Die Wiedergeburt der Mitte Europas: Politisches Denken jenseits von Ost und West 9783050079615, 9783050036236


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Table of contents :
Vorwort
I. Einleitung
II. Mitteleuropa - Zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs
1. Raynal, de Pradt und die Ideologie der europäischen Mitte
2. Deutschlands Mittellage im Spiegel von Geographie und Geschichtsphilosophie
2.1. Die Diskussion um Deutschlands „natürliche Grenzen“ in der „geographia naturalis“ im frühen 19. Jahrhundert
2.2. Deutschlands „ideale Raumgestalt“ - zum Topos der „Mittellage“ im Diskurs der Geographie
2.3. Mitte, Vermittlung und Mäßigung. Zentrale Begriffe der deutschen Nationalsymbolik im 19. Jahrhundert
2.4. Die Politisierung des Mitteleuropa-Begriffs
3. Mitteleuropa: Zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff
3.1. Die Verteidigung der europäischen Mitte bei Metternich
3.2. Constantin Frantz und die Reichs-Idee. Mitteleuropäische Föderation vs. Nationalstaat
3.3. Mitteleuropa: Das Reich ohne Mythos? - Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Konzeption im Ersten Weltkrieg
3.4. Die Selbstzerstörung der europäischen Mitte im Zweiten Weltkrieg
4. Die Mitte Europas zwischen Ost und West
III. Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?
1. Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung
1.1. Solidarnosc und das Beispiel Polen
1.2. Die Abgrenzung gegen Osten und die Entstehung einer neuen „kulturell-politischen Klasse“
1.3. Adam Michniks „Neuer Evolutionismus“
2. Symbolische Strategien der Rückkehr nach Europa
2.1. Die Macht der Symbole: „Wir“ gegen „Sie“
2.2. Zivilgesellschaft zwischen Ost und West
IV. Die Rekonstruktion der Mitte Europas
1. Milan Kunderas Europa-Vorstellungen
1.1. Die Grenzen der europäischen Mitte nach Osten
1.2. Die Grenze nach Westen und die Einheit des europäischen „Sehnsuchtsraums“
1.3. Die Mitte Europas als eigentliches Europa
2. György Konrads symmetrische Mitte
2.1. Antipolitik - der mitteleuropäische Politikbegriff
2.2. Die Mitte zwischen Individualismus und Kollektivismus
2.3. Die Mitte als Ort der Vielfalt
3. Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas
3.1. Antitotalitarismus
3.2. Das „Als ob“ und seine subversive Wirkung
3.3. „Die Krise der menschlichen Identität“ - zur Authentizität menschlicher Existenz
3.4. Regeneration Europas aus der Mitte
V. Mitteleuropa oder Europa? Eine Schlußbemerkung
VI. Literaturverzeichnis
VII. Personenverzeichnis
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 9783050079615, 9783050036236

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Rainer Schmidt Die Wiedergeburt der Mitte Europas

POLITISCHE IDEEN

Band 12

Herausgegeben von Herfried Münkler

Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.

Rainer Schmidt

Die Wiedergeburt der Mitte Europas Politisches Denken jenseits von Ost und West

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titelsatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-05-003623-0

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck: GAM Media, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort I.

Einleitung

II. Mitteleuropa - Zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs 1.

Raynal, de Pradt und die Ideologie der europäischen Mitte

2.

Deutschlands Mittellage im Spiegel von Geographie und Geschichtsphilosophie 2.1. Die Diskussion um Deutschlands „natürliche Grenzen" in der „geographia naturalis" im frühen 19. Jahrhundert 2.2. Deutschlands „ideale Raumgestalt" - zum Topos der „Mittellage" im Diskurs der Geographie 2.3. Mitte, Vermittlung und Mäßigung. Zentrale Begriffe der deutschen Nationalsymbolik im 19. Jahrhundert 2.4. Die Politisierung des Mitteleuropa-Begriffs

3.

4.

8 28 31

36 36 38 42 48

Mitteleuropa: Zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff. 3.1. Die Verteidigung der europäischen Mitte bei Metternich 3.2. Constantin Frantz und die Reichs-Idee. Mitteleuropäische Föderation vs. Nationalstaat 3.3. Mitteleuropa: Das Reich ohne Mythos? - Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Konzeption im Ersten Weltkrieg 3.4. Die Selbstzerstörung der europäischen Mitte im Zweiten Weltkrieg

50 52

64

Die Mitte Europas zwischen Ost und West

69

55 56

6

Inhalt

III. Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte? 1.

2.

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung 1.1. Solidarnosc und das Beispiel Polen 1.2. Die Abgrenzung gegen Osten und die Entstehung einer neuen „kulturell-politischen Klasse" 1.3. Adam Michniks „Neuer Evolutionismus" Symbolische Strategien der Rückkehr nach Europa 2.1. Die Macht der Symbole: „Wir" gegen „Sie" 2.2. Zivilgesellschaft zwischen Ost und West

IV. Die Rekonstruktion der Mitte Europas 1.

78 79 86 91 98 101 101 105 113

Milan Kunderas Europa-Vorstellungen 1.1. Die Grenzen der europäischen Mitte nach Osten 1.2. Die Grenze nach Westen und die Einheit des europäischen „Sehnsuchtsraums" 1.3. Die Mitte Europas als eigentliches Europa

118 119 126 128

2.

György Konrads symmetrische Mitte 2.1. Antipolitik - der mitteleuropäische Politikbegriff. 2.2. Die Mitte zwischen Individualismus und Kollektivismus 2.3. Die Mitte als Ort der Vielfalt

132 133 136 140

3.

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas 3.1. Antitotalitarismus 3.2. Das „Als ob" und seine subversive Wirkung 3.3. „Die Krise der menschlichen Identität" - zur Authentizität menschlicher Existenz 3.4. Regeneration Europas aus der Mitte

147 148 150 152 157

V. Mitteleuropa oder Europa? Eine Schlußbemerkung

165

VI. Literaturverzeichnis

171

VII. Personenverzeichnis

193

Vorwort

An dieser Stelle soll all denen gedankt werden, die unmittelbar an dem vorliegenden Buch mitgewirkt haben oder maßgeblich an seinem Zustandekommen beteiligt waren. Das ganze Unternehmen wurde von Herfried Münkler angeregt und später von Hans Vorländer in Dresden betreut. Beide haben mich auf jede erdenkliche Weise unterstützt, wofür ich mich herzlich bedanken möchte. Zu Beginn hat die Hans-Böckler-Stiftung, zuerst durch materielle, später durch ideelle Förderung das Projekt finanziell angeschoben. Karl-Siegbert Rehberg sei gedankt, daß er, neben den beiden Genannten, für ein Gutachten im Promotionsverfahren zur Verfügung stand. Von den Kollegen und Kolleginnen, die mir durch ihre aufmunternde Kritik geholfen haben, seien für viele stellvertretend nur einige genannt. Die „alte" Dresdner Kollegin, Ulrike Fischer-Inverardi, sowie Raimund Ottow und Dietrich Herrmann. Dietrich hat mit unermüdlicher Hilfe Grob- und Feinschliff an diversen Ausdrucken vorgenommen. André Brodocz hat in der Schlußphase mit seinem Verständnis für einen belasteten Kollegen einiges auf sich genommen. Gabriele Schneider aus Berlin gebührt ein besonderer Dank. Sie hat den Abgabetermin gesetzt, den ich nicht zu überschreiten wagte. .Zuletzt möchte ich auch denen danken, die nicht erwähnt werden möchten: meinen Eltern und Lucia. Die Arbeit wurde durch einen Druckkostenzuschuß der Hans-Böckler-Stiftung gefördert und erhielt im Sommer 2000 den Dr. Walter Seipp Preis der Universität Dresden. Namentlich sei dafür Werner Fiedler und dem Stifter persönlich gedankt. Dresden, April 2001

I. Einleitung

Die Frage, ob sich in Europa zwischen Nord und Süd oder West und Ost eine eigenständige Mitte würde etablieren können, gehört zur Selbstverständigungsdebatte Europas, wie die Suche nach seiner Einheit. Vor annähernd zweihundert Jahren schloß der französische Historiker und Philosoph Abbé de Pradt die Möglichkeit einer eigenständigen Mitte Europas zwischen Rußland und England kategorisch aus. Das europäische Kernland habe, so de Pradt, nur die Wahl zwischen „zwei Flaggen", die „an den äußersten Enden Europa's wehen". Jede europäische Macht müsse sich „entweder unter das eine oder das andere Banner begeben." 1 Die Entscheidung, die de Pradt den Europäern glaubte abverlangen zu müssen, war in erster Linie eine zugunsten einer konkreten kabinettspolitischen Allianz. Doch schwang in seinen Worten auch eine Entscheidung fur eine bestimmte geistesgeschichtliche Tradition mit. England stand in de Pradts geophilosophischen System für maritimen Individualismus und freiheitlich orientierten Konstitutionalismus, Rußland dagegen für kontinental geprägten Autokratismus. „Die russische Regierungsform", so de Pradt, „ist ein asiatisches Kind, der Fürst vereinigt sie ganz in sich selbst." 2 Preußen, das auf dem Kontinent zunehmend an Gewicht gewann, und die Habsburg-Monarchie sahen jedoch keine Notwendigkeit, sich zur Peripherie des westlichen oder östlichen Paradigmas erklären zu lassen und versuchten, ihre jeweils eigenen Vorstellungen als dominante Macht in der Mitte Europas auszufechten. Gegen de Pradts These des europäischen Dualismus formuliert, entstand daraus im 19. Jahrhundert die Mitteleuropaidee in zwei unterschiedlichen Ausprägungen. Auf der einen Seite ein preußisch dominierter, im Ersten Weltkrieg kulminierender, ökonomisch fundierter Kulturimperialismus, und auf der anderen Seite ein auf die Gegebenheiten im Vielvölkerreich Habsburg abgestimmter multiethnischer Begriff von Mitteleuropa. Mit dem Ende Österreich-Ungarns wurde diese und mit dem Ende des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg auch jene Idee Mitteleuropas ihrer historischen Möglichkeiten entkleidet. Nachdem in den achtziger Jahren Dissidenten aus dem Exil oder den Urbanen Zentren Ostmitteleuropas gegen die dominante Vorstellung eines in West und Ost aufgespaltenen Europas die Möglichkeit einer eigenständigen europäischen Mitte wieder

1

2

A b b é de Pradt, Vergleichung Schmalkalden 1814, 1. Ebd., 107.

der englischen

und russischen

Macht

in Beziehung

auf

Europa,

Einleitung

9

ins Gespräch gebracht hatten, sahen sie sich mit den angesprochenen zwei Strängen der Mitteleuropaidee konfrontiert. Die Erneuerer der Idee hegten jedoch gänzlich andere Vorstellungen als ihre Vordenker aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Was sie an der Idee retten wollten, jenseits der deutschen Verstrickung, war die Idee der Vermittlung, der Mitte - auch in metaphorischer und symbolischer Bedeutung - und die Funktion der brückenschlagenden Nationen in der Mitte Europas. Sie bestärkten damit die These, daß es wichtiger denn j e geworden sei, eine Vermittlung zwischen den „nach Europa hineinragenden Flügelmächten" zu begründen. Sie strebten im übertragenen Sinne eine „translatio imperii" an. Angereichert wurde die Mitteleuropaidee der Dissidenten mit den jeweils spezifischen nationalen Traditionen und den Erfahrungen der Nachkriegszeit. Die Mitteleuropaidee schaffte es dabei zwei konkrete politische und gesellschaftliche Ordnungskonzepte symbolisch zu verdichten. Auf der einen Seite konnte die Idee der Mitte symbolisch an die Idee der Zivilgesellschaft anknüpfen, die sich selber in einer doppelten Vermittlungsrolle sah. Sie vermittelte zwischen dem als individualistisch etikettierten Westen und dem kollektivistischen Osten auf der geopolitisch-internationalen Ebene wie auch zwischen dem Individuum und dem Staat auf der gesellschaftlich-nationalen Ebene. Ebenso gab es zahlreiche Berührungspunkte der Idee der Antipolitik mit der Mitteleuropaidee. Das im Ost-West-Machtkampf befangene Politikverständnis der Großmächte sollte durch ein republikanisches Politikverständnis abgelöst werden, das ebenso im Bild der Mitte symbolisch aufgehoben werden konnte. Konzentriert sich eine Darstellung der Mitteleuropaidee demnach stärker auf die symbolischen Bedeutungsgehalte der Diskurse einer sich ihrer europäischen Wurzeln selbstvergewissernden intellektuellen Elite, kommen Verbindungen zum Oppositionsdiskurs der siebziger und achtziger Jahren in Ostmitteleuropa in den Blick, die bisher bei der Betrachtung der Mitteleuropaidee weitgehend vernachlässigt worden sind. Gleichzeitig wird sichtbar, daß Bilder, Motive und Symbole revitalisiert werden, die schon in den Selbstdarstellungsversuchen Deutschlands als Mitte und Vermittlungsinstanz Europas bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Mit Hilfe geographischen Sachverstands wurde versucht, die Mittellage Deutschlands zur Bestimmung eines eigenständigen Raums in der Mitte Europas heranzuziehen, dies auch mit dem Versuch, eine Mitte zwischen Individualismus und Kollektivismus - oder Konstitutionalismus und Autokratie - zu besetzen. 3 Nach der Gründung des kleindeutschen Kaiserreichs durch Bismarck geriet die Vermittlungsdimension der Mitteleuropa-Idee in Vergessenheit und wurde erst wieder stärker aufgegriffen, als die Allianz von Kaiserreich und Österreich-

3

Beispielhaft kann hier auf Constantin Frantz verwiesen werden, der in sehr deutlichen Worten die Gefahren für Europa aufmalt, wenn nicht Deutschland gegen die aus Ost und West eindringenden Flügelmächte „die europäische Menschheit" verteidigt. Europa drohe „wie ein Lehmbrei durch die Pariser Schablone gedrückt" zu werden, „um hintennach in dem Glutofen der Revolution gebrannt und mit dem Firniß einer sogenannten Zivilisation überstrichen, schließlich aber, wenn auch dieser Firniß verblichen, als ganz ordinärer Ziegelstein zu einer russischen Kaserne vermauert zu werden..." Constantin Frantz, zitiert nach: Herfried Münkler, „Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung", in Leviathan 19.Jg. (1991), 537.

10

Einleitung

Ungarn als europäische Wirtschafts- und Heeresgemeinschaft wiederentdeckt wurde. Die Allianzpläne konnten sich auf eine breite geistesgeschichtliche Strömung innerhalb eines Teils des deutschen Bildungsbürgertums stützen, welches die These vertrat, deutsche Kultur gehöre weder dem Westen noch dem Osten an, sondern sei ein eigenständiges ideenpolitisches Zentrum in Europa. Dies kam u.a. in den sogenannten „Ideen von 1914" zum Ausdruck, und strahlte weit bis ins liberale Bürgertum zu Max Weber, Ernst Troeltsch und Friedrich Naumann. 4 In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Mitteleuropa-Idee in das aggressive Großraumdenken Hitlers integriert und geriet unter die Dominanz geopolitischer Fragestellungen, womit die Vorstellung der Vermittlung vollständig verschwand. Das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, die Zweiteilung Deutschlands, dokumentierte sicherlich am eindrücklichsten die scheinbare Unmöglichkeit einer europäischen Mitte. Die Westorientierung der Bundesrepublik gehörte - wenn auch auf eine andere Art und Weise - zum Grundbestand der politischen Kultur der Bundesrepublik, wie die Ostorientierung zur politischen Kultur der DDR gehörte. Und so war es denn auch nicht Deutschland, aus dem in den achtziger Jahren der Impuls zu einer Wiederaufnahme der Idee einer eigenständigen Mitte jenseits von Ost und West ausging, sondern es waren die sich in westlichen Traditionen verankert wissenden Tschechen, Polen und Ungarn. Dort hat eine deutungskulturelle Revolution die Selbstverständigung der ostmitteleuropäischen Länder ergriffen, um die Ostorientierung, die von vielen Intellektuellen als gewaltsame Oktroyierung einer fremden Kultur begriffen wurde, zu verurteilen. Freilich ist es zu früh, aus den Auflösungserscheinungen der Ost-West-Metageographie in Europa einen generellen Verlust der Ordnungskraft dieser Begrifflichkeit abzuleiten. Man könnte sogar argumentieren, daß gerade die Renaissance der Mitte die räumlich-geographischen Wurzeln der zur Verselbständigung neigenden Begriffe von West und Ost wieder ins Bewußtsein gebracht hat. 5 Dies gilt im übrigen nicht nur für die Mitte Europas, sondern ebenfalls für Europa als globale Mitte. So schreibt Peter Sloterdijk in seinem Essay Falls Europa erwacht". „Zahlreiche Interpreten haben dem Befund und der Empfindung Ausdruck gegeben, daß Europa seit 1945 aus seiner über-

4

Nur in wenigen Fällen haben wir es jedoch mit der Idee der Mitte im engeren Sinne zu tun. Dienten doch die „Ideen von 1914" einer Abgrenzung nach Westen, verbunden mit einer oft schwärmerischen Hinwendung zu Rußland. Hinweise dazu habe ich dem Vortrag von Harald Bluhm, Demokratiekritik als Abgrenzung gegen den Westen: Muster der Dostojewski- und Tolstoi-Rezeption am Anfang des 20. Jahrhunderts, Vortrag auf dem 20. Wissenschaftlichen Kongreß der DVPW, unveröffentlichtes Manuskript, Bamberg 1997 entnommen. Vgl. dazu u.a. die Tolstoi-Rezeption Max Webers in: Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende. Tübingen 1993 und die berühmten Passagen in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, (Frankfurt/M. 1983) wo es z.B. heißt: „Es ist für mich keine Frage, daß deutsche und russische Menschlichkeit einander näher sind, als die deutsche und die lateinische." (430). Insgesamt zu den geistesgeschichtlichen Traditionen der „Ideen von 1914": Klaus von See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt/M. 1975.

5

Martin W. Lewis/ Kären E. Wigen, The Myth of Continents. ley u.a. 1997.

A Critique

of Metageography,

Berke-

Einleitung

11

lieferten Stellung in der Mitte der Welt herausgefallen sei. Von Kolumbus bis Hitler", so Sloterdijk weiter, „war es eine gutbegründete gemeineuropäische Überzeugung, daß jenes zerklüftete Kap der euroasiatischen Landmasse, das sich von Lissabon bis Budapest, Prag und Warschau und von Palermo bis Stockholm und Dublin erstreckt, den geopolitischen und ideenpolitischen Brennpunkt des Erdballs darstelle." 6 Den epochalen Einschnitt des Jahres 1945 bringt Sloterdijk auf die kurze Formel: „Europa wird von den Alliierten befreit - Europa wird von neuen Weltmächten im Westen und Osten in die Zange genommen." 7 Und so schienen sich die oben angedeuteten Visionen des weltpolitisch denkenden Franzosen de Pradt zu bewahrheiten, daß eine eigenständige Mitte zwischen West- und Ostmächten in Europa auf Dauer keine Chance haben würde. Die Teilung Deutschlands wurde zum Sinnbild für die Unmöglichkeit einer einheitlichen europäischen Mitte. Doch seit 1989 sind die Debatten darüber wieder stärker geworden, welchen Ort Europa und darin Deutschland in dem neuen geopolitischen Geflige einnehmen werden. So läßt sich der oben angedeutete Gedanke Sloterdijks fortsetzen, „daß die Folgen der Zusammenbrüche im Osten die Europäer dazu drängten, das ebenso pathologische wie realistische Zangen-Weltbild des Kalten Krieges preiszugeben und über sich selbst und ihren Stil des Daseins in der Welt neu und grundsätzlich Rechenschaft zu geben. Seither erleben Diskurse über eine „Wiederkehr Europas" besonders in Deutschland, aber auch in Frankreich, Österreich und in Osteuropa eine muntere Konjunktur." 8 Die Zeit nach 1989 war in der Tat gekennzeichnet durch Wiederkehr, Rückblicke und Renaissancen. Dies sogar in so umfangreichen Maße, daß den politischen Umwälzungen der Charakter der Revolution im modernen Wortsinn abgesprochen wurde. 9 So konträre

6

Peter Sloterdijk, Falls Europa

erwacht,

Frankfurt/M. 1994, 7. Sloterdijk greift hier die an Paul

Valerys Begriffe erinnernde Spannung zwischen europäischer Wirklichkeit und Möglichkeit auf. Valery: „Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlands? Oder wird Europa das bleiben, was es scheinbar ist: der kostbarste Teil unserer Erde, die Krone unseres Planeten, das Gehirn eines umfänglichen Körpers." Paul Valery, „Die Krise des Geistes", in ders. Werke Bd.7, Frankfurt/M. 1995, 34. Auch für Hegel hielt Europa die Mitte zwischen dem „geistig-stummen Afrika" und dem „ausschweifend-wilden Asien"; Europa bilde, so Hegel, „das Bewußtsein, den vernünftigen Theil der Erde, das Gleichgewicht von Strömen und Thälern und Gebirgen, - dessen Mitte Deutschland ist" (Hegel, zitiert nach Hans-Dietrich Schultz, „Räume sind nicht, Räume werden gemacht: zur Genese Mitteleuropas in der deutschen Geographie", in Europa Regional

5.Jg. (1997), 2.

7

Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht,

8

Ebd., 14/15.

9

8.

Oder es wurden dem Revolutions-Begriff qualifizierende, mäßigende Adjektive vorangestellt, wie ausgehandelte, samtene oder sanfte, w o Runde Tische zu Symbolen dieses Übergangsprozesses geworden sind. Den gleichen Sachverhalt, die Gleichzeitigkeit revolutionärer, radikaler Umwälzung und reformerischer Übergangsprozesse, bringt der englische Historiker T.G. Ash mit dem Begriff der Refolution zum Ausdruck. Ulrich K. Preuß schreibt dazu: „Revolution und radikaler Neubeginn ohne die ungebundene Allmacht eines pouvoir constituant, das Bewußtsein des Fortschritts ohne den Anspruch auf grenzenlose Ausdehnung politischer Macht- und Wissenskontrolle über die Gesellschaft, der Kampf um die Verfassung ohne die Heilserwartung einer endgültigen politischen

12

Einleitung

B e o b a c h t e r des Z e i t g e s c h e h e n s w i e Jürgen H a b e r m a s und Joachim Fest stellen im U m b r u c h s p r o z e ß „den fast v o l l s t ä n d i g e n M a n g e l an innovativen, z u k u n f t s w e i s e n d e n Ideen" fest. „ D e n wahrhaft verwirrenden, ins Zentrum z i e l e n d e n Charakter", s o Fest, „erhielten die E r e i g n i s s e (...) a n g e s i c h t s der Tatsache, daß sie gerade nicht j e n e s Element sozialrevolutionärer E m p h a s e enthalten, v o n d e m s o gut w i e alle historischen R e v o l u t i o n e n der N e u z e i t beherrscht waren." 1 0 A u c h Ulrich K. Preuß argumentiert ähnlich, w e n n er schreibt: „ A u f m e r k s a m e n B e o b a c h t e r n der E r e i g n i s s e in Ost- und Mitteleuropa k o n n t e nicht e n t g e h e n , daß das für die s o z i a l e n R e v o l u t i o n e n charakteristische Fortschritts- und k o l l e k t i v e E m a n z i p a t i o n s p a t h o s hier v ö l l i g fehlte, statt d e s s e n deutlich das B e s t r e b e n z u m A u s d r u c k kam und k o m m t v e r f a s s u n g s p o l i t i s c h an das Erbe der bürgerlichen R e v o l u t i o n e n und g e s e l l s c h a f t s p o l i t i s c h an die Verkehrs- und L e b e n s f o r m e n d e s e n t w i c k e l t e n Kapitalismus (...) A n s c h l u ß zu finden." 1 1 Im e i n e n w i e im anderen S i n n e w u r d e n die Phantasien der B e t e i l i g t e n o f f e n s i c h t l i c h stärker v o n der B e e n d i g u n g e i n e s als S a c k g a s s e e m p f u n d e n e n „ S o n d e r w e g s " und d e m A n s c h l u ß an e i n e a b g e b r o c h e n e E n t w i c k l u n g angeregt, als v o n - w o m ö g l i c h sogar b e s c h l e u n i g t e m Vorwärtsschreiten a u f e i n e m e i n g e s c h l a g e n e n Pfad. 1 2 D e r g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n ,

10

" 12

Befreiung - dies sind Kennzeichen der Revolutionen von 1989, die im deutlichen Gegensatz zu den hervorstechenden Merkmalen der Revolution des Jahres 1789 stehen." Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung, 10. Joachim Fest, zitiert in: Jürgen Habermas, „Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf'; in ders., Die nachholende Revolution, Frankfurt/M. 1990, 181. Zur Diskussion um die Anwendbarkeit des Revolutionsbegriffs auch: Ralf Dahrendorf, „Politik, Wirtschaft und Freiheit"; in Transit 1 (1990), 35-47; Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung, Berlin 1990, 52ff. Die Beobachter, die auf die dramatischen institutionell verankerten Umwälzungen von Macht-, Herrschafts-, Wirtschafts- und Sozialstrukturen und den damit verbundenen Elitenwechsel schauen, kommen zu dem Ergebnis, daß es sich 1989 eindeutig um eine Revolution gehandelt hat. Sie haben einen an der Französischen Revolution geschulten Revolutions-Begriff. Die friedliche, in weiten Teilen zumindest gewaltlose Umwälzung bedeutet aus dieser Sicht mit Recht keine Einschränkung. Revolutionen müssen nicht gewaltsam ablaufen. Der „Mangel" an Chaos und Gewalt führte höchstens dazu, daß qualifizierende Adjektive, wie „samtene" oder „ausgehandelte" dem RevolutionsBegriff beigefügt wurden. Die erstaunlich geregelten Übergänge in Polen, Ungarn und - wenn auch in geringerem Maße - in der Tschechoslowakei ließen die Suche nach alternativen Begriffen nicht abbrechen. Ralf Dahrendorf sprach mit Blick auf die Erfahrungen der französischen Revolution lieber von „Übergängen" als von Revolution. In Frankreich habe die Revolution die ursprünglichen Ziele und ihre Vertreter verraten, sei schließlich zu einer Verfallsstufe des Übergangs degeneriert. Anders diejenigen, die von der Revolution als Neubeginn eines politischen Gemeinwesens ausgehen. (Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1974). Neuerdings: Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen. Zivilgesellschaft und Legitimitätskonflikt in den Revolutionen von 1989, Opladen 1996. Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung, 52ff, 59. Im vormodernen Revolutions-Begriff steckt die Wortbedeutung einer Rückkehr oder Revolution im Sinne einer rückspulenden Veränderung. Vgl. dazu: Ferenc Feher, „Eastern Europe's Long Revolution Against Yalta"; in ders./Andrew Arato (Hrsg.) Crisis and Reform in Eastern Europe, New Brunswick/London 1991; 481-512. Auf diese rückspulenden Elemente in den 89er Revolutionen

Einleitung

13

teleologischen Dimension, die auch noch modernisierungstheoretischen Erklärungsmustern anhaftet, wurde eine mit historischen Elementen argumentierende Vorstellung eines besonderen Raums entgegengehalten. Bei westlichen Beobachtern der revolutionären Umbrüche wurde diese besondere Raumvorstellung jedoch meist nicht ausreichend berücksichtigt. Der von Jürgen Habermas in diesem Zusammenhang geprägte Begriff der nachholenden Modernisierung ist für dieses Defizit charakteristisch - wie zahlreiche andere modernisierungstheoretische Erklärungsmuster.13 Suggeriert er doch die Vorbild-Funktion des westlichen Weges „Anschluß an den kapitalistisch entwickelten Westen" (Habermas) - und impliziert die Universalisierbarkeit der Modernisierung, die Übertragbarkeit des westlichen Wegs auf kulturell andersartige oder sich als andersartig verstehende Regionen. Er vernachlässigt den Aspekt, daß die betroffenen Länder - zumindest Ostmitteleuropas - gezielte Vorstellungen einer eigenständigen Anknüpfung an einen wie auch immer gestalteten Ausgangspunkt entwickelten und von einem Neuanfang sprachen.14 Denn beide Fraktionen: Neugründer wie Rückbesinner beziehen sich auf eine politisch-kulturelle Unterfiitterung ihrer politischen Ziele. Kein Wunder also, daß den Historikern und Schriftstellern im Prozeß der sanften Revolution eine besondere Rolle zufiel. So ist der Umbruch auch am treffendsten mit dem Begriff der „self-limiting revolution" gekennzeichnet worden.15 Dieser auf den polnischen Fall gemünzte Begriff kann erklären, wie sich die Mitteleuropa-Diskussion in das Diskurs-Gefiige der vorrevolutionären Zeit einpaßt. Im vorrevolutionären Umfeld der post-stalinistischen Konsens-Diktaturen Ostmitteleuropas gewannen Aushandlungsprozesse zwischen „der Gesellschaft" und dem Staat/der Partei zunehmend an Bedeutung. Dies begann mit einer Nationalisierung der kommunistischen Politik unter Gomulka und endete mit dem auf Versöhnung und Konsens ausgerichteten Angebot ostmitteleuropäischer Intellektueller, das in dem Angebot einer gemeinsamen mitteleuropäischen Identität verschlüsselt wurde. Die auf Verhandlung ausgelegten Revolutionsprozesse boten den konsensorientieren Angeboten der ostmitteleuropäischen Intellektuellen einen größeren Raum. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß diese „Rückkehr nach Europa" auch mit einfachen Feindbildern operierte: Antisowjetisch/antirussisch, antikapitalistisch, antitotalitär, mit Bildern des asiatisch-

hat jetzt auch Winfried Thaa hingewiesen in: ders., Die Wiedergeburt

des Politischen,

der jedoch in

seiner Darstellung die Mitteleuropa-Idee vollständig ausblendet. 13

Jürgen Habermas, „Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf', dazu auch Klaus Müller, „Nachholende Modernisierung? Die Konjunkturen der Modernisierungstheorien und ihre Anwendung auf die osteuropäischen Gesellschaften"; in Leviathan,

14

19. Jg. (1991), H.2, 261-291.

Für diese Länder ist die Revolution nämlich nicht identisch mit der Umwälzung der Gesellschaftsordnung, sondern orientiert sich an den Erfahrungen der Neugründung eines politischen Raums (Hannah Arendt, Über die Revolution).

Nicht die formale Freiheit, die aus dem Zusammenbruch

des Kommunismus und der Einrichtung einer bürgerlichen Gesellschaft resultiert, sondern die materielle Freiheit einer durch den Akt der Volkssouveränität eingerichteten Bürgergesellschaft steht hier im Vordergrund. Das anhaltend große Interesse der zeitgenössischen Politikwissenschaft an Arendts Politik-Begriff ist durch die zentrale Stellung des Bürgers in ihrer politischen Konzeption zu erklären. 15

Vgl. dazu: Jadwiga Staniszkis, Poland's

Self-limiting

Revolution,

Princeton, N.J. 1984.

14

Einleitung

despotischen Rußland oder des atomistisch-amoralischen Westen. Diese ambivalente Pluralisierung Europas zeigte sich auch an anderer Stelle mit der Gleichzeitigkeit von Zivilgesellschaft und Nationalismus, kultureller Rückbesinnung und ethnischer Säuberung, Religiosität und Kosmopolitismus. Der Zerfall der wirtschaftlich und militärisch auf Moskau ausgerichteten osteuropäischen Bündnisstrukturen hat Rußland aus der Mitte Europas herausgedrängt. Die Ostmitteleuropäer haben sich in vielfältiger Weise an die westlichen Bündnisstrukturen angenähert und die Heterogenität des ehemaligen Ostblocks thematisiert, der sich auch in der unterschiedlichen Implementierung neuer Institutionen darstellte. Die weitestgehend friedlich verlaufenen „Revolutionen" führten zum Ende der Planwirtschaft, zur Wahl der Parlamente, dem Entstehen von Parteien, kurz: zur Liberalisierung der Wirtschaft und Liberalisierung und Demokratisierung von Politik und Gesellschaft. Der Rückzug der Sowjetunion hat neben ihrem eigenen Zerfall auch den anderer multinationaler Föderationen zur Folge gehabt; in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien oder der Sowjetunion selber führte dies zu einem Wiederaufleben des Nationalismus. Doch nicht nur die Bedeutung der Nation nahm zu, auch die Religion wurde wieder zu einem unüberhörbaren Faktor im öffentlichen Leben; folkloristische und monarchistische Traditionen lebten auf; die (nationale) Geschichte wurde wieder wichtiger. 16 Damit entstanden neue Verbindungen und Solidargemeinschaften, aber auch Erinnerungen an alte „cleavages". Diesen Entwicklungen, die ihren dynamischen Kern im Osten Europas haben, steht die Entwicklung der westlichen EU entgegen, die ihre Integration weiterhin primär über ökonomische Kooperation vorantreiben will. Der weitgehende Verzicht der Politik wie auch der intellektuellen Öffentlichkeit im Westen Europas, eine europäische Identität auch historisch zu bestimmen, steht in auffälligem Kontrast zur ideellen Aufbruchstimmung im Osten Europas. Für die westliche Berichterstattung der unmittelbaren Wendeund Nachwendezeit war die Euphorie über das Ende des Kalten Krieges, den Sieg des Liberalismus und der Demokratie genauso kennzeichnend wie die Vorstellung, das westliche Modell jetzt auch auf den Osten übertragen zu können. Doch wie angedeutet, knüpfen die osteuropäischen Nachbarn nicht an die erreichten Entwicklungsstände im Westen an, sondern orientieren sich offensichtlich an eigenen Traditionen und an Vorstellungen einer historisch fundierten Neugründung des öffentlichen Raums. Die oben vorgestellte Perspektive Sloterdijks läßt den Eindruck zu, daß aus der Sicht einer histoire de longue duree die kurze Nachkriegszeit als Ausrutscher der Weltgeschichte erscheinen könnte, der 1989 endet und eine Phase der Normalisierung einleitet. Damit

16

Um nur ein Beispiel zu nennen, hat die Regierungsmehrheit im neugewälten ungarischen Parlament sich bei der Wahl zwischen dem republikanischen, sogenannten Kossuth-Wappen und dem royalistischen Wappen mit der Sankt-Stefanskrone für letzteres entschieden. Doch auch in Polen, mit der Bedeutung der Katholischen Kirche zeigte sich der Stellenwert der Tradition und der Geschichte, ebenso wie in der Tschechoslowakei bei der großen Bedeutung des heiligen Wenzel in der Revolutionssymbolik.

Einleitung

15

werden Anknüpfungen an Konstellationen, die zu Beginn dieses Jahrhunderts (1914) zerbrachen, wieder möglich. 17 Unter diesen Voraussetzungen erscheint es sinnvoll, der Diskussion über die Eigenständigkeit eines mitteleuropäischen Kulturraums noch einmal Aufmerksamkeit zu schenken. Ist doch damit zu rechnen, daß nach dem Zerfall der Neugründungs-Euphorie, die Diskussion um die noch keineswegs abgeschlossenen Umbrüche in der politischen Kultur Ostmitteleuropas auch weiterhin unter Rückgriff auf Argumentationsfiguren gefuhrt werden wird, die im kulturellen Gedächtnis dieser Länder verankert sind. In diesen Diskussionen wird auch weiterhin neben die Betonung nationaler Besonderheit die Auseinandersetzung um Gemeinsamkeiten der Mitteleuropäer treten. Diese neue Konstellation überfordert die eingefahrenen Denkmuster der Nachkriegszeit. Die Blockgrenzen waren auch „Sinngrenzen". Heute dagegen zeichnet sich eine mit zahlreichen Spannungen durchzogene Orientierungsphase ab, in der politische Deutungsangebote wie in einem großen Laboratorium ausprobiert und Denkblockaden aufgehoben werden. So könnte die aus dem Osten Europas angeregte Auseinandersetzung über die Identität Europas auch auf die westliche Debatte anregend wirken. 18 Die Frage nach dem Sinn Mitteleuropas 19 muß heute mehr denn je interessieren, auch wenn die Anstrengungen, diesen Sinn zu finden, sich nicht unbedingt in Form von Institutionen (Visegrad-Staaten, Pentagonale) niederschlagen. 20 Politische Ideen, die keine organisatorischen Folgen zeitigen, können trotzdem - oder auch gerade deswegen - von großer kultureller Bedeutung sein. Auch wissenschaftlich sind sie interessant:

17

Umberto Eco, „Wir sind heute wieder bei 1914 angelangt"; in: Frankfurter

Rundschau

vom 7. N o -

vember 1992. 18

Die Diskussion um eine europäische Identität hat in letzter Zeit zunehmend Anregungen erhalten. Vgl. dazu: Nicole Dewandre und Jacques Lenoble (Hrsg.): Projekt Europa. tät: Grundlage

für eine europäische

Demokratie?,

Postnationale

Identi-

Berlin 1994. Die zahlreichen Arbeiten von

Gerard Delanty, Inventing Europe; Basingstoke 1995; ders., „The Frontier and Identities of Exclusion in European History"; in: History

of European

Ideas 22 (1996), 93-103; ders., „The Limits

and Possibilities of a European Identity"; in Philosophy

& Social Criticism

21 Jg. (1995), 15-36;

Dazu auch: Walter Reese-Schäfer, „Supranationale oder transnationale Identität - zwei Modelle kultureller Integration in Europa"; in PVS38 sche Identifikation bürgerschaft 19

und bürgerschaftliche

(1997), Heft 2, 318-329; Herfried Münkler,

Kompetenz.

Vorbedingungen

einer europäischen

EuropäiStaats-

(unveröffentlichtes Manuskript); ders., „Europa als politische Idee", 97-150.

Die Frage nach dem „Sinn Mitteleuropas" lehnt sich Eric Hobsbawms Frage nach dem Sinn Europas an. (Ders., „Welchen Sinn hat Europa?"; in: Die Zeit vom 4 . 1 0 . 1 9 9 6 ) .

20

Daß die anhaltende Rede von Ostmitteleuropa nicht ganz ohne Konsequenzen blieb, zeigt, daß in zahlreichen Schriften wie selbstverständlich von Ungarn, Tschechoslowakei und Polen als einer einheitlichen politisch-kulturellen Region gesprochen wird. Neben vielen sei hier nur hingewiesen auf: Gerd Meyer, Die politischen

Kulturen Ostmitteleuropas

im Umbruch, Tübingen 1993. Seit der

Trennung Tschechiens und der Slowakei fällt letztere zunehmend aus der Region heraus, wie unlängst die gemeinsamen Aufnahmeverhandlungen Tschechiens, Ungarns und Polens um einen Platz in der N A T O gezeigt haben und zuvor schon deren Aufnahme in das Europa-Parlament und in die KSZE, sowie die ausgehandelten Assoziierungsabkommen mit der EG und die abgeschlossenen Verträge zur militärischen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Vgl. dazu ebd., 34.

Einleitung

16

w e r f e n sie d o c h ein Licht darauf, daß der politische R a u m , in d e m Identitätsfindung funktionieren soll, i m m e r auch - oder in m a n c h e n Fällen sogar a u s s c h l i e ß l i c h - ideell konstruiert oder vorgestellt w e r d e n muß. 2 1 D a s s c h o n fast sprichwörtlich g e w o r d e n e V e r s a g e n der S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n bei der V o r h e r s a g e der d e m o k r a t i s c h e n „ R e v o l u t i o n e n " v o n 1 9 8 9 ist nicht o h n e Grund a u f die strukturell bedingte s o g e n a n n t e r „ w e i c h e r A n a l y s e f a k t o r e n " zurückgeführt w o r d e n .

Vernachlässigung

Im N a c h h i n e i n ,

m e i n t G a l e S t o k e s , hat sich die a u f harte empirische, meßbare Fakten -

so

„hard-nosed

analysis" - konzentrierte S o z i a l w i s s e n s c h a f t blamiert. K o n s e q u e n t fordert er daraus, w i e d e r stärker a u f eine „soft analysis" zurückzugreifen, die in der L a g e sein sollte, „kulturelle, religiöse, ethische und e m o t i o n a l e G e s i c h t s p u n k t e zu berücksichtigen." 2 3 A u s der o f f i z i e l l e n ideokratisch b e s t i m m t e n Ö f f e n t l i c h k e i t , den staatlich

gelenkten

K o m m u n i k a t i o n s - und Informationskanälen war d i e T h e m a t i s i e r u n g v o n Weltbildern, O r d n u n g s v o r s t e l l u n g e n und geteilten Ü b e r z e u g u n g e n in die Untergrundliteratur der o s t m i t t e l e u r o p ä i s c h e n O p p o s i t i o n oder in kritische Beiträge in w e s t l i c h e n Zeitschriften verdrängt w o r d e n , v o n d e n e n sich ein Teil in der s o g e n a n n t e n M i t t e l e u r o p a - D i s k u s s i o n w i e d e r f i n d e n läßt. 2 4 D i e s e führte g e n a u die v o n S t o k e s g e n a n n t e n

21

22

23

24

Gesichtspunkte

Hier sei nur auf Perry Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen KonzeptsFrankfurt/M. 1988 und Eric Hobsbawm, „Inventing Traditions", in: ders. und Terence Ranger, The lnvention ofTraditon, Cambridge 1983, 1-14 hingewiesen. Stellvertretend für viele: Margareta Mommsen (Hg.), Nationalismus in Osteuropa, München 1992, die ihre Einleitung beginnt mit dem Satz: „Der fast gleichzeitige Zusammenbruch der osteuropäischen „realsozialistischen" Systeme kam für die westliche Kommunismusforschung ebenso Uberraschend wie für die am Zeitgeschehen interessierte Öffentlichkeit."(7) Auch Klaus von Beyme geht mit sich und der Sozialwissenschaft hart ins Gericht, wenn er nach den Gründen für „Fehleinschätzungen im positivistischen Mainstream" fragt. In: Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt/M. 1994, 17. Nicht zuletzt die Dominanz modernisierungstheoretischer Ansätze in der Kommunismus-Forschung hatte dazu geführt, den sozialistischen Systemen durchweg eine höhere Anpassungsfähigkeit zu bescheinigen als sie letztlich unter Beweis stellen konnten. Die weitgehende Vernachlässigung normativ-legitimatorischer Fragen im wissenschaftlichen Betrieb ist zwar aus der konkreten historisch-politischen Lage der Nachkriegszeit heraus verständlich. Schließlich galt die Totalitarismus-Forschung, die sehr offen Fragen der richtigen politischen Ordnung aufgegriffen hat als weitgehend verstrickt in politische Vorgaben und konnte die gestiegenen Erwartungen an meßbaren wertneutralen Outputs nicht erfüllen. Gale Stokes, zitiert nach Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen, 22 (Anm. 15). Im gleichen Sinne forderte dies auch Ulrich Beck, der konstatiert: „Das Weiche - die Orientierungen, Hoffnungen, Ideen, Interessen der Menschen - triumphiert über das Harte, die Organisation, das Etablierte, Mächtige, Bewaffnete" (Vgl. ebd., 13). Diesem Trend folgend hat auch die Institutionen-Forschung, wenn auch weniger metaphorisch, zwischen einer instrumenteilen und einer symbolischen Ebene der Integration unterschieden, wobei sie zunehmend Interesse an der letztgenannten Ebene gewinnt. Vgl. dazu u.a. Karl-Siegbert Rehberg, „Institutionen als symbolische Ordnungen", in Gerhard Göhler (Hrsg.) Die Eigenart der Institutionen, Baden-Baden 1994, 1-12. Vergleichbares gilt auch für die Politische-Kultur-Forschung, die erst in jüngster Zeit von quantifizierenden auf auch qualifizierende Analysen übergegangen ist. Vgl. dazu Karl Rohe, „Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit — Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Frage-

Einleitung

17

zusammen, indem sie neben religiösen auch kulturelle und ethische Kriterien in eine Diskussion über die zukünftige Gestaltung des mitteleuropäischen Kulturraums einbrachte. Die Mitteleuropaidee läßt sich somit als Fortsetzung der Zivilgesellschafts- 2 5 und Antipolitik-Diskussion innerhalb der ostmitteleuropäischen Opposition interpretieren, in dem Sinne, daß in ihr politisches Wissen nicht auf der Ebene von Handlungsund Institutionenrationalität beschrieben und kritisiert wurde, sondern auf der Ebene der „mentalen, kulturellen oder symbolischen Realitätsdimension." 2 6 Sie zeigt, daß die demokratische Opposition, kulturelle Elemente gegenüber einer Kritik der wirtschaftlichen Modernisierung oder mangelnder Reformen der sozialen Sicherung in den Vordergrund zu rücken versuchte, also eine Sozialrevolutionäre, „chronologisch-teleologische" Perspektive zugunsten einer „kulturrevolutionär- topologischen" 2 7 Perspektive aufzugeben suchte. Charakteristisch für die Intention der ostmitteleuropäischen Initiatoren der Mitteleuropa-Diskussion ist, daß sie ihre Wertvorstellungen, die moralischen Ansprüche auf Authentizität und Wahrheit, die Leitideen einer zivilen Gesellschaft und die Anerkennung von Bürgerrechten mit dem Bezug auf die historische Zugehörigkeit zu einem normativ aufgeladenen (mittel-) europäischen Kulturraum geographisch untersetzten. Der spezifische Charakter der Mitteleuropa-Diskussion zeichnet sich aus durch die ineinander verschränkte Thematisierung von politischer, kultureller, regionaler Identität und der politisch-theoretisch interessanten Aufwertung des Raums gegenüber der Zeit. 28

Stellung Politischer Kultur-Forschung"; in Dirk Berg-Schlosser und Jakob Schissler (Hrsg.) Politische

Kultur

in Deutschland:

Bilanz

und Perspektiven

der Forschung,

[PVS-Sonderheft

18]

Opladen 1987, 39-48. 25

Vgl. zur vollkommen ausgeuferten Debatte über die Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa u.a. die Arbeiten von Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Konstituierung des Politischen als Einlösung der ,Zivilgesellschaft' in Osteuropa?"; in B. Heuer/M. Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa Herausforderung

an die Philosophie,

als

Berlin 1995, 223-244. Als wichtige Analytiker der zivilen

Gesellschaft in Polen stehen Jadwiga Staniszkis, Poland's

Self-Limiting

Revolution

und die Sozio-

login Melanie Tatur, „Zur Dialektik der ,civil society' in Polen"; in Deppe/Dubiel/Rödel (Hrsg.) Demokratischer

Umbruch

in Osteuropa,

Frankfurt/M. 1991, 224-255; dies., „Die Bedeutung der

,etatistischen Gesellschaft' in Polen für die soziologische Theorie", in Leviathan, 292-304, dies., Solidarnosc 26

als Modernisierungsbewegung,

Theo Stammen, „Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels", in Aus Politik und Zeitgeschichte

27

20.Jg. (1992),

Frankfurt/M. 1989.

BIO/1993, 23.

Ich gebrauche hier das Begriffspaar chronologisch-topologisch um den Gegensatz von zeitlicher und räumlicher Orientierung deutlich zu machen.

28

Besonders die Verbindung von Geopolitik und politischer Theorie ist seit dem Nationalsozialismus ein schwieriges Gelände, das für die Forschung mühsam zurückerobert werden muß. Zu einigen Beispielen: Rainer Sprengel, „Land und Meer. Eine diskursanalytische Betrachtung", in: Welttrends 4/1994, 61-84; ders., Kritik der Geopolitik:

ein deutscher

Diskurs-, 1914-1944, Berlin 1996;

Anna Wolff-Poweska, „Chancen und Risiken der Mittellage der Deutschen"; in Welttrends 47-60, Yves Lacoste, „Für eine neue und umfassende Konzeption der Geopolitik"; in

4/1994, Welttrends

4/1994, 21-24; Dieter Weiser, „'Geopolitik' - Renaissance eines umstrittenen Begriffs"; in Außenpolitik

4/1994, 402-411, David Thomas Murphy, The Heroic Earth. Geopolitical

mar Germany,

1918-1933.

Kent/Ohio/London 1997

Thought in Wei-

18

Einleitung

An Formulierungen wie „Rückkehr nach Europa", „Verlust der europäischen Mitte", „Occident kidnappé", „gemeinsames europäisches Haus" - läßt sich der, wie Claus O f f e anmerkt, eigentümlich untheoretische Charakter der Umwälzung dokumentieren, der sich auch in den literarischen Formen widerspiegelt, die sich die Opposition als beliebtes Genre ausgesucht hat. „Statt Begriffen, Strategien, kollektiven Akteuren und normativen Prinzipien gibt es agierende Personen und ihre verbalen Augenblickserfindungen mit absichtsvoll undeutlichem semantischem Gehalt." 2 9 Und so war die Versuchung groß, die räumlichen Veränderungen in einer Zeitdimension aufzulösen unter Rückgriff auf das vertraute modernisierungstheoretische Paradigma. Man sprach von zivilisatorischen Ost-West-Gefällen (Offe) und von nachholenden Revolutionen (Habermas). Und selbst die Politische-Kultur-Forschung, die mit ihrem ForschungsParadigma durchaus Möglichkeiten hätte, sich auf Raumfragen auch theoretisch anspruchsvoll einzulassen, hat zumeist Vergleichsmaßstäbe aufgezogen, die am Westen gemessen einen Rückstand in zeitlicher Dimension konstatierte. Den Anstrengungen im politischen Denken der Ostmitteleuropäer wurde nur in Ausnahmefällen Aufmerksamkeit geschenkt. Und so wurde der einzige einigermaßen geschlossene Diskurs über den neuen Raum, die Mitteleuropa-Diskussion, aus politisch-theoretischer Sicht marginalisiert, um nicht zu sagen: ignoriert. Die Kritik, daß die politische Theorie angesichts der revolutionären Veränderungen in Ostmitteleuropa in eine auffallende Sprachlosigkeit verfallen sei, wurde erst vor kurzem erhoben. 0 Das vernichtende und provokative Urteil des amerkanischen Politikwissenschaftlers Jeffrey C. Isaac über die Fähigkeit und Bereitschaft der amerikanischen politischen Theorie kann auch auf die deutsche politische Theorie übertragen werden. Dennoch ist zu beobachten, daß gerade aus der Sicht der Historiker die Föderationskonzepte, seien sie nun aus dem ostmitteleuropäischen 3 1 , österreichisch-ungarischen oder deutschen Raum die größte Aufmerksamkeit genossen haben. Die Schwerpunkte haben sich dabei in den letzten Jahren verschoben. Konnten die wichtigen Arbeiten der Nachkriegszeit noch Friedrich Naumann 3 2 und die Diskussion im Ersten Weltkrieg in

29

Claus Offe, „Dilemma der Gleichzeitigkeit"; in ders. Der Tunnel am Ende des Lichts, 1994, 58/59.

30

Jeffrey C. Isaac, "The Strange Silence of Political Theory", in Political 652.

31

In dem Zusammenhang sei hier nur hingewiesen auf den Band von Richard G. Plaschka und Anna M. Drabek (Hrsg.) Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20.Jh. [ZentraleuropaStudien, B d . l ] Wien 1995.

32

So die wichtigen Arbeiten von Jacques Droz, L 'Europe Centrale. Evolution historique de l'idée de „Mitteleuropa", Paris 1960; Henry Cord Meyers Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945, The Hague 1955. Die 1955 von Meyer vorgelegte umfassende Studie „Mitteleuropa" in German Thought and Action ist stärker noch als die wenig später von Droz vorgelegte Studie aus dem Problemumfeld des Ersten und Zweiten Weltkrieges heraus geschrieben. Meyer verengt die Diskussion sehr stark auf den großdeutschen Strang (vgl. Jacques Le Rider, Mitteleuropa - Auf den Spuren eines Begriffs, Darmstadt 1994, Anm. 38 ) und Droz öffnet den Blick auf den, wie Rider schreibt, „viel hoffähigeren Strang", der an das Heilige Römische Reich deutscher Nation anknüpft.

Frankfurt

Theory 23. Jg. (1995), 636-

Einleitung

19

den Mittelpunkt stellen, so hat sich jüngst der Schwerpunkt auf die aktuelle Diskussion verlagert. 3 Die auf die deutschen Zentralmachtphantasien und die föderalistischen Gegengewichte konzentrierten Arbeiten, können die von Jacques Le Rider mit Recht betonte Dimension der „Idee der Mitte" nicht vollständig abdecken. An diesem Defizit versucht diese Studie anzusetzen. In den bisherigen Arbeiten wurde, so meine These, nicht ausreichend auf die Idee der Mitte Bezug genommen. Zahlreiche Arbeiten, die zur Mitteleuropa-Idee geschrieben wurden, waren gar nicht - oder nicht vorrangig - damit beschäftigt, einen eigenständigen Raum in der Mitte Europas zu beschreiben. Dazu, so meine weitere Argumentation, bedarf es zumindest des Versuchs, Grenzziehungen nach Osten und Westen vorzunehmen. Die Idee der Mitte lebt j a gerade von der symmetrischen Grenzziehung nach Westen und Osten und versucht im Extremfall durch eine Multiplizierung der Bezugspunkte, das einfache Entweder-Oder des dualistischen OstWest-Konzeptes aufzubrechen. Hierzu gibt es nur vereinzelte Hinweise an verstreuten Stellen in der Literatur. Sie finden sich in der politischen Theorie hauptsächlich dort, wo geopolitische Überlegungen kritisch reflektiert werden und in der politischen Geographie, wo zudem ein interessanter Paradigmenwechsel von der idealen Raumgestalt einer ideographischen Methode zum „mental mapping" einer sich kulturanthropologischen Methoden öffnenden Sozialwissenschaft stattgefunden hat. 34 Diese Arbeiten weisen darauf hin, daß sich das metageographische Geftige, nicht nur in Europa, verschoben hat und offenbaren die Hintergründe eines konstruierten Raumgedankens. 3 5 Hinweise finden sich in Arbeiten zur europäischen Geistesgeschichte und in Studien,

33

Eine der w e n i g e n politikwissenschaftlichen Arbeiten zu d e m T h e m a stammt v o n Christian Weimer, der nach e i n e m weitestgehend an D r o z und M e y e r orientierten ideengeschichtlichen Rückblick die aktuelle Mitteleuropa-Diskussion in den Mittelpunkt stellt. Christian Weimer, Mitteleuropa politisches

Ordnungskonzept?

der aktuellen

Diskussionsmodelle,

Darstellung

und Analyse

der historischen

Ideen

als

und Pläne

sowie

Diss. Würzburg 1992. Einen ersten und auch heute immer n o c h

lesbaren Überblick über die deutsche Mitteleuropa-Idee im 19. und frühen 20. Jahrhundert finden wir in Helmut R u m p f s Arbeit von 1942: „Mitteleuropa. Zur Geschichte und D e u t u n g eines politischen Begriffs"; in Historische

Zeitschrift,

Bd. 165 ( 1 9 4 2 ) , 5 1 0 - 5 2 7 . Für die D i s k u s s i o n der achtzi-

ger Jahre: R u d o l f Jaworski, „ D i e aktuelle Mitteleuropa-Diskussion in historischer Perspektive"; in Historische

Zeitschrift

Bd. 2 4 7 ( 1 9 8 8 ) , 5 2 9 - 5 5 0 . Darüber hinaus: Krishan Kumar, „The

R e v o l u t i o n s and the Idea o f Europe"; in Political

Studies,

1989

40. Jg. ( 1 9 9 2 ) , 4 3 9 - 4 6 1 , H a n s - G e o r g

Betz, „Mitteleuropa and Post-Modern European Identity", in New German

Critique,

50. Jg. ( 1 9 9 0 ) ,

1 7 3 - 1 9 2 ; Richard Okey, „Central Europe/Eastern Europe: Behind the Definitions"; in Past Present, lus,

137. Jg. ( 1 9 9 2 ) , 1 0 2 - 1 3 3 ; Jacques Rupnik, „Central Europe or Mitteleuropa?"; in

119 ( 1 9 9 0 ) , 2 4 9 - 2 7 8 . Zahlreiche Sonderhefte internationaler Zeitschriften sind z u m T h e m a

Mitteleuropa erschienen. N e b e n vielen: D a e d a l u s 119 ( 1 9 9 0 ) : Eastern 34

and Daeda-

Europe...Central

Europe.

Herfried Münkler, „Räume der Politik - Politik der Räume", in Gerold B e c k e r (Hrsg.) Räume den. Studien

zur pädagogischen

Topologie

und Topographie,

bil-

S e e l z e - V e l b e r 1997, 8 1 - 8 7 ; Ulrich

Eisel, „Zum Paradigmawechsel in der Geographie", in Geographica

Helvetica

4/1981,

176-184.

V g l . die Arbeiten v o n Hans-Dietrich Schultz, auf die im nächsten Kapitel zurückgegriffen wird. 35

Martin W. L e w i s und Kären E. Wigen, The Myth

of Continents.

