wir in den Dingen dank unserer Begriffe zu erkennen glauben, genau diejenige, welche wir zu Beginn über die Begriffsbildung mit der Hilfe von Metaphern hineingelegt haben. Damit bleibt unsere Erkenntnis zirkulär, „das Blatt ist die Ursache der Blätter.“32 Die Fol‐ gen dieses logischen Fehlschlusses von der Grammatik der Sprache auf die erfahre‐ ne Wirklichkeit bedeutet, dass unsere Vorstellung von der Welt auf Täuschung be‐ ruht. Gerade das Bewusstsein hindert den Menschen daran, seine ‚wahre‘ körperli‐ che Natur zu erkennen. Unterhalb unseres Bewusstseins verbirgt sich also eine ande‐ re Welt, nämlich die des Leibes. Was heißt das für den Menschen? Das, was uns an den Dingen wichtig ist, ist ihre Nützlichkeit in Bezug auf uns selbst: „Uns organi‐ sche Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz.“33 Der Geist stellt sich somit als Werkzeug des Körpers heraus.34 Analog zu seiner Abrechnung mit der abendländischen Philosophie stellt Nietz‐ sche auch die moralischen Begriffe infrage, auf die sich die gesellschaftliche und po‐ litische Ordnung beruft. So wie die Menschen einst die ‚Wahrheit‘ festsetzten, so verfuhren sie auch bei dem moralisch ‚Guten‘ und ‚Bösen‘. Dem Staat kommt bei der Setzung von Wahrheit, Recht und Moral eine entscheidende Rolle zu.35 Erst in der Gemeinschaft bilden sich die Begriffe heraus, die der Einzelne dermaßen verin‐ nerlicht, dass er sie als wahr annimmt. Nietzsche stellt an den Anfang seiner Theorie über die Moral eine etymologische Untersuchung der Wörter ‚gut‘ und ‚schlecht‘. Während für ‚gut‘ seit frühester Zeit 29 Nietzsche 2005, S. 30. 30 Nietzsche 1973, S. 372. 31 Da die Verwendung von Sprache aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit abzulehnen ist, wird frag‐ lich, welche Darstellungsweise noch angemessen ist. Für Hofmann ist Nietzsches Sprache da‐ her „[…] apodiktisch, wird Provokation, Maskenspiel, Metapher, ungefähres Gleichnis.“ (Hofmann 1987, S. 278). 32 Nietzsche 1973, S. 374. 33 Ebd., S. 39. 34 Ob diesbezüglich der ‚Wille zur Macht‘ materialistisch oder als metaphysische Kehrtwende zu verstehen ist, bleibt in der Literatur umstritten Vgl. dazu Nietzsche 1994, S. 119 [149], bzw. Gerhardt 1996, S. 11ff. und Günzel 2009, S. 392f. 35 Vgl. Nietzsche 1973, S. 371f.
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„[…] vornehm, edel im ständischen Sinne der Grundbegriff ist […]“,36 stellt ‚schlecht‘ ein Konglomerat von gemein, pöbelhaft und niedrig dar. Ausgangspunkt des Gegensatzpaares ‚gut‘ und ‚schlecht‘ ist hier also die Zuordnung zu einer sozia‐ len Schicht. Die höher stehende Kaste nennt sich selbst gut, die untere Kaste wird in Abgrenzung dazu als schlecht bezeichnet. Nun stellt sich Nietzsche die Frage, war‐ um die heute dominierende christliche Moral nicht mehr das Starke, Herrschende für gut hält, sondern das Schwache, Unterlegene als moralisch überlegen sieht. Für die‐ se Umkehrung der natürlichen Ordnung macht Nietzsche eine Priesterkaste verant‐ wortlich, die er einer Kriegerkaste gegenüberstellt. Beide bildeten wohl ursprünglich eine Art Oberschicht in den frühen Gesellschaften. Während die Krieger ihre Werte aus ihrer körperlichen Kraft und Gesundheit herleiteten, sahen sich die Priester auf‐ grund ihrer physischen Unterlegenheit dazu gezwungen, ihren Intellekt einzusetzen. Diesen nutzten sie fortan „um [sich] durch eine radikale Umwerthung von deren [der Krieger, VJ] Werthen, also durch einen Akt der geistigen Rache Genugthuung zu [ver]schaffen […].“37 Was einst als gut galt – die Überlegenheit, die Stärke, die rücksichtlose Durchsetzung des eigenen Willens – wird nun diskreditiert. Als gut gilt fortan das bisher Schlechte – das Leidende, Unterlegene und Beherrschte. Im Juden‐ tum erkennt Nietzsche das geschichtliche Pendant zu seiner Priesterkaste. Den Juden sei es gelungen, mittels des Christentums die bisherigen Werte umzukehren und fort‐ an gemäß der Bergpredigt den Elenden, Armen und Ohnmächtigen Gottes Güte und Wohlwollen zuzusprechen. Somit begann mit den Juden „[…] der Sklavenaufstand in der Moral […]“.38 Trotz des völlig falschen Ansatzes gesteht Nietzsche der Mit‐ leidsmoral eine gewisse Plausibilität zu, auch hier ist der Wille zur Macht am Werke. Dass die Schwachen auch irgendwann einmal die Starken sein wollen, sieht Nietz‐ sche in der Vorstellung des künftigen Gottesreichs bestätigt.39 Weshalb ist die herr‐ schende Mitleidsmoral aus Nietzsches Sicht so gefährlich? Sobald sich die Gesetz‐ gebung anschickt, nicht mehr „[…] als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt […]“40 zu fungieren, ist sie lebens‐ feindlich. Wird der Kampf im Staat und im Menschen negiert, mündet der Wille ins Nichts. So prägt ein demokratischer Staat in seiner Verachtung gegen alles Herr‐ schende den demokratischen Menschen dahingehend, dass er ihn zum Sklaven her‐ anzüchtet. Für das Gleichheitsstreben in der Demokratie gebraucht Nietzsche die Metapher des „[…] letzte[n] Mensch[en], der Alles klein macht“.41 Und wer nicht
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Nietzsche 1988, S. 17 [261]. Ebd., S. 23 [267] (Hervorhebung im Original). Nietzsche 1988, S. 23 [268] (Hervorhebung im Original). Eigentlich haben die Schwachen mit der Etablierung der Sklavenmoral schon einen Sieg errun‐ gen. Doch aufgrund ihrer inneren Schwäche sind sie nicht fähig, den Sieg für sich zu reklamie‐ ren und schreiben ihn Gott zu (Vgl. Ebd., S. 38 [283]). 40 Ebd., S. 67 [313] (Hervorhebung im Original). 41 Nietzsche 1994, S. 15 [19].
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einmal mehr den Willen hat zu herrschen oder zu gehorchen, der ist auch des Kämp‐ fens müde. Bar jedes schöpferischen Drangs hat sich dieser letzte Mensch im klein‐ bürgerlichen Mittelmaß eingerichtet und vertritt damit „[…] [das] Vorrecht der Meisten, [und den] Willen zur Niederung, Erniedrigung, zur Ausgleichung […]“.42 Die Gefahr, die von der Aufhebung des Kampfes ausgeht, führt unweigerlich zu der Forderung, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Das kann nur bedeuten, gegen die Demokratie und das liberale Staatsverständnis die ‚natürliche‘ Hierarchie von Star‐ ken und Schwachen wiederherzustellen. Es wäre also nötig, im Staat den gesetzli‐ chen Rahmen so zu gestalten, dass er dem Willen zur Macht dienlich ist. Nietzsche arbeitet dazu kein konkretes politisches Programm aus.43 In jedem Fall gilt es, die Umkehrung der Werte so zu korrigieren, dass das schlechte Gewissen nicht mehr in‐ stinkt- und lebensfeindlich ist. Es soll fortan vielmehr ein schlechtes Gewissen er‐ zeugen, wenn gegen die Triebe gehandelt wird. Der Herausbildung einer neuen Her‐ renmoral geht die Zerstörung der bisherigen Sklavenmoral voraus. Zerstören, Neues nach eigenem Maß zu errichten, um es anschließend wieder zu zerstören, ist das neue, das wahre Ideal des Menschen. Damit kommt Nietzsches Subjektivismus zum Ausdruck, der, gegen seine eigenen Prämissen, zum absoluten Prinzip erhoben wird. Und so ist es ein Merkmal des Übermenschen, „[o]hne Rückgriff auf Religion oder Metaphysik die Welt allein aus sich heraus zu setzen […].“44 Nur auf diese Weise wird man dem Leben als Willen zur Macht gerecht. Nietzsche lässt keinen Zweifel daran, dass der moderne Mensch zu dieser funda‐ mentalen Neuausrichtung nicht fähig ist. Wer soll also die Umkehrung der alten Ordnung vornehmen? Nietzsche hofft auf einen „Mensch[en] der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm erwachsen musste, […] vom Willen zum Nichts.“45 Die Erlösung durch diesen schöpferischen Herrenmenschen wäre für die anderen zunächst wenig heilsbringend. Denn so, wie das Wohlergehen der Starken immer auf Kosten der Schwachen geht, so muss „[…] die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert […]“46 werden. Daraus erklärt sich auch der einzig positive Effekt der De‐ mokratie. In ihr werden massenweise intelligente Sklaven gezüchtet, denen die herr‐ schende Elite die neuen Werte einbrennen kann.47 Im Übermenschen verbirgt sich gleichzeitig die Erlösung durch die Überwindung des Nihilismus und die Anerken‐ 42 Nietzsche 1988, S. 43 [288] (Hervorhebung im Original). 43 Hofmann sieht den Grund für die Unklarheit in Nietzsches Schwanken zwischen der Idee der Selbstüberwindung und der biologischen Auslese begründet (Vgl. Hofmann 1987, S. 291f). 44 Fink 1973, S. 74. 45 Nietzsche 1988, S. 90 [336] (Hervorhebung im Original). 46 Ebd., S. 69 [315]. 47 Hofmann merkt dazu an, dass Nietzsches Hass auf den demokratischen Nivellierungsprozess folglich nur ein vordergründiger ist (Vgl. Hofmann 1987, S. 291). Wenn Goedert versucht, dem Übermenschen auch einen Nutzen für die Schwachen abzugewinnen, dann wirkt das vor dem Hintergrund der ‚Sklavenzüchtung‘ fast schon zynisch. Auch scheint Goedert die Dringlichkeit
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nung der Tragik des Lebens. Das Gemeinwesen ist dabei Ursprung und Ende des Heilsweges. Nur unter dem Zwang der Gesellschaft konnten sich moralische Emp‐ findungen entwickeln, die im Nihilismus münden. Um diesen hinter sich zu lassen, bedarf es einer neuen Moral, die wiederum nur im Staat durchgesetzt werden kann. In der Literatur gibt es Versuche, Nietzsche für die moderne Demokratietheorie fruchtbar zu machen. Nietzsches fundamentale Kritik am abendländischen Denken ermögliche eine neue Sichtweise auf moderne politische Ideen jenseits der Vorstel‐ lung eines rationalen Subjekts. Der Perspektivismus und damit die Unverbindlich‐ keit personaler Identität kämen außerdem dem demokratischen Pluralismus entge‐ gen48, während die Betonung von Kampf und Gegnerschaft in Nietzsches Politik‐ konzept von Vertretern eines agonistischen Demokratieverständnisses aufgegriffen wird. Die demokratietheoretische Interpretation sieht sich jedoch mit der Frage kon‐ frontiert, wie beispielsweise Nietzsches Forderung nach einem ‚Vorrecht der Weni‐ gen‘ und seine abschätzige Haltung gegenüber der ‚Pöbelherrschaft‘ mit dem demo‐ kratischen Gleichheitsbegriff in Einklang zu bringen wäre. Der Vorwurf einer selek‐ tiven Lesart scheint daher nicht ganz unbegründet.49
4. Foucault: Antihumanismus im Interesse des Individuums Der französische Psychologe, Historiker und Philosoph Michel Foucault gilt als einer der zentralen Figuren der Postmoderne, der mit (post-)strukturalistischen Strö‐ mungen in Verbindung gebracht wird. Foucault selbst stand unter dem Einfluss von Heidegger und Nietzsche, die sein Denken maßgeblich prägten. Bei Foucault fällt es ähnlich wie bei Nietzsche schwer, die Unterteilung in Erkenntnistheorie und politi‐ scher Theorie im engeren Sine aufrecht zu halten, da er sowohl der Erkenntnis als auch der Politik die Macht als Erklärungsmodell zugrunde legt.50
des Kampfes nicht zu berücksichtigen, wenn er annimmt, dass „die Befürchtung, das so stark individuell geprägte Streben zum Übermenschen bedeute eine Gefahr für das Leben in der Ge‐ sellschaft […] nur teilweise gerechtfertigt [sei].“ (Goedert 2004, S. 87). 48 Vgl. Hatab 2002, S. 132. 49 Vgl. Redhead 1997, S. 190ff. 50 Inwieweit Foucaults Denken systematisiert werden kann, ist umstritten. Saar konstatiert, dass sich im Werk des französischen Denkers durchaus eine Struktur erkennen lässt, die sich, in An‐ schluss an Nietzsche, um eine genealogische Untersuchung der Gegenwart bemüht. Er sieht die Gemeinsamkeit vor allem in der kritischen Auseinandersetzung mit der Konstituierung des Subjekts und den Folgen für Institutionen und Praktiken (Vgl. Saar 2007, S. 159). Obwohl Sa‐ rasin eine Systematisierung des foucaultschen Denkens ablehnt, sieht auch er in allen Werken eine Schnittstelle in der Frage, „[…] was ein Individuum bzw. ein Subjekt sei.“ (Sarasin 2010, S. 12). Die Schwierigkeit einer Systematisierung besteht jedoch darin, dass Foucault in jedem Werk eine Sprache und Methodologie anwendet, die auf die jeweilige Disziplin zugeschnitten ist (Vgl. Honneth 2003, S. 16).
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Foucaults Ziel ist es, die Strukturen unseres Denkens aufzudecken. Er sucht nach „[…] den Gesetzen eines bestimmten Wissenscodes […]“,51 die uns die Kategorien und Maßstäbe vorgeben, innerhalb derer wir denken und erkennen. Jede Erkenntnis ist abhängig vom jeweiligen Diskurs, der sie hervorbringt. Zu deren Untersuchung entwirft Foucault ein positivistisches Analyseraster52. Mittels der Diskursanalyse be‐ absichtigt er, die Machtstrukturen offenzulegen, die die Erkenntnisse innerhalb des Diskurses einer bestimmten Epoche bedingt haben. Diskurse wiederum werden von geschichtlichen Umständen bestimmt und nicht von einer übergeordneten Logik ge‐ leitet. Somit fällt alles auf die Geschichte zurück, eine Geschichte ohne Kontinuität, ohne Ursprung und ohne Ziel. Eine historische Untersuchung kann diesem Verständ‐ nis nach einzig die Diskontinuität, die Sprünge und die Verschiebungen innerhalb von Diskursformationen erarbeiten. Foucaults besonderes Augenmerk gilt dem Willen zur Wahrheit innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses des Abendlandes. Seit Platon ist der Fokus nicht mehr auf die ‚wahren‘ Grundlagen des Diskurses – Macht und Begehren – gerichtet. Der platonische Blick wendet sich den Inhalten zu. Das bedeutet, dass die Bedingungen des Diskurses verkannt werden und dementsprechend versucht wird, das Produkt des Diskurses nicht in Kategorien der Macht, sondern in jenen des Sinns zu erfas‐ sen.53 Der Wissensdrang der Philosophie und der Wissenschaften unterliegt nicht dem Ziel des Erkenntnisgewinns, sondern ist reiner Machtkampf.54 Der Wille zur Wahrheit entpuppt sich damit als pervertierter Wille zur Macht. Foucaults Interpreta‐ tion des Willens zur Wahrheit erinnert stark an Nietzsches Analyse der Sklavenmo‐ ral, die gerade in ihrer Verneinung des Willens zur Macht von diesem durchdrungen ist.55 Foucault lässt im Vergleich zu Nietzsche an dieser Stelle jedoch offen, ob die Verkehrung des Willens zur Wahrheit aus Schwäche geschieht. Was ist nun die gegenwärtig herrschende Wahrheit, die fälschlicherweise Allge‐ meingültigkeit beansprucht? Im Bereich der Wissenschaft ist es die Prämisse eines erkennenden Subjekts.56 Dadurch, dass sich der Mensch als Subjekt begreift, meint er mittels seiner Vernunft den an sich leeren Dingen eine Bedeutung abgewinnen zu 51 Foucault 2008a, S. 14. 52 Dieser immanenten Widersprüchlichkeit gewahr bezeichnet sich Foucault selbst als „glückli‐ che[n] Positivist[en]“ Foucault 2008b, S. 609. 53 Foucault 2010, S. 14. 54 Foucault denkt den Diskurs dabei immer als Mittel des Kampfes und gleichzeitig als dessen Ergebnis. (Vgl. Ebd., S. 11). Doch wenn der Diskurs einerseits Ergebnis des Kampfes sein soll, wie kann er gleichzeitig Mittel sein? Der Diskurs wäre damit, als Ergebnis gesehen, eine Macht, den die Mächte, nun als Mittel, gebrauchen wollen. Hier zeichnet sich bereits die Un‐ genauigkeit des foucaultschen Machtbegriffs ab. 55 Vgl. Nietzsche 1988, S. 39 [283]. 56 Lemke merkt hierzu an, dass Foucault aufgrund seiner radikalen Ablehnung des Subjekts letzt‐ lich negativ auf dieses bezogen bleibt. Anstatt die Problematik der Subjektivität zu überwin‐ den, proklamiert er die Heteronomie des Subjekts: „Er wechselt nur die Seite, aber nicht das Feld.“ (Lemke 2007, S. 117).
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können. Das Subjekt kann jedoch nie die Geschichte in ihrer Diskontinuität begrei‐ fen, da es sie immer vor einem gewissen Bedeutungshorizont lesen muss, der über die Sprünge und Brüche hinweg einen Zusammenhang konstruiert. Außerdem bleibt angesichts eines souveränen Subjekts der Diskurs von diesem abhängig. „Das be‐ gründende Subjekt hat ja die Aufgabe, die leeren Formen der Sprache mit seinen Absichten unmittelbar zu beleben […].“57 Somit kann der Diskurs nicht als eigen‐ ständiges Objekt untersucht werden. Um die Machtausübung mittels des Subjekts auch im Bereich der Politik zu ent‐ larven, muss Foucault nachweisen, dass die Annahme eines Subjekts zur Herausbil‐ dung von konkreten Institutionen und Praktiken der Unterwerfung geführt hat. Das Subjekt ist insofern von großer Bedeutung, als es an einer Schnittstelle von Materie und Geist liegt.58 Das mittels des Wissens geschaffene Subjekt dient der Macht da‐ zu, die Körper zu beherrschen.59 Daraus folgt, dass Foucault auch bei der Analyse der politischen Ordnung in erster Linie auf die Aufdeckung von gegenwärtigen Machtstrukturen zielt, die ihre Herrschaft auf dem Konstrukt des Subjekts errichten. Dazu zählt er in erster Linie die zunehmende Rationalisierung, die mit einer überzo‐ genen politischen Macht einhergeht.60 Ausgangspunkt der neuen Unterwerfungsstra‐ tegien bildet dabei der moderne liberale Staat. Die ihm eigene Kunst des Regierens ermöglicht eine erweiterte Form der Subjektivierung, die nicht nur eine Unterdrü‐ ckung von außen, sondern auch mittels Disziplinierung und Rollenzuweisung eine Selbstkontrolle der Individuen umfasst. Macht im Sinne von Regieren heißt, „das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren.“61 Durch die Zuschreibung von Eigenverantwortung und bestimmtem Rollenverhalten werden die Individuen dazu gebracht, sich selbst – im Sinne der herrschenden Macht – zu führen. Die im modernen liberalen Staat garantierte Frei‐ heit ist nicht im Menschen angelegt, sondern erst durch die herrschenden Machtver‐ hältnisse als Handlungsraum des Individuums erzeugt. Die Macht schreibt den Men‐ schen mittels Subjektivierung eine Individualität zu, deren Wahrheit sie selbst und andere annehmen müssen. Das Subjekt ist somit „durch Bewusstsein und Selbster‐ kenntnis an seine eigene Identität gebunden […].“62 Diese Art von zweifacher Unterwerfung stößt jedoch auf Gegenwehr. Zu dem Aufbegehren zählt Foucault unter anderem „den Widerstand gegen die Macht der Männer über die Frauen, der Eltern über ihre Kinder, der Psychiatrie über die Geis‐ 57 Foucault 2010, S. 31. 58 Diese Unterscheidung lehnt sich an Saars Klassifizierung an: „So wie für Foucault der Körper Symbol für das Materiellwerden der Macht und ihre Verkörperung ist, ist das Wissen die Chif‐ fre für ihr Geistigwerden.“ (Saar 2007, S. 217). 59 Ebd., S. 220. 60 Vgl. Foucault 2005b, S. 242. 61 Ebd., S. 256. Dies ist aber erst möglich, nachdem die Macht die Einzelnen unterworfen und sie zu Subjekten gemacht hat. 62 Ebd., S. 245.