A Critique

Hans-Dietrich Schulze, „ R ä u m e sind nicht, R ä u m e werden gemacht", 2 - 1 4 .

of

Metageography;

20

Einleitung

die die s y m b o l i s c h e E b e n e der Literatur aufarbeiten. 3 6 D e r f r a n z ö s i s c h e

Germanist

J a c q u e s Le Rider hat in e i n e m größeren E s s a y eine historische E i n o r d n u n g der Mittele u r o p a i d e e v o r g e n o m m e n und stellt z w e i Linien nebeneinander: die W u r z e l n der deuts c h e n K r i e g s z i e l d i s k u s s i o n a u f der e i n e n Seite und die österreichisch-ungarische V i e l v ö l k e r p e r s p e k t i v e a u f der anderen Seite. Er hebt damit die Z w e i d e u t i g k e i t d e s M i t t e l e u r o p a - B e g r i f f s hervor. 3 7 A u c h H a g e n S c h u l z e löst die E i n g l e i s i g k e i t s c h o n mit B l i c k a u f die aktuelle M i t t e l e u r o p a - D i s k u s s i o n auf. 3 8 Für d i e s e Arbeit v o n e b e n s o großer B e d e u t u n g ist die Einbettung in den o p p o s i t i o n e l l e n D i s k u r s der s i e b z i g e r und achtziger Jahre. D a f ü r sind i m m e r n o c h e i n s c h l ä g i g d i e A u f s ä t z e v o n T i m o t h y Garton A s h , der m a ß g e b l i c h dazu beigetragen hat, die Ideen der ostmitteleuropäischen O p p o s i t i o n mit der Mitteleuropaidee zu v e r k n ü p f e n , a l s o d i e zentralen identitätsstiftenden Pfeiler der n e u e n Mitteleuropaidee im politisch-kulturellen

36

Heinz Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1964. Aus der Literaturwissenschaft: Ute Gerhard/Jürgen Link, „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen"; in Jürgen Link und Wulf Wülfing (Hrsg.) Nationale Mythen und Symbole in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 16-52. Das Bild der Vermittlung ist dargestellt bei Martin Gralher, „Mitte-MischungMäßigung. Strukturen, Figuren, Bilder und Metaphern in der Politik und im politischen Denken"; in Peter Haungs (Hrsg.) Res Publica. Studien zum Verfassungswesen, (Festschrift für Dolf Sternberger), München 1977, 82-114. Aus dem Aufsatzband Die Mitte, hg. von Bernd Guggenberger und Klaus Hansen sind folgende Aufsätze hervorzuheben: Rüdiger Görner, „Anspruch und Würde der Mitte. Zu einer geistigen Standortfrage"; 38-54; Wilfried von Bredow, „Die Mittelmacht. Über die Rolle des vereinten Deutschland in der internationalen Politik", 161-176; Bernd Guggenberger, „Civil Society. Zur politischen Kultur einer ,aktiven Mitte'", 87-110.

37

So schreibt Jacques Le Rider in der Einleitung zu seinem Buch Mitteleuropa - Auf den Spuren eines Begriffs: „Heute bedeutet Mitteleuropa aus deutscher Sicht zugleich ein utopisches Potential an kultureller und sprachlicher Vielfalt und die Drohung einer politischen Regression vor der eigenen Haustür. Das Wort Mitteleuropa hat denn auch zwei sehr verschiedene Bedeutungen angenommen: die eine bezieht sich auf die nie verebbte großdeutsche Tradition und hat ihre wichtigsten ideologischen Wurzeln in den Schriften zur Kriegszieldiskussion von 1914, die andere knüpft an eine viel hoffähigere Tradition an, jene des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Für diese Anschauung ist Mitteleuropa ein Projekt, ein Mythos oder ein Harmonie-Ideal für das zersplitterte Zentrum Europas." (7); im gleichen Wortlaut Hagen Schulze in dem Essay Die Wiederkehr Europas (Berlin 1990): „Die Idee von Mitteleuropa besitzt zwei Wurzeln; die eine entstand im Ersten Weltkrieg und bedeutete die deutsch-österreichische Hegemonie über die Völker Europas .zwischen Russen und Engländern', wie der Erfinder dieses Konzepts, der Nationalökonom Friedrich Naumann, schrieb; an dieses Mitteleuropa denken unsere westeuropäischen Nachbarn vor allem, wenn sie das Wort hören. Die andere Wurzel hat nicht macht-, sondern kulturpolitische Ursprünge; sie meint in erster Linie den Raum des alten Habsburger Reichs, eine Mischung aus allen Kulturen des österreichisch-ungarischen Kaisertums von Lemberg bis Triest, von Innsbruck bis Czernowitz."(20/21) Zu Beginn seiner Arbeit deutet Rider die beiden Stränge an, die aber nicht systematisch verfolgt werden: auf der einen Seite das Europa der Mitte, später auch Donauraum-Idee genannt; und auf der anderen Seite die machtpolitische, unitarische, deutsch-nationale Variante. Neben vielen: Egbert Jahn, Zur Zukunft Europas, Osteuropas und Mitteleuropas. HSFK-Report 3/1989, Frankfurt/M.

38

Einleitung

21

Kontext neuer Politik- und Gesellschaftsmodelle in Auseinandersetzung mit der sowjetischen Hegemonie zu sehen. 39 Und auch Gerard Delanty geht auf diesen Zusammenhang ein, indem er eine wichtige Säule des Mitteleuropabegriffs mit dem „Europe of civil society, which Konrad has called ,antipolitics'" in Verbindung bringt. 40 Er schreibt in seinem neuesten ideengeschichtlichen Buch über Europa, daß sich die europäische Idee einer kritischen Reflexion unterziehen muß, wenn sie als normatives Konzept wirken will. „It is not possible to see European history as the progressive embodiment of a great unifying idea since ideas are themselves products of history." 41 Gleiches gilt analog für die Mitteleuropa-Idee. Die bisherigen Betrachtungen zur Mitteleuropaidee lassen gegenüber der kurz angedeuteten Spannung zwischen Realgeschichte und gesellschaftlicher Konstruktion kollektiver Identitäten die nötige Sensibilität vermissen. 42 Das Verhältnis zwischen dem was war/ist und dem was sein soll läßt sich mit einer ideologiekritischen Textanalyse entschlüsseln, wobei der Begriff der Ideologie Geertz folgend als kulturelles System verstanden werden soll, als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe", das mit Hilfe einer „dichten Beschreibung" dargestellt werden soll, um über die Darstellung der reinen Selbstbeschreibungs-Diskurse hinauszugelangen. 4 3 Geertz' Überlegungen sind in Deutschland von der jüngeren Politischen Kultur-Forschung aufgenommen worden, um deren ursprüngliche Fixierung auf eine „hard-nosed analysis" auch auf weiche Faktoren ausdehnen zu können. Die Auflösung gesellschaftlicher Phänomene in Daten, Fakten, Zahlen eliminiert, so Jürgen Gebhardts Kritik, die „entscheidende Dimension der Gesellschaftserfahrung, und zwar die geteilten Überzeugungen." 4 4 Dieses Defizit kann

39

Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert

wird abgewählt.

Aus den Zentren Mitteleuropas

1980-1990,

München/Wien 1990. 40

Gerard Delanty, „The Resonance of Mitteleuropa. A Habsburg Myth or Antipolitics?"; in Theory,

41

Gerard Delanty, Inventing

Culture & Society,

13. Jg. (4/1996), 93-108. Europe,

2. Delanty weiter: „It is like most of our political vocabulary,

constituted by history and, at the same time, constutitive o f that very history. European history did not exist prior to its definition and codification." (ebd., 3) Und aus normativer Perspektive: „Unifying myths should be viewed with scepticism unless they unambivalently accomodate diversity." (ebd.) 42

Vgl. dazu ausführlich die Materialsammlungen und Kommentare literarischer Zeugnisse bei: Paul Michael Lützeler, Die Schriftsteller

und Europa.

1992; ders. (Hg.)„ Hoffnung Europa. Deutsche 1994; ders. (Hg.), Europa. Analysen Plädoyers

für

Europa.

Von der Romantik

und Visionen der Romantiker,

Stellungnahmen

bis zur Gegenwart;

Essays von Novalis bis Enzensberger,

deutschsprachiger

München

Frankfurt/M.

Frankfurt/M. 1982; ders. (Hg.),

Schriftsteller

1915-1949,

Frank-

furt/M. 1987. 43

Clifford Geertz, Dichte Beschreibung.

Beiträge

zum Verstehen kultureller

Systeme,

Frankfurt/M.

1987, 9. 44

Vgl. dazu neben Jürgen Gebhardt, „Politische Kultur und Zivilreligion"; in Schlosser/Schissler, (Hrsg.) Politische

Kultur,

a.a.O., 49-60; auch Karl Rohe, „Politische Kultur und der kulturelle

Aspekt von politischer Wirklichkeit". In Anlehnung an Rohes Instrumentarium der PolitischenKultur-Forschung arbeitet Hans Vorländer im Kontext der amerikanischen Ideengeschichte. Vgl. ders., Hegemonialer

Liberalismus,

Frankfurt/M. 1997, besonders 36-70.

22

Einleitung

nur unter Rückgriff auf „interpretativ-hermeneutische Ansätze und Methoden" überwunden werden, um „kulturelle Codes, kollektive Vorstellungen und Selbstverständnisse einer Gesellschaft" erschließen zu können, „die sich u.a. in Texten, Symbolen, Ritualen etc. manifestieren." 4 5 . Aus diesem Grund muß die Untersuchung der Mitteleuropa-Idee auch stärker deren symbolische Funktion im Auge behalten. Sie muß hierzu der Funktion von Weltbildern, der für die Integration so wichtigen gemeinsamen Bedeutungen (Charles Taylor spricht von „shared meanings") Rechnung tragen und sie muß auf deren Produzenten achten: die Intellektuellen und Schriftsteller. Die Politische Kultur-Forschung kann hierzu wichtige Anregungen geben, zumal sie sich nach der mikrosoziologischen nun auch der makrosoziologischen Ebene geöffnet hat. Deren kritische Impulse erlauben ihr, über die Ebene der Aggregation individueller Daten hinaus, auch die deutungskulturelle Ebene der Ideen, Entwürfe, Muster und Designs nutzbar zu machen. Geertz versteht in seinem Aufsatz „Ideology as a Cultural System" Ideologien als sozial konstruierte Wirklichkeitsdeutungen. Diese Wirklichkeitsdeutungen, die in unserem Fall Geschichten über die Besonderheit Mitteleuropas, der Mitteleuropäer, einer mitteleuropäischen politischen Kultur oder einer mitteleuropäischen kollektiven Identität beschreiben wollen, greifen auf solche Geschichten zurück, erneuern das kollektive Gedächtnis, rufen in Erinnerung, schaffen Symbole und gelegentlich bedienen sie sich sogar mythischer Erzählungen. Diese Erzählungen lassen sich historisch-interpretativ und mit Hilfe diskurs- und sprachanalytischer Methoden entschlüsseln. Die inhaltliche Nähe der Mitteleuropaidee zur Idee der Nation erlaubt es, methodisch an die Forschungen zur Nation als kollektiver Identität anzuschließen, zumal diese, wie ein Beispiel bei Bernhard Giesen zeigen wird, auch auf die oben angestellten methodischen Überlegungen zurückgreifen. Wenn der Mitteleuropaidee ihr ständig wechselndes Gewand vorgehalten wird, dann sind Inhalt und Forschung über die Nation von diesem Vorwurf nicht auszunehmen. Die Wissenschaftskarawane ist wider Erwarten zur „grande idee" (Geertz) der Nation zurückgekehrt, nachdem sich das Interesse beinahe schon auf andere „Kollektivaktanten" (Dörner) - nämlich die soziale Bewegung und die Gesellschaft, wie Giesen andeutet - verlagert hatte. 46 Stand zu Beginn der Nationen-Forschung des 19. Jahrhunderts im Vordergrund, die Nationenwerdung normativ als Normalzustand zu betrachten und als demokratisch-emanzipatorische Überwindung fürstlicher Willkür zu feiern, so löste sich die enge Bindung von Nation und Demokratie angesichts der nationalistischen Exzesse des 20. Jahrhunderts jäh auf.

45 46

Ebd., 43. Hierzu liegen neuerdings drei sehr umfangreiche Studienbände vor: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991; Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2; ders. (Hg.), Mythos und Nation, Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3. Vgl. dazu auch Shmuel Noah Eisenstadt/Bernhard Giesen, „The construction of collective identity", in Europäisches Archiv für Soziologie, 36. Jg. (1995), 72-102. Und Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, Frankfurt/M. 1993.

23

Einleitung

„Vom Subjekt der Geschichte wurde die nationale Idee so zum vermeidbaren und überwindbaren Ergebnis der Geschichte." 47 Aus diesem Blickwinkel heraus sind die Studien von Meyer und Droz über die Mitteleuropaidee verfaßt worden. In der Folge der Nationalismuskritik wurde der Blick auf die empirische Vielfalt der Nationen und Nationalismen frei. Diese Forschungstradition kann sich unter Vorbehalt auf Montesquieu und Herder beziehen, „die die Unterschiede von politischer Verfassung und sozialen Sitten auf vorgesellschaftliche, und d.h. zumeist: auf natürliche Grundlagen, auf die Unterschiede des Klimas und die Vielfalt des organischen Lebens zurückführten." 48 Die Zwangsläufigkeit wird nun in der letzten, jüngsten Phase der Nationalismusforschung überwunden, in der auf die oben angedeuteten Konzepte der Politischen-KulturForschung zurückgegriffen wird. So hält die heutige Nationen-Forschung „die Nation für eine zwar geschichtsmächtige, aber keineswegs unausweichliche Form der kollektiven Identität, die nicht naturgegeben ist, sondern als Ergebnis unterschiedlicher geschichtlicher Bedingungen und unter unterschiedlichen kulturellen Bezügen sozial konstruiert wird. Schon die deutsche Romantik hatte sich die Nation als ein durch Kunst zu vollendendes Projekt vorgestellt. In der neueren vergleichenden Nationenforschung verbindet sich nun der empirische Blick auf die Vielfalt der Nationen mit der Annahme, daß diese Vielfalt nicht Substrat, sondern Resultat von politischem Prozeß und kulturellem Wandel ist. An die Stelle naturaler Gegebenheit tritt so ihre kulturelle und historische Konstitution." 49 Die Selbstbeschreibung politischer Akteure gerät besonders in Krisenzeiten in Bewegung. Dies gilt für die Achsenzeit (Eisenstadt/Giesen) bzw. Sattelzeit (Koselleck) genauso wie zur Zeit der grundlegenden Krise der Intellektuellen im Ersten Weltkrieg und wie im Vorfeld der demokratischen Revolutionen in Ostmitteleuropa. „Wenn Selbstbestimmung als Forderung und Gebot an die Stelle fester sozialer Standorte und vorgegebener Identitäten tritt, wenn die gesellschaftliche Hierarchie verflüssigt wird und Herrschaft nicht mehr selbstverständlich ist, wenn die Unruhe der Geschichte zunimmt, dann muß die Einheit der Gesellschaft auf ein neues und umfassendes Fundament gestellt werden, das der Flüchtigkeit und Ungewißheit der Geschichte und der individuellen Entscheidung entzogen ist. Unverrückbares bietet sich hier an: Natürliches wie Herkunft und Abstammung, Vergangenes wie die gemeinsame Geschichte, Unüberbietbares wie Konfession und Literatur oder Nicht-Imitierbares wie die alltäglichen Gebräuche und Sitten (...). Damit richtet sich der Blick auf die sozialen Gruppen, die die Imagination einer nationalen Gemeinschaft vorantreiben und zum historischen Träger des Nationalbewußtseins werden." 50 Letzteres trifft jedoch in besonderem Maße auf die zu, die als Produzenten kultureller Selbstverständigung den politischen Akteuren vorauseilten. 51

47

V g l . Bernhard Giesens Einleitung, in: ders., Nationale

48

Ebd.

und kulturelle

Identität,

11.

49

Ebd., 11/12.

50

Ebd., 14.

51

V g l dazu die ideengeschichtlichen Arbeiten von Herfried Münkler: „ D i e N a t i o n als M o d e l l politischer

Ordnung.

Vorüberlegungen

zu

einer

wissenssoziologisch-ideengeschichtlich

fundierten

24

Einleitung

Diese Intellektuellen beschreiben nicht nur, sondern wirken selber mit, um einen von ihnen gewünschten organisatorischen Zustand, ein von ihnen favorisiertes Ordnungskonzept durchzusetzen. Zentral für die Untersuchung ist dabei auch, daß die Akteure die Konstruiertheit der Ideen verschleiern. „Kollektive Identität hat gerade den Umstand zu verbergen, daß sie selbst sozial konstruiert wurde. Würde dieser Konstruktionsprozeß nicht .latent' gehalten, so könnte das identitätssichernde Fundament damit selbst unter Kontingenzverdacht geraten.(...) Die äußeren Grenzen der Gemeinschaft", so Giesen weiter, „müssen daher als selbstverständlich, als eindeutig und begründet und die innere Einheitlichkeit der Gemeinschaft muß als offensichtlich und unbezweifelbar erscheinen, obwohl Grenzen auch ganz anders gezogen werden könnten und die reale Vielfalt der Individuen kaum übersehen werden kann." 52 Giesen gibt dann klassische Beispiele, an denen die üblichen Grenzziehungen vollzogen werden. Verwandte und Nicht-Verwandte, Freunde und Feinde, Aufklärung und Barbarei und er folgert: „Gerade weil diese Grenzen kontingente soziale Konstruktionen sind, weil sie eben auch anders ausfallen könnten, benötigen sie soziale Bekräftigung und symbolische Verdeutlichung." 5 3 Erst die bildhafte, symbolhafte, traditions-und geschichtsbeladene Verdeutlichung unsichtbarer Bezüge, versieht „die Dinge mit Konturen" 5 4 . Nicht zufällig benutzt Giesen in diesem Zusammenhang das Bild einer Landkarte und spricht von Codes. „Codes können mit Landkarten verglichen werden, die den Akteur bei seiner Reise mit Instruktionen über das versehen, was er noch zu erwarten hat." 55 Die Intellektuellen waren die Vordenker der praktischen Politik, sie konstruierten potentielle Erfahrungsund Sehnsuchtsräume, die von der praktischen Politik als Auftrag aufgenommen werden konnten. Dies gilt für die Nationen-Idee im gleichen Maße wie für die Idee Mitteleuropa. Es findet mit anderen Worten ein Angebot zur symbolischen Integration statt, das sich nicht ausschließlich „über legale Verfahren und Verfassungen nachvollziehen lassen" muß. 5 6 Der Begriff der symbolischen Integration eignet sich in diesem Zusammenhang, um auf die vorpolitischen Grundlagen demokratischer Vergesellschaftung aufmerksam zu machen. 5 Wie Herfried Münkler schreibt, gilt es deswegen den „ideell-

52 53 54 55 56

57

Theorie der Nation"; in Staatswissenschaften und Staatspraxis, 5.Jg. (1994), 367-392; ders., „Das Reich als politische Vision", in Peter Kemper (Hrsg.): Macht des Mythos - Ohnmacht der Vernunft?, Frankfurt 1989, 336-358; ders., „Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung", 521-541. Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, 29. Ebd., 30. Ebd. Ebd. Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Konstituierung des Politischen als Einlösung der „Zivilgesellschaft" in Osteuropa?", 223-244. Dies ist ein Faktor, der nicht zuletzt in Klaus von Beymes Arbeiten zur Transformation außer acht gelassen wird. U.a. in: ders., Systemwandel in Osteuropa. K. Mänicke-Gyöngyösi beschreibt das für den Transformationsprozeß, was in dieser Studie schon für das Vorfeld berücksichtigt werden soll. „Deshalb möchten wir einen anderen Weg beschreiten und den Blick auf das symbolische Integrationsmedium der oppositionellen und sich neu bildenden Öffentlichkeit vor und nach 1989

Einleitung

25

kognitiven Strang ins Auge zu fassen, in dem nicht die äußere Verfaßtheit der politischen Ordnung, sondern deren symbolisch-sprachliche Erfassung verhandelt worden ist. Dabei geht es um mehr als nur eine weitere Bestätigung der die Begriffsgeschichte fundierenden These, wonach die geschichtlichen Verläufe in der Regel nicht identisch sind mit ihrer begrifflichen Erfassung, sondern hier ist die Feststellung Reinhart Kosellecks zugrunde zu legen, daß „ein Begriff (...) nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge" sei, sondern oftmals „auch deren Faktor"." 5 8 Der Mitteleuropa-Begriff gibt neben dem Nationen- oder Europa- und Reich-Begriff Aufschluß über gesellschaftliche Wert- und Ordnungsvorstellungen, Vorstellungen politischer Integration und Legitimation. Ein Begriff ist, so John G.A. Pocock, „part of the social structure and not epiphenomenal to it", und die sich in ihm ausdrückenden gesellschaftlichen Paradigmen, „which order reality are part of that reality they order." 5 9 Eine vergleichbare Erkenntnis transportiert auch Margeret Somers, die in ihren Arbeiten zur „narrative identity" die These aufgestellt hat: „...social life is itself storied and the narrative is an ontological condition of social life." 60 Geschichten leiten Handeln („stories guide action") und Erfahrung ist sprachlich vermittelt. Einen weiteren Schritt möchte ich methodisch der sozio-ethnographischen Nationen-Forschung folgen, wie sie von Anderson 6 1 folgenreich eingeleitet und von Giesen/Eisenstadt vorangetrieben wurde. So wie die Nation nach Überzeugung dieser Forschungsrichtung zunächst auf symbolisch-expressiver Ebene entworfen wird, läßt sich dies auch für die mitteleuropäische kollektive Identität nachzeichnen. Die Intellektuellen und Schriftsteller werden zu „Verkündern" einer zukünftigen politischen Ordnung. Dies geschieht in den meisten Fällen unter Rückgriff auf einen diskursiv vergegenwärtigten „Erfahrungsraum", der als latente historische Kraft mit Blick auf geteilte Kultur, erlebte Divergenz oder Marginalisierung und gemeinsame Literatur dargestellt wird. Diesem bisher nicht „real" gewordenen historischen Raum wird genügend politische Durchsetzungs- und symbolische Integrationskraft zugeschrieben, um gegenüber den vorherrschenden Ordnungskonzepten zu bestehen. Auch hier kann man analog den Begriff Nation durch Mitteleuropa ersetzen: „Im Falle der Nation [...] sind es Schriftsteller und Intellektuelle, die eine Gemeinschaft konstituieren, indem sie Geschichten über deren Zusammengehörigkeit

lenken, in der sich die Konturen, Erwartungen und spezifischen Deutungen des Politischen als eigenständiger Sphäre von Transformationsgesellschaften herausbilden." K. Mänicke-Gyöngyösi, „Konstituierung des Politischen als Einlösung der ,Zivilgesellschaft' in Osteuropa?", 225. 58

Herfried Münkler, „Die Nation als Modell politischer Ordnung", in ders., Reich, Nation,

Europa,

Weinheim 1996, 73f. 59

Gordon S. Wood: „Ideas and symbols do not exist apart from some social reality out there. They are the means by which we perceive, understand, judge, or manipulate that reality; indeed, they create it". Zitiert nach Hans Vorländer, Hegemonialer

Liberalismus,

69. Vorländer weiter: „Ideen

sind damit Träger von sozial konstituiertem Sinn, sie ordnen die Welt und machen so erst Orientierung möglich." (ebd.) 60

Margaret Somers, „The narrative constitution of identity", in Theory and Society

23 (1994), 605-

649. 61

Vgl. dazu, Benedict Anderson, Die Erfindung zepts.

der Nation. Zur Karriere

eines folgenreichen

Kon-

26

Einleitung

erzählen: seien es solche gemeinsamer Erwähltheit und göttlichen Schutzes, unvordenklicher Siedlungsgemeinschaft, gemeinsamer Herkunft oder gemeinsamer Taten, gemeinsamer Sprache oder gemeinsamer politischer Prinzipien." Auf die entscheidenen Träger der Natiogenese: die Dichter, Schriftsteller und Intellektuellen bezogen schreibt Münkler: „Ihre Machtlosigkeit im Sinne des fehlenden Zugriffs auf fiskalische, militärische und administrative Ressourcen, Rechts- wie Zwangsmittel kompensieren sie durch die Verfügung über den narrativ vermittelten Sinn einer Gemeinschaft, der diese aus der Kontingenz des historischen Geschehens herausheben und etwas von dieser Besonderheit an alle dieser Gemeinschaft Angehörenden weitergeben sollte. Statt über die Ressourcen und Symbole der Macht", wie die Erftillungsstäbe der Staatsgenese, „verfügen sie über die Macht der Symbole und Narrationen." Der Versuch der Mitteleuropa-Theoretiker, an die Erfahrungen der Divergenz nach dem Zweiten Weltkrieg anzuknüpfen, ist im Sinne eines solchen Gründungsmythos zu verstehen. Es kann nur zu dieser gemeinsamen Erfahrung von Divergenz kommen, so würde man mit Blick auf die Mitteleuropa-Diskussion argumentieren, weil sich die Akteure im Besitz einer gemeinsamen politischen Kultur wähnen. 6 4 Diese gemeinsame politische Kultur gibt es in Geschichten mehr als in gemeinsamen politischen Praktiken. Sie muß wiederbelebt, vergegenwärtigt, erfunden oder gefunden werden. Dabei spielt der Bezug auf eine gemeinsame Geschichte eine besondere Rolle bei der Erstellung eines symbolischen Raums. Der Mitteleuropa-Idee fehlt sozusagen in institutionentheoretischer Perspektive die Komponente der instrumentellen Ebene und das ganze Feld der Staatlichkeit. 65

62 63

64

65

Herfried Münkler, „Nation als Modell politischer Ordnung", 76. Ebd., 76. Hierzu gibt es auch den sehr schönen Band von Jan Kubik über Solidarnosc und deren Ikonographie mit dem Titel: The Power of Symbols against the Symbols of Power. The Rise of Solidarity and the fall of State socialism in Poland, (University Park, Pennsylvania 1994). Bernhard Giesen: „Wer eine Studie über die Intellektuellen und die Nation schreibt und darin die Intellektuellen als die Erfinder der deutschen Identität behandelt, der bezieht sich gleich in mehrfacher Weise auf sich selbst. Die Darstellung des historischen Materials ebenso wie die allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Intellektuellen und nationaler Identität sind - bei allem Bemühen um Distanz und Abstraktion - doch unausweichlich von der zeitgenössischen Perspektive auf die jüngere Geschichte und dem Selbstverständnis deutscher Intellektueller in der Gegenwart bestimmt. Man kann eine solche Perspektive reflexiv einholen, ganz vermeiden kann man sie n i c h t . " Bernhard Giesen, Intellektuelle und Nation, 9. Jadwiga Staniszkis, eine ausgewiesene Kennerin Polens, hat darauf hingewiesen, daß nur integrale Ideologien die notwendige Identitätsfindung und Selbstbehauptung in Zeiten des rasanten Umbruchs aus einem (post)totalitären, oder autoritären System in eine noch nicht gefugte Zivilgesellschaft leisten können. Jadwiga Staniszkis, „Dilemmata der Demokratie in Osteuropa", in Deppe/ Dubiel/Rödel, Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt/M. 1991. Auch Claus Offe stützt seine Überlegungen zum Dilemma der Gleichzeitigkeit maßgeblich auf Staniszkis kritische Sicht. Vgl. Claus Offe, „Dilemma der Gleichzeitigkeit", 57-80. Vgl. zu diesen Definitionsmerkmalen der instrumentellen Ebene der Institutionen: Herfried Münkler, „Die Nation als Modell politischer Ordnung", in ders., Reich, Nation, Europa, 80.

Einleitung

27

So leuchtet es auch für die Mitteleuropa-Diskussion ein, daß von den Intellektuellen und Literaten weniger die Themen ökonomischer Leistungsfähigkeit oder die Frage der Verwaltung und der Bürokratie, also im engeren Sinne Fragen der instrumentellen Ebene der staatlichen Institutionen, in Frage gestellt wurden, sondern der Verlust einer kulturellen Heimat also die symbolische Repräsentanz. Der drohende Verlust der Kultur und des über die Kultur vermittelten sedimentierten politischen Wissens über alternative politische Ordnungen steht im Mittelpunkt der Anklage, die sich zivilisationskritisch gewendet sowohl gegen die westliche wie auch gegen die östliche/sowjetische Kultur, also plakativ gesprochen gegen westlich-ozeanischen Individualismus und östlich-kontinentalen Etatismus gleichzeitig richtet.

II. „Mitteleuropa" - Zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

„Mitteleuropa" ist in erster Linie ein geographischer Begriff und als solcher ein Produkt des späten 18. Jahrhunderts. 1 Wo Mitteleuropa liegen sollte, war noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollständig offen. Drei konkurrierende Einteilungsschemata zeigen in dieser Zeit die Vieldeutigkeit des Mitteleuropa-Begriffs. Mitteleuropa konnte in einem Nord-Mitte-Süd-Schema verortet werden, wie etwa bei August Zeune. Hier zog es sich in west-östlicher Richtung vom „Sevennenland" (Frankreich) über das „Harzland" (Deutschland) bis zum Balkan, von den Pyrenäen bis zu den Flüssen Vistula und Tisza. Es konnte aber auch in einem West-Mitte-Ost-Schema liegen und vom Nordkap bis Sizilien reichen. Und auch ein drittes Schema sei noch genannt: das MittePeripherie-Schema. Darin nahm ein ungefähr die Grenzen des Heiligen Römischen Reichs nachzeichnender Raum die Mitte ein, um die sich periphere Territorien anlagerten. Diese Schemata sind allesamt Zeichen eines sich verselbständigenden geographischen Diskurses, der gegenüber den üblichen Grenzziehungen entlang politischer Einheiten eine zusätzliche Beschreibungsebene gewinnen wollte. Der Mangel an natürlichen Grenzen machte dies jedoch zu einem schwierigen, man möchte fast sagen: willkürlichen Unterfangen, was langfristig dazu führte, daß sich die vermeintlichen Naturräume dann doch wieder sehr eng an den politischen Grenzen orientierten. Welche Länder, Naturräume oder Regionen zu Mitteleuropa gehören sollten, war im frühen 19. Jahrhundert - nicht anders als heute - äußerst umstritten. Der Geograph Karl Sinnhuber hat sich der Übung unterzogen, von zwölf Landkarten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diejenigen Felder übereinander zu legen, die auf den Karten als „Mitteleuropa" eingezeichnet waren. 2 Dabei ergab sich als geographischer Überschnei'

Die unterschiedlichen geographischen Ausdehnungen und Grenzziehungen Mitteleuropas faßt am anschaulichsten Karl Sinnhuber zusammen. Vgl. dazu seinen Aufsatz „Central Europe, Mitteleuropa, L'Europe Centrale. An Analysis of a Geographical Term"; in Trans, and Papers of the Inst, of Brit. Geographers, 20. Jg. (1954), 15-39.

2

Nach seinen Untersuchungen kommt er schließlich zum Ergebnis, man solle doch den Begriff fallen lassen und ersetzen: „Since its limits may therefore legitimately vary a great deal, it is suggested that the term [Mitteleuropa, RS] should not be used as a proper name, and 'middle' in this case should be spelt with a small initial letter thus forming an equivalent to the German „mittleres Europa". Alternatively mid-Europe or median-Europe could be used. In cases of doubt, it should be referred to by its full name: middle Europe in a topographical sense." (Karl Sinnhuber, Central Europe, Mitteleuropa, L 'Europe Centrale. An Analysis of a Geographical Term, 21).

29

dungsbereich ein Viereck mit westlicher Linie Linz-Prag, östlicher Grenze WarschauKrakau, südlich: Salzburg-Budapest und nördlich: Dresden-Breslau. Geographisch gesehen ist dies der Kern Mitteleuropas. Also in heutiger, politischer Terminologie: das südwestliche Polen, Tschechische und Slowakische Republik, das nordwestliche Ungarn, das nordöstliche Österreich und die östlichsten Teile Sachsens. Dies ist der geographische Überschneidungsbereich, der auf allen Karten verzeichnet war. Es gibt aber auch Karten, und das ist der geographische Extrembereich, auf denen Mitteleuropa von Rotterdam bis zum Schwarzen Meer, von Kopenhagen bis Athen, von Sardinien bis zur Ostsee reicht. Diese Variationsbreite führte auch innerhalb der Zunft der Geographen schon sehr früh zu grundlegender Kritik. So nannte der Geograph Ungewitter die Versuche seiner Kollegen, Naturräume an die Stelle von Staaten, Fürstentümern und Reichsstädten zu setzen, reine „Systemmacherei" und forderte sie auf, doch wieder zu den alten politischen Begriffen mit Tradition und Aura zurück zu kehren. 3 Dieser Aufruf blieb jedoch ungehört. „Schon 1860 konnte Daniel konstatieren, gewöhnlich werde einer Einteilung in Süd-Europa, Mittel-Europa, Nordwest-Europa, Ost-Europa" 4 vertraut. Zudem gab es eine tiefgreifende Veränderung in der europäischen Metageographie, weil die bis dahin dominante antike Einteilung in ein südliches, oder römisches und nördliches, oder unrömisches Europa gänzlich an Einfluß verlor und dem in den Vordergrund drängenden Ost-West-Schema Platz machen mußte. 5 Doch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts wurde die mangelnde Treffsicherheit naturräumlicher Grenzziehungen durch zahlreiche geographische, literarische und historisch-politische Überlegungen ausgeglichen. Wie in einem großen Experimentierkasten wurden sämtliche möglichen Ideen zusammengetragen, was die Mitte Europas charakterisieren und wie man sie einigermaßen treffend definieren könnte. In dieser frühen polysemischen Phase des Mitteleuropa-Begriffs wurden grundsätzliche Überlegungen über die Mittellage im Sinne geographischer Determination, das Motiv der Mitte und die Rollenbilder, die mit der Mittellage assoziiert werden können, angestellt, die auch für die aktuelle Diskussion von Interesse sind. Diese Phase war eng verbunden mit der Suche nach einer deutschen Identität, getragen vom literarischen Diskurs der Romantik und dem wissenschaftlichen Diskurs der Geographie. Körpersymbolik und Raumbilder waren in diesem Prozeß der Selbstverständigung häufig verwendete Mittel, die ausreichend Möglichkeit boten, die Bedeutung der deutschen Nation in Europa zu betonen. Deutsche Geographen genauso wie Schriftsteller und Intellektuelle versuchten die europäische Landkarte neu zu gestalten. Für „Mitteleuropa" mußte dort erst einmal Platz

3

Vgl. den Hinweis bei Hans-Dietrich Schultz, „Vom harmlosen Gliederungskonzept zum imperialen Programm. Der Mitteleuropabegriff in der deutschsprachigen Geographie des 18./19. Jahrhunderts"; in Rainer Graafen und Wolf Tietze (Hrsg.): Raumwirksame

Staatstätigkeit,

Bonn 1997, 201-

216, hier 201. 4

Ebd.

5

Vgl. dazu Hans Lemberg, „Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. V o m .Norden' zum ,Osten' Europas", in Jahrbücher für Geschichte 91.

Osteuropas,

Neue Folge 33 (1985), 48-

30

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

gemacht werden, im Auftrag einer Nation ohne klares Raumbild. 6 So erklärt sich auch ein Teil der Anziehungs- und Durchsetzungskraft des Mitteleuropa-Begriffs, die sich „nicht zuletzt aus der Idee der Mitte, des Zentrums und des Ausgleichs" speist. 7 Daß aus dem optimistischen und zuerst auch noch „harmlosen Gliederungskonzept" der Mittellage auch eine hegemoniale Zentralstellung werden könnte oder gar die Angst, in die Mitte zweier ausgreifender Zangenarme zu geraten, war allenfalls marginal angelegt. Das Bild der „Mitte Europas" ist bis heute der politischen und literarischen Kommunikation erhalten geblieben; bringt man doch demgemäß im Bedeutungsspiel des „mental mapping" - sofern nicht die defensive Variante der Pufferzone gewählt wird die Nachbarn durch das Bild von Achse oder Zentrum in seine Abhängigkeit. Seine Vieldeutigkeit verlor der Begriff im Laufe des 19. Jahrhunderts. Je stärker er zu einem politischen Begriff wurde, der die beiden „Mittelmächte" Österreich-Ungarn und Preußen und deren „natürlichen" Herrschaftsraum bezeichnete, desto weiter wurden die Geographen aus dem Diskurs hinausgedrängt. Erst wieder durch die geopolitischen Überlegungen zwischen den Weltkriegen vermochte ihre Disziplin an Bedeutung zu gewinnen. Als der Mitteleuropa-Begriff im Vorfeld des Ersten Weltkriegs und in der Kriegszieldebatte primär als Leitbegriff ökonomischer Großraumbildung fungierte, hatte er zuvor seine Polysemie weitgehend eingebüßt. Auch Friedrich Naumann war an den Überlegungen zur Gestaltung politischer und ökonomischer „Großbetriebe" interessiert, allerdings versuchte er - im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen - der Mitteleuropaidee etwas von ihrem universalistischen Überschwang zurückzugeben. Durch die Prominenz des Mitteleuropa-Begriffs im Ersten Weltkrieg wurde der Blick auf seine frühe Bedeutung zumeist von seiner späten Monosemie überschattet. 8 So kommt der Historiker Gerard Delanty zu der Aussage: „In its inception Mitteleuropa was a policy of economic unity. Its original usage goes back to about 1850, though the first recorded instance was in 1808." 9 6

Unter diese Überschrift hat Hans-Dietrich Schultz einen Aufsatz über die Geographen der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gestellt, in dem er die kreative Kartographie der national gesinnten Geographen darstellt. Ders., „Räume sind nicht, Räume werden gemacht: zur Genese Mitteleuropas in der deutschen Geographie"; in Europa Regional 5.Jg. (1997), 2-14.

7

Jacques Le Rider, Mitteleuropa - Auf den Spuren eines Begriffs, Darmstadt 1994, 11. Auf die Ambivalenz, die in dem Begriff angelegt ist, wird noch ausfuhrlich eingegangen. Selbstverständlich ist der eher auf Harmonie und Verständigung ausgelegte Begriff der Mitte und der Vermittlung in einer gelegentlich aristotelisch anmutenden Tradition ein mit anderen politischen Konnotationen versehener Begriff, als der des auf ein unitarisches, dominantes, hegemoniales Konzept andeutende Begriff des Zentrums.

8

So auch bei Henry Cord Meyer," Mitteleuropa" Hague 1955.

9

Gerard Delanty, „The Resonance of Mitteleuropa. A Habsburg Myth or Antipolitics?", in Theory, Culture and Society 13. Jg. (1996), 96. Delanty schließt sich in der Einschätzung der frühesten Nennung des Mitteleuropa-Begriffs dem Geographen Karl Sinnhuber an, der in den 50er Jahren eine gründliche Studie zu den geographischen Definitionsversuchen Mitteleuropas vorgelegt hat: (Karl Sinnhuber, „Central Europe, Mitteleuropa, L'Europe Centrale. An Analysis of a Geographical Term", 20). Offensichtlich hat Sinnhuber diese Angabe aus einer Habilitationsschrift von E. Mey-

in German Thought and Action.

1815-1945, The

31

Raynal, de Pradt und die Ideologie der europäischen Mitte

Um auch begriffsgeschichtlich zu verdeutlichen, daß das Motiv der Mitte, wie es in der neueren Diskussion wieder vieldeutig aufgegriffen wird, eine besondere Rolle im Komplex der Mitteleuropa-Idee spielt, sollen im folgenden die frühen Elemente des Mitte-Motivs dargestellt werden (Kap. 1-2.4), die durch die vordringende Monosemie des politischen Kampfbegriffs mit einigen wenigen Ausnahmen in Vergessenheit geraten, um heute wieder aufgegriffen zu werden. In diesem Zusammenhang erscheint die deutsche Mitteleuropa-Diskussion ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (Kap. 3.1-3.4) als Vereinseitigung des Motivs der Mitte und die heutige Entwicklung (Kap. 4) im Vergleich dazu als Normalisierung, indem der Begriff seinen „universalistischen Überschwang" 1 0 wieder zurückgewinnt.

1. Raynal, de Pradt und die Ideologie der europäischen Mitte Die Hinweise auf eine europäische Mitte sind vor dem späten 18. Jahrhundert sehr vereinzelt. Wo sie fallen, gehören sie in den Kontext der europäischen Balance-Ideen, die England als Vermittlungs- und Mediations-Kraft vorsehen." Auffallend ist dabei, daß sich die Vermittlungsmacht, um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, keineswegs in der kontinentalen Mittellage befinden muß. Im Gegenteil, oft wird sogar argumentiert, daß die Seemacht England gerade dank ihrer exponierten, den kontinentalen Wirren entzogenen, Stellung eine Vermittlung schaffen könne. Und so gehören sämtliche Bilder der Mitte und der Vermittlung dieser Zeit noch in die Rhetorik der GleichgewichtsPhilosophie. Deutschland wird erstmals in einem Leibniz zugeschriebenen Dokument als Mitte Europas bezeichnet. 12 Es sei das „Mittel von Europa" und werde nicht aufhören, „seines

nen aus dem Jahr 1935, die er in seinem Literaturverzeichnis angibt, ohne jedoch in diesem Fall auf Meynen zu verweisen. Zumindest stellt Hans Dietrich Schultz diese Vermutung an. Hans-Dietrich Schultz, „Vom harmlosen Gliederungskonzept zum imperialen Programm", 202f. 10

Hans-Dietrich Schultz, in: „Räume sind nicht, Räume werden gemacht", 2-14. Lothar Gall hat in einem anderen Kontext, in einem Vortrag über Berlins Zentrum und Berlin als Zentrum, über die Mitte geschrieben: „Mitte - das ist zunächst ein räumlicher Begriff. Er wird jedoch gern mit Sinnund Ordnungskategorien gefüllt, die zwar von seiner räumlichen, genauer gesagt geometrischen Bedeutung abgeleitet sind, diese aber in vielfältiger Hinsicht transzendieren. Damit erhält der Gebrauch des Begriffs eine suggestive, ja überwältigende Kraft. Einmal in einen nichträumlichen oder nicht allein räumlichen Zusammenhang eingeführt, läßt er die Frage, ob es denn überhaupt einer Mitte bedarf, als geradezu absurd erscheinen, als Verstoß gegen die Logik wie gegen die natürliche Ordnung der Dinge." Lothar Gall, „Brauchen wir eine Mitte?"; in Leviathan

20. Jg. (1992), 307-

318, hier 307. 11

Ludwig Dehio, Gleichgewicht Staatengeschichte,

12

und Hegemonie.

Vgl. dazu auch Heinz Gollwitzer, Europabild geschichte

Betrachtungen

über ein Grundproblem

der

neueren

hg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus Hildebrandt, Darmstadt 1996.

des 18. und 19. Jahrhunderts,

und Europagedanke.

Beiträge zur deutschen

2. neubearbeitete Aufl., München 1964.

Geistes-

32

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

und frembden Blutvergießens Materi zu seyn bis es aufgewacht, sich recolligirt, sich vereinigt, und allen procis die hofnung es zu gewinnen abgeschnitten." 13 Für Leibniz ging es darum, das nach dem Westfälischen Frieden machtlos gewordene Alte Reich gegen die Türken im Osten und Ludwig XIV. im Westen zu verteidigen. 14 Zu diesem Zeitpunkt schärfte sich gleichzeitig die Vorstellung eines eigenständigen europäischen Kulturraums in Abgrenzung vom Osmanischen Reich und dem Orient. 5 Und mit Rousseau wird die Vorstellung lebendig, daß die europäische Mitte, und er meint damit das Heilige Römische Reich, eine besondere Verantwortung für den Frieden habe und „Garant des europäischen Gleichgewichts sei". Rousseaus geopolitisches Europabild ist schon ein Zeichen der aufklärerischen Absage an ein humanistisches Europa der Intellektuellen und des realpolitischen Einbruchs in die Europa-Konzeptionen. Der geopolitische Diskurs eines Raynal oder de Pradt konnte erst zu einem Zeitpunkt Konturen gewinnen, als Europa selber aus dem Reich der Intellektuellen, der humanistischen Gemeinschaft und des aufklärerischen Universalismus auf eine Grenzen besitzende geographische Einheit reduziert oder konkretisiert wurde. Diese Entwicklung vollzog sich im 18. Jahrhundert, als sich die Vorstellung verbreitete, daß Europa durch „den Gegensatz zu den nach Europa hineinragenden, zugleich aber als Weltmacht auftretenden Flügelmächten England und Rußland bestimmt" sei.16 Das Heilige Römische Reich geriet unter Druck und konnte sich gegen die wachsenden Mächte in Ost und West nicht halten. Guillaume Thomas François (Abbé) Raynal - die meisten Biographen finden harte Worte für sein über 3000 Seiten starkes Werk über die „beiden Indien", das wenige Jahre nach seinem Erscheinen auch auf deutsch vorlag - machte den Anfang. 17 Im 7.Teil (19.Buch) seiner monumentalen Geschichte der europäischen Expansion gibt Raynal einen Abriß von Europa. Darin schreibt er über England: „Das Seewesen ist eine neue Art der Macht, die der Welt eine andere Gestalt geben muß. Es hat das alte System des Gleichgewichts über den Haufen geworfen. Deutschland, das die Waage zwischen den Häusern Österreich und Bourbon hielt, hat sie an England überlassen. Diese Insel schaltet heute nach Belieben mit dem festen Lande." 18 Bestes Beispiel fur die neue Betrachtungsweise der Probleme im ideologischen Zeitalter nach der Neuordnung Europas ist eine Passage aus de Pradts „Du Congrès de 13 14 15

Leibniz, zitiert nach Hans-Dietrich Schultz, „Räume sind nicht", 2. Vgl. Jacques Le Rider, Mitteleuropa - auf den Spuren eines Begriffs,

10.

Vgl. dazu: Herfried Münkler, „Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung", in Leviathan 19.Jg. (1991), 521-541, hier 531.

16

Ebd., 535.

17

Mauvillon hat schon 1776 die deutsche Übersetzung unter dem Titel: „Philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beiden Indien" veröffentlichen und mit zahlreichen Kommentaren versehen können. Über Raynals Persönlichkeit wurde hart geurteilt: er sei kein eigenständiger Kopf gewesen, wurde als Phrasensack beschimpft und er sei nur auf literarische Effekte ausgewesen. Außerdem kennzeichne sein Werk eine Vielzahl an Widersprüchen, vgl. Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd.l., 265ff. Er war jedoch mit seinem Werk über 20 Jahre lang sehr erfolgreich und wurde, nachdem er aus Frankreich verjagt wurde, im deutschen Exil hoch gelobt.

18

Abbé Raynal, Philosophische und politische Geschichte Europäer in beiden Indien, 17.Buch, Teil 7, 91 ff.

der Besitzungen

und des Handels

der

33

Raynal, de Pradt und die Ideologie der europäischen Mitte

Vienne": „Frankreich, nach seiner Bevölkerung, seiner Industrie, und nach dem Charakter seiner Einwohner, nach seiner Lage im Mittelpunkt Europas, über zwei Meere herrschend,...das Übergewicht, welches diese Nation, wohl geleitet, immer zu erhalten sicher war, ehe Rußland und England sich so mächtig vergrößert und den Platz Frankreich eingenommen hatten." 19 Raynal war der Überzeugung, daß unter diesen neuen geopolitisch relevanten Machtverschiebungen ein eigenständiges Machtzentrum in der Mitte Europas nicht mehr möglich sei. So bliebe den europäischen Staaten nur noch die Wahl, welcher der beiden Großmächte sie sich anschließen wollten. Diese Einschätzung teilte auch der französische Philosoph Abbé de Pradt. Ein eigenes, eigenständiges Machtzentrum kann es nach de Pradts Überzeugung in der Mitte Europas nicht geben: entweder-oder. „An den zwei äußersten Enden Europa's wehen zwei Flaggen, die eine über dem Festlande und die andere über dem Meer. Der Continent ist zwischen diese beiden Banner gestellt, und so übel es auch der Stolz der einen oder andern Macht empfinden, mit welchen Scheingründen sie sich auch dagegen verwahren mag, jede muß sich denn doch wirklich entweder unter das eine oder andere Banner begeben; ausschließliche Existenz, wirkliche Unabhängigkeit gehören nur diesen beiden großen Mächten noch an" 2 0 : entweder Rußland mit seinen in „Asien geborenen Gesetzen und Sitten" oder englischer Liberalismus und Konstitutionalismus. De Pradt machte keinen Hehl aus seiner Überzeugung, daß es für Europa, das in der Mitte des Kontinents verteidigt wird, eine Katastrophe wäre, wenn Rußland dort die Macht übernehmen würde. Allein Preußen, so de Pradt, könne verhindern, daß Rußland, „wie ein großer Felsen, der auf Europa gefallen ist" die Weichsel überquert. Nur wenn verhindert werden könne, daß Rußland über die Weichsel schreite, werde „einiger Schatten von Freiheit ftir Preußen und für Europa übrig" bleiben. Die Ostgrenze Europas wurde so an die Weichsel verlegt und das eigentliche Europa wurde gegen England und Rußland, die große See- und die große Landmacht verteidigt. De Pradt: „Auf der anderen Seite erhebt England sich zu Wasser, wie Rußland auf dem festen Land. Europa befindet sich zwischen zwei Riesen, welche es gleichmäßig von beiden Elementen bedroht." 2 1 Preußen ist in dieser holzschnittartigen Geopolitik der „Aufhalter", im Sinne des bei Carl Schmitt bekannten Katechon, der die Interessen Europas vertritt, und stellt sich in dieser Funktion in die Fußstapfen des Alten Reichs: „So vieles liegt Europa daran, daß Preußen, welches in dem Mittelpunkt der politischen Waage seine Stelle hat, nunmehr stark genug seye, zu verhindern, daß nicht eine der Schalen die andere vollends in die Höhe schleudere." 2 2 Und so bietet de Pradt eine englisch-preußische Zusammenarbeit an, um ein weiteres Vordringen Rußlands auf dem Kontinent zu verhindern. Aus französischer Sicht wird die Mitte Europas zu einem cordon sanitaire gegen die kontinentale Vormacht Rußlands. Die Mitte wird dadurch zu einem strategischen Vorposten des Westens gemacht und die vermeintliche Symmetrie der europäischen Bedrohung löst sich unter genauer Betrachtung auf. Dann nämlich, wenn das „Asiatische Rußland" be19 20

21 22

Abbé de Pradt, Über den Wiener Kongreß, Freiburg i. Brsg 1816, 58. Abbé de Pradt, Vergleichung der englischen und russischen Macht in Beziehung Schmalkalden 1824, 1. Abbé de Pradt, Über den Wiener Kongreß, 102. Ebd.

auf

Europa,

34

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

schrieben wird, rückt auch England dank seiner kulturellen Tradition wieder nach Europa. „Wenn man unter das Joch eines Europäischen Volkes (Englands, RS) geräth, so bleibt man in Europa. Unter dem Joch Rußlands ist man zur Hälfte in Asien.' Und so ist es für Europa wichtiger, den Einfluß der großen Kontinentalmacht Rußland zurückzudrängen, als sich gegen England zu richten. Wie sehr de Pradt schon von den neuen ideologischen Kategorien von Fortschritt und Reaktion geprägt ist, zeigt der Blick auf sein Verständnis des europäischen Mächtegleichgewichts. Englands faktischer Einfluß reicht natürlich nur bis zur Küste, aber seine Ideen erreichen eben auch das Festland. Seine „präponderierende Macht in Europa" gewinnt England nicht nur aus seiner Lage, sondern auch aus seiner „Konstitution" und dem „Gemeingeist". 2 4 Als wollte es de Pradts Europakonzeption bestätigen, orientierte sich Preußen an dieser europäischen Lagerbildung. Das Entstehen der Heiligen Allianz läßt es mit de Pradts Vorstellungen als plausibel erscheinen, zwischen einem demokratischen, liberalen, parlamentarischen Westen und einem monarchischen, konservativ-reaktionären, antiparlamentarischen Osten zu unterscheiden. Mit der Ideologisierung der Gegensätze werden die Vermittlung, das Austarieren der Gegensätze und das Halten der Balance schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Die Begrifflichkeit von West und Ost hat sich jedoch noch nicht endgültig eingespielt. Noch immer spricht de Pradt von den Fürsten des Nordens und meint damit die russischen Fürsten. Sein Europa ist noch in einen Norden und einen Süden unterteilt: „Ihr (Europäer, RS) könnt euch dem Einfluß der einen oder anderen Macht nicht entziehen. Eure ganze Freiheit ist bloß auf die Wahl beschränkt. Verhindert um jeden Preiß, daß der Mittelpunkt des Landes, das ihr bewohnt, der nordischen [d.h.: russischen, RS] Armee nicht zur Heerstraße des mittäglichen Europa werde." 2 5 Ebenso sieht es Joseph Görres in „Europa und die Revolution": „Da jeder Krieg fortan eines idealen Vorwands zu seiner Beschönigung bedarf, so wird es nun die alte Ordnung und die neue Ordnung seyn; und wenn der Norden für die Eine kämpft; so wird, j e nachdem die Land- oder die Seeinteressen sich verwickeln, Frankreich oder England an der Spitze des Südens für die anderen mit ohngefähr gleich gemessenen physischen, aber mit weit überwiegenden, moralischen Kräften streiten. Teutschland, in die Mitte des Hebels gesetzt, den die feindlichen Bestrebungen in entgegengesetzter Richtung sollicitiren, würde in sich geschlossen, durch einen großen, starken Gemeingeist in sich verbunden, seinen natürlichen Beruf erfüllen, das Gleichgewicht zu handhaben in Europa, und das Getümmel der Kräfte, wenn sie j a zum Streite kommen, we-

23

Ebd., 187.

24

Ebd., 71.

25

Abbé de Pradt, Vergleichung der englischen und russischen Macht in Beziehung auf Europa, 89/90. Trotz der im Titel angedeuteten Symmetrie seiner „Vergleichung" fällt diese schon rein quantitativ sehr ungleich aus. England sind 14 der 15 Kapitel gewidmet. Auf ganzen 19 Seiten beschreibt er das russische System. Und auch inhaltlich macht er keinen Hehl aus seiner Vorliebe. Alles, so Pradt, was England kennzeichnet sei in Rußland nicht zu finden: „Keine Künste, keine Geldflüsse, die bürgerliche Ausbildung, die nötige Mäßigung im Gebrauch seiner Kraft."(ebd., 90)

35

Raynal, de Pradt und die Ideologie der europäischen Mitte

nigstens vom eigenen Gebiete abzuweisen." 26 Aber durch das enorme Wachstum beider ehemals europäischer Mächte (Rußland und England) über Europas Grenzen hinaus, ist das Gleichgewichtssystem aus den Fugen geraten. 27 Erst die an Bedeutung gewinnende Sicht auf weltpolitische Akteure und die damit verbundene Dezentrierung des europäischen Weltbildes konnte Europa als Ganzes in die Position der Mitte im interkontinentalen System rutschen lassen. So bei Hegel, wenn dieser in Anlehnung an Bodins klimatheoretisches Modell schreibt, daß „der Strich der wohlgebildetsten Völker ein Mittelstrich der Erde sei, der wie die Schönheit selbst zwischen zwei Äußeren liegt, so daß auch die schönere Form der Vernunft und Humanität in diesem gemäßigten Mittelstrich ihren Platz findet. Für Hegel hielt Europa die Mitte zwischen dem „geistig stummen Afrika" und dem „ausschweifend-wilden Asien"; zwischen diesen bilde Europa „das Bewußtsein, den vernünftigen Theil der Erde, das Gleichgewicht von Strömen und Thälern und Gebirgen, - dessen Mitte Deutschland ist." So war für Deutschland sogar die doppelte Mittellage, die Mitte in der globalen Mitte, vorgesehen. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, dem Hegel selber in seiner Schrift über die Verfassung Deutschlands das Totenlied gesungen hatte, wurde Deutschland, dieses noch nicht näher definierte, kontur- und grenzenlose Reich der Träume aller national gesinnten Deutschen, nach einer translatio imperii, in die Nachfolge des Heiligen Römischen Reichs und damit in die Position der europäischen Mitte gerückt. Wie jedoch diese Mitte gehalten werden sollte und was ihre Legitimität und ihr Profil angesichts der von Raynal und de Pradt eindrücklich beschriebenen Drucksituation ausmachen könnte, wird im folgenden beleuchtet.

26

Joseph Görres, „Europa und die Revolution", in Paul Michael Lützeler, Die Schriftsteller ropa. Von der Romantik bis zur Gegenwart,

27

und Eu-

München 1992, 110.

„Wo ist jetzt jenes Gleichgewicht? Auf der einen Seite hat sich Rußland, (...) zum Riesen des Nordens gebildet; und auf der anderen umschlingt jetzt England (...) mit seinen starken und ausgebreiteten Armen die ganze Welt." Abbé de Pradt, Vergleichung Beziehung

28

auf Europa,

der englischen

3.