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teskranken, […], der staatlichen Verwaltung über die Lebensweise der Menschen.“63 Wird der Widerstand unterdrückt oder bereits im Keim erstickt, droht die absolute Dominanz der Macht.64 Nun kristallisiert sich heraus, welche Bedeutung Widerstän‐ de in Foucaults Denken haben: Sie sind im ewigen Kampf mit der Macht der eigent‐ liche Antrieb des Weltgeschehens.65 Wenn Foucault den Widerstand unterstützt und postuliert, die Macht könne gar nicht streng genug begrenzt werden,66 so kann man das als seinen Beitrag zur Historisierung des Diskurses lesen. Doch welche Möglich‐ keiten hat das Individuum, sich gegen die Macht und die eigene Subjektivierung und Individualisierung zur Wehr zu setzen?67 Um dies zu beantworten, ist eine nähere Untersuchung der Relation von Macht und Widerstand notwendig, für die es grundsätzlich zwei Möglichkeiten gibt: Spielt sich der politische Widerstand innerhalb der herrschenden Machtverhältnisse ab, dann wäre er selbst nur ein Ausdruck der disziplinären Machtausübung. Jeder ge‐ schichtliche Prozess wäre nur der endlose Ablauf von Machttransformationen. Da sich Widerstand von Macht nur graduell unterscheiden würde, ließe sich kein An‐ fangspunkt finden, von dem ausgehend ein Phänomen betrachtet werden könnte. Da‐ mit wird auch die Suche nach Brüchen in der Geschichte hinfällig, denn alles zer‐ fließt und wird zur Macht. Wenn Widerstand hingegen als ein ‚Außerhalb‘ der Macht gedacht wird68, stellt sich die Frage, welches Prinzip den Widerstand verur‐ sacht. Die Macht kann es nicht sein, denn sie hat bei dieser Interpretation keinen Einfluss auf die Erhebung. Doch wer kämpft gegen die Macht? Foucault spricht an anderer Stelle von etwas ‚Plebejischem‘, „das in gewissem Sinne den Machtverhält‐ nissen entgeht; etwas, das […] eine zentrifugale Bewegung, eine gegenläufige, be‐ freite Energie ist.“ 69 Da alles Geistige dekonstruiert und auf das Körperliche zurück‐ geführt wurde, muss im Materiellen auch der Ursprung des Widerstands und damit der Geschichte liegen. Die Forderung nach einer Milderung der Strafen im 18. Jahr‐ 63 Ebd., S. 244. 64 Ob eine absolute Dominanz der Macht möglich wäre, hängt wiederum vom Machtbegriff ab. Wird dem Widerstand eine eigene Sphäre zugestanden, wäre die Angst vor einer absoluten Machtausübung unbegründet. 65 Foucault bezeichnet Widersprüche tatsächlich als Motor des Diskurses: „Im Laufe des Diskur‐ ses erfüllt der Widerspruch also die Funktion des Prinzips seiner Historizität.“ (Foucault 2008b, S. 634). Auch Sarasin sieht im ewigen Kampf zwischen Herrschern und Beherrschten das Urprinzip des Diskurses (Vgl. Sarasin 2006, S. 119). 66 An dieser Stelle betont Foucault die Notwendigkeit, Macht zu beschränken: „Der Macht gilt es stets unüberschreitbare Gesetze und uneingeschränkte Rechte entgegenzusetzen.“ (Foucault 2005a, 179). 67 Lemke äußert sich aufgrund des umfassenden staatlichen Unterdrückungsapparats, wie ihn Foucault geschildert hat, dazu sehr skeptisch: „[…] vielmehr blieb angesichts der Bedeutung und dem Umfang, den er den Prozessen der Disziplinierung beimaß, selbst die prinzipielle Möglichkeit von Widerstand unklar.“ (Lemke 2007, S. 112). 68 Mit Verweis auf Deleuzes Ansatz bezeichnet Sarasin diese Theorie eines äußeren Widerstands als „Vitalismus“ (Vgl. Sarasin 2006, S. 172f). 69 Foucault 2002b, S. 542.
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hundert ist in Wahrheit „[…] ein Aufschrei des Körpers, der sich gegen den Anblick oder die Vorstellung allzu großer Grausamkeiten empört.“70 Doch wie kann sich der Körper empören? Und wie kann er dieses Empören in eine Forderung nach Strafmil‐ derung transformieren, damit sie später von Foucault als solche analysiert werden kann?71 Auch die Unterdrückung durch die herrschende Macht muss nicht erst im Geistigen reflektiert werden, allein die Wahrnehmung einer Einschränkung der eige‐ nen Kräfte reicht aus, um im Körper Widerstand hervorzurufen. Wenn der Körper jedoch der entscheidende Faktor zur Befreiung des Individuums ist, dann ist jeder aufklärerische Appell an den Intellekt der Unterdrückten, ihre Identitäten zu reflek‐ tieren, nutzlos. Foucaults eigener Anspruch, durch das Aufdecken und Hinterfragen der Subjektivierungsstrategien im modernen Staat zur Selbstbestimmung der Indivi‐ duen beizutragen, bleibt damit unerfüllt.
5. Abschließender Vergleich Die Ausgangsfrage war, ob und gegebenenfalls welche Implikationen eine subjekti‐ vistische Erkenntnistheorie auf die politische Theorie hat. Dazu wurden die erkennt‐ nis- und politiktheoretischen Annahmen bei Protagoras, Nietzsche und Foucault ana‐ lysiert. Im Bereich des Politischen vertreten die drei behandelten Denker ganz unter‐ schiedliche Ansätze: Protagoras erweist sich als eine Art Vertragstheoretiker. Aus der Gleichheit hinsichtlich der tugendhaften Anlagen schließt er, dass die Menschen den Nutzen eines Staates erkennen und dieser folglich nur auf Übereinkunft beruhen kann. Nietzsche vertritt ein anderes Menschenbild. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen dem selbstbejahenden, schöpferischen Starken und dem reaktiven, intel‐ lektuellen Schwachen. Als einzige Gemeinsamkeit weisen beide den Willen zur Macht auf. Damit entlarvt Nietzsche die Vertragsidee als Überlebensstrategie der Schwachen, in denen sich der Wille zur Macht nicht in der direkten körperlichen Selbstdurchsetzung, sondern in der geistigen Rache äußert. In diesem ewigen Kampf stellt sich Nietzsche auf die Seite der Starken und nennt den Übermenschen als höchstes Ziel. Foucault sieht die Politik, aber auch die Moral und die Wissenschaft, ebenfalls als Schauplatz von Machtkämpfen. Foucault ergreift jedoch Partei für die Unterworfenen, für diejenigen, die gegen die herrschenden Verhältnisse aufbegeh‐ ren. Es geht immer um die Befreiung des Einzelnen, der sich den Normen und der Kontrolle der Gesellschaft ausgesetzt sieht. 70 Foucault 2008c, S. 792. 71 Wie Honneth bemerkt, konzentriert sich Foucault bei seiner Analyse auf das Leiden des Kör‐ pers unter der Disziplinarmacht, aber „[…] in seiner Theorie [findet sich] nichts, was dieses Leiden als Leiden artikulieren könnte.“ (Honneth 1988, S. 142).
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Damit sind also die Unterschiede in der politischen Theorie benannt, die der ge‐ meinsamen subjektivistischen Position entspringen. Doch lassen sich abgesehen da‐ von ähnliche Denkmuster feststellen, die auf den Subjektivismus verweisen? Zu‐ nächst wurde bei allen drei Autoren deutlich, dass sie das Sein nicht als feststehende Einheit, sondern immer als ein Werden auffassen. Das Sein ändert sich je nach Wahrnehmung (Protagoras), Perspektive (Nietzsche) oder Diskurs (Foucault).72 Die Schwierigkeit, die sich bei allen drei Ansätzen aus ihrer ontologischen Prämisse er‐ gibt, ist die Auflösung der Sprache. Da das jeweilige Sein immer relativ zu der es konstituierenden Bewegung ist, sehen sich die Vertreter dieses Denkens mit der Schwierigkeit konfrontiert, den Inhalt ihrer Lehre zu verbalisieren. Denn eine Be‐ griffsbestimmung ist weder durch eigene Setzung noch ex negativo möglich, da da‐ mit der Gegenstand schon auf die eine oder andere Weise definiert wäre. Einzig ein ‚So-Nicht‘, also eine generelle Ablehnung aller Begriffe, ist für diesen Ansatz mehr oder minder zulässig.73 Ebenso wie Sokrates diese Konsequenz relativistischen Den‐ kens in Bezug auf die protagoräischen Thesen ausführt, so betreiben auch Nietzsche und Foucault eine radikale Begriffskritik: Nietzsche versteht jeden Begriff als will‐ kürliche und den eigentlichen Sachverhalt stark vereinfachende Setzung, und Fou‐ cault lehnt jegliches Konzept der Kontinuität und Sinnhaftigkeit ab. Daraus folgt, dass auch die eigenen, neu geschaffenen Begriffe einerseits als mutwillig gesetzt, andererseits als unstetig gedacht werden müssen. Dies führt zu nicht unerheblichen Inkonsistenzen innerhalb der jeweiligen Argumentation. Nietzsche muss auch den Schwachen einen Willen zur Macht zugestehen, was seiner Theorie insofern schadet, als nicht mehr ersichtlich wird, warum sie bekämpft werden sollen. Gleiches wider‐ fährt Foucault, wenn anhand seines Systems nicht mehr eindeutig zwischen Macht und Widerstand unterschieden werden kann. Da weder das eine noch das andere als feste Größe gedacht werden darf, ist der Übergang fließend. Da sich Foucault zwar selbst auf der Seite des Widerstands verortet, im Gegensatz zu Nietzsche aber kein normatives Ziel erkennen lässt, ist sein Kampf immer situativ und kurzatmig; es bleibt der politische Aktionismus. Auch der Sensualismus ist bei allen drei Positionen wiederzufinden.74 Daraus er‐ gibt sich eine materialistische Denkweise, die alles Geistige auf das Körperliche zu‐ rückführt. Wahrheit und Vernunft sind unauflöslich mit Machtstreben verbunden. Während für Protagoras die Rationalität, durchaus positiv gewertet, ein Hilfsmittel 72 Vgl. Platon, Theaitetos 160 b/c; bei Nietzsche entspricht das dem dionysischen Vernichtungs‐ treiben (Vgl. Nietzsche 1993, S. 50 [56]); bei Foucault dem Rauschen des Diskurses (Vgl. Fou‐ cault 2010, S. 33). 73 Vgl. Platon, Theaitetos 183b. Sokrates führt an dieser Stelle aus, dass die Vertreter des Relati‐ vismus keine bestimmte Eigenschaft (‚Nicht-So‘) ablehnen, sondern ihre Kritik nur verallge‐ meinernd (‚So-Nicht‘) ausdrücken können. 74 Vgl. Platon, Theaitetos 151e; Nietzsche geht davon aus, dass die Begriffsbildung lediglich auf äußerlichen Reizen beruht (Vgl. Nietzsche 1973, S. 372) und auch Foucault führt jede geistige Tätigkeit auf den Körper zurück (Vgl. Foucault 2008c, S. 792).
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zum Überleben ist, nimmt sie bei Nietzsche und Foucault ab einem gewissen Grad sogar lebensfeindliche Züge an. Der Intellekt, der zunächst nur ein Instrument des Körpers war, verselbständigt sich und will das Mittel-Zweck-Verhältnis zu seinen Gunsten umkehren. Ob nun die physisch Schwachen mithilfe ihres Intellekts die le‐ bensbejahende Kraft der physisch Starken dämonisieren oder ob die Macht die Kör‐ per mittels des Wissens über das Subjekt kontrolliert – beide Male wendet sich der Geist gegen den Körper, um über ihn zu herrschen. Welche Schwierigkeiten ergeben sich daraus für die politische Theorie? Erstens ist es gemäß der subjektivistischen Annahme nicht möglich, für den eigenen Stand‐ punkt Allgemeingültigkeit zu beanspruchen. Nietzsche knüpft an die subjektivisti‐ sche Lesart des Homo-mensura-Satzes an und zersplittert konsequenterweise das bis dato maßgebende Subjekt. Was im Menschen wirkt, ist nicht er selbst, sondern der Wille zur Macht. Damit ist auch Protagoras‘ bürgerliches Reziprozitätsdenken ent‐ larvt, das in den Augen Nietzsches Ausdruck von Unterlegenheit ist – nur der, der zu schwach ist, um über andere zu herrschen, ist auf Ausgleich bedacht. Das Ideal des wertesetzenden und sich selbst schaffenden Individuums zeugt dagegen von Stärke. Doch auch das auf den alles zersetzenden Perspektivismus gründende Konzept des Übermenschen kann nicht lange bestehen bleiben. In Anlehnung an Nietzsches Aus‐ spruch über den Tod Gottes und dem Ende aller Metaphysik bemerkt Foucault, dass nach dem Aufdecken der Diskontinuität des Diskurses nicht geglaubt werden darf, der Ausweg aus der Widersprüchlichkeit der Welt sei nun im Menschen zu suchen: „Denkt aber nicht, daß ihr aus all dem, was ihr sagt, einen Menschen macht, der län‐ ger lebt als er [Gott, VJ].“ 75 Zweitens löst die dem Subjektivismus zugrunde liegen‐ de Lehre vom bewegten Sein eine Relativierung jeglicher Begriffe aus. Daraus re‐ sultiert eine bereits bei Protagoras angelegte Instrumentalisierung von Begriffen, die von Nietzsche und Foucault nun im Zeichen des Kampfes immer als Unterdrückung seitens der Herrschenden ausgelegt wird. Doch wenn jeder Begriff unstetig und nur das Ergebnis eines Ringens um Deutungshoheit ist, muss das auch für die neu einge‐ führten Begriffe gelten. Auch sie können nur als Überwältigungsversuch gelesen werden und müssen sich zudem durch möglichst große Unbestimmtheit auszeich‐ nen. Damit eignen sich die neuen Begriffe nicht mehr zum Dialog im herkömmli‐ chen Sinne, sondern höchstens noch zur Selbstdurchsetzung. Drittens vermag keiner der drei Denker seine subjektivistische Weltsicht konse‐ quent umzusetzen. Abgesehen davon, dass eine Pluralisierung des Wahrheitsbegriffs immer mit der Relativierung der eigenen Meinung einhergeht, werden auch die in‐ haltlich gesetzten ‚Wahrheiten‘ von keinem der Theoretiker realisiert. Um als Lehrer oder Intellektueller tätig werden zu können, müssen Protagoras, Nietzsche und Fou‐ cault auf ‚objektive‘ Kriterien zurückgreifen und dem Nutzen, dem Willen zur 75 Foucault 2010, S. 699. Diese Stelle lässt sich als eine Ablehnung von Nietzsches ‚Übermen‐ schen‘ lesen.
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Macht und dem Widerstand außerordentliche Eigenschaften zuschreiben, die nicht mit ihren epistemologischen Prämissen vereinbar sind. Es ergibt sich: Eine subjektivistische Erkenntnistheorie zieht nicht nur unter‐ schiedliche Wahrheiten nach sich, sondern auch unterschiedliche politische Theori‐ en. So rechtfertigt der Relativismus den Pluralismus in der Demokratie, aber eben auch dessen Gegenteil, nämlich das Unterdrücken anderer Meinungen im Namen des Stärkeren – je nachdem, ob man von einer prinzipiellen Gleichheit oder Un‐ gleichheit der Menschen ausgeht. Die subjektivistische Erkenntnistheorie selbst gibt kein klares Menschenbild vor, die beliebige inhaltliche Ausfüllung desselben ist je‐ doch ganz im Sinne dieser Denkweise: Da das Maß im Subjekt angelegt ist, kann dieses auch subjektiv die Prämissen seines Denkens bestimmen.
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Peter Kainz Sophistik und Spieltheorie. Die Modernität sophistischen Denkens und die Grenzen des (methodologischen) Individualismus
1. Einleitung Der Titel „Sophistik und Spieltheorie“ eröffnet Raum für ein mögliches methodi‐ sches Missverständnis, welches vorab aufgeklärt sein soll. Im Sinne einer „intellec‐ tual history“ könnte man den Nachweis einer Denklinie erwarten, die von der Antike bis in die Gegenwart in verschiedenen Stationen nachvollzogen werden soll, um den Ursprung und die Weiterentwicklung bestimmter sophistischer Ideen und Theorien über verschiedene ideengeschichtliche Stationen hinweg nachzuweisen. Ein solcher Ansatz soll hier nicht gewählt werden, vielmehr arbeitet der vorliegende Beitrag mit dem Mittel einer Strukturanalogie. Diesem Ansatz liegt die Erfahrung zugrunde, dass menschliches Nachdenken über Politik und Gesellschaft zwar einerseits immer eingebettet in bestimmte historische und damit kontingente Kontexte stattfindet, dass dieses Nachdenken jedoch andererseits immer wieder auf bestimmte Prämissen bezüglich der Natur oder des Wesens des Menschen und den daraus resultierenden Konsequenzen für das Verhältnis zu anderen Menschen zurückgreift. Nun gibt es zwar zahlreiche Möglichkeiten, den Menschen zu interpretieren, aber ein Blick auf die Geschichte der politischen Ideen zeigt, dass diese nicht in unbegrenzter Zahl vor‐ kommen, sondern dass sich bestimmte Deutungsmuster wiederholen. Damit wird die Möglichkeit eines epochenübergreifenden und kontextunabhängigen Vergleichs poli‐ tischer Theorien eröffnet, der sich auf die Essenz des jeweiligen Denkens fokussiert. Vor diesem Hintergrund ist es die These dieses Beitrags, dass es in der Sophistik und in der Spieltheorie eine Strukturanalogie gibt. Diese Strukturanalogie liegt we‐ sentlich in einem individualistischen Menschenbild und einer subjektivistischen Er‐ kenntnistheorie begründet, woraus sich wiederum vergleichbare politische und ge‐ sellschaftliche Schlussfolgerungen ergeben. Ziel des Beitrags ist es zum einen aufzu‐ zeigen, wie ‚modern‘ die Sophistik in ihrem Denken bereits war beziehungsweise wie ‚antik‘ moderne Ansätze politischer Theoriebildung sind. Zum anderen sollen über den reinen Vergleich hinausgehend auch die Grenzen und Widersprüche dieses Denkens herausgearbeitet werden. Die Beschäftigung mit der Sophistik wird also nicht nur aus einem rein ideengeschichtlich geleiteten Erkenntnisinteresse gewählt, sondern aus dem philosophischen Ansinnen heraus, Erkenntnisse für (politik‑)wis‐ senschaftliche Ansätze der Gegenwart ableiten zu können. Dies gilt insbesondere,
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weil uns das theoretische Korpus der Sophistik einerseits überwiegend durch die Dialoge Platons vermittelt wird, sich in diesen andererseits aber auch eine herausfor‐ dernde intellektuelle Gegenposition findet, welche die Schwächen und Grenzen des sophistischen Denkens aufzeigt, heute jedoch kaum im wissenschaftlichen Diskurs vertreten ist. In diesem Beitrag soll anhand ausgewählter Positionen gearbeitet werden, deren subjektivistischer und individualistischer Charakter als paradigmatisch angesehen werden kann. Der Blick liegt exemplarisch auf einem individualistischen Staatsver‐ ständnis, das in Platons zweitem Buch der Politeia referiert wird und das stark durch die Lehre des Protagoras geprägt scheint. Konstitutiv für ein solches Staatsverständ‐ nis ist eine Anthropologie und Ethik, die als zentrales Thema im platonischen Dia‐ log Gorgias verhandelt wird. In einem ersten Schritt wird zu zeigen sein, wie dieses Staats- und Menschenverständnis in gleicher Weise auch im Denken von Thomas Hobbes verankert ist und wie es in Form des ‚methodologischen Individualismus‘ in gegenwärtigen Rational-Choice-Ansätzen und der in diesen Ansätzen verwendeten Spieltheorie zum Tragen kommt. Dabei wird wiederum exemplarisch das sehr be‐ kannte Modell des Gefangenendilemmas aufgegriffen, das aufgrund seiner Struktur und seiner Prämissen besonders dazu geeignet ist, die Analogie zum sophistischen Denken aufzuzeigen. Im zweiten Schritt soll die philosophische Hinterfragung eben‐ dieses Denkens in den Fokus rücken, wie sie im Dialog Gorgias vorgeführt wird, um auf diese Weise zu einer Reflektion über die Grenzen des (methodologischen) Indi‐ vidualismus im Rahmen seiner eigenen Prämissen zu gelangen.
2. Sophistisches und neuzeitliches Vertragsdenken und methodologischer Indidualismus Nachdem im ersten Buch der Politeia das sogenannte „Recht des Stärkeren“ durch den Sophisten Thrasymachos vertreten und widerlegt wird,1 knüpft das zweite Buch mit der erneuten Aufforderung der Dialogpartner Glaukon und Adeimantos2 an die vorangehende Diskussion an, Sokrates solle nachweisen, warum es für ein Individu‐ um besser und nützlicher sei, sich gerecht zu verhalten, wenn ungerechtes Handeln einen individuell größeren Nutzen verspreche. Um diese Position zu erläutern, wird insbesondere durch Glaukon ein Konzept von Gesellschaft und Gerechtigkeit refe‐ riert, das dieser als zeitgenössisch bekannte und verbreitete Lehre darstellt. Dieses
1 Zum Stellenwert des ersten Buches der Politeia im platonischen Staatsdenken vgl. Zehnpfennig 2008a. 2 Politeia, 358b-361d.