Hans-Dietrich Schultz, „Räume sind nicht, Räume werden gemacht", 2.

und russischen

Macht in

36

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

2. Deutschlands Mittellage im Spiegel von Geographie und Geschichtsphilosophie 2.1. Die Diskussion um Deutschlands „natürliche Grenzen" in der „geographia naturalis" im frühen 19. Jahrhundert Die europäische Neuordnung hatte den geopolitischen Spekulationen Raynals und de Pradts weitestgehend den Boden entzogen. Die Vorstellung eines Dualismus zwischen Nord und Süd wurde alsbald „in der geographisch-statistischen Literatur" durch eine Experimentierphase abgelöst, „in der die traditionellen Einteilungskriterien Europas vielfältig abgewandelt wurden." 2 9 In diesem Zusammenhang hat die Suche nach natürlichen Grenzen Deutschlands und die Idee der Mittellage ihren Ursprung. Sie läßt sich ebenso disziplinengeschichtlich wie nationalgeschichtlich erklären. Für die Disziplin der Geographie eröffnete sich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts eine schwierige Erkenntnislage. Traditionell an Staatsgrenzen orientiert, geriet die Geographie zu einem Geschäft, das über äußerst kurze Verfallszeiten zu klagen hatte. Kaum war ein neues Werk im Druck, waren die Grenzen verschoben, ganze Landstriche umbenannt. Die Geographie, als „politische Geographie", drohte als wissenschaftliche Disziplin in Verruf zu geraten. Vor diesem Hintergrund war es nur zu verständlich, den Ausweg in einer „reinen Geographie" zu suchen, die sich von den Zeitläuften emanzipierte und so Erkenntnisse von größerer Dauer und Verbindlichkeit erlaubte. Damit sie den Anspruch wahrmachen konnte, mehr zu sein, als bloß eine Pseudowissenschaft, die lediglich die Grenzen der Staaten in naturräumlichen Begriffen beschrieb, mußte sie über die Möglichkeit verfügen, Regionen und natürliche Landschaften mit einer gewissen Verbindlichkeit nach eigenen Begriffen festzuschreiben. An dieser Stelle verbindet sich die Disziplin- mit der Nationalgeschichte. Gerade im frühen Stadium der nationalen Bewegung konnte die Geographie auf große Resonanz hoffen, schließlich drängte diese nach einer Antwort auf die Frage, wo denn des Deutschen Vaterland anfange und aufhöre. Und was konnte höhere Legitimität erreichen als eine „von der Natur selbst abgesegnete Landkarte". 3 0 Die Geographie wollte mit ihrem neuen methodischen Profil also zweierlei erreichen. Sie wollte aus dem Schatten von Statistik und Geschichtswissenschaft heraustreten, indem sie von natürlichen Grenzen, Regionen und Landschaften sprach. Und sie konnte für die nationale Bewegung hilfreiches Orientierungswissen zur Verfügung stellen, das zudem noch universalistischen Ansprüchen genügen konnte. Denn die natürlichen Grenzen innerhalb Europas sollten leisten, was der Politik bisher nicht gelungen war. Wenn alle Nationen in ihren natürlichen Grenzen lebten, so die H o f f n u n g der „natürlichen Geographen", werde sich eine immerwährende europäische Friedensordnung einstellen.

29

30

Hans Lemberg, „Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom ,Norden' zum .Osten' Europas", 48-91. Vgl. Hans-Dietrich Schultz, „Räume sind nicht, Räume werden gemacht", 3.

Deutschlands Mittellage im Spiegel von Geographie und G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e

37

Beispielhaft fiir diese Entwicklung ist das oben schon erwähnte Werk des Berliner Geographen August Zeune mit dem Titel: „Gea. Versuch einer wissenschaftlichen Erdbeschreibung" aus dem Jahr 1808, das bis 1833 in vier Auflagen erschien. In der Vorrede zur 3. Aufl. heißt es nur knapp: „Der Zweck des Buches ist hinlänglich bekannt. Der Erdkunde sollte statt der wechselnden Veränderungen des Tages in natürlichen Begrenzungen der Staaten eine festere Grundlage gewonnen werden." 3 1 Zeune machte sich auf die Suche nach natürlichen Grenzen: Gebirge, Seen, Meere, Flüsse, Vegetationszonen, geologische Formationen etc. Er orientierte sich bewußt nicht an Sprachgrenzen, im Gegensatz zu zahlreichen Vertretern der aufkommenden nationalen Bewegung, sondern suchte „feste Natur- und Urgrenzen" und fand sie in Ost- und Nordsee, den Alpen, den Flüssen Oder, Rhein und Waal (zeitweise auch Ijssel). Vor dem Hintergrund dieser geographisch gewonnenen Grenzen wurde nun die historische Situation nach Napoleon gesichtet und bewertet und er kam zu einem Ergebnis, das keinen erstaunen konnte: Naturraum und politischer Verfügungsraum „der Teutschen" waren nicht deckungsgleich. Zeune dachte deshalb offen über einen Völkertausch nach, auf freiwilliger Basis versteht sich. An einem Vergleich zweier Auflagen seinem geographischen Handbuchs in bezug auf die so sensible Bestimmung der Westgrenze Deutschlands wird deutlich, wie wenig „natürlich" die Grenzen auch in Zeunes Geographie waren. In der zweiten Auflage von 1811 heißt es: „Die Urgrenzen dieses MiUellandes Europas sind zwei große Höhen nebst zwei davon sich herabsenkenden Flußthälern und zwei Meere." Die Westgrenze ist der Rhein. In der nächsten Auflage von 1830, also nach den Befreiungskriegen, heißt es dann: „Da dies Land (Deutschland) nicht ein eigenes Reich bildet, sondern mehrern Staaten und Staatenbunden angehört, müssen die einzelnen bürgerlichen Vereine' aufgelistet werden: ,Diese bürgerlichen Vereine bilden 2 Bundesstaaten, 1 Landschaft eines Nachbarstaates, und 2 einzelne Staaten'. Gemeint sind der Deutsche Bund, der Schweizer Bund, der Elsaß im Mittelrein, eine seit 1648 von Frankreich gewonnene und 1814 und 1815 behaltene Landschaft zwischen dem Rein und dem Wasgau, den deutschen Termopylen..." 3 2 Vom R(h)ein als natürlicher Grenze wollte Zeune 1830 nichts mehr wissen. Und so brachte sich die Geographie allenthalben in Abhängigkeit von der Politik. Sie vollzog dann doch allzu oft nur Veränderungen nach, die von der Politik vorgegeben wurden, und von Zeunes Projekt einer unpolitischen Wissenschaft blieb nicht viel übrig. Geographisches Wissen ließ sich für politische Handlungsorientierung benutzen, mit der oben angedeuteten Zielvorgabe, daß Frieden nur möglich sei, wenn Naturraum und politischer Raum identisch werden. Andererseits drang die Politik in die Geographie ein, wenn - wie nach den Befreiungskriegen - deutsches Territorium außerhalb der „Urmarken" erobert wurde. Unter solchen Umständen konnten selbst „immerwährende Marken Gottes im Treibsand der politischen Stimmungen ins Schwimmen geraten; und so rückten mit den Koalitionsarmeen auch Zeunes natürliche Grenzen über den Rhein nach Westen vor und endeten jetzt am Fuße der Vogesen und des loth-

31

A u g u s t Zeune, Gea. Völkerleben

Versuch

zu schildern,

die Erdrinde

Berlin] 3. Aufl., Berlin 1830, S.VI. 32

Ebd., 2 7 7 .

sowohl

im Land- als Seeboden

mit Bezug auf Natur

und

f l . Aufl ( 1 8 0 8 ) : Gea. Versuch einer wissenschaftlichen Erdbeschreibung,

38

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

ringischen Jura - eben dort, wo sie auch für die deutschen Patrioten aus Gründen der Sprache lagen." 33

2.2. Deutschlands „ideale Raumgestalt" - zum Topos der „Mittellage" im Diskurs der Geographie Nachdem allseits einsichtig wurde, daß die Suche nach natürlichen Grenzen in diesem schwierigen, nach allen Seiten offenen Terrain Mitteleuropas nicht von Erfolg gekrönt sein könne, schwenkte die „natürliche Geographie", ohne ihr Paradigma zu verlassen, mehrheitlich darauf um, die Vielheit und nicht mehr die vermeintliche Einheit als kennzeichnendes Merkmal der Mitte Europas darzustellen. Deutschland vereinige in sich, so Bernhard Cotta, Professor für Geognostik an der Bergakademie in Freiberg, dank seiner Lage in Europas Mitte „das einzelne Große, Schöne und Merkwürdige der meisten anderen europäischen Länder: ,das Deutsche Alpenland (Hochland)', ,das gebirgige Deutschland (Oberland)' und ,das ebne Deutschland (Niederland).'" 3 4 Deutschlands Lage in der Mitte Europas erlaube den Zusammenklang des Großen, Schönen und Merkwürdigen der anderen Länder. Diese besäßen eben nur ein Merkmal, Deutschland dagegen habe die Aufgabe aus der Verschiedenheit eine Einheit zu bilden. „Auch bei Mendelssohn findet sich die in einer politischen Drucksituation geborene Idee der Dreistufigkeit Deutschlands wieder, nur daß dieser sich immerhin bis auf den Mond versetzen muß, um von dort aus, ,durch Fernröhren gesehn', Deutschland als mitternächtliche Abdachung der Alpen' zu erkennen: ,Eine Küsten-Ebne umsäumt das nördliche Meer; von da breitet sich Bergland, mittlerer Höhe, bis an den Fuß des Hochgebirges aus.' 3 5 Indem so das Moment der Vielheit und das der Einheit miteinander versöhnt erscheinen, kann auch die Geographie ihren Beitrag zur Überwindung des einzelstaatlichen Patriotismus leisten." 36 Über 100 Jahre später wird der Geograph Partsch das gleiche Motiv noch einmal präsentieren, wenn er schreibt, daß Deutschland da endet, wo der Dreiklang von Alpen, Hügeln und Flachland ausklingt. 37 So begann in der Geographie die Suche nach der idealen Raumgestalt. Methodisch gab Herder für diese Suche die wichtigsten Anstöße. 3 8 „Die deutsche Situation zwi-

33

Hans-Dietrich Schultz, „Deutschlands .natürliche' Grenzen. Mittellage und Mitteleuropa in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts", m Geschichte und Gesellschaft 15.Jg. (1989), 248-281, hier 253.

34

Ebd., 256.

35

Ebd.

36

Ebd. Bei Karl Sinnhuber im englischen Original heißt es: „The triad of Alps, hills and plain is the governing chord of the symphony of the Middle European landscape. Where one of these notes ceases to sound Middle Europe ends." Partsch, zitiert nach Sinnhuber, „Central Europe, Mitteleuropa, L'Europe Centrale. An Analysis of a Geographical Term", 23.

37

38

Vgl. dazu: Harald Homann/Clemens Albrecht, „Die Wiederentdeckung Osteuropas. Herders Perspektiven und die Gegenwart", in Zeitschrift für Politik, 40. Jg. (1993), 79-97. Darin weisen die Autoren auf die wichtigen Einsichten Herders hin, der für die kulturelle Vermittlung zwischen Ost

39

D e u t s c h l a n d s Mittellage im Spiegel von Geographie und Geschichtsphilosophie

sehen Ost und West - in Herders Europabild spiegelt sie sich wider." 39 Die an ihm orientierte, noch vor 1800 etablierte „ideographische Weltperspektive geht von der Einmaligkeit jeder regionalen Konstellation des Zusammenhangs zwischen Mensch und Natur aus (...)." 40 Auf dieser Basis kann Herder in den Adrastea, im Stile Rousseaus, in einem Dialog zwischen einem Asiaten und einem Europäer, die Arroganz vermeintlicher europäischer Kulturüberlegenheit angreifen. Auf Europa übertragen bedeutet diese Haltung, die kulturelle Vielfalt zu schätzen und Vereinheitlichungstendenzen möglichst aufzuhalten. In den späten Schriften, zu denen die Adrastea gehören, rutscht Preußen an die Stelle des Aufhalters und Bewahrers der kulturellen Vielfalt, die es in Herders frühen Schriften, besonders in den Reiseberichten aus den sechziger und siebziger Jahren, noch nicht hatte. In einer Diktion, die in der Traditionslinie zwischen de Pradt und Werner Sombarts „Händler und Helden" steht, sieht Herder die europäische Mitte zwischen asiatischem Despotismus und dem ebenso freiheitsfeindlichen westlichen Krämergeist. Herder dankt Preußen, Brandenburg und Österreich, dass sie sich als „Mittelmacht (...), die das feste Land aller Deutschen Völker sowohl, als die nordischen Reiche vor Unterdrückungen fremder Nationen und Sprachen mitbeschützen helfe. Wiche diese Zwischenmacht Nordwärts, Österreich Südwärts, wie stünde es um Deutschland, das sodann westwärts die Kaufmanns-Nationen nie retten werden." 41 Was Sombart auf England münzt, bezieht Herder auf Holland, nämlich die alte republikanische Skepsis angesichts der mangelnden politischen Tugendhaftigkeit der Händler, deren „Handelsgeist den Geist der Tapferkeit, der Unternehmungen, der wahren Staatsklugheit, Weisheit, Gelehrsamkeit usw. aufhebt oder einschränkt..." 42 Herder schließt damit an eine lange Reihe politischer Theoretiker an, die sich seit jeher mit der Verknüpfung von natürlichem Raum und der politischen Verfassung befaßt haben. Das Mensch-Natur-Verhältnis wird theoretisch anspruchsvoll beschrieben, nicht als einfacher Determinismus, der den Menschen zum Spielball geographischer Bedingungen macht, sondern als komplexes Gefuge gegenseitiger Einflußnahmen und Anpassungsprozesse. Der Mensch gestaltet (kultiviert) die Natur und emanzipiert sich so schrittweise von ihr. Jedoch nie vollständig. Der Endpunkt ist ein harmonisches Miteinander der Idealzustand als Optimum - im Zustand der Balance, die von der jeweiligen Gesellschaft mit der Natur gefunden wird.

und West eingetreten ist: „Und keine Europakonzeption wird dauerhaft Erfolg haben, in Herders Worten: zur Humanität führen, wenn sie nicht Antworten auf die mitteleuropäischen Fragen der Vermittlung v o n Ost und W e s t hat." (ebd., 9 6 ) Vgl. zur Anschlußfähigkeit von Herders EuropaK o n z e p t i o n auch Herfried Münkler, „Europa als politische Idee" und Michael Zaremba, Gottfried 39

Herders

humanitäres

H e i n z Gollwitzer, Europabild ¡8. und 19. Jahrhunderts,

40

Nations-

und Volksverständnis,

und Europagedanke.

Beiträge

Johann

Berlin 1985. zur deutschen

Geistesgeschichte

des

97.

Ulrich Eisel, „Zum Paradigmawechsel in der Geographie", in Geographica

Helvetica

( 1 9 8 1 ) , 176-

184. 41

Johann Gottfried Herder, „Adrastea", in: Werke Bd. 10, hg. v o n Günter Arnold, Frankfurt/M. 2 0 0 0 ,

42

Ders., „Journal meiner R e i s e im Jahr 1769, in: Werke B d . 9 / 2 , hg. v o n Rainer Wisbert unter Mitar-

433ff. beit von Klaus Pracht, Frankfurt/M. 1997, 76.

40

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

In der Literatur der frühen nationalen Bewegung wird diese besondere Beziehung gegen den als mechanistisch beschriebenen, „konstruierten" französischen Staat eingesetzt. Die Nation wird als kollektiver politischer Akteur imaginiert, der nicht in französischer Manier „aus dem Übermut der Macher und Beweger", der „Überbetonung des Willens" und der „Ideologie des Fortschritts" gewonnen wird, sondern aus dem Geist der Geschichte und der Tradition. 43 Eine der Entdeckungen der Romantik ist das Unbewußte als organisierende Kraft. Auf die Politik übertragen, stellt sich die Romantik Verfassungen nicht durch rationalistisches Machen entstanden vor, oder durch monokausal betrachtete Ursachen bestimmt (wie Klima o.ä.). Sie sieht sie vielmehr als vielfach verwobenes „Insgesamt von politischen, sozialen, kulturellen und natürlichen Umständen...Die Chiffre für das, was das Geschehen bewegt, für ein angenommenes Subjekt dieses Geschehens heißt ,Volks-, oder ,Nationalgeist'. Die eigentlichen Romantiker haben in diesem Zusammenhang mehr als den ,Geist' die ,Seele' des Volkes betont, die nicht-intellektuellen Wirklichkeiten, das Naturhafte, das ,unbewußte Leben'". 4 4 Herder berief sich auf Traditionen, entdeckte das Volk, dessen Sprache und allem voran, die spezifischen Missionen der jeweiligen Nationen. Mit dein „Ausfransen" Europas an den Rändern, einer neuen atlantischen Allianz der Gleichheit und unbedingten Autonomie im Westen und einer Welt des blinden Gehorsams und Despotismus im Osten (Asien) bezieht Europa quasi im Sinne der außenpolitisch gewendeten aristotelischen Position der Vermittlung, der „meson", eine Mittelstellung. Europa sieht sich als Geist des Ausgleichs zwischen den Extremen, weil diese instabil sind und immer drohen in ihr Gegenteil umzuschlagen. 4 5 Diese Vorstellung war auch für Herder eine interessante Grundlage. Bei ihm mutierte die nationale Frage zu einer europäischen en miniature Das Bild der deutschen Nation, wie es im Nationaldiskurs des kulturell definierten romantischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezeichnet wurde, stützte sich auf die Merkmale Sprache, gemeinsame Geschichte, Literatur und Kunst. 4 6 „Die wichtigste Wurzel dieses Denkens ist in Herders Schriften zu sehen, die gegen den kosmopolitischen Universalismus der Aufklärung das Eigenständige und Unverwechselbare eines jeden Volkes als kollektive Identität thematisieren. Herder betont, wie vor ihm schon französische Sprachphilosophen, die Rolle der Sprache, die in ihrer relativen historischen Eigendynamik die Vorstellungswelt der Individuen nachhaltig prägt und die Nationen als kollektive Individuen vorstellt, deren Bewußtsein sich in der Sprache äußert. Dieser kulturelle Nationalismus, der zunächst nicht politisch dimensioniert ist, erfährt nach der Jahrhundertwende weite Verbreitung in den gebilde-

43

Thomas Nipperdey, Nachdenken

44

Ebd., 113/114.

45

über die deutsche Geschichte,

Vgl. zu diesen Überlegungen Heinz Gollwitzer, Geschichte

2. Aufl., München 1991, 113. des weltpolitischen

Denkens,

Bd. 1.,

346. 46

Vgl. dazu Thomas Nipperdey, Nachdenken

über die deutsche

„Nationalismus"; in Fetscher/Münkler (Hrsg.) Handbuch 1986, 589-597; Michael Zaremba, Johann Gottfried ständnis.

Geschichte,

der politischen

Herders

humanitäres

auch: Eugene Kamenka, Ideen, Bd.4, München Nations-

und

Volksver-

Deutschlands Mittellage im Spiegel v o n Geographie und Geschichtsphilosophie

41

ten Schichten." 4 7 Wichtig für das Verständnis des frühen Nationalismus Herderscher Prägung ist die Tatsache, daß die Ziele sich nicht auf eine Vereinigung aller Deutschen in einem gemeinsamen Staat richteten; sein Begriff von Nation „setzte den Hauptakzent darauf, daß die Deutschen, so wie jedes Volk, das bewahren und entwickeln sollten, was sie von anderen Völkern unterschied, was sie als ihre besondere Eigenart schätzten. Wie Hamann störte er [Herder, RS] sich an der kulturellen Vorherrschaft der Franzosen, weil er sie für eine Bedrohung der deutschen Kultur, des deutschen Geistes, der deutschen Sitten und Gebräuche hielt, also alles dessen, was die Deutschen, ob Protestanten oder Katholiken, ob Untertanen der Hohenzollern, der Habsburger oder kleinerer Fürstentümer, einander als Deutsche erkennen ließ." 48 Herders großes Projekt, die OstWest-Achse in Europa, lief sich zu einem gewaltigen Nationalisierungs- und Nationalerziehungsprojekt aus. „Er wollte die slawischen Nationen auf die Höhe der ,polizierten Welt' erheben." 4 9 Europa ist nicht mehr - oder sollte man besser sagen: soll nicht mehr sein - , so Herder, eine Gemeinschaft von Staaten-Personen, sondern eine Gemeinschaft nationaler Persönlichkeiten. 5 0 Die historische Sendung der deutschen Nation in der Mitte Europas „gravitierte nach dem Osten" 5 1 und erfüllte sich in der durchaus mit aufklärerischem Pathos vorgetragenen Vermittlung zwischen dem Westen und dem Osten auf der Basis der deutsch-slawischen Partnerschaft. Hinter Herders Überlegungen steckte die Befürchtung, daß sich einer der deutschen Territorialstaaten der Idee der Nation bemächtigen könnte, um die patriotischen Emotionen zur eigenen Stabilisierung zu gebrauchen. Gerade weil Herder die Idee der Nation an den Sprachgrenzen orientierte, konnte er versuchen, die affektive Bezogenheit auf die Landesfürsten zugunsten einer großräumigen, Mitteleuropa umfassenden Idee umzulenken. 5 2 Den Westen wähnte er - kulturell - im Untergang begriffen, während er die Zukunft im Osten vermutete. „Jetzt macht man schon Enzyklopädien: ein D'Alembert und Diderot selbst lassen sich dazu herunter: und eben dies Buch, was den Franzosen der Triumph ist, ist für mich das erste Zeichen zu ihrem Verfall." 5 3 Die Mitte Europas konnte als „eigentliches Europa" kulturelle Vielfalt repräsentieren und Deutschland kam dabei eine zentrale Rolle zu.

47

Andreas Dörner, Politischer

Mythos

und symbolische

Politik.

Sinnstiftung

durch symbolische

humanitäres

Nations-

For-

men, Opladen 1995, 120. 48

E u g e n e Kamenka, „Nationalismus", 598.

49

H e i n z Gollwitzer, Europabild

50

V g l . ebd.

und Europagedanke,

51

Ebd., 97.

52

V g l . dazu auch Michael Zaremba, Johann ständnis,

53

Gottfried

92.

Herders

104.

Johann Gottfried Herder, „Journal meiner Reise im Jahr 1769", in Werke B d . 9 / 2 , 78.

und

Volksver-

42

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

2.3. Mitte, Vermittlung und Mäßigung. Zentrale Begriffe der deutschen Nationalsymbolik im 19. Jahrhundert Der Deutsche Bund beendete bis auf weiteres die Notlage der Geographie. Die grundlegende Motivation für einen Paradigmenwechsel innerhalb der Disziplin war verschwunden und die Kritik an der natürlichen Geographie wuchs. Die Einsicht setzte sich durch, daß es unmöglich sei, eine naturräumliche Einheit in der Mitte Europas zu erkennen. Manch einer kritisierte, wie der Geograph Ungewitter, gar die ganze methodische Herangehensweise. Der verschiedenen Einteilungen überdrüssig wendet er sich 1844 an die Öffentlichkeit, um über die „bei neueren Geographen vorherrschende Systemmacherei" zu klagen, „durch die (...) Europa in ein westliches und östliches, in ein südliches, mittleres und nördliches, oder in drei Alpen- und zwei Meerregionen (...), und wer weiß in was sonst noch aufgeteilt werde" und beschwert sich, daß diese Einteilungen „nicht den geringsten praktischen Werth" hätten. 54 . Im gleichen Sinne beklagte der bekannte Geograph Guts-Muths, daß mit den natürlichen Ländern auch die vertrauten Namen verschwanden: „Weg daher", so sein Aufruf, „mit dem Wolchonski-, mit dem Harzlande. Es lebe Preußen, es lebe Deutschland!" 5 5 Andere wollten nicht so weit gehen. Sie sahen den Mangel an natürlichen Grenzen geradewegs als Vorteil, der darin bestand, daß Deutschland die Leistung vollbringen müsse, aus der naturgegebenen Vielheit eine Einheit herzustellen. A m weitesten geht Ernst Kapp mit seiner eng an Hegel angelehnten „Philosophischen Erdkunde". Bei ihm kommt die Ambivalenz der Offenheit Deutschlands als europäisches Zentrum voll zum Tragen: Die Grenzlinien in der Mitte Europas werden gedanklich gezogen. Die Schärfe der Idee bestimmt die Unverletzlichkeit des Territoriums. So wurde der ursprünglich nur widerwillig eingestandene Mangel zu einer Tugend umdefiniert. So entwickelte die „geographia naturalis" ihr methodologisches Werkzeug weiter. Dies geschah nicht selten in eher philosophischer Absicht. Die von zahlreichen Geographen und publizierenden Geographielehrern (Guts-Muths, Kapp und Cotta) geteilte Überzeugung, daß für Deutschland keine überzeugenden natürlichen Grenzen festzustellen seien, führte zur Erkenntnis, daß verbindliche Aussagen jenseits politischer Wechselfälle nur möglich seien, wenn das Wesen Deutschlands festgehalten würde. Dieses Wesen wurde an der geographischen Lage festgemacht, die durchgehend als Mittellage beschrieben wurde. Gegen die Veränderlichkeiten der politischen Geographie wurde die „ewige Geographie" ins Spiel gebracht. Die Tatsache, daß sich für Deutschland kein einfacher geographischer Rahmen finden ließ, führte zu einer ambivalenten Bewertung, die die gesamte Mitteleuropa-Diskussion der folgenden 170 Jahre beherrschen wird: Die Offenheit zu allen Seiten ist für die Mitte Chance und Gefahr gleichzeitig. Einfach formuliert: Die Exponiertheit der europäischen Mitte (Deutschlands) führt zur Notwendigkeit, durch Kulturleistung die 54

55

Ungewitter, Franz Heinrich, Neueste Erdbeschreibung und Staatenkunde, 2 Bde., 2., verm. Und verb. Auflage, Dresden 1848, 123. Guts-Muths, Johann Christoph Friedrich, „Was müssen Aeltern thun", in Neue Bibliothek für Pädagogik, Schulwesen und die gesammte neueste pädagogische Literatur Deutschlands, Bd.l, 1814, 116ff.

43

Deutschlands Mittellage im Spiegel von Geographie und G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e

Einheit Deutschlands in der Mitte Europas zu erzeugen. In kaum einem anderen Dokument wird dieses „Dennoch", das die Geographen der Natur in lutherischer Manier entgegenhielten, so deutlich wie bei dem Geographen Wagner: Mathematisch gesehen sei zwar Polen, „das eigentliche Mittel-Europa", aber Deutschland nehme eine so zentrale Stellung in Europa ein, „daß die Verbindungslinien j e zweier auf den entgegengesetzten Seiten des Continents liegenden Länder das deutsche Land durchschneiden" 5 müßten. Nichts anderes als die vermeintliche Unentbehrlichkeit, deutschen Kulturraum zu berühren, wenn die europäischen „Ränder" miteinander in Kontakt treten wollen, kräftigt hier die kontrafaktische Annahme der europäischen Mittellage Deutschlands. Es sind also kulturelle, oder auch politische und ökonomische Leistungen, die es Deutschland erlauben, die europäische Mitte gegen die geographische Schwerkraft nach Westen zu ziehen. Anknüpfend an den Gedanken, daß Deutschland an den Kreuzungspunkten europäischer Verbindungslinien liege, führte der Hegelianer Kapp den Gedanken der Vermittlung in den geographischen Diskurs ein. Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb Kapp: „Deutschland ist durch seine Lage zur allseitigen Vermittlung geschaffen, diese ist nicht möglich ohne allseitigen Verkehr und Handel. Gerade zu dieser Allseitigkeit ist Deutschland angelegt, indem es bei seiner Mittellage zwischen den drei europäischen Völkerfamilien ein richtiges Verhältnis seiner mediterranen, continentalen und oceanischen Bestrebungen wird einhalten können. Dadurch wird es befähigt sein, von allen Seiten her dasjenige, was alle anderen Völker jedes einseitig für sich entwickelt haben, in sich aufnehmen und zum Gemeingut umgestaltet ihnen zurückgeben." Und weiter unten: „Deutschland hat als das Herz Europas Theil an Allem, was in seiner Umgebung geschaffen und gefördert wird." Es hat „weder die Nachtheile der Centralisation, noch die Gefahren des reinen Föderalismus zu furchten." 5 7 Wie oben schon angedeutet, verbindet sich die Lage in der Mitte Europas an zahlreichen Stellen mit der Körpersymbolik und von dort auch nach dem Prinzip der Katachrese zu anderen Symbolketten. 5 8 Nicht immer nimmt sich die Herzlage in Europa vom Umfang her so bescheiden aus, wie bei August Zeune, der in seiner Gea von 1808 schreibt: „Das „Herz des gebildetsten Erdtheils der Welt", das „auch innerhalb seiner Urgrenzen" mit Jütland als Spitze „die Gestalt eines Herzens" darstelle, zieht sich auf sich selbst zurück. Hierdurch könnte, meint Zeune, „das seit Jahrhunderten immer veränderte und immer geplagte Vaterland" endlich „Festigkeit und Ruhe erlangen"; niemand bräuchte sich vor einem auf seine „Urgestalt" reduzierten „Teutschland" zu furchten, weil es nach der „Landesschließung" nicht mehr über seine „Mark" hinausdrängen werde. Vielmehr werde „Teutschland" als „fest geschlossenes und gut abgerundetes

56 57

Ebd., 2 6 1 . Ernst Kapp, Philosophische

oder

stellung

und des Menschenlebens

der Erdverhältnisse

vergleichende

allgemeine nach

Erdkunde ihrem

als wissenschaftliche

innern

Zusammenhang,

DarBd.2,

B r a u n s c h w e i g 1845, 3 2 0 f f . 58

V g l . dazu: U t e Gerhard/ Jürgen Link, „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen"; in: Jürgen Link und W u l f W ü l f i n g (Hrsg.): Nationale Hälfte des 19. Jahrhunderts,

Stuttgart 1991, 16-52.

Mythen

und Symbole

in der

ersten

44

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

Ganze" nunmehr zum „Sitz des ewigen Friedens" werden (...)" 5 9 Als Herz des europäischen Kontinents habe Deutschland weit über seine Grenzen hinaus eine Aufgabe für den europäischen Körper. In Kapps Geo-Philosophie Hegeischen Stils steht Deutschland als Kulminationspunkt am Ende der in Dreierschritten behandelten politischen Geographie. „Deutschland bildet den Ausgang der politischen Geographie. Wenn diese seine Stellung die richtige ist, so muß es als Schlußstein der bisher abgehandelten Staaten und Länder der Endvereinigungspunct für alle sein. Seiner räumlichen Mittellage im europäischen Kontinent entsprechend wird es auch die geistigen Richtungen der übrigen Nationen in sich zur Vermittlung bringen." Und mit Anklang der zukünftigen kulturimperialistischen Auswüchse: „Hierdurch auf die Bahn zu einem alle überragenden Standpunct geleitet, muß es die Aufgabe seiner Zukunft, allordnend die Geschicke der Welt zu bestimmen, immer entschiedener offenbaren." 6 0 Auch Guts-Muths erkennt die Ambivalenz, die sich in dem Mangel an natürlichen Grenzen offenbart und setzt zum Umgang mit dieser Situation auf eine Mischung von Idealismus, Zivilreligion und mythischem Glauben, wenn er schreibt: „'Deutschlands Lage im Herzen von Europa - Welch eine gefährliche Lage!' - lasse sich nur durch ,Einigkeit und Gefaßtheit', d.h. ,Einmuth, Tapferkeit und Tugend seiner Bewohner meistern.'" Und gleich im Nachsatz sieht er die Chancen der Mitte als „Umschlagplatz ,alles Wissenswerthen und Nützlichen', als Treffpunkt der g e b i l d e t e n der Nationen' und der Frachtenströme ,von allen Enden der Europäischen Welt', und so werde auch ,die Jungfrau Europa...nicht anders' können, als ,vor allem das Herz' zu schützen, von dem ihre Glieder ,Blut und Leben' erhielten." 6 1 In einer Schrift von 1845 bestätigt der Geographielehrer Kapp noch einmal, diesmal u.a. mit Hilfe der Körpersymbolik: „Wie der ,Leib des Menschen' in seiner ,Mannichfaltigkeit von Gliedern und Organen' zugleich ,die vollkommenste Einheit' darstelle, fänden sich ,auch im deutschen Lande eine Menge von Naturformen zu einem Ganzen 62

verbunden.'" Daraus ist wiederum eine doppelte metaphorische Ableitung möglich: das Land der Mitte und der Vermittlung auf der einen Seite, das Herzstück auf der anderen. Steht Mäßigung und Moderation im Kern des einen, so steht in der Herzmetapher angelegt schon die für spätere Zeiten typische Hypertrophie, wenn es heißt: „Wie der Körper im Herzschlag seinen Lebenspunct" hat, so findet die „ganze Welt" in Deutschland ihren „geographischen und historischen Einheitspunct." 6 3 Kapp nennt Deutschland ein Land, „das mit Recht das Herz Europas genannt zu werden pflegt. Wenn G. Funke sagt: ,Wie das Herz des ganzen Körpers bedarf, so bedarf Deutschland der ganzen Welt', so können wir diesen Anspruch umkehrend auch sagen, daß der ganzen Welt, wie der Körper im Herzschlag seinen Lebenspunct hat, in Deutschland ihr geographi-

59 60

August Zeune, zitiert nach Hans-Dietrich Schultz, „Deutschlands natürliche' Grenzen", 2 5 3 . Ernst

Kapp,

Darstellung

Philosophische der

oder

Erdverhältnisse

vergleichende

allgemeine

und des Menschenlebens

Erdkunde

nach

ihrem

als innern

wissenschaftliche Zusammenhang,

Bd.2, 2 9 8 . 61

Guts-Muths, zitiert nach Hans-Dietrich Schultz, „Deutschlands natürliche' Grenzen", 2 5 7 .

62

Ernst Kapp, Philosophische

63

Ebd.

oder vergleichende

allgemeine

Erdkunde,

258.

45

Deutschlands Mittellage im Spiegel von Geographie und Geschichtsphilosophie

scher und historischer Einheitspunct gegeben sei." 64 Deutschland nehme eben eine „centrale Stellung" ein.Und auch die romantische Literatur kommt den Geographen zu Hilfe: Noch in Herders Tradition heißt es bei Friedrich Leopold v. Stoiber: „Ja, Herz Europens sollst du, o Deutschland, sein! So dein Beruf!" 6 5 Um die innerlich zu bildende Nation ging es auch Hölderlin. Sein Blick auf die politische Landschaft ist dabei von tiefer Skepsis und dem sich vollziehenden Epochenbruch geprägt. Er greift Impulse von Herder und Rousseau auf und verbindet „pantheistische Motive mit der Tradition pietistischer Erweckungserlebnisse" 6 6 Die neue Welt sollte gerade in der Seele der Menschen, besonders der Deutschen, hergestellt werden. Der Traum des Romantikers ist die ewig unrealisierte Möglichkeit. Die Realität scheint ihm nur ein schlechter Abklatsch der Traumwelten. Was später bei Heine oder in der zur romantischen Strömung parallelen Entwicklung in der Klassik bei Schiller als Verachtung der Traumwelt, als ironische Brechung der deutschen Traumtänzerei erscheint, ist bei Hölderlin oder in Novalis Mittelalter-Idealisierung ein Stück der Idee. „So flieht der Romantiker", so Carl Schmitt, „um die Wende des 18.Jahrhunderts ins Mittelalter, weil die Flucht in die Antike damals, während der Französischen Revolution und des Empire, der Gegenwart zu nahe blieb, die sich mit der römischen Antike drapierte (...). Doch bleibt für den Begriff des Romantischen wesentlich: das zeitlich oder räumlich entfernte romantische Objekt - was es auch immer sein mag die Herrlichkeit der Antike, die edle Ritterlichkeit des Mittelalter, die gewaltige Großartigkeit Asiens - ist nicht seiner selbst wegen Objekt des Interesses; es ist ein Trumpf, der gegen die gewöhnliche, real gegenwärtige Wirklichkeit ausgespielt wird und soll die Gegenwart widerlegen." 6 7 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dichtete Hölderlin entsprechend folgende Zeilen in seiner Ode „Gesang des Deutschen": „O heilig Herz der Völker, o Vaterland! Allduldend, gleich der schweigenden Mutter Erd, Und allverkannt, wenn schon aus deiner Tiefe die Fremden ihr Bestes haben! Sie erndten den Gedanken, den Geist von dir, Sie pflüken gern die Traube, doch höhnen sie Dich, ungestalte Rebe! daß du Schwankend den Boden und wild umirrest."68

Hölderlins Gedichtzeilen stehen paradigmatisch für die romantische Vorstellung eines europäischen Organismus oder eines Organismus Europa. Im Herzen der Völker liegt

64

Ebd. 300.

65

Friedrich Leopold von Stoiber, zitiert nach Heinz Gollwitzer, Europabild

66

Otto Kallscheuer,

„Epochenbruch und poetische Ökumene";

und Europagedanke,

in: Neue

Rundschau,

98.

107.Jg.,

(3/1996), 83-94, hier 88. 67

Carl Schmitt, Politische

Romantik,

5. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1925 ersch. 2. Aufl. Berlin

1991, 103. 68

Hölderlin, „Gesang des Deutschen", in ders., Sämtliche Stuttgart 1951, 3-5, hier 3.

Werke, hg. v. Friedrich Blissner Bd.2,

46

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

Deutschland. 6 9 Das Herz nimmt im Rahmen der Körpersymbolik wohl die wichtigste und wirksamste Position ein. Man kann damit rechnen, daß die Nachbarn, - welche Organe werden ihnen wohl zugeordnet ? - wachsame Augen auf die wichtigste Körperfunktion des europäischen Körpers richten werden. Unruhen, Veränderungen und Unordnung im Herzen fuhren zu stärkeren Turbulenzen im Körper als Komplikationen an den Gliedern. Aus der Selbstzuschreibung als Herz spricht auch eine gehörige Portion Hybris und Ego-Zentrismus. Schließlich können im europäischen Körper, außer was die Rolle des Gehirns/Kopfes betrifft, das klassischerweise England zugeordnet wird (wg. der abgebrühten, unterkühlten, technisch-rationalen, pragmatischen Lebensführung) nur noch symbolisch zweitrangige, untergeordnete Positionen vergeben werden: ausführende Organe, Glieder, Bauch etc. Daraus läßt sich unschwer ablesen, daß die Vergabe von symbolischen Positionen und Wertigkeiten ein umstrittenes und konfliktreiches Gelände ist, bei dem mit Spott und Häme zu rechnen ist, und die Frage von Kern und Peripherie eine Frage über Macht und Ohnmacht sein kann. Die Rhetorik hat für die Verbindung von Sprache und Bild, und das charakteristische Schwimmen von einem Symbolfeld in das nächste (also von der Körpersymbolik, zur Geographie und dann zur Geologie) den Begriff der Katachrese geschaffen. Ein Musterbeispiel ist die Verbindung der Herz-Metapher mit der antiken Trias der Elemente Land - Meer - Luft. Das zweite Bild in Hölderlins Gedichtausschnitt, das Bild der Rebe, steht für eine solche Katachrese. Hier darf man wohl getrost annehmen, daß er bewußt nicht die deutsche Eiche oder eine sonstige Baummetapher gewählt hat. Die Rebe steht für den Zwischenraum zwischen Luft und Land, in dem sie wuchert, den Boden nicht beherrschend, aber 70

durchaus dynamisch und kräftig, reichlich Früchte tragend. Und der dritte Bezugspunkt in Hölderlins Ode ist derjenige der Mitte. Im Herzen der Völker liege des Deutschen Vaterland also der Verweis auf die geographische Mittellage. Was bei Hölderlin noch als dynamischer Zustand gedacht wurde und die Statik der Mitte verwarf, war als geographischer Begriff etwas Neues. Nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation wurde die Position in der Mitte Europas vakant. „Deutschland" sollte nach dem Willen der nationalen Bewegung im Sinne einer translatio imperii, den Stab vom Reich übernehmen und in die Nachfolgerschaft des Römischen Reiches treten. Doch dieses „Deutschland" hatte noch keine Konturen, keine Geschichte und keine Grenzen. Es gab zwar die Idee, daß es sich in Europas Mitte befinde aber gerade angesichts der Konsolidierung Frankreichs und der wachsenden Expansionsbestrebungen Rußlands drängte die Zeit, die Grenzfrage zu klären. Was Hölderlin noch wild romantisch schildert wird bei Friedrich Schiller schon problematisch. In seinem Gedicht „Der Antritt des neuen Jahrhunderts" läßt er die Engländer und Franzosen um den Besitz der Welt streiten, während dem Deutschen nur die Traumwelt bleibt:

69

70

Vgl. dazu Ute Gerhard/ Jürgen Link, „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen", 16-52. Vgl. dazu auch die Rhizom-Theorie von Gilles Deleuze und Felix Guattari, Mille Plateaux, Paris 1980.

Deutschlands Mittellage im Spiegel von Geographie und Geschichtsphilosophie

47

„In des Herzens heilig stille Räume Mußt du fliehen aus des Lebens Drang! Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur im Gesang." 71

Daß die Deutschen Träumer seien ist freilich bei Heinrich Heine ein durchgehendes Motiv. So heißt es schon im ersten Abschnitt der Englischen Fragmente: Sie sind ein „spekulatives Volk", „Ideologen", „Vor- und Nachdenker", „Träumer", die nur in der Vergangenheit und in der Zukunft leben und keine Gegenwart haben. Engländer und Franzosen haben eine Gegenwart, bei ihnen hat jeder Tag seinen Kampf und Gegenkampf und seine Geschichte. Der Deutsche hat nichts, wofür er kämpfen sollte. Als Heinrich Heine 1843 sein Wintermärchen dichtete, war des Deutschen Vaterland immer noch nicht geeint und die geologische Symbolik immer noch nicht gefestigt: „Man schläft sehr gut und träumt auch gut In unsern Federbetten. Hier fühlt die deutsche Seele sich frey Von allen Erdenketten. Sie fühlt sich frey und schwingt sich empor Zu den höchsten Himmelsräumen. O deutsche Seele, wie stolz ist dein Flug In deinen nächtlichen Träumen! (...) Franzosen und Russen gehört das Land, Das Meer gehört den Briten, Wir aber besitzen im Luftreich des Traums Die Herrschaft unbestritten." 72

Heine deutet hier mit einer Portion Zynismus an, was später noch ausgeführt werden soll: Die Mitte Europas ist ein heiß umkämpftes Gebiet, welches im Luftraum der Träume nicht gewonnen werden kann. Die hehren Träume von der Position der Vermittlung, der Mäßigung der kulturellen Gegensätze Europas und der darauf basierenden zentralen Stellung Deutschlands in Europa läßt sich nur behaupten, wenn eine entsprechende realpolitische Basis für diese Kulturleistung geschaffen wird. Im anderen Fall käme Deutschland zwischen die Speichen der großen europäischen Flügelmächte. In gleicher Weise äußerte sich Friedrich List, der den Franzosen Richelot zitierte: „Die Deutschen", ruft er aus, „sind des Philosophierens müde - sie sind übersättigt von Abstraktionen; sie werden böse, ob der Fremde sie als Theoretiker lobe oder als Träumer tadle; sie dürsten nach praktischer Wirksamkeit. Um so besser! Wenn sie aus den hohen Wolkengebieten des Denkens herabsteigen auf den festen Boden des praktischen Lebens, so werden sie, weit entfernt ihre Moralität und ihre Intelligenz zu schwächen, sie bedeutend stärken." 73

71

Zitiert nach: Ute Gerhard/ Jürgen Link, „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen", 22.

72

Heinrich Heine, „Deutschland - ein Wintermärchen", in ders., Sämtliche

Werke, Düsseldorfer Aus-

gabe, Bd.4, hg. von Manfred Windfuhr, bearbeitet von Winfried Woesler, Hamburg 1985, 106. 73

Friedrich List, Die politisch-ökonomische

Nationaleinheit

der Deutschen

(1846), 385.

48

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

2.4. Die Politisierung des Mitteleuropa-Begriffs Für die bisherige Darstellung können wir festhalten, daß sich die Mitte Europas - mit Deutschland besetzt - in einem vielfältigen, schon fast überschwenglichen Sinne in der Mitte zahlreiche Aufgaben selbst zuschreibt. Sie taucht auf als Mäßiger und Vermittler, als Zentrum und als gefährdete Mitte. Wenn wir auf die Schemata zurückschauen (NM-S; W-M-O; Mitte-Peripherie) gab es lediglich für kurze Zeit eine gewisse Konzentration im frühen 19. Jahrhunderts auf die Einteilung Ost-West, bei der der Westen noch einmal in Nord-Mitte-Süd unterteilt wurde. Diese Einteilung hatte in bezug auf die Politisierung den Nachteil, daß sich Frankreich und Deutschland in der gleichen Gruppe befanden. Das Bedürfnis diese auseinander zu halten und gleichzeitig eine Front gegen Rußland aufzubauen, führte schließlich dazu, daß von der Vielfalt der Einteilungen nur noch das um die Mitte erweiterte Ost-West-Schema übrig blieb. Der Mitteleuropa-Begriff konnte über seinen Status als harmlose und konturarme Bezeichnung für eine nicht näher bestimmbare Landschaft innerhalb des europäischen Kontinents hinausgreifen, weil es den Geographen, und nicht nur den Geographen unmöglich war, einen rein deskriptiven Begriff von Mitteleuropa vorzulegen. 4 Wie oben schon angedeutet, war die Geographie selber deutlich komplexer als diejenigen, die von ihr Zuarbeiten für die nationale Diskussion erwarteten. Sie ging keineswegs von einer einseitigen Beeinflußung des Menschen durch die Natur aus. Sie ist statt dessen eine theoretisch angeleitete Sozialwissenschaft gewesen, die das Verhältnis von Mensch und Natur um den zentralen analytischen Begriff des Landes/der Landschaft mit einem eindeutigen Idealzustand als Zielvorstellung formuliert, bei dem dann ein harmonischer Endzustand erreicht ist, wenn Land/Landschaft und Staat zur Deckung kommen, oder sich zumindest weitgehend angenähert haben. So liegt es nahe, sich auch innerhalb der Geographie der Vorstellung anzuschließen, daß es Aufgabe der Politik sei, die Landschaft der Deutschen zu einem Staat zu formen. Und pragmatisch wie die Geographen waren, wollten sie nur an derjenigen europäischen Gliederung dauerhaft festhalten, die eine solche Deckung möglichst versprach. Das Schema, nach dem Europa in einen Norden, einen Süden und eine Mitte zerfiel konnte angesichts der politischen Grenzen dem schon eingerichteten Frankreich und dem stabilen Rußland - nicht mehr verwirklicht werden. Und so rückten die Geographen von dem noch im 18. Jahrhundert maßgeblichen Nord-Süd-Schema ab und öffneten sich zunehmend dem Mitte-Peripherieund dem West-Ost-Schema. Doch die genaue politische oder ökonomische Ausfüllung der Schemata blieb anderen überlassen. Tonangebend waren die Geographen in dieser Beziehung nicht. Es hat lange gedauert, bis die Vorstellung von Erdräumen und naturgegebenen Landschaften, die sich in Staaten wiederfinden müßten, an Glaubwürdigkeit verloren hatte und der konstruktivistische Charakter hinter dem Topos der idealen Raumgestalt durchsichtig geworden ist. Die Geographie allein, dies sei abschließend dazu erwähnt, hätte dieses Paradigma nicht so lange lebendig halten können. Erst die enge Verbindung

74

So wie es auch keinen rein deskriptiven Begriff Europas gibt, worauf Herfried Münkler in seinem Aufsatz über die Europa-Idee hingewiesen hat.

Deutschlands Mittellage im Spiegel von Geographie und Geschichtsphilosophie

49

mit der nationalen Bewegung und ihrem Bedürfnis, die offensichtliche Willkür bei europäischen Grenzziehungen zu überwinden und im aufklärerischen Sinne der Natur eine Vernunft zu entlocken, verhalf der „natürlichen, immerwährenden Geographie" (Zeune) zu diesem andauernden Einfluß. Zu einer weitgehenden Identifizierung des natürlichen Deutschland mit Mitteleuropa konnte es jedoch erst kommen, als, wie Schultz schreibt, das Motiv der Mitte von seinem „universalistischen Überschwang" 75 entlastet wurde, um wie Mommsen es nannte, zu einem „Kampfbegriff' 7 6 zu mutieren. Schultz: „Erst durch die national-egoistische Verengung des Blicks auf die Welt wurde das Mitte-Motiv voll anschlußfähig an einen dem deutschen Volk zugeschriebenen Herrschaftsauftrag über andere Völker. Mit anderen Worten: Je mehr der universalistische Sendungsglaube des deutschen Volkes in einen weniger abstrakten, gleichsam erdnäheren imperialistischen Hegemonialanspruch umgedeutet wurde, desto günstiger wurden die Bedingungen für eine Identifizierung der ,Mitte Europas' mit einem deutschen .Mitteleuropa', die die kontinentale Basis der künftigen Weltmachtstellung Deutschlands abgeben würde." 77 Im Gegensatz der rationalen Konstruktion politischer Gemeinwesen und dem voluntaristischen Vorrang auf der einen und dem kulturellen Ursprung auf der anderen Seite, deutet sich die Spannung zwischen dem französischen und deutschen Weg der Nationengründung an. Neben Fichte steht Ernst Moritz Arndt für die, am schroffen Gegensatz zu Frankreich ausgeformte, Idee der Nation im frühen 19. Jahrhundert. In keiner Phase seines Lebens konnte sich Arndt für eine rational-einheitliche europäische Republik erwärmen. Dafür hatte die Herkunft aus einer Grenzlandschaft seinen Blick für Völkervielfalt geschärft und gleichzeitig für gemeinsame, durch Staatsgrenzen nicht zu zerstückelnde Güter der Nationen geöffnet. Er befürwortete Englands Rolle im Spiel der Gleichgewichtsphilosophie. „Indessen blieb es nicht bei dieser rückhaltlosen Zustimmung zu Großbritanniens Außenpolitik und Handhabung der Balance. Schon während des Wiener Kongresses äußerte sich Arndt kritisch zum Grundsatz des europäischen Gleichgewichts, und seine neuen Konzeptionen gingen immer eindeutiger auf Europas heilige Mitte zurück. In mannigfachen Variationen hat er die europäische Bedeutung der deutschen Mittellage umschrieben: Deutschland nannte er den ,Nabel der europäischen Erde', den ,Mittelpunkt des Nordens und Südens', das ,Herz unseres Weltteils', den ,Mittelpunkt der großen Geschichte und der Kirche und des Christen4.

78

tums . Arndt rief Europa zu einer Abwehr gegen den französischen esprit auf. In Germanien und Europa befürwortet er eine Neuordnung Europas auf natürlichen, durch Klima und Sprache bestimmten, Grundlagen. Eine Staatwissenschaft, die „Klassifikationen und Einteilungen" vornimmt, wie „ein Anatom und Botaniker" konnte er nicht unterstützen. Die moderne naturwissenschaftliche Methode konnte seiner Überzeugung nach lediglich zerteilen, aber nicht das Ganze erklären: „wie der Geist die Natur in allen 75 76

Hans-Dietrich Schultz, „Räume sind nicht, Räume werden gemacht", 7. Wolfgang J. Mommsen, „Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des Ersten Weltkrieges", 3

77

Hans-Dietrich Schultz, „Räume sind nicht, Räume werden gemacht", 7.

78

Vgl. Ernst Moritz Arndt, Germanien

und Europa, Altona 1803.

50

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

Teilen und Gliedern zerspaltet und zerschnitten hat, so that er es jetzt mit dem Staate." 7 9 Zudem gehe diese in der „verrückten Welt" falsch an die Sache heran. „Man hat in der neuern und in der neuesten Zeit immer die Pferde hinten an den Wagen gespannt, und durch einen andern Staat, wie durch einen Zauberschlag, auch andere Menschen machen wollen". Arndt dagegen schlägt, im Sinne eines politischen Erziehers vor, „man solle nach Jahrhunderten lernen, daß andere Menschen sogleich einen andern Staat geben." Man müsse demnach dahinwirken, „... die Menschen (...) so zu machen (...), daß ein guter Staat für sie tauge." 8 0 Das konstitutive Gegenüber ist die monarchische, ständische Ordnung des Reiches und geistesgeschichtlich ist es als Gegenbewegung gegen die Aufklärung in ihrer universalistischen, atheistischen und analytischen Ausrichtung zu verstehen. Dagegen hält die Romantik das Historisch-Spezifische, Religiöse und Organisch-ganzheitliche. „Die Romantiker wenden sich gegen das bloße Summieren von einzelnen Teilen - das nennen sie „mechanisch" sie suchen das Ganze 8J „organisch" oder als „Organismus" zu erfassen."

3. „Mitteleuropa": Zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff Nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation stellte sich die Frage, welche Macht denn stark genug sein würde, die Rolle des Aufhalters (Raynal) mit der gewünschten Bodenhaftung (Heine/Schiller) in der Mitte Europas zu spielen. Die Forderung nach einem Nationalstaat, die in einigen Teilen des jungen Deutschlands der Burschenschaften und Turnvereine laut wurde, konnte nur gegen Habsburg durchgesetzt werden, welches nach nationalen Prinzipien geordnet, vollständig zerfallen wäre. Aber gerade dieses Habsburg konnte am eindrücklichsten argumentieren, daß es selber prädestiniert war, die aus der Geographie herangetragenen Aufgaben zu übernehmen, wie sie in den Denkfiguren der Mitte und Vermittlung verankert waren. Aus dieser Sicht erschien der Nationalstaat als westliches und damit letztlich unangemessenes Ordnungsprinzip für die Mitte Europas, während für die anderen gerade ein am französischen Vorbild orientierter Nationalstaat der alleinige Garant für ein dauerhaft auf der Stärke der politischen Zustimmung breiter Teile der Bevölkerung aufbauendes Ordnungsprinzip war. In dieser Zeit war es Metternich, der bewußt gegen die aus dem Westen eindringende Idee der Nation die am alten Reich orientierte Vorstellung einer „mitteleuropäischen Allianz" vorantrieb. Verfassungspolitisch konnte er sich dabei auf die für den Deutschen Bund und später auch für das Kaiserreich charakteristi-

79 80 81

Ebd., 90ff. Ebd., 4/5. „Die Welt ist verrückt, das heißt aus unsern Angeln geworfen." (ebd.) Thomas Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte, 113. Auch Kallscheuer schließt sich dieser Überzeugung an, wenn er schreibt, daß das Ethos der Brüderlichkeit der Romantiker ein antipolitisches, antistaatliches Programm ist, „weil der Staat etwas Mechanisches ist." (Otto Kallscheuer, „Epochenbruch und poetische Ökumene", 87).

„Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

51

sehe Idee der konstitutionellen Monarchie stützen. Gegen Westen war sie dadurch unterschieden, daß der Monarch nicht seine autonome, bzw. von Gott gegebene, Staatsgewalt einbüßte und die Verfassung nur noch das Legitimationsprinzip der Volkssouveränität kannte; und gegen Osten dadurch, daß die Ausübung der Staatsgewalt an eine Verfassung gebunden, also nicht mehr absolut war. Diese Überlegungen brachte der Paulskirchenabgeordnete Moering dahingehend auf den Punkt, daß er forderte, die deutsche Politik müsse „dahin gerichtet sein (...), ein gewaltiges, einiges, freies Mitteleuropa zu schaffen, das mit starker Faust die Wage zwischen Ost und West, zwischen Republik und Autokratie" halte. 82 Auch an anderen Stellen wurde die politische Verfassung mit der Mittellage in Verbindung gebracht. Schon im Vormärz äußerte sich in der Sympathie für die konstitutionelle Monarchie die Idee einer Mittelstellung zwischen West und Ost und ein Stück unverwechselbarer deutscher Sonderentwicklung. „Als ein, wenn nicht gar das entscheidende Merkmal ihrer politischen Kultur galt ihnen [den Deutschen, RS] dabei die Verfassungsform der konstitutionellen Monarchie - eine Form, die vom demokratisch-parlamentarischen Westen, von England, Frankreich und den USA, aber auch vom zaristisch-vorkonstitutionellen Osten, von Rußland, abwich." 8 3 Solange jedoch die Möglichkeit einer großdeutschen Lösung noch im Raum stand konnte die Mitteleuropa-Idee synonym mit der Vorstellung einer preußisch-habsburgischen Allianz deutscher Nation gebraucht werden. Erst nach der Dominanz der kleindeutschen Lösung durch Bismarcks Kaiserreich rückte die Mitteleuropa-Idee ins Abseits und wurde nur noch von wenigen gepflegt. Aus dem Abseits berichtete u.a. Constantin Frantz, der gegen Bismarcks Kleindeutschland agitierte und dabei auf die Reichsidee zurückgriff mit klaren geopolitischen Konnotationen. So wurde das Schicksal der Mitteleuropaidee bestimmt durch den preußisch-habsburgischen Dualismus. Der vom Wiener Kongreß vorbereitete und 1819/20 eingesetzte 82

83

Zitiert nach: Hans-Dietrich Schultz, „Vom harmlosen Gliederungskonzept zum imperialen Programm", 208. Wolfgang Hardtwig, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, 4. Aufl., München 1998, 54f. Vgl. dazu auch Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M. 1988; und Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert"; in ders. (Hrsg.) Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1914), 2. Aufl., Königstein/Ts. 1981, 146-170. Grimm schreibt zur dualistischen Struktur des deutschen Verfassungsstaats, daß sie als „besonders glückliche politische Leistung Deutschlands im Vergleich mit den demokratischen Systemen des Westens und den absolutistischen Systemen des Ostens galt". Zentrales Merkmal war dabei der Erhalt der monarchischen Staatsgewalt, die zugleich mit dem „bürgerlich-liberalen Postulat verfassungsrechtlicher Bindung an bestimmte Inhalte und Formen versöhnt" werde. (Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, 138) Und so läßt sich die von Welcker bevorzugte Richtung des politischen Liberalismus auf einen organisch gewachsenen Konstitutionalismus der historischen Rechtsschule stützen gegen den von Rotteck und Mohl vertretenen Liberalismus, der von der Staatsvertragslehre und dem Gedanken der Volkssouveränität inspiriert ist. Dieser Gegensatz innerhalb des Liberalismus läßt sich auch auf ein geographisches Koordinatensystem übertragen. Erschien die konstitutionelle Monarchie als Ausfluß des deutschen Geistes und der deutschen Kultur, wird der westliche (angelsächsische) Liberalismus und Demokratismus als „welsch" und undeutsch denunziert. Dieser Gegensatz kulminierte im Ersten Weltkrieg in den Auseinandersetzungen zwischen den Ideen von 1914 und den Ideen von 1789.