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Konzept weist sehr große Ähnlichkeiten mit vertragstheoretischen Ansätzen der Neuzeit auf.3 Gerechtigkeit wird durch Glaukon als Kompromiss dargestellt, der einen begrenz‐ ten individuellen Nutzen ermöglicht, für das Individuum jedoch immer nur die zweitbeste Wahl ist. Von Natur aus, so Glaukon, würden Menschen sich – vor die Wahl gestellt – stets für ungerechtes Handeln entscheiden, wenn damit ein Vorteil zu gewinnen sei, anstatt gerecht zu handeln, denn Gerechtigkeit sei nicht nur anstren‐ gend, sondern auch von wenig individuellem Nutzen. Er pflichtet dem Sophisten Thrasymachos bei, der im ersten Buch der Politeia „Gerechtigkeit als fremdes Gut“ bezeichnet hat: gerechtes Handeln diene dem Vorteil der anderen, nicht jedoch dem eigenen. Trotz dieser individuellen Präferenz für eine persönliche Nutzenmaximie‐ rung auf Kosten der Mitmenschen führe die Erfahrung von Ungerechtigkeit, die man durch andere erleben müsse, zu der Erkenntnis, dass selbst ungerecht behandelt zu werden als persönlich nachteiliger empfunden werde als der gewonnene Vorteil durch das eigene unrechte Handeln. Überträgt man diese Überlegungen auf ökono‐ mische Kategorien, so werden die Kosten, unter der Ungerechtigkeit der Anderen zu leiden, als höher empfunden als der Nutzen, der aus den eigenen ungerechten Hand‐ lungen gezogen werden kann. Aus diesem Grund erscheine es den Menschen als nützlich, sich einem gemeinsamen Gesetz unterzuordnen, um sich der gegenseitig ausgeübten Ungerechtigkeit und der insgesamt negativen Rendite dieses Zustandes zu entziehen.4 Die unausgesprochene Prämisse, die dieser Argumentation zugrunde liegt, ist die einer relativen Gleichheit der Menschen hinsichtlich ihres Vermögens, sich gegenseitig zu übervorteilen. Die Ähnlichkeit des im Dialog durch Glaukon vorgetragenen Gerechtigkeitskon‐ zepts zur Theorie des Naturzustandes, wie sie zweitausend Jahre später durch Thomas Hobbes im bürgerkriegserschütterten England des 17. Jahrhunderts formu‐ liert wird, ist kaum zu übersehen. Für Hobbes ist das summum malum der gewaltsa‐ me Tod durch die Hände eines Anderen, während Glückseligkeit darin liegt, seine individuellen Bedürfnisse und Ziele fortlaufend zu verwirklichen.5 Die fundamenta‐ le Gleichheit der Menschen besteht für ihn nicht in einer Gleichheit von natürlichen Gaben oder Rechten, sondern in dem Vermögen, sich gegenseitig zu töten: Selbst der Schwache vermag es, den Starken im Schlaf zu überwältigen und ihn seines Le‐ bens zu berauben. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Dialog und dem Denken von Hobbes ist lediglich auf der Ebene der Begrifflichkeiten zu erkennen. Weil Hobbes ein positivistisches Rechts- beziehungsweise Gerechtigkeitsverständnis vertritt, kann es für ihn im Naturzustand keine per se gerechten oder ungerechten 3 Kahn 1981 zeichnet in einem prägnanten Beitrag die Wurzeln des Sozialvertragsdenkens im 5. Jahrhundert v. Chr. nach und stellt Bezüge zu späteren Vertragstheorien des 17. und 20. Jahrhun‐ derts her. 4 Politeia, 358e-359b. 5 Vgl. Hobbes, Leviathan, Kapitel VI, S. 48.
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Handlungen geben,6 sondern diese Begriffe erhalten erst durch die Einführung eines Rechtssystems unter einem Souverän einen Sinn. Abstrahiert man jedoch von den unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die im Dialog und bei Hobbes verwendet wer‐ den, so liegt beiden Ansätzen eine identische Prämisse bezüglich der menschlichen Natur zugrunde, nämlich die behauptete Neigung aller Menschen, den eigenen Vor‐ teil gegebenenfalls auch auf Kosten anderer Menschen zu maximieren. Bei Hobbes wird dies besonders deutlich: So zielt sein Ansatz darauf ab, Kooperation zwischen den Menschen durch die Androhung von Strafe zu erzwingen oder zumindest indivi‐ duelles Fehlverhalten zu verhindern. Gleichwohl postuliert er es auch im Gesell‐ schaftszustand als völlig rationales Verhalten, sich über die Gesetze hinwegzusetzen, wenn dieses Handeln entweder unbemerkt beziehungsweise ungestraft bleibt oder der Nutzen der Gesetzesübertretung höher als die Kosten der Strafe ist. Die Täter verhalten sich in diesen Fällen lediglich normal, also eigennutzenmaximierend, wenn der Souverän durch zu mildes oder zu nachlässiges Strafen Anreize zur Geset‐ zesübertretung (i.e. Ungerechtigkeit) gibt.7 Der Naturzustand wird bei Hobbes zwar überwunden, aber er bleibt als Potenz in der menschlichen Veranlagung erhalten und wird nur durch die Gesetze und die Angst vor Strafe gezügelt. Im Vergleich ergibt sich aus den vorgenannten beiden Prämissen, nämlich erstens der Gleichheit in Bezug auf die Fähigkeit, sich gegenseitig zu übervorteilen bezie‐ hungsweise zu schaden, und zweitens der Annahme einer radikal den Eigennutz ma‐ ximierenden Natur des Menschen eine universale Präferenzordnung in Hinblick auf die Interaktion mit anderen Menschen. 1. Beste Lösung 2. Kompromiss 3. Schlechte Lösung 4. Schlechteste Lösung
andere übervorteilen, selbst nicht übervorteilt oder gestraft werden andere nicht übervorteilen, selbst nicht übervorteilt werden andere übervorteilen, selbst übervorteilt oder gestraft werden andere nicht übervorteilen und selbst übervorteilt werden
In dieser Gegenüberstellung werden der überzeitliche Charakter und die ‚Moderni‐ tät‘ sophistischen Denkens erkennbar. Es findet nicht nur eine Entsprechung in einer der wirkmächtigsten Gesellschaftstheorien des 17. Jahrhunderts, sondern ist auch in der Gegenwart in Rational-Choice-Ansätzen beobachtbar, die in ihren Modellen auf den Annahmen des methodologischen Individualismus und des Konstrukts eines ho‐ mo oeconomicus aufbauen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Es muss in diesem Zusammenhang auch auf eine mögliche Kritik an einem sol‐ chen Vergleich hingewiesen werden: Während bei Hobbes und in dem im Dialog skizzierten Ansatz eine allgemeingültige Prämisse hinsichtlich der menschlichen Natur formuliert wird, betonen die Vertreter eines Rational-Choice-Ansatzes, dass sie keine allgemeingültige Aussage über die Natur des Menschen treffen möchten,
6 Vgl. Hobbes, Leviathan, Kapitel IV, S. 26; XIII, S. 98. 7 Vgl. Hobbes, Leviathan, Kapitel XXVII, S. 225, 233; XXVIII, S. 238.
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sondern sich des homo oeconomicus lediglich als eines heuristischen Analyseinstru‐ ments für soziale Interaktionen, Kooperationsanreize und -hindernisse bedienen.8 Für die folgende Analyse ist es jedoch zunächst unerheblich, ob der homo oecono‐ micus nun als rein theoretisches Konstrukt angesehen oder ob in seinen Prämissen ein konkretes Menschenbild propagiert wird, da es zunächst darum gehen soll, die strukturelle Ähnlichkeit im Denken herauszuarbeiten. Um diese strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem sophistischen Konzept, dem An‐ satz von Thomas Hobbes und der Rational-Choice-Theorie darzustellen, wird auf ein bekanntes und häufig verwendetes spieltheoretisches Modell eingegangen, das im Folgenden kurz skizziert wird: das sogenannte „Gefangenendilemma“, welches beispielsweise benutzt wird, um zu erklären, warum Kartelle nicht zwangsläufig funktionieren, wie es Mafia-Organisationen gelingt, das Schweigen ihrer Angehöri‐ gen (omertà) zu erzwingen oder inwiefern beispielsweise Rüstungswettrennen eine inhärente Rationalität aufweisen können.9 Das Gefangenendilemma skizziert eine Entscheidungssituation, in der zwei Indi‐ viduen, ohne die Möglichkeit miteinander zu kommunizieren, wählen müssen, ob sie sich gegeneinander kooperativ verhalten oder eine nicht-kooperative Strategie wählen werden. Hinsichtlich der Entscheidungspräferenzen der Individuen wird ge‐ setzt, dass diese sich dem Prinzip des homo oeconomicus gemäß rational verhalten und versuchen, ihren Nutzen zu maximieren. Dies beinhaltet in dem Modell, dass sie auch die Handlungen der anderen Person antizipieren, die nach den gleichen Prinzi‐ pien entscheidet. Nutzenmaximierung bedeutet hier durchaus auch, potentiellen Schaden zu minimieren, also ‚negativen Nutzen‘ zu vermeiden. Die Dilemmastruk‐ tur in diesem Modell ist dabei stets so gewählt, dass die Kooperation zwar einen po‐ tentiell höheren Nutzen für beide verspricht, diese Kooperation jedoch nicht ver‐ wirklicht werden kann, da die Vermeidung der individuell schlechtesten Situation von beiden Personen die bevorzugte Strategie ist. Es kommt in diesem Modell also stets in einer für beide Individuen suboptimalen Situation zu einem sogenannten Nash-Gleichgewicht.10 Dies wird im Folgenden näher erläutert. Normalerweise wird für dieses Modell auf ein Beispiel zurückgegriffen, in dem zwei Kriminelle in unterschiedlichen Zimmern verhört werden. Ihnen wird ein 8 9
Vgl. z. B. Braun 1999, S. 39f.; Homann/Lütge 2013, S. 67–70. Zur Darstellung des Gefangenendilemmas im Rahmen von Rational-Choice-Ansätzen vgl. z. B. Brams 1975, S. 20–39; Axelrod 1984; Homann/Lütge 2013, S. 25–27. 10 Die Dissertation des Mathematikers John Forbes Nash von 1950 gilt als wesentliche theoreti‐ sche Grundlage für die Anwendung der mathematischen Spieltheorie in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Ein Nash-Gleichgewicht findet in nicht-kooperativen Spielen Anwen‐ dung. Es liegt dann vor, wenn es für keinen der Spieler Anreize gibt, einseitig die eigene Hand‐ lungsweise (Strategie) zu verändern – bei gleichzeitiger Berücksichtigung der wahrscheinli‐ chen Handlungsoptionen der Mit- beziehungsweise Gegenspieler. Eine gute Zusammenfassung spieltheoretischer Annahmen und eine weitergehende Erläuterung des Nash-Gleichgewichts gibt Braun 1999, S. 189–200.
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schweres Verbrechen zur Last gelegt; ihre Täterschaft kann aber nicht hinreichend bewiesen werden. Gleichzeitig kann ihnen ein leichteres Verbrechen nachgewiesen werden. Also bietet ihnen die Staatsanwaltschaft einen ‚Deal‘ an: •
•
•
Wenn eine Person gesteht und die andere Person nicht gesteht, so erhält die erste Person eine Kronzeugenregelung und bleibt straffrei. Die zweite Person muss in diesem Fall eine langjährige Strafe für beide Verbrechen absitzen. Gestehen beide Personen nicht, so kann ihnen das schwere Verbrechen nicht nachgewiesen werden und sie müssen nur die kürzere Strafe für das leichtere Verbrechen in Kauf nehmen. Gestehen beide das schwere Verbrechen, so wird beiden das volle Strafmaß für dieses Verbrechen zuerkannt.
Diese Anreizstruktur kann in Abbildung 1 nachvollzogen werden. Wie zuvor erläu‐ tert, liegt das Nash-Gleichgewicht nach den Annahmen der Rational-Choice-Theorie stets im Quadranten 1, da es für beide Personen rational ist, die Strategie „gestehen“ zu wählen und zwar unabhängig davon, ob sie risikoavers oder risikoaffin sind: Bei‐ de vermeiden durch das Geständnis die individuell schlechteste Lösung mit dem größtmöglichen negativen ‚pay-off‘ (10 Jahre Haft)11 und halten gleichzeitig die Möglichkeit offen, die individuell beste Lösung12 zu erzielen (nämlich: ungestraft zu bleiben). Rechtstaatlich gesehen ist die Schaffung einer solchen Anreizstruktur höchst pro‐ blematisch. Die Unschuldsvermutung wird ad absurdum geführt, wenn die Anreize so gesetzt sind, dass es unabhängig von der Frage nach der tatsächlichen Täterschaft eines Beschuldigten für das Individuum rational erscheint, ein Verbrechen zu geste‐ hen oder nicht zu gestehen beziehungsweise einen anderen unabhängig von dessen Täterschaft zu belasten. Ersetzt man im obigen Beispiel schlicht die beiden ‚Verbre‐ cher‘ durch unschuldig Inhaftierte in einer Diktatur, denen – aus welchen Gründen auch immer – zwei Vergehen zur Last gelegt werden, so wäre nach der Logik des
11 Axelrod 1984, S. 8 bezeichnet dies als „sucker’s payoff“, also frei übersetzt als Ertrag des ar‐ men Würstchens. 12 Bei Axelrod 1984, S. 8 wird dies als „temptation“, also als Versuchung bezeichnet.
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Gefangenendilemmas das Ergebnis identisch: Beide würden gestehen und sich so‐ wohl gegenseitig als auch selbst belasten, wissend, dass sie unschuldig sind. Abbildung 1: Gefangenendilemma
Als erstes Zwischenfazit lässt sich festhalten: Das Gefangenendilemma als spiel‐ theoretisches Modell funktioniert nach der gleichen Logik wie der hobbessche Na‐ turzustand.13 In diesem ist das Leben „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“14, weil das individuelle Streben nach Nutzenmaximierung Kooperation und Vertrauen zwischen den Individuen als irrational erscheinen lässt: Zum einen lockt die Möglichkeit, durch das Übervorteilen einer anderen Person den größtmöglichen Nutzen zu erlangen, zum anderen besteht kein Anlass zu glauben, dass man nicht übervorteilt würde und am Ende mit materiellen Verlusten oder sogar dem Tod zu rechnen hätte. Überspitzt formuliert: Verhalten, das wir vor dem Hintergrund einer christlich-abendländischen oder kantischen Ethik als ethisch richtig beurteilen wür‐ den (Vertragstreue, Wahrheitstreue, etc.), ist in diesen Modellen seinem Wesen nach irrational und selbstschädigend, bei Hobbes sogar der menschlichen Natur wider‐ sprechend. In dieser Hinsicht stellt sich die Frage, ob das rein analytisch gemeinte 13 So auch Braun 1999, S. 49f. 14 Hobbes, Leviathan, Kapitel XIII, S. 96.
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spieltheoretische Modell nicht auch einen zumindest implizit präskriptiven Charak‐ ter beinhaltet, der politische Konsequenzen hinsichtlich des gesellschaftlichen Zu‐ sammenhalts hat: Wenn die Rahmenbedingungen es zulassen, so die Implikation, ist es für ein Individuum lohnender und gewinnbringender und somit auch rationaler, sich auch wider ethische oder gesetzliche Regeln einer Gemeinschaft zu verhalten. Dies gilt zumindest, solange der zu erwartende Nutzen größer ist als eine eventuelle Strafe.15 Dies zeigt jedoch ebenfalls, dass das Gerechtigkeitskonzept, das Glaukon in der Politeia referiert, die Prämissen und die Konsequenzen des spieltheoretischen Modells „Gefangenendilemma“ bereits beinhaltet und die damit verbundene ethi‐ sche Fragestellung vorwegnimmt, indem Glaukon sich der Begrifflichkeiten „Un‐ recht tun und Unrecht leiden“ bedient. Dies gilt es noch etwas weiter zu vertiefen. Bisher wurde das Gefangenendilemma klassisch mit einer Auszahlungsmatrix dargestellt, in der die zu erwartende Strafe als negativer Nutzen abzulesen war. In Abbildung 2 wird das Modell aufbauend auf der Sozialtheorie Glaukons (und Hobbes’) erweitert. Statt der zu erwartenden Freiheitsstrafe wird die Begrifflichkeit Glaukons von „Unrecht tun“ und „Unrecht leiden“ verwendet. Anstatt der beiden Strategien „gestehen / nicht gestehen“ wird von „betrügen / nicht-betrügen“ gespro‐ chen. Um Glaukons und Hobbes’ Konzept abzubilden, wird auch das Gesetz berück‐ sichtigt. Ohne das Gesetz läge das Nash-Gleichgewicht, wie schon beschrieben, in Quadrant 1, da die dominante Strategie im gegenseitigen Betrug liegt, solange es keine Sanktionsgewalt gibt, die Kooperation erzwingt. Die Individuen vermeiden auf diese Weise die für sie individuell schlechteste Situation, nämlich betrogen zu werden, ohne selbst betrogen zu haben. Durch die Einführung eines Gesetzes ändert sich die Situation jedoch – unter der Androhung einer Strafe (und einer durchset‐ zungsfähigen richtenden Instanz) wird der Betrug künstlich ‚verteuert‘, so dass die Individuen nun einen Anreiz haben, einander nicht zu betrügen beziehungsweise da‐ rauf vertrauen zu können, nicht betrogen zu werden. Insgesamt verschiebt sich das Nash-Gleichgewicht auf den Quadranten 4, und der Gesamtnutzen für alle Individu‐ en steigt. Die Einführung der Gesetze führt zu einer Verhaltensänderung bei den In‐ dividuen, sie ändert jedoch nichts an deren Präferenzordnung und Kalkül: Individu‐ ell bleibt es dabei, dass ein größerer Nutzen zu erlangen wäre, wenn es gelänge, die Anderen zu betrügen und dabei zugleich die gesetzliche Strafe zu vermeiden. Ein In‐ dividuum wäre dann am besten gestellt, wenn es ihm dauerhaft möglich wäre, im Anschein der (Vertrags-) Gerechtigkeit zu bleiben, während es Verträge zu seinen
15 Dass ein Studium der Wirtschaftswissenschaften, in denen lange Zeit fast ausschließlich mit dem Modell des homo oeconomicus gearbeitet wurde, möglicherweise negative Auswirkungen auf das Sozialverhalten der Studierenden haben könnte, wurde in den 1990er Jahren durch Frank/Gilovich/Regan 1993 und 1996 aufgrund ihrer experimentellen Forschung als These for‐ muliert.
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Gunsten bräche respektive es ihm sogar gelänge, die Struktur der Rahmenordnung zu seinem eigenen Vorteil zu verändern. Abbildung 2: Gefangenendilemma mit ethischen Kategorien
Diese Konsequenz ist bei Hobbes zumindest angedacht, wenn er von der Schuld des Souveräns spricht, wenn dieser Strafen nicht hoch genug ansetzt und damit für die Individuen starke Anreize schafft, Gesetze zu brechen.16 Sie ist auch in der Politeia aufgezeigt, wenn Glaukon dies aus den zuvor formulierten Annahmen ableitet. Er verwendet dabei das Beispiel des Rings des Gyges: In diesem Mythos nutzt ein Schäfer einen Ring, der Unsichtbarkeit verleiht, um heimlich seinen Gelüsten zu frö‐ nen und sich zum Herrscher aufzuschwingen. Der Mythos wird mit der Frage nach dem Nutzen der Gerechtigkeit verbunden: Warum sollte ein Mensch sein Verhalten an gesellschaftlichem Recht und konventionellen Moralvorstellungen orientieren, wenn es einem Ungerechten gelingen kann, durch Verbrechen zu höchsten Ehren und Ansehen, zu Reichtum und Glückseligkeit zu gelangen? Das Heranziehen des Mythos von Gyges ist insofern aufschlussreich, weil hier das Dilemma des individualistischen Ansatzes, nämlich das Interesse, den eigenen Nutzen auf Kosten anderer zu maximieren, und die faktische Unfähigkeit, dies dau‐ 16 Vgl. FN 7.
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erhaft erfolgreich zu tun, durch die Einführung eines magischen Gegenstands über‐ wunden werden kann. Der magische Ring kann damit auch als ein Symbol für eine erwerbbare Fähigkeit oder eine Kunstfertigkeit interpretiert werden, die einem Indi‐ viduum die Möglichkeit eröffnet, ungestraft Unrecht zu tun beziehungsweise sich das Gesetz zu eigen zu machen, um den eigenen Vorteil dauerhaft zu erlangen. An dieser Stelle soll der Bezug zu einem weiteren Dialog Platons hergestellt wer‐ den, dem Gorgias, der als letzter der Frühdialoge gilt. Dieser Dialog ist insofern für die vorliegende Thematik relevant, weil hier die Frage nach der Durchsetzbarkeit in‐ dividueller Interessen und Ziele vor dem Hintergrund der Rhetorik diskutiert wird. Die Rhetorik ist als das erlernbare Analogon zum Ring des Gyges zu verstehen, eine techné, die es ihrem ‚Meister‘ ermöglicht, im innergesellschaftlichen Kampf um Macht und Ressourcen den maximalen Nutzen abzuschöpfen. Gleichzeitig werden aber auch die Themen individuelle Ethik, Freiheitsverständnisse und Autonomie verhandelt, die von zeitloser Aktualität sind.
3. Sophistische Rhetorik und individuelle Selbstdurchsetzung im Gorgias17 Im Gorgias wird die individuelle Präferenzordnung, die in der Politeia durch Glau‐ kon dargestellt wird und die sich ebenfalls in der Theorie von Thomas Hobbes sowie im Rational-Choice-Modell nachweisen ließ, insbesondere durch die beiden Sophis‐ ten Polos und Kallikles18 propagiert. Sie versuchen, die Rhetorik als eine Streitkunst zu legitimieren, welche es ermöglicht, sich im politischen Meinungskampf der Polis durchzusetzen und den eigenen Nutzen zu maximieren. Der Dialog beginnt im Grie‐ chischen mit den Worten „Krieg“ und „Kampf“ (polemou kai maches), womit der Ton, das Rhetorikverständnis der Dialogpartner sowie die existentielle Bedeutung der nachfolgenden Ausführungen semantisiert werden. Thema des Dialoges ist zunächst die (vermeintliche) Macht der Rhetorik, die als „Streitkunst“ in Analogie zum Ringen, zum Faustkampf und zum Fechten gesetzt wird.19 Ausgedehnt wird diese Thematik jedoch zu einer wesentlich breiter angeleg‐ ten Untersuchung, nämlich der ethischen Frage danach, wie man sich verhalten soll, um gut zu leben. Dieser Zusammenhang ergibt sich logisch aus der Behauptung des Gorgias, die Rhetorik vermöge den Menschen das „in der Tat […] größte Gut“ zu verschaffen, „kraft dessen die Menschen sowohl selbst frei sind als auch über andere herrschen“.20 Die Rhetorik wird hier folglich als Mittel der individuellen Lebensop‐ 17 Die Ausführungen im folgenden Abschnitt beruhen in Teilen auf Kainz 2012, S. 341–351. 18 Polos von Akragas gilt als ein Schüler des historischen Gorgias. Von seinen Schriften ist keine erhalten geblieben. Für die Person des Kallikles gibt es keine anderen Quellen als den Dialog Gorgias. 19 Vgl. Gorgias, 456cd. 20 Gorgias, 452d.