52

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

Deutsche Bund konnte bis 1860 die Nachfolge des Reichs nur provisorisch übernehmen, bis sich unter Bismarcks Führung die Auseinandersetzung mit Österreich-Ungarn zuspitzte und erst wieder normalisierte, als Bismarck die unterlegene Habsburg-Monarchie in sein europäisches Bündnissystem eingliederte und sich mit der Allianz im Ersten Weltkrieg der Kreis wieder zu schließen schien, also eine Anknüpfung an die ReichsTradition wieder möglich wurde, ohne in die Frantzsche Opposition zum Nationalstaat zu rücken.

3.1. Die Verteidigung der europäischen Mitte bei Metternich Die Idee der Mitte als Ort der Vielfalt und der Vermittlung diente Metternich als wichtige Symbolisierung seiner Macht. Er war es, der maßgeblich an der Konstruktion von Allianz und Gleichgewichtssystem beteiligt war. Er fühlte zwar, daß „das alte Europa am A n f a n g seines Endes" 8 4 war, aber er sah sich selber in der Position des Aufhalters (Katechon), der verhindern wollte, daß Europa in ein unüberschaubares Chaos verfällt. Sonst hätte die nationale Idee die alten Dynastien und damit die überkommene europäische Ordnung aufgelöst und mit ihr auch die Legitimationsfigur der „Legitimität", der gewachsenen überlieferten politischen Ordnung. Einheit in der Vielfalt sollte die Mitte Europas kennzeichnen. Nach der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen gegen Frankreich war das Gleichgewichtssystem unauflöslich überschattet von neuen Frontstellungen. Der Ost-West-Gegensatz in Europa des 19. Jahrhunderts war ein Gegensatz von Ostmächten und ihrem Konservatismus auf der einen Seite und England, „Hort der Freiheit und des Fortschritts" auf der anderen. Frankreich tendierte „trotz beträchtlicher konservativer Kräfte und längerer Phasen restaurativer Regierung auf die Dauer mehr dem Liberalismus" 8 5 zu und gehörte demnach mehr ins westliche Lager. Der maßgeblich an der Stabilisierung des alteuropäischen Gleichgewichtssystems interessierte österreichische Kanzler Fürst Metternich richtete seine Politik nicht nur gegen das eben besiegte Frankreich, sondern auch gegen die liberalen, demokratischen und nationalen Bewegungen in der Mitte Europas. Nicht zufällig beginnt Jacques Droz seine große Darstellung über die Mitteleuropa-Idee mit einer ausführlichen Würdigung Metternichs. 8 6 Auch die Romantiker, allen voran die Gebrüder Schlegel, orientierten sich an Wien. Ihre Visionen sahen das alte Reich in seiner vorreformatorisehen Gestalt wieder erstehen und erhofften sich Vereinigte Staaten von Europa, eine europäische Einheit unter der Führung des katholischen Wien und der traditionsreichen Kaiserkrone der Habsbur84

Manfred Görtemaker, Deutschland

im 19. Jahrhundert,

3. durchgesehene Auflage, [Schriftenreihe

der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 203], Bonn 1987, 64. 85

Heinz Gollwitzer, Europabild

86

Zum folgenden: vgl. Jacques Droz, L Europe ropa",

und Europagedanke,

180.

Centrale.

Evolution

historique

de l'idée de „

Mitteleu-

Paris 1960, 31-51; zudem: die knappen Hinweise zu Metternich bei Henry Cord Meyer

Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945 und die Zusammenfassung in Christian W e i m e r , Mitteleuropa als politisches Ordnungskonzept? Darstellung und Analyse der historischen Ideen und Pläne sowie der aktuellen

Diskussionsmodelle,

Diss. Würzburg 1992, 24ff.

53

„Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

ger. Metternich wollte nichts wissen von dieser literarisch-romantischen oder symbolischen, an das Heilige Römische Reich erinnernden Tradition; er war Rationalist: an mechanischen Lösungen politischer Fragen interessiert. Der „naturwissenschaftliche Sinn war es nicht zuletzt, der Metternich auch bei der Behandlung politischer Fragen bestimmte." 8 7 Für ihn zählte die Realpolitik. Sein Mitteleuropa war macht- und kabinettspolitisch geordnet und mit der Habsburgischen Krone verbunden. Metternich war ein klassischer Vertreter der Staatsraison, nach der die Nationen nur den Kontakt zueinander haben, den sie aufgrund ihrer Berührungspunkte als autonome Machtstaaten besitzen. Metternich hatte ein durchgehend kontinental geprägtes Europabild, d.h. aus der Sicht eines Primats der Landmächte. Ein unüberwindliches Mitteleuropa sollte als Block von 76 Millionen Menschen imstande sein, „'dem Westen wie dem Osten ein Veto zuzurufen, das niemand ungestraft überhören kann'; es sei die Friedensaufgabe der Mittelmächte, ,als kompakte und unbesiegbare Masse der Schiedsrichter Europas zu werden.'" 8 8 Er wollte nichts von einem Großdeutschland wissen, war ganz Europäer im konservativen Sinne und prägte eine föderalistische Position mit rein defensivem Charakter. Beispielhaft für diese Position war sein Bestreben auf dem Wiener Kongreß, die alte Ordnung wiederherzustellen. „Bei der jetzt vorzunehmenden allgemeinen Gebietsrevision legte man vor allem den vorrevolutionären mechanistischen Staatsbegriff zugrunde. Auf Vorschlag des „Comte de la Balance" wie man Metternich auf dem Kongreß bald scherzhaft nannte, wurde zur Bewertung von Bevölkerungen und Ländern eine statistische Kommission bestellt, die nach einem leidenschaftslosen Rechenverfahren weniger die qualitativen als die quantitativen Tatbestände zu ermitteln hatte und die gewöhnliche Seele mit Seele, Quadratmeile mit Quadratmeile gleichsetzte. „Für Metternich besaß Deutschland den ,Wert einer Mythe', Italien war ihm ein geographischer B e g r i f f . Bei den neuen Grenzziehungen wollte man in erster Linie die geographischen, wirtschaftlichen und militärischen und weniger die historischen und volkstumsmäßigen Verhältnisse zur Geltung bringen." 8 9 Deswegen kannte er im eigentlichen Sinne keine deutsche Frage, sondern lediglich ein Mitteleuropaproblem. 9 0 Für ihn bestand Mitteleuropa lediglich aus dem Deutschen Bund und aus Italien. Ungarn gehörte schon nicht mehr dazu. Und die Mitte Europas war ihm eine politischgeographische Einheit, die, wenn man sie in nationale Einheiten zerlegte oder die beiden Teilmächte Preußen und Österreich gegeneinander stellte, zwischen den großen

87

Karl Kraus, Politisches

Gleichgewicht

und Europagedanke

bei Metternich,

Frankfurt/M. 1993, 29.

Zurecht verweist Kraus hier auf die realpolitische Note bei Metternich. Unzulässigerweise fuhrt Weimer einen Kurzschluß herbei zwischen Metternichs machtpolitischer Restauration und einer vermeintlichen Reichs-Idee. Metternich wollte keineswegs, wie Weimer das behauptet, „eine Wiederherstellung der politischen Strukturen des alten Reichs". Dafür saß die Einsicht zu tief, daß, wie oben zitiert, das alte Europa an sein Ende gekommen war. 88

Ebd., 185.

89

Ebd., 59.

90

ebd, 66. So zitiert Jacques Droz den Fürsten Metternich: „La société moderne, écrira Metternich dans ses Mémoires, nous montre l'application du principe de la solidarité et de l'équilibre entre les États...." (Jacques Droz, L'Europe Centrale.

Évolution historique

de l'idée de „Mitteleuropa",

44)

54

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

Einheiten an den Flanken bedroht waren. Ganz im Gegensatz zu denen, die einen möglichen mitteleuropäischen Bund als Brückenpfeiler fur eine Durchdringung des Orients einsetzen wollten, war Metternichs Mitteleuropa defensiv. Es verstand sich als letzte Bastion des Abendlands gegen den Osten. „C'était l'Europe occidentale qui était le véritable champ de la politique de Metternich: il estimait que les États de l'Europe du Milieu devaient constituer le fort rempart contre les idées subversive de liberté, d'égalité, de nationalité, issues le l'Ouest, et opposer ses institutions fédérales aux principes français d'uniformité et de centralisation." 1 Keine europäische Macht schien so prädestiniert wie die Habsburger das europäische Prinzip zu verkörpern: Einheit und Vielfalt. Die Dynastie versprach die nötige integrative Kraft angesichts der im eigenen Bereich gelebten Vielfalt. Mit Blick auf Metternich stimmt Jacques Le Riders Beobachtung, daß die Mitteleuropaidee als Thema immer dann in der deutschen und europäischen Ideengeschichte auftaucht, wenn die „deutschsprachige Zivilisation eine Krise oder einen tiefen Wandel ihrer geopolitischen Identität erlebt. So erweckte das Trauma des Dreißigjährigen Krieges das Verlangen nach einer harmonischen Ordnung in der Mitte Europas, die zugleich mit der Nostalgie für das Heilige Römische Reich und seine föderale Tradition auch die großen staatsrechtlichen Schriften von Grotius und Leibniz hervorgebracht hat. Für Leibniz galt es, das machtlos gewordene deutsche Reich im Westen gegen Ludwig XIV. und im Osten gegen die Türken zu verteidigen. Diese Erinnerung an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sollte noch bis ins 20. Jahrhundert verschiedenartige politische Ideen und Projekte hervorbringen, die in ihm die erste Ausprägung Mitteleuropas sahen." 9 2 Über diese Parallelen vergißt Rider jedoch den wichtigen Unterschied zwischen der auf der Staatsraison aufbauenden Idee der harmonischen, statischen Ordnung à la Metternich auf der einen Seite und der viel dynamischeren Ordnung, wie sie List auf ökonomischer, oder später die Balkanexpansionisten um Rohrbach und Jäckh vertraten (vgl. Kap.3.3). Metternich hatte nichts mit dem Heiligen Römischen Reich zu tun, die Reichsidee war ihm unverständlich, nicht rationalistisch genug. So war es Friedrich Lists und Ferdinand Brucks ökonomischer Expansionismus der ideengeschichtlich weitergeführt wurde und nicht Metternichs Gleichgewichts-Mitteleuropa. 9 3 Bismarcks „Revolution von oben" „setzte der Sache nach den Mitteleuropabestrebungen sowohl des universalistischen wie des großdeutsch-imperialen Typs ein vorläufiges Ende." 9 4 „Der Sache nach" soll hier wohl heißen, daß es keine realistische Grundlage für eine nennenswerte Unterstützung innerhalb einer wichtigen Partei des Kaiserreichs gegeben hätte. Es soll aber nicht heißen, daß nicht die ältere universalistische Idee, die den Deutschen eine Führungsrolle in einem übernational geordneten Eu91 92 93

94

ebd, 47. Jacques Le Rider, Mitteleuropa -Auf den Spuren eines Begriffs, 10. Konsequenterweise schenkt Meyer in seiner Studie den Mettemichschen Ideen des europäischen Gleichgewichts keine Bedeutung, während Droz mit seinem vielseitigeren, auch föderalistischen Verständnis von Mitteleuropa, Metternich ausführlich auf 20 Seiten würdigt. (Henry Cord Meyer Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945, 17.) Wolfgang J. Mommsen, „Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des Ersten Weltkrieges", 7.

„Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

55

ropa zusprach, lebendig geblieben wäre. So lebendig, daß sie unter dem Druck der Kriegsblockade im Ersten Weltkrieg wieder vehement in Erinnerung gerufen werden konnte. Die mitteleuropäischen Ideen blieben weitgehend Domäne im großdeutsch-konservativen Lager, als dessen Vertreter hier nur Paul de Lagarde genannt werden soll. Lagarde schließt in seinem Bericht „Über die gegenwärtige Lage des Deutschen Reiches" an die alten Friedensvorstellungen der Geographen an. Schon diese glaubten, daß erst dann auf Dauer Frieden in Europa herrschen könne, wenn die deutsche Kulturnation Landschaft und Staat zur Deckung gebracht hätte. „Den Frieden in Europa ohne dauernde Belästigung seiner Angehörigen zu erzwingen, ist nur ein Deutschland imstande, das von der Ems- zur Donaumündung, von Memel bis Triest, von Metz bis etwa zum Bug reicht, weil nur ein solches Deutschland sich ernähren, nur ein solches mit seinem stehenden Heere sowohl Frankreich als Rußland und mit seinem Heere und dessen erstem Ersätze das mit Frankreich verbündete Rußland niederschlagen kann. Weil nun alle Welt Frieden will, darum muß alle Welt dies Deutschland wollen und das jetzige Deutsche Reich als das ansehen, was es ist, als eine Etappe auf dem Weg zu Vollkommenerem, eine Etappe, welche zu dem endgültigen mitteleuropäischen Staate sich so verhält, wie sich der einst bestandene Norddeutsche Bund zum jetzigen Deutschen Reiche verhalten hat." 95

3.2. Constantin Frantz und die Reichs-Idee. Mitteleuropäische Föderation vs. Nationalstaat In der Metternichschen Variante der Mitteleuropa-Idee spielte die Reichs-Idee keine Rolle. Anders bei Constantin Frantz, der Motive der Mitte aufgriff, die an die Kappsche Philosophie anknüpfte. Als erbitterter Gegner der kleindeutschen Lösung setzte Constantin Frantz nach seinem Bruch mit der frühen Idee des deutsch-englischen Zusammenspiels spätestens mit „Der Föderalismus" auf die Karte eines mitteleuropäischen Bundes. Seine Verehrung für Tradition, Geschichte und Zukunftsfähigkeit des Reichs-Gedankens führte ihn zur Ablehnung des preußisch dominierten Nationalstaats. Reich nennt sich der Staat nur, so Frantz, weil der Name des deutschen Reiches „ganz anders für das deutsche Ohr klingt, als wenn es der deutsche Staat hieße...(D)ie Ahnung, daß das Reich etwas anderes und höheres sein soll als ein Staat" haben die „Reichs"-Gründer wohl gehabt. 96 Für ihn ist der Staat ohne Tradition in Deutschland: „Es liegt etwas Fremdes darin, und wie mit dem Namen so verhält es sich zugleich mit der Sache." 9 7 Und so sind es nicht nur die religiösen Konnotationen, die der Reichs-Begriff in der deutschen Sprache hat, sondern, für ihn wichtiger, daß die deutsche Nationalentwick95

Paul de Lagarde, „Über die gegenwärtige Lage im Deutschen Reich. Ein Bericht"; in: ders., Deutsche Schriften,

Berlin 1994. Lagardes Politische Schriften wurden ohne Kommentar, Einleitung

oder Anmerkungen, quasi anonym, vom Verlag der Freunde herausgegeben. 96

Constantin Frantz, Das neue Deutschland.

Beleuchtet in Briefen, Leipzig 1871. Hier aus dem 26.

Brief der überschrieben ist mit „Staat und Reich", 388. 97

Ebd., 391.

56

Mitteleuropa - zu G e n e s e und Entwicklung eines politischen B e g r i f f s

lung ihre eigene Form findet; und diese sei eben das Reich. Dem Staat wohnen „Centralisationstendenzen" inne, die „undeutsch" seien. Dagegen war Deutschland „von A n f a n g an vielstämmig, die deutsche Nation in sich selbst ein Volk von Völkern." 9 8 Konsequent lehnt er das Nationalitätsprinzip als einigendes Band für die von ihm vorgeschlagene politische Ordnung ab. „Die Nationalität ist ein ausschließendes Prinzip, welches selbst keine Rechtsgemeinschaft begründen kann, es erweckt vielmehr egoistische Interessen." 9 9 Und weiter: „Denn als das europäische Mittelland wäre es am allerwenigsten dazu geeignet und bestimmt, sich zu einem Nationalkörper abzuschließen, statt dessen es durch den heutigen Zug der Dinge sich um so mehr veranlaßt fühlen müßte, wieder zu der universalen Idee des heiligen römischen Reiches zurückzukehren." 1 0 0 Den mitteleuropäischen Bund läßt Frantz um den Kern Deutschland kreisen, weitet ihn aber sowohl auf die westslawischen, wie auch auf die nordwesteuropäischen Länder und Nationen aus. Erst, wenn Deutschland in der Mitte liege, könne es seine Stärken voll ausprägen und Europa gestalten. „Ost und West sind Anfang und Ende der ganzen Weltentwicklung. Deutschland, die Mitte einnehmend, ist dadurch auf eine Doppelrichtung angewiesen, welche die Natur durch die Donau und den Rhein vorgebildet hat." In der „Verdoppelung des Deutschen Reiches in sich selbst" sieht Frantz die Begründung für die vom Reich in Anspruch genommene Symbolik. „Mit vollem Recht hat darum das alte Reich den Doppeladler angenommen, der wirklich sein Wesen bezeichnet." 1 0 ' Abschließend die wohl pointierteste Stelle in Frantz Gleichgewichts-Buch, an der er die Bedeutung Deutschlands als Sachwalterin europäischer Werte herausstellt und das bekannte Zangenmotiv verwendet: „Und wenn die europäische Menschheit noch zu etwas besserem bestimmt ist, als wie ein Lehmbrei durch die Pariser Schablone gedrückt, um hintennach in dem Glutofen der Revolution gebrannt und mit dem Firniß einer sogenannten Zivilisation überstrichen, schließlich aber, wenn auch dieser Firniß verblichen, als ganz ordinärer Ziegelstein zu einer russischen Kaserne vermauert zu werden wo kann diese höhere Bestimmung der europäischen Menschheit noch eine Stütze finden als lediglich in Deutschland, welches, so lange es vorherrschend war in Europa, weit entfernt, die anderen Nationalitäten zu beeinträchtigen, vielmehr für alle die wirk102 samste Garantie der Erhaltung der inneren Eigentümlichkeiten bildete?"

3.3. „Mitteleuropa": Das „Reich" ohne Mythos? - Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Konzeption im Ersten Weltkrieg Nach Gründung des Kaiserreichs 1871 vollzog sich eine interessante semantische Verschiebung. Für das Deutsche Reich bürgerte sich alltagssprachlich zunehmend der Be98

Ebd., 3 9 3 .

99

Ebd., 4 3 8 .

100

Ebd., 3 5 0 .

101

Ebd., 128.

102

D e n H i n w e i s verdanke ich dem A u f s a t z von Herfried Münkler, „Europa als politische Idee", 5 3 7 . N a c h Einsicht in das Original wurde das Zitat leicht korrigiert.

Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

57

griff Deutschland ein, obwohl zahlreiche Kritiker dieser Sprachregelung betonten, daß das Deutsche Reich nur einen kleinen Teil des größeren Deutschland repräsentierte. Damit schrumpfte der üblicherweise mit Deutschland bezeichnete geographische Raum auf das vom Kaiserreich belegte Territorium zusammen. An die Stelle des ehemaligen naturräumlichen Deutschland-Begriffs trat dann der Mitteleuropa-Begriff. Dieser beschrieb praktisch das politisch 1871 nicht realisierte größere Deutschland, im Sinne des von Deutschland beanspruchten Einflußraums in der Mitte Europas. 1 0 3 Die ursprünglich das halbe Europa umfassenden Definitionen von Mitteleuropa kamen wieder in Erinnerung, als sich die oben beschriebene Begriffs-Verschiebung vollzogen hatte. Somit gab es also nach 1870, speziell im Umfeld des Ersten Weltkriegs, als die Debatte um Mitteleuropa wieder aufflammte, die gleichen Schwierigkeiten wie zuvor beim Deutschland-Begriff: die Grenzen waren nur leidlich bestimmt. Es gab fortan engere und weitere Mitteleuropa-Begriffe. Und nur beim engen Mitteleuropa-Begriff fielen Deutschland und Mitteleuropa zusammen. Die weiteren gingen auch weit über das ehemals geographische Deutschland hinaus. In dieser Zeit wurde der, auch heute noch im kollektiven Gedächtnis gebliebene, Begriff von Mitteleuropa geprägt als natürliche Einflußsphäre Deutschlands in Europa. Die alten, wie Schultz sie nennt: „harmlosen" Vorstellungen von Mitteleuropa sind dagegen nicht präsent geblieben. Die dominante Vorstellung von der Mitteleuropaidee ist die, daß sie im Dienst der deutschen Nation und des deutschen Nationalismus gestanden habe. Die Studien von H.C. Meyer oder auch die deutsche Forschung um Fritz Fischer haben gezeigt, daß sich Intellektuelle und die politische Führung gleichermaßen der Mitteleuropaidee bedient haben, um dem deutschen Nationalismus in der kulturellen, ethnischen und sprachlichen Gemengelage einer heterogenen Mitte Europas zur Vorherrschaft zu verhelfen. 1 0 4 Mitteleuropa hat sich, wie W. J. Mommsen anmerkt „seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr zu einem Kampfbegriff verengt, mit dem man formelle oder mehr noch informelle imperialistische Ziele zu legitimieren suchte." 1 0 5 Ein die Mitte derart als ökonomisches und politisches Herrschaftsgebiet verstehendes Deutschland ist dann sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdzuschreibung denkbar weit entfernt von der multiplen Anwendung des Mitte-Motivs. Von Vermittlung oder Mäßigung, schon gar von der Assoziation der Herzmetapher ist ein solchermaßen machtpolitisch präsenter Staat weit entfernt. Kein Wunder also, daß sich die für die deutsche Nationalsymbolik passenden Bilder um die Jahrhundertwende verschoben haben und daß unter diesen veränderten Voraussetzungen Robert Musil seinen Charakteren im „Mann ohne Eigenschaften" folgenden Dialog zuschrieb:

103

Vgl. hierzu die Hinweise in Karl Sinnhuber, „Central Europe, Mitteleuropa, L'Europe Centrale. An Analysis of a Geographical Term", 22.

104

Henry Cord Meyer, Mitteleuropa Weltmacht,

105

in German

Thought and Action-, Fritz Fischer, Griff nach

der

Düsseldorf 1984, 208ff.

Wolfgang J. Mommsen, „Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des Ersten Weltkrieges", 3.

58

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

„Deutschland ist ein verhältnismäßig naives, von Kraft strotzendes Land", sagte Arnheim, als müßte er dem Vorwurf seiner Freundin mit einer Entschuldigung begegnen. „Man hat ihm das Schießpulver und den Schnaps gebracht." Tuzzi lächelte zu diesem Gleichnis, das ihm mehr als kühn vorkam. „Es läßt sich nicht leugnen, daß Deutschland in den Kreisen, die von unserer Aktion erfaßt werden sollen, einer wachsenden Abneigung begegnet." Graf Leinsdorf ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, diese Bemerkung einzuflechten.(...) Er war überrascht, als ihm Arnheim erklärte, daß ihn das nicht wundere. „Wir Deutschen" entgegnete dieser „sind ein unseliges Volk: wir wohnen nicht nur im Herzen Europas, sondern wir leiden auch als dieses Herz..." „Herz?" fragte Se. Erlaucht unwillkürlich. Er hätte Gehirn statt Herz erwartet und würde das auch lieber zugestanden haben. Aber Arnheim beharrte auf Herz.(...)" 106 A l s d i e M i t t e l e u r o p a - D i s k u s s i o n in d e n e r s t e n b e i d e n J a h r e n d e s E r s t e n wieder

a u f f l a m m t e und der Mitteleuropa-Idee

eine bisher noch

nicht

Weltkriegs dagewesene

Popularität verschaffte, taten sich alsbald zwei Fronten auf: eine donau-österreichische und eine deutsch-nationale.107 Jene arbeitete mit einem eher universalistischen Vorbild, diese mit einem national-verengten, instrumenteilen Verständnis von Mitteleuropa, und b l e i b t in e i n e m S p a n n u n p v e r h ä l t n i s z u r I d e e d e r N a t i o n u n d d e m S e l b s t b e s t i m m u n g s recht der Nationalitäten.

Eben dieses Selbstbestimmungsrecht der N a t i o n e n meinen

Frantz und auch N a u m a n n aus der Sicht langer historischer Wellen zumindest für kleine N a t i o n e n a b g e l a u f e n - gemeint sind hier die n o c h nicht national organisierten kleinen N a t i o n e n Ostmitteleuropas. Beide schließen sich den ö k o n o m i s c h e n Rationalitäten an, w i e sie z u e r s t v o n F r i e d r i c h List f o r m u l i e r t w u r d e n . D i e z u m e i s t a u s t r o p h i l e n M i t t e l e u ropa-Konzepte föderalistischer N a t u r hatten zahlreiche Probleme: z u m einen kollidiert e n sie m i t d e m p r e u ß i s c h z e n t r i e r t e n N a t i o n a l i s m u s u n d w a r e n v o l l k o m m e n u n a t t r a k t i v f ü r d i e o s t m i t t e l e u r o p ä i s c h e n K l e i n s t a a t e n u n d -Völker, w e i l i h n e n in d i e s e m d e u t s c h h e g e m o n i a l i s i e r t e n S y s t e m ein S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t a b g e s p r o c h e n w u r d e . 1 0 9 D e r i n s t r u m e n t a l e S i n n d e r M i t t e l e u r o p a - I d e e in d e r W e l t k r i e g s d i s k u s s i o n b e s t a n d 106 107

108

109

Robert Musil, „Mann ohne Eigenschaften", 3 Bde., Berlin 1976. Mommsen stellt die drei wichtigsten Gruppierungen im 1. Wk dar: „Im Ersten Weltkrieg begegnen uns die Mitteleuropapläne in drei miteinander teilweise konkurrierenden Varianten: 1. als Kern eines gemäßigten, vorwiegend mit informellen Methoden operierenden Expansionsprogramms, welches der Beraterkreis Bethmann-Hollwegs dem radikalen Annexionismus der Rechten und der ihnen nahestehenden industriellen Kreise als elastische Alternative entgegenzustellen suchte, 2. als strategische Aushilfe der deutschen Kriegsführung in einem sich zu einem gigantischen Abnutzungskrieg verwandelnden Völkerringen sowie 3. als Mittel, um Österreich-Ungarn auf Dauer an das Deutsche Reich zu binden und dieses in ein vornehmlich auf Ost- und Südosteuropa gerichtetes riesenhaftes Expansionsprogramm einzubeziehen, ohne seinen staatlichen Bestand als solchen formell anzutasten." (Wolfgang J. Mommsen, „Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des Ersten Weltkrieges", 13f.) Ebd., 3; vgl. auch Jacques Droz in seiner Einleitung zu L 'Europe Centrale: evolution historique de l 'idee de „ Mitteleuropa ". Vgl. dazu ebd. Droz beschäftigt sich in den ersten vier Kapiteln ganz ausführlich mit der DonauFöderations-Tradition. Dazu auch: Richard Okey, „Central Europe/Eastern Europe: Behind the Definitions"; in Past and Present 137. Jg. (1992), 102-133, hier 112ff.

.Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

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für diejenigen, die nicht mehr von einer nach Übersee gerichteten imperialen Expansionspolitik auszugehen vermochten, darin, eine kontinentale Basis für die Konsolidierung deutscher Politik auch über das Ende des Krieges hinaus zu leisten. Die Einbeziehung Österreich-Ungarns und der restlichen, den Mittelmächten nahestehenden, Balkanvölker diente dabei einer Deckung gegen Rußland und im Idealfall einer Ausgangsposition für eine deutsche Orientpolitik (Rohrbach und Jäckh). Dies geschah vor dem Hintergrund einer ersten ökonomischen Globalisierungswelle, die es ratsam erscheinen ließ, von einer Tendenz zu ökonomischer Großraumbildung auszugehen, die dem deutschen Nationalstaat Bismarckscher Prägung keine Zukunftschancen versprach. Grundsätzlich beteiligte sich auch Friedrich Naumann an diesen (kultur-) imperialistischen Grundüberlegungen. Was seiner Schrift Mitteleuropa von 1915 jedoch eine so ungeheure Resonanz in der Öffentlichkeit und eine andauernde Rezeption bescherte, waren wohl eher die Überlegungen zur ideellen Unterfütterung des ökonomisch-rationalen Programms. Denn schon lange wurden in Wirtschaftsvereinen und auch im Verein für Sozialpolitik die ökonomischen Umstände debattiert und publiziert. Doch gegen diese verkürzte, kontinental-imperiale Version Mitteleuropas setzte Friedrich Naumann eine Vorstellung der europäischen Mitte, die zahlreiche innenpolitische, emanzipatorische Elemente mit der Mitteleuropa-Idee zu verknüpfen suchte und eine dauerhafte Integration dieses mitteleuropäischen Kulturraums anstrebte. Naumann faßt diese Vorstellungen in dem kurzen Diktum zusammen: „Wir müssen österreichischer werden." 1 1 0 Damit fordert er zweierlei: zum einen sollte dem ganzen Projekt mehr „Herz" eingepflanzt werden. So tiefgreifende Veränderungen, wie sie Naumann vorschwebten und die weltpolitische Lage zu erzwingen schien, konnten nur unter Berücksichtigung der symbolischen Seite integrativer Prozesse erfolgreich sein; und zum anderen forderte er damit konkret, von dem deutschtümelnden, völkischen Nationalismus abzurücken und sich auf eine multiethnische Zukunft in der Mitte Europas einzustellen. Wichtigster Anknüpfungspunkt war für ihn die Reichsidee, die ein Integrationskonzept nahezulegen schien. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß, ganz im Sinne Friedrich Lists, der ökonomischen Zusammenarbeit eine Vorreiter-Rolle zugeschrieben werden sollte. Walther Rathenau machte sich im Ersten Weltkrieg für eine solche Variante stark, einen mitteleuropäischen Zollverein zu gründen, dessen Anziehungskraft über kurz oder lang auch die westeuropäischen Staaten ergreifen würde. Grundlage seiner Überlegungen war der Versuch, eine wirtschaftliche Einheit zu schaffen. Damit „wäre dem nationalistischen Haß der Nationen der schärfste Stachel genommen...Was die Nationen hindert, einander zu vertrauen, sich aufeinander zu stützen, ihre Besitztümer und Kräfte wechselseitig mitzuteilen und zu genießen, sind nur mittelbar Fragen der Macht, des Imperialismus und der Expansion: im Kern sind es Fragen der Wirtschaft. Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik ( . . . ) " ' " 1,0

111

Friedrich Naumann, „Mitteleuropa"; in: ders.: Werke Bd.4, hrsg. von Theodor Schieder, Köln/ Opladen 1964, 485-766, hier 530. Rathenau, zitiert nach Wolfgang J. Mommsen, „Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des Ersten Weltkrieges", 12.

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Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

In den meisten Fällen, besonders natürlich in der offiziellen Politik, aber auch im Verein für Sozialpolitik, traten die mitteleuropäischen Föderationspläne in den Dienst der Nation, des deutschen Nationalstaates. Und nicht nur das: auch der ökonomische Aspekt der Mitteleuropa-Idee war durch Wirtschaftsvereine und -verbände gegenüber der politischen Idee ständig hervorgehoben worden. Rathenau und Naumann sind in diesen Grundüberzeugungen den Vordenkern List und Bruck gefolgt. Der deutsche Nationalstaat, so die Überzeugung der Genannten, kann nicht den ökonomischen Rahmen der Zukunft bieten, die Wirtschaft drängt auf eine europäische und globale Wirtschaft hin. In einer an de Pradt erinnernden weltpolitischen Analyse sieht Naumann die Zeit der „politischen Großbetriebe" gekommen: „Nur wenige Nationen können im Großbetriebszeitalter noch wirklich souverän sein, und auch diese suchen Verbandsanschluß und Gegenseitigkeitsversicherung. Alles gruppiert sich, organisiert sich. Das ist Weltpolitik: Die Einordnung in die entstehende Internationalität. Das deutsche Volk will in diesem Vorgang nicht beiseite geschoben werden. Es will die Regelung der Menschheitsorganisation zu Wasser und zu Lande nicht dem Syndikat der älteren Kolonisatoren überlassen, will nicht zwischen Romanen und Slaven isoliert und zerdrückt werden, darum muß es sich wehren, darum sendet es seine Söhne in die Schlacht, nichts fürchtend, alles opfernd. In diesem Sinne treibt unser Volk eine nachbismarcksche Politik auf bismarckscher Grundlage."" 2 Wie List und Rathenau vertraute Naumann dem ökonomischen Zugpferd. Aber er fragte sich auch, was denn diese zukünftige mitteleuropäische Einheit in Europa zusammenhalten könnte. Schließlich wäre das dann ein multinationales, multiethnisches Etwas, dem die künstliche Notwendigkeit als Makel anhaftet; und das zudem mit dem Problem kämpfen müßte, gegen die nationalen Ideen und Ideologien mit ihren zentrifugalen Kräften anzutreten. Es müßte also eine ideelle, symbolische Repräsentation finden können, deren integrative Wirkung an die Stelle der ehemaligen nationalen Integration treten könnte. Die Reichsidee sollte nun nicht mehr gegen den Nationalstaat, das Deutsche Kaiserreich und Bismarck in Anschlag gebracht werden, wie Constantin Frantz dies noch getan hatte, und es sollte ebenso wenig auf dem christlichen Universalismus habsburgischer Prägung ruhen. Naumann versuchte die Quadratur des Kreises, indem er gegen den „mainstream" der nationalen Geschichtsschreibung, das Kaiserreich nicht als Kulminationspunkt deutscher Geschichte beschrieb, sondern als Übergangsstadium einer protestantischen Reichstradition. „Die deutschen Kaiser der früheren Zeiten sind mitteleuropäische Gestalten im vollen Sinne des Wortes und werden darum erst jetzt wieder ganz erkennbar (...). Heute im Kriege von Nordsee bis Anatolien, heute steigt Barbarossa aus dem Fluße Selef im fernen Türkenlande in die Höhe." 1 1 3 Jeder Deutsche hat nach Naumanns Überzeugung eine Ahnung, daß sich in der deutschen Geschichte Ansätze finden, die über die Grenzen des 1870 geschaffenen Nationalstaats hinausweisen. Die alte Kulturnation sollte wieder aufleben, wenn er schreibt: „Die Deutschen füllten die Mitte Europas, an allen Rändern aber zogen sie benachbarte Völker an sich 112

113

Friedrich Naumann, „Bismarck und unsere Weltpolitik"; in: ders.: Werke Bd.4 hrsg. von Theodor Schieder, Köln/Opladen 1964, 449-454, hier 453. Friedrich Naumann, „Mitteleuropa", 533.

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„Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

heran: das heilige römische Reich deutscher Nation. Dieses alte Reich ruckt und stößt jetzt im Weltkriege unter der Erde, denn es will nach langem Schlafe gern wieder kommen." 1 1 4 Naumann ist in diesem Zusammenhang interessant, weil er viel grundsätzlicher und politischer über Mitteleuropa nachgedacht hat, als viele derer, die ebenfalls die Mitteleuropa-Idee im Munde führten. In seinem Umfeld wurden grundlegende Überlegungen darüber angestellt, ob sich nicht die gesamte Idee der Nation überholt habe und neue Ordnungsprinzipien die Politik gestalten müßten. Diese Erfahrungen gaben der ReichsIdee einen neuen Auftrieb und nicht ohne Grund nannte Rumpf die Mitteleuropa-Idee die Reichsidee ohne Mythos. 1 1 5 Die Unterkühltheit des Mitteleuropa-Konzepts wurde Naumann zu einem Problem und so verband er die Mitteleuropa-Idee kurzerhand mit der Reichs-Tradition. 1 1 6 Dies war wiederum Wasser auf die Mühlen der Freunde der „Ideen von 1914", die ohnehin behaupteten, daß das westliche Muster der nationalen und damit zusammenfallenden staatlichen Einheit auf Deutschland nicht paßte." 7 Damit ist die Überzeugung verbunden, daß für Deutschland die Idee der Nation eine eher zerstörerische und wenig zukunftsorientierte Idee sei. Für Naumann ergibt sich daraus das wirklich schwierige Problem, auf der einen Seite den nationalen Grundkonsens über die herausragende Bedeutung der Gründung des Nationalstaats verbunden mit der Leitfigur Bismarck nicht aufzukündigen und auf der anderen Seite eine Politik zu vertreten, die an der kleindeutschen Kaiserreichs-Politik kritisch ansetzt. Etwas gewagt erscheint in diesem Zusammenhang Naumanns These, daß Mitteleuropa nahtlos an die Tradition des Heiligen Römischen Reichs und des Kaiserreichs anschließen könne. Es ist allseits bekannt, daß es nicht viele gab, die dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation eine Träne nachgeweint hätten. Und so ist es folgerichtig auch nicht das Reich in der Verfassung des späten 18. Jahrhunderts, sondern in der des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, das zur Mythenbildung und Identifikation herangezogen wurde; speziell die vorreformatorische Einheit der Christenheit unter dem Dach des Reichs mit ihrer gemeinschaftsstiftenden und antiindividualistischen Schlagkraft. Für diese Richtung steht Hugo von Hofmannsthal. Naumann vertritt dagegen die profanisierte und säkularisierte Version dieser Reichsidee. Doch nicht nur das vergangene Reich wurde verklärt, sondern auch das noch kommende wurde mit Erwartungen überfrachtet. Die politische Sprache war dabei sehr flexibel. Sie vereinnahmte den ReichsGedanken sowohl für das kleindeutsche Reich wie auch die Mitteleuropa-Anhänger ihre

""Ebd., 520. 115

Helmut Rumpf: „Ein Unterschied zwischen Mitteleuropa' und ,Reich' liegt etwa in der Richtung, die Heuss andeutet, wenn er die ,romantische Literarisierung' des Reichs der nüchternen Mitteleuropa-Vorstellung aberkennt." Helmut Rumpf, „Mitteleuropa. Zur Geschichte und Deutung eines politischen Begriffs"; in Historische

116

Zeitschrift,

Bd. 165 (1942), 510-527, hier 524.

Die nüchterne wirtschaftspolitische Ausgestaltung brachte Karl Renner folgendermaßen auf den Punkt: „Bourgeois und ökonomisch ausgedrückt heißt Mitteleuropa Kartell statt Konkurrenz", zitiert nach ebd., 524.

117

Dazu maßgeblich, Klaus von See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches in Deutschland

zwischen

Französischer

Revolution

Denken

und Erstem Weltkrieg, Frankfurt/M. 1975.

62

Mitteleuropa - zu G e n e s e und Entwicklung eines politischen B e g r i f f s

Vorstellungen an die Reichsidee a n k n ü p f t e n . " 8 Um diesen Sinn auch gegen jede historische Entwicklung aufleben zu lassen, wurde das Reich mythisch vergegenwärtigt. Eine der zentralen Erzählungen ist hierbei die vom schlafenden Kaiser. Ein Staat ist ein „kaltes rationales Gebilde, das wohl Ziele und Zwecke verfolgte, aber für sich im emphatischen Sinne eigentlich keinen Sinn reklamieren konnte - im Unterschied zum Reich, das Bedeutung besaß und Sinn hatte.(...) Ein Staat legitimiert sich vor den Bürgern durch seine Funktionstüchtigkeit; die Legitimation des Reichs hingegen ist sein Alter, seine Stiftung durch Gott, seine wunderbare Geschichte mitsamt der ihm noch verheißenen Zukunft. Ein Staat rechtfertigt sich durch Verweis auf harte Fakten, die Rechtfertigung des Reichs hingegen ist die Erzählung einer Geschichte, der Bericht von Träumen und Visionen, der Verweis auf drohende Schrecken und die Hoffnung auf Rettung in höchster Not." 1 1 9 Das Reich war eingeordnet in einen „Heilsplan", in eine Eschatologie. Herfried Münkler verweist auf die Stellen im Alten Testament, die ausschlaggebend wurden für die heilsgeschichtliche Einordnung des Reiches. Es war Katechon, der Aufhalter vor der großen Apokalypse, Aufhalter des Weltendes, zur politischen Bestandsgarantie des Kosmos. Das ist es auch", so Herfried Münkler weiter, „was dem Reich jenen sakralen Charakter verleiht, von dem eingangs die Rede war. Das Reich hat, im Unterschied zu den Staaten, einen zentralen Platz inne in Gottes heilsgeschichtlichen Plänen (...). Das Reich als Katechon des Weltendes, seine Rolle als Bollwerk gegen den Antichrist, der Kampf gegen die Feinde der Christenheit und die Selbstsakralisierung kaiserlicher Gewalt durch den Sieg auf dem Schlachtfeld - alle diese Erzählungen und Visionen, Geschichtsdeutungen und Geschichtsperspektiven verbanden sich im Laufe der Zeit zum großen Mythos vom Reich." 1 2 0 Der Erste Weltkrieg destabilisierte auch die bis dahin dominante nationale Geschichtsschreibung und konfrontierte sie mit einem Reich, das unter den modernen Bedingungen der Großbetriebe sich als Vorbild für einen supranationalen „Oberstaat" (Naumann) zu eignen schien. Auf wirklich überzeugende Grenzziehungen nach Westen oder auch Osten treffen wir in Naumanns Werk über Mitteleuropa jedoch nicht. Sicherlich, er setzt auf die Kriegserfahrung, die Blockade und die Alltagserfahrungen von Freund und Feind in den Kriegsauseinandersetzungen. Dadurch ist er zumindest für die Kriegsjahre von der Pflicht entlastet, die Grenzen wirklich dauerhaft bestimmen zu müssen. Doch läßt sich eine gewisse Widersprüchlichkeit in seinen Darstellungen nicht übersehen, die u.U. nicht unerheblich zur Kurzlebigkeit des Konzepts beigetragen haben dürften. Da sich Naumann nicht auf die Nation, auf deutsche Kultur oder Deutschtum insgesamt stützen kann, muß er abstraktere Grenzbestimmungen einziehen. Trotz der Kriegssituation dürfte jedoch aus seinen anderen Schriften und seinen liberalen Grundüberzeugungen deutlich sein, daß er für eine nach Westen orientierte Verfas118

Zu den folgenden Überlegungen: Herfried Münkler, „Reich als politische Vision", in Peter K e m p e r ( H g . ) Macht

des Mythos

schichtliche

Grundbegriffe

- Ohnmacht

der

Vernunft?,

Frankfurt/M. 1989, 15-23. „Reich", in: Ge-

, Bd. 5, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart K o s e l l e c k ,

Stuttgart 1984, 4 2 3 - 5 0 8 . 119

Herfried Münkler, „Reich als politische Vision", 3 3 9 .

120

Ebd., 3 4 0 / 3 4 2

63

.Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

sungsordnung eintritt. Die konstitutionelle Monarchie ohne wirkliche Staatsbürgergesellschaft war für ihn nicht länger halt- und wünschbar. Die scharfe „mitteleuropäische" Grenzziehung nach Westen über den Krieg hinaus dürfte von liberaler Seite nicht wünschenwert gewesen sein. Nach Osten hin ist eine verfassungspolitische Grenze jedoch gegenüber dem Zarismus deutlicher. Dagegen drückt die zunehmend an Bedeutung gewinnende Selbstbeschreibung als Kontinentalmacht eine enge Verwandtschaft mit Rußland aus. So ergibt sich über die Kriegsallianzen hinaus kein geschlossenes Bild mit präzisen Konturen Mitteleuropas im Kriegsbuch Naumanns. Unter den spezifischen Umständen des Ersten Weltkrieges konnte sich die Mitteleuropa-Idee mit dem Reichsmythos verbinden und der gewagte Versuch unternommen werden, unter positivem Bezug auf Bismarck, anders also als Frantz, die Reichstradition zu instrumentalisieren. „War der mythische Traum vom Deutschen Reich also nicht viel mehr als Politikersatz, Kompensation dessen, was es in der politischen Realität nicht gab? Sicherlich auch, aber nicht nur: in zeiten der Ohnmacht, der Niederlagen und Depressionen hat der Reichsmythos als Kompensationspotential gedient, als Trost durch Erinnerung an das, was einmal war und - vielleicht - wieder einmal sein würde; in Zeiten der Macht, der Siege und der politisch-militärischen Kraftentfaltung ist der Mythos vom Reich jedoch nicht verschwunden, sondern hat nunmehr als Legitimationsquelle von Expansion und Imperialismus, als mythische Approbation der Weltherrschaftsträume gedient. Kein anderer als Wilhelm II. selbst hat in einer Bleistiftskizze festgehalten, welche Rolle er dem Reich zugedachte: die eines Wächters abendländischer Werte gegen die aus dem Osten andrängende Gefahr." 1 2 1 Max Weber wird in dieser Zeit noch deutlicher als Naumann, wenn er im Weltkrieg schreibt, daß sich die deutsche Kulturnation nicht kampflos ergeben darf, damit sie nicht „zwischen den Reglements russischer Beamten einerseits und den Konventionen der angelsächsischen ,society' andererseits, vielleicht mit einem Einschlag von lateinischer ,raison'," aufgeteilt werde. 122 Trotz ihrer dilatorischen Behandlung der Grenzziehungen war die Mitteleuropa-Idee nach Osten offener als nach Westen. Sie steht eher im Zusammenhang einer Angliederung Bulgariens und einer Verständigung mit Polen und zieht präzisere Grenzen im Westen. Nicht viel anders haben es die Protagonisten der „Ideen von 1914" vorgeführt. Diese standen in schroffem Gegensatz zu den Ideen von 1789.

121

Ebd., 352. Darin zeigt sich eine geopolitische Zwangs-Vorstellung, die sich bis zu Ernst Noltes Geschichtsphilosophie und dem Topos der „ewigen Mittellage" gehalten hat.

122

Max Weber, „Zwischen zwei Gesetzen"; in Zur Politik im Weltkrieg.

Schriften

und Reden

1914-

1918, Bd. 1/15 Max Weber Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger, Tübingen 1985, 94-96, hier 95f. Auch Weber arbeitet mit dem Motiv des Aufhalters, wenn er im selben Aufsatz schreibt, daß die deutsche Kulturnation sich „der Überschwemmung der ganzen Welt durch jene beiden Mächte" entgegenwerfen müsse, (ebd.). Weber arbeitete kurzzeitig mit Naumann und anderen Vertretern des Vereins für Sozialpolitik im Ausschuß für Mitteleuropa. Ihm ging es jedoch hauptsächlich um die Klärung der Polenfrage.

64

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

3.4. Die Selbstzerstörung der europäischen Mitte im Zweiten Weltkrieg In der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und Hitlers Machtergreifung geriet die Mitteleuropa-Idee in fast vollständige Vergessenheit. Und wenn sie nicht vergessen wurde, erinnerte man sich ihrer lediglich als der unerfüllten Träume Naumanns. „The expression, Mitteleuropa, however, remainded in general usage in reference to that broader mid-European area occupied by the Succession States and inhabited also by contiguous or scattered German minorities." 123 Meyer betont die Bedeutung der Kriegserfahrungen im Ersten Weltkrieg als Grundlage für die Gesamtdeutsch-Bewegung in der Weimarer Republik. Deutsche Soldaten waren im Osten Europas auf zahllose deutschsprachige Enklaven getroffen, eine Erfahrung, die sich in einem explosionsartigen Interesse am „Deutschtum im Osten" manifestierte. 124 Folge dieser Kriegserfahrungen war die Ostorientierung des MitteleuropaKonzepts. Es erinnerte an die Zeit, „in der die deutsche Sprache eine Art Lingua franca des mittel- und osteuropäischen Raumes gewesen ist, j a weit hinein in den russischen Raum reichte...Die deutsche Sprache war ins Land gekommen mit den Siedlern, die in mehreren Wellen, erst im Mittelalter, dann in der Zeit der Gegenreformation und dann noch einmal im 19.Jahrhundert, getrieben von Hungersnöten und Überbevölkerung, in Ostmitteleuropa eine neue Heimat gefunden hat...Deutsch war auch die Sprache des Handels und des Geschäfts. Der mittel- und osteuropäische Raum, buntscheckig und miteinander verflochten wie kaum ein anderer, ist es nicht zuletzt infolge der deutschen Siedlung - diese hat nur eine Parallele: das mittel- und osteuropäische Judentum." 1 2 5 Doch das nationalkonservative Mitteleuropa-Konzept, wie es von dem deutschen Reichs-Historiker Wilhelm Schüssler vorgestellt wurde, stellte gerade nicht einen buntscheckigen mitteleuropäischen Schmelztiegel vor, sondern sah den deutschen Volksbegriff als Klammer für alle nach Osten Wandernden oder Gewanderten. „Die entscheidende Tatsache ist folgende: dieser Raum schuldet seine Möglichkeit zukünftiger Einheit den Deutschen. Die Tschechen, Südslawen, Polen, Ungarn und Rumänen alleine können mit dieser Region nichts anfangen. Alle anderen Völker werden durch die Deutschen vereint, weil das deutsche Element die Gemeinsamkeit in diesem Raum stiftet." 126 Als Legitimationsgrund für den deutschen Führungsanspruch in dem nach Osten ausgeweiteten Mitteleuropa sahen Schüssler und andere die Neuauflage der Reichsidee, die nach dem Ende der Dynastien zur Klammer für die Gesamtdeutsch-Bewegung werden konnte. Unterstützt wurden diese Bemühungen durch die neue geographische Wissenschaft der Geopolitik. Aber anders als die „kleinmitteleuropäische" Lösung, die Naumann vorschwebte, hielt sich die großmitteleuropäische Lösung des engen Nau123 124

Henry Cord Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945, 299. Der Verein für das Deutschtum im Osten verfügte 1927 über 24 Landesverbände, 2 4 8 9 Ortsgruppen und 4078 Schulgruppen. Vgl. die Hinweise bei ebd., 298.

125

Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. lin 1986, 78/79.

126

Meine Übersetzung aus dem Englischen nach einem Zitat von H.C. Meyer, Mitteleuropa man Thought and Action 1815-1945, 301.

Die Deutschen,

der verlorene

Osten und Mitteleuropa,

Ber-

in Ger-

.Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

65

mann-Vertrauten Ernst Jäckh nicht im entferntesten an die Grenzen des Heiligen Römischen Reiches. Jäckhs Mitteleuropa sollte - unter Anwendung der aus Schweden von Rudolf Kjellen entlehnten geopolitischen Methode - eine von Helgoland bis Bagdad reichende Synthese von Orient und Okzident werden. "Unser Mitteleuropa weitet und sichert die Nordländer maritim, und sichert und weitet die Südländer kontinental, und fugt beide Teile, Orient und Okzident, zu einem lebensvollen, vielgestaltigen, einheitlichen Organismus zusammen - dank der Gesetzmäßigkeit der Geopolitik." 7 Hier findet sich, wenn auch in imperialistischer Abwandlung wieder der alte Topos der Vermittlung als Aufgabe für Mitteleuropa. Und so wurde mit Hilfe der Geopolitik Deutschland ein mit Blick nach Osten gerichteter Vermittlungsauftrag erteilt, wie in kontinental-europäischer Sicht mit Blick nach Westen (in Ernst Kapps Philosophischer Geograpie). Die indopazifische Orientierung Deutschlands sollte in räumlicher Abwandlung der geschichtsphilosophischen Dekadenztheorie Oswald Spenglers die Nähe zum „kulturmüde" gewordenen Westeuropa aufkündigen und eine nach Osten verlängerte Kulturachse Berlin-Moskau-Tokio gründen. Mit Hilfe der geopolitischen und räumlich-metaphorischen Terminologie und Kulturtheorie konnte man sich von dem zeitlich kodierten Programm der Aufklärung distanzieren. Einer auf dem Boden der Aufklärung nach Westen gerichteten Kulturkritik wurde eine nach Osten gerichtete Kulturphilosophie entgegengehalten, für die die Mitteleuropa-Idee mit ihrer ebenso am Osten orientierten Sichtweise ein Einstieg war. Jedoch nimmt sich die Mitteleuropa-Idee angesichts dieser Globalstrategien noch als relativ bescheiden aus. In Hitlers weltpolitischen Plänen nimmt sie keine zentrale Position ein. Kennzeichnend für eine mitteleuropäische Politik war eher die Fortsetzung von Bismarcks Diktum eines saturierten Reichs, wie es in den Verträgen von Rapallo und Locarno zum Ausdruck kam. Deutschland hatte hier eher wieder eine Brückenfunktion. Anders in der Zeit nach Stresemann, in der sich Deutschland wieder als „egoistischer Staat" vorstellte. 128 Heinrich von Srbik faßt in einem Überblick über die Geschichte Mitteleuropas diese Gedanken zusammen. Die deutsche Geschichte stellt sich ihm dar als ein dauerhaftes Ringen um die Position in der Mitte Europas, geprägt von der Angst der Einkreisung und der Zangenbewegung der Flügelmächte. Er schließt in seinem 1937 gehaltenen Vortrag mit der in die Zukunft gerichteten Hoffnung, daß sich „an die deutsche Lebensgemeinschaft des Reichs und Österreichs eine lose politische Gemeinschaft ostmitteleuropäischer Staaten angliedern, deren Deutsche eine Bluts- und Herzensgemeinschaft mit dem staatlich getrennten Hauptkörper ihres Volkes bilden; ...es wäre ein in sich selbst beruhendes und befriedetes Mitteleuropa, die Erfüllung eines ewigen deutschen Traumes und eine große Bürgschaft für den alten Erdteil und die Welt." 29 Srbik erneuert hier den friedenstheoretischen Zugriff auf die Mitteleuropa-Idee, wie 127 128

129

Rainer Sprengel, Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914-1944, Berlin 1996. Vgl. dazu: Jörg Brechtefeld, Mitteleuropa and German Politics. 1848 to the Present, Basingstoke 1996, 52ff. Ders., Mitteleuropa: A political option for Germany? [Vortrag auf dem 16. World Congress der International Political Science Association, unveröffentlichtes Manuskript], 1994 Heinrich von Srbik, Mitteleuropa. Das Problem und die Versuche seiner Lösung in der deutschen Geschichte, Weimar 1937.

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Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

er auch im 19. Jahrhundert schon thematisiert wurde. Mitteleuropa kommt erst dann zur Ruhe und wird Frieden in Europa vermitteln, wenn die natürräumlichen mit den politischen Grenzen zur Deckung gebracht wurden. Darin äußert sich die um die deutsche Reichsidee gruppierte Hoffnung auf eine gesamtdeutsche Einheit, die über den Rahmen des kleindeutschen Nationalstaates hinausreicht. Eine konsistente Abgrenzung nach Osten und Westen nimmt Srbik aber nicht vor. Er springt zwischen naturräumlicher und politischer Grenzziehung: „die Mitte Europas geschieden durch den Rhein und den französischen Festungsgürtel vom Westen, durch das Klima von Rußland." 130 Dabei wird in diesem Zusammenhang zu selten zwischen zwei Sachverhalten unterschieden. Auf der einen Seite die Mitteleuropa-Politik und auf der anderen Seite die MitteleuropaIdee. Die Idee hat zwar im ideologischen Umfeld des Nationalsozialismus eine gewissen Rolle gespielt (Srbik, Schüssler), aber in den meisten Fällen wurde „Mitteleuropa" eher als geographische Bezeichnung verwendet. Daß Mitteleuropa zu einem „natürlichen Expansions- und Lebensraum" für Deutschland werden müsse, gehörte zum Grundbestand der nationalsozialistischen Ideologie. Aber das war in der geopolitischen Literatur deutlicher formuliert worden, ohne daß der Mitteleuropa-Begriff in der Geopolitik eine so zentrale Rolle hätte einnehmen müssen. Schließlich sollten weder ein eigenständiger Westen noch ein eigenständiger Osten bestehen bleiben. In der Kritik an Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Idee läßt sich der Charakter der nationalsozialistischen Ideologie und deren Instrumentalisierung der Mitteleuropaidee nach deren Machtergreifung besonders deutlich zeigen: „Alfred Rosenberg rejected Naumann's mid-European concept as unacceptable to the German people. Naumanns Mitteleuropa was no reality; it desired the very opposite of German thinking according to National Socialist principles...[It] is certainly no cornerstone for a new national structure, nor a nucleus for a healthy racial imperialism. It was the swan song of a policy...marking the collapse of the Bourgeois-Jewish Age. As a symptom of this era...it was a center of resistance against the new racial thinking of true Germans." 131 Und so war es dann auch Moeller van den Bruck („Das dritte Reich"), der zum Ideengeber für die Reichsvorstellungen des Dritten Reichs wurde. 132 Und hier hielten sich dann auch die Vorstellungen der Mittellage ausdauernder als in denen auf Ausgleich und Vermittlung ausgelegten Ideen. Die Mitte war ein Ort der Bedrängnis und eine Zwangslage, eingekeilt zwischen West und Ost. Das Reich war in dieser mythischen Vergegenwärtigung nicht Aufhalter gegen die anstürmende asiatische Gefahr, im Sinne der alten Reichsidee. In seiner „jungkonservativen Programmschrift Das dritte Reich... hatte Moeller van den Bruck den alten Mythos vom bevorstehenden Endreich aufgegriffen und zugleich auf die Mittellage Deutschlands zwischen Osten und Westen angespielt, um die Heraufkunft eines neuen machtvollen Reichs nach der Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg zu prophezeien." 133 Es war ohnehin eher die Idee des Reichs als die Mitteleuropa-Idee, die für die Sinnstiftung des Krieges von Seiten der Intel lek-

130 131 132 133

Ebd., 16. H.C. Meyer, Mitteleuropa

in German Thought and Action 1815-1945,

318.

Vgl. zum folgenden besonders: Herfried Münkler, „Reich als politische Vision", 352ff. Ebd.

67

.Mitteleuropa" - zwischen Reichsmythologie und Kampfbegriff

tuellen ausgesucht wurde. 1 3 4 Die „topologische" Flucht aus dem „chronologischen" Konzept der Aufklärung führte zu einer Machtlosigkeit gegenüber den Problemen der entwickelten Industriegesellschaft. Für den Historiker Karl Schlögel steht auf jeden Fall fest, daß sich der mitteleuropäische Zusammenbruch nicht ereignet hätte, wenn nicht die Probleme und Zivilisationskrisen die Lösungskräfte der europäischen Zentralmächte überfordert hätten. „Die europäischen Imperialismen...hatten sich als unfähig erwiesen, der von Industrialisierung und Demokratisierung erzeugten Zivilisationsdynamik Herr zu werden. Allen voran der deutsche Imperialismus - der verspätete Imperialismus einer verspäteten Nation', deren Triebkräfte und Ansprüche auf ein besseres Leben sich in den Bahnen einer nationalen und sozialen Revolution entluden und zum Angriff auf die gesamte europäische Staatenwelt übergingen." 1 3 5 Im Sinne einer Modernisierungskrise begreift Schlögel auch den Nationalsozialismus und sein verheerendes Zerstörungspotential. Es ist nicht die Einzigartigkeit archaischer, nationaler Kräfte, die einzig den Deutschen die Kraft des Zerstörerischen gegeben hätte, sondern die überschäumende Dialektik der Aufklärung, die den Umschlag von Zivilisation in Barbarei ermöglichte, „die Übersteigerung all jenes Potentials, das einer hochentwickelten Zivilisation im Genick sitzt, wenn es ihr nicht zu Gebote steht." 136 Das mangelnde Vertrauen in gesellschaftliche Selbstorganisationskräfte und ihre Institutionen (Zivilgesellschaft, Parlamente, Verbände etc.) führte auch im Westen zu einer Hypertrophie des Staates und eine Autoritätsfixierung der Bürger. „Die staatliche Aufgabenzuweisung ist keineswegs ein sowjetisches Phänomen allein. Die Mitte Europas ging zugrunde, weil das Land in seiner Mitte zu keiner sozialen Mitte gefunden hatte: Zersprengt fand es sich nach 1945 wieder im Magnetfeld der einen oder anderen Macht." 1 3 7 Sowenig wie es in der Weimarer Republik, oder auch schon vorher im Kaiserreich, gelungen war, eine Verbindung zwischen den Klassen und den sozialen Schichten herzustellen, man denke nur an den spärlichen Erfolg eines Liberalen wie Friedrich Naumann und an die Denunzierung des Parlaments, so sinnbildlich lief nach dem Krieg die Trennlinie durch Deutschland, auch entlang sozialer Koordinaten: „Im Osten die Überreste einer 1933 gescheiterten Arbeiterbewegung, im Westen die Überreste eines 1933 nicht minder gescheiterten Bürgertums (...). Die Spaltung konnte siegen, weil der Zusammenhang bereits gelockert und die Kräfte der Autonomie dezimiert waren. Daß sie ungleich, ungerecht, asymmetrisch verlief, hat nicht bloß und vielleicht nicht einmal in

134

Für die historische Sinnstiftung des Krieges gibt Heinrich August Winkler ein Beispiel mit dem deutschen Historiker Hermann Heimpel, der aus dem Bezug zum Mittelalter die Legitimation für den Kampf mit Ost und West abgeleitet hat. Den Einfluß des mittelalterlichen Kaisertums auf den Westen des Reichs sieht Heimpel durch Feldzüge gegen den Osten gewährleistet. Und Winkler erinnert an die Losung für den Ostfeldzug „Fall Barbarossa". Heinrich August Winkler, „Das Jahrhundert des zweiten Dreißigjährigen Krieges"; in: Frankfurter

Allgemeine

Zeitung

vom 7. Dez.

1998. 135

Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. lin 1986, 90.

136

Ebd., 92.

137

Ebd., 93.

Die Deutschen,

der verlorene

Osten und Mitteleuropa,

Ber-

68

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

erster Linie mit dem Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus, Freiheit und Diktatur zu tun, sondern mit dem bekannten Gefälle von West und Ost, mit der Überlegenheit der zivilen Gesellschaft über die ,Gesellschaft als staatliche Veranstaltung' (D. Geyer), gegen deren Sog letztere sich eben mit den Mitteln wehrt, die ihr zur Verfugung stehen. Es sind Mittel außerhalb der Konkurrenz, Machtmittel. Sie empfindet die Attraktion der zivilen Gesellschaft, die von ihrem amerikanischen Zentrum scheinbar unerschöpflich und immer wieder aufs neue umstürzende Neuerungen und Impulse aussendet, als aggressiv, weil diese bereits außerhalb des militärischen Spiels für sie gefährlich ist."1 8 Mit großer Brillanz schildert Schlögel in diesem längeren Auszug nicht nur das oft konstatierte Modernisierungsgefälle und die unterschiedlichen Wege in die Moderne: eine über staatlichen Eingriff organisierte gelenkte Moderne, für die es in Deutschland eine breite Zustimmung gab, von Hegelianern bis hin zu Sozialisten, und auf der anderen Seite eine über gesellschaftliche Mobilisierung und liberale Elemente gesteuerte Modernisierung, für die es in Deutschland zumindest vor dem Zweiten Weltkrieg keine nennenswerte Unterstützung gab. Deutschland symbolisierte in seiner langjährigen Zweiteilung die Spaltung dieser Modernisierungswege. „Es bedurfte der Zerstörungskraft eines dreißigjährigen Krieges mitsamt einem Blitzkrieg-Finale, um im 20. Jahrhundert ein Netz zu zerreißen, an dem ein ganzer Kontinent Jahrhunderte gewoben hatte. In der Vernichtung des mitteleuropäischen Judentums - mit dem Deutschtum die integrative Kraft dieses Raumes - ging das alte Mitteleuropa unter."139

138

Ebd., 95. Zum Begriff der Gesellschaft als staatlicher Veranstaltung, vgl. Dietrich Geyer, „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung"; in Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas, Bd. 14 (1966), 21-50. 139 Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts, 81. Oder, wie Gesine Schwan es beschreibt: „Nach Nationalsozialismus und bedingungsloser Kapitulation der deutschen Wehrmacht findet das implizit und explizit auf eine deutsche Hegemonie hinauslaufende konservative Grundmuster mit Mitteleuropa als Kern der europäischen Einigung sein definitives Ende Gesine Schwan, zitiert nach Christian Weimer, Mitteleuropa als politisches Ordnungskonzept?, 156. Im gleichen Tenor auch Jörg Brechtefeld: „In the thirty years between 1914 and 1945 there was a radical transformation of the Mitteleuropa tradition. Mitteleuropa became almost synonymous with German imperialism, which shaped subsequent generations' perceptions of the concept." (Brechtefeld, Mitteleuropa and German Politics. 1848 to the Present, 57). Das Zusammenleben von Juden und Deutschen - oder ihre jeweilige Kultur alleine - als Bindeglied Mitteleuropas wird in den Schriften betont, die von einem kulturhistorischen Raum Mitteleuropa ausgehen. So etwa bei Mihaly Vajda, Russischer Sozialismus in Mitteleuropa.-.„Die Juden im 20. Jahrhundert waren das wesentliche und integrative Element Zentraleuropas, sein intellektueller Kitt, die Verdichtung seines Esprits, die Schöpfer seiner geistigen Einheit." (207). Ebenso fragt Claudio Magris, welches „die Kraft sein sollte, die Mannigfaltigkeit jenes zentraleuropäischen Gebiets(...)zu einen", dann kommt er auf „die deutsche Kultur als die zweifellos einzige, die allen anderen einen Bezugspunkt hätte liefern können; die einzige, die zusammen mit der jüdischen befähigt gewesen wäre, eine ähnliche Rolle zu spielen, wie die lateinische Kultur in der Antike." Claudio Magris, „Mitteleuropa. Realität und Mythos Faszination des Begriffs"; in: Lettre International 4 (1989), 18.

Die Mitte Europas zwischen Ost und West

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4. Die Mitte Europas zwischen Ost und West Man wird Herfried Münklers Zweifel unterstützen können und fragen müssen, ob die „seit einigen Jahren neu entfachte Mitteleuropa-Debatte eine Mutation des Reichsmythos ist". 140 Aber mythische Denkfiguren sind allenthalben bezeichnend für die Grundlage der Debatte. „In den Arbeiten von Havel und Konrad", so T.G. Ash und hier müßte man zumindest Kundera noch hinzufügen, „ist eine interessante semantische Arbeitsteilung zu finden. Beide Autoren verwenden die Formulierung Osteuropa oder Osteuropäer nur in neutralen oder negativen Zusammenhängen. Schreiben sie jedoch Mittel- oder Ost-Mitteleuropa, so ist ihr Bezug immer positiv, bejahend, machmal auch sentimental." 141 Die moralisierend-ästhetisierende Überformung der auf ein EntwederOder zugespitzten Entscheidungsalternative ist hier als ein Merkmal mythischer Geschichtsaneignung sichtbar. Hinzu tritt noch die Funktion der Blickfeldverengung. Mitteleuropa konnte wieder zu einem „Sehnsuchtsraum" (Schultz) werden, der die gleichen Bilder mobilisierte, wie noch vor der Zuspitzung der Mitteleuropa-Idee zu einem „ K a m p f b e g r i f f ' (Mommsen). Timothy Garton Ash hat die politische Opposition aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei in einem eindringlichen Porträt unter dem Titel „Aus den Zentren Mitteleuropas" beschrieben und analysiert. Damit hat er zum Ausdruck gebracht, was in der Mitteleuropa-Diskussion zur gleichen Zeit äußerst kontrovers diskutiert wurde: die These der inneren Vernetzung und der unsichtbaren Verbindungslinien zwischen den polnischen, ungarischen und tschechischen kulturellen Metropolen. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen standen nicht die Fragen langer kultureller Traditionen oder Überschneidungen gemeinsamer Geschichten, sondern die Wesensverwandtschaft der jeweiligen politischen Oppositionen, deren Bemühungen gemeinsamer Aktionen oder zumindest gegenseitiger Solidaritätsbekundungen und der Versuch eine gemeinsame Kommunikation aufzubauen. In den Mittelpunkt seiner Überlegungen rücken der Pole Adam Michnik, der Tscheche Vaclav Havel und der Ungar György Konrad 1 4 2 , die sich in wechselseitigen Verweisen aufeinander der Gemeinsamkeiten vergewissern wollten, an die Erfolge der jeweiligen anderen Oppositionen anknüpfend und Solidarität für die 140

141 142

Herfried Münkler, „Reich als politische Vision", 355. Sieht man einmal ab von wenigen Außenseiterpositionen wie der von Bernard Willms und Paul Kleinewefers: Erneuerung aus der Mitte. Prag-Wien-Berlin. Diesseits von Ost und West, Herford 1988. Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, München/Wien 1990, 193. Damit beschränkt er seine Untersuchung auf die politischen Eliten. Das ist zwar plausibel, aber trotzdem soll hier noch daraufhingewiesen werden, daß es keinen Anlaß gibt die Kooperation der Eliten als Zeichen für eine Gemeinschaft der Länder zu nehmen. Beispielsweise reagierten die Polen sehr emphatisch auf die ungarische Revolution. Aber die polnische Reaktion auf den Prager Frühling war äußerst unterkühlt. Die Tschechen bauten daraufhin wieder stärker antipolnische Ressentiments auf. (Dazu: Franciszek Ryszka, „Ein neues Mitteleuropa' vom Habsburger Erbe zur ,postkommunistischen' politischen Kultur", in Gerd Meyer (Hrsg.) Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch, Tübingen 1993, 41-55, hier 51). Ash ist einer der wenigen Autoren, der die Bedeutung der gemeinsamen politischen Opposition für die neue mitteleuropäische Identität beschrieben hat.

70

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

eigene Nation erwartend. 1 4 3 Bedeutete Mitteleuropa bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch von Deutschland bestimmte Regionen in Europa, so ist heute „Mitteleuropa (...) im Denken der ungarischen und tschechischen Intellektuellen in erster Linie Ostmitteleuropa." 144 Oder, wie Karl Schlögel es kurz und bündig formuliert hat: „Die Mitte liegt ostwärts". Die Grundlagen zu dieser Bedeutungsverschiebung lassen sich auf den Ausgang des Zweiten Weltkrieges zurückfuhren. Die westdeutsche Westintegration und die ostdeutsche Ostintegration lassen sich als erzwungene Aufgabe der deutschen Mittelstellung verstehen. Dabei war sicherlich die Mitteleuropa-Idee auch in der Nachkriegszeit, wenn auch vielleicht nicht immer unter diesem Namen, präsent. Hier kann nur kurz an Jakob Kaiser erinnert werden, der für Deutschland eine Brückenfunktion zwischen West und Ost vorsah. Und es gehört zur Ironie der Geschichte, daß die Sozialdemokratie, die im Ersten Weltkrieg noch von den Vereinigten Staaten von Europa sprach und vor dem Hintergrund dieser Zielvorstellung die Mitteleuropa-Idee ablehnte, nun gefallen an ihr fand und die (West-)Europa-Vorstellungen Adenauers ablehnte. Kurt Schuhmacher sah weder für eine West- noch eine Ostanbindung Deutschlands eine unmittelbare Notwendigkeit. Die Mitteleuropa-Idee wurde marginalisiert, dies jedoch ohne vollständig zu verschwinden, denn gerade in der SPD blieb die Ostpolitik in enger Verbindung zur Grundidee der Vermittlungs- und Brückenfunktion, die Deutschland in Europa einnehmen sollte. 145 Doch für einen nüchternen Beobachter wie T.G. Ash lassen sich vier „intersecting circles of Central European discussion" in Deutschland ausmachen. 1 4 6 Das sind: a) die kulturhistorische Wiederentdeckungsreise Karl Schlögels mit Blick auf ein stadtbürgerliches Netzwerk der Metropolen, b) die historisch-geopolitische Position aus rechts-nationaler Sicht mit Zentrum bei den Historikern Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand, Hans-Peter Schwarz und Michael Stürmer, die Deutschland im oder als Zentrum in Europa als geopolitische Konstante sehen und vom Gedanken der schicksalhaf143

Mitteleuropa - aber wo liegt es? (ein Essay aus dem Jahr 1986, der in Ein Jahrhundert wird abgewählt wieder veröffentlicht wurde) Der Titel des Essays spielt auf ein Interview von Heinrich Boll an, auch wenn Ash dies nicht expliziert: Heinrich Boll, Europa - aber wo liegt es? 1979 im Merkur erschienen. Michnik wurde mehrere Male zu langen Haftstrafen verurteilt. Er erarbeitete die Leitlinien für das KOR und war seit deren Gründung lange Zeit Berater für Solidarnosc. Heute ist Michnik Chefredakteur der fuhrenden polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborsza. Üblicherweise wird Michnik nicht in den Umkreis der Mitteleuropa-Diskussion eingeordnet. Der Ausschluß Michniks hat dann seine Berechtigung, wenn man sich streng an die Nennung des Begriffs „Mitteleuropa" hält. Er benutzt ihn in der Tat nur als Beschreibung einer Region, ohne an die Geschichte des Konzepts zu erinnern. Doch wir haben oben schon gesehen, daß sich eine Reihe von anderen Begriffen und Konzepten in der Mitteleuropa-Konzeption um den Begriff „Mitteleuropa" herum gruppieren, was daraufhindeutet, daß sich Michnik sehr wohl mit dieser Idee beschäftigt hat.

144

Vgl. dazu auch den Hinweis von Frank Herterich und Christian Semler (Hrsg.): Ostmitteleuropäische Reflexionen, Frankfurt/M. 1989, 10.

145

Meistens werden diese Hinweise übersehen und ein großer Sprung von Hitler zu Kundera gewagt. Aber dazwischen gab es die ostpolitischen Pläne von Schuhmacher, Brandt und Bahr. Vgl. dazu den Aufsatz von Timothy Garton Ash, „Mitteleuropa?"; in Daedalus, 119. Jg. (1990), 1-21, hier 3. Zum folgenden: ebd., 4ff.

146

Dazwischen.

Die Mitte Europas zwischen Ost und West

71

ten Mittellage Deutschlands ausgehen; c) die historisch-geopolitische Variante aus links-nationaler Sicht mit Schwerpunkt Neutralität, Blockfreiheit und d) in Anlehnung an die entspannungspolitischen Grundlagen Willy Brandts eine zweite Ostpolitik (Peter Bender, Peter Glotz). Europas unbesetzte Mitte versuchten zahlreiche Nachfolger zu besetzen, um erneut die „Prophezeiung" Raynals und de Pradts Lügen zu strafen, daß sich Europa entscheiden müsse, ob es zum Westen (England) oder zum Osten (Rußland) gehören wolle. In z.T. scharfer Polemik gegen die deutschen Mitteleuropa-Traditionen versuchten österreichische Intellektuelle die Leerstelle der europäischen Mitte zu besetzen. Apodiktisch formulierte Emil Brix: „Aus all diesen prinzipiellen Gründen läßt sich der Schluß ziehen, daß deutsche Politik notwendigerweise die Antithese zu Mitteleuropa sein muß. Es gibt kaum gegensätzlichere Konzepte als die Suche der Deutschen nach einer neuen Identität und die Diskussion um Mitteleuropa." 1 4 7 Brix hat in zahlreichen Publikationen unter Anknüpfung an die Habsburg-Traditionen, die zeitweilige Blockfreiheit und die geopolitische Position Österreichs für die Mitteleuropa-Idee geworben. Die aussichtsreichsten Nachfolger Deutschlands waren jedoch die ostmitteleuropäischen Länder Polen, Tschechoslowakei und Ungarn. Die Auseinandersetzung mit Deutschland und seiner Rolle in Mitteleuropa umgehen jedoch die meisten ostmitteleuropäischen Autoren. „The East European debate...is generally remarkable for its omission of Germany and 'the German question'. Historically, it looks back toward Austria-Hungary and forward 'beyond Yalta'". 1 4 8 Auch für Milan Kundera besteht Mitteleuropa im Kern aus Polen, Ungarn und seinem Heimatland Tschechoslowakei 1 4 9 . Deskriptiv gesehen meint er, nach heutiger Terminologie, eigentlich nur Teile Ostmitteleuropas. Wäre Kundera an einer Beschreibung gelegen gewesen, hätte er statt des englischen „Central Europe" besser den Begriff „East-Central Europe" gewählt. 1 5 0 Dafür hätte es auch ein gutes historisches Vorbild gegeben: Masaryk hat nämlich, um zwischen dem deutschen, kulturimperialistischen Konzept und seinem eigenen besser unterscheiden zu können, von East-Central Europe und nicht von Central Europe gesprochen. 151 Doch, so kann man annehmen, Kundera

147

Emil Brix, „Mitteleuropa und die deutsche Einheit"; in: Arno Truger (Hrsg.): Perspektiven,

Mitteleuropäische

Wien 1991, 77-84.

148

Ebd.

149

Vgl. Kundera: „Un Occident kidnappé, oder: Die Tragödie Zentraleuropas", in Kommune

7/1984,

43-52. „Die Folgen des letzten Krieges bedeuteten demnach fur die Bulgaren eine beträchtliche und bedauerliche politische Wende (die Menschenrechte werden dort nicht weniger mißachtet als in Budapest), gewiß, aber nicht jenen Zivilisationsschock, den sie für die Tschechen, für die Polen, für die Ungarn verkörpern."(ebd., 44) 150

Vgl. auch den Hinweis bei Gerard Delanty, „The Resonance o f Mitteleuropa. A Habsburg Myth or Antipolitics?"; in Theory, Culture & Society

13. Jg. (4/1996), 93-108, der den Begriff Mitteleuropa

unübersetzt läßt und noch nicht einmal in Anführungszeichen setzt. Er schreibt zudem: „As a geographical concept Mitteleuropa defies rational explanation^...) It does not quite correspond to the English phrase 'Central Europe'".(94) 151

Vgl. den Hinweis in Krishan Kumar „The 1989 Revolutions and the Idea of Europe", in

Political

Studies, 40. Jg. (1992), 439-461. Darin schreibt Kumar: „Masaryk accepted, indeed proclaimed, the

72

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

wollte keinen einfachen, einen Raum bezeichnenden Begriff, sondern wollte einen wenn auch mehr auf den „Habsburg Mythos" als den deutschen Mythos von Mitteleuropa anspielenden - mit Romantik und Emotion angefüllten politischen Begriff. 152 Die englische Sprache hat die Möglichkeit zwischen „Central Europe" und „Mitteleuropa" zu unterscheiden; 153 eine Möglichkeit, über die die deutsche Sprache naturgemäß nicht verfügt, was dazu führt, daß der Begriff Mitteleuropa in der deutschen Sprache ununterscheidbar als deskriptiver und als normativ-präskriptiver Begriff gleichzeitig vorliegt. 154 Und so können nun wieder die gleichen Phänomene einsetzen, wie bei der deutschen Diskussion anfang des 19. Jahrhunderts. Aus der Bestimmung Mitteleuropas wird eine normative Setzung, die geographische Beschreibung und die Bestim-

need for democracy and national self-determination in Central Europe (or what he preferred to call, to distinguish it from the German Mitteleuropa 152

concept, East Central Europe)." (ebd., 446)

Timothy Garton Ash hat in seinem Essay Mitteleuropa

- aber wo liegt es? auf eine „interessante

semantische Arbeitsteilung" hingewiesen. „Beide Autoren (Havel und Konräd, RS) verwenden die Formulierung Osteuropa oder Osteuropäer nur in neutralen oder negativen Z u s a m m e n h ä n g e n . Schreiben sie jedoch Mittel- oder Ost-Mitteleuropa, so ist ihr Bezug immer positiv, bejahend, machmal auch nur sentimental." (193) Ash schreibt im Original von East, Central und East-Central Europe. Und, so müßte man Ash ergänzen, verfugen sie auch noch über die Möglichkeit, den deutschen Begriff Mitteleuropa unübersetzt zu lassen, wenn sie ganz gezielt auf die mit einer langen (deutschsprachigen) Tradition verbundene Idee aufmerksam machen wollen. 153

So nennt z.B. Henry Cord Meyer sein Buch zu dem Thema: Mitteleuropa Action,

oder Jacques Droz: L'Europe

Centrale.

Evolution

historique

Oder der französische Originaltitel von Riders Buch: „ L ' E u r o p e Centrale Mitteleuropa".

in German

de l'idée de „

Thought

and

Mitteleuropa".

- L 'Idee germanique

de

Ebenso findet sich dieser Hinweis in Anton Pelinkas Aufsatz „Mythos Mitteleu-

ropa"; in Gerlich/Glass/Serloth (Hrsg.) Neuland

Mitteleuropa,

Wien 1995, 13-18. Er unterscheidet

Mitteleuropa von Zentraleuropa. „In Abgrenzung von diesem verführerischen Mythos Mitteleuropa", den Pelinka mit Friedrich N a u m a n n s deutsch-expansionistischer Mitteleuropaidee gleichsetzt, "betont gerade die angloamerikanische Literatur die Notwendigkeit, zwischen M i t t e l e u r o p a ' und ,Central E u r o p e ' unterscheiden zu müssen. Mitteleuropas Zentrum ist Berlin; Zentraleuropas Zentrum liegt im Dreieck von Prag, Budapest und Wien." (ebd., 13). Klaus Zernacks Beschreibung offenbart ein anderes Problem. Er trennt zwar Mitteleuropa ganz nüchtern in eine westliche und eine östliche Hälfte. Interessanterweise nimmt er von der Zweiteilung aber schon im nächsten Satz Abschied, wo er eher das Bild von Zentrum und Peripherie bemüht: „Mitteleuropa ist also das Grundwort, und Mitteleuropa umfaßt Deutschland und seine Nachbarländer nördlich der Alpen." Klaus Zernack, „Zum Problem der nationalen Identität in Ostmitteleuropa", in: Berding (Hrsg.) Nationales

Bewußtsein

und kollektive

Identität,

Frankfurt 1994, 176-188, hier: 176. Auch Oskar

Halecki trennt den Westen in einen Westen und ein Westmitteleuropa und den Osten in ein Ostmitteleuropa und Rußland. Dies in seinem in den späten 40er Jahren geschriebenen Buch The Limits and Divisions 154

of European

History,

L o n d o n / N e w York 1950.

Jacques Rupnik, „Central Europe or Mitteleuropa?", in Daedalus

119 (1990), 249-278. Darauf

weist auch Mihaly V a j d a hin in seinem Vortrag vor dem Deutschen Soziologentag: „Im Französischen gibt es für Mitteleuropa nur einen Ausdruck, nämlich ,Europe centrale'. So fällt es nicht gleich auf, daß man auf Deutsch ebensowohl M i t t e l e u r o p a ' als auch ,Zentraleuropa' hätte schreiben können." Mihaly Vajda, „Ob es Mitteleuropa überhaupt gibt?"; in Bernd Schäfers (Hrsg) Lebensverhältnisse

und soziale

Konflikte

im neuen Europa.

[Verhandlungen des 26. Dt. Soziolo-

gentages Düsseldorf 1992], Frankfurt/M. 1993, 262-266, hier 263f.

Die Mitte Europas zwischen Ost und West

73

mung des „Sehnsuchtsraums" werden in der deutschen Sprache mit dem gleichen Begriff belegt. Aus diesem Grund wurde zur Beschreibung der geographischen Region im deutschen Sprachraum auf den Ostmitteleuropa-Begriff zurückgegriffen, in Anlehnung an den englischen Begriff „East-Central Europe". Doch holt auch hier die Geographen und Historiker das gleiche Problem ein, wie schon ihre Kollegen vor über zweihundert Jahren. Selbst entschlossenste Bemühungen, wie die von Klaus Zernack, eine rein deskriptive Definition des uns interessierenden Raums zu liefern, wollen nicht überzeugend gelingen. Mitteleuropa, so Zernack, „umfaßt Deutschland und seine Nachbarländer nördlich der Alpen. Diese Region", so fährt Zernack fort „hat natürlich eine östliche und eine westliche Hälfte, eben das östliche und das westliche Mitteleuropa." 1 5 5 Zur Abgrenzung wählt er in seiner „Einfuhrung in die Geschichte Osteuropas" eine Mischung aus natur- und kulturräumlichen Anhaltspunkten zur näheren Bestimmung des östlichen Teils: „Ostmitteleuropa umfaßt - nach überwiegender Auffassung - in seinem Kern das westslavische Siedlungsgebiet in seinen geschichtlichen Wandlungen von der Elbe-Saale-Böhmerwald-Grenze im Westen bis in die Gebiete der kulturellen Ausstrahlung des jagiellonischen Polen-Litauen in das ostslavische Gebiet hinein. Im Norden gehören - in mancherlei Hinsicht freilich als Übergangszone nach Nordosteuropa - die Baltischen Lande, das alte Livland, dazu; im Süden sind Ungarn und Siebenbürgen, Kärnten-Slovenien und die beiden Kroatien hinzu zu zählen, wenngleich hier unter manchen Aspekten Überschneidungen mit der Reichweite des Südosteuropabegriffs vorkommen." 1 6 Für ihn ist Ostmitteleuropa historisch entstanden nach dem Zusammenbruch der europäischen Großreiche und setzt sich aus den mitteleuropäischen Kleinstaaten, zwischen Deutschland und Frankreich auf der einen Seite und Rußland auf der anderen, zusammen, die von West und Ost unter ständiger Bedrängnis standen. Womit wir von dem rein geographischen schon zu einem historisch-politischen Begriff von Ostmitteleuropa vorgedrungen wären. Und der so energisch beginnende Zernack gibt sich dann ohne nähere Spezifizierung mit der Formulierung zufrieden: „'Ostmitteleuropa' im 155

Klaus Zernack, „Zum Problem der nationalen Identität in Ostmitteleuropa", 176. Zernack schließt sich mit dieser Unterscheidung, wie viele andere auch Oskar Halecki an, „der mit Mitteleuropa jenen Teil Europas bezeichnet, der zwischen Westeuropa - also Frankreich, den Niederlanden, der iberischen Halbinsel - und Osteuropa - Rußland - liegt und sich selbst noch einmal unterscheidet in ein westliches und östliches Mitteleuropa. (Unschwer fallen unter die Bezeichnung westliches Mitteleuropa Deutschland, unter die östliches Mitteleuropa, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien). Unproblematischer dürfte der Kernbereich sein: Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Österreich, Slowenien, Kroatien, Oberitalien; als Übergangsgelände in einem nach beiden Seiten unscharfen Raum werden Deutschland, die baltischen Staaten und die südosteuropäischen Staaten Bulgarien, Rumänien - angesehen werden können." (Karl Schlögel, „Nachdenken über Mitteleuropa", in Spangenberg, Dietrich (Hg.) Die blockierte Vergangenheit. Nachdenken über Mitteleuropa, Berlin 1987, 11-33, hier 16f.) Interessanterweise und ungewöhnlicherweise kennt Fernand Braudel diese Unterscheidung nicht. Er beschreibt die drei historischen Regionen als Westeuropa, Ostmitteleuropa und Osteuropa. Vgl. dazu das Vorwort von Braudel in: Jenö Szücs, Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt 1990, 5.

156

Klaus Zernack, Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, 33.

74

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

engeren Sinne," bestehe aus „Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn" 157 - ohne Rechenschaft abzulegen, wie er zu dieser Dreiergruppe „im engeren Sinne" kommt - , um kurz darauf von der nüchternen Analyse in die normative Bestimmung umzuschlagen: „Daß Europa in der Gleichrangigkeit seiner großen und kleinen Völker leben kann und muß, das ist das Europäische an Europa." Es ist, so folgert Zernack, „zugleich eine fundamentale Erkenntnis aus seiner strukturell begriffenen Politikgeschichte." 158 Das unterscheidet sich nicht maßgeblich von der Definition des französischen Geographen Lheritier: „Europe centrale is the continental part of a zone of greatest diversity as regards language, cultural influences and religion, which stretches from the North Cape to Cyrenaica and Egypt; its raison d'etre is to be a crossroad, a bridge, a turnplate. Europe centrale appears as a synthesis of Europe, and each state again as a synthesis of a synthesis, a little Europe centrale and at the same time a whole Europe in miniature." 159 So ist es typisch für die Entwicklung der Definitionen von Mitteleuropa oder Ostmitteleuropa, daß sie im deskriptiven Bereich - meist in der Geographie - anfangen und im normativen Bereich aufhören. Nicht anders geht es Dietrich Spangenberg, der sein Vorwort zum Band „Die blockierte Vergangenheit" mit dem Hinweis darauf beginnt, daß die geographische Einordnung Mitteleuropas noch am ehesten gelingen könnte. Höchstens in der angedeuteten Relation zum Schwierigkeitsgrad anderer Einordnungen behält Spangenberg recht. Doch erwartungsgemäß ist die daraufhin dem Brockhaus entnommene geographische Bestimmung Mitteleuropas keineswegs eindeutig: „Mitteleuropa, der mittlere Teil Europas, das Übergangsgebiet zwischem dem ozeanischen West- und dem kontinentalen Osteuropa, zwischem dem subtropischen Süd- und dem teilweise subpolaren Nordeuropa. Die Abgrenzung ist unsicher, da besonders im Westen und Osten klare Natur- und Kulturgrenzen fehlen. Gewöhnlich versteht man unter Mitteleuropa die Alpen und das Gebiet nördlich bis zur Nord- und Ostsee, das Weichselgebiet und die Karpatenländer." 160 Doch selbst die kleinsten geo- oder topographischen Anhaltspunkte fehlen, um die Ost-West-Ausdehnung Mitteleuropas präziser zu bestimmen. Und so finden sich hier die größten Abweichungen. Um nur ein Beispiel für die Definitionsprobleme zu geben: Alice Mutton schließt in ihrem Versuch, Central Europe geographisch zu bestimmen folgende Regionen ein: „the Alpine lands, the Czechoslovak lands, Western and Eastern Germany, and finally the Benelux countries", aber erwähnt weder Polen noch Ungarn, Italien oder Jugoslawien. 161 Diese „Westverschiebung" Mitteleuropas scheint besonders problematisch, angesichts der Tatsache, daß es der Selbstbeschreibung der meisten in 157 158 159

160

161

Ebd. Klaus Zernack, „Zum Problem der nationalen Identität in Ostmitteleuropa", 178. Lheritier zitiert nach Karl Sinnhuber, "Central Europe, Mitteleuropa, L'Europe Centrale. An Analysis of a Geographical Term", 28. Dietrich Spangenberg (Hrsg.), Die blockierte Vergangenheit. Nachdenken über Mitteleuropa, Berlin 1987, 7. Vgl. den Hinweis auf Muttons Definition in Egon Schwarz, „Central Europe - What It Is and What It Is Not", in George Schöpflin und Nancy Wood (Hrsg.) In Search of Central Europe, Oxford 1989, 145.

75

Die Mitte Europas zwischen Ost und West

dieser Definition eingeschlossenen Länder nicht entsprechen würde, sich zu Mitteleuropa zugehörig zu zählen. Und so steht zumeist neben dem Versuch einer räumlichen Eingrenzung direkt der Hinweis auf die Beliebigkeit der gerade vorgenommenen Definition. So läßt sich offensichtlich für jeden einzelnen Ort in Mitteleuropa ein Argument für oder wider seine Zugehörigkeit finden. Rutschky:„In meiner kleinen MitteleuropaBibliothek kann ich Argumente finden, daß Neubrandenburg auszuschließen sei von unseren Überlegungen; die Ukraine und Mazedonien sowieso. Ich kann aber auch Argumente finden, weshalb Neubrandenburg wie Skopje Mitteleuropa unbedingt zuzurechnen sind." 1 6 2 Doch auch die Aufteilung in Ost und West verhilft nicht zu einer Eindeutigkeit, ebenso wenig wie der Wechsel von naturräumlichen zu politischen Grenzen, wie sie die Encyclopedia of Democracy in ihrem Artikel „Europe, East Central" vornimmt. East Central Europe sei „a geopolitical rather than a strictly geographical entity which today consists of Albania, Bulgaria, Hungary, Poland, Romania, and the successor states of the former Czechoslovakia and Yugoslavia." Der Einschluß Albaniens und der Ausschluß der baltischen Staaten scheint aber selbst unter „geopolitischen" Gesichtspunkten, was immer das in diesem Zusammenhang bedeuten soll, als problematisch. Beide Definitionsmodi umgehen durch ihre Begrenzung auf einen Aspekt: Naturund historischer Kulturraum hier, Staatsgrenzen dort, das spezifische Problem der Mitteleuropa-Definition. Der Begriff stammt aus einer Zeit der europäischen Großreiche und wird jetzt auf eine Welt der europäischen Kleinstaaten angewandt. Der Mitteleuropa-Begriff war zur Zeit der Nationenbildung in Mitteleuropa nicht ausreichend einflußreich - und auch schon damals nicht trennscharf genug um gegen eine nationale Trennung das Gemeinsame aller Mitteleuropäer hervorzuheben. So ist offensichtlich die Frage der Zugehörigkeit zu Mitteleuropa eine heikle Frage der Selbstbeschreibung, die sich die Akteure nur ungern aus der Hand nehmen lassen wollen. Die Auseinandersetzung um die Grenzen Mitteleuropas, auch dessen nochmalige Aufteilung in einen Ost- und einen Westteil ist eine Frage, die ins Zentrum der Idee weist, dort wo sie Identität zu geben verspricht, sind die Grenzen konstitutiv für die 162

Rutschky zitiert nach Jacques Le Rider, Mitteleuropa

- Auf den Spuren eines Begriffs, 7. Ob aller-

dings Rutschky zuzustimmen ist, daß die Mitteleuropa-Idee als Utopie einzustufen ist, läßt sich bezweifeln. Auch Egon Schwarz bestimmt Central Europe als Utopie und zeigt welches Schicksal einem Begriff droht, wenn er in den Ruf mangelnder Trennschärfe gerät: „We should not make the mistake of considering such a Utopian concept esoteric or altogether ineffective...Universalism, anti-racism, sympathy for all ethnic, linguistic, and religious differences, the right to criticize, the renunciation of aggression, the abandonment of ready-made ideologies, respect for the human being, the control of harmful illusions in oneself, the spiritual resistance against lies and hypocrisy, with which we are faced today from birth until death, protection of the environment, so that enough is left for the coming generations, social justice, equality between men and women, raising the living standard of the Third World, support and propagation of cultural activities: if we apply to this programme the term Central Europe - and I do not see why we should not do so in view of many already existing interpretations of the term, most of which are no less arbitrary and therefore all the more dictated by special interests - if such a Central Europe is the land which beckons in the distance, then I am willing to give up my initial scepticism and to declare enthusiastically: I, too, am a Central European."(Egon Schwarz, "Central Europe - What It Is and What It Is Not", 154)

76

Mitteleuropa - zu Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs

ideelle Funktion eines Inklusions- oder Exklusionsmechanismus. Jacques Le Rider ist Recht zu geben, wenn er schreibt: „Der Begriff Mitteleuropa hat nie einen geographisch genau bestimmbaren Raum bezeichnet (...). Jede geistige Strömung in der Mitte Europas definiert die geographische Ausdehnung dieses potentiellen ,Sub-Kontinents' auf ihre Weise" 1 6 3 Um das subjektive Element wieder in die vermeintliche Objektivität der Geographie hineinzubekommen spricht Karl Schlögel eher von „geographischen Wahrnehmungen". Und Milan Kundera antwortet auf die Frage: „What is Central Europe?" schlicht: „An uncertain zone of small nations between Russia and Germany." 1 6 4 Die Hinweise auf die mangelnde Definitionsmacht der Geographie sind so zahlreich, daß hier noch ein wieterer hinzugefügt werden soll. In Michaly Vajdas Bestimmungsversuch ist die Nachkriegsrealität auffallend präsent: Er zählt zu Ostmitteleuropa: die baltischen Staaten, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, DDR, Slowenien, Kroatien und ergänzt: „Die Zugehörigkeit ist nicht einfach eine geographische, sie ist auch durch die Attitüden in diesen Ländern bestimmt." 1 6 5 Und so bleibt das zentrale Problem, über das keine Definition Mitteleuropas hinwegsehen kann, daß die naturräumliche Bedeutung des Begriffs zu keiner Zeit wirklich konstitutiv war für die Errichtung politischer Grenzen. Einzig der deutsche Versuch, Mitteleuropa als deutsche Einflußsphäre zu bestimmen, wäre dem Versuch gleichgekommen, quasi dezisionistisch Naturraum und politischen Raum zur Deckung zu bringen. Die Geopolitiker der 20er und 30er Jahre, im Gefolge des Geographen Josef Partsch, der 1904 in seinem Buch „Mitteleuropa" diesen Raum mit dem Einflußbereich deutscher Kultur gleichsetzte, unternahmen den Versuch, mit dem Mitteleuropa-Begriff die Ausdehnung deutschen Einflusses zu legitimieren. Albrecht Haushofer ging noch weiter. In Anlehnung an Schmitts Dezisionismus bestimmte er Mitteleuropa als den Raum, den Deutschland beherrschen kann. So weit wie Deutschlands Macht reicht, so weit reicht Mitteleuropa. Wenn die Frage der Zugehörigkeit zu Mitteleuropa eine so heikle und umstrittene Frage ist, muß sich mit dem Begriff mehr verbinden als eine naturräumliche Bestimmung. Wenn er so eng mit Identitäten verbunden ist, daß er zu einem Gegenstand der Selbstbeschreibung werden konnte, kann man nicht weiter auf objektive Grenzen schauen oder Naturräume abmessen. Dann stellt sich die Frage, was sich aus der Zuordnung zu dem Naturraum ableiten lassen soll. Warum wollen einige zu Mitteleuropa gehören, und warum wollen andere dies nicht? Offensichtlich läßt sich aus der Gestalt oder der Lokalisierung eines Raumes etwas Spezielles ableiten. Die Entscheidung zur „Mitte" (Europas) zu gehören, liegt offensichtlich auf der gleichen Ebene wie die, zum „Westen" zu gehören, diesem ebenfalls emphatisch aufgeladenen, ursprünglich geogra163

164 165

Jacques Le Rider, Mitteleuropa - Auf den Spuren eines Begriffs, 7. „Ich bezweifle, daß mit einer bloß geographischen Bestimmung die Spezifik dieses Raums erfaßt werden könnte, ich bezweifle auch, daß wir aus dem Stand heraus und von oben herab eine Bestimmung geben können, denn immerhin geht es auch um das Selbstverständnis und die wechselseitige Zurechnung der Mitteleuropäer untereinander." Karl Schlögel, „Nachdenken über Mitteleuropa", 17. Zitiert nach George Schöpflin und Nancy Wood (Hrsg.), In Search of Central Europe, 151. Mihaly Vajda, Russischer Sozialismus in Mitteleuropa, Wien 1991, 167.

77

Die Mitte Europas zwischen Ost und West

phischen Begriff. Aus dieser Bedeutung wird verständlich, daß sich die Zuordnung so kontrovers gestaltet. Die Nachkriegsgeographie kennt in Europa keine Mitte mehr. „Der Osten und der Westen grenzen in der Mitte Europas nahtlos aneinander." 1 6 6 So bekommt die Mitte Europas in der Nachkriegszeit immer etwas Kontrafaktisches, einige behaupten etwas Utopisches, und in der Negation der bestehenden Einflußsphären auch etwas Politisches.

166

Erhard Busek/ Emil Brix, Projekt Mitteleuropa,

Wien 1986, 10.

III. Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

In den meisten Texten der sogenannten Mitteleuropa-Diskussion der 80er Jahre wird an die Oppositionsstrategie von Solidarnosc und Charta 77 angeknüpft, die ihre Arbeit als Wiederaufbau einer Zivilgesellschaft beschrieben haben. Dieser Zusammenhang blieb bisher in den Darstellungen zur Mitteleuropa-Idee weitgehend unberücksichtigt. Die Beschreibung des Ziels einer zivilen Gesellschaft wird zu einer Chiffre für die Rückkehr nach Europa und damit zu einem Nachweis der Tauglichkeit westliche Werte einer „bürgerlichen Gesellschaft" zu verteidigen. Oder, um es apodiktisch zu formulieren: „All new ways of life depend on a new political vocabulary." 1 Dabei wurde den Oppositionellen um Michnik, Konrad und Havel zweierlei bewußt: zum einen, daß die Betonung einer civil society gegen das sozialistische Herrschaftmodell einer europäischen Zweiteilung oder den Ausschluß der Sowjetunion als unzivile Gesellschaft aus Europa gleichkommt. Und zum anderen, daß bei nüchterner Analyse des westlichen Gesellschaftsmodells auch dort keine Zivilgesellschaft im normativ anspruchsvollen Sinne vorliegt und damit, zumindest in einer utopischen Zielperspektive, eine europäische Dreiteilung das Ergebnis ist. Das Bewußtsein, ein Teil „des Westens" zu sein bricht sich am realen Zustand „des Westens" und führt zu einem Bewußtsein der privilegierten europäischen Mittellage. Aber verträgt sich tatsächlich die auf ein dichotomes Weltbild angelegte Konfrontation von West und Ost, von „wir" gegen „sie", mit dem auf Vermittlung und Pluralität angelegten Modell einer Antipolitik und der Mitteleuropa-Idee. 2 Fügen sich die unterschiedlichen Wege und Strategien politischer Modernisierung und symbolisch-semanti-

Ken Jowitt, „The Leninist Extinction", in Daniel Chirot (Hrsg.) The Crisis of Leninism decline of the Left: the revolutions 2

of1989,

and the

Washington 1991, 74-99, hier 85.

So schreibt die Polin Ewa Kobylinska, „Polen ist heute (1990, RS) ein nicht nur wirtschaftlich, sondern auch zivilisatorisch verwüstetes Land, ohne demokratische Tradition, dagegen aber mit einer langen Tradition des Widerstands." Und weiter betont sie, daß es keine Staatsbürgertradition in Polen gibt, weil es nach den polnischen Teilungen auch keinen Staat Polen mehr gab. Staatsbürger-Sein und Pole-Sein schloß sich über lange Strecken der nationalen Geschichte aus. Kurz: „Patriot zu sein, bedeutete: zu den Dissidenten zu zählen. Ein guter Staatsbürger zu sein, hieß: kollaborieren." Ewa Kobylinska: „Unter der Last der Nation. Der polnische Nationalismus seine Stärke und seine Schwäche"; in: Neue Gesellschaft/Frankfurter 425, hier 414.

Hefte, 37.Jg. (1990), 414-

79

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

scher Repräsentation ineinander, nämlich: die am Gegensatz von Staat (Ost) und Gesellschaft (West) angelegte Diskursstrategie mit dem Ziel eines semantischen Sieges der ostmitteleuropäischen Intelligenz mit dem auf Vermittlung angelegten Bild gesellschaftlicher Pluralität, wie es in dem u.a. von Charles Taylor bevorzugten, an Hegel orientierten Modell der bürgerlichen Gesellschaft als Differenzmodell angelegt ist? Oder läßt sich nicht beobachten, daß sich dieser Gegensatz in dem Mitteleuropa-Diskurs wieder auftun wird, in Gestalt der europäischen Mitte als „östlichem Vorposten des Westens" (Kundera) und der Mitte zwischen den Systemen, als versunkener Kontinent, der politisch-geographisch wie auch ideologisch die Mitte hält zwischen West und Ost. Um dieser Frage nachzugehen, soll zunächst den zivilgesellschaftlichen (Kap 1.11.3) und dann den diskursiven Praktiken (Kap. 2.1) der ostmitteleuropäischen Opposition gefolgt werden mit abschließenden Überlegungen zum Symbolisierungsgehalt der Zivilgesellschafits-Metapher (Kap. 2.2)

1. Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung „Betrachtet man", so Winfried Thaa, „das stalinistische Herrschaftsmodell als Projekt, die Gesellschaft unter Eliminierung jeder Pluralität den einheitlichen offiziellen Zielen zu unterwerfen, so leuchtet es im Umkehrschluß ein, den Kampf um elementare Menschen- und Bürgerrechte sowie die Entwicklung eines Netzes unabhängiger gesellschaftlicher Vereinigungen als entscheidendes Gegenprinzip des kommunistischen Herrschafts- und Legitimitätstyps zu betrachten." 3 Thaa plausibilisiert hier die Ausprägung oppositioneller Praktiken, die sich auf die Werte der Aufklärung beziehen als dichotome Gegenüberstellung zweier Welten. Eliminierung von Pluralität auf der einen Seite und (Wieder-)herstellung von Pluralität auf der anderen. Dieses Thema gibt es in zahlreichen Variationen. Es schließt sich dem Blickwinkel und den diskursiven Praktiken der ostmitteleuropäischen Opposition an. Der Lebenswelt und der unmittelbaren Erfahrungsebene der in den sozialistischen Ländern Lebenden war diese Gegenüberstellung nicht zugänglich. Der Gegensatz, von Einheit und Pluralität, von Staat und Gesellschaft, von etatistischer und ziviler Gesellschaft, mußte diskursiv und symbolisch vergegenwärtigt werden. Dazu eignete sich in besonderem Maße der Gegensatz von Ost und West. Der Westen war der Hort der Menschenrechte und der Aufklärung, der Osten im Gegenzug das despotische Rußland bzw. die anti-individualistische Sowjetunion. 4 Charles Taylor betrachtet z.B. die oppositionelle Bewegung in Ostmitteleuropa der 80er Jahre als Bewegung in Richtung Westen, als Rückkehr zu den westlichen Wurzeln

3

Winfried Thaa, Die Wiedergeburt Revolutionen

4

des Politischen.

Zivilgesellschaft

und Legitimitätskonflikt

in den

von 1989, Opladen 1996, 164.

Den ostmitteleuropäischen Oppositionsbewegungen fiel Anfang der 70er Jahre die Rolle eines Indikators zu „für das Ende jener neuzeitlichen Geistesepoche (...), die in sich geschlossene Systeme und Gesellschaftsentwürfe wie Sozialismus, Marxismus, Liberalismus oder Kapitalismus hervorgebracht hat." Klaus Pumberger, Massenprotest

und Reformen in Osteuropa,

232.

80

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

und vertritt damit implizit die T h e s e einer Z w e i t e i l u n g Europas v o r d e m Hintergrund ihrer ideell a n g e d e u t e t e n Einheit. Er hat d i e s s o formuliert: „ D i e s e Länder ( U n g a r n , P o l e n und die T s c h e c h o s l o w a k e i , R S ) e n t w i c k e l t e n sich in e n g e r kultureller F ü h l u n g und S y m b i o s e mit Westeuropa. S i e h a b e n a n a l o g e institutionelle E n t w i c k l u n g e n und teilen v i e l e Ideale. S o w a r e n republikanische Ideale der S e l b s t v e r w a l t u n g in P o l e n v o r h a n d e n und sogar in den N a m e n d e s p o l n i s c h e n Staates v o r d e s s e n T e i l u n g -

Rzeczpospolita

P o l s k a - e i n g e g a n g e n . D a s bittere Schicksal dieser G e s e l l s c h a f t e n war e s dann, zur Ü b e r n a h m e e i n e s politischen S y s t e m s g e z w u n g e n w o r d e n zu sein, das ihnen fremd, n ä m l i c h r u s s i s c h e n Ursprungs und die U r s a c h e e n d l o s e r K o n f l i k t e war. D a s Streben nach größerer Freiheit ist in d i e s e n G e s e l l s c h a f t e n praktisch g l e i c h b e d e u t e n d damit, w i e d e r den A n s c h l u ß an Europa z u finden. D e s h a l b findet d i e s e s Streben s e i n e n natürlichen A u s d r u c k in e i n e m b e s t i m m t e n Verständnis der e u r o p ä i s c h e n

Politiktradition

und im B e g r i f f der civil society." 5 Ostmitteleuropa b e w e g t sich in d i e s e m Weltbild v o m O s t e n in den W e s t e n ,

nachdem

es, w i e M i l a n Kundera in e i n e m Interview mit A l a i n Finkielkraut betonte, s c h o n in den 6 0 e r Jahren a u f d e m W e g war, den russischen S o z i a l i s m u s mit w e s t l i c h e n E l e m e n t e n zu

5

Charles Taylor, „Die Beschwörung der civil society", in Krzysztof Michalski (Hg.), Europa und die Civil Society, Stuttgart 1991, 59/60. In der Literatur wird in bezug auf Polen die Argumentation vertreten, daß auch heute noch der aktuelle polnische Diskurs entlang der Trennlinie zwischen Liberalismus und Republikanismus interpretiert werden kann. Beide Modelle finden sich in der ostmitteleuropäischen Debatte um eine kollektive Gegenidentität. Vgl. dazu ebenfalls: Melanie Tatur, „Politik im Transformationsprozeß. Aspekte des politischen Diskurses in Polen 1989-1992", in Krisztina Mänicke-Gyöngöysi (Hg.), Öffentliche Konfliktdiskurse um Restitution von Gerechtigkeit, politische Verantwortung und nationale Identität. Institutionenbildung und symbolische Politik in Ostmitteleuropa, Berlin 1996, 39-55. Ausführlicher: dies., „Identität und Integration - der polnische Diskurs zu Beginn der neunziger Jahre", in Forschungsstelle Osteuropa (Hg.), Kulturelle Identitäten in Ostmitteleuropa - Polen und die Tschechoslowakei, Bremen 1994, 15-72; K. Mänicke-Gyöngyösi, „Sind Lebensstile politisierbar? Zu den Chancen einer „zivilen Gesellschaft" in Ost- und Ostmitteleuropa", in Ralf Rytlewski (Hg.), Politik und Gesellschaft in sozialistischen Ländern [PVS-Sonderheft 20] Opladen 1989, 335-350; dies., „Bürgerbewegungen, Parteien und ,zivile' Gesellschaft in Ungarn", in Deppe/Dubiel/Rödel (Hg.), Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt/M. 1991, 221-233. Zu Solidarnosc: Vgl. neben anderen: Peter Raina, Independent Social Movements in Poland, London 1981; Lawrence Goodwyn, Breaking the Barrier. The Rise of Solidarity in Poland, New York/Oxford 1991; Roman Laba, The Roots of Solidarity. A Political Sociology of Poland's Working Class Democratization, Princeton 1991. Wichtig zudem: Jacques Rupnik, „Dissent in Poland, 1968-78: the end of Revisionism and the rebirth of Civil Society", in Rudolf L. Tökes (Hg.), Opposition in Eastern Europe, Oxford 1979, 60-112; ders., „Totalitarianism Revisited", in John Keane (Hg.), Civil Society and the State. New European Perspectives, London/New York 1988, 263-289; Z.A. Pelczynski, „Solidarity and the Rebirth of Civil Society in Poland, 1976-81", in ebd., 361-380; Aleksander Smolar, „The Polish Opposition", in Ferenc Feher/Andrew Arato (Hg.) Crisis and Reform in Eastern Europe, New Brunswick 1991, 175-252; Tony Judt, „The Dilemmas of Dissidence. The Politics of Opposition in East-Central Europe", in ebd., 253-301. Vgl. dazu auch die zahlreichen Studien von Andrew Arato: u.a. „Civil Society against the State, Poland 1980-81", in Telos 47 (1981), 23-47.

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

81

versehen und erst durch die Invasion der russischen Armee 1968 „kulturell kolonisiert" wurde. 6 Der britische Historiker Timothy Garton Ash scheint sich zumindest auf den ersten Blick diesen dichotomen Begrifflichkeiten anzuschließen, wenn er schreibt: „Das Reich der Antipolitik ist der Raum zwischen Staat und Individuum, zwischen den Mächtigen und den Machtlosen. Sie schärft den Blick auf die mittlere Distanz - über die unmittelbar selbstbezogenen Probleme des familiären Nestbauers hinaus aber noch nicht bis hin zum Horizont der nationalen Unabhängigkeit. Auf das imperiale System, dessen Machtinstrumente Lügen, Gewalt, die Spaltung der Gesellschaft und divide et impera! sind, antwortet der Antipolitiker mit den Imperativen des Lebens in Wahrheit, durch Gewaltlosigkeit, mit dem Kampf um eine Zivilgesellschaft - und mit der Idee Mitteleuropa." 7 Im Nachhinein erscheint die gesellschaftstheoretische Reform-Debatte der Nachkriegszeit in Osteuropa einem grundlegenden Paradigmenwechsel unterlegen zu sein. Als Wendepunkt läßt sich der mißlungene Versuch einer reformkommunistischen Erneuerung erkennen, der eine parteiexterne Opposition entstehen ließ, nachdem die Reformkräfte eine grundsätzliche Identitäts- und Orientierungskrise durchgemacht hatten. Tradiertes Orientierungswissen wurde entwertet, neue normative, kollektive Identität stiftende Inhalte, waren fortan nur noch diskursiv zu begründen. 8 Es fand nicht einfach der Ersatz eines Identitätsangebots durch ein weiteres, sondern die Umstellung des Argumentationsmodus als ganzem statt. Dieser wurde notwendig, nachdem die Grundgedanken für eine Evolution oder Modernisierung sich revolutioniert hatten. „Mitte der fünfziger bis in die späten sechziger Jahre" zielte die Evolution auf „Reformen, die von oben initiiert und von unten unterstützt" wurden. In den siebziger Jahren hatte sich das „operative Ziel" verändert. Es hieß nicht mehr „die Reform des Parteistaats, sondern die Wiederherstellung der Zivilgesellschaft." 9 Die sozialwissenschaftliche Forschung teilt sich bei der Beurteilung des Systemumbruchs in zwei Lager. Auf der einen Seite stehen modernisierungstheoretische Ansätze, die davon ausgehen, daß sich der Wechsel „vor allem als Anschluß an die entwickelteren westlichen Gesellschaften und ihre effizienteren ökonomischen Adaptations- und politischen Steuerungspotentiale" 10 begreifen lasse. Diese Position greift nahtlos

6

Kundera: „If we consider the 60s as the period of the progressive westernization of a Socialism imported from the East, then the Russian invasion of '68 marked the definitive moment of cultural colonization of a western country." Aus Milan Kunderas Interview mit Alain Finkielkraut, in: Cross Currents. A Yearbook of Central European

7

Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert

Culture,

wird abgewählt.