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timierung dargestellt. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass der Dialog die Themen‐ komplexe Individualismus, Autonomie und Freiheit verhandelt,21 womit die zentra‐ len Anknüpfungspunkte zum Individualismusverständnis bei Thomas Hobbes und in der Rational-Choice-Theorie bestehen. Der Dialog besteht aus drei Teildialogen des Sokrates mit den Gesprächspartnern Gorgias, Polos und Kallikles. Im Verlauf des Dialogs sind eine Radikalisierung der Positionen sowie eine zunehmende Aggressivität der Dialogpartner zu beobachten. Der ältere Meister Gorgias22 wagt es nicht, das konventionelle Verständnis von Gerechtigkeit infrage zu stellen,23 während sein Schüler Polos eine Position vertritt, die den Nutzen der Gerechtigkeit leugnet, Ungerechtigkeit hingegen als vorteilhaft ansieht. Der jüngere Kallikles schließlich vollendet diese Bewegung, propagiert eine vollständige Ablehnung der konventionellen Gerechtigkeitskonzeption und ersetzt diese durch das Naturrecht im Sinne des Rechts des Stärkeren. Den Zusammenhang zwischen diesen Positionen gilt es an späterer Stelle ausführlicher zu erläutern. Im ersten Teil des Dialogs wird Gorgias als vollendeter Meister der Rhetorik ein‐ geführt, der für sich in Anspruch nimmt, auch andere Menschen zu solcher Meister‐ schaft erziehen zu können. Den individuellen Nutzen der Rhetorik sieht Gorgias da‐ rin, frei sein und herrschen zu können. Durch Sokrates nach dem Wesen und dem Gegenstand seiner Kunst befragt, wird dialogisch herausgearbeitet, dass es sich um eine Streitkunst handelt, die eine Meinung durch Überreden erzeugt. Grundsätzlich verortet Gorgias die Redekunst im Rechtlichen, also vor Gericht, und besteht darauf, dass die Kunst nur rechtmäßig anzuwenden sei. Im Falle eines Missbrauchs fordert er, den Täter, nicht jedoch den Lehrer zu bestrafen. Dieser letzte Hinweis auf den rechtmäßigen Gebrauch der Streitkunst führt Gorgi‐ as jedoch in die Aporie: Sobald er von einem richtigen und einem falschen, das heißt einem gerechten und einem ungerechten Gebrauch der Rhetorik spricht, akzeptiert er einen objektiven Maßstab. Die Nachfrage von Sokrates, ob er seinen Schülern die‐ sen Maßstab durch Belehrung vermittle, bejaht er und muss der Folgerung zustim‐ men, dass ein durch Belehrung gerecht gewordener Mensch nicht ungerecht handeln 21 So auch Gardeya 2007, S. 8. 22 Der Dialog mit Gorgias: 449a-461b. 23 Gorgias von Leontinoi gilt als einer der berühmtesten Sophisten seiner Zeit und als Begründer der Rhetorik als eigenständiger Disziplin. Er war zu Lebzeiten hochangesehen, wurde wohl über 100 Jahre alt und erwarb sich durch seine Lehrtätigkeit großen Reichtum. Die verbliebe‐ nen Fragmente seiner Lehre ebenso wie Testimonien zu seinem Leben und seiner Lehre sind übersichtlich zusammengetragen, eingeführt und übersetzt bei Buchheim 1989. Die Interpretation des Dialogs geht im Folgenden nicht näher darauf ein, ob Platons Kunstfigur Gorgias dem entspricht, was der historische Gorgias lehrte. Zeitgenössische Quellen lassen da‐ rauf schließen, dass Gorgias die Rhetorik, neben deren Etablierung zu einer eigenständigen äs‐ thetischen Kunstform, durchaus als Mittel der Selbstdurchsetzung ansah, ein Mittel mit dem der erfahrene Redner den Kairos, also die günstige Gelegenheit, erkennen und gestalten konn‐ te. Eine Deutung der Lehre des historischen Gorgias geben Buchheim 1989, S. VII-XXXIII, hier: S.XXVIII und Verdenius 1981.
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kann.24 Wenn Gorgias seine Schüler also die Gerechtigkeit lehrt, wie er behauptet, ist eine Warnung vor der ‚falschen‘ Anwendung der Rhetorik widersprüchlich. Gor‐ gias behauptet also etwas zu lehren, dass er, wie sich zeigt, nicht zu lehren vermag: er weiß offensichtlich also selbst nicht, was gerecht und ungerecht ist. Damit hat sei‐ ne „Kunst“ aber auch ihren Gegenstand verloren, denn die Rhetorik sollte ja in Ge‐ richtssachen, also in Fragen der Gerechtigkeit ihre Anwendung finden. Gorgias muss eingestehen, dass der Rhetor in Bezug auf das Gerechte und Ungerechte nur Wissen vortäuscht und Glauben erzeugt, was schlussendlich lediglich auf eine Lehre hinausläuft, die der reinen Selbstdurchsetzung dient. Das Scheitern des Gorgias liegt darin begründet, eine Technik der individuellen Selbstdurchsetzung zu lehren, gleichzeitig jedoch einen überindividuellen Gerech‐ tigkeitsmaßstab für deren korrekte Anwendung aufzustellen, der nicht begründet werden kann. An diesem Scheitern zeigt sich auch das Grunddilemma, welchem auch ökonomische Modelle des politischen Handelns früher oder später zwangsläu‐ fig begegnen: der Konflikt zwischen den Grenzen des Gesetzes und dem Primat der individuellen Lebensoptimierung. Letzlich liegt das Ansinnen ökonomischer Model‐ le der Politik durchaus darin, gesamtgesellschaftliche Kooperationsgewinne durch die Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen unter Berücksichtigung der (ge‐ gebenenfalls modellhaft) vorausgesetzten individualistischen und nutzenmaximie‐ renden Natur des Menschen zu erwirken.25 Auch Thomas Hobbes hat sein Konzept formuliert, um zu zeigen, dass der Gesamtnutzen einer Gesellschaft steigt, wenn es eine Sanktionsmacht gibt, die (Rechts-)Sicherheit herstellt und durch deren Wirken eine stabile Ökonomie erst wachsen kann. Wie im Gefangenendilemma in Abbil‐ dung 1 zu sehen, ist der aggregierte (negative) Nutzen, hier vereinfacht dargestellt im Handeln zweier Personen, insgesamt höher, wenn diese kooperieren, als wenn sie sich gegenseitig betrügen: Bei Kooperation zwischen den Angeklagten beträgt der aggregierte negative Nutzen insgesamt vier Jahre Haft, beim gegenseitigen Verrat hingegen 16 Jahre Haft und beim einseitigen Verrat zehn Jahre Haft. Die Bereit‐ schaft, sich individuell zu mäßigen, um den gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu er‐ höhen, wird jedoch von den eigenen Prämissen stets infrage gestellt: Wenn voraus‐ gesetzt wird, dass der primäre Antrieb eines Individuums darin liegt, den eigenen Nutzen zu maximieren, ist die Orientierung an einem Maßstab wie dem gesamtge‐ sellschaftlichen Nutzen, der durch die Einhaltung der Gesetze garantiert werden soll, lediglich Teil eines Kalküls von Chancen und Risiken. Überwiegen die Chancen, so ist eine Gesetzesübertretung rational und durch die Prämissen des Ansatzes letztlich gedeckt. Eine qualitative Kritik eines solchen Verhaltens verböte sich dann schlecht‐ hin, denn nach welchem Maßstab sollte man kritisieren? 24 Damit ist nicht gesagt, dass die Gerechtigkeit gelehrt werden kann. Es werden lediglich die ei‐ genen Prämissen des Gorgias auf ihre logische Konsistenz geprüft. 25 Vgl. z. B. Homann 2007, S. 10–20.
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Gorgias’ Scheitern markiert den Übergang zum zweiten Dialogpartner: Ange‐ sichts der Widerlegung seines Lehrers konfrontiert Polos Sokrates mit dem Vorwurf der Unanständigkeit.26 Er argumentiert, dass ein stilles Einvernehmen zwischen al‐ len Menschen bestehe, wonach sich jeder als im Besitz der Gerechtigkeit befindlich darstelle. Gleichzeitig wisse aber auch jeder, dass man nicht wirklich gerecht sein müsse. Folglich empfindet es Polos als unsittliches Handeln von Sokrates, daraus einen Widerspruch zu konstruieren. Gorgias sei laut Polos nur gescheitert, weil er aus Scham nicht öffentlich eingestehen wollte, dass er nicht gerecht sei und eine Technik lehre, die auch zu unrechten Zwecken eingesetzt werden könne. An dieser Stelle ist in der Argumentation von Polos ein Muster erkennbar, das auch im späte‐ ren Übergang zum Dialog mit Kallikles vorgeführt wird, das zugleich auch der sub‐ jektivistischen Grundhaltung der Dialogpartner entspricht. Polos projeziert seine ei‐ genen Prämissen und seine eigene Ideologie auf Gorgias, Sokrates und alle anderen Menschen, denen er unterstellt, ebenso zu denken wie er. Der berühmte homo men‐ sura-Satz des Sophisten Protagoras findet hier seine konsequente Anwendung, in‐ dem sich Polos selbst zum Maßstab erhebt. Die von Gorgias hervorgebrachte These, dass selbst zu herrschen und frei zu sein das Gute für den Menschen sei, greift Polos anschließend wieder auf. Es wird jedoch schnell offensichtlich, dass er die von Gorgias zumindest vordergründig noch vorge‐ nommene Begrenzung von Individualismus und Handlungsfreiheit durch das Recht aufhebt. So behauptet er, Tyrannen und Redner hätten die größte Macht, weil sie in der Lage seien, tun zu können, was sie wollten. Konkret bedeutet dies für ihn, ande‐ re Menschen mittels der staatlichen Gewalt berauben, vertreiben und töten lassen zu können.27 Polos versteht Freiheit also als Zügellosigkeit und sieht ihren Wert darin, willkürlich herrschen zu können. Dieser Argumentation entgegnet Sokrates, dass Tyrannen und Redner tatsächlich machtlos seien, weil sie lediglich meinten zu tun, was sie wollten: nämlich das für sie Gute. Sie irrten sich jedoch in Bezug auf das, was für sie gut sei. Folglich täten sie nicht, was sie wollten – denn jeder wolle ja das tatsächliche und nicht nur das vermeintliche Gute. Dies bedeute, dass sie faktisch ohnmächtig seien. Die zwei Lebensmodelle, die hinter der Position des Polos und der des Sokrates stehen, kann man, wie in Tabelle 1 abgebildet, kontrastieren. Die Position von So‐ krates beinhaltet die Auffassung, dass Unrecht zu tun immer schlechter sei als Un‐ recht zu leiden, was auch eine ungerechte Strafe einschließen könne. Ferner argu‐ mentiert Sokrates, dass es besser sei, für getanes Unrecht gestraft zu werden, als un‐ gestraft Unrecht getan zu haben. Polos entgegnet, dass derjenige glückselig sei, der stets Unrecht tun könne, ohne dafür Strafe erwarten zu müssen. Derjenige hingegen, dem Unrecht widerfahre und 26 Der Dialog mit Polos: Gorgias, 461b–481b. 27 Vgl. Gorgias, 466c.
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der selbst kein Unrecht täte, lebe Polos zufolge am weitesten von der Glückseligkeit entfernt. Redner und Tyrannen besäßen seines Erachtens die größte Macht, da sie keine Strafe durch ein Gesetz zu fürchten hätten. Bei der Position von Polos (ver‐ gleiche Tabelle 1) handelt es sich um die Verbalisierung eben der Logik, die der hob‐ besschen Anthropologie und dem Gefangenendilemma der ökonomischen Spieltheo‐ rie zugrunde liegt, womit erneut deutlich wird, wie modern beziehungsweise zeitlos die Sophistik in ihrem Denken ist. Umso mehr muss auch gelten, dass die Widerle‐ gung einer solchen sophistischen Position in der philosophischen Prüfung auch Kon‐ sequenzen für Positionen der Gegenwart haben muss. Im Dialog wird die Widerlegung von Polos möglich, weil er zwar einerseits die Nützlichkeit des Unrechts propagiert, auf Nachfrage von Sokrates jedoch zugibt, dass Unrecht zu tun „hässlicher“ sei als Unrecht zu leiden. Dieses „Hässliche“ bezie‐ hungsweise Unschöne ist dabei nicht als ästhetische Kategorie zu verstehen, sondern hat normativen Gehalt und entspricht darüber hinaus auch dem Alltagsdenken: Es mag zwar Vorteile bringen, andere zu betrügen, aber niemand möchte dabei im Ruf eines Betrügers stehen. Mit dieser Aussage wird klar, dass Polos’ Denken von einem Rest traditioneller Rechts- und Moralvorstellungen durchsetzt ist und seine Maßstä‐ be noch nicht vollkommen subjektiviert sind. Indem er sich jedoch auf einen nichtsubjektiven Maßstab einlässt, hier den des Schönen, gemessen an welchem sich das Unrechttun als hässlicher erweist, verwickelt er sich in einen Selbstwiderspruch und muss zwangsläufig zugeben, dass eine Handlung, die nicht schön ist, auch nicht gut sein kann.28 Tabelle 1: Konfrontation zweier Lebensmodelle Wie lebt man individuell am besten?
Polos
Sokrates
individuell beste Lösung
Unrecht tun und keine Strafe leiden
kein Unrecht tun und kein Unrecht leiden
zweitbeste Lösung
kein Unrecht tun und kein Unrecht leiden
kein Unrecht tun und Unrecht leiden
schlechte Lösung
Unrecht tun und Strafe leiden
Unrecht tun und Strafe leiden
schlechteste Lösung
kein Unrecht tun und Unrecht leiden
Unrecht tun und keine Strafe leiden
Das Scheitern der beiden sophistischen Positionen im Dialog liegt in ihrem eigenen Subjektivismus begründet, der aber nicht konsequent durchgehalten wird, sondern immer wieder in Konflikt gerät, wenn nicht-subjektive Maßstäbe anerkannt werden: Gorgias unterscheidet zwischen einer richtigen und einer falschen Verwendung der Rhetorik mit der Gerechtigkeit als Maßstab. Polos unterscheidet zwischen normativ 28 Die Widerlegung des Polos findet sich detailliert in: Gorgias, 474c-479e.
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schönen und hässlichen Handlungen, was sich letztlich wieder auf einen Maßstab zurückführen lässt, der zwischen gut und schlecht unterscheidet. Beiden Positionen ist inhärent, dass sie ein subjektives Wissen voraussetzen, welches sie offensichtlich nicht haben – nämlich das Wissen darüber, was für sie selbst gut ist. Diese Überzeu‐ gung jedoch, jedes Individuum wisse am besten, was sein Gutes ist, kann man im Kern auch als die Essenz des individualistischen Denkens der Neuzeit ebenso wie des methodologischen Individualismus bezeichnen. Der Dialog mit Polos zeigt, dass dieses vermeintliche Wissen nicht mehr ist als eine Meinung, die wahr oder falsch sein kann. Im Falle von Polos erweist sich die Überzeugung als Irrtum, dass derjeni‐ ge, der als Tyrann ungestraft Unrecht tun könne, glückselig lebe. Die Präferenzordnung, die in der sophistischen Position von Polos propagiert wird und die eine Entsprechung im Denken von Thomas Hobbes und in den theore‐ tischen Grundlagen des Gefangenendilemmas findet, wird durch die vorstehenden Überlegungen fundamental in Frage gestellt. Die Argumentation ist jedoch noch nicht vollständig und bleibt vorerst angreifbar. Zum einen könnte man die bisherige Untersuchung dadurch kritisieren, dass man auf die konstruierte Form des Dialoges verweist. Indem der Autor, Platon, den von ihm konstruierten Dialogpartnern die Anerkennung von Maßstäben zuschreibt, so ließe sich argumentieren, eröffnet er die Möglichkeit zu deren Widerlegung und diskreditiert damit gezielt subjektivistische und individualistische Denkmodelle. Zum anderen, so könnte man außerdem aufwerfen, sei die vermeintliche Erkennt‐ nis im Dialog mit Polos, nämlich, dass das Unrechtleiden besser sei als das Unrecht‐ tun, kontrafaktisch. Da sich ein Betrüger zwangsläufig materiell besser stellt als der Betrogene, lässt sich eine solche Behauptung nur halten, wenn man gleichzeitig be‐ weist, dass sich ein unrecht Handelnder zwar materiell besser stellt, aber dennoch objektiv schlechter lebt. Eine solche Frage nach dem guten Leben lässt sich nur auf geistiger Ebene beantworten. Hängt aber das gute Leben von einem geistigen Maß‐ stab ab, so bleibt die Widerlegung des Polos solange unvollständig und angreifbar, bis bewiesen ist, warum das Geistige dem Materiellen überlegen ist beziehungswei‐ se warum das Gute nicht im Materiellen zu finden sein kann. Es ist im Gespräch mit dem dritten Dialogpartner, Kallikles, in dem diesen mögli‐ chen Einwänden begegnet wird, so dass der Vollzug der Denkbewegung erst nach der Auseinandersetzung mit dem radikalsten der drei Gesprächspartner seinen Ab‐ schluss finden kann.29 Kallikles reagiert auf die vorangegangenen Gespräche und die Ausführungen des Sokrates zunächst mit Verwunderung: Wenn Sokrates Recht habe, so lebten doch al‐
29 Der Dialog mit Kallikles: Gorgias, 481b-522e.
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le Menschen völlig verkehrt.30 Er kontert mit dem Argument, dass Polos nur wider‐ legt werden konnte, weil er sich verbal an jene gesellschaftliche Konvention gehal‐ ten habe, die das Unrechttun als hässlich setze. Polos trifft an dieser Stelle eben je‐ ner Vorwurf, den dieser zuvor gegen Gorgias ausgesprochen hatte: Er schäme sich aus Angst vor der öffentlichen Meinung zuzugeben, dass er das Unrecht für schöner und besser halte. Mit dieser Entgegnung ist aber auch auf einer Metaebene schon die oben dargestellte mögliche Kritik am bisherigen Dialog ausgesprochen, nämlich dass die Dialogpartner von Sokrates in die Aporie geführt werden können, weil sie Dinge zugestehen, die sie eigentlich nicht so meinen. Indem Kallikles also frei von jeder Scham im folgenden Teil des Dialogs in einer großen Rede31 die Position von Polos radikalisiert, kommt seiner Widerlegung sowohl dialogimmanent als auch auf einer Metaebene eine zentrale Bedeutung zu. Kallikles behauptet, Unrecht zu tun sei nicht nur individuell nützlicher, sondern universell besser und schöner, als Unrecht zu leiden. Damit attackiert er das politi‐ sche Vertragsmodell, das uns bereits bei Glaukon begegnet ist: Recht und Gesetz als Kompromiss, um nicht größeren Schaden durch das Unrecht der anderen zu erlei‐ den. Die Position von Kallikles, die sich in gleicher Weise bei Thrasymachos in der Politeia, bei Machiavelli, Nietzsche oder Hitler findet,32 propagiert nun eine natürli‐ che Ungleichheit der Menschen, wonach es den Stärkeren und Besseren von Natur aus gebühre, mehr zu haben als die Schwachen. Die Konvention und das Gesetz sei‐ en widernatürliches Regelwerk und Mittel der vielen Schwachen, um die wenigen Starken zu bändigen. Um der Gefahr des Verlustes zu entgehen, hätten sich die Schwachen auf das Prinzip der Gleichheit geeinigt und gäben dieses als das Schöne und Gerechte aus. In Analogie zu Nietzsche könnte man dies im Sinne von Kallikles durchaus als eine demokratische Sklavenmoral bezeichnen. Gleichwohl prophezeit Kallikles die Destruktion dieser aus seiner Perspektive widernatürlichen Ordnung durch einen Starken: Wenn aber, denke ich, einer mit einer recht tüchtigen Natur zum Manne wird, so schüttelt er das alles ab, reißt sich los, durchbricht und zertritt alle unsere Schriften und Gaukelei‐ en und Besprechungen und widernatürlichen Gesetze und steht auf, offenbar als unser Herr, er, der Knecht, und eben darin leuchtet recht deutlich hervor das Recht der Natur.33
30 Gorgias, 481c. Voegelin verweist auf die existentielle Betroffenheit, die in dieser Frage mit‐ schwingt: „Callicles has rightly sensed the revolution in the words of Socrates. This is not a mere intellectual game. If Socrates is right, then society as represented by the politician Calli‐ cles is wrong.“ (Voegelin 1949, S. 476). 31 Vgl. Gorgias, 482c–486d. 32 Zur strukturellen Ähnlichkeit zwischen Kallikles, Nietzsche und Hitler und der überzeitlichen Dimension des von Kallikles vertretenen Denkens vgl. Zehnpfennig 2008. Zum Vergleich der Positionen von Thrasymachos und Kallikles vgl. Barney 2004, Waechter 2002. Leo Strauss 1958, S. 292 betont die Ähnlichkeiten zwischen Machiavelli, Thrasymachos und Kallikles. 33 Gorgias, 484a-b.