1 (1982), 17. Aus den Zentren

Mitteleuropas

1980-

1990, München/Wien 1990, 222. 8

Vgl. dazu im Kontext der DDR-Forschung die Studie von Clemens Burrichter, „Zur Kontingenz ideologischer Reformation Helwig (Hg.), Ideologie

9 10

im wissenschaftlichen Zeitalter",

und gesellschaftliche

Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert

Entwicklung

wird abgewählt,

in Ilse

Spittmann-Rühle/Gisela

in der DDR, Köln 1985, 50-65.

204f.

Im folgenden: Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Ost- und ostmitteleuropäische

Gesellschaften

zwischen autonomer Gestaltung und Adaptation westlicher Modernisierungsmodelle", in Helmut Wollmann (Hg.), Transformation 1995,30

sozialistischer

Gesellschaften:

am Ende des Anfangs,

Opladen

82

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

Vorstellungen auf, nach denen sich die ehemals zum Westen gehörigen Länder Ostmitteleuropas zunehmend vom Westen entfernt haben und einen Weg der Ent-Modernisierung gegangen sind. Nun gibt es zweierlei Hinweise, die es erlauben, davon auszugehen, daß sich auch das Nachkriegs-Osteuropa als modernisierter Teil Europas verstehen läßt. Zum einen haben Analysen der zentralen Modernisierungsfaktoren gezeigt, daß sich „der Kollaps sozialistischer Länder nur bedingt aus den Leistungsdefiziten des polit-ökonomischen Systems erklären läßt." 11 Und zum anderen übersehen diese theoretischen Ansätze die schon in den 70er Jahren sichtbaren Ansätze zu einer zivilgesellschaftlichen Rekonstruktion der ostmitteleuropäischen Gesellschaften. Es erscheint daher sinnvoller, die Systemkrise als „Legitimations- und Partizipationskrise" zu verstehen. Die Anfänge des demokratischen Übergangs lassen sich bis weit in die 70er Jahre zurückverfolgen. In dieser Phase entsteht ein Zusammenhang zwischen den nationalen politischen Oppositionen und eine „Intensivierung des unabhängigen politischen und soziokulturellen Lebens in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in Polen." 1 2 Dabei war in einem ersten Stadium „für alle drei ostmitteleuropäischen Länder (...) charakteristisch, daß in ihnen qualifizierte und intellektuelle Gruppen zunächst den Versuch unternahmen, die Legitimationsgrundlagen des Sozialismus in bezug auf planerische und materiale Rationalität im Rahmen der sozialistischen Redistribution einzuklagen." 1 3 Obwohl sich alle ostmitteleuropäischen Länder an der Mitteleuropa-Diskussion beteiligten, die auf ganz spezifische Weise auf die gemeinsame Westorientierung in politischer und kultureller Hinsicht, die Verpflichtung auf die Werte der Aufklärung, der Menschenrechte und der gegenseitigen Toleranz, der „Einheit in der kulturellen Vielfalt" Bezug genommen haben, haben sich jeweils unterschiedliche Wege der Vorbereitung eines Umbruchs herausgestellt. Für Polen war dabei charakteristisch, daß sich eine Verbindung syndikalistischer, demokratischer und nationaler Elemente ergeben konnte, auf die im folgenden näher eingegangen werden soll. Diese Verbindung vereinigte Arbeiter, Intellektuelle und die Kirche. In Ungarn dagegen, so Mänicke-Gyöngyösi, habe sich die „Vielstimmigkeit dieser reformerischen, kritischen und oppositionellen Praktiken" durch einen „semantischen Sieg" auf Seiten der Kritiker und Oppositionellen vereinigen lassen. 14 Sie weist dann noch auf den andersgelagerten Fall der Tschechoslowakei hin. Die Intervention der Sowjetunion im Prager Frühling 1968 hatte den immanenten Reformprozeß gewaltsam unterbrochen. Der darauffolgende Exodus zahlloser Oppositioneller, die Demoralisierung der verbliebenen Opposition und die systematische Zerschlagung

11 12

13

14

Ebd., 32. Christian Weimer, Mitteleuropa als politisches Ordnungskonzept? Darstellung und Analyse der historischen Ideen und Pläne sowie der aktuellen Diskussionsmodelle, Diss. Würzburg 1992, 197. Weimer erwähnt zwar hier die zweite Hälfte der 70er Jahre als Beginn einer „Intensivierung des unabhängigen politischen und soziokulturellen Lebens", arbeitet dann aber nicht die Zusammenhänge zwischen dieser Zeit und der Mitteleuropa-Diskussion heraus. Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Ost- und ostmitteleuropäische Gesellschaften zwischen autonomer Gestaltung und Adaptation westlicher Modernisierungsmodelle", 38. Ebd., 40.

83

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

der alternativen sozialen Bewegung haben dazu geführt, daß die tschechoslowakische Antipolitik sich als nach innen gekehrte, auf „persönliche Authentizität und Integrität" 15 gerichtete entwickelte. Aber auch für die Tschechoslowakei erklärt Mänicke den Reformprozeß als „Wiederbesinnung auf demokratische Traditionen der ersten Republik", damit verbunden: die Delegitimierung des neostalinistischen Herrschaftssystems. „Zu diesem allgemeinen Wertezerfall", so führt sie weiter aus, „und der Herausbildung jeweils spezifischer pluralistischer und sich selbstbeschränkender Handlungsoptionen und Einstellungen mag auch der Mitteleuropa-Diskurs in den drei Ländern seit Mitte der 80er Jahre beigetragen haben. (...) Hierbei handelte es sich nicht bloß um die Propagierung einer universalistischen Moral als Basis zivilgesellschaftlicher Initiativen, sondern gerade wegen der gleichzeitig hervorgehobenen Abgrenzung vom despotischen Rußland bzw. der antiindividualistischen Sowjetunion auch um eine spezifische Aktualisierung von v e r s u n kenen' nationalen Deutungsmustern, die auf Ausgleich und Verhandlungsbereitschaft statt Konfrontation bedacht waren. Dieser Version nationaler Identität kommt insbesondere im Kontext polnischer und ungarischer Traditionen Bedeutung zu, da diese auch deren alternative Symbolisierung als ,tragische Schicksalsgemeinschaft' kennen und gerade angesichts feindlicher Übermacht Erfahrungen des aussichtslosen Widerstands aktualisieren und an den ,Selbstbehauptungswillen der Nation' appellieren können." 1 6 Mänicke-Gyöngyösi schließt schließlich ihre Untersuchung mit der Bemerkung, daß sich die Erfolgschancen des Systemwechsels deutlich verbessert hatten und zwar durch die spezifische Leistung der Intellektuellen, die Integration von strategisch wichtigen Gruppen in die bestehende Macht- und Privilegienstruktur der „sich selbstbeschränkenden Revolution" zu erreichen. „Der kulturellen Dimension, der einigenden Kraft intellektueller Diskurse" scheint eine „besondere Bedeutung zuzukommen." 1 7 Wolf Lepenies formuliert dies weit weniger vorsichtig und wagt die These, daß man bis zur Jahrhundertwende zurückgehen müsse (Dreyfus-Affäre), „um eine politische Situation zu finden, in der Intellektuelle eine gleich starke öffentliche Wirkung entfalteten wie mit der von ihnen provozierten Mitteleuropa-Debatte." 1 8 Nachdem Mänicke diese Punkte herausgearbeitet hat, ist es nicht verständlich, wieso sie die Bedeutung des „semantischen Sieges" nicht auch für Polen und die Tschechoslowakei betont. Nach ihren eigenen Forschungsergebnissen, verbunden mit den Erkenntnissen von Jan Kubik über Polen und den Darstellungen zur Antipolitik in der Tschechoslowakei läßt sich für alle drei Länder im gleichen Maße von der systemtransformierenden Bedeutung der „counterhegemonic discourses" (Kubik) sprechen. Sicher-

15

Ebd., 40. Hier ist natürlich in erster Linie V a c l a v Havel zu nennen mit s e i n e m berühmten Essay

16

Ebd., 41. B e z e i c h n e n d e r w e i s e spricht hier auch M ä n i c k e - G y ö n g y ö s i v o n Mitteleuropa-Idee und

Versuch

in der Wahrheit

zu leben, 2. Aufl., Reinbek 1993. V g l . auch unten Kap.IV,3.

Westorientierung gleichzeitig. Sie unterschlägt dabei die bei zahlreichen Autoren

bedeutende

A b g r e n z u n g v o m Westen. 17 18

Ebd., 50. W o l f Lepenies, zitiert nach Christian Weimer, Mitteleuropa 2 0 0 , A n m . 1016.

als politisches

Ordnungskonzepf!

84

Zivilgesellschaft und Antipolitik: W e g e zur Idee einer europäischen Mitte?

lieh gab es Unterschiede in den ostmitteleuropäischen Ländern, aber das Muster der Bedeutung intellektuell-kultureller Gegendiskurse zur Delegitimierung der bestehenden Systeme, zur Herstellung strategischer Allianzen, zur Betonung nationaler Traditionen und der Ausrichtung auf symbolische Opposition war in allen drei Ländern vergleichbar. So spricht Timothy Garton Ash von einer Kommunikationsgemeinschaft und betont die Beziehungen der Intellektuellen zueinander. 1 9 So überwiegen in der Frage der Legitimationsgrundlagen und deren Anfechtung durch die organisierte Opposition die Gemeinsamkeiten in den ostmitteleuropäischen Ländern Polen, Tschechoslowakei und Ungarn: „Für alle drei ostmitteleuropäischen Länder ist charakteristisch, daß in ihnen qualifizierte und intellektuelle Gruppen zunächst den Versuch unternahmen, die Legitimationsgrundlagen des Sozialismus in bezug auf planerische und materiale Rationalität im Rahmen der sozialistischen Redistribution einzuklagen. So hat zur Konstituierung der Solidarnosc die Enttäuschung qualifizierter junger Arbeiter und Techniker beigetragen, keine ihren Kompetenzen und Aspirationen gemäßen Positionen erhalten zu können." 2 0 Diese Konflikte wurden jedoch nicht als ökonomische Konflikte thematisiert und schon gar nicht wurde Abhilfe durch Verwestlichung und Liberalisierung der Ökonomie erwartet. Die Konflikte wurden, wie oben schon betrachtet, als moralische Konflikte thematisiert. So konnte Timothy Garton Ash überrascht feststellen: „Auffallend ist, daß sie [die ostmitteluropäische Opposition, RS] die gesamte materielle Seite des Lebens in ihren jeweiligen innenpolitischen Analysen vernachlässigten und wirtschaftliche Aspekte mißachteten." 21 Von diesen Anfängen ausgehend entwickelte sich die ostmitteleuropäische Opposition in drei Schritten: In einem ersten Schritt wurde der Kampf um Bürger- und Menschenrechte (Charta 77, KOR) als Recht auf Schutz vor staatlicher Repression eingeklagt. (Geschützt durch die internationale Anerkennung von

„Havel, Michnik und Konrad sind also unterschiedliche Schriftsteller mit

unterschiedlichen

Positionen in ihren eigenen Ländern, keiner von ihnen ein unbestrittener Repräsentant'. Und doch sind alle drei ganz besonders gut geeignet und auch daran interessiert, die Fragen eines westlichen Lesers zu beantworten. Alle drei sind gleichermaßen um den Dialog zwischen ihren Ländern bemüht: Havel schrieb Die Macht der Machtlosen ausdrücklich als Initiative für einen Dialog zwischen Charta 77 und KOR; Michnik hob die Arbeit des außerordentlich populären Vaclav Havel' in einer Diskussion über die verschiedene Samizdat-Literatur hervor; Havel und der Ungar Miklos Haraszti sind ebenso auf dem Titelbild der unabhängigen polnischen

Monatsschrift

Krytyka erschienen w i e Michnik; und Konrad bezieht sich unentwegt auf die tschechischen und polnischen Erfahrungen: Wenn es also wirklich mitteleuropäische Gemeinsamkeiten gibt, so können wir sie mit guten Grund in den politischen Essays dieser drei Autoren zu entdecken hoffen." T.G. Ash, Ein Jahrhundert

wird abgewählt,

188.

20

Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Ost- und ostmitteleuropäische Gesellschaften zwischen autonomer

21

Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert

Gestaltung und Adaptation westlicher Modernisierungsmodelle", 38. wird

abgewählt,

216. N e b e n der wirtschaftspolitischen

konstatiert Ash auch eine außenpolitische Blindheit des Konzepts und der drei von ihm vorrangig behandelten Essayisten Konrad, Havel und Michnik. Zur Regionalmacht Nr. 1 Deutschland haben sie keine dezidierten Vorstellungen. Weiterer Kritikpunkt an den Literaten: Sie seien letztlich nur die letzten S p r ö ß l i n g e der Zivilisationsliteraten ( T h o m a s M a n n ) , die „westlich orientiert, k o s m o politische, säkular-humanistische und rationalistische Elemente"(ebd., 2 1 9 ) vortragen.

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

85

Korb III in Helsinki). Dieser mit dem sozialistischen Rechtsverständnis unvereinbare Rückgriff auf „bürgerliche", weil individuelle Rechtszuweisungen wurde moralisch fundiert mit der Vorstellung einer moralischen, wahren, weil authentischen bürgerlichen Identität. Für diese Phase ist der moralische Gegensatz von Staat und Gesellschaft entscheidend. Der Staat wird als totalitär verstanden und die Gesellschaft als Hort der Menschlichkeit, wie es in der „Wir" gegen „sie"-Metaphorik zum Ausdruck kommt. Neben dem analytischen spielt auch der normative Paradigmenwechsel noch eine Rolle. Das Individuum verschwindet nicht mehr in einem Gattungsbegriff; befreit von heilsgeschichtlichen Erwartungen und geschichtsphilosophischen Versprechen kann die Alltagsebene der individuellen Existenz wieder auf eine moralische Wertorientierung eingestellt werden: In der Wahrheit leben (Havel) Im zweiten Schritt wurde der Aufbau einer unabhängigen Öffentlichkeit durch das K O R und vergleichbare Vereinigungen vorangetrieben. Unabhängige Publikationen (Samisdat), geheime Universitäten und unabhängige Organisationen wurden eingerichtet. 22 In einem dritten Schritt sollten die Prinzipien der civil society im Dialog mit reformbereiten Teilen der Kommunistischen Führung zu einem neuen gesellschaftlichen Modus umgearbeitet werden. Dies wurde am Ende der legalen Zeit von Solidarnosc (1981) erstmals probiert und schließlich 1989 erfolgreich umgesetzt. 2 3 Im folgenden sollen die konkreten historischen Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse nicht im einzelnen beleuchtet werden. Da es ausreichend Hinweise gibt, daß die uns interessierenden Formen der symbolischen „Rückkehr nach Europa", wie sie in der Strategie der Wiederbelebung der „civil society"zum Ausdruck kommen, in den Ländern Polen, Ungarn und Tschechoslowakei ausreichend vergleichbar abgelaufen sind, läßt es sich rechtfertigen, wenn man sich am Beispiel des am besten erforschten Systemwandels, dem polnischen, auf die wichtigen Punkte des Systemzerfalls und dessen diskursiv-symbolische Begleitung konzentriert. 24

22

Vgl. dazu auch Jürgen Habermas in seinem neuen Vorwort zur Neuauflage von der Öffentlichkeit.

Untersuchungen

zu einer Kategorie

der bürgerlichen

Gesellschaft,

Strukturwandel Neauflage,

Frankfurt/M. 1990, 11-50. 23

Charles Taylor hat die entsprechende Bandbreite folgendermaßen beschrieben: „1. In einem sehr allgemeinen Sinn gibt es civil society dort, wo es freie Vereinigungen gibt, die nicht von der Staatsmacht bevormundet werden. 2. Im engeren Sinn gibt es civil society nur dort, wo die Gesellschaft als ganze sich durch Vereinigungen, die nicht von der Staatsmacht bevormundet werden, strukturieren und ihre Handlungen koordinieren kann. 3. Alternativ oder ergänzend zur zweiten Bedeutung können wir von civil society immer dort sprechen, wo die Gesamtheit der Vereinigungen den Gang der staatlichen Politik signifikant bestimmen oder modulieren kann." (Charles Taylor, „Die Beschwörung der civil society", 57). Taylor selber plädiert für die anspruchsvolle Variante, nach der die bürgerliche Gesellschaft überall dort entsteht, „wo die Gesamtheit der Vereinigungen den Gang der staatlichen Politik entscheidend bestimmen und beeinflussen kann." (ebd.)

24

„Da das stalinistische Modell", so die Berliner Soziologin Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „in Ostmitteleuropa auf sowjetischen Einfluß zurückgeht und die Etablierung eines Einparteienstaates zur Folge hatte, ist es nicht überraschend, wenn seine Krise zunächst als Konfrontation von .authentischer' Gesellschaft und kommunistischer Partei als der Stellvertreterin von Fremdherr-

86

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

1.1. Solidarnosc und das Beispiel Polen Polens Hinwendung zum Osten in der unmittelbaren Nachriegszeit war keineswegs eine nur mit Gewalt von außen aufgezwungene Form der Reorientierung politischer Kultur, sondern, wie Ferenc Feher in seinem Aufsatz: „Eastern Europe's Long Revolution Against Yalta" zeigt, auch zurückzuführen auf die Alternativlosigkeit mangels einer nicht-diskreditierten Opposition. 2 5 In dieser Phase konnte der Kommunismus als Modernisierungsbewegung für ausreichende Legitimität und damit auch entsprechende Sozialintegration sorgen. Seine Vertreter in Kultur und Politik konnten glaubhaft machen, daß es zur zentralen politischen Aufgabe der Zukunft gehöre, mit der Rückständigkeit in ganz Ostmitteleuropa aufzuräumen und daß dies nur durch Orientierung an Moskau möglich sei. Sie konnten sprachliche, kulturelle und institutionelle Regelungen treffen, die das gesamte politische, ökonomische und kulturelle Leben revolutionierten. So kam es in den ersten Jahren nach dem Krieg zu einem in allen ostmitteleuropäischen Ländern gleichlaufenden kommunistischen Aufbauprogramm: Zentralistische Verstaatlichung der Wirtschaft, Zerschlagung weiter Teile des privaten Handels, innerparteiliche Säuberungen mit Schauprozessen, Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft, Gleichschaltung des Kulturbereichs und Aufbau von Schwerindustrie. Einzig die schon unter Stalin geschlossenen Sonderregelungen mit der Katholischen Kirche in Polen deuteten auf dessen Sonderrolle im Ostblock hin. Kardinal Wyszynski stimmte für die polnische Kirche dem sozialistischen Wirtschafitsaufbau zu und trotzte dafür der Kommunistischen Partei eine Reihe von Zugeständnissen ab: Erhalt der Katholischen Universität Lublin, der katholischen Presse und des Religionsunterrichts in den Schulen. Ansonsten ging man in allen Ländern einen vergleichbaren Weg der radikalen Ab-

schaft mit antisowjetischen Untertönen manifest wurde wie im Polen der Solidarnosc-Bewegung und in Ungarn 1956." Und weiter: „Am Beispiel Polens wird in der Regel die Entstehung einer ,zivilen' Gesellschaft unter sozialistischen Bedingungen untersucht. Sie beinhaltet die Konstituierung einer öffentlichen Sphäre gegenüber der staatlich-offiziellen, die Artikulation, und auch den Ausgleich von Gruppeninteressen und schließlich die Vermittlung und Institutionalisierung des ausgehandelten Konsenses im Verhältnis zum Staat. Die Bewegung der Solidarität konnte zum Kristallisationspunkt gesellschaftlichen Protestes werden, da sie nicht nur ökonomische Interessen berücksichtigte, sondern vom einigenden moralischen Impetus der polnischen Gesellschaft getragen wurde, der den Staat als Hauptschuldigen für soziale Konflikte und ökonomischen Mangel ansah. Die Herstellung einer .moralischen Gemeinschaft' ist (...) nicht der einzige Weg zu einer ,zivilen' Gesellschaft." Und wenig später schließt Mänicke-Gyöngyösi mit einem Kommentar zu György Konrad diesen Gedanken ab, wenn sie schreibt: „Da der Einparteienstaat - selbst in Ungarn - immer noch weite Teile der politischen und ökonomischen Sphäre besetzt hält, wird erwartet, daß die Widerstandspotentiale gerade aus der lange Zeit unterdrückten, aber nicht zu kontrollierenden persönlichen Sphäre kommen und kommen werden. Nicht umsonst hat György Konrad dieses Programm, das er essayistisch entworfen hat, das der ,Antipolitik' genannt." Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Sind Lebensstile politisierbar? Zu den Chancen einer ,zivilen' Gesellschaft in Ost-und Ostmitteleuropa", 336/337. Ferenc Feher, „Eastern Europe's Long Revolution Against Yalta", in ders. und Andrew Arato (Hg.), Crisis and Reform in Eastern Europe, N e w Brunswick 1991, 496.

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

87

kehr vom westlichen Entwicklungspfad marktwirtschaftlich organisierter Ökonomie und von über Parteienpluralismus organisierter Repräsentativdemokratie. Erste Krisen konnte das kommunistische System noch durch innerparteiliche Reformen bewältigen, wie das polnische Beispiel zeigte. Seine erste dramatische Krise erlebte der Ostblock mit den Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Staat in Ungarn und Polen 1956. Dabei verstand es der ungarische Kommunismus unter Kadar ab 1962, ohne weitere größere Konfrontation mit der Sowjetunion, die Intellektuellen in die „Realpolitik" hineinzuziehen, einen kleinen Spielraum für politische und ökonomische Aktivitäten zu lassen und dennoch über drei Jahrzehnte zu überleben. Auch in Polen zeigte sich schon bald, daß die Partei ihre Legitimation nur dadurch erhalten konnte, daß sie Reformen mit der Zielrichtung wachsender nationaler Eigenständigkeit oder Hinwendung nach Westen (Kredite, Reisefreiheit) durchführte. Ein Beispiel für die Reformfähigkeit der Partei und der Flügelkämpfe in ihr (also den parteiinternen Pluralismus) bot der Wechsel an der Spitze der Kommunistischen Partei Polens von Bierut zu Gomulka nach Streiks und blutigen Auseinandersetzungen. Der Vorsitzende der KP, Bierut, wurde abgesetzt und durch den ehemaligen „Rechtsabweichler" Gomulka ersetzt, der unter Stalin einige Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Damit erhoffte die Parteiführung, ein Signal der Liberalisierung und Nationalisierung der kommunistischen Politik zu geben. Chrustschow selber kam nach Polen. Ihm blieb nichts anderes übrig als den Wechsel abzusegnen. Vorerst beruhigte dies die Gemüter der Arbeiter und der Intellektuellen: „And it was this that kept the post-Stalinist Opposition from rejecting party-state politics altogether." 26 Gomulka verhinderte die vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft und stärkte die Autonomie der Kirche. In dieser Zeit wurde das gesellschaftliche und kulturelle Leben vielfältiger. Der Leninismus gab seine Tendenz zur Totalmobilisierung langsam auf. Es gab ökonomische Erfolge und Spielraum für bürgerliche Freiheiten, besonders in den Jahren 1957-64. Die Ansprüche an die politische Durchdringung des Privatlebens nahmen spürbar ab. Und eine weitere wichtige Veränderung trat ein: der Kommunismus versuchte national zu werden. Mit Wladislaw Gomulka war ein Politiker an der Spitze der polnischen Kommunisten, der für eine Politik stärkerer Unabhängigkeit von Moskau stand. Er war einer der wenigen Kommunisten, die im Weltkrieg nicht mit Moskau paktiert, sondern im polnischen nationalen Untergrund gekämpft hatten. 2 7 Sein Programm war einen spezifisch polnischen Weg zum Sozialismus zu finden. Er festigte seine Position im Land, indem er die sowjetische Solidarität zugunsten eines Wettbewerbmodells mit dem Ziel nationaler Selbstbehauptung zurücksetzte: „History has given terrifying lessons to Poles because they neglected Poland's development, as Poland feil behind, and she became weaker and weaker in relation to her neighbors.

26

David Ost, Solidarity

27

„Kein anderes Land im sowjetischen Einflußbereich kannte eine vergleichbare Kontinuität der

and the Politics of Anti-Politics,

Philadelphia 1990, 39.

Opposition und ähnlich offene - und öffentliche - Auseinandersetzungen innerhalb der Machtelite. In keinem anderen Land war die Partei mit einer starken Kirche konfrontiert und einem teils spontanen, teils langfristig organisierten Widerstand der Bevölkerung." Adam Krzeminski, im 20. Jahrhundert,

München 1993, 130.

Polen

88

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

Comrades, do you think that today weakness and backwardness have a different meaning than they did in the past?" 28 Doch der von der Parteiführung zur besseren Sozialintegration zu Hilfe genommene Nationalismus schlug schnell in Chauvinismus und Antisemitismus um, weil er strategisch mit dem Ziel eingesetzt wurde, die Kirche stärker an die Partei zu binden. Die Partei wollte einen Graben ziehen zwischen den Intellektuellen und der Kirche, wohl wissend, daß eine Vernetzung der Opposition schwerwiegende Folgen für die Stabilität der kommunistischen Herrschaft haben würde. Die relative Unabhängigkeit von Moskau erkauften sich die polnischen Kommunisten durch einen wachsenden Zentralismus und den Ausbau der Machtfunktionen der Partei. So wie Chrustschow in der Sowjetunion nicht den Sozialismus oder Marxismus/Leninismus denunziert hatte, sondern die Schuld an Terror, ökonomischen Fehlentwicklungen und politischen Katastrophen allein Stalin und seiner psychischen Konstitution zuschrieb, machten sich auch in Polen und Ungarn gleichermaßen die Intellektuellen auf die Suche nach Verbündeten im Reformlager der KP. „They wanted to change the system from within and pinned their hopes on the presumably more openminded faction of the party leadership." 29 Das spezifisch polnische Element ist dabei die enge Verbindung zwischen Politik und Religion. Allen voran versuchte Leszek Kolakowski neben reformmarxistischen auch christliche Elemente in die tragende Ideologie zu integrieren. Er versuchte, eine dem Stalinismus entgegengesetzte Vorstellung von politischer Auseinandersetzung, offener Kommunikation, veränderter Haltung gegenüber Staat und Wirtschaft und der gesamten politischen Kultur zu diskutieren. Für die Intelligentsia lieferte die marxistische Ideologie aber immer noch den Rahmen für Reformdebatten in Polen; die Bühne der Auseinandersetzungen war die Partei mit ihren Plattformen. In der Auseinandersetzung um die „Gunst der Kirche" jedoch wurde die Frage gestellt, wer näher an den Wurzeln der politischen Kultur sei, die wachsende gesellschaftliche Opposition oder die Partei. Ein wichtiger Schritt zur Entfremdung von dieser Basis zeigte sich schon bald nach der Machtübernahme Gomulkas. 30 Der polnische KP-Chef erwies sich langfristig als radikaler Gegner eines innerparteilichen Pluralismus. Die Freiräume, die sich Kirche und Bauern erkämpft hatten, wurden im Laufe der 60er Jahre wieder beschnitten. Das wichtige politische Magazin der Reformmarxisten „Po Prostu" wurde verboten. Aus dem Blickwinkel der späteren, gesellschaftlich und nicht staatlich orientierten Opposition kommentierte Adam Michnik die parteiorientierten Reformkräfte eher kritisch: „Revisionisten und Neopositivisten waren sich in einem Punkt einig: sie hofften beide darauf, daß eine Veränderung von oben ihren Zielen den Weg ebnen würde. Beide erwarteten ein günstiges Resultat von der Evolution der Partei - und zwar durch eine realistische Politik, die von intelligenten Führern durchgesetzt würde. Keine der beiden

28

Gomulka, zitiert nach Roman Laba, The Roots of Solidarity,

29

Vladimir Tismaneanu, Reinventing

30

Politics.

16.

Eastern Europe from Stalin to Havel, Toronto 1992,

63. Vgl. Adam Michnik, „Was wir wollen und was wir können", in W. Brus (Hg.), Polen. und Ursachen einer politischen Krise, Hamburg 1981, 37.

Symptome

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

89

Gruppen zog auch nur in Betracht, diese Entwicklung durch die Mittel konstanten Drucks der Gesellschaft zu verstärken. Sie verließen sich eher auf die Vernunft eines kommunistischen Fürsten' als auf den Kampf zur Errichtung unabhängiger Institutionen, welche die Macht hätten kontrollieren können." 31 Oder sie verließen sich, wie Kuron/Modzelewski mit ihrem „Offenen Brief an die Partei" gezeigt haben, auf das Rationalisierungspotential innerhalb des Sozialismus. 32 Die Hoffnungen auf eine Reform von oben erwiesen sich spätestens 1968 in der Tschechoslowakei und in Polen als Täuschung, weil die einstmals vorhandene Plattform innerhalb der Partei weggebrochen war. Adam Michnik schrieb, daß die Ereignisse 1968 den „death of revisionism" kennzeichneten, einen Zeitpunkt, an dem „the bond tying the revisionist intelligentsia to the Party was definitively severed." 33 In den 60er Jahren setzten die Reformer noch auf das semantische und organisatorische Fundament des Marxismus/Leninismus. Sie versuchten die Partei als Plattform für ihre Ideen zu nutzen. Das Gelingen hing von der Existenz dreier Faktoren ab: a) liberale Träger innerhalb der Partei, die für eine Übersetzung dieser Ideen in die Programmatik der Partei eintraten, b) eine Öffentlichkeit, die zur Diskussion dieser Ideen frei war und c) eine gemeinsame Sprache von Opposition und Partei. Wie die Ereignisse gezeigt haben, konnten diese drei Prämissen in den späten 60er Jahren nicht mehr vorausgesetzt werden. „The aim of the revisionist intellectuals in the 1956-68 period was to improve or humanise the communist regime from within, through the communist party or more precisely through the liberal wing in the party leadership. They participated in the system by proxy, as a pressure group, criticising party policies on specific issues, but sharing with the party the same ideology and a common language." 34 So beschreibt Rupnik die Phase des Revisionismus. 35 Deren Hauptvertreter waren Leszek Kolakowski und Adam Schaff, die aus der Perspektive eines humanistischen Marxismus schrieben und wirkten. Die Erwartungen der Opposition, daß die Partei/der Staat Reformen einleiten würden, erfüllten sich nicht. Das Ende des Revisionismus setzte also mit dem Ende der

31

Adam Michnik, „Der neue Evolutionismus", in ders., Polnischer

Frieden,

Berlin 1985, 41/42.

Ebenso: „From the late 1950s to the early 1960s all East European countries (to varying degrees), experienced the rise of revisionist tendencies. They were boldest in Poland and Hungary, where the Stalinist edifice crumbled under the onslaught of critical currents(...) After the defeat o f the Hungarian Revolution, the Soviets tried to restore the uniformity of the bloc, but their attempts were bound to fail. Centrifugal trends developed in each country, and local elites refused to be treated in the old humiliating fashion." Vladimir Tismaneanu, Reinventing 32

Politics,

86.

Weitere wichtige Vertreter einer intellektuellen Absicherung der polnischen Oppositionsarbeit: Leszek Kolakowski, Adam Michnik, Jacek Kuron, Krzysztof Pomian. Vgl. dazu Jan Zielonka, „Zur ideellen Grundlage der gesellschaftlichen Selbstverteidigung in Polen", in Osteuropa,

35. Jg.

(1985), 26-35. 33

Adam Michnik, zitiert nach David Ost, Solidarity

and the Politics

of Anti-Politics,

52.

Jacques Rupnik, „Dissent in Poland, 1968-78: the end of Revisionism and the rebirth of Civil Society", in Rudolf L. Tökes (Hg.), Opposition 35

in Eastern Europe, Oxford 1979, 6 0 - 1 1 2

Zum Revisionismus allgemein: Helga Grebing, Der „Prager

Frühling",

München 1977.

Revisionismus.

Von Bernstein

bis

zum

90

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

Illusion staatlich-zentralistischer Politik ein. „Reformen von oben" im Rahmen sozialistischer Institutionen, wie sie der sogenannte Revisionismus noch anstrebte, waren mißlungen. Die reformbereiten Intellektuellen, die vorher noch im Rahmen des Marxismus, quasi aus dem Zentrum der Macht heraus, Reformpläne formulierten, standen nun außerhalb der Macht. Die Energien der sozialistischen Utopie waren erschöpft und die an der Macht befindlichen Parteien Ostmitteleuropas hatten die Ressource „Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft und des sozialistischen Weltsystems im Geist des Leninismus" verbraucht. 3 6 Die reformorientierten polnischen Intellektuellen suchten nach Möglichkeiten, Freiräume außerhalb des Parteirahmens zu erarbeiten und fanden Mitstreiter in Gestalt der organisierten Arbeiterschaft und der Kirche. Zu diesem Zweck wurde auf diejenigen vormarxistischen Ideen zurückgegriffen, mit denen der Unabhängigkeit der Gesellschaft von staatlichem Zugriff Ausdruck verliehen werden konnte. Die Chancen gesellschaftlicher Selbstorganisation wurden gegenüber ihren Defiziten wieder in den Vordergrund gestellt. „Plötzlich ist Einigkeit nicht mehr etwas rundum Positives." 37 Die Gesellschaft sollte sich wieder ausdifferenzieren können, ohne den korrigierenden Zugriffen des Staates und seiner Kontrollorgane ausgeliefert zu sein. Parallelität, Unabhängigkeit und Pluralismus wurden zu zentralen Stichworten einer neuen Generation demokratischer Oppositioneller. Diese wollten einen organisatorischen Pluralismus, eine kritische und unabhängige Öffentlichkeit, wie sie für eine aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft charakteristisch war. Sie suchten den Weg größtmöglicher Reformen bei kleinstmöglichem Ordnungsverlust. Sie zeigten dem Staat, der mit ihm eng verbundenen Nomenklatura und natürlich auch Moskau - nicht ohne strategisches Geschick - , daß sie an einem Teil staatlicher Leistungen interessiert waren. Gegen diese „Bestandsgarantie" wollte die Opposition vom Staat „die Institutionalisierung der Differenz von Staat und Gesellschaft" erwirken. 3 8 Folgt man George Schöpflin, dann ist es gerade dieses Zuwenig an Differenz, unter dem die ostmitteleuropäischen Staaten gelitten haben. Die von einer ausdifferenzierten Sozialstruktur zur Verfügung gestellten Bruchlinien fehlen den Mitteleuropäern heute noch beim A u f b a u demokratischer Strukturen. Es fehlt an „hinreichend formierten kollektiven Akteuren und einschlägigen Themen. Oder das Fehlen einer entfalteten zivilgesellschaftlichen Komplexität fuhrt zur Dominanz von Themen, die zwar zum Konflikt, nicht aber auch zum Kompromiß geeignet sind." 39

36

37 38 39

Frank Herterich/Christian Semler (Hrsg.), Dazwischen. Ostmitteleuropäische Reflexionen, Frankfurt/M. 1989, 9. Charles Taylor, „Die Beschwörung der Civil Society", 53. Vgl. dazu Helmut Dubiel, Ungewißheit und Politik, Frankfurt/M. 1994. Dieser Einschätzung schloß sich auch Claus Offe an, der schrieb: „Solange die ökonomischen Grundlagen für eine echte Zivilgesellschaft nicht existieren, ist die massive politische Mobilisierung der Bevölkerung nur auf nationalistischem oder fundamentalistischem Wege möglich." Claus Offe, „Das Dilemma der Gleichzeitigkeit", in ders., Der Tunnel am Ende des Lichts, Frankfurt/M. 1994, 67. In einer Gesellschaft ohne Fixpunkte klammert sich die Opposition an nationale Identitäten und ethnische Selbstbehauptungswünsche. „Oder sie klammert sich, wie J. Staniszkis aus Polen berichtet, an vorbildliche Gemeinschaften' und Doktrinen wie die

91

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

1.2.

Die Abgrenzung gegen Osten und die Entstehung einer neuen „kulturell-politischen Klasse"

Den Annäherungs- und Konzessionsversuchen der Opposition entsprachen vergleichbare Bemühungen auf Seiten der Parteiführung im Sinne von Kadars Spruch: Wer nicht gegen mich ist, ist für mich. 40 D.h. die KP entdeckte die Chance der stillen Zustimmung und schraubte im Gegenzug die Erwartungen an die Bürger zurück. Nach den Konfrontationen 1968 in Prag und 1970 in Polen kam es unter der tschechoslowakischen Politik der „Normalisierung" und der polnischen Politik der Auslandsverschuldung zu dem, was der tschechische Soziologe Antonin Liehm einen neuen Gesellschaftsvertrag genannt hat: „Das heißt die Macht auf der einen und die Gesellschaft auf der anderen Seite verzichten j e auf etwas. Die Macht verzichtet auf ihren Wunsch, alle Bereiche des öffentlichen Lebens zu kontrollieren und die Gesellschaft verzichtet auf die Versuche, die Macht abzuschaffen und sie jedenfalls ständig zu provozieren. Es ist eine stille Übereinkunft - getroffen von einer organisierten Macht und einer nicht organisierten Gesellschaft." 4 1 Somit könnte man in dieser Phase von einer Annäherung der Gesellschaft an den Staat sprechen. Auch wenn man mit Recht Zweifel haben darf, ob diese kontraktualistische Begrifflichkeit den Charakter der Zeit richtig wiedergibt, schließlich gingen dieser Phase massive Repressionen gegenüber der Opposition voraus (was die GesellschaftsvertragsSemantik eher verdeckt), so läßt sich doch eine von der Partei gewollte Entideologisierung und Entpolitisierung des privaten Lebens feststellen. 42 Dies konnte als Zeichen interpretiert werden, daß es zu einem Vakuum zwischen Staat/Partei auf der einen Seite und dem Individuum auf der anderen Seite kommen könnte. Schließlich hatte die kommunistische Partei fast alle unabhängigen intermediären Institutionen gesellschaftlicher Selbstorganisation aufgelöst. Wenn man jedoch die Forderung aufgibt, in diesem alternativen Gesellschaftsmodell die Trennung von Öffentlich und Privat durchzusetzen, aber gleichzeitig keine Selbstorganisation der Gesellschaft möglich ist, führt dies zwangsläufig zur Atomisierung privatistischer Individuen. Das Ablassen von der Absicht einer Gesamtmobilisierung der Gesellschaft führte dazu, daß die auf ihrem Alleinvertretungsanspruch bestehende Partei auf den mit dem Sozialismus verbundenen Werten nicht mehr bestehen konnte; In deren Zentrum standen: Gesamtmobilisierung der Gesellschaft für „revolutionäre Ziele" und Zentrierung aller Aspekte des gesellschaftlichen Lebens um eine revolutionäre Vorhut-Partei. Gewerkschaften, Freizeitvereine, womöglich sogar Kirchen waren den Zielen der Partei zu

katholische Soziallehre, die nun als ein verbindlicher Leitfaden der ordnungspolitischen Strategie in Anspruch g e n o m m e n wird." (ebd., 71). 40

D a s g l e i c h e gilt nicht für die T s c h e c h o s l o w a k e i . Hier wurde die Opposition in großem U m f a n g ins Exil getrieben (Schätzungen belaufen sich auf ca. 1 2 0 . 0 0 0 ) . Berufsverbote und Verhaftungen schwächten die Opposition z u d e m nachhaltig. Dazu Ilja Srubar, „Elitenwandel in der T s c h e c h i schen Republik", in Aus Politik

und Zeitgeschichte

B 8 / 1 9 9 8 , 2 1 - 3 3 , hier 22.

41

A d a m Michnik, „Was wir w o l l e n und w a s wir können", 3 3 - 5 0 , hier 42.

42

V g l . V a c l a v Havel, Versuch

in der Wahrheit

zu

leben.

92

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

unterwerfen und z u deren „ T r a n s m i s s i o n s r i e m e n " zu m a c h e n . Ein N e t z selbständiger, u n a b h ä n g i g e r V e r e i n i g u n g e n war das, „ w a s das leninistische H e r r s c h a f t s m o d e l l grundsätzlich verpönt hatte." 4 3 . U m die u n a b h ä n g i g e n V e r e i n i g u n g e n dulden z u k ö n n e n , mußte die k o m m u n i s t i s c h e Politik v o n d e m , w a s Winfried Thaa „Zielorientierung" genannt hat, abrücken und über e i n e n langen Schatten springen. 4 4 S c h o n im K o m m u n i s t i s c h e n M a n i f e s t

kritisieren

M a r x / E n g e l s die anarchische Struktur des Marktes und bestreiten W i r k s a m k e i t und Rationalität seiner „unsichtbaren Hand". A u f d i e s e frühe V i s i o n marktwirtschaftlicher „Irrationalität" konnte sich die Zielorientierung materieller Rationalität der k o m m u n i s t i s c h e n P l a n u n g s p h a n t a s i e n stützen und Legitimation für e i n e entsprechend g r u n d l e g e n d e gesellschaftliche Umgestaltung schöpfen. Diese Umstellung gesellschaftlicher Steuerung setzte j e d o c h die Elite d e s Parteiapparates unter großen Druck. M u ß t e n sie d o c h unter d i e s e n U m s t ä n d e n im Idealfall für e i n e den B e d ü r f n i s s e n der G e s e l l s c h a f t a n g e paßte Formulierung und Einhaltung v o n Z i e l v o r g a b e n sorgen. D i e s e n A n f o r d e r u n g e n z e i g t e sich die N o m e n k l a t u r a nicht g e w a c h s e n . Z u n e h m e n d s c h l u g d i e S t e u e r u n g der Politik in e i n e G ä n g e l u n g der B e v ö l k e r u n g um, die sich ihre B e d ü r f n i s s e nicht länger v o n den Eliten d e s L a n d e s diktieren lassen w o l l t e . N i c h t e i n g e h a l t e n e Z i e l v o r g a b e n s c h l u g e n direkt a u f die Legitimität der Parteielite durch. 4 5

43 44

45

Charles Taylor, „Beschwörung der Civil Society", 52. Vgl. Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Ost- und ostmitteleuropäische Gesellschaften zwischen autonomer Gestaltung und Adaptation westlicher Modernisierungsmodelle", 32. Auch Winfried Thaa nimmt sich dieser Kategorie an in: Die Wiedergeburt des Politischen. Nicht zuletzt Erkenntnisse dieser Art sind es, die den Fragen der politisch-kulturellen Gegenkultur aus den Reihen der ehemaligen Opposition Gewicht verleihen. Auch wenn wir hier die Diskussion über die Gründe für den implosionsartigen Zusammenbruch des Kommunismus nicht ausführlich darstellen können - vgl. dazu ausfuhrlich Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen, Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt/M. 1994. - sei doch auf einige Punkte hingewiesen. Obwohl sich in den 80er Jahren zahlreiche grundlegende Strukturkrisen kommunistischer (zielrationaler) Herrschaft herausgestellt hatten, rechneten westliche Sozialwissenschaft wie auch östliche Funktionärseliten gleichermaßen mit einer hohen Stabilität des kommunistischen Blocks. Dies mag u.a. am Ausbleiben manifester sozilaer Krisen gelegen haben. So lassen sich womöglich auf einer Makroebene langfristige Tendenzen mit dem Muster modernisierungstheoretischer Erklärungen als Ausgleich des Modernitätsgefälles zwischen Ost und West erfassen. Aber der Zeitpunkt und die Art und Weise des Kollapses lassen sich nur sehr bedingt aus den Leistungsdefiziten des polit-ökonomischen Systems erklären. Dieses Erklärungsdefizit hat dafür gesorgt, daß der Blick von den Funktionskrisen des Systems auf mögliche Legitimitätskrisen des Kommunismus gelenkt werden kann, seien sie nun endogener oder exogener Natur. Dazu gehören: „offizielle Verurteilung des bisherigen Sozialismusmodells in der Sowjetunion, die veränderte internationale Situation und die sowjetische Abkehr von der Breschnew-Doktrin, eine bereits länger anhaltende ökonomische Stagnation, das definitive Ende breiter sozialer Aufstiegschancen, (die in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten in allen sozialistischen Ländern wesentlich zur Sozialintegration beigetragen hatten) die auch unter Funktionsträgern des Herrschaftssystems zunehmende Unglaubwürdigkeit der ideologischen Legitimation und schließlich, im Ergebnis der genannten Prozesse, eine deutliche Entleerung der sozialistischen Zielkultur." (Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen, 91).

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

93

Hierbei ist zu ergänzen, daß die Regulierung der Wirtschaft, verbunden mit der dadurch angestrebten Verteilungsgerechtigkeit noch die größte Unterstützung innerhalb der sozialistischen Gesellschaft Polens fand. Verteilungsgerechtigkeit war ein so wichtiger Wert in der polnischen Gesellschaft, daß deren Mißachtung von Seiten einer Korruption und Günstlingswirtschaft duldenden Partei nicht folgenlos bleiben konnte. Folge war „an increasing convergence of the levels of power, wealth, education (at least in the formal sense), and also prestige, which obviously contradicted the regime's official allegiance of egalitarianism." 46 In dieser massiven Vertrauensverletzung sieht der polnische Soziologe Janicka einen der Grundpfeiler für eine neue soziale Bewegung, die sich nicht entlang der alten sozialen Konfrontationslinien Arbeiter/leitende Angestellte/Intellektuelle orientierte. Janicka merkt an, daß die „crystallization of views involving social conflict [was] not correlated with occupational categories" und er schließt daraus, daß die schichtenübergreifende Sichtweise der Menschen die Grundlage für die neue Sozialintegration leisten konnte und die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung einer sozialen Bewegung war, die sich der Politik der Jahre 1976-80 widersetzte. 47 Aus diesem Grund macht es auch Sinn, den Wiederaufbau der civil society in Polen als „lebensweltliche Rekonstruktion politischer Zivilgesellschaften(...) nicht als Aufbau einer sozioökonomisch strukturierten Gesellschaft im Sinne Hegels" zu verstehen. „Der Ursprung der civil society lag in diesem politisch-geographischen Raum vor allem in der Politisierung individueller Moralvorstellungen. Das soziale Vakuum", das wegen des Mangels an „authentischen Sozialbeziehungen" entstand, „wurde durch moralische, kulturelle, und nationale Gegenidentitäten überbrückt." 4 8 Es ging nicht um die Verteilung ökonomischer Ressourcen, sondern um kulturelle Entfaltungs- oder Sinndeutungsmöglichkeiten und um „Fragen der Rekonstruktion von Gemeinschaftsbezügen, kultureller und sozialer Wertorientierungen sowie der Öffentlichkeit als einer eigenständigen Sphäre." 4 9 Nun ist es für uns interessant nachzuvollziehen, inwieweit die an die civil societyDiskussion anschließenden Beiträge, eine substantielle Gegenidentität, im Stile eines Freund-Feind-Musters propagieren. In der heutigen polnischen Debatte taucht dieser Konflikt als formalistisch-westliches und substantialistisch östliches Denken wieder auf. 50 In der unterschiedlichen Bewertung von Solidarnosc zeigt sich exemplarisch diese Ambivalenz. Die Erklärung von Solidarnosc als Arbeiterbewegung oder als Bewegung,

46

Jan Kubik, The Power of Symbols Fall of State Socialism

in Poland,

against

the Symbols

of Power.

The Rise of Solidarity

and the

University Park 1994, 242. Soziologische Studien von 1980/81

haben gezeigt, daß Egalitarismus immer noch einer der führenden Werte der Polen war. Vgl. dazu ebd., 243; auch Melanie Tatur, Solidarnosc

als

Modernisierungsbewegung.

47

Janicka, zitiert nach Jan Kubik, The Power of Symbols,

48

Winfried Thaa, Die Wiedergeburt

49

Zitiert nach ebd., 49.

50

des Politischen,

242.

19/20.

Vgl. Melanie Tatur, „Politik im Transformationsprozeß. Aspekte des politischen Diskurses in Polen 1989-1992", 48.

94

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

die dem Lager der Reformkommunisten z.B. um Michnik/Kuron u.a. entsprang, spaltet die wissenschaftlichen Beobachter. 5 1 Zwei große Thesen standen sich zur Erklärung von Solidarnosc unversöhnlich gegenüber. Die einen betonten die syndikalistischen Arbeiterwurzeln und die anderen die Wurzeln der reformorientierten Intellektuellen. Schauen wir zuerst auf diejenigen, die von der Arbeiterbewegung Solidarnosc sprechen. Sie betonen, daß die Forderungen der Arbeiter auf unabhängige Gewerkschaften im Mittelpunkt von Solidarnosc stehe. „In the aggregate, the first demand, calling for free and independent trade unions, was a product of all that coastal activists had learned about organizing a popularly based democratic movement in Poland. This included not only the tactical lessons of the period from 1968 to 1975 - touchstones of experience that were important in dealing with the working class and the state - but also the lessons of 1976-77 (unknown in Warsaw) and the particular ways coastal activists had built upon them in 1978-79. These experiences were instructive for working-class activists in dealing with their fellow workers, the state, and with society as a whole." 5 2 Einzig aus den Erfahrungen der Arbeiter im Aufbau unabhängiger Gewerkschaften sollen die Entstehung und das Wesen von Solidarnosc erklärbar sein. 53 Weniger einseitig, aber vom Schwerpunkt her in die gleiche Richtung argumentierend, liest es sich bei Roman Laba: „There would not have been a Solidarity without the intellectuals, but the Solidarity they joined was built on the framework developed by workers. In other words, the roots of Solidarity were in the Baltic working class, and the intellectuals made a necessary but not causal or creative contribution." 4 (Hervorhebung von mir) Solidarnosc, so die These des Autors, ist eine Arbeiterbewegung. Hier wird vom klassischen Bild der Arbeiterklasse ausgegangen und die Intellektuellen, die ebenso eine geschlossene Klasse darstellen, haben die Bewegung nicht gegründet, sondern sind ihr beigetreten. Den Charakter der unabhängigen Gewerkschaft haben die Arbeiter festgelegt. Laba geht in seinen Argumentationen am weitesten, wenn es um die Exklusion

51

So hat man Analysen wie J. Rupnik's „The end of Revisionism and the Rebirth of Civil Society" oder auch Aleksander Smolar's „The Polish Opposition", die beide davon ausgehen, daß sich in Überwindung des Revisionismus, einem nebenbei bemerkt recht fragwürdigen analytischen Begriff, und den überkommenen Gedanken der Reformkommunisten die Idee der civil society ergeben hat. Von der Arbeiterklasse, von Streiks und unabhängigen Gewerkschaften ist da überhaupt nicht die Rede und eben auf der anderen Seite Arbeiten wie die von Goodwyn oder noch extremer Laba, die von der Verwurzelung der politischen Opposition in der Arbeiterklasse ausgehen.

52

Lawrence Goodwyn, Breaking the Barrier.

53

Zu einer gänzlich anderen Einschätzung kommt Kennedy wenn er schreibt, „The March events, and indeed the entire post-October history of opposition seems to be dominated by the protests of intellectuals rather than working-class opposition." Dies habe sich, so Kennedy, erst 1970 geändert. Michael D. Kennedy, Professionals, Power, and Solidarity in Poland. A critical sociology of Soviet-type society, Cambridge/New York 1991.

54

Roman Laba, The Roots of Solidarity. tization, 178.

The Rise of Solidarity

A Political

Sociology

in Poland,

of Poland's

30.

Working Class

Democra-

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

95

von KOR und deren Bedeutung als Vorbereitungsorganisation von Solidarnosc geht. 55 D a es jedoch eine große personelle Kontinuität zwischen KOR und Solidarnosc gab, kann man den Zusammenhang bei näherer Betrachtung nicht vollständig leugnen. Um für Solidarnosc dennoch den Charakter der Arbeiterbewegung reklarmieren zu können, bedient sich Goodwyn eines keineswegs plausiblen Kunstgriffes: „what K O R did achieve was absolutely vital...Through the creation of 'fraternal association' with the indigenous activists of the social groups most in need in society...the men and women of KOR gave organizational birth to civil society in Leninist Poland." 5 6 Aber nicht als Ideengeber haben sie Einfluß genommen, sondern als Aktivisten, so Goodwyn weiter: „the people of KOR, through their actions rather than through their political ideas or their literary skill, gave hope to a nascent social dream." 5 7 Diese keineswegs überzeugende Argumentation ruht auf dem Versuch, die Trennung zwischen Handeln und Idee, zwischen den aktiven und den denkenden Teilen der Gesellschaft wider jede Logik aufrechtzuerhalten. Auf der einen Seite stehen dieser Logik folgend diejenigen, die aktiv die Gesellschaft verändern, und auf der anderen Seite stehen die, die folgenlos bloße Ideen produzieren. Wollen Letztere Einfluß ausüben, müssen sie sich den handelnden Personen anschließen und den von diesen vorgegebenen Rahmen einhalten. Dabei wird das von der polnischen Soziologin Jadwiga Staniszkis beschriebene Dilemma von Arbeiterprotesten in sozialistischen Gesellschaften unterschätzt. Sie können ihren Protest und ihre Forderungen zwar ausdrücken, geraten damit aber in die Nähe des Regimes, welches die ganzen revolutionären Begriffe der Arbeiterbewegung im Laufe der Zeit abgenutzt oder gar umgewertet hat. 58 Weitaus überzeugender erscheint mir die von Jan Kubik vorgestellte Synthese, die eine sterile Gegenüberstellung von Handeln und Ideen aufzulösen verspricht und die These vorstellt, daß sich im Umfeld von Solidarnosc eine neue soziale Gruppe gebildet hat, die auf der Basis geteilter Werte im kulturell-politischen Bereich entstanden ist und sich mittels „public symbolic action" ein eigenes Selbstverständnis geschaffen hat. 59

55

Im Umfeld des KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter), das 1976 gegründet wurde und sich 1978 in Komitee zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung umbenannte, wurde zum ersten Mal von der Wiedergeburt der civil society gesprochen. Writing not long before the emergence of Solidarity, Jacques Rupnik, an émigré Czech intellectual then living in England, characterized the situation in Poland between 1968 and 1978 as „the end of revisionism and the rebirth of civil society"." (Z.A. Pelczynski, „Solidarity and the Rebirth of Civil Society,

1976-81",

361.)

Pelczynski spricht hier von dem Aufsatz von Jacques Rupnik, „Dissent in Poland, 1968-78: the end of Revisionism and the Rebirth of Civil Society". 56

Roman Laba, zitiert nach Jan Kubik, The Power of Symbols,

57

Lawrence Goodwyn, zitiert nach ebd., 231.

58

Vgl. Jadwiga Staniszkis, zitiert nach Michael D. Kennedy, Professionals, Poland,

59

231. Power, and Solidarity

in

45.

Jan Kubik, The Power

of Symbols,

231. Ähnliche Konsequenzen, wenn auch viel vorsichtiger

zieht Kennedy, wenn er feststellt, daß die Opposition von einer Sprache des Revisionismus zu einer Sprache wechselte, die den Gegensatz zwischen der Gesellschaft und der Macht/der Autorität aufbaute. „What changed the language of the opposition from a vocabulary based on revisionism

96

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

Kubik kann unter Rückgriff auf empirisches Forschungsmaterial über die polnische Sozialstruktur zeigen, daß es einen neuen Antagonismus gegeben hat, der die alte Klassentrennung umklammerte. „What happened in Poland in the late 1970s and early 1980s can be then construed as a confrontation between the entrenched political-economic-cultural class and an emergent social entity, which may be labeled the culturalpolitical class in statu nascendi.This cultural-political class was made up of workers or intellectuals but of all those who subscribed to a system of principles and values, usually referred to as counterhegemonic, unofficial, independent, or alternative-who visualized the social structure as strongly polarized between 'us' ('society', 'the people', etc.) and 'them' ('the authorities', 'Communists', etc.)." 60 In dieser Rhetorik kommen die Versuche der Opposition zum Ausdruck, eine enge Verbindung zur Gesellschaft herzustellen, also eine Sprache zu finden, die der kommunistischen Rhetorik überlegen ist. Helga Hirsch folgt dieser These, wenn sie die Überzeugung vertritt, die Opposition sei stärker mit der Gesellschaft und der in ihr vorherrschenden Werte verbunden gewesen als die Regierung. 6 1 Der polnische Sprachgebrauch weist auf den Dualismus von Gesellschaft und Macht hin. Der Begriff der Gesellschaft (spoleczenstwo) steht im Gegensatz zum Begriff der Macht (wladza). Helga Hirsch: „Im okkupierten Polen kennzeichnete G e s e l l s c h a f t ' die Gesamtheit der Organisationsformen außerhalb der staatlichen Sphäre, die dem Volk neben der Sicherung wirtschaftlicher Interessen auch eine gewisse Befriedigung kultureller, weniger: politischer Bedürfnisse ermöglichte." 6 2 Wichtig ist dabei der Hinweis, daß „die Gesellschaft" auch ohne Organisationen durch ihre gemeinsame Haltung, ihre geteilten Grundüberzeugungen, durch die Tradierung historischer Kenntnisse, durch Konservierung von politischen Denkmustern der Vorkriegszeit zusammengehalten wurde. Die innere Differenzierung der Gesellschaft trat hinter der Opposition gegen „die Macht" zurück. Es wäre sicherlich falsch, davon auszugehen, daß dieses Gemeinschaftsgefühl immer der inneren Differenzierung der Gesellschaft überlegen gewesen war. Wenn man aber die Überlegungen Hirschs zugrundelegt, die sich auch bei Tatur 6 3 bestätigt finden, läßt sich sagen, daß diese Gemeinsamkeiten mobilisiert werden konnten, daß es „Erzählungen" gab und Begriffe, die an dieses Gemeinschaftsgefühl erinnerten und die verbindenden Elemente der Gesellschaft gegen die Macht im kollektiven Gedächtnis wachhielten, im Sinne der von Taylor oben erwähnten republikanischen Wurzeln der polnischen Nation. Die Wurzeln reichen zurück in die Adelsdemokratie, die keinen individualistischen, sondern einen kollektivistischen Einschlag hatte. Partizipation und Bürgerrechte wurden großzügig verteilt, aber ohne die „frühkapitalistischen, individualistischen und liberalen Werte..., die in Westeuropa der Antrieb der Modernisierung

60 61

62 63

to one based on conflict between society and the authorities?" (Michael D. Kennedy, Professionals, Power, and Solidarity in Poland, 30.) Jan Kubik, The Power of Symbols, 236. Helga Hirsch, Bewegungen für Demokratie und Unabhängigkeit in Polen 1976-1980, Mainz 1985,10. Ebd., 11. Melanie Tatur, Solidamosc als Modernisierungsbewegung.

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

97

waren." 6 4 Diese Kraft der Adelsrepublik schien so starken Einfluß über die Jahrhunderte auf die politische Kultur Polens gehabt zu haben, daß sich Ausläufer noch in dem Auftreten Solidarnoscs wiederfinden ließen. „Der adlige Ethos war in der Bewegung der Solidarnosc deutlich erkennbar, mit ihrem magischen Glauben an die Kraft der unmittelbaren Demokratie, an die Kraft der politischen Entscheidungen, die in wesentlichen Dingen einstimmig sein mußten, an die spezifisch adlige Vorstellung von der Nation, als einer gigantischen Familie, einer nicht nur politischen, sondern auch moralischen Gemeinschaft. Antiautoritarismus ging mit Kollektivismus einher." 6 5 Wenn 1976 als ein Wendejahr in der politischen Geschichte Polens gilt, dann, weil es als Beginn eines organisierten Gegendiskurses verstanden werden kann. Nicht die Akteure waren andere als vor 1976 und auch nicht die Inhalte. Aber mit der Gründung des K O R und der um sie herum gruppierten Diskurse begann die Zeit eines organisierten „counterhegemonic discourses" 6 Zentrales Thema dieses Gegendiskurses war die Trennung zwischen Partei/Staat und Gesellschaft, der Verzicht auf eine direkte Einwirkung der Gesellschaft auf den Staat im Konzept der self-limiting revolution und einer damit verbundenen neuen Politik (Antipolitik). Da eine Trennung von Staat und Gesellschaft angesichts vielgestaltiger Interpenetrationen nicht erfahrbar war, mußte sie diskursiv/symbolisch vor Augen geführt werden: „The rejection of Gierek's „master fiction" by large segments of the populace became possible only when the Church and the opposition developed their own counterhegemonic discourses and presented them publicly. By so doing they undermined the regime's monopoly on social communication and furnished the people with conceptual and symbolic tools to define the social reality afresh." 6 8 Die neue Sprache, die von der Opposition gesprochen wurde, brach mit Traditionen nationaler Konfrontation, wurde über die Grenzen hinweg verstanden und brach innergesellschaftliche Ressentiments, z.B. zwischen Kirche und Intellektuellen in Polen auf. Der oben beschriebene Dualismus zwischen moralisch/religiösen, individuellen und Gemeinschaft bildenden substantialistischen Werten auf der einen Seite und verfahrensrationalen, universalistischen Werten auf der anderen Seite kommt in der Auseinandersetzung um die Strategie von Solidarnosc zum Ausdruck. Hier steht der Versuch, die neue politisch-kulturell entstandene Klasse im Dualismus von „wir" gegen „sie" aufrecht zu erhalten, was gleichbedeutend war mit der Absage an jede Form der Kooperation mit der politischen Elite: also keine Verhandlungen, kein Gesellschaftsvertrag,

64

Ewa Kobylinska, „Unter der Last der Nation. Der polnische Nationalismus - seine Stärke und seine Schwäche", 417.

65

Ebd., 418.

66

Jan Kubik, The Power of Symbols,

67

„The categories of civil society are not extraneous to the Polish events. The participants

5.

themselves and their Western collaborators have characterized their struggle in terms of society against the state." Andrew Arato, „Civil Society against the State: Poland 1980-81", 23; Vgl. dazu auch: ders., „Empire vs. Civil Society: Poland 1981-82", in Telos 50 (1981/82), 19-48 und ders., „Social Theory, Civil Society, and the Transformation of Authoritarian Socialism", in Ferenc Feher/ Andrew Arato (Hg.), Crisis and Reform in Eastern Europe, N e w Brunswick 1991, 1-26. 68

Jan Kubik, The Power of Symbols,

73.

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

98

keine Verantwortung. Dort stehen die anderen, auf Mitverantwortung, notwendigerweise auch auf Kooperation, gemeinsame Planung, Kommunikation mit der politischen Führung ausgerichteten Teile der Solidarnosc. Diese wollten Bedingungen aushandeln, mußten dann aber die innere Kohäsion auf Basis gewonnener Feindbilder aufgeben. Ersteres findet sich in der Strategie der self-limiting revolution wieder. Letzteres in dem Versuch von Solidarnosc, ihre Vorstellungen von Vergesellschaftung in die Gesellschaft hineinzutragen und im Sinne einer anspruchsvollen Definition von Zivilgesellschaft die gesamte Gesellschaft auf die Werte der zivilen Gesellschaft umzustellen und die Macht herauszufordern, also politisch zu werden und nicht antipolitisch zu bleiben.

1.3. Adam Michniks „Neuer Evolutionismus" Wie oben schon angedeutet, kam den für einen Aushandlungsprozeß verantwortlichen Ideen und Intellektuellen eine besondere Bedeutung im „re/ölutionären" (Ash) Prozeß Ostmitteleuropas zu. Wichtiger polnischer Vordenker war Adam Michnik. Er ist zusammen mit Jacek Kuron einer der wichtigsten Vertreter von K O R und später Solidarnosc gewesen. Beide erarbeiteten die Leitlinien für das KOR und waren von Gründung an Berater für Solidarnosc. Michnik selber prägte den Begriff „Neuer Evolutionismus" 6 9 für Strategie und Selbstverständnis der politischen Opposition in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Er setzte sich damit von den Reformbewegungen innerhalb der kommunistischen Partei (PVAP) ab, die bereits ausführlich besprochen wurden. Ebenso ging er auf Distanz zu den Aktivisten um die katholische Gruppe Znak - Michnik nennt sie Neopositivisten die im Sejm Einfluß auf die Politik zu nehmen versuchten. „Revisionisten und Neopositivisten waren sich in einem Punkt einig: sie hofften beide darauf, daß eine Veränderung von oben ihren Zielen den Weg ebnen würde. Beide erwarteten ein günstiges Resultat von der Evolution der Partei - und zwar durch eine realistische Politik, die von intelligenten Führern durchgesetzt würde. Keine der beiden Gruppen zog auch nur in Betracht, diese Entwicklung durch die Mittel konstanten Drucks der Gesellschaft zu verstärken. Sie verließen sich eher auf die Vernunft eines .kommunistischen Fürsten' als auf den Kampf zur Errichtung unabhängiger Institutionen, welche die Macht hätten kontrollieren können." 7 0 Michnik setzte dagegen auf die „Wiedergeburt des öffentlichen Lebens" 7 1 , auf zivilen Ungehorsam und alternative, unabhängige Organisationen. Er würdigte in diesem Zusammenhang die Leistungen der Reformmarxisten. Sie waren es, die zur öffentlichen Teilnahme inspirierten, die die Überzeugung verbreiteten, daß man etwas tun könne und müsse. Für Michnik wurde jedoch klar, daß sich die Reformwilligen nicht mehr an die Partei, sondern an die Gesellschaft, konkret: an die Arbeiter wenden mußten, wenn sie Erfolg haben wollten. „Das wesentliche Element in der Konzeption des ,neuen Evolutionismus' ist die Überzeugung von der Stärke der

69

A d a m Michnik, „Der neue Evolutionismus", 40-54.

70

Ebd., 41/42. Ebd., 43.

71

Grundlagen zivilgesellschaftlicher Entwicklung

99

Arbeiter, die durch ihre feste und entschlossene Haltung der Regierung bereits einige spektakuläre Konzessionen abgerungen haben." 72 Nur von Seiten der Arbeiter, also einer breiten Basis, so Michniks Überzeugung, könne es zu langfristigen Veränderungen kommen. 73 Adam Michnik steht aber nicht nur für eine Verbindung der Intellektuellen zu den Arbeitern, sondern auch für die zur Kirche. Mit einem vielbeachteten Buch („Die laikale Linke und die Kirche") reflektierte er die Möglichkeit eines gemeinsamen Programms. Auf beiden Seiten, so Michnik, erfordere dies Lernprozesse: die Kirche mußte lernen, daß es nicht der Atheismus war, der den Kern der stalinistischen und post-stalinistischen Greuel ausmachte, sondern die gegen die Menschen und Bürger gerichtete Gewalt und die Zerstörung des Pluralismus. 4 Lernbereitschaft wurde aber auch von den Linken gefordert, die aufhören mußten, in der Kirche den Kern des Konservatismus und Revisionismus zu sehen. Die Intellektuellen konnten aus ihrer Annäherung an die Kirche lernen, wie eine soziale Bewegung außerhalb der offiziellen Politikstrukturen Opposition gestalten kann. Für die Intellektuellen mußte es heißen: Schluß mit der Anbiederung an die Macht. 75 In einer Überschrift deutet Michnik an, welchen Prozeß er durchlaufen hat, nämlich: „Die mühselige Bewußtwerdung gemeinsamer Werte und Interessen von Christen und Laikaien." 76 Dabei kehrt er zu den Überzeugungen von J.St. Mill zurück: „Die Führer des herrschenden Regimes verstehen oftmals besser als die Kirchenmänner, daß die Ideen der geistigen Erben Mills sich gegen ihre die Persönlichkeiten brechende und die

72 73

74

75

76

Ebd., 50. Aus dem Nachwort von Wladyslaw Bienkowski zu Adam Michnik, Die Kirche und die polnische Linke, München 1980 wird der Begriff Neuer Evolutionismus kurz so beschrieben: „Mit diesem Begriff charakterisiert Michnik das Programm der neuen polnischen demokratischen Opposition. Evolutionismus steht hier im Gegensatz zur Revolution, zum gewaltsamen Sturz des Regimes, der von Michnik und seinen Freunden abgelehnt wird. Denn die geopolitische Lage Polens würde bei einer gewaltsamen Aktion zu einer sofortigen Konfrontation mit der UdSSR und zu einem polnisch-sowjetischen Krieg mit unabsehbaren Konsequenzen fuhren. Andererseits hält Michnik eine freiwillige Änderung des Systems ,von oben', d.h. durch den Partei- und Regierungsapparat nicht mehr für möglich. Statt dessen muß die polnische Bevölkerung - Arbeiter, Intellektuelle, Bauern und Jugendliche - dazu bewegt werden, durch Komiteegründungen, Aktionen und Demonstrationen des Protestes einen permanenten Druck auf die Staats- und Parteimacht auszuüben, um die Herrschenden in Polen auf diese Weise zu Konzessionen zu zwingen und sie vor die Wahl zu stellen ,zwischen Dialog und Terror.'" (Anm.5, 222f.) In dem Essay „Eine mißliche Lage. Polen zwischen Katholizismus und Aufklärung", in ders., Der lange Abschied vom Kommunismus, Reinbek bei Hamburg 1992, 157-196, hier 167. Die Annäherung der Kirche an linke Intellektuelle wurde von der Parteiführung mit Hohn begleitet. Michnik spricht von der Iranisierung Polens. Aus der Sicht der Kommunisten stellte sich die Lage zumindest so ähnlich dar: „Aus dieser Sicht ist die ganze ,Solidarnosc'-Bewegung nichts anderes als die osteuropäische Variante der konservativ-religiösen Revolution der Perser gegen den Modernismus. Die Leute der Solidarnosc seien verknöcherte Traditionalisten, die von einer fanatischen geistigen Mischung aus einer entstellten Abart des Katholizismus und chauvinisierten Formen der romantischen Tradition leben." (Adam Michnik, „Eine mißliche Lage", 170f.) Adam Michnik, Die Kirche und die polnische Linke, 121.

100

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

Gewissen zerstörende, totalitäre Herrschaft richtet und nicht die christliche Religion und die Kirche im Visier hat. Das Konzept eines laizistischen Staates ist heute antitotalitär und nicht antiklerikal. Der offene Konflikt der laizistischen Intelligenz mit der Kirche ist ein - hoffentlich für immer - abgeschlossenes Kapitel der europäischen Geschichte." 7 7 Der Blick in die Geschichte machte auch hier deutlich, wie wichtig es für die neue politische Opposition war, die alten Frontlinien, die vom Marxismus geprägt wurden, zu überwinden. Er kritisierte im Nachhinein das „Schweigen der laikalen Linken zu der 1966 gegen die Bischöfe gestartete Kampagne einerseits, und die (in hohem Maße schmerzliche) Zurückhaltung des katholischen Milieus bei der Verfolgung der Intellektuellen 1968 andererseits." 78 Er kämpfte für neue Allianzen und mußte sich dafür auf eine ganz neue Terminologie einlassen. Michnik gewann nach eigenen Aussagen Ende der 60er Jahre Klarheit darüber, daß der Staat nicht nur eine Trennung von Kirche und Staat vorsah, sondern vielmehr eine Unterordnung der Kirche unter den Staat. „Dieses Bestreben, sich die Kirche unterzuordnen, war jedoch seinerseits wieder Bestandteil einer Politik, die zum Ziel hatte, die ganze Gesellschaft dem Regime unterzuordnen und alle unabhängigen und autonomiefähigen Bestrebungen in der Gesellschaft zu vernichten. Kurz gesagt, es war Bestandteil einer totalitären Politik." 79 Da, „wo sich die Kirche gegen die Inszenierung einer Totalisierung des geistigen Lebens der Gesellschaft zur Wehr setzt", 80 wird eine neue Allianz sichtbar. Der für die Mitteleuropa-Diskussion charakteristische Bezug zur christlichen Tradition des Abendlandes deutet sich in den Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche/Intellektuellen an.

77

Ebd., 123.

78

Ebd., 22.

79

Ebd., 23. Michnik wird dabei bestärkt von einigen Beobachtern, die diese Terminologie aufgreifen und ebenfalls den Totalitarismus-Begriff anwenden. So z.B. Jacques Rupnik:„1968 provided the final proof of the failure of reform and the existence of a permanent „totalitarian" core at the heart of the Communist system." Jacques Rupnik, „Totalitarianism Revisited", 264.

80

Adam Michnik, Die Kirche und die polnische

Linke, 24.

101

Symbolische Strategien der Rückkehr nach Europa

2. Symbolische Strategien der „Rückkehr nach Europa" 2.1. Die Macht der Symbole: „Wir" gegen „Sie" In etatistischen Gesellschaften fehlen aggregierte soziale Interessenlagen, die zum Ausgangspunkt einer Generalisierung von Interessen in sozialen Werten und Normen und Gruppensolidaritäten werden können. Nur auf der Ebene privater Moralvorstellungen gab es in Polen ein polarisiertes Wertesystem, daß über eine entsprechende Politisierung zur Gruppenbildung fähig war. 81 Dies war zum einen die Möglichkeit des Rückzugs in eine moralisch integre Welt, zum anderen die Orientierung am Erfolg in der Gesellschaft. Die politische Opposition, die sich von der Systemterminologie des sozialistischen Projekts abwendete, trieb ihrerseits kulturelle Modernisierungsprozesse voran. Ihre Sprache, die aus dem Potential der „moralisch integren Welt" schöpfte und mit religiösen und kulturell-historischen Motiven durchsetzt war, leistete durch ihre „WeltbildProduktion" eine Strukturierung der sozialen Realität, die über die Kategorien aus der Sozioökonomie nicht geleistet werden konnte. 82 Diese These gibt zwei Ebenen der Betrachtung eine große Bedeutung. Zum einen der Ebene der „public symbolic action", aber auch den Formulierungen der neuen Leitlinien von Vergemeinschaftung und der Formulierung von Weltbildern. Der Verlust an integrativer Kraft der sozialistischen Institutionen führte im Polen der späten 70er und frühen 80er Jahre zu einer schleichenden Anarchisierung der gesellschaftlichen Beziehungen. Die Kommunistische Partei, die ihren Kontakt zur Gesellschaft weiter zu verlieren drohte, machte, um dem entgegen zu wirken, Angebote der symbolischen Integration. Anhand von Redetexten des Gomulka-Nachfolgers Gierek kann Jan Kubik zeigen, daß

81

Adam Michnik formuliert das so: „Das totalitäre System ist durch eine spezifische Verbindung aus menschlicher Demoralisierung und massenhafter Entpolitisierung gekennzeichnet. Der Kampf gegen dieses System bedeutet deshalb bewußte Bezugnahme auf die Moral und unausweichlich politisches Engagement. So entstand das eigenartige Produkt der öffentlichen Szene in Mittel- und Osteuropa, die Zehn Gebote als politisches Programm, die Forderung nach einer antipolitischen Politik." („Osteuropäische Gedanken", in ders., Der lange Abschied

vom Kommunismus,

Reinbek

1992, 116). 82

Kubik schreibt dazu ausführlich: „There is enough evidence to claim that in Poland of the late 1970s through 1989, the cultural-political principle structured social reality in a more profound way than did the socioeconomic principle, although the latter, obviously, did not cease to operate. This is understood in the following way: if we want to comprehend the actions of the Poles who created Solidarity, we must see these actions as not simply related to or determined by their socioeconomic positions, but as an expression of their belonging to an ascending status (cultural) group, which I call a cultural-political class. At the same time, it was precisely these actions that brought the new class into being." (ebd., 237). Vgl. zu diesem Komplex besonders die Arbeiten von Jadwiga Staniszkis, Poland's

Self-Limiting

Revolution,

Princeton 1984, dies: „Dilemmata der

Demokratie in Osteuropa", in Deppe/Dubiel/Rödel (Hg.), Demokratischer Frankfurt/M.

Umbruch in

1991, Melanie Tatur, „Zur Dialektik der .civil society' in Polen", in ebd.

Osteuropa,

102

Zivilgesellschaft und Antipolitik: W e g e zur Idee einer europäischen Mitte?

nationale Symbole, Begriffe wie Patriotismus, Nation und Volk in wichtigen Reden die sonst dominanten, ausschließlich sozialistischen Begriffe überwogen. Mit Giereks zunehmenden Zentralisierungsbestrebungen (s. seine umfassende Reform der Bezirkseinteilung) ging auch eine zunehmende Betonung der ethnischen und kulturellen Homogenität der polnischen Nation einher. So kam es zu, wie Herfried Münkler in einem ähnlichen Zusammenhang formulierte, Ansippungen an historische Konstellationen und Traditionen. Gierek z.B. knüpfte an die Zeit der Piast-Dynastie an, in der Polen von 966 bis ungefähr 1400 in etwa die gleichen Grenzen hatte wie nach 1945. Dagegen wurden die Elemente des Vielvölker- und Vielkulturenreiches des Jahrhunderte währenden Polnisch-Litauischen Großreiches symbolisch nicht vergegenwärtigt. Danach begann die konfliktreiche Ostexpansion des Polnisch-Litauischen Reiches unter zahlreichen Auseinandersetzungen mit den Moskauer Fürsten, die allmählich das Russische Reich entwarfen. Kubik: „A simplified picture, fossilized in the national tradition, presents the Piast state as an ethnically homogenous entity, which had to struggle mostly with its Western neighbor - Germany. By contrast, Jagiellonian Poland remains in the collective memory as a glorious multiethnic and multinational empire successfully containing the major enemy of Poland from the East-Russia. Since the very beginning of its existence, the Polish People's Republic was 'constructed' in the official discourse as an heir to the Piast rather than to the Jagiellonian tradition." 83 Die umfangreiche Umgestaltung der territorialen Verhältnisse Polens nach dem Zweiten Weltkrieg führten das Land wieder in die Grenzen der Piast-Dynastie zurück. Die demonstrative Freundschaft zur Sowjetunion ließ auch keine Erinnerung an das Jagiellonische Großreich zu. Man stellte sich als ethnisch homogenes Land vor. Die politische Opposition, die ihr Projekt als Aufbau einer zivilen Gesellschaft beschrieben hat, ging in ihrer Konstruktion einer geschlossenen moralischen und kulturellen Identität auf Muster und Traditionen des pluralistischen Jagiellionischen Reiches zurück. Diese Symbolisierung basierte auf der Vergegenwärtigung von Traditionen, „die auf die polnische Adelsdemokratie, die Zugehörigkeit zur westlich christlichen Zivilisation und der Kontinuität der polnischen Freiheitskämpfe von den Aufständen gegen die Teilungsmächte bis zum Widerstand gegen die deutsche Okkupation verwiesen." 84 So läßt sich zeigen, daß die politische Opposition in ihrer Semantik eine verstärkte Verwestlichung, die offizielle Partei-Semantik jedoch mit der Tendenz einer Veröstlichung der nationalen Traditionen arbeitete. Ebensolche symbolischen Auseinandersetzungen gab es um den ersten Papstbesuch im Mai 1979, bei dem die Kirche den Mythos um den Heiligen Stanislaus bemühte, der das Gleichgewicht von kirchlicher und säkularer Macht in einem Staat symbolisieren sollte und die große Messe auf dem Siegesplatz in der Mitte Warschaus stattfand, einem Platz der bis dato nur zu offiziellen Staatsereignissen benutzt wurde. Kubik bewertet letzteres als Rückeroberung des öffentlichen Raumes durch das Volk: „For the first time, it was 'our' space in which 'our' pope, representing ' o u r ' Church, was conducting a mass for 'us'. This, perhaps not entirely conscious, realization of the successful

83

Jan K u b i k , The Power

84

Melanie Tatur, „Zur Dialektik der ,civil society' in Polen", 239.

of Symbols,

65.

Symbolische Strategien der Rückkehr nach Europa

103

symbolic reclaiming of a public space might have well been the basic sentiment of the day. For a moment at least, the rules of the social game, which had been blurred by decades of double-talk and double-think, were neatly defined, for 'the symbolic system divides the social realm into ' w e ' and 'they' that is not so divided in social reality.'" 8 5 Zum Papstbesuch gehört ebenso die Erinnerung an die gemeinsamen europäischen Wurzeln als einheitsverbürgender Fiktion, in der die geistige Einheit Europas sich in der polnischen Nation bewahrt habe und von ihr die Aufgabe ausgehe, diese Einheit gegen die Kräfte der politischen und ökonomischen Teilungen Europas zur Geltung zu bringen. Einmal mehr wird hier das Symbol Polens als „antimurale christianitas" bemüht. Die Erinnerung an die westlichen Wurzeln des katholischen Christentums hat den Vorteil beides zu leisten: erstens die Grenzen nach Westen zu öffnen und zweitens die Grenzen nach Osten zu stärken. 86 „(T)he symbolism of religion has become the unique language symbolizing at once the continuity of Polish cultural heritage." 87 Selbstverständlich haben auch die Streikaktionen der Solidarnosc zur Integration beigetragen. Die Vielzahl von Ereignissen und die lange Dauer der Auseinandersetzungen haben die Entstehung einer neuen politischen Kultur begünstigt. Die hier beschriebene Auseinandersetzung zwischend den oppositionellen Deutungsangeboten und denen der Partei läßt sich nicht als Kampf um Macht im politischen Sinne verstehen, sondern muß als Auseinandersetzung um Deutungshegemonie und der dadurch vermittelten Legitimität gesehen werden. Durch die große Bedeutung, die den Weltbildern bei der Frage der kulturellen Modernisierung zukam, waren die Intellektuellen von großer Bedeutung. Sie lieferten die gemeinsame Sprache für diese neue Gruppierung, die, wie Alain Touraine anmerkt, eine Verbindung darstellt von syndikalistischen, nationalen und demokratischen Elementen. 8 8 Jan Kubik spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung einer „cultural-political class". „This culturalpolitical class was made up not of workers or intellectuals but of all those who subscribed to a system of principles and values, usually referred to as counterhegemonic, unofficial, independent, or alternative-who visualized the social structure as strongly polarized between 'us' ('society', 'the people', etc.) and 'them' ('the authorities', 'Communists', etc.)" Diese neue Einheit kann verschiedene Namen bekommen: u.a 89

„'independent society',,parallel polis', ,civil society'". Natürlich war die Strategie der begrenzten Konfrontation, die sich in der Suche nach gemeinsamen kulturellen Wurzeln eines Gegendiskurses manifestierte, auch der geopolitischen Lage Polens geschuldet. Die Führung der Solidarnosc legte das ganze Gewicht ihrer Verhandlungsmasse darauf, zu verhindern, daß sich - wie 1956 in Ungarn und 1968 in Prag - der Konflikt um Reformen, Arbeiterselbstverwaltung und nationale Unabhängigkeit zu einem Konflikt Polen gegen die UdSSR ausweiten würde. Dann näm-

85

Jan Kubik, The Power of Symbols,

86

Vgl. dazu ebd., 143.

139.

87

Aleksander Smolar, "The Polish Opposition", 175-252.

88

Vgl. Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Ost- und ostmitteleuropäische Gesellschaften zwischen auto-

89

Jan Kubik, The Power of Symbols,

nomer Gestaltung und Adaptation westlicher Modernisierungsmodelle", 38. 230f.

104

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

lieh, das wußten Arbeiter wie Intellektuelle gleichermaßen, würde die Kommunistische Partei an Reformen vorbeikommen. Nur die Annäherung der einzelnen Oppositionsgruppen im weiteren Sinne (Kirche, Arbeiter, Intellektuelle) ermöglichte einen erfolgreichen „antihegemonialen Diskurs". 9 0 Aus dem konkreten historischen Zusammenhang der polnischen Opposition und ihres Gegenübers wird deutlich, daß es um eine möglichst pointierte Abgrenzung der Opposition von Partei und Staat ging. Selbstverständlich tat die polnische Regierung (vergleichbar mit anderen sozialistischen und nichtsozialistischen Systemen) im Gegenzug alles, um einen möglichst engen Zusammenhang zwischen Partei, Staat und Volk/Gesellschaft herzustellen. Sie mußte dies allerdings in steigendem Maße auch symbolisch vergegenwärtigen, da sie per definitionem keine intermediären, unabhängigen Institutionen zulassen konnte, an die sie die Aufgabe hätte „deligieren" können. Die Opposition mußte ihrerseits ein reichhaltiges symbolisches Arsenal anlegen, um den Unterschied von Staat und Gesellschaft zu dramatisieren, der sich aus der unmittelbaren Erfahrungswelt nicht erschließen ließ. Es brauchte Interpreten, die ein bestimmtes (Deutungs-) Interesse daran hatten, diesen Unterschied deutlich zu machen. Diese Notwendigkeit spitzte sich paradoxerweise in einer Phase zu, in der der Staat nicht mehr darauf bestand, daß jeder einzelne Bürger jederzeit eine vollständige politische Identifikation mit dem System demonstrierte. So machte die politische Opposition aus ihrem Selbstverständnis heraus nur einen latenten Prozeß öffentlich, indem sie diese beiden Welten („Staat" und „Gesellschaft") benannte. Aber gerade darin bestand der Tabu-Bruch und die besondere historische Leistung der Opposition. Schließlich existierte die Trennung hauptsächlich in den Köpfen 9 1 In der Alltagspraxis fand ein ständiger Austausch statt zwischen der offiziellen Partei/Staatsseite und dem privaten Dasein des Bürgers. So kann Jan Kubik feststellten: „A complicated and usually informal network of mutual connections and dependencies developed and - in practice - blurred the distinction between 'the society' and 'the state'". 9 2 Kubik weiter: „In Polish social life there was, therefore, an incongruity between the (objective, practical) everyday interpenetration and the (subjective, symbolic/discursive) polarization of the Party-state and society. When, after 1976, some groups within the populace and the Catholic Church began developing public counterhegemonic discourses, this incongruity became more pronounced. During the period 1981-89 it came to dominate social life and had a significant impact both on the style of the confrontation between the Party-state and the opposition and on the nature of the Polish post-communist politics." 93

90

Für diesen Schritt ist es ein Hindernis, daß die polnischen Texte, die die Rezeptionsgeschichte der ,civil society' dokumentieren, nicht als deutsche Übersetzung vorliegen. Helmut Dubiel beklagt dies in seinem Aufsatz „Metamorphosen der Zivilgesellschaft I. Selbstbegrenzung und reflexive Modernisierung" in, ders.: Ungewißheit und Politik. Vgl. dort Anm.6, 103.

91

Vaclav Havel hat dies in seinen politischen Essays - u.a. in: Versuch, in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen - und auch in seinen Theaterstücken aufgezeigt. Jan Kubik, The Power of Symbols, 4. Ebd., 5.

92 93

Symbolische Strategien der Rückkehr nach Europa

105

Die Unabhängigkeit der oppositionellen Gesellschaft dokumentierte sich im Begriff der Antipolitik. Gemeinsamkeiten mit den offiziellen Trägern der Politik und deren Rationalität wurden damit negiert. Die Opposition versuchte damit den nicht erfahrbaren Gegensatz von Staat und Gesellschaft symbolisch einzufangen. Wenn im Sinne Hannah Arendts „die Konstituierung von Öffentlichkeit als Überschreitung des Privaten in den öffentlichen Raum" 9 4 verstanden wird, dann konnte für die von totaler Herrschaft gekennzeichnete Vergangenheit Ostmitteleuropas gerade die „Schaffung von Distanz und die Stiftung kommunikativer Zusammenhänge zwischen den Individuen" als wichtiger Prozeß zur Herstellung einer sich assoziierenden Öffentlichkeit verstanden werden. Insofern kann hier schon einmal angedeutet werden, „daß die A n k n ü p f u n g an religiöse Identitäten und familiäre Kontaktnetze auch die Wiederkehr des öffentlichen Raums statt der archaischen Kräfte in der von Dahrendorf befürchteten Weise herbeiführen kann." 9 5

2.2. Zivilgesellschaft zwischen Ost und West Die neue Opposition der 70er Jahre versuchte mit Hilfe einer neuen Semantik und einer vollständig veränderten Gesellschaftsanalyse „die verhärteten und unbrauchbar gewordenen, ideologisch-dogmatischen politischen Wissensbestände (...) zu überwinden." 9 6 Zur Beschreibung dieser politischen Veränderungen wurde der Begriff der „civil society" in die Legitimationsdebatte ostmitteleuropäischer Oppositioneller der 70er und 80er Jahre eingebaut und hat dort die Strategie der Opposition maßgeblich angeleitet Zudem hat er zur Beschreibung der entstehenden unabhängigen Strukturen hauptsächlich im kulturellen und politischen Bereich gesorgt. In der Tschechoslowakei sprach man auch von der „unabhängigen Gesellschaft" oder der „parallel polis". 97 Der normative Kern des Begriffs bezieht sich auf die Verwirklichung klassischer bürgerlicher Freiheitsrechte und die modernen Rechte der Kommunikation. Beide sollen die „Artikulation der realen konflikthaften Vielfalt von regionalen, lokalen, professionellen und autonomen Meinungen und Interessen möglich machen." 9 8 Darüber hinaus besitzt das Konzept noch einen utopischen Impetus, der eng mit dem Begriff der Antipolitik ver-

94

95

96

97

98

Vgl. Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, die sich hier auf Hannah Arendt bezieht, in: dies.: „Konstituierung des Politischen als Einlösung der,Zivilgesellschaft' in Osteuropa?"; 227. Ebd., 233. Vgl. auch Melanie Tatur in ihrem Aufsatz über die polnische Gesellschaft, wo sie sich mit Dahrendorfs Warnung vor der „nostalgischen Sehnsucht nach Gemeinschaft" auseinandersetzt. Dazu: Ralf Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, Stuttgart 1990; Melanie Tatur, „Die Bedeutung der statistischen Gesellschaft' in Polen für die soziologische Theorie", 293, in Leviathan 20.Jg. (1992), 292-304. Theo Stammen, „Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels", in Aus Politik und Zeitgeschichte BIO/1993, 22-29, hier 24. Gordon H. Skilling, "Parallel Polis, or An Independent Society in Central and Eastern Europe. An Inquiry", in Social Research, 55. Jg. (1988), 211-246. Rainer Deppe/ Helmut Dubiel/ Ulrich Rödel (Hrsg.) Demokratischer Umbruch in Osteuropa, 11.

106

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

koppelt ist. Er zeigt einen Zustand auf, in dem „die Gesellschaft nicht als geschlossenes, fest gegliedertes, politisches Projekt'" begriffen werden soll." Darüber vermittelt wurde der Begriff der civil society zu einem Instrument der Kommunismus- und Transformationsforschung 100 , indem er einen Sollzustand einer über gesellschaftliche Akteure gesteuerten civil society vorzeichnete und ist zu einem wichtigen Begriff innerhalb der demokratietheoretischen Debatte um die gesellschaftlichen Voraussetzungen funktionierender Demokratien geworden. 101 Die analytische Schärfe des Begriffs wurde jedoch immer wieder in Frage gestellt. So schreibt Andrew Arato: „intellectuals associated with contemporary social movements in Eastern Europe (especially the Charta 77 and Solidarity) (...) have relied on eclectic syntheses of diverse elements of the concept. They presuppose something like the Gramscian tri-partite framework of civil society while preserving key aspects of the Marxian critique of bourgeois society. But they have also integrated the claims of liberalism on behalf of individual rights, the stress of Hegel, Tocqueville and the pluralists on a plurality of societal associations and intermediations, the emphasis of Dürkheim on the component of social solidarity, and the defense of the public sphere and of political participation stressed by Habermas and Arendt." 102 Das civil society-Konzept also ein ideengeschichtlicher Gemischtwarenladen? Was ist das fur ein Konzept, das Marx und Arendt - könnte man sich stärkere Antipoden in der Ideengeschichte vorstellen? - zusammenwirft? Dieser Eklektizismus erklärt sich daraus, daß die civil society als Oppositionsstrategie etwas anderes leisten mußte als die civil society als demokratietheoretisch-analytisches oder utopisches Zielkonzept. Als Oppositionsstrategie mußte sie eine dreifache Aufgabe erfüllen: a) Sie mußte semantisch einen Schnitt gegenüber der Terminologie des Reformkommunismus verdeutlichen, der immer noch an der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des sozialistischen Projekts hängen blieb. Der Begriff der civil society konnte dagegen das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Sozialismus in den Blick nehmen und eine grundsätzliche Kritik daran thematisieren; b) Sie mußte begrifflich den Widerspruch der Einheit in der Vielfalt fassen können; der Einheit der Gesellschaft gegenüber dem Staat und ihre tatsächliche Pluralität angesichts der vereinheitlichenden Tendenzen des Staates; c) Sie mußte den Weg zurück nach Europa be-

99 100

Ebd. Z. A Pelczynski, „Solidarity and ,The Rebirth of Civil Society' in Poland, 1976-81", 361-380; Jacques Rupnik, „Dissent in Poland, 1968-78: the end of Revisionism and the rebirth of the Civil Society", 60-112; ders., „Totalitarianism Revisited", 263-289; Andrew Arato, „Social Theory, Civil Society, and the Transformation of Authoritarian Socialism", 1-26; Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen.

101

Beispielhaft neben anderen: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990; Rödel/ Frankenberg/ Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt/M. 1989; Jean Cohen und Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, Cambridge/London 1992.

102

Jean Cohen und Andrew Arato, „Politics and the Reconstruction of the Concept of Civil Society", in Honneth/McCarthy/Offe/Wellmer, Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt/M. 1989, 483.

Symbolische Strategien der Rückkehr nach Europa

107

reiten, der durch die Anknüpfung an die von Marx und den Marxismus abgelehnte bürgerliche Gesellschaft symbolisch vollzogen wurde. Dies konnte dann in analytischer Absicht genauso unter Rückgriff auf Hegel, Locke oder Montesquieu geschehen. Wichtiger als die konkrete Frage eines liberalen oder republikanischen Verständnisses von bürgerlicher Gesellschaft oder societas civilis war dann die symbolische Vergewisserung gemeinsamer europäischer Kulturgüter, egal wie widersprüchlich diese als normative Zielpunkte waren. Kritiker haben eingewandt, daß wir es aus diesem Grund mit einer rein östlichen, zeitgebundenen Erfahrung zu tun haben, die an den engen Kontext prärevolutionärer Ereignisse gebunden war. Letzteres könnte Unterstützung darin finden, daß sich der gesamte postrevolutionäre Transformationsprozeß als West-Ost-Transfer darstellen ließe. 103 Und war nicht tatsächlich die Situation wie oben beschrieben von einem einfachen Dualismus gekennzeichnet, der für westliche pluralistische Gesellschaften keine weiterfuhrenden Übertragungen erlaubt? Die Thesen lauten, daß es zu elitären Verkrustungen im Stil von Avantgard-Mentalitäten gekommen sei (Benhabib, Brunkhorst), also die notwendige Verbreiterung der demokratischen Basis mit Hinweis auf die eigenen Leistungen bei der Transformation aufgeschoben oder gar aufgehoben würden mit der Folge von „entdifferenzierenden Auswirkungen für die Institutionenbildungsprozesse". 1 4 Dort wo Intellektuelle, ihre kulturellen Diskurse und die damit verkoppelte Dominanz der semantischen Ebene die Übergangsprozesse bestimmen, könne zwar kurzfristig von einer Zivilgesellschaft im Vergleich zur etatistischen Gesellschaft gesprochen werden, aber auf Dauer nicht vergleichbar mit den auf einer pluralistischen Kultur aufruhenden westlichen Demokratien. Folgt man diesen Überlegungen führen die zivilgesellschaftlichen Erfahrungen Ostmitteleuropas z.T. vormoderne Homogenitätsvorstellungen ins Feld, die einer Modernisierung der westlichen Gesellschaften eher feindlich gegenüber stehen. Daß mit der civil society in ihrem antipolitischen, moralisierenden Frühstadium keine „Gesellschaft" zu machen sei, wurde schon an zahlreichen Stellen kritisch angemerkt. 105 Die Notwendigkeit eines harten strategischen Kurses gegen das etablierte sozialistische System führte zwar zu interner Kohäsion, aber nur mittels hierarchischer Strukturen und schließlich nach innen gerichtet zu einem antidemokratischen Verhal-

103

Das prominenteste Beispiel ist wohl die Studie von Claus Offe, Der Tunnel am Ende des

Lichts.

Vgl. auch die Ergebnisse des Plenums „Modernisierungs- und Transformationskonflikte in Europa" auf dem Soziologentag in Düsseldorf, eingeleitet von Christoph Lau und Johannes Weiß, in

Bernd

Schäfers

(Hg.),

Lebensverhältnisse

und

soziale

Konflikte

im

neuen

Europa.

(Verhandlungen des 26. Dt. Soziologentages, Düsseldorf), Frankfurt/M. 1993, 159. 104

Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Ost- und ostmitteleuropäische Gesellschaften zwischen autonomer Gestaltung und Adaptation westlicher Modernisierungsmodelle", 40.

105

Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Sind Lebensstile politisierbar? Zu den Chancen einer zivilen Gesellschaft in Ost- und Ostmitteleuropa", 335-350. Osteuropa,

Klaus von Beyme, Systemwechsel

Jadwiga Staniszkis, „Dilemmata der Demokratie in Osteuropa".

in

108

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

ten. 106 Damit wird schon deutlich, daß sich die Analyse einer modernen, pluralistischen und auf Interessendivergenz ausgelegten demokratischen Gesellschaft in einem gewissen Spannungsverhältnis zur zivilgesellschaftlichen Orientierung der frühen Opposition Ostmitteleuropas bewegt und eine direkte Übertragung der Erfahrungen sich verbieten dürfte. 1 0 7 Diese Erfahrungen machten auch die Ostmitteleuropäer selber, was zu Irritationen in der post-revolutionären Phase des Aufbaus führte. Für diejenigen, die eine gewisse Anschlußfähigkeit des Konzepts auch für westliche Modernisierungsdiskurse annehmen sei hier nur auf Helmut Dubiel verwiesen, der versucht hat, Klarheit in den Begriffssumpf der „civil society" hineinzubringen. Er stellt fest, daß „der Begriff der .zivilen Gesellschaft' aus der Tiefe einer jahrtausendealten Geschichte auf die Vorderbühne eines deutungsbedürftigen Weltgeschehens getreten" ist. Der Begriff, so Dubiel weiter, „sperrt sich gegen handliche Definitionen. Weder bezeichnet er einen Komplex institutioneller Merkmale noch ein utopisches Programm, sondern deren Spannungsverhältnis. Er wird verwendet zur Bezeichnung des offenen Horizonts politischer Institutionen, jener Sphäre von Dissidenz, permanenter Revision und kollektiver Phantasie, die sich in Institutionen kristallisiert und ihnen gegenüber 108

immer wieder verselbständigt." Für ihn ist das Konzept der civil society nämlich beispielhaft für die auch von Ost nach West wandernde Erfahrungswelt und die damit verbundenen Reflexionschancen für den westlichen Modernisierungsweg, eine radikale Umstellung des Politischen und eine Infragestellung der Grundlagen moderner Politik, wie sie sich im 20. Jahrhundert dargestellt haben. Helmut Dubiel zumindest argumentiert, daß fünf Motive einen inneren Zusammenhang aufweisen, der "auf eine zum Ende des 20. Jahrhunderts eingeleitete Wandlung des Politischen" verweist. 109 Erstens wurde, wie oben ausfuhrlich dargestellt, der Begriff aus der Gegenüberstellung zum Konzept der kommunistischen Revolution auf der einen Seite und dem restaurativen Schema des Antikommunismus auf der anderen geboren. Zweitens wurde er der „utopische Ersatzkandidat" hauptsächlich der politischen Linken für die revolutionäre Übernahme des Staats durch die Gesellschaft. Drittens konnte er als suggestive Formel für die ansonsten theoretisch kränkelnden Neuen Sozialen Bewegungen dienen. Viertens wurde er auch von aktivistischen Liberalen (s. Dahrendorf) 10 übernommen und

106

107 108 109

110

Jadwiga Staniszkis, „Dilemmata der Demokratie in Osteuropa" , Wolfgang Merkel und HansJoachim Lauth, „Systemwechsel und Zivilgesellschaft: Welche Zivilgesellschaft braucht die Demokratie?" in Aus Politik und Zeitgeschichte B6/7 1998, 3-12. Vgl. dazu auch Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen. Helmut Dubiel, Ungewißheit und Politik, 67. Ebd. Grundlegend der Artikel von Manfred Riedel, „Bürgerliche Gesellschaft", in Brunner/ Conze/Koselleck (Hrsg.) Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, 719-800. Ebenfalls in ideengeschichtlicher Hinsicht interessant sind die Rekonstruktionsversuche von John Keane, „Remembering the Dead", in ders. Democracy and Civil Society, London/New York 1988, 31-68. Zum gleichen Thema sind die Arbeiten von Adam Seligman, The Idea of Civil Society, New York 1992 und Keith Tester, Civil Society, London 1992 erschienen. Alexis de Tocqueville hatte von seiner Amerikareise die Erkenntnis über die zentrale Bedeutung der „pouvoirs intermédiaires" mitgebracht. Eine Gesellschaft, die Individuaisierung sehr weit vorantreibt und gleichzeitig zentralisierende, bürokratisierende Tendenzen forciert, schränkt damit

Symbolische Strategien der Rückkehr nach Europa

109

fünftens konnte er zu einem neuen und wichtigen Perfektionsbegriff der Politikwissenschaft werden. „In diesem Sinne sind nur solche politischen Systeme wirklich d e m o kratisch', die auf der politischen Kultur einer,zivilen Gesellschaft' aufruhen." 1 1 1 Vor der Revolution konnte der Begriff in der politischen Opposition auf der Basis der oben angesprochenen, dreifachen Bedeutung des Begriffs noch einheitsstiftend wirken. Im revolutionären Prozeß selber zeigte sich jedoch, daß die symbolische Klammerwirkung des Begriffs zerfiel, angesichts der Notwendigkeit beim Gang der ökonomischen Konzepte Farbe zu bekennen. Gemeinsam war den ganzen gesellschaftlichen Bewegungen, die sich der nachmarxistischen Strategie bedient haben, seien sie die französische Linke, oder die lateinamerikanische Redemokratisierungsbewegung, daß sie „gegen einen potentiell totalitären Staat, aber auch gegen einen potentiell totalitären Kapitalismus" vorgehen wollten. Konzeptionelle Vorarbeit haben die ostmitteleuropäischen Akteure mit der Idee der „selbstbegrenzenden (self-limiting) Revolution" leisten können. Selbstbeschränkung heißt, daß nicht der gesamte Staat nach den in der Opposition ausgearbeiteten Positionen und Strategien gestaltet werden soll. Die Akteure beschränken sich auf die zivilgesellschaftliche Umstellung im schmalen Bereich der gesellschaftlichen Selbstorganisation. Das Wort „Selbstbegrenzung" so Dubiel, „nimmt eine verschiedene Bedeutung an, j e nachdem, ob es auf den Staat oder die Sphäre der z i v i len Gesellschaft' bezogen wird. Im ersten Sinne soll dem noch totalitären Staat eine ,Selbstbeschränkung' in der Ausübung seiner bis dahin unumschränkten Handlungsmacht aufgenötigt werden. Im zweiten Sinn verzichten die Akteure der zivilen Gesellschaft aber auf das Programm einer Rücknahme des Staates in die Gesellschaft." 1 1 2 Aus dieser Sicht sind es eben auch „Motive solidaristischer Wertorientierungen, demokratisch konsentierte Rechtsprinzipien und die politische Öffentlichkeit..., die eine Gesellschaft zusammenhalten." 13

die Möglichkeiten

individueller Freiheit ein. Der einzelne steht unter solchen

Umständen

zunehmend einer Übermacht zentralisierter Institutionen gegenüber. In diesem Umfeld gibt es auch eine Reihe von Überschneidungspunkten zur sogenannten Kommunitarismus-LiberalismusDebatte. Vgl. dazu z.B. die Aufsätze von Michael Walzer: „The Civil Society Argument", (auf deutsch erschienen unter dem Titel: „Was heißt zivile Gesellschaft"; in: ders.: und amerikanische

Demokratie,

Zivilgesellschaft

Berlin 1992, noch einmal abgedruckt in: Bert van Brink/Willem

van Reijen (Hrsg.): Bürgergesellschaft

Frankfurt/M. 1995, 44-70) und Charles Taylor, „Die

Beschwörung der Civil Society", sowie die Einführung von Bert von Brink in: ders./Willem van Reijen (Hg.) Bürgergesellschaft,

Frankfurt/M. 1995, 7-26. Aufschlußreich ist auch die Einführung

von Werner Sewing in John G. A. Pocock, Die andere Bürgergesellschaft, 111

Helmut Dubiel, Ungewißheit

Frankfurt/M. 1993

und Politik, Frankfurt/M. 1994, 69.

112

Ebd., 76.

113

Helmut Dubiel, „Reflexive Modernisierung, Zivilgesellschaft und Transformation europas", in Bernd Schäfers (Hrsg), Lebensverhältnisse

und soziale

Konßikte

im neuen

MittelostEuropa,

[Verhandlungen des 26. Dt. Soziologentages Düsseldorf 1992] Frankfurt/M. 1993, 166-173 , hier 167. Vgl. dazu auch Andrew Arato, der in seinem Aufsatz „Civil society against the State: Poland 1980-81" die Bedeutung des Konzepts der civil society wie folgt zusammenfaßt: „In one form or another, the idea of the reconstitution of civil society through the rule of law and the guarantee of

110

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

Die engere politische Version ist somit skeptisch gegenüber den in der Ökonomie verankerten Tendenzen zur Zerstörung urwüchsiger, solidarischer Werte und dem ungehinderten Vordringen der interessebasierten Vergesellschaftung. Die Forderung nach sozioökonomischer Heterogenität wird als Gefahr für die politisch-kulturelle Homogenität einer auf Solidarität bauenden überschaubaren politischen Gemeinschaft gesehen. Damit wäre die politisch-kulturelle Zuspitzung des zivilgesellschaftlichen Reformprozesses mit einem modernen Verständnis ausdifferenzierter Gesellschaft inkompatibel. 114 So läßt sich eine republikanische Ausdeutung der Zivilgesellschaft von einer liberalen unterscheiden. Den eher liberalen Weg einer „Normalmodernisierung" gingen die Ungarn, während die Polen den republikanischen Weg einer politischen Neugründung versuchten: „While the Hungarians during the last decade worked their way toward greater autonomy by expanding the second economy..., the Poles confronted the power structure directly in the political sphere, through trade unions, the Workers Defence Committee (KOR...), political organizations and collective action...Recent history seems to teach that Soviet socialism tolerates the Polish type of challenge, based on collective action, less readily than the more individualist Hungarian strategy for emancipation. One may even suggest that, if democracy is the goal, the Hungarians are following the historically known road. Even in the West, entrepreneurship came first, and democracy followed. The Poles have tried the impossible, to start the change at the political level." 115 Auf das Dilemma dieser Gleichzeitigkeit, der ökonomischen Liberalisierung und politischen Demokratisierung haben gleich eindrücklich Claus Offe und Jadwiga Staniszkis hingewiesen. Zusammenfassend kann man demnach den Unterschied zwischen zwei großen Begriffskomplexen festhalten. Es macht einen Unterschied, ob wir es a) mit dem Begriff der Zivilgesellschaft zu tun haben, der „der Selbstverständigung von Teilnehmern des politischen Kampfes" diente, bzw. wie Arato/Cohen an anderer Stelle vermerken, mit einer „identity-forming narrative[s]" 116 oder ob ein Begriff vorliegt, der sich „aus der empirisch kontrollierten Beobachterperspektive auf die Probleme des Aufbaus einer Konkurrenzdemokratie konzentriert." 117 . Daß darin ein großer Unterschied besteht, der auf die Tauglichkeit der Konzeption in der Realität verweist, zeigt Helmut Dubiel: „Schon die ersten Runden Tische, die ersten Wahlen und vor allem die öffentlichen

civil rights, a free public sphere and a plurality of independent associations is present in all of the Opposition documents." (ebd., 23) 114

Ob die Zivilgesellschaft einer sozio-ökonomischen Unterfutterung bedarf, hat Krisztina MänickeGyöngyösi in ihrem Aufsatz „Sind Lebensstile politisierbar? Zu den Chancen einer „zivilen" Gesellschaft in Ost-und Ostmitteleuropa", untersucht.

115

Ivan Szelenyi, zitiert nach Winfried Thaa, Die Wiedergeburt

116

Jean Cohen und Andrew Arato, „Politics and the Reconstruction of the Concept of Civil Society", 48.

117

Helmut Dubiel, Ungewißheit und Politik, 77. Dubiel vermerkt in dem Zusammenhang, daß „viele Akteure der mitteleuropäischen Befreiungsbewegungen die demokratische Transformation auch als Beschränkung ihrer früheren Handlungsspielräume wahrnehmen.", vgl. ebd., 80. Insofern ist die Kritik von Beymes richtig, wenn er sich auf die Zeit nach dem postkommunistischen Aufbau bezieht. Vgl. Klaus von Beyme, Systemwandel in Osteuropa, 115ff.

des Politischen,

170.

Symbolische Strategien der Rückkehr nach Europa

111

Debatten über neue Verfassungen ließen erkennen, daß es etwas vollkommen anderes ist, dem totalitären Staat Räume gesellschaftlicher Freiheit abzutrotzen, als in einer nachtotalitären Konkurrenzdemokratie politische Freiheiten zu konstitutionalisieren." 118 Daß man den Begriff jedoch trotzdem nicht fallenlassen muß, zeigt Krisztina MänickeGyöngyösi. Sie betont gerade die symbolische Bedeutung der Politik gegen das institutionelle Übermaß. Interessanterweise konnte der Begriff unter den sozialwissenschaftlichen Linken im Westen wie im Osten erst Fuß fassen, nachdem das marxistische Paradigma überwunden war und staatszentrierte Lösungsmodelle einer gesellschaftlichen Selbstregulierung Raum ließen. Doch die Parallelen enden bei der Frage der sozioökonomischen Voraussetzungen. Der Blick darauf zeigt, daß ostmitteleuropäische Opposition und westliche Demokratietheorie den Begriff sehr unterschiedlich gebrauchen: a) Für die westliche Perzeption der Zivilgesellschaft ist wichtig, daß die Ausdifferenzierungsprozesse moderner Gesellschaften schon immer vorausgesetzt werden. 119 Auch wenn es durchaus Parallelen im antiabsolutistischen Kampf des Bürgertums um Freiräume für ihre Aktivitäten ging, so war doch der mitgezogene oder dominante Aspekt bürgerlicher (im Sinne des Bourgeois) Freiheit auf dem Boden einer sozioökonomischen Modernisierung, ihrer Chancen und Risiken, zu verstehen. In diesem Sinne sind die von Locke über Tocqueville bis zu Habermas entwickelten Vorstellungen einer modernen civil society angesichts staatlicher und ökonomischer Zugriffe gleichzeitig zu sehen. Von beiden Seiten (Macht und Geld) drohen dem Bürger Einschränkungen. 12 Aus dieser Sicht erscheint jede Vorstellung der civil society, die hinter Hegel zurückfallt, der doch gerade die Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben hat und den direkten Zugang von der Familie, der unmittelbaren menschlichen Werte zu politischen Werten der Sittlichkeit bestritten hat, als naiv und unrealistisch. b) Dem „civil society"-Gedanken der Ostmitteleuropäer liegt dagegen eine Wertorientierung zugrunde, die sich keinesfalls auf eine sozioökonomische Ausdifferenzierung stützen konnte und wollte. 121 In diesem Verständnis, dem hier auch das alte vormoderne Verständnis einer societas civilis zugrundeliegt (Kondylis, Arendt, Riedel) ist gerade die ökonomische, auf das Herstellen bezogene Vergesellschaftung das Ende der Politik im eigentlichen Sinne. „Da Politik aus dieser Perspektive der Dissidenten weitgehend ineins fällt mit dem Gebrauch staatlicher Macht gegen die Gesellschaft, kommt es zur Formulierung eines

118

Helmut Dubiel, Ungewißheit

119

Jürgen Habermas, „Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf', in ders., Die de Revolution,

120

nachholen-

Frankfurt/M. 1990, 179-205.

Manfred Riedel, „Bürgerliche Gesellschaft"; in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.) Grundbegriffe,

121

und Politik, 78.

Geschichtliche

Bd. 2, Stuttgart 1975, 719-800.

Diese vermeintliche sozioökonomische „Blindheit" des Oppositionskonzeptes civil society (vgl. die Arbeiten von Klaus von Beyme und Claus Offe - letzterer stützt sich in diesem Punkt ausschließlich auf die keineswegs unumstrittenen Studien von Jadwiga Staniszkis) ist nur angesichts eines normativen Maßstabs zu verstehen, der vor dem Hintergrund einer bürgerlichen Normalentwicklung westlich-liberalen Zuschnitts gewonnen wurde. Für ein zivilgesellschaftliches Gegenmodell auf der Basis einer originär politischen Neugründung (vgl. Hannah Arendt) ist eine solche Bewertung blind.

112

Zivilgesellschaft und Antipolitik: Wege zur Idee einer europäischen Mitte?

nicht- oder antipolitischen, und das heißt in erster Linie eines wertorientierten Verständnisses der aufzubauenden Zivilgesellschaft." 1 2 2 Damit ist eines der wichtigsten Strukturierungsmerkmale der Zivilgesellschaftsmodelle angesprochen und ein wichtiger Anhaltspunkt: das auf eine Wertorientierung in der politischen Gesellschaft anspielende Verständnis von civil society steht dem an einer modernen, entlang sozioökonomischer Kategorien ausdifferenzierten zivilen oder bürgerlichen Gesellschaft diametral entgegen. Und so ist es die These von Ferenc Feher, wie Dubiel schreibt, daß es gerade die einmalige Chance für den Westen ist, aus dem Untergang des sozialistischen Experiments sämtliche Hoffnungen auf ein nicht reflektiertes Fortschrittskonzept fahren zu lassen. Als analytisches und normatives Konzept sozialwissenschaftlich-historisch informierter Intellektueller in Ostmitteleuropa kennzeichnete das Auftauchen des Begriffs der civil society eine neue Terminologie, eine neue oppositionelle Strategie und den radikalen Bruch mit dem Reformmarxismus. Die Vieldeutigkeit des civil society-Konzepts und die damit verbundene Angliederung an den Westen machte es notwendig, sich über die tatsächlichen Konsequenzen einer Eingliederung in den Westen zu verständigen. Der vorbehaltlosen Andockung an den westlichen Entwicklungspfad wich die differenzierte Betrachtung, einer möglicherweise beiden Modellen - dem westlichen und dem östlichen - überlegenen eigenständigen Entwicklungsvariante. Diese Variante betonte zwar die westlichen, bürgerlichen Wurzeln, suchte diese aber viel stärker in einem eigenen, nationalen kulturellen Kontext, der auch auf weit zurückliegende Traditionsbestände zurückgriff. Und so ist es kein Wunder, daß in der Mitteleuropa-Debatte die eigenen Erfahrungen mit den westlichen Wurzeln skeptischer reformuliert wurden, als noch in der Suche nach einer zivilen Gesellschaft. Michnik: „Ein Leben in der Niederlage ist destruktiv, aber es produziert auch große kulturelle Werte, die heilsam sind...Zu wissen, wie man mit der Niederlage lebt, heißt zu wissen, wie man sich dem Schicksal entgegenstellt, wie man eine Stimme des Mißtrauens gegen jene Mächte erheben kann, die vorgeben, das Schicksal zu sein." 123

122 123

Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen, 164. Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, 225.