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Kallikles’ Plädoyer für das Recht des Stärkeren ist letztlich die radikalste Form des Subjektivismus, die keine anderen Wertmaßstäbe anerkennt als die erfolgreiche Selbstdurchsetzung eines Individuums gegenüber den anderen. Da Kallikles darauf besteht, dass es sich bei den Begriffen „stärker“ und „besser“ um Synonyme hande‐ le, läuft seine Position auf die Behauptung hinaus, dass es gerecht sei, wenn die Bes‐ seren mehr hätten als die Schwachen, über diese herrschten und ihnen das Eigentum nach Belieben wegnähmen. Auch hier bleibt die grundlegende Position des Gorgias noch erkennbar, die in aller Radikalität zu Ende gedacht wurde: Kallikles will selbst frei sein und herrschen, wobei für ihn der Wert der Freiheit vor allem in der Unter‐ drückung der anderen liegt. Aufgrund der Gleichsetzung des Stärkeren mit dem Besseren ist eine Widerle‐ gung analog zu der des Thrasymachos in Politeia I möglich: Viele Menschen sind stärker als ein Einzelner, folglich müssen sie auch besser sein. Aus diesem Grund müssen ihre Gesetze und Konventionen auch gemessen an dem von Kallikles veran‐ schlagten Maßstab der Natur besser sein. Die Nomos-Physis-Antithese, die Kallikles gegen die Argumentation von Sokrates in Stellung gebracht hat, wird damit hinfäl‐ lig. Kallikles benötigt zwei Neudefinitionen, um zu verdeutlichen, was gemeint ist, wenn er die Existenz einer natürlichen Qualität behauptet, welche die einen Men‐ schen über die anderen erhebt. Kallikles wird an dieser Stelle mit einem Problem konfrontiert, jene Qualität benennen zu müssen, aus der sich die natürliche Hierar‐ chie ableiten soll. Kallikles formuliert schließlich die These, dass der Einsichtsvolle‐ re in Staatsangelegenheiten besser und tapferer sei und deswegen mehr haben und herrschen solle.34 Dies klärt zumindest, dass er offensichtlich nicht die physische Stärke für das zentrale Merkmal des Besserseins hält, sondern dass es sich um eine Form geistiger Stärke handeln muss, welche zum politischen Herrschen befähigen soll. An dieser Stelle wendet sich die Untersuchung einer zunächst überraschenden Fragestellung zu, denn Sokrates fragt Kallikles, ob das Herrschen auch das Sichselbst-Beherrschen, die Besonnenheit, einschließen müsse. Da bislang noch nicht einmal geklärt ist, was Kallikles mit dem Begriff des „Einsichtsvolleren“ meint, lei‐ tet diese Frage sehr abrupt zu einem neuen Thema über und wirkt wie ein Bruch im Dialog. Es ist jedoch stringent nachvollziehbar, warum die Untersuchung diese Wen‐ dung nimmt: Kallikles propagiert eine Hierarchie zwischen Geist und Körper. Aus dem geistigen Bessersein soll ein materielles Herrschaftsverhältnis über andere Menschen begründet werden. Mit seiner Frage nach der Besonnenheit möchte So‐ krates also prüfen, inwiefern Kallikles diese Hierarchie wirklich ernst meint, ob in
34 Vgl. Gorgias, 491a-d.
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seinem Denken der Geist auch den eigenen Körper beherrschen, ob der Herrschende also besonnen sein soll. Kallikles’ Antwort zeigt jedoch, dass er den Geist in den Dienst des materiellen Bedürfnisses stellt und ein sehr modernes Verständnis von Glückseligkeit propagiert. Gut lebt für Kallikles nur der unbesonnene Mensch, der tun und lassen kann, was er will und – ganz im Sinne des Lustprinzips – eine Begierde nach der anderen befrie‐ digt. Die Ähnlichkeit zu den anthropologischen Prämissen eines Thomas Hobbes ist frappierend und reicht bis in die Formulierung hinein, dass die Toten glückselig wä‐ ren, wenn Glückseligkeit nicht ein Prozess des Fortschreitens von Lust zu Lust wä‐ re.35 Im Gegensatz zu Kallikles legt Thomas Hobbes jedoch die Annahme menschli‐ cher Gleichheit zugrunde, so dass der Wettbewerb der Menschen das individuelle Luststreben stets behindert. Analog zu Thomas Hobbes, aber auch analog zu gemä‐ ßigteren Denkern wir beispielsweise John Locke, identifiziert Kallikles also die Lust mit dem Guten, besteht aber darauf, dass nur der von Natur aus Bessere zu erkennen vermag, wie sich seine individuelle Lust realisieren lässt. Folglich kann nur derjeni‐ ge glückselig sein, der herrscht und weder seiner Lust noch seiner Habsucht Gren‐ zen gesetzt sieht. Die Identifikation der Lust mit dem Guten hat zur Folge, dass Kallikles es ver‐ meidet, wie Polos anhand eines nicht-subjektiven Maßstabs gemessen zu werden. Da die Lust für ihn eine subjektiv erfahrbare Größe ist, weiß tatsächlich jeder, was das Gute (für ihn) ist – darüber hinausgehend beweist sich dann derjenige, der sich gegenüber allen anderen durchsetzt, als der wahrhaft Gute, wenn es ihm gelingt, sei‐ ne Lust zu verwirklichen und die anderen gegebenenfalls an ihrem eigenen Luststre‐ ben zu hindern. Dieses Konzept kann allerdings nur dann aufgehen, wenn sich die Lust tatsächlich als das Gute herausstellt. Sokrates muss also diese neue Prämisse – Lust = gut – aufgreifen und sie prüfen. Kann er beweisen, dass die Lust nicht das Gute ist, so muss auch der Subjektivismus von Kallikles aufgegeben werden. Die In‐ anspruchnahme des Geistes durch das Körperliche würde damit hinfällig. Um dem Widerspruch zu entgehen, zwischen guter und schlechter Lust unter‐ scheiden zu müssen und so einen nicht-subjektiven Maßstab anzuerkennen, definiert Kallikles jede Lust als gut, auch beispielsweise die Lust eines Knabenschänders, womit er wiederum die Grenzen konventioneller Moralvorstellungen sprengt. Auch in der Identifikation des Guten mit der Lust, wie sie Kallikles vornimmt, ist der überzeitliche Charakter des sophistischen Denkens erkennbar. Sie findet wiederum in Moraltheorien des 17. Jahrhunderts eine Entsprechung, so zum Beispiel wie zuvor schon erwähnt bei John Locke. Dieser qualifiziert das Lustprinzip jedoch dahinge‐ 35 Vgl. Gorgias, 492e, 494b in Kombination mit dem Bild, das Hobbes vom Leben als einem Rennen in den Elements of Law (Naturrecht, 1.Teil, IX, S. 77) zeichnet: „Stets den nächsten vor uns besiegen ist Glück; / Und das Rennen aufgeben heißt sterben.“ Vgl. auch die Defini‐ tion der Glückseligkeit im Leviathan (VI, S. 48): „Ständigen Erfolg im Erlangen der Dinge, die man von Zeit zu Zeit begehrt, das heißt ständiges Wohlergehen, nennt man Glückseligkeit.“
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hend, dass er nicht jede Lust (also z. B. die des Trinkers) für gut befindet, sondern nur die wirklich gute Lust. Er muss dafür jedoch einen transzendenten Maßstab im Jenseitigen annehmen, der moderierend auf das Verhalten und das Lustreben im Diesseits wirken soll – insofern stellt auch er letztlich ein geistiges Prinzip über das rein Körperliche.36 Genau dieser Konsequenz möchte Kallikles entgehen, wenn er jegliches Angenehme als gut setzt. Die Widerlegung von Kallikles erfolgt schließlich anhand von zwei logischen Be‐ weisen. Der erste Beweis erfolgt aus der von Kallikles eingestandenen Prämisse, dass das Gute nicht gleich dem Schlechten, das Gute jedoch mit der Lust identisch ist. Indem Sokrates auf eine mögliche Gleichzeitigkeit von Lust und Unlust ver‐ weist, indem man zum Beispiel Durst hat und trinkt, folgt daraus logisch, dass die Lust und das Gute nicht identisch sein können. Der zweite Beweis folgt aus der Be‐ hauptung des Kallikles, der Einsichtsvolle und Tapfere sei der Gute. Wenn sich je‐ doch zeigt, dass auch feige und törichte Menschen, also die Schlechten, Lust (i.e. das Gute) verspüren, womöglich sogar mehr als andere, würde dies bedeuten, dass die schlechten Menschen besser wären als die guten. Angesichts der Widerlegung ist Kallikles gezwungen, die Gleichsetzung von Lust und Gutem aufzugeben, was zu einer Differenzierung zwischen guter und schlechter Lust führt, die er unbedingt vermeiden wollte. Damit ist der vermeintlich subjektive Maßstab für das Gute, die Lust, jedoch wieder an ein objektives Kriterium und einen objektiven Maßstab gebunden, an das nämlich, was den Unterschied zwischen guter und schlechter Lust ausmacht: das Gute. Ferner folgt aus der Widerlegung, dass das Gute nicht im Materiellen gefunden werden kann. Dies hat sich bereits an früherer Stelle im Dialog abgezeichnet, als sich die Präferenzordnung, die Polos aufstellte, als nicht haltbar erwies. Die Überlegenheit des Unrechtleidens über das Unrechttun findet so auch im Dialog mit Kallikles eine Affirmation, wie Sokrates betont: [...] jedes andere Unrecht gegen mich und das Meinige ist für den, der es begeht, beides, übler und schändlicher, als für mich, an dem es begangen wird. Dieses [...] bleibt fest und wohl verwahrt, sollte das auch zu derb klingen, mit eisernen und stählernen Gründen, wie es ja noch scheint, welche du oder ein noch Mutigerer ent‐ weder lösen muß, oder es wird unmöglich sein, anders als ich getan und doch richtig über die Sache zu reden. Denn ich bleibe immer bei der selben Rede, daß ich zwar nicht weiß, wie sich dies verhält, daß aber von denen, die ich angetroffen, wie auch jetzt, keiner im‐ stande gewesen ist, etwas anderes zu behaupten, ohne dadurch lächerlich zu werden.37
Als einzige logische Konsequenz der Erkenntnis, dass das Gute nicht im Materiellen begründet sein kann, bleibt der Umkehrschluss übrig, dass das Gute sich nur im Geistigen finden lässt. Eine Versklavung des Geistes im Namen des Körperlichen, wie sie Kallikles vornimmt, wird durch seine Widerlegung als Gefährdung der eige‐ 36 Vgl. dazu Euchner 2004, S. 56–67; Kainz 2012, S. 153–157. 37 Gorgias 509a.
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nen Glückseligkeit entlarvt. Diese Überlegenheit des Geistes wird bei Aristoteles propagiert, wenn er beispielsweise in der Nikomachischen Ethik38 das Leben des Philosophen als höchstwertige Lebensform beschreibt. Im Gorgias wird die Überle‐ genheit des Geistigen als logisch zwingend in nachvollziehbaren Schritten vorge‐ führt. Die Diagnose führt nicht nur dazu, dass die gesamte Ideologie des Kallikles so‐ wie sein Lebensmodell kollabieren,39 sondern sie fordert die Grundlagen des indivi‐ dualistischen Denkens insgesamt heraus, was zum Abschluss noch einmal darge‐ stellt werden soll.
4. Grenzen des (methodologischen) Individualismus und des Subjektivismus In den vorangehenden Ausführungen wurde eine strukturelle Analogie aufgezeigt zwischen dem Denken der Sophistik, der Theorie von Thomas Hobbes und dem me‐ thodologischen Individualismus, welcher anhand des spieltheoretischen Modells des Gefangenendilemmas erörtert wurde. Dabei zeigte sich auch das Grunddilemma, mit dem alle Gesellschaften konfrontiert sind, in denen der Individualismus eine konsti‐ tutive Grundlage des gesellschaftlichen Selbstverständnisses darstellt: nämlich das Spannungsverhältnis, das zwischen einem Interesse am Erhalt der Gesellschaft und an der Maximierung des individuellen Nutzens besteht. Geht man vom Grundantrieb des Menschen aus, seinen Nutzen zu maximieren, so besteht stets ein Konflikt zwi‐ schen kollektiven Normen und dem ureigenen menschlichen Streben nach Mehr. Gesetz und Moralvorstellungen erscheinen vor einem solchen individualistischen Verständnis des Menschen einerseits als Schutz vor der Übergriffigkeit des anderen, andererseits zugleich als widernatürliche Grenze und Hindernis für das individuelle „Streben nach Glück“. Nun ist zu betonen, dass es für Thomas Hobbes das zentrale Anliegen ist, Sicher‐ heit und gesellschaftliche Stabilität zu gewährleisten, ebenso wie zeitgenössische Anhänger des Modells des homo oeconomicus darauf bedacht sind, sozialverträgli‐ ches Verhalten und gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgewinne über die Gestaltung der Rahmenbedingungen und der Anreizstrukturen zu bewirken. Die Ansätze sind also in ihrer Zielsetzung konstruktiv gedacht, nicht gesellschaftsfeindlich. Dabei be‐ rücksichtigen sie auch eine zeitliche Komponente: Axelrod weist beispielsweise da‐ rauf hin, dass sich bei der mehrfachen Wiederholung des Spiels „Gefangenendilem‐ ma“ zwischen den gleichen Spielern langfristig eine kooperative Strategie durchset‐ 38 Aristoteles, Nikomachische Ethik, X, 7, 1177 a11–1178 a7; 8, 1178 b8–23. 39 Tatsächlich zeigt sich am Ende des Dialogs (Gorgias, 521a-d), dass Kallikles bei seiner Ideolo‐ gie bleibt. Er hat also offensichtlich die Widerlegung zwar kognitiv verstanden, aber die exis‐ tentielle Dimension nicht begriffen.
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ze, weil die Spieler erkennen, dass ihr Nutzen dauerhaft steigt, wenn sie mit ihrem Gegenspieler kooperieren – jedenfalls, solange dieser auch kooperiert.40 Kern des Arguments ist also, dass die wiederholte Interaktion mit Mitmenschen sowohl das gegenseitige Vertrauen wachsen als auch die Erfahrung der Vorteile von kooperati‐ vem Verhalten die langfristigen Wohlfahrtsgewinne erkennen lasse. Aus diesem Grund seien Individuen geneigt, auf kurzfristige Nutzenmaximierung durch Betrug zu verzichten. Dieses konstruktive Ansinnen ändert jedoch nichts daran, dass es eine Leerstelle gibt, die auf Basis der Theorie nicht zu füllen ist: Aufgrund der individualistischen Prämissen ist es unmöglich, einem Individuum eine plausible Begründung dafür zu geben, warum es falsch sein sollte, zu betrügen, wenn man dies ungestraft oder un‐ entdeckt tun kann, oder warum es nicht wünschenswert sein sollte, sich in eine Posi‐ tion zu bringen, in der man die gesellschaftliche Rahmenordnung zum eigenen Vor‐ teil manipulieren kann. In diesem Zusammenhang bleibt auch stets die Frage offen, wie es möglich sein kann, vor dem Hintergrund eines rein individualistischen und interessengeleiteten Menschenbildes die Objektivität einer menschengegebenen Rahmenordnung zu begründen.41 Es scheint also so, als profitierte die individualisti‐ sche Gesellschaft von Voraussetzungen, die in der individualistischen Theorie nicht begründet werden können. Wenn liberal-individualistische Gesellschaften folglich von gemeinschaftsförderlichen Elementen (Mitgefühl, religiöse Verpflichtigungen, etc.) zehren, die aber keine theoretische Begründung innerhalb der individualisti‐ schen Theorie finden, so droht stets die Gefahr, dass diese Elemente erodieren, je stärker sich die Gesellschaft individualisiert und je stärker der Einfluss der indivi‐ dualistischen Theoriebildung sich in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Dis‐ kursen niederschlägt. Je stärker sich die Maximierung des individuellen Nutzens zur obersten Maxime entwickelt, desto stärker gewinnen subjektivistische Realitätsdeu‐ tungen an Gewicht: Dass ein amtierender amerikanischer Präsident nicht davor zu‐ rückscheut, offen von „fake news“ zu sprechen, wenn ihm eine Berichterstattung in 40 Diese Strategie wird im spieltheoretischen Jargon als „tit-for-tat“ bezeichnet, also als rezipro‐ kes Verhalten, vgl. Axelrod 1984, Braun 1999, S. 200–213. 41 Historisch ist ein gutes Beispiel für dieses grundlegende Problem in der Diskussion über die amerikanische Verfassung zu finden: Die US-amerikanischen Gründerväter, die den Prototyp einer individualistisch-liberalen Gesellschaft der Neuzeit aus der Taufe hoben, propagierten ein stark eigennutzorientiertes, individualistisches Menschenbild. Gleichzeitig mussten sie argu‐ mentieren, dass im vom Menschen gemachten Verfassungsentwurf keine partikularen Interes‐ sen verankert waren. Um dieses Dilemma aufzulösen, griff James Madison in seiner Rechtfer‐ tigung des Verfassungsentwurfs in den sogenannten Federalist Papers von 1788/89 auf göttli‐ chen Beistand zurück: Dieser, so Madison, habe die verfassungsgebende Versammlung ange‐ leitet und folglich verhindert, dass sich der aggregierte Eigennutz in der Verfassung fortpflan‐ zen konnte (Hamilton/Madison/Jay 1788/89, Nr. 37, S. 235). Es ist kaum verwunderlich, dass eine solche Behauptung nicht unwidersprochen blieb: Rund 120 Jahre später versuchte der marxistisch orientierte Historiker Charles Beard (1913) in seiner ökonomischen Interpretation der amerikanischen Verfassung zu zeigen, auf welche Wei‐ se eine herrschende Geldelite ihre Interessen in der Verfassung verankert habe.
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der Presse nicht gefällt, und seine eigenen Lügen als „alternative Fakten“ präsentie‐ ren lässt, zeigt, wie nah die Sophistik42 und die Gegenwart beisammen liegen, wie abschließend noch einmal festgehalten werden soll. Der Vergleich des methodologischen Individualismus mit den Ansätzen der So‐ phistik wurde deshalb gewählt, weil in der Sophistik das individualistische Denken als Prämisse akzeptiert und in seiner Konsequenz bis auf die Spitze getrieben wird. Die Sophistik geht dabei über die Rational-Choice-Theorie hinaus, indem sie nicht mehr die Frage nach gesellschaftlichem Zusammenhalt stellt, sondern schlichtweg eruiert, wie man individuell den maximalen Nutzen innerhalb einer Gesellschaft ab‐ schöpfen kann, ohne sich mit dem nur zweitbesten Weg des Kompromisses zufrie‐ den geben zu müssen. Die Position, die von Kallikles vertreten wird, ist extrem, aber sie ist letztlich das zwingende Ergebnis, wenn man Individualismus und Subjektivis‐ mus als absolut setzt: Es bleiben dann nur noch der eigene Wille und die eigenen Ziele als Maßstäbe übrig. Der hobbessche Bürger, das Vorbild des homo oeconomi‐ cus, welcher aus Angst vor Strafe eher verschämt und heimlich versucht, den eige‐ nen Nutzen auf Kosten der anderen zu maximieren, und Kallikles, der offen bekennt, seinen Willen durchzusetzen und dabei alle Traditionen von Recht und Moral ver‐ wirft, unterscheiden sich nicht im Grundsatz, sondern nur im Grad voneinander. Es hat sich gezeigt, dass ihre Präferenzordnung (vgl. Tabelle 1) identisch aufgebaut ist. Wenn Kallikles gewissermaßen die tyrannische und materialistische Natur sym‐ bolisiert, die in der individualistischen Theorie in jedem Individuum potentiell ange‐ legt zu sein scheint, so hat auch sein Scheitern eine Rückwirkung auf die individua‐ listische Theorie. Kallikles scheitert, weil sich sein vermeintliches Wissen in Bezug darauf, was er für das Gute hält, als Täuschung herausstellt – es zeigt sich, dass das Gute nicht im Materiellen zu finden ist. Die Annahme jedoch, jeder Mensch wisse selbst am besten, was das für ihn Gute ist, steht im Zentrum jeglicher individualisti‐ schen Gesellschaftstheorie und eröffnet scheinbar den Raum für ein selbstbestimm‐ tes Leben nach eigenen Zielen. Mit Kallikles’ Scheitern wird deutlich, dass dieses Konzept auf einer ungeprüften Prämisse beruht: Es ist möglich, sich hinsichtlich so grundlegender Fragen wie der Frage danach, wie man bestmöglich lebt, fundamental zu irren. Es ist das große Verdienst der platonischen Dialoge, das Denken der Sophistik ernstzunehmen und darzustellen, dessen Prämissen aufzudecken, sie zu widerlegen und dabei einen rationalen Weg zu beschreiten, der in der Moderne verloren gegan‐ gen ist. Es ist wiederum das Verdienst der Sophistik, diese Widerlegung durch den platonischen Dialog provoziert zu haben, indem sie neue Wege des Denkens be‐ schritt. Die Auseinandersetzung mit der Sophistik kann folglich der erste Schritt auf einem Weg sein, auch vor der Deutungsmacht der Rational-Choice-Theorie anhand
42 Zur Parallelität der rhetorischen Praxis bei Kallikles und Trump, vgl. Uhlmann 2017.
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einer vernunftgeleiteten Prüfung die eigenen Wertmaßstäbe zu reflektieren, zu hin‐ terfragen und in einen Diskurs darüber einzutreten, ob sich eine Gesellschaft auf der Basis des Egoismus dauerhaft begründen und erhalten lässt.
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Christina Kast Die Geburt der Tyrannis aus dem Geiste der Sophistik – Thrasymachos und Nietzsche
Es ist die Wahrheitsfrage, die Tyrannei und Terror in sich trägt – dies erscheint JeanFrancois Lyotard, dem Namensgeber der philosophischen Postmoderne, als unum‐ stößliche Gewissheit.1 Wer eine solche politische Wirklichkeit verhüten wolle, müs‐ se bei der Ursache ansetzen und die Wahrheit als Kriterium menschlichen Nachden‐ kens über die Welt suspendieren. An deren Stelle soll laut Lyotard ein Denken rü‐ cken, das auf den Anspruch, einen Konsens zu erzeugen, verzichtet: Es ist das Vor‐ bild des sophistischen Diskurses, in dem er die „Logik, die wir brauchen“2, aus‐ macht. Was den postmodernen Geist mit der antiken Sophistik dabei eint, ist das „Aufhören des Ganzen“3: Die Sophistik wolle keinen Konsens, es gehe ihr nicht um die „Herstellung einer Einheit des Feldes im Namen der Wahrheit“4, wodurch sie kein Potential für politische Radikalismen habe.5 Das Bestreben der Sophistik sieht Lyotard vielmehr auf ein spielerisches Miteinander gerichtet. Anstelle der zwanghaf‐ ten Einheit herrsche hier das Ringen der Vielheit: „Fröhlich und unverantwortlich“6 sei das sophistische Spiel der Meinungen, das in seinem Selbstverständnis zur geisti‐ gen Grundlage einer bunten – d.h. pluralistischen – Gesellschaft herangezogen wer‐ den kann.7 In Friedrich Nietzsches Philosophie sieht Lyotard das Wiederaufleben einer solchen Gesinnung in der Moderne, die darin über sich hinaus auf die Postmo‐ derne verweist.8
1 2 3 4 5 6 7
Vgl. Lyotard 1986. Vgl. Lyotard 2004. Nielsen 2008, S. 95. Lyotard 2004, S. 35. Lyotard 2004, S. 36. Lyotard 2004, S. 36. In der Forschung werden die Sophisten gemeinhin als Vordenker der Demokratie bezeichnet: Bei ihnen sei der „Pluralismus der Meinungen“, welcher jedem endgültigen Wahrheitsanspruch entgegensteht, als die „Quintessenz der Demokratie“ zu finden. Tzermias 2005, S. 60; Ferner: Ottmann 2001, S. 216; Taureck 1995, S. 42. Eduard Zeller verweist in Hinblick auf die Frage nach der individuellen Existenz auf das sophistische Anliegen einer „Lebenskunst und Lebens‐ beherrschung“ durch einen Jeden. Vgl. Zeller 1971, S. 97. 8 Friedrich Nietzsche wird gemeinhin als Vordenker der postmodernen Philosophie angesehen, in‐ sofern die ihr wesentlichen Aspekte bereits bei ihm antizipiert sind. Vgl. Zima 2014, S. 130ff. Die konkrete Wirkmacht der Philosophie Nietzsches auf die Postmoderne kann dabei nicht über‐ schätzt werden. Vgl. Gerlach 2000, S. 496ff.