IV. Die Rekonstruktion der Mitte Europas

Im Mitteleuropa-Begriff, der durch die Arbeiten von Milan Kundera und György Konrad zwei Jahre nach dem Scheitern der Reformbewegung von Solidarnosc in Polen wieder prominent wurde, kamen die ambivalenten Erfahrungen der Ostmitteleuropäer erneut zum Ausdruck. 1 Schon bei der Wiedererrichtung der „civil society" hatten sie ihre eigene distanzierte Nähe zu den europäischen Werten und Traditionen thematisiert. Sie waren ein Teil „des Westens", der jedoch unter den spezifischen Erfahrungen der sowjetischen Hegemonie nicht einfach an westliche Traditionen anknüpfen konnte. Entsprechend ambivalent fiel die Rekonstruktion der europäischen Mitte aus. Selbstverständlich richtete sich die oppositionelle Energie primär gegen „den Osten". Dadurch wurde jedoch die ideologische Zuspitzung der europäischen Zweiteilung noch einmal verstärkt. Aus der Erkenntnis dieses Problems ergab sich eine zweite Grundlinie der Rekonstruktion der europäischen Mitte, in der sich die Opposition nicht primär gegen den Osten, sondern gegen die Blockstruktur des Ost-West-Konflikts wandte. So blieb die erste Variante eigentlich noch der Semantik des Kalten Krieges verhaftet, nur daß die Kritik am „Osten" nicht aus dem Westen, sondern von Intellektuellen aus den sowjetischen Satellitenstaaten selber geäußert wurde. Etwas substantiell Neues kam erst durch den Aufbruch in einen neuen „Denkraum" (Schlögel) zustande. Der Ost-WestTeilung und dem politischen Vokabular der Arbeitsgesellschaft 2 wurden primär - wenn auch nicht ausschließlich - kulturell fundierte Kategorien entgegengehalten. Sie

„In a circuitous way, these constant references to Central Europe are something more than an expression of the desire to distinguish the region from its Soviet neighbor. They constitute another side of the attempt to create a political vocabulary with which to communicate over time and space, in the place of the old universalist vocabulary of socialism now irretrievably polluted by experience." (Tony Judt, „The Dilemmas of Dissidence: The Politics of Opposition in East-Central Europe"; in Feher, Ferenc und Andrew Arato (Hrsg.) Crisis and Reform in Eastern Europe,

New

Brunswick 1991, 284). 2

Der Reformmarxismus fomulierte die Utopien der Arbeitsgesellschaft noch „im avangardistischen Gewand der,Arbeiterselbstverwaltung' oder .Sozialismus mit menschlichem Antlitz'" (Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts.

Die Deutschen,

der verlorene

Osten und Mitteleuropa,

Berlin 1986,

10). Schlögel spricht in diesem Zusammenhang vom Aufschließen eines neuen „Denkraums". „Mitteleuropa" könnte die „Alleinherrschaft des Ost-West-Denkens in unseren Köpfen gefährden." (ebenda, 7f.)

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

114

sprengten die d i c h o t o m e Begriffsstruktur, die s i c h in den „großen E r z ä h l u n g e n " d e s O s t - W e s t - K o n f l i k t s bis tief in die A l l t a g s s p r a c h e e i n g e g r a b e n hatte 3 , und stellten d i e r ä u m l i c h e n Großstrukturen d e s O s t - W e s t - K o n f l i k t s grundsätzlich in Frage. 4 Eine derart a u f die Veränderung der W a h r n e h m u n g s - und Erwartungsmuster a n g e legte Kritik m u ß t e sehr grundsätzlich an den e i n g e s c h l i f f e n e n Sprach- und D e n k g e w o h n h e i t e n der N a c h k r i e g s z e i t rütteln und die Positionierung Ostmitteleuropas in d e n großen „metageographischen

Erzählungen" n e u durchdenken. 5 D e r

„Mitteleuropa"-

B e g r i f f hatte das Potential dazu, g e n a u d i e s e A u f g a b e zu erfüllen. D i e K a l t e - K r i e g s Metaphorik w u r d e s o ihrer scheinbaren Natürlichkeit entkleidet und d i e Sensibilität der B e o b a c h t e r für kontingente E r s c h e i n u n g e n w u r d e g e s c h u l t . 6 M a n d e n k e nur an die M e t a p h e r des Eisernen V o r h a n g s , die Churchill

1 9 4 6 im fernen Fulton,

Missouri

prägte. K e i n Licht, s o Churchill mit B e z u g a u f die Licht-Metapher der A u f k l ä r u n g , s c h e i n e mehr durch d i e s e n V o r h a n g , der e i n e n langen Schatten auf O s t e u r o p a w e r f e . 7 V e r g l e i c h b a r e s läßt sich über den B e g r i f f „ O s t b l o c k " sagen, der den Eindruck e i n e s M o n o l i t h s e r w e c k t und auch durch sein Klangbild s c h o n beeindruckt: „ D e r O s t b l o c k ist

3

Lewis und Wigen formulieren in ihrer Terminologie, was Carl Schmitt in Land und Meer schon angesprochen hat: „Aber schon mit jeder großen geschichtlichen Veränderung ist meistens ein Wandel des Raumbildes verbunden. Das ist der eigentliche Kern des umfassenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandels, der sich dann vollzieht." (Carl Schmitt, Land und Meer, 57). Bei Lewis/Wigen heißt das: „Historical metanarratives imply (,..)spatial metastructures." (Martin W. Lewis und Kären E. Wigen, The Myth of Continents. A Critique of Metageography, Berkeley u.a. 1997, Anm. 2, 207).

4

Richard Okey schreibt zum Thema Multiplizierung von Beziehungen und Verhältnis Sprache und Politik: „Europe can be divided into western and eastern zones along a number of lines, according to religious, social or political criteria. In each case, however, the two entities can generate only one relationship. In is the notion of a third, central term which complicates the picture. If the centre is to be not a positional line, but a region in its own right, then it too will have its east and west, and these in turn can enter into relations with each other and wiht the outlying regions on the flanks." (Richard Okey, „Central Europe/Eastern Europe: Behind the Definitions", in Past and Present 137. Jg. (1992), 201). An die Stelle der alten, im Westen wie im Osten vorherrschenden, geschichtsphilosophischen Modelle der „großen Erzählungen" sollte eine politisch-kulturell fundierte Gegenerzählung treten. „It is no coincidence that changes in ideology are generally accompanied by a questioning of metageographical categories - or that those attempting consciously to formulate new visions of the globe often do so as part of a campaign to purmote new patterns of belief." (Martin W. Lewis und Kären E. Wigen, The Myth of Continents. A Critique of Metageography, XI). Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts, 33. Ähnlich auch Timothy Garton Ash: „Die Regeln nach Jalta diktierten eine strikte Dichotomie, von Westeuropa stillschweigend akzeptiert, indem es alle jene Teile des historischen Mittel-, Ost-Mittel- und Süd-Osteuropas unter dem Begriff Osteuropa zusammenfaßte, die nach 1945 unter sowjetische Vorherrschaft geraten waren. Die Europäische Gemeinschaft vollendete diesen semantischen Betrug schließlich mit ihrem Alleinvertretungsanspruch auf die Bezeichnung Europa." (Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990, München/Wien 1990, 188). Vgl. dazu Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994, 1 ff.

5

6

7

115

eine geradezu poetische Wortschöpfung: den dunkelsten Vokal zweimal hintereinandergeschaltet, dann ein markiger Knacklaut wie knallende Stiefelabsätze - und Schluß!" 8 Angesichts der Ambivalenz der Westbindung kam es bei Kundera ebenso wie bei Konrad zu widersprüchlichen Konzeptionalisierungen. Beide zeigen in ihren Texten eine Unentschlossenheit, ob sie wirklich auf einer eigenständigen Mitte Europas beharren wollen, oder ob diese nicht doch als ein Teil des Westens zu verstehen sei. So schreibt György Konrad, der ansonsten gegen die Blockstrukturen eine symmetrisch nach West und Ost abgegrenzte Mitte stark macht: „Es war das Mißgeschick OstMitteleuropas, daß es nicht in der Lage war, nach dem Zusammenbruch der östlichen türkisch-tatarischen Hegemonie und der späteren westlichen deutsch-österreichischen Hegemonie unabhängig zu werden, und daß es wieder einmal unter die östliche Vorherrschaft geriet, diesmal nach sowjetrussischem Muster. Das ist es, was es unseren Gebieten unmöglich macht, die westliche Option, die vor tausend Jahren vertan wurde und unsere wirkliche historische Neigung ist, anzunehmen." 9 Die eher zu einer Pluralisierung von Bedeutungen führende mythologische Annäherung an den „versunkenen Kontinent" 10 Mitteleuropa läßt sich dabei aus dem spezifischen historischen Kontext verstehen, in dem Mitteleuropa „ähnlich wie Solschenyzins russische(r) Mythos" eine „verständliche Zuspitzung" war, „um die herrschende Orthodoxie herauszufordern." 11 Zur Herausforderung brauchte es entsprechende Mittel, die von den Intellektuellen eingesetzt wurden, als „Imaginationen einer geschichtlich begründeten europäischen Ordnung", die zur „Veränderung von Machtstrukturen, zur Verstärkung oder Korrosion der Herrschaftslegitimation" beigetragen haben. 12 Die geopolitischen Realitäten des Kalten Krieges wollten es, daß ein Reformkommunismus mit Moskau abgestimmt werden mußte. 13 Reformbemühungen im sozialistischen Paradigma mußten „contra Orientem" gesprochen werden. Es drängte sich den Oppositionellen jedoch immer mehr die Vermutung auf, daß eine Demokratisierung nur auf der Basis westlicher soziokultureller und soziomoralischer Voraussetzungen möglich sein würde. Die Suche nach einer zivilen Gesellschaft konnte gen Westen, „contra Occidentem" gesprochen werden. Die Mitteleuropa-Diskussion vertiefte diese Westorientierung und verstärkte die Suche nach einem politisch-kulturellen Resonanzboden für die gesellschaftlichen Reformvorstellungen. Gleichzeitig zog sie an diversen, wenn auch weniger prägnanten, Stellen eine Trennungslinie zum „Westen", was dazu führte, daß wir eine häufig anzutreffende Asymmetrie der Mitte-Konzeption vorfinden.

8

Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts,

9

György Konrad, zitiert nach Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert

10

32.

So als Untertitel in dem Buch Aufbruch Kontinents",

nach Mitteleuropa.

wird abgewählt,

Rekonstruktion

193f.

eines

versunkenen

(hrsg. von Erhard Busek und Gerhard Wilfinger, Wien 1986).

" ebenda, 195. 12

Karl-Siegbert Rehberg, „Europa zwischen Ost und West - kulturelle und politische Entwürfe Einführung", in Bernd Schäfers (Hrsg) Lebensverhältnisse

und soziale Konflikte

im neuen

Europa.

[Verhandlungen des 26. Dt. Soziologentages Düsseldorf 1992], Frankfurt/M. 1993, 251. 13

Vgl, dazu auch den Buchtitel von Mihaly Vajda, Russischer 1991.

Sozialismus

in Mitteleuropa,

Wien

116

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

Der Mitteleuropa-Begriff der ostmitteleuropäischen Dissidenten ist in seiner Abgrenzung nach Westen hin ambivalent, weil er abwechselnd mit zwei Begriffen des „Westens" argumentiert. Auf der einen Seite geht es um das real-existierende Westeuropa und auf der anderen Seite um die europäische Tradition, die mit dem Kürzel „Westen" versehen wird. Der Ungar Mihaly Vajda versuchte im Sinne Kunderas die im Osten feststehende Grenze dadurch zu fixieren, daß er sie zu einer kulturellen Grenze erklärte: „Das orthodoxe Christentum begründete eine andere Kultur. Die westliche Grenze hingegen blieb, je nach der politischen Lage in Europa, immer schwankend. Sie ist nämlich keine kulturelle, sondern eine politische." 14 Bei einigen Autoren fiel sie sogar ganz weg, so daß sie den Gedanken einer europäischen Mitte nahezu vollständig aus dem Auge verloren, um die Trennungslinie zwischen Ost und West lediglich ein paar Hundert Kilometer weiter östlich zu ziehen. Darüber hinaus gab es natürlich auch noch national begründete Unterschiede in der Konzeptionalisierung der europäischen Mitte. Es gab auf der einen Seite ein sehr konkret historisch-soziologisches Konzept von Mitteleuropa, wie es in der ungarischen Diskussion von dem Historiker und Istvan Bibo-Schüler Jenö Szücs vorgestellt wurde. Die Mitte wird hier verstanden als die Mitte zwischen Kollektivismus und Individualismus, zwischen „organic social systems and contractual ones" 15 und ein anderes, von der tschechischen Debatte dominiertes, Mitteleuropa-Konzept, das „Mitteleuropa" als Projekt vorstellt. In jenem Fall wird Mitteleuropa als historischer Erfahrungsraum rekonstruiert, während in diesem der Gedanke eines „Sehnsuchtsraums" neu aufgegriffen wird. Beginnen wir also mit der Konzeption, die die Mitte sehr stark gegen „den Osten" abgrenzt (Kap.l). Sie konstruiert, historisch fundiert, einen eigenständigen mitteleuropäischen Raum, dessen Ostgrenze die ganze Aufmerksamkeit bekommt. Auch gibt es (Kap. 2) gegen Osten und Westen gleichermaßen konturscharfe Grenzziehungen (Konrad), die Vorstellungen einer Blockfreiheit, einer Neutralität der Mitte und damit auch Vorstellungen einer Föderation offenhalten. Diese Mitte gibt es dann ebenso als sicherheitspolitischen wie auch als zivilisationspolitischen Raum. In der sicherheitspolitischen Variante der eigenständigen Mitte wächst Mitteleuropa zu einem „Synonym

14

Mihaly Vajda, „Ob es Mitteleuropa überhaupt gibt?" in Bernd Schäfers (Hrsg) und soziale

Konflikte

im neuen Europa.

Lebensverhältnisse

[Verhandlungen des 26. Dt. Soziologentages Düsseldorf

1992], Frankfurt/M. 1 9 9 3 , 2 6 6 . 15

Vollständig heißt es bei Tony Judt: „For the Hungarian opposition, heavily sociological in style, Europe- Central Europe- is the notion of a ,middle way', a solution lying somewhere between .individualism' (the West) and collectivism, between organic social systems and contractual ones. Hungarian writers are more inclined to set Central Europe in a concrete historical context, as a term describing the peculiar experience of a certain part of the continent - different as a matter of fact from the West and the East. The best statement of this comes in Vajda's work, where he treats the historical location of fascism in Central Europe as crucial to its specificity." (Tony Judt, „The Dilemmas of Dissidence: The Politics of Opposition in East-Central Europe", 283.)

117 für atomare Abrüstung, Absage an die Vormachtstellung der beiden Supermächte" 16 , es wird an eine eigenständige, pazifistische europäische Sicherheitspolitik jenseits von Jalta gedacht. In der dualistisch zivilisationspolitischen Variante (Kap. 3) wird die Mitte Europas symmetrisch gegen West und Ost abgegrenzt und bedrohlich von beiden Seiten in die Zange genommen (Havel). Diese Vorstellung hat im Anschluß an Heidegger auch in die ostmitteleuropäische Philosophie Einzug gehalten. Die Denkfigur stammt aus seiner „Einführung in die Metaphysik", in der er festhält, „Europa und das Abendland seien in die Zange genommen worden von Ländern, die politisch konträr, philosophisch für dasselbe metaphysische Prinzip stünden: für ,entfesselte Technik' und ,Vermassung des Menschen.'" 17 . Ähnliche Töne finden sich bei Wilfinger, wo dieser von der großen „transatlantischen Einheitszivilisation" und der „großen sozialistischen Einheitszivilisation" des Ostens spricht. 18 Der „Osten" bekommt dann bisweilen seine alte kulturgeographische Bedeutung zurück und ist nicht mehr identisch mit dem Begriff des Ostens im Ost-West-Konflikt. So schreibt Dan Diner: „Im Unterschied zur Semantik des Systemkonflikts, wo das in der westlichen Hemisphäre liegende Kuba gleichwohl zum Osten gehörte, sind die jetzt hervortretenden kulturtopographischen und zivilisationsgeschichtlichen Konnotationen dieser Orientierungen ganz anders gewirkt" und man beachte den Nachsatz „ - oder jedenfalls fast ganz anders." 19

16

Vgl. Rudolf Jaworski, „Die aktuelle Mitteleuropa-Diskussion in historischer Perspektive", in Historische

17

18

Zeitschrift

nach Herfried Münkler, „Europa als politische Idee", in: ders., Reich-Nation-Europa,

98.

Gerhard Wilfinger, in Busek/Wilfinger, Aufbruch nach Mitteleuropa.

eines

kenen Kontinents, 19

Bd. 247 (1988), 530.

Martin Heidegger hatte über Jan Patocka auch starken Einfluß auf Vaclav Havel. Heidegger, zitiert Rekonstruktion

versun-

Wien 1986, 151.

Dan Diner, Krieg der Erinnerungen

und die Ordnung

der Welt, 58. Hier deutet Diner auch die

Konfliktzonen an, die in den uns beschäftigenden Schriften immer wieder thematisiert werden: a) westliches Christentum und Byzanz, b) Osmanisches Reich und Habsburger Einflußsphäre. Er beobachtet, daß diese alten kulturgeschichtlichen Grenzlinien offensichtlich einen Einfluß auf die „stärkere Neigung zu Freiheitsgarantien" zu haben scheinen, wie sich in Jugoslawien zeigte. Im Sinne der Kalte-Kriegs-Semantik konnte die paradoxe Situation eintreten, daß bei einer Zuweisung westlicher Werte an ostmitteleuropäische Länder Deutschland zwischen West und West liegen könnte, wie Timothy Garton Ash es beschrieben hat, in: ders.: Im Namen Europas. und der geteilte

Kontinent,

München

Deutschland

1993, 598. Auf einen Vertreter der Gegenthese weist

Eberhard Rondholz hin. Der englische Osteuropahistoriker Benedict Humphrey Sumner bezeichnet „die Aufteilung Europas in eine christlich-orthodoxe und eine abendländische Welt als künstlich" (Eberhard Rondholz, „Abendländische Visionen. Alte europäische Ordnungsvorstellungen, neu aufgelegt"; in Blätter für deutsche

und internationale

Politik, 39. Jg. (1994), 866).

118

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

1. Milan Kunderas Europa-Vorstellungen In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat der tschechische Literaturkritiker Vaclav Cerny einen Essay mit dem Thema: „Zwischen Ost und West" geschrieben. 20 Er hat darin eine Positionsbestimmung der Tschechoslowakei versucht. Charakteristisch für die Lage seines Landes sei die Vermittlung westlicher Traditionen, denen sich die Tschechische Republik als demokratisches Land nach dem Ersten Weltkrieg verbunden gefühlt hat, mit der östlichen, sowjetischen Macht. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Tschechen sich glücklich schätzen müßten, als erstes westliches Land in russische Einflußsphäre zu geraten. Die Tschechen sind mit dem Westen über die lange demokratische und liberale Kultur verbunden und mit dem Osten über die slawische Verwandtschaft. Cerny spricht in seiner Nachkriegsbegeisterung von Synthese und Vermittlung und der herausragenden Rolle seines Landes. Für Milan Kundera liegt jedoch die Tschechoslowakei nicht zwischen Ost und West, sondern ist der „östlichste Vorposten des Westens". Von einer vermittelnden Position, die auf beiden Seiten - Ost und West - ein Standbein hat, distanziert sich Kundera ausdrücklich. Insofern nimmt er Abstand von der oben beschriebenen ideengeschichtlichen Tradition des Mitte-Bewußtseins, wie sie auch von Felix Weltsch in seiner „Philosophie der Mitte" wiederbelebt wurde. Er setzt sich bewußt von einer national-ideengeschichtlichen Tradition ab, die sich beginnend „bei Vorstellungen Frantisek Palackys einer Brückenfunktion Böhmens zwischen Germanentum und Slawentum Mitte des 19. Jahrhunderts, über die Suche nach dem eigenen Weg zum Sozialismus 1946-1948 bis zur Theorie eines aus der Synthese von Sozialismus und Demokratie hervorgehenden Dritten Weges in Gestalt eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der Zeit des Prager Frühlings 1968/69" spannen ließe.21 „Das Wort Mitte", so Kundera „birgt eine Gefahr in sich: es erweckt die Vorstellung einer Brücke zwischen Rußland und dem Westen" 22 Dennoch finden sich bei Kundera Spezifika einer eigenständigen europäischen Mitte, die jedoch an den Rand gedrängt werden von der alten, auf religions- und kulturgeschichtlichem Argumentationsboden wachsenden Denkfigur einer europäischen Zweiteilung. Ich möchte im folgenden in drei Schritten vorgehen: Zuerst soll die Abgrenzung gegen den Osten/Rußland ausführlich dargestellt werden (1.1.), um

20

Vgl. dazu den unter dem Pseudonym Josef K. veröffentlichten Aufsatz: „Mitteleuropa: Geschichte und Anekdote"; in: Lettre International

21

Christian Weimer, Mitteleuropa historischen

1/1988, 16-24.

als politisches

Ideen und Pläne sowie der aktuellen

Ordnungskonzept? Diskussionsmodelle,

Eine ähnliche Vorstellung entwickelte György Konrad,

Darstellung

und Analyse

der

Diss. Würzburg 1992, 204.

für den die Elemente

Markt und

Planwirtschaft miteinander kombiniert werden sollten. Die Mitte Europas sei aufgrund ihrer geopolitischen Lage prädestiniert fur eine derartige Verbindung. „Mittel- und Osteuropa wären der erste Raum, w o der demokratische Sozialismus ein reger Versuch wäre." Konrad, zitiert nach ebenda, 218. 22

Milan Kundera, „Un Occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas", in Kommune 46.

7/1984,

Milan Kunderas Europa-Vorstellungen

anschließend

die

damit

119

verbundenen

Europa-Bilder

Kunderas

vorzustellen

(1.2.).

S c h l i e ß l i c h soll dann das e i g e n s t ä n d i g e Mitteleuropa als e i g e n t l i c h e s Europa im S i n n e Kunderas b e s c h r i e b e n w e r d e n ( 1 . 3 . )

1.1. Die Grenzen der europäischen Mitte nach Osten E s ist grundsätzlich in Frage zu stellen, s o könnte man Kunderas zentrale A u s s a g e u m s c h r e i b e n , o b sich politische Integration l e g i t i m e r w e i s e über kulturelle

Grenzen

h i n w e g v o l l z i e h e n darf. 2 3 Konkret klagt er die S o w j e t u n i o n an, aus m a c h t p o l i t i s c h e n Interessen die Mitte Europas, die ihr kulturell fremd ist, usurpiert zu haben und damit als

östliche

Macht

Mitteleuropäer

sei

a u f den weniger

Westen eine

übergegriffen

politische

oder

zu

haben.

ökonomische

Die als

Tragödie vielmehr

der eine

kulturelle. In die auch aus anderen Z u s a m m e n h ä n g e n bekannte politische O p p o s i t i o n g e g e n die s o w j e t i s c h e B e s a t z u n g in Mitteleuropa g e s e l l t e sich mit M i l a n Kunderas Startschuß zur M i t t e l e u r o p a - D i s k u s s i o n ein g a n z neuer T o n . 2 4 Milan

Kundera steht in der g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e n

Tradition der

Positionierung

R u ß l a n d s am G r e n z s a u m v o n europäischer Kultur und Zivilisation. 2 5 D i e S o w j e t u n i o n sieht K u n d e r a in der Tradition d e s russischen D e s p o t i s m u s und als „andere Zivilisation". 2 6

Die

Gleichsetzung

von

Russisch

und

Asiatisch,

die

Kundera

zahlreiche

kritische R e p l i k e n einbrachte, hat e i n e lange historische Tradition. S i e wird, s o H a n s

23

Kundera argumentiert hier für die grundlegende Bedeutung der Kultur zur Ausprägung einer nationalen Identität. Diese sicherlich nicht unumstrittene These findet sich im Anschluß an Kundera auch bei Schöpflin/Wood, die Mitteleuropa für primär kulturell determiniert halten. Sie sprechen von einer ,cultural configuration': „...it is not politics but culture which must be seen as the decisive force by which nations constitute their identity, express that identity and give it its own distinctive mould." (George Schöpflin und Nancy Wood, In Search of Central Europe, Oxford 1989, 140)

24

Milan Kundera ist in den 70er Jahren aus der Tschechoslowakei emigriert. Er war einer der vielen (Schätzungen gehen bis zu 150.000), die nach der sowjetischen Invasion die Verwirklichung des Projekts eines demokratischen, menschlichen Sozialismus für unmöglich hielten und emigrierten. Vgl. dazu Jan Culik, „Tschechisches literarisches Leben im Exil 1971-1989", in: Ludwig Richter und Heinrich Olschowsky (Hrsg.) Im Dissens zur Macht. Samizdat und Exilliteratur der Länder Ostmittel- und Südosteuropas, Berlin 1995, 71. Vgl. zu Kunderas Aufsatz auch die interessante Zusammenfassung in Egon Schwarz, „Central Europe - What It Is and What It Is Not"; in George Schöpflin und Nancy Wood In Search of Central Europe, Oxford 1989, 150ff.; und Rudolf Jaworski, „Die aktuelle Mitteleuropadiskussion in historischer Perspektive", 533.

25

Milan Kunderas „L'Occident kidnappe" erschien im November 1983 in Le Debat und im Heft 7/ 1984 in der deutschen Zeitschrift Kommune. Im selben Jahr in der amerikanischen New York Review of Books. Die Gegenüberstellung von Europa und Asien geht bis in die Antike zurück. In der Aristotelischen Politik heißt es im 3. Buch: „Diese Völker, die fügsamer sind als die Griechen - und die asiatischen Völker sind fügsamer als die europäischen - ertragen klaglos eine despotische Macht, die über sie ausgeübt wird."Aristoteles, zitiert nach: Norberto Bobbio, „Größe und Verfall der europäischen Ideologie", in Lettre International, 1. Jg., (1/1988), 7.

26

120

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

Lemberg in seiner Studie über „Die Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert", ideengeschichtlich gesehen durch das Einrücken Rußlands aus dem Norden in den Osten nach der „Drehung der Windrose" möglich gemacht. 2 7 Zuvor galt der Osten als Ferner Osten, als Orient (China, Indien etc.) und Rußland, wie auch Polen, galten als slawische Länder der Gruppe der nördlichen Völker zugehörig. Bevor Preußen und Österreich machtpolitisch in die Mitte Europas einrückten, teilte sich Europa in ein nördliches und ein südliches System. Zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Krimkrieg - einige ziehen die Grenze schon 1848 - rutschte Rußland, zumindest aus der Sicht der west- und mitteleuropäischen Beobachter aus dem Norden in den Osten. An dieser Umorientierung waren die oben (Kap.l) behandelten Geographen maßgeblich beteiligt, die in der „Experimentierphase" (Lemberg) nach einem neuen Koordinatensystem suchten. Dies soll uns hier nur insoweit interessieren, als Lembergs These deutlich hervorhebt, daß lediglich die Kirchengeschichte eine Kontinuität von antiker, mittelalterlicher und moderner Ost-West-Teilung Europas beschreiben kann. Seine Studie zeigt, daß Rußland erst nach dem Krimkrieg in der politischen Geographie in den Osten eingerückt ist und somit eine Identifizierung Rußlands als Nachfolger des östlichen Gegenübers der westlichen Zivilisationen historisch unhaltbar ist. 28 Rußland selber hat sich in seiner Selbstbeschreibung so gut wie immer an der Grenzlinie zwischen Europa und Asien verortet und hat sich selber nie als Teil des Ostens verstanden. Anders dagegen die Fremdzuschreibung, die bis heute - besonders in Deutschland häufig Rußland mit dem Hinweis auf dessen asiatische Wurzeln aus Europa ausschließt. So findet z.B. Rußland in Hagen Schulzes „Europäischer Geschichte" deshalb keine Behandlung, weil es aus seiner Sicht, gegen die europäischen Werte, ein Hort des Despotismus ist. Rudolf Jaworski fand dafür ein treffendes Bild: „Je idyllischer das mitteleuropäische Szenarium ausgemalt wird, um so deutlicher wird das Schnauben von Dschingis-Chans Streitrossen hinter dem Bug vernehmbar." 2 9 Dieser kulturphilosophische Europa-Begriff hat seine Wurzeln im Bild des asiatischen Rußland aus dem 16. Jahrhundert und ist maßgeblich eine Folge der polnischlitauischen Auseinandersetzungen mit den Moskowitern. „So betrachteten die Engländer zur Zeit Shakespeares Moskowien als einen außerhalb der ,Alten Welt' gelegenen östlichen Staat, der nicht zum abendländischen Erdkreis gehörte und dem etwas Exotisches anhaftete (...); insbesondere die Herrschaftsform und Regierungsweise Rußlands erschien den englischen Beobachtern als fremdartig, barbarisch und unchristlich". 3 0 Und auch die Ansichten in Deutschland unterschieden sich nicht maßgeblich von den hier zitierten englischen. In den Jahrhunderten zuvor war das Bild gegenüber Rußland jedoch keineswegs so eindeutig negativ geprägt. Zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert

27

Hans Lemberg, „Die Entstehung des Osteuropa-Begriffs im 19. Jahrhundert. V o m ,Norden' zum

28

Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization

29

Rudolf Jaworski, „Die aktuelle Mitteleuropa-Diskussion in historischer Perspektive", 549.

,Osten' Europas" in Jahrbücher für Geschichte

30

Osteuropas,

Neue Folge 33 (1985), 48-91. on the Mind of the

Enlightenment.

Im folgenden orientiere ich mich an dem Aufsatz von Ekkehard Klug, „Das asiatische Rußland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils" in Historische 265-289.

Zeitschrift

Bd. 245. (1987),

Milan Kunderas Europa-Vorstellungen

121

geriet es nach dem Niedergang des Kiever Reichs in zunehmende Vergessenheit und wurde erst im Zuge der Entdeckungen in Übersee wieder stärker wahrgenommen. Das neu erwachsene europäische Selbstbewußtsein fand in Amerika und dann auch Rußland Gegenpole an denen es seine zivilisatorische Überlegenheit behaupten konnte. Doch sind die aus dieser Zeit überlieferten Berichte über das barbarische und wilde Volk im Osten noch kein Beweis für eine eindeutige Bewertung. Erst mit der von Piccolomini stark gemachten Türkengefahr popularisierte sich der Europabegriff, der seine Wurzeln nun nicht mehr in der abendländischen Christenheit, sondern in der Kultur- und Bildungswelt des Humanismus hatte. Diese Humanisten und die von ihnen beeinflußten Geographen zogen die Grenze zwischen Europa und Asien am Don und dem Azovschen Meer, der antiken Tradition folgend. So läßt sich festhalten, daß zu diesem Zeitpunkt das orthodoxe Christentum, zumindest in den Augen der Humanisten, mit zum bildungselitären Europa-Begriff gehörte. Enea Silvio wird mit den Worten überliefert, daß der Fall Konstantinopels der Christenheit ein Auge ausgerissen habe. Und in seiner Kosmographie ordnet er, man wird ihm darin bis ins 19.Jahrhundert folgen, die Russen wie die Polen, Litauer und Livländer den nordischen Völkern zu. Der Osten war der Orient und dort drohten die Türken, gegen die auch die Russen als erstes Bollwerk dienen sollten. Wie kam es nun vor dem Hintergrund dieser uneindeutigen Zuordnung Rußlands zum Stereotyp des asiatischen Rußland? Der Ursprung dieses Bildes läßt sich zurückdatieren auf die polnisch-russischen Kriege im frühen 16. Jh. Polen versuchte seine Aufgabe als „antemurale christianitas" im kollektiven Gedächtnis der westlichen Länder zu verankern, um von dort im Kampf gegen die Moskowiter unterstützt zu werden. 31 Mit eindrucksvollen Bildern von Drachen (Europa) und Bär (Asien) versuchte z.B. der Geograph Johannes von Glogau in Krakau bei Vorlesungen seine Zuhörer zu interessieren. Er stellte Europa als Drachen dar, an dessen Kehle Polen und Litauen lägen, bedroht vom asiatischen Bär. 32 Die bildhafte Darstellung Moskaus und Asiens als für Europa bedrohliche Mächte appellierte an die europäische Solidarität, und deren gemeinsames Interesse an einer sicheren Ostgrenze. Und bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war offensichtlich die Vorstellung der Fremdheit und Nichtzugehörigkeit Rußlands zu Europa in der abendländischen Bildungsschicht verbreitet. Dieses Bild des asiatischen Rußland wird nur in den historischen Augenblicken aufgeweicht, in denen sich Moskau selber

31

Bis heute hält sich dieses Bild, das auch auf die Selbstbeschreibung Polens Einfluß gewonnen hat. „ Polen hatte schon immer das ganz ambivalente und komplizierte Verhältnis zu Europa. Einerseits fühlten sich die Polen traditionell, sozusagen, als Europäische Gesandte', ja fast als Verbannte im Osten. Auch andere Europäer pflegten daran manchmal zu glauben. Ähnlich wie Ungarn wurde Polen lange Zeit antemurale christianitas, als Vormauer des Christentums betrachtet. Für Polen waren die östlichen Grenzen Polens mit den Grenzen Europas identisch. Europa hörte für sie da auf, wo die Kulturwelt der lateinischen Christenheit endete." (Zdzislaw Krasnodebski, „Polens Rückkehr nach Europa", in Bernd Schäfers (Hrsg): Lebensverhältnisse neuen Europa.

und soziale

Konflikte

im

[Verhandlungen des 26. Dt. Soziologentages Düsseldorf 1992], Frankfurt/M. 1993,

269). 32

Vgl. hierzu Ekkehard Klug, „Das asiatische Rußland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils", 275.

122

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

nach Westen öffnet und dort signalisiert, daß es bereit ist, Europas Ostgrenzen gegen das „wirkliche/eigentliche Asien" zu verteidigen. So ergibt sich ein wechselvolles Spiel mit Metaphern, bei dem die Polen weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Wenden sie sich nach Westen, können sie damit rechnen auf breite Unterstützung zu treffen - wie zum Beispiel im Vormärz. Die Unterstützung erwächst ihnen aus dem Westen zumeist jedoch unter der impliziten Bedingung, gemeinsam gegen die russische „Knutokratie" vorzugehen. So stehen westliche Polonophilie und Russophobie in engem Wechselverhältnis. 33 Bei der genauen Datierung der Herauslösung Rußlands und Polens aus der Riege der Nordischen Völker wird man Lemberg nicht unbedingt folgen können. Wie neuerdings Larry Wolff plausibel zeigen konnte, ist Osteuropa eine Erfindung der Aufklärung: ,,[I]t was the intellectual work of the Enlightenment to bring about that modern reorientation of the continent which produced Western Europe and Eastern Europe." 3 4 Dies, so Wolff, ist eine Folge der von Süd- nach Nordeuropa (von Florenz, Rom und Venedig nach Paris, London, Amsterdam) verlagerten Sichtweise auf den Kontinent. „Just as the new centers of the Enlightenment superseded the old centers of the Renaissance, the old lands of barbarism and backwardness in the north were correspondingly displaced to the east. The Enlightenment had to invent Western Europe and Eastern Europe together, as complementary concepts, defining each other by opposition and adjacency." 3 5 Kundera setzt die „philosophische Geographie", die in der Bestimmung von Europas Außen- und Binnengrenzen schon eine lange Tradition hatte im Kontext des Kalten Krieges fort. Er zieht Grenzen zwischen West und Ost, zwischen Europa und Asien, was zwar von der beschreibenden Geographie nicht mitgetragen würde, aber einflußreich die Deutungsmacht der Intellektuellen beim Prozeß des „mental mapping" zeigt. 36 Hieß es bei Boris Groys noch: „Europa ist das Unterbewußte Rußlands", so dreht Sonja Margolina die Metapher einfach um. 37 Sie beschreibt Rußland als das „Unterbewußte Europas". Dies trifft sehr präzise die von Kundera gestartete Selbstbestimmung der europäischen Kultur aus ihrem krassen Gegensatz zum russischen Gegenüber. Kunderas Bild der Sowjetunion erscheint als Verlängerung des Zarenreiches mit anderen Mitteln. Der sowjetische Weg in die Moderne orientiert sich dieser Vorstellung nach nicht an westlichen Werten, sondern reproduziert die zaristischen,

33

34

35 36

37

Vgl. dazu Rudolf Jaworski, „Osteuropa als Gegenstand historischer Stereotypenforschung" in Geschichte und Gesellschaft 13.Jg. (1987), 63-76. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, 5. Ebd. Besonders russische Intellektuelle waren empört über den Ausschluß aus Europa. Sie schrieben heftige Proteste und wiesen auf die Beiträge der russischen Kunst, Literatur und Musik zum kulturellen Erbe Europas hin. Auch Czeslaw Milosz und Adam Michnik wehrten sich gegen eine xenophobe Abschottung gegenüber Rußland. (Vgl. dazu: Czeslaw Milosz, West und östliches Gelände, Köln 1980; Adam Michnik, Polnischer Frieden. Aufsätze zur Konzeption des Widerstands, Berlin 1985). Sonja Margolina, „Woran wir glauben. Rußland und die Moral Europas", in Frankfurter ne Zeitung vom 6. Feb. 1996, 29.

Allgemei-

Milan Kunderas Europa-Vorstellungen

123

patriarchalischen, zentralistischen, obrigkeitsstaatlichen Wesenszüge des alten Rußland. Die gewaltvolle Seite des Kommunismus/Stalinismus wird so in den Vordergrund gerückt, deren erste Opfer die Russen selber waren. Hier verdeckt der Stalinismus den Marxismus/Sozialismus, dem man j a nur schwerlich seine europäischen Wurzeln absprechen kann. Statt Linien von Lenin und Stalin zurück zu Marx und Engels zu führen, zeigt Kundera die Verbindungen zu den Zaren Alexander und Nikolaus. Rußland bleibt für Kundera eine dunkle, fremde und etwas unheimliche Macht, in deren Einflußbereich sich Kultur nicht frei entfalten kann. Fremdheit, Andersheit sind die wichtigsten Merkmale, die Kundera Rußland zuschreibt. Eine Fremdheit, die aus der Entfernung besehen eine gewisse Faszination ausübt, aber in erdrückender Nähe der zentraleuropäischen Kultur den Atem raubt. „Deshalb empfindet jenes Europa, das ich zentral nenne, die Wende seines Schicksals nach 1945 nicht allein als politische Katastrophe, sondern als Infragestellung seiner Zivilisation. Der tiefere Sinn seines Widerstands liegt in der Verteidigung seiner Identität; oder, anders gesagt: Es handelt sich um die Verteidigung s e i n e r , Westlichkeit'". 3 8 Dennoch läßt Kundera es nicht zu, daß Rußland vollständig aus dem europäischen Kultur- und Zivilisationsraum ausgegliedert wird. Auch gesteht er ein, daß besonders außerhalb Rußlands die Kontinuität zwischen Zarismus und Kommunismus ins Auge fällt, während innerhalb Rußlands es gerade die atheistische Seite des Kommunismus ist, die in krassen Gegensatz zur religiösen Tradition Rußlands tritt. Doch in der Bewertung dominant ist die Linie, die den Kommunismus in der Tradition des antiwestlichen Rußland sieht. „Ich möchte noch einmal folgendes unterstreichen", schreibt Kundera "gerade am östlichsten Punkt des Westens wird Rußland viel mehr als anderswo als Gegensatz zum Westen, als antiwestlich wahrgenommen; es erscheint eben nicht nur als eine europäische Macht unter anderen, sondern als eine ganz besondere, eine andere Zivilisation." 39

38

Milan Kundera, „Un Occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas", 46. In einer kurzen Würdigung Havels schreibt Kundera in seinem Aufsatz: „Candide had to be destroyed", von der kulturellen Kolonisation. Politik ist für Kundera Ausdruck einer bestimmten Kultur. So kann der sowjetische Einfluß aus Sicht der politischen Opposition als eine andere Kultur verstanden werden.: „If considered from a historical perspective, all this can be seen also as a conflict between Western civilization and Russian civilization which, in its communist transformation, is more powerful than ever, striving to roll its borders further and further westward. From this point of view, the process of liberalization in the 1960s appears as an attempt to , Westernize' socialism and the Russian invasion as an effort at the definitive ,cultural colonization' of a Western country." Milan Kundera, „Candide had to be destroyed" in Jan Vladislav (Hrsg.): Vaclav Havel or Living in Truth. Twenty-two Essays Published on the Occasion of the Award of the Erasmus Prize to Vaclav Havel, London/Boston 1986. Der Text erschien erstmals 1980 als Vorwort zur französischen Ausgabe der „Audience, Vernissage, Pétition" von Vaclav Havel.

39

Milan Kundera, „Un Occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas", 46. Der polnische Exil-Dichter Czeslaw Milosz spricht ebenso wie Kundera von der Nähe zum lateinischabendländischen Kulturkreis. Auch er erliegt der Versuchung, so müßte man mit Havel kritisieren, die negativen, zerstörerischen Seiten dieser westlichen Kultur zu externalisieren und dem „totalitären Rußland" zuzuschreiben. In seinem Essay „Unser Europa" geht es Milosz vor allem um „eine

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

124

Die Trennungslinie zwischen Okzident und Orient verläuft für ihn entlang der alten Kulturscheide der Religion: westlich-lateinisch-katholisch und östlich-byzantinischorthodox. Diese Trennlinien lassen sich historisch bis zur letzten Jahrtausendwende zurückverfolgen. Die Entstehung Europas bringt z.B. Werner Conze mit der Entwicklung der christlichen Kirche in Verbindung, genauer: mit der Missionierung im Osten. So habe sich die „Westkirche" in einen scheinbar grenzenlosen Raum vorgeschoben, um erst mit der von Byzanz aus missionierten Kiever Rus eine Grenze gesteckt zu bekommen. 4 0 Und hier, an der Scheidelinie zwischen der westlichen und der östlichen Missionierung/Christianisierung entsteht auch die für das kommende Jahrtausend entscheidende Trennung zwischen dem lateinischen Westen und dem griechischen Osten. Für Conze ist die Ostgrenze Mitteleuropas, oder anders: die Grenze Ostmitteleuropas, zu Osteuropa damit festgelegt. Die kirchenorganisatorische Entscheidung, den Einflußbereich der ostfränkischen Reichskirche nicht weiter nach Osten vorzutreiben hat eine kirchengeschichtliche zu einer kulturgeschichtlichen Entscheidung gemacht. „Es war entschieden, daß Böhmen, Mähren sowie das dalmatinische und pannonische Kroatien unter römischer, Serbien, Makedonien, Griechenland, Bulgarien, seit dem Ende des 10. Jh. auch die Kiever Rus' unter byzantinischer Jurisdiktion stehen sollten. Damit war der Grund für die Abgrenzung Mitteleuropas von Osteuropa gelegt. Die kirchliche Trennung wurde entscheidend für die Verschiedenartigkeit der Kulturen." 4 1 Die Unterschiede, so zählt Conze auf, liegen in der Liturgie, dem Kirchenbegriff, dem Verhältnis zur bildenden Kunst, der Entwicklung von Kultur, Wissenschaft und Politik. Die religiösen Weltbilder haben einen Unterschied zwischen Ost und West entstehen lassen, „...der sich am deutlichsten vielleicht in einem unterschiedlichen Gottesbild ausdrückt: im einen Fall Christus als Pantokrator, als Weltenherrscher, ...im anderen Fall seit dem 12./13. Jahrhundert, Christus als leidender Mensch, als Kreuzesmann, nicht Sieger, sondern O p f e r . " 4 2 Folgt man Conze, dann war der Trennungsvorgang im 14. Jahrhundert weitestgehend abgeschlossen. Was er hier beschreibt ist zugleich auch die unterschiedliche Grenzziehung Mitteleuropas nach Westen und nach Osten. Eine wirkliche Trennung, so

Standortbestimmung - wider die kulturpolitische Jaltaisierung - unserer östlichen Nachbarvölker." Er erinnert daran, „daß willkürlich gezogene politische Grenzen nicht identisch sind mit dem geistigen Sein und Erbe jenes Teils von Europa, der - oft u n s c h a r f - der,östliche' genannt wird und der doch integraler Bestandteil einer gemeinsamen europäischen Tradition ist." Mit deutlichen Worten bezeichnet Milosz den Zustand in Mitteleuropa als koloniale Herrschaft und empfindet Rußland als fremde Macht, zu der keine Mentalitätsverwandtschaft besteht. [Johann-Gottfried-Herder-Institut (Hrsg.): Trauma oder Traum? Der polnische

Beitrag

zur Mitteleuropa-Diskussion

(1985-1990),

10]. Von Milosz herausgefordert antwortete Adam Krzeminski in der Warschauer Polityka 1987 mit dem parteioffiziellen Kurs. Rußland sei spätestens seit Peter dem Großen ein Teil Europas und Rußland aus Europa herauszudrängen kann nicht Interesse der mitteleuropäischen Länder sein. Russische Präsenz sei eine Bestandsgarantie der Eigenständigkeit der mitteleuropäischen Länder. 40

Vgl. dazu auch: Judith Herrin, „Vor Europa. Osten und Westen - zur Genese einer Differenz", in Lettre International,

2. Jg., (1989), Bd. 4, 23-25.

41

Werner Conze, Ostmitteleuropa.

42

Herfried Münkler, „Europa als politische Idee", 526.

Von der Spätantike

bis zum 18. Jahrhundert,

München 1992, 15.

125

Milan Kunderas Europa-Vorstellungen

könnte man Conze umschreiben, liegt zwischen Mitteleuropa und dem Westen nicht vor. Es läßt sich zwar eine spezifisch ostmitteleuropäische Geschichte und Kultur beschreiben, aber deren Entwicklung zeichnet sich durch eine große Offenheit nach Westen aus. Anders die Grenze Mitteleuropas, genauer Ostmitteleuropas nach Osten. Hier hat sich eine schier undurchlässige Mauer aus kirchen- und kulturgeschichlichen Tatsachen aufgetürmt. Von Westen her gab es dagegen einen regen Austausch und nach dem 10. und bis zum 14. Jahrhundert fand eine strukturelle Angleichung Ostmitteleuropas mit den „älteren Kulturlandschaften West- und Mitteleuropas statt." 3 Aus westeuropäischer Sicht wurde mit der Missionierung der Kiever Rus durch Byzanz die Grenzenlosigkeit des westlichen, abendländischen, Horizontes aufgehoben und nach Osten abgegrenzt. „Die lateinisch-griechische Missions- und Kirchengrenze wurde für das kommende Jahrtausend zur Trennungslinie zwischen Mittel- und Osteuropa." 4 4 Diese Trennung in west- und öströmische Tradition reicht aber nicht, um die charakteristische Ausprägung des Raums in der Mitte Europas, an der Grenzlinie zwischen Oriens und Occidens zu erklären. In der religionsgeschichtlichen Betrachtung bleibt es bei einer Zweiteilung Europas. Werner Conze bestätigt damit die kulturschaffende Kraft der Religion und hebt deren Bedeutung für die Entwicklung westlicher, bzw. östlicher Werte hervor. Gewaltvoll ist diese Grenze nach dem Krieg nach Westen verschoben worden. Das geographische Zentrum Europas (zwischen Atlantik und Ural) rückte politisch in den Osten und kulturell in den Westen, verlor also 1945 seine Identität, mußte sich aufspreizen. Aus der Dreiteilung wurde eine Zweiteilung. Aus der kulturellen Fremdheit der sowjetischen Besatzungmacht ergeben sich für Kundera sämtliche Folgeprobleme. Länder, Kulturen und ihre Menschen werden aus gewohnten kulturellen Zusammenhängen gerissen und einer fremden Kultur ausgesetzt. Sei es Ungarn, Polen, oder die Tschechoslowakei: ein Land nach dem anderen verlor so „die Substanz seiner Identität" 45 . Zum Kristallisationspunkt für die Eigenart des zentraleuropäischen Raums wird die Vielfalt gegenüber der Vereinheitlichung auf russischer Seite. Die Identität Zentraleuropas bekommt eine weitere Facette neben dem oben angedeuteten Freiheits- und Selbstorganisationsbedürfnis - nämlich die mosaikartige Vielfalt als Identität, das multikulturelle: „Zentraleuropa wollte das verdichtete Vorbild eines Europa mitsamt seinen vielfältigen Reichtümern abgeben, ein kleines „erzeuropäisches" Europa, das Miniaturmodell eines Europa der Nationen gemäß dem Grundgedanken ein Maximum an Vielfalt auf dem kleinsten Raum. Wie mußte da ein Rußland erschaudern, das demgegenüber auf dem gerade entgegengesetzten Prinzip aufbaute: das geringste Maß an Vielfalt auf größtem Raum?" 4 6

43

Werner Conze, Ostmitteleuropa.

44

Ebd., 6.

Von der Spätantike

bis zum 18. Jahrhundert,

58.

45

Ebd.

46

Milan Kundera, „Un Occident kidnappe oder Die Tragödie Zentraleuropas", 45.

126

1.2.

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

Die Grenze nach Westen und die Einheit des europäischen „Sehnsuchtsraums"

Weit weniger aufwendig als die Grenze nach Osten beschreibt Kundera die Grenze Mitteleuropas nach Westen. Diese, so argumentiert Kundera, habe sich in der Solidarität der DDR mit dem Eingriff der Sowjetunion in Prag 1968 noch einmal dokumentiert. 47 Er bezieht sich auf die Erfahrungen der CSSR bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Die innere Verwandtschaft der österreichischen, ungarischen, polnischen und tschechischen Menschen kam zum Ausdruck (Sabotage, Mißbilligung der Besetzung), während z. B. Russen, Bulgaren und Ostdeutsche (!) sich auf die Seite der Okkupation gestellt haben. In seiner Aufzählung der zentraleuropäischen Revolten Ungarns, der Tschechoslowakei und Polens von 1956 bis Solidarnosc fehlt folgerichtig der Aufstand der Berliner Arbeiter von 1953. Deutschland gehört in Kunderas Modell nicht zu Mitteleuropa und so hätte er sich wohl bedenkenlos in diesem Punkt Czeslaw Milosz angeschlossen, der schrieb: „Therefore I would risk a very simple definition. I would define Central Europe as all the countries that in August 1939 were the real or hypothetical object of a trade between the Soviet Union and Germany...Decades of pain and humiliation: that is what distinguishes Central European countries from their Western counterparts." 48 Damit ist er doch wieder an dem Punkt, den er eigentlich vermeiden wollte. Denn durch die Abgrenzung von Deutschland durch das bekannte Zangenbild setzt sich Kundera doch wieder in die Tradition Palackys, der aus geopolitischen Gründen nur dann eine Überlebenschance für die mitteleuropäischen Länder gesehen hat, wenn sie eine Föderation gründen. Doch das widerspricht der von Kundera bevorzugten West-Ost-Teilung. An diesen Stellen zeigt sich, daß fiir seine Intention die Europa-Idee weitaus wichtiger ist als die Mitteleuropa-Idee, die streng genommen auf eine zu beiden Seiten symmetrisch geschlossenen Mitte angewiesen ist. Er betont, daß Europa sich seiner Identität nur dann aufrichtig und konsequent vergewissern könne, wenn es auch die in der Nachkriegszeit zu Osteuropa geschlagenen Teile des europäischen Kernlandes und deren kulturelles Erbe mit in die Selbstverständigungsdebatte über die europäische Identität integriere. Mitteleuropa kommt in Kunderas Argumentation die Rolle eines kritischen

„Russen, Bulgaren und Ostdeutsche verbreiteten Schrecken und wurden gefürchtet. Andererseits könnte ich 'zig Geschichten über Polen und Ungarn erzählen, die ihre Mißbilligung der Besetzung unübersehbar zum Ausdruck brachten und sie offen sabotierten." Jugoslawien und Österreich hinzunehmend schreibt Kundera weiter: „daß die Okkupation der Tschechoslowakei mit einem Mal den traditionellen Raum Zentraleuropas in aller Klarheit in den Blick rückte."(Milan Kundera, „Un Occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas", 44) 48

Czeslaw Milosz, zitiert in Vladimir Tismaneanu, Reinventing

Politics,

N e w York/Toronto 1992,

15. „Was also Zentraleuropa ausmacht und bestimmt, können nicht die politischen Grenzen sein, sondern die großen gemeinsamen Erfahrungen, die die Völker wieder zusammenführen und sie immer wieder neu und anders gruppieren innerhalb nur imaginärer und stets wechselnder Grenzen, wo die gleiche Erinnerung, die gleiche Erfahrung, die Gemeinsamkeit einer gleichen Tradition fortlebt." (ebenda).

Milan Kunderas Europa-Vorstellungen

127

Reflexionspartners zu, der in Richtung Westen wie in Richtung Osten Fragen über die Zukunft Europas aufwirft. Im Westen Europas, so Kundera, hat die Kultur dem Markt Platz gemacht. (West-)Europa beschreibt sich nur noch als Teil eines ökonomischen Systems. Aber, so Kundera in einem Interview mit Alain Finkielkraut, „my country is not capitalist, ñor do I think it wants to become so again. And yet, it is an old Western European country and it wishes to retain this identity. The West constitutes a common history, a common culture." 49 Europa lebt nur in der Idee einer kulturellen Einheit, die gleichzeitig eine moralische sei. Nur die Kultur könne eine „Politisierung und Barbarisierung der Welt" verhindern. Zum Abschluß konkretisiert er die doppelte Stoßrichtung seiner Argumente noch einmal, deren unterschiedlichen Charakter und unterschiedliche historische Dimension er hervorhebt: „Zentraleuropa 5 1 muß sich deshalb nicht nur gegen die schwer lastende Macht seines großen Nachbarn zur Wehr setzen, sondern auch gegen die immaterielle Kraft einer Zeit, die unwiderruflich die Epoche der Kultur hinter sich läßt. Aus diesem Grund haftet den zentraleuropäischen Aufständen etwas Konservatives, ich würde sagen, fast Anachronistisches an: Verzweifelt versuchen sie, die alte Zeit, die Zeit der Kultur, die entschwundene Neuzeit wiederzugewinnen, denn nur in jener Epoche, nur in einer Welt, die eine kulturelle Dimension bewahrt, kann Zentraleuropa noch seine Identität verteidigen und sich selbst erhalten." 52 Europa wird somit für Kundera zu einem „Sehnsuchtsraum"; und der Ausschluß aus Europa zu einer harten moralischen Verurteilung. Europa wird nicht als geographisches Phänomen verstanden, sondern als ein geistig-kultureller Wert, synonym mit Okzident und Westen. 5 3 Damit thematisiert Kundera die wichtige Frage europäischer Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Seine Kritik richtet sich gegen ein ökonomisch verkürztes Verständnis Europas, das im Westen die Chancen einer wirklichen Integration dadurch verspielt, daß es auf die Fragen der Zusammengehörigkeit, die auch auf der Erfahrung von Gemeinsamkeiten beruhen müssen, aus dem Auge verliert und im Osten diejenigen aus politischen Gründen ausschließt, die jenseits des Eisernen Vorhangs leben. Gleichzeitig wurde thematisiert, daß es sich bei der Vernachlässigung der Kultur auch um die Gefährdung der Grundlagen des demokratischen Systems selber handle. Bürgerschaftliche Kompetenz basiere auf kulturellen Grundlagen, die im Westen wie im Osten erodieren.

49

Milan Kundera, Interview European

50

Culture,

mit Alain

Finkielkraut,

in Cross

Currents.

A Yearbook

of

Central

1 ( 1 9 8 2 ) , 15-29, hier 18f.

„Europa hat den Verlust s e i n e s wichtigen kulturellen Zentrums nicht bemerkt, weil e s seine Einheit nicht mehr als kulturelle begreift."(Milan Kundera, „ U n Occident kidnappé oder D i e Tragödie Zentraleuropas", 50).

51

D a ß sich in den Zitaten aus der deutschen A u s g a b e von Kunderas A u f s a t z die B e z e i c h n u n g e n Mitteleuropa

und

Zentraleuropa

deutschen Übersetzung.

abwechseln,

erscheint

als

unnötige

Unentschlossenheit

der

Im französischen Original steht ausschließlich der B e g r i f f „l'Europe

centrale". 52

Milan Kundera, „ U n Occident kidnappé oder D i e Tragödie Zentraleuropas", 52.

53

Ebd., 44.

128

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

1.3. Die Mitte Europas als eigentliches Europa In weiten Teilen seiner Argumentation teilt Kundera Europa in einen Osten und einen Westen. Die Mitte schlägt er zum Westen dazu und erklärt dieses derart erweiterte Westeuropa zum eigentlichen Europa. Von einer eigenständigen Mitte ist in diesem Zusammenhang keine Rede. Erst