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Die folgende Untersuchung widmet sich der Prüfung der von Lyotard aufgestell‐ ten These von der Notwendigkeit des sophistischen Denkens für unsere Zeit, welche gegenwärtig in den westlichen Gesellschaften auf einen breiten Konsens trifft, inso‐ fern das postmoderne Denken als das wesentliche Paradigma der Gegenwart ver‐ standen werden kann.9 Infragegestellt wird in diesem Rahmen die postmoderne Ge‐ wissheit, es sei die Verdrängung der Wahrheitsfrage, welche notwendig die Gefahr tyrannischer Herrschaft banne. Es wird der Nachweis geführt, dass die Sophistik selbst – und in ihrer Tradition die Postmoderne10 – den Keim dessen in sich trägt, was sie gerade zu verhüten glaubt: die Tyrannis. Der Grund liegt in eben dem, was das „spielerische Miteinander“ konstituieren soll, nämlich der Auflösung aller ob‐ jektiven Wahrheitskriterien. Die Sophistik sowie die Postmoderne als Grundlage einer Gesellschaftsordnung sind, so wird zu zeigen sein, in sich ambivalent – sie vermögen es sowohl den Boden des einen wie des anderen zu bereiten,11 ob nun De‐ mokratie oder Tyrannis, Gleichheit oder Ungleichheit, Freiheit oder Knechtschaft. Dies wird im Folgenden anhand der Gestalt des Sophisten Thrasymachos aus dem Dialog zur Gerechtigkeit in Politeia I nachvollzogen. Ihm wird Nietzsche zur Seite gestellt, dessen Denken im Gegensatz zu Lyotard nicht als postmoderne Variante ge‐ lesen wird, sondern als eine Philosophie, die maßgeblich in das Postulat der Un‐ gleichheit der Menschen mündet, nach der Herrschaft der Wenigen über die Vielen verlangt und der Grundstruktur sophistischen Denkens im Sinne des Thrasymachos entspricht. Das Denken der beiden wird dabei jeweils entlang dreier Aspekte durch‐ schritten: Zunächst wird die Auflösung einer für den Menschen verbindlichen Wahr‐ heit herausgestellt, was zur Folge hat, dass die Wirklichkeit in eine Pluralität der In‐ teressen und Werte zerfällt. In einem zweiten Schritt wird verdeutlicht, dass die Ab‐ senz eines Wahrheitskriteriums zur Notwendigkeit der Setzung von Wahrheit führt, was in der Opposition einer Herrschaft der Vielen oder eines Einzelnen mündet. Schließlich wird drittens gezeigt, dass sowohl Thrasymachos als auch Nietzsche für den politischen Entwurf der Herrschaft des Einzelnen über die Vielen stehen.
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So schreibt Seyla Benhabib: „Betrachtet man die intellektuelle und universitäre Kultur der westlichen kapitalistischen Demokratien, so haben sich der Feminismus und das postmoderne Denken zu den beiden führenden Gedankenströmungen unserer Zeit entwickelt.“ Benhabib, Seyla, Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis, in: Benhabib/Butler/Cornell/ Fraser (Hrsg.) 1993, S. 9–30, hier: S. 9. 10 Alain Badiou sieht insbesondere in der französischen Philosophie seiner Zeit die Geburt der modernen Sophistik. Vgl. Badiou 1992, S. 75f. 11 Die Verbindung zwischen Postmoderne und autoritären bzw. populistischen Strömungen der Gegenwart thematisiert – wenn auch in äußerst polemischer Form – Boris Schumatsky. Die Auflösung der Wirklichkeit in Narrative und Perspektiven – d.h. die Negation von Wahrheit – lege den Grundstein des populistischen Umgangs mit Wahrheiten. Vgl. Schumatsky 2016.
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1. Thrasymachos Im Mittelpunkt des ersten Buches der Politeia steht die Frage, worin ein gerechtes Leben bestehe. Thrasymachos12 tritt als der letzte von ingesamt drei Dialogpartnern in das Gespäch über die Frage der Gerechtigkeit mit Sokrates ein. Bereits seine Vor‐ redner Kephalos und Polemarchos haben – wenn auch ohne Erfolg – versucht, zu bestimmen, was die Gerechtigkeit selbst sei. Mit Thrasymachos vollzieht sich nun ein Paradigmenwechsel: Das bisherige Gespräch erscheint ihm müßig, ja obsolet, die drei seien befangen in „leerem Geschwätz“13. Der Grund für diese Wertung des bisherigen Dialogs liegt in der für ihn fundamentalen Evidenz, dass von Sokrates et‐ was vorausgesetzt und erfragt wurde, was es gar nicht gibt: nämlich die Gerechtig‐ keit selbst, d.h. ein Wesen der Gerechtigkeit. Von dieser Warte aus soll sich seine Antwort auf die sokratische Frage als eine weit bessere als die bisherigen erwei‐ sen,14 da sie von der von ihm als absurd verworfenen Fragestellung ablässt und einen neuen, realistischeren Zugang zum aufgeworfenen Problem aufzeigt.15 Worin besteht dieser nun?
a) Das Ende der Wahrheit: Vom Einen zum Vielen Den Versuch, das Gespräch vom Kopf auf die Füße zu stellen, unternimmt Thrasy‐ machos in folgender Bestimmung der Gerechtigkeit: Das Gerechte, so Thrasyma‐ chos, sei „nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche“16. Der Annahme, es ge‐ be die eine Gerechtigkeit, welche für alle verbindlich ist und für alle gilt, stellt er damit den Gedanken entgegen, Gerechtigkeit sei jeweils das, was dem Stärkeren nutze. Stärke verortet er auf Nachfrage des Sokrates im politischen Bereich:17 Es seien die Herrscher, die das ihnen Nützliche zum Recht erheben und als Gerechtig‐ keit bezeichnen. Dementsprechend entscheidet die politische Durchsetzungsfähig‐ keit über die Möglichkeit, den eigenen Nutzen zu verwirklichen. Setzt die politische Macht aber das Recht, so gibt es unterschiedliche Formen und Gestalten der Gerech‐ tigkeit, da der Nutzen zwischen den Regenten selbst divergiert: Den demokratischen
12 Einen strukturierten Überblick zur Forschungsliteratur zur Gestalt des Thrasymachos in Poli‐ teia I bietet Raul Heimann in: Heimann 2015, S. 126–137. 13 Platon, Politeia 336 c. 14 Vgl. Platon, Politeia 337 d. 15 Nielsen spricht in diesem Zusammenhang von der „eigentümliche[n] Unterbrechung alltägli‐ chen Lebens“ durch Sokrates. Nielsen 2008, S. 96. Diesem stehen die Sophisten gegenüber als Repräsentanten der Normalität, die eben in dem Nicht-Hinterfragen des Alltäglichen und Ge‐ gebenen auf die Wahrheit hin besteht. Vgl. dazu insbesondere Buchheim 1986. 16 Platon, Politeia 338c. 17 Vgl. Platon, Politeia 338d-338e.
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Regenten ist etwas anderes nützlich als den Aristokraten oder gar dem Tyrannen.18 Aus dieser Bestimmung lassen sich zwei zentrale Konsequenzen herauslesen: Zum einen negiert Thrasymachos die Existenz einer allgemeingültigen – wahren – Gerechtigkeit, die vom Menschen erkannt werden könnte. Ein solcher Wert an sich, der jenseits der menschlichen Perspektive liegt, existiert für ihn nicht. Vielmehr müsse jeder, der die politische Wirklichkeit betrachte, eingestehen, dass es der Mensch selbst ist, der alle Werte hervorbringe. Die plurale Wirklichkeit zeugt für Thrasymachos vor diesem Hintergrund wiederum von den differenten Perspektiven der Menschen und den damit verbundenen gegensätzlichen Interessen. Zum anderen löst sich mit der Negierung der Wahrheit der Maßstab auf, welcher eine feste normative Hierarchie zwischen den verschiedenen Gestalten der Gerech‐ tigkeit etablieren könnte. Das an sich Richtige im Vielen gibt es nicht, was bedeutet, dass nicht mehr von einem absoluten, d.h. unbedingten Wert, welcher den anderen Werten an Richtigkeit überlegen ist, die Rede sein kann. Die verschiedenen Werte verhalten sich relativ zueinander und sind insofern – bemessen an der sachlichen Richtigkeit – gleichwertig. Es ist die Absenz des gemäß des Wahrheitskriteriums Differenz schaffenden Maßstabs, aus welcher Thrasymachos an dieser Stelle die Gleichwertigkeit der Gerechtigkeiten entwickelt. Vor diesem Hintergrund muss die leidenschaftslose Nüchternheit verstanden werden, mit der er den Anspruch demo‐ kratischer sowie tyrannischer Herrschaft auf die je eigene Gerechtigkeit vorträgt und die in einer fundamentalen Opposition zu seiner vehementen Apologie der Tyrannis, die im weiteren Gespräch entfaltet wird, steht. Der distanzierte Analytiker der politi‐ schen Wirklichkeit scheint unvermittelt zur unbedingten Parteinahme für eine be‐ stimmte Formation der Macht zu schreiten. Wie sind diese Extreme zu vereinba‐ ren?19 Der Zusammenhang zwischen Thrasymachos' anfänglicher Relativierung der ver‐ schiedenen Formen von Gerechtigkeit und der folgenden Absolutsetzung der Tyran‐ nis erschließt sich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die deskriptive Betrachtung der Wirklichkeit zugleich eine erkenntnistheoretische Grundlegung für das Lob der 18 Vgl. Platon, Politeia 338d-338e. 19 Diese Widersprüchlichkeit, welche sich in den Gestalten der Sophisten zeigt, wird in der Lite‐ ratur für gewöhnlich auf eine willentlich verzerrte Darstellung durch Platon zurückgeführt. Der Widerspruch liegt demzufolge nicht im Sophisten, sondern ist Produkt der polemischen Prä‐ sentation des Sophisten durch Platon. Vgl. Taureck 1995, S. 12 sowie Schröder 2005, S. 170. Eine andere Auflösung des Widerspruchs findet sich bei Ottmann: Hier wird Thrasymachos als „zynischer Analytiker der Macht“ und Ideologiekritiker vorgestellt, der lediglich beschreiben‐ der Beobachter sei, wobei die Parteinahme für die Tyrannis außer acht gelassen wird. Vgl. Ott‐ mann 2001, S. 216; 225: „Thrasymachos ist ein Urvater der ‚Soziologie‘. Seine These behaup‐ tet gar nicht, daß es so sein soll. Sie sagt nur, dass es so ist. Gerechtigkeit ist nur der Name für das, was den jeweiligen Machthabern nützlich ist (oder nützlich zu sein scheint). Darin verbirgt sich eine erste ‚Ideologiekritik‘, die den Sprachgebrauch auf die Interessen zurückführt, die hinter ihm stehen.“ Dieselbe Vermutung ist zu finden bei Schröder 2005, S. 191 sowie Chappel 1993, S. 11.
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Tyrannis darstellt. Erst die Lösung der Wirklichkeit von einem verbindlichen Maß‐ stab der Wahrheit ermöglicht die Verabsolutierung der eigenen Position und damit des eigenen Nutzens: Da der jeweilige Nutzen sich vor keinem absoluten Maß aus‐ weisen muss, wird es selbst zum Absoluten, d.h. zum Unbedingten. Die Relativität des Vielen dient für Thrasymachos der Verabsolutierung des Eigenen.20 Die Relati‐ vität der Werte – und damit die realistische Nüchternheit – wird folglich in die Sphä‐ re zwischen den Wertungen, d.h. auf eine Metaebene, verlagert und erzeugt die Im‐ pression der legitimen Vielfalt der politischen Landschaft. Die eigene Wertung aber ist absolut, der unbedingte Wert, der gegen die anderen durchgesetzt werden soll – und zwar als der bessere und wertvollere. Die Durchsetzung des eigenen Nutzens bedarf wiederum der Macht; wer über diese verfügt, darf bestimmen, was gerecht und ungerecht ist, d.h. er darf seinen Nutzen zur Gerechtigkeit erheben. Die Macht kann dabei Mehreren oder einem Einzelnen zufallen. Thrasymachos plädiert für die‐ sen Einzelnen, den Tyrannen. Der Zusammenhang zwischen der Negation von Wahrheit und Tyrannis soll im Folgenden näher betrachtet werden.
b) Vom Maß des Menschen zum Recht des Stärkeren Der Verweis auf die erkenntnistheoretische Grundlegung der Tyrannis in den Aus‐ führungen des Thrasymachos verlangt zunächst nach der Präzisierung, dass dieser nicht explizit Stellung zu epistemologischen Fragen nimmt. Doch lässt sich feststel‐ len, dass seinem Denken, wie es aus dem Dialog heraus entwickelt wird, implizit derselbe erkenntnistheoretische Skeptizismus zugrunde liegt, wie er im Homo-Men‐ sura-Satz des Protagoras, formuliert im platonischen Theaitetos, Ausdruck findet21. Protagoras meine, so Sokrates, „der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, wie sie sind, der nichtseidenden, wie sie nicht sind.“22 Dies besagt, dass es keine Wahrheit an sich gibt, sondern dass alles, was und wie es dem Menschen selbst er‐ scheine, wahr ist. Eine von dem jeweiligen Schein losgelöste Wirklichkeit ist dem Menschen nicht zugänglich. Eine verbindliche Aussage über die Wahrheit und einen 20 Im Weiteren wird Thrasymachos das relativieren und präzisieren: Es gibt welche, die irren, doch auch denjenigen, der nicht irrt. Dieser sei dann der wahre Staatsmann. Jeder, so die ge‐ setzte Annahme, weiß um seinen Nutzen. 21 Die Lösung von der Annahme, es gebe eine zu erkennende Wahrheit, bezeichnet Nielsen als die eigentliche Problemlage der Sophistik, die schließlich aufgelöst wird in der Setzung von Wahrheit durch einen machtvollen Einzelnen oder in intersubjektiver Form durch die Gemein‐ schaft. Sowohl der Tyrann (Thrasymachos) wie der Bürger (Protagoras/Gorgias) haben damit den gleichen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt, ziehen jedoch differente Konsequenzen, insofern sie das Recht zur Setzung verschiedenen Adressaten zusprechen. Vgl. Nielsen 2008, S. 99f. 22 Platon, Theaitetos 152a. Zur genaueren Auseinandersetzung mit dem Homo-Mensura-Satz des Protagoras sei auf die Beiträge von Raul Heimann, Johannes Hoerlin, Benjamin Hahn und Va‐ nessa Jansche verwiesen.
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Wert an sich kann somit nicht mehr getätigt werden. Es bleibt die unbegrenzte Plura‐ lität der Wahrheiten, die ihrerseits, so wie die Wahrnehmung des Menschen und die wahrgenommene Wirklichkeit, stets im Fluss ist. Diese erkenntnistheoretische Aporie versucht Protagoras durch eine Wendung zur Praxis zu überwinden.23 Nicht mehr eine Wahrheit an sich kann und soll Maßstab menschlichen Handelns sein, sondern der konkrete Nutzen – das Zuträgliche. Dieses bezieht Protagoras auf die Gemeinschaft, welche im Rahmen einer vertraglichen Ei‐ nigung den eigenen Nutzen, d.h. den Nutzen der Vielen, als Recht festsetzt. Die poli‐ tische Konsequenz, welche Protagoras aus der Unerkennbarkeit bzw. der Nicht-Exis‐ tenz von Wahrheit ableitet, ist folglich eine Gemeinschaft der Gleichen, deren Über‐ einkunft sich am gemeinsamen Nutzen orientiert.24 Die Ausrichtung am Nutzen der Gemeinschaft ist jedoch nicht die einzig mögliche praktische Konsequenz, die vor dem Hintergrund der sich aus dem Homo-Mensura-Satz ergebenden erkenntnistheo‐ retischen Aporie denkbar ist. Das Zuträgliche kann in gleichem Maße auf einen Ein‐ zelnen bezogen werden, so dass das Recht und Gerechtigkeit gleichermaßen Aus‐ druck des Nutzens eines Einzelnen, der sich gegen die Vielen durchgesetzt hat, sein können. Vor dem Hintergrund der Auflösung von Wahrheit erscheint damit das Pos‐ tulat des Rechts des Stärkeren und damit der Ungleichheit der Menschen als ebenso möglich wie die Annahme, die Menschen seien gleich und gerecht sei, was den vie‐ len Gleichen nütze. Bleibt nach der Auflösung eines Wahrheitsmaßstabes nurmehr die praktische menschliche Setzung, ist demokratische sowie tyrannische Herrschaft gleichermaßen begründbar. Demokratie und Tyrannis, Gleichheit und Ungleichheit, Vielheit und Einheit erwachsen aus demselben erkenntnistheoretischen Fundament. Protagoras und Thrasymachos – der Bürger und der Tyrann – sind zwei Seiten einer Medaille.25 23 Dazu schreibt Henning Ottmann: „Die Pointe der Urteilsenthaltung ist vielmehr eine prakti‐ sche. Da man so oder so nicht weiß, was wahr ist, kann man leben, wie man will, so als ob es die Götter gäbe oder auch als gäbe es sie nicht. Die Urteilsenthaltung setzt eine pragmatische Praxis frei, in der man sich am Nutzen für das eigene oder das gemeinschaftliche Wohl orien‐ tiert.“ Ottmann 2001, S. 220. 24 Platon, Theaitetos 172b: „Bei jenem vorher Erwähnten aber, dem Recht und Unrecht, dem Frommen und Gottlosen, wollen sie behaupten, daß nichts in dieser Art schon von Natur eine bestimmte Beschaffenheit habe, sondern was gemeinsam vorgestellt werde, das werde wahr zu der Zeit, wann und solange als es dafür gehalten werde.“ Auch der Mythos des Protagoras führt den Gedanken der Gleichheit der Menschen ein, die gleichermaßen an Recht und Scham erhalten haben. Vgl. Platon, Protagoras 320c-322b. Gemäß Ottmann ist der Mythos in diesem Sinne „eine der schönsten Grundlegungen der Demokratie, die die westliche Kultur hervorge‐ bracht hat.“ Ottmann 2001, S. 216. 25 Nielsen erwähnt zwar die beiden verschiedenen Möglichkeiten der Setzung, beschäftigt sich jedoch in Folge sofort mit dem Gleichheitsdenken, ohne die gemeinsame erkenntnistheoreti‐ sche Basis zu problematisieren. Damit wird die Begründungsfunktion der Wahrheit jedoch übergangen. Ottmann seinerseits differenziert in diesem Sinne zwischen einer „sophistischen Rechten“, zu der Thrasymachos zu zählen ist, einer „sophistischen Linken“ sowie einer „Mit‐ te“, in welcher er Protagoras und Gorgias verortet. Damit sei die innere Vielfalt der nur ver‐ meintlich homogenen Gruppe der Sophisten evident – die Differenz zwischen der rechten und
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Worauf führt Thrasymachos nun die Ungleichheit der Menschen – d.h. die Diffe‐ renz zwischen dem Einzelnen und den Vielen – zurück? Was ist die Ursache der Un‐ gleichheit, die den Einzelnen über die Vielen erhebt und zum Herrscher bestimmt? Die Antwort auf diese Frage liegt im Moment der Stärke: Der Einzelne, wie er Thr‐ asymachos im Sinne der Tyrannis vorschwebt, ist der Stärkere. Stärke aber wird im Rahmen der Apologie der Tyrannis nicht mehr als relative Größe bestimmt, sondern als eine absolute Kategorie gedacht. Sie wird von Thrasymachos als das neue quali‐ tative Maß eingeführt, welches das negierte sachliche Kriterium der Wahrheit nun‐ mehr ersetzen soll: Der Stärkere ist nicht mehr jeder, der sich durchsetzt, egal ob De‐ mokrat oder Tyrann. Vielmehr soll es der Stärkere, d.h. der wahrhaft Starke, sein, welcher sich durchsetzt. In eben dieser Wende von der relativen zur absoluten Stärke wird der Zusammen‐ hang zwischen dem deskriptiv-nüchternen Analytiker der Macht und dem leiden‐ schaftlichen Verfechter des Mächtigsten, des Tyrannen, deutlich: Sprach Thrasyma‐ chos von der relativen Stärke, d.h. von dem jeweils Herrschenden, welcher, so er denn herrscht, berechtigterweise seinen Nutzen als Recht setzt, so im Sinne der Ab‐ senz des bislang vorausgesetzten absoluten Maßstabs der Wahrheit. Fehlt ein sol‐ cher, so bleiben zunächst nur gleichwertige Gebilde von Herrschaft und Recht. Es ist augenscheinlich, dass eine so verstandene Gleichwertigkeit im Grunde Ausdruck von Wertlosigkeit, d.h. von dem Fehlen eines Differenz schaffenden Maßstabs ist. Die konkrete Gestaltung von Wirklichkeit jedoch verlangt nach einer Überschrei‐ tung dieser Metaebene der prinzipiellen Gleichwertigkeit des Vielen: Sie verlangt nach einem absoluten Wert, der maßgebend für die politische Herrschaft ist. Ist für Protagoras die Gleichheit der Menschen und damit der Nutzen der Gemeinschaft das unzweifelhaft Richtige und Wertvolle, postuliert Thrasymachos die Ungleichheit der Menschen und das Primat des wahrhaft Starken.
c) Der Tyrann als der wahre Herrscher Was nun zeichnet den wahrhaft Starken, den Tyrannen, für Thrasymachos aus? Oder anders formuliert: Was an ihm macht ihn zum Starken? Die Antwort ist ausgehend von Thrasymachos' Aussage, der Tyrann sei derjenige, „welcher im Großen zu über‐ vorteilen versteht“26, zu entwickeln. Stärke werde darin manifest, dass man immer
linken bzw. mittleren Ausrichtung der Sophistik sieht Ottmann in der Annahme der Ungleich‐ heit bzw. der Gleichheit der Menschen. Vor diesem Hintergrund lässt Ottmann jedoch das die plurale Sophistik einende Element außer acht, welches in der erkenntnistheoretischen Grundle‐ gung und der daraus folgenden Begründungsaporie liegt. Vgl. dazu Ottmann 2001, S. 216 ff. 26 „Dies aber ist die sogenannte Tyrannei, welche nicht im kleinen sich fremdes Gut mit List und Gewalt zueignet, heiliges und unheiliges, Gemeingut und Eigentum, sondern gleich insgesamt
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mehr habe als die anderen.27 So ist das Vermögen, sich mehr zu verschaffen als die übrigen Menschen, entscheidend für den Grad der Stärke. Der Stärkste bzw. der wahrhaft Starke ist folglich derjenige, welcher es vermag, das maximale Mehr-Ha‐ ben zu verwirklichen, welches in nichts anderem besteht als in der unbegrenzten An‐ eignung von Mehr. Daher ist der Tyrann Thrasymachos zufolge auch der notwendig Ungerechte: Der Starke bleibt von äußeren Grenzen – so von der Gemeinschaft fest‐ gesetzter Moral und Gesetzen – unbeeindruckt und nimmt sich davon ungehindert das Gewollte.28 Er überschreitet kraft seiner natürlichen Veranlagung – seinem Mehr-Haben-Können – aus der Stärke heraus jede menschliche Satzung.29 Diese Bestimmung von Stärke fügt sich in die anthropologischen Grundüberle‐ gungen, die Thrasymachos im Folgenden anstellt. Der Mensch selbst sei getrieben von dem unbegrenzten Streben nach Mehr: Sein Dasein ist geprägt von dem unstill‐ baren Drang nach beständiger Steigerung des eigenen Nutzens. Jeder wolle, so Thr‐ asymachos, im Grunde das, was dem Stärksten, dem Tyrannen, möglich ist, nämlich unbegrenzt „Mehr“.30 Das Wollen jedoch korrespondiert nicht notwendig mit dem Können: Allein der Starke vermag es, sich das Gewollte unbegrenzt zu verschaffen, da eine maximale Verwirklichung des Mehr-Haben-Wollens nach einer maximalen, d.h. unbegrenzten, Machtsteigerung verlangt. Um die eigenen Bedürfnisse in Perma‐ nenz ohne jedwede Einschränkung zu befriedigen, bedarf es der uneingeschränkten Macht, die es stets von Neuem ermöglicht, des Gewollten habhaft zu werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich schließen, dass für Thrasymachos im Tyrannen das Menschliche selbst zur vollkommenen Entfaltung kommt: Indem er seinen Eigen‐ nutz – sein Streben nach Mehr – verwirklicht, erfüllt er das dem Menschen Eigentli‐ che an sich selbst. So erstaunt es nicht, dass der Tyrann von Thrasymachos als der Glückseligste an‐ gesehen wird.31 Er führt das „zweckmäßigste Leben“32, da er das dem Menschen Gemäße tut. Dies, so Thrasymachos, ist auch denjenigen bewusst, denen ein Leben als Tyrann verwehrt sei: „Glückselig und preiswürdig“33 sei ein solcher Mensch in den Augen der Anderen, der Nicht-Starken. Diese wüssten um die Güte und Exzel‐ lenz eines solchen Lebens, welches ihnen naturgemäß verwehrt bleiben muss. Der Ungerechtigkeit des Tyrannen, welcher alle menschlichen Gebote durchbricht, „au‐
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alles, was, wenn es einer einzeln veruntreut und dabei entdeckt wird, ihm die härtesten Strafen und Beschimpfungen zuzieht.“ Platon, Politeia 344a. Thrasymachos spricht vom wahrhaft Ungerechten, welcher der Tyrann ist. Platon, Politeia 343d. Hier berühren die Ausführungen des Thrasymachos den Nomos-Physis-Gegensatz, welcher im Dialog Gorgias von dem Sophisten Kallikles explizit aufgegriffen und ausgeführt wird. Vgl. Platon, Gorgias, 482c ff. Platon, Politeia 344b-344c. Vgl. Platon, Politeia 344b. Platon, Politeia 344e. Platon, Politeia 344b.
ßer dem Vermögen seiner Mitbürger auch noch sie selbst in seine Gewalt bringt und zu Knechten macht“34, werde höchste Bewunderung entgegengebracht: „Denn nicht aus Furcht Ungerechtigkeit zu tun, sondern zu leiden, schimpft die Ungerechtigkeit, wer sie schimpft“35, so Thrasymachos. Alle menschliche Satzung, die den Einzelnen in seiner Bedürfnisbefriedigung einschränkt, ist damit als Ausdruck des eigenen Un‐ vermögens, den eigenen Nutzen zu verwirklichen, anzusehen, sowie als Wille zur Beschränkung derjenigen starken Individuen, die es könnten. Der Tyrann, so lässt sich aus Thrasymachos' Ausführungen schließen, ist der bes‐ te Mensch. Darin begründet sich sein Recht auf Herrschaft: Er ist weiser als die an‐ deren, da er das Wesen der Dinge und des Menschen geschaut hat. Er hat damit die Ursache allen Wertes menschlichen Daseins erkannt und weiß, wie man leben soll. Nach dieser Einsicht leben zu können, ist das zweite Verdienst des Tyrannen: Inso‐ fern er stärker als die anderen ist, ist er als Mensch tauglicher, da er dem wesenhaft Menschlichen und dem guten Leben am nähesten kommt. Schließlich muss an die‐ sem Maß bemessen der Tyrann als der wahrhaft Gerechte betrachtet werden, mag er auch in den Augen der Schwachen und der von ihnen formulierten Gesetze die „vollendetste Ungerechtigkeit“36 begehen. Er ist der wahrhaft Starke und steht ge‐ mäß des Rechts des Stärkeren für das wahre Recht, so dass seine Ungerechtigkeit die wahre Gerechtigkeit ist. Er, der Tyrann, ist der wahre Herrscher, sein Wille ist das wahre Gesetz.
2. Friedrich Nietzsche Die Bedeutung des antiken Griechentums für Friedrich Nietzsche kann nicht über‐ schätzt werden. Philosophieren bedeutet für ihn, „zu weiten Teilen (…) mit den Griechen zu denken oder gegen die Griechen anzudenken“37. Karl Jaspers betont, Nietzsche sei nur „an einer einzigen Stelle der Geschichte mit einem Gegenstand dauernd verbunden“38, nämlich mit den Griechen. Dies wird nicht nur in den zahl‐ reichen sachlichen Bezügen in seinem Werk deutlich, sondern auch in dem quantita‐ tiven Anteil antiker Texte in Nietzsches Privatbibliothek, welche die größte Gruppe seiner Bücher darstellten.39 Seine Sympathie für die Sophisten ist dabei unverkenn‐ 34 35 36 37
Platon, Politeia 344c. Platon, Politeia 344c. Platon, Politeia 344a. Müller 2005, S. 6. Müllers Studie bietet einen detaillierten Überblick über die Bedeutung des Griechentums in Nietzsches Denken. 38 Jaspers 1981, S. 239. 39 Vgl. Ottmann 2011, S. 60: „Eine allgemeine Übersicht über die N.-Bibliothek zeigt, daß die Bücher von und über antike Schriftsteller die größte Gruppe ausmachten. Es gibt mehr als dop‐ pelt so viele griechische wie römische Autoren, und die Werke griechischer sind dreimal so oft von Nietzsche mit Kommentaren und Unterstreichungen versehen worden wie die römischen.“
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bar und ein Gemeinplatz in der Forschung.40 Im Folgenden soll daher nicht Nietz‐ sches bereits ausführlich untersuchte Verbundenheit mit gewissen sophistischen In‐ halten und Geisteshaltungen – wie dem Realismus als Anti-Idealismus41 – im Mittel‐ punkt der Untersuchung stehen, sondern die Frage, ob und inwiefern das Denken Nietzsches den gleichen Strukturen wie denen des Thrasymachos folgt.42
a) Das Ende der Wahrheit: Vom Einen zum Vielen Beginnend mit seinem Werk Menschliches, Allzumenschliches wendet Nietzsche sich gegen alle metaphysischen Entwürfe der menschlichen Wirklichkeit, gegen die abendländischen sowie die eigenen.43 Metaphysisch denkt für Nietzsche, wer eine wahre Welt hinter der tatsächlichen vermutet und einen „Wunder-Ursprung“ für die „höher gewertheten Dinge“44 annimmt, unmittelbar aus dem „Kern und Wesen des ‚Dinges an sich‘ heraus“45. Wer die Metaphysik zur Grundlage seines Nachdenkens über die Welt macht, rekurriere auf eine Instanz jenseits der menschlichen Wirklich‐ keit, auf eine „zweite reale Welt“46, welche der tatsächlichen Wirklichkeit – die da‐ mit zur scheinbaren wird – als „wahre“ Welt entgegengestellt werde. In der Anbin‐ dung der eigenen Vorstellungen von dem, was wertvoll ist, d.h. von gut und böse, an ein metaphysisches Prinzip entsteht die Möglichkeit, objektive Gültigkeit für die ei‐ genen Werte zu beanspruchen, da der metaphysische Ursprung einen von menschli‐ cher Setzung losgelösten Wahrheitswert garantiert. Darin sind sie dem menschlichen Zugriff und der menschlichen Verfügbarkeit entzogen. So stehe die Annahme einer „wahren“ Welt direkt in Zusammenhang mit der Begründung der Lebenswirklichkeit
40 Nietzsches Hochachtung für die Sophisten wird in der Forschung einstimmig anerkannt, so Müller 2005, S. 179; als einschlägige Studie ist auf die Untersuchung von Mann und Getty zu verweisen: Mann /Getty 2011, S. 51–72. Der vereinzelte Versuch, die Bedeutung der Sophisten für Nietzsche zu widerlegen, unternommen von Thomas Brobjer, wurde von Mann scharf kriti‐ siert: Mann 2003, S. 406–428. Zu Brobjer: Brobjer 2003, S. 6–23. 41 Vgl. Nietzsche, DG, KSA 6, S. 155f. 42 Müller bezieht hierzu eine klare Gegenposition, insofern er jede Untersuchung inhaltlicher oder struktureller Parallelen zwischen der Sophistik und Nietzsches Denken rigoros ablehnt. Dies, so Müller, sei „wenig ergiebig“ sowie „theoretisch unzulässig“. Die einzig sinnvolle Aus‐ einandersetzung mit der Sophistik in Nietzsches Denken sei daher eine gezielte Untersuchung der Äußerungen Nietzsches zu den Sophisten. Vgl. Müller 2005, S. 180. 43 Dass Nietzsche in der Tragödienschrift den Versuch unternimmt, eine ästhetische Metasphysik zu entwerfen, heben u.a. Margot Fleicher, Uwe Beyer und Eike Brock hervor. Margot Fleischer betont, „daß Nietzsche im Gegendenken gerade auch gegen eine eigene (eigenständige) meta‐ physische Position zum Antimetaphysiker geworden und in seiner im Zeichen des Dionysos bleibenden Philosophie des Willens zur Macht fortgeschritten ist“. Vgl. dazu Fleischer 1988, S. 74. Zu Beyer und Brock siehe: Beyer 1992, S. 221ff.; Brock 2015, S. 82ff. 44 Nietzsche, MA I, KSA 2, S. 23. 45 Nietzsche, MA I, KSA 2, S. 23. 46 Nietzsche, MA I, KSA 2, S. 27.
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des Menschen und seiner obersten Maximen, seien es Moral, Religion oder aber Äs‐ thetik.47 Der Annahme, es gebe eine Wahrheit und damit einen Wert an sich, stellt Nietz‐ sche die Beobachtung gegenüber, dass alle Wahrheiten und Werte Erzeugnisse des Menschen selbst sind: Er ist der schöpferische Ursprung seiner Wirklichkeit, der die eigene Perspektive auf das Leben verabsolutiert und zur Wahrheit – d.h. zur absolu‐ ten, über allen Dingen stehenden Perspektive – gemacht hat.48 Der menschliche Zu‐ gang zur Welt ist, so Nietzsche, immer perspektivisch: Gleich jedem Lebewesen kann der Mensch die Wirklichkeit nur aus dem eigenen Blickwinkel heraus betrach‐ ten.49 Das Perspektivische ist für ihn die „Grundbedingung alles Lebens“50. Aus die‐ ser Überlegung ergeben sich – in Analogie zu Thrasymachos – zwei Konsequenzen: Zum einen erfolgt die Zersplitterung der Wirklichkeit in unzählige Perspektiven. Der Mensch steht nicht über den Dingen und kann folglich keinen Zugang zum Gan‐ zen oder auch zu einem anderen Standpunkt erlangen. Hat ferner jeder Mensch eine andere Wahrnehmung, d.h. einen differenten Blickwinkel, so ergeben sich unzählige Wahrnehmungen und Welten – damit ist die ‚objektive‘ Welt im Fluss, ist doch der Mensch selbst ‚im Fluss‘, stets von einer anderen Perspektive aus urteilend und auch in sich selbst stets dem Wandel unterworfen: „[D]ie Welt […] existiert nicht als Welt ‚an sich‘, sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht.“51 Aus der Pluralität der Perspektiven eröffne sich, so Nietzsche, die Möglichkeit „unendliche[r] Interpretationen“52 der Wirklich‐ keit. Das Viele tritt an die Stelle des Einen. Zum anderen entfällt in der Folge der Maßstab, an dem die verschiedenen Per‐ spektiven gemessen und hierarchisiert werden könnten. Keine Perspektive kann als wahrer als die übrigen ausgewiesen werden, da es jenseits der Perspektiven keine höhere Perspektive, d.h. kein über den Perspektiven stehendes Maß, von dem aus sich eine Wertedifferenz ergeben könnte, gibt.53 Jedes bisherige An-Sich war Illusi‐ on und Verabsolutierung des Eigenen. Alle Perspektiven sind damit zunächst gleich‐ wertig ebenso wie die aus ihnen hervorgehenden Erzeugnisse, die nunmehr notwen‐ dig ihren absoluten Charakter verlieren und sich relativ zueinander verhalten. Grund der Gleichwertigkeit ist die Absenz eines Differenz schaffenden Maßstabs, wie er in der Wahrheitsfrage vorlag. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Möglichkeit einer distanzierten und deskriptiven Annäherung an die verschiedenen Formen von mora‐ 47 Nietzsche, MA I, KSA 2, S. 26. 48 Vgl. u.a. Nietzsche, WL, KSA 1, S. 883. 49 Um die Subjektivität der menschlichen Perspektive zu unterstreichen, stellt Nietzsche ihr die tierische zur Seite, welche die Welt ebenfalls nur aus dem eigenen Blickwinkel wahrnehmen kann. Vgl. Nietzsche, WL, KSA 1, S. 884. 50 Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 12. 51 Nietzsche, NL, KSA 13, S. 371. 52 Nietzsche, FW, KSA 3, S. 627. 53 Nietzsche, WL, KSA 1, S. 884.
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lischer, religiöser und politischer Wirklichkeit, die als Ausdruck eines perspektivi‐ schen Zugangs zur Welt verstanden werden und das Interesse widerspiegeln, wel‐ ches sich innerhalb dieser Perspektiven ergibt.54 Entscheidend für die Geltung der jeweiligen Werte ist die faktische Durchsetzung einer Perspektive: Die herrschende Perspektive wird zur wahren; Wahrheit ist Manifestation der faktischen Macht einer Perspektive. Davon ausgehend kann beobachtet werden, dass sich in Nietzsches Denken die‐ selbe Spannung abzeichnet wie bei Thrasymachos, wenn auch auf werkgeschichtli‐ cher und nicht dialogischer Ebene: Auf der einen Seite steht ein Denken, das nüch‐ tern und beschreibend auftritt, losgelöst von aller Parteinahme und Verengung des eigenen Blicks. Damit ist das mittlere Werk Nietzsches benannt, welches gemeinhin als positivistisches Erzeugnis eines aufgeklärten und freien Geistes, der die Wirk‐ lichkeit von allem unrealistischen Idealismus zu bereinigen versucht, verstanden wird. Auf der anderen Seite findet man ein Spätwerk vor, in welchem jegliche Nüch‐ ternheit und Distanz zu den Dingen abgelegt ist, durchdrungen von einer Apologie der Stärke und des starken Menschen. Eine Auflösung dieser Spannung ist auf zwei‐ erlei Art möglich: Entweder man leugnet den Zusammenhang zwischen mittlerem und spätem Werk;55 oder aber man liest das mittlere Werk als eine Grundlegung des späten. Die Verbundenheit von Mittel- und Spätwerk, die der zweiten Deutungsvari‐ ante entspricht, erweist sich dabei als schlüssig und notwendig, wenn beachtet wird, dass der Perspektivismus für Nietzsche nicht End-, sondern Anfangspunkt ist, und zwar im Sinne des Beginns eines Weges hin zu einer Perspektive, die die anderen überragt und insofern das in der Wahrheit verlorene Maß reetabliert. In der Auflö‐ sung der Wahrheit erfolgt damit zwar keine Verabsolutierung der eigenen Perspekti‐ ven, wie bei Thrasymachos, doch wird das Postulat formuliert, zur absoluten Per‐ spektive – zum Maß selbst – zu werden.
b) Vom Maß des Menschen zum Recht des Stärkeren Der Perspektivismus bedeutet die Unentscheidbarkeit dessen, was wahr ist, und hat die Relativität und Bedingtheit aller menschlichen Wirklichkeit, sei es in morali‐ scher oder politischer Gestalt, zur Folge. Der Mensch, welcher nur perspektivisch 54 Vgl. Nietzsche, WL, KSA 1, S. 880ff. 55 Aufgrund der radikalen Veränderung von Stil, Ton und Inhalten im Übergang von der mittleren zur späten Schaffensphase wird in der Forschung das mittlere Werk zumeist vom späten abge‐ trennt. Die neue Phase seines Schaffens erscheint einer solchen Lesart nicht als Weiter- oder gar Fortentwicklung des mittleren Denkens, sondern als Rückfall in die dogmatische Enge des jungen Nietzsche. So wird versucht, das Spätwerk als das Nietzsche – dem Freigeist und Auf‐ klärer – Unzugehörige zu marginalisieren. Diese Position wird vehement von Christian Nie‐ meyer vertreten. Niemeyer 2013. Eine andere Variante besteht in dem Versuch, Aspekte, die an das mittlere Werk anschlussfähig sind, herauszuheben, so bspw. die Subjekt- und Moralkritik.
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Zugriff auf die Welt hat, agiert und gestaltet damit immer aus dem der jeweiligen Perspektive innewohnenden Interesse und Nutzen. Dies führt zunächst zu der Fest‐ stellung, dass die menschliche Wirklichkeit bestimmt ist durch eine Vielheit an Herr‐ schaftsformen, die jeweils für sich beanspruchen, die einzig wahren und richtigen Werte zu verwirklichen. Wahr ist, was sich durchsetzt; der Stärkere bestimmt die je‐ weiligen Wersetzungen. Auf politischer Ebene kristallisieren sich bei Nietzsche – wie schon bei Thrasymachos – dabei zwei Paradigmen politischer Herrschaft he‐ raus:56 Entweder es herrschen die Vielen auf Grundlage ihres perspektivischen Nut‐ zens oder ein Einzelner. Ersteres verweist auf die Annahme, die Menschen seien gleich; zweiteres hat die Ungleichheit der Menschen zur Grundlage, aus welcher das Recht auf Herrschaft abgeleitet wird. Nietzsche verharrt jedoch nicht in der Deskription der Vielfalt politischer Wirk‐ lichkeit.57 Bleibt nach dem Ende der Wahrheit der jeweilige Nutzen als maßgebende Größe, so gilt sein Nein den Herrschaftsformen, die auf dem Prinzip der Gleichheit aufbauen und sich am Nutzen der Vielen orientieren. Die politische Organisation der Vielen in der Moderne – sei es in Form von Liberalismus, Demokratie oder Sozialis‐ mus – wird von Nietzsche dezidiert abgelehnt.58 Nicht die Vielen sollen herrschen, sondern die Wenigen bzw. die Einzelnen. Nietzsches politisches Denken ist geprägt von der Überzeugung, ein aristokratisches Gemeinwesen, welches auf dem Prinzip der Ungleichheit begründet ist, sei das eigentlich erstrebenswerte Ideal:59 „Denn, meine Brüder: das Beste soll herrschen, das Beste will auch herrschen! Und wo die Lehre anders lautet, da – fehlt es am Besten.“60 Was aber zeichnet die Besten, von denen Nietzsche spricht, aus? Es ist die Stärke, die die Ungleichheit zwischen den Wenigen und den Vielen begründet.61 Die politi‐ sche Wirklichkeit zerfällt in die Masse der Nicht-Starken, d.h. der Schwachen, und den Einzelnen, den Starken. Insofern Nietzsche die unüberbrückbare Differenz zwi‐ schen den Menschen in die Stärke verlagert, muss festgehalten werden, dass diese nun offensichtlich nicht mehr als eine relative Kategorie gefasst, sondern zur absolu‐ 56 Diese Gegenüberstellung findet sich exemplarisch in der Genealogie der Moral sowie in Jen‐ seits von Gut und Böse. Vgl. Nietzsche, GM, KSA 5, I. Abhandlung; Nietzsche, JGB, KSA 5, Neuntes Hauptstück. 57 Nietzsches Anliegen kann damit nicht allein in der Ideologiekritik verortet werden, sondern ist vielmehr Voraussetzung für den folgenden normativen Anspruch einer neuen Form von Herr‐ schaft. Darauf verweist auch Henning Ottmann in: Ottmann 1999, S. 351f. 58 Versuche, Nietzsche in eine liberale oder radikal-demokratische Tradition zu stellen, finden sich u.a. bei Rolf Zimmermann, Lawrence Hatab und Hans-Martin Schönherr-Mann. Vgl. Zim‐ mermann 2014, S. 39–57; Hatab 2014, S. 113–134; Schönherr-Mann 2015, S. 65–80. Dem Zeitgeist entgegen hat Domenico Losurdo eine profunde Studie zu Nietzsches politischem Denken vorgelegt, die das Moment der Macht in Nietzsches politischem Denken wieder in den Vordergrund rückt, ohne einer polemischen Vereinseitigung seiner Schriften wie beispielsweise bei Lukacs zu erliegen. Losurdo 2009. 59 Vgl. dazu Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 205f. 60 Nietzsche, Za, KSA 4, S. 263. 61 Vgl. Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 209ff.
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ten Maßgabe wird: Im Spätwerk stellt Nietzsche klar heraus, dass nicht jeder, der sich durchsetzt, der wahrhaft Starke ist, sondern dass sich vielmehr der wahrhaft Starke durchsetzen sollte. Haben sich die Priester als die Schwachen auch faktisch über Jahrtausende hinweg gegen die Herren – die eigentlich Starken – durchgesetzt, bleiben sie für Nietzsche ein schwacher Menschentypus, welcher durch List über die wahrhaft Starken triumphiert haben.62 Damit aber haben sich die Schlechten als die Schwachen durchgesetzt, was Nietzsches Forderung einer Herrschaft der Besten, und damit der Stärksten, diametral entgegen steht. Der Realismus, mit der die Wirk‐ lichkeit kritisch betrachtet werden kann, weicht einem normativen Postulat, welches in die Apologie der Stärke münden wird. Die Stärke, aus der die Ungleichheit der Menschen hervorgeht, wird zum entscheidenden Faktor der Begründung aller Herr‐ schaft. In Nietzsches Spätwerk sind zwei differente Ausprägungen der Stärke zu finden, im Typus der Herren sowie in Zarathustra, die zunächst nichts zu verbinden scheint: Auf der einen Seite finden sich die Herren als vom Geist ungebrochene, vollends leibliche Wesen, welche in ihrer Vorreflexivität einer Naturgewalt gleichen.63 Auf der anderen Seite steht Zarathustra, eine philosophische Gestalt, die den Übermen‐ schen verkündet und zugleich selbst die höchste Ausprägung dieses Ideals ist.64 Es stellt sich die Frage, was diesen Formen der Stärke trotz aller Differenz gemein ist: Was am Menschen macht ihn für Nietzsche zu einem starken Individuum? Und in‐ wiefern entspricht diese Stärke einer höheren Perspektive, welche die Gleichwertig‐ keit der Perspektiven unter sich weiß?
c) Der philosophische Künstler-Tyrann als der wahre Herrscher Um sich dem Wesen der Stärke bei Nietzsche zu nähern, gilt es, zunächst seine an‐ thropologischen Grundüberlegungen zu betrachten. Der Mensch ist ein Stück Leben: Das ihm Eigene ist nicht ein Seiendes und Unbewegtes, sondern das Lebendige, welches wesenhaft „unerschöpft zeugende[r] Lebenswille“65, d.h. „Wille zur Macht“66 ist. Das Leben ist für Nietzsche eine über sich hinaus schaffende und ge‐ stalterische Kraft, ein unbegrenztes Mehr-Werden-Wollen, ein „Instinkt für Wachs‐ tum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht“67. Das stete Neu-Schaffen ver‐ langt nach der immerwährenden Überwindung des Geschaffenen, so dass die Ver‐ 62 Nietzsche, GM, KSA 5, S. 269f. 63 Vgl. Nietzsche, GM, KSA 5, S. 264ff. 64 „Hier ist in jedem Augenblick der Mensch überwunden, der Begriff ‚Übermensch‘ ward hier höchste Realität (...)“. Nietzsche, EH, KSA 6, S. 344. 65 Nietzsche, Za, KSA 4, S. 147. 66 Nietzsche, Za, KSA 4, S. 147. 67 Nietzsche, AC, KSA, 6, S. 172.
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nichtung die notwendige Kehrseite des ewigen Schaffens sein muss. Das Symbol für ein so verstandenes, ewig im Werden begriffenes Leben ist für Nietzsche der Gott Dionysos.68 Ist der Mensch Leben, so liegt sein Wesen im Schaffen; er ist ‚schaffensbegabt‘. Das schöpferische Moment jedoch ist nicht allein auf ein spezifisches Kunst-Schaf‐ fen beschränkt, vielmehr liegt sein Vermögen in der geistigen Zeugung. Die Ver‐ nunft versteht Nietzsche davon ausgehend als etwas schaffend und nicht als etwas erkennend. Der Geist wird von Nietzsche darüber hinaus als organische und leibli‐ che Entität gedacht; er steht für die „kleine Vernunft“69, welche der „großen Ver‐ nunft“70, nämlich derjenigen des Leibes entspringt und von dieser abhängt. Dies be‐ deutet, dass das Denken vergeistigter Lebenswille, d.h. wesenhaft Wille zur Zeu‐ gung – Wille zur Macht – ist. Die geistige Zeugung ist das Äquivalent zur Hervor‐ bringung physischen Lebens; die Fruchtbarkeit des Leibes vermag sich nicht nur physisch, sondern auch geistig zu äußern. Wo Zeugung ist, da ist aber auch Vernich‐ tung: Eine geistige Zeugung verdrängt die andere. So zeichnen sich zwei Eigenhei‐ ten des Vernunftbegriffs Nietzsches ab: die Vernunft ist leiblich71 und aufgrund ihrer Leiblichkeit dionysisch.72 Was der Mensch mittels seiner Vernunft zeugt, sind Wert‐ schätzungen und Werte, darin die eigene Wirklichkeit. Von dieser Grundbestimmung des Menschen ausgehend liegt die Möglichkeit sei‐ ner Vervollkommnung in der maximalen Ausprägung der ihm gegebenen SchaffensPotenz. Der vollkommene und damit beste Mensch wird sich als der Lebendigste zeigen und als ein solcher als der Schöpferischste, d.h. als der wahrhaft Schaffen‐ de.73 Seine Lebendigkeit ist Konsequenz der Verähnlichung mit dem Leben, wo‐ durch er zum Leben selbst, d.h. zur lebendigen Ursache aller Wirklichkeit wird. Einem solchen Ideal steht der Umstand entgegen, dass der Mensch als Schöpfer sei‐ ner Wirklichkeit zugleich seiner Erzeugnisse bedarf. Er ist bestimmt von dem Wil‐ 68 Vgl. bereits Nietzsches Erstlingsschrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Nietzsche, GT, KSA 1. 69 Nietzsche, Za, KSA 4, S. 39. „Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du Geist nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft“. 70 Nietzsche, Za, KSA 4, S. 39. 71 In diesem Umstand gründet Nietzsches späte Überlegung, die Art der geistigen Wertungen lie‐ ße auf die leibliche Beschaffenheit des Denkenden schließen. Vgl. unter anderem die Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft: „Man darf alle jene kühnen Tollheiten der Metaphysik, sonder‐ lich deren Antworten auf die Frage nach dem Werthdes Daseins, zunächst immer als Symp‐ tome bestimmter Leiber ansehn; (…) Symptome, wie gesagt, des Leibes, seines Gerathens und Missrathens, seiner Fülle, Mächtigkeit, Selbstherrlichkeit in der Geschichte, oder aber seiner Hemmungen, Ermüdungen, Verarmungen, seines Vorgefühls vom Ende, seines Willens zum Ende“. Nietzsche, FW, KSA 3, S. 348f. 72 In diesem Sinne wird Zarathustra von seiner „wilden Weisheit“ sprechen. Vgl. Nietzsche, Za, KSA 4, S. 107. 73 Der Schaffende ist der Übermensch, wie im Folgenden erläutert wird.
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len, in einer Welt des Werdens und Vergehens etwas Festes und Unvergänglichliches zu erlangen und zu bewahren. Der Glaube, hinter den eigenen Werten stehe ein un‐ vergängliches Sein der Dinge, nämlich Gott, ist die letzte Konsequenz der geschil‐ derten Beschaffenheit des Mensch-Seins.74 Für Nietzsche bedeutet die Ausrichtung des Menschen und seines Denkens auf einen wahren, d.h. unveränderbaren Kern des Daseins – auf Gott, wie es sich in der abendländischen Geschichte zeigt – in dem alle ehemals geschaffenen, bestehenden Werte verbürgt sind, das Ende der Leben‐ digkeit, was gleichbedeutend mit der Aufhebung aller Schöpferkraft im Menschen ist. Insofern sein Schaffen sich in geistiger Zeugung äußert, mündet die Ausrichtung des Menschen auf das Unvergängliche in der Aufhebung des Denkens selbst.75 Wie nun ist diese Überlegung auf die Typen der Stärke, die Herren und Zarathus‐ tra, anzuwenden? Die vollkommene, ursprüngliche Lebendigkeit – und damit Schöpferkraft – sieht Nietzsche in der vorreflexiven Daseinsform der Herren. Er nennt sie die „unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler, die es giebt“76; ihr Werk sei ein „instinktives Formen-schaffen, Formen-aufdrücken“77. Ihr Künstlertum ist ein politisches: Sie geben einer „der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene[n], aber noch gestaltlose[n], noch schweifende[n] Bevölkerung“78 Form und Gestalt. Das politische Gebilde, das aus ihren Händen hervorgeht, ist Abbild ihrer selbst und Ausdruck eines infiniten Lebensdranges, dessen Wille zur Zeugung keinen Ab‐ schluss kennt.79 Der älteste Staat müsse, so Nietzsche, eine „furchtbare Tyrannei“80 gewesen sein: Die politischen Künstler bedürfen als Beigabe aller Schöpfung der Grausamkeit, des „furchtbare[n] Künstler-Egoismus“81 sowie einer „Künstler-Ge‐ waltsamkeit“82. Im Form-Geben, das Ausdruck des eigenen Mehr-Werdens ist, äu‐ ßert sich ihre Stärke, die eben Begründung ihres Rechts auf Herrschaft über die Vie‐ len ist. Aufgabe des Philosophen in Nietzsches Sinne ist es nun, diese ursprüngliche Schöpferkraft und Lebendigkeit wiederzuerlangen: Ging sie durch den Geist verlo‐ 74 Vgl. bspw. Nietzsche, MA I, KSA 2, S. 26; GM, KSA 5, S. 411f. 75 Sei es im Philosophen, der nicht mehr will; sei es im letzten Menschen, der nicht mehr kann. 76 Nietzsche, GM, KSA 5, S. 324. Für Bernhardt Taureck ist die „Verbindung eines Machtstaates mit einem Zweckstaat der Vollkommenheit“ das „Grund- oder Zentralmotiv“ der politischen Philosophie Nietzsches. Taureck 1989, S. 61. Das Motiv der Vollkommenheit beziehe sich eben auf die Kunst: „Das Kunstwerk soll Staat werden. (…) Der eigentliche Künstler [soll, C.K.] der Staatsmann und dieser der eigentliche Künstler sein. Das Staatsvolk hat darin nur die Funktion des Materials.“ Taureck 1989, S. 64. In der Verbindung von Politik und Ästhetik sieht Taureck einen Grund, Nietzsche in der Tradition des Faschismus zu stellen. Taureck 1989, S. 69. Dieser Überlegung ist zuzustimmen. Den Zusammenhang von Kunst und Politik stellt ferner Florian Roth heraus: Roth 1997, S. 87–106. 77 Nietzsche, GM, KSA 5, S. 325. 78 Nietzsche, GM, KSA 5, S. 324. 79 Vgl. Nietzsche, GM, KSA 5, S. 324ff. 80 Nietzsche, GM, KSA 5, S. 324. 81 Nietzsche, GM, KSA 5, S. 32. 82 Nietzsche, GM, KSA 5, S. 325.
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ren, muss sie durch den Geist wiedererrungen werden. Der Mensch muss sich wie‐ der mit dem Leben als Willen zur Macht verähnlichen, d.h. zum Lebendigen selbst werden. Wer dies vollzieht, wird zum „Übermenschen“, d.h. zu einer Existenzform, die vollends das sich selbst überwindende, stets mehr werden wollende Leben ver‐ körpert.83 Dazu muss er alle seine Schaffenskraft begrenzenden Perspektiven durch die Infragestellung des Gegebenen überwinden.84 Der Philosoph, der den Weg zur Übermenschlichkeit gegangen ist, wird zum poli‐ tischen Künstler:85 Die „eigentlichen Philosophen“86 sind die wahren „Befehlen‐ de[n] und Gesetzgeber“87. Sie haben das Recht zu „herrschen“88. Herrschaft bedeu‐ tet hier das Vermögen zur „grossen Politik“89, die in der Grundlegung eines neuen Ideals von Mensch besteht, welches die menschliche Wirklichkeit in einem neuen Typus Mensch maßgebend formen soll.90 Dies impliziert „grosse Wagnisse und Ge‐ sammt-Versuche von Zucht und Züchtung“91. Ein solches Ideal verkündet Zarathus‐ tra im Übermenschen, was ihn, den Philosophen, zum wahren Staatsmann macht.92 83 Der Übermensch ist der sich selbst stets von Neuem Überwindende, auf den hin der Mensch sich wandeln soll. Vgl. Nietzsche, Za, KSA 4, S. 16ff. Im Präfix „Über“ liegt somit sowohl ein horizontaler wie vertikaler Sinn, wie Annemarie Pieper schreibt. Horizontal im Sinne einer faktischen Überlegenheit des Übermenschen dem Menschen gegenüber, vertikal im Sinne einer permanenten Überwindungsbewegung. Der Übermensch, so Pieper, ist kein Zustand, sondern „höchste Aktivität“. Vgl. Pieper 2000, S. 110f. 84 Zur Überwindung der Perspektiven hin zu einer höheren Perspektive siehe Nietzsches Vorwort von Menschliches, Allzumenschliches: Nietzsche, MA, KSA 2, S. 13–22. 85 Ottmann verweist zurecht darauf, dass im späten Werk der Übermensch Herrscher sein soll, wenn gleich Ottmann jedoch, den Zusammenhang zwischen der Apolitie des mittleren Werkes mit dem politischen Anspruch des späten Werkes nicht zu verbinden vermag. Vgl. Ottmann 1999, S. 239. Zwischen diesen beiden Phasen besteht eine notwendige Kontinuität: Der Philo‐ soph bzw. Übermensch soll herrschen, doch um ein solcher zu werden, muss er zunächst die in den mittleren Werken nachgezeichnete Verwandlung zum freien Geist durchlaufen, d.h. sich zunächst von allen politischen Tätigkeiten distanzieren. 86 Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 145. 87 Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 145. 88 Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 132. Mit Blick auf die Philosophenherrschaft verweist Ottmann da‐ rauf, dass Nietzsche sich auf das platonische Ideal eienr Herrschaft der Philosophen bezieht. Mit seinem Entwurf einer ‚grossen Politik‘ hätte Nietzsche ein „moderner Platon“ sein wollen. Ottmann 1999, S. 243. 89 Nietzsche spricht im Spätwerk von einer „grossen Politik der Rache“ durch das Judentum. Vgl. Nietzsche, GM, KSA 5, S. 269. 90 Vgl. Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 126. 91 Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 126. 92 Diesen Zusammenhang stellt keine nennenswerte Nietzsche-Interpretation heraus ebenso we‐ nig wie die Konsequenzen, die sich für die Deutung des Zarathusta daraus ergeben: Nietzsches ‚Hauptwerk‘ wäre damit ein genuin politisches Werk, politisch jedoch im Sinne der „grossen Politik“, d.h. einer Politik der Menschenschöpfung, zu der nur der Philosoph berechtigt ist. Da‐ mit wäre Nietzsches Zarathustra der Sache nach eine direkte Brücke zum Spätwerk und den politischen Einlassungen Nietzsches in Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral und dem Ecce homo. Dies wird noch deutlich in Hinblick auf Nietzsches Überlegungen zur „grossen Politik“: Gründete die „grosse Politik der Rache“ des Judentums nach Nietzsche auf der christlichen Botschaft – dem Evangelium, welches zum Maßstab der Menschenformung er‐ höht wurde – so bedarf es für eine neue, d.h. andere „grosse Politik“, eines Gegenevangeliums
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Der zum absoluten Maß gewordene Mensch, der Übermensch, so lässt sich schließen, ist derjenige, welcher geistig das immerwährende Mehr-Werden verwirk‐ lichen kann. Er ist vollends Wille zur Macht, unerschöpft zeugender Lebenswille, geworden. So erweist er sich als derjenige, welcher den stärksten Lebenstrieb in sich trägt; der alles Alte aufgebrochen hat, um Neues zu schaffen und dies immerwäh‐ rend fortzusetzen vermag. Darin hat der übermenschliche Philosoph das Menschli‐ che selbst an sich verwirklicht. Alles ist an ihm zu bemessen: Er ist – gleich dem Tyrannen des Thrasymachos – der beste, da tauglichste Mensch; er ist weise und der eigentlich Gerechte.
3. Fazit Es wurde der Nachweis geführt, dass die postmoderne Überzeugung, in der Über‐ windung der Wahrheitsfrage liege die Überwindung von Terror und Tyrannei, trüge‐ risch ist. Die Gewissheit, man könne das „Böse“ austilgen, indem man die Frage nach dem Wahren und Guten verbannt, hat sich als verfehlt erwiesen. Dieser Anspruch, wie er exemplarisch bei Lyotard formuliert ist, wurde geprüft und widerlegt: Wo es das Wahre nicht mehr gibt, existiert das Falsche ebensowenig. Eine Philosophie, die die Wahrheitssuche als Maßstab aufgibt, beraubt sich der Möglichkeit einer rationalen Begründung der eigenen Position. Was bleibt, ist der unausgefüllte Anspruch auf Rationalität. Die postulierte Vernunft kann nicht einge‐ holt, die damit zu verbundenen Werte nicht begründet werden. Ein Jenseits der Wahrheitsfrage bedeutet ein Jenseits der rationalen Überprüfbarkeit der Richtigkeit des eigenen Denkens. Damit wird die Abgrenzung zur Tyrannis als dem irrationalen Gegenpart beliebig, insofern die Befreiung vom zwingenden Maß der Wahrheit beiden Seiten gemein ist. Der Abgesang auf die Wahrheit nötigt zur Setzung von kontingenten Wahrheiten, die sich in differenten Gestalten äußern können, sei es in demokratischer oder tyranni‐ scher Form, der Gleichheit oder Ungleichheit, der Freiheit und der Knechtschaft. Dies wurde an der Denkstruktur, wie sie sich bei Thrasymachos und Nietzsche zeigt, nachvollzogen: Erst die Auflösung der Wahrheit als den Menschen hemmendes Maß ermöglicht hier die Setzung eines neuen Ideals von Herrschaft, das eine Rangord‐ nung zwischen den Menschen etablieren soll. Dabei erfolgt eine dezidierte Abgren‐ zung von einer politischen Gemeinschaft, die auf Gleichheit gründet. Dies führt vor Augen, in welchem Maße Demokratie und Tyrannis – auch in un‐ serer postmodernen Zeit – ein Brüderpaar sind: Im 8. Buch der Politeia zeichnet Pla‐ als Grundlegung eines neuen Menschenbildes für eine neue Ausrichtung des Politischen: Als ein solches, nämlich als ein „fünftes ‚Evangelium‘“ hat Nietzsche seinen Zarathustra bezeich‐ net. Vgl. Nietzsche, Sämtliche Briefe, KSA 6, S. 327.
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ton den demokratischen Menschen als einen Typus, welcher Freiheit von äußerer so‐ wie von innerer Herrschaft anstrebt.93 Er möchte sich weder äußeren noch inneren Notwendigkeiten, wie sie aus der Wahrheitsfrage folgen würden und seine subjekti‐ ven Bedürfnisse einschränken könnten, unterwerfen: Freiheit bedeutet für ihn, das zu tun – und zu denken – was immer er will. Was folgt, ist das Unvermögen über sich selbst zu herrschen, da die Bedürfnisse und in ihnen die Willkür zum treibenden Moment des Menschen werden. Wer aber nicht über sich selbst herrschen kann, wird beherrscht: Aus der größten Beliebigkeit, die als Freiheit missverstanden wird, kann der Umschwung in die größte Knechtschaft folgen. Die sophistische Logik trägt die Selbstaufhebung der Demokratie und ihrer Werte in sich. Diese Begründungsaporie, die unsere Gegenwart in ein fragwürdiges Licht stellt, könnte Staunen machen. Und das Staunen ist bekanntlich der Anfang aller Philosophie als einem Fragen nach der Wahrheit.94
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93 Vgl. dazu Platon, Politeia 557a-562a. 94 „Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen (…).“ Platon, Theaitetos 155d.
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Die Autoren
Bachmann, Dr. Viktoria, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Buchheim, Prof. Dr. Thomas, Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie, insbesondere Metaphysik und Ontologie, an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Fröhlich, PD Dr. Bettina, Privatdozentin am Institut für Philosophie, Humboldt-Uni‐ versität zu Berlin. Hahn, Benjamin M. A., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau. Hansen, Prof. Dr. Hendrik, Professor für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Heimann, Dr. Raul, Lehrbeauftragter für Philosophie an der Freien Universität Ber‐ lin und der Universität Vechta. Hoerlin, Johannes M. A., Doktorand der Philosophie. Jansche, Vanessa M.A., wissenschaftliche Assistentin an der Professur für Politik‐ wissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen so‐ wie Lehrbeauftragte für Philosophie an der Universität St. Gallen. Kast, Dr. Christina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für philosophische Anthropologie, Kultur- und Technikphilosophie an der Otto-von-Guericke-Universi‐ tät Magdeburg. Kainz, Dr. Peter, Verwaltungsleiter in einer evangelischen Einrichtung in Schwerte. Zehnpfennig, Prof. Dr. Barbara, Professorin für Politische Theorie und Ideenge‐ schichte an der Universität Passau.
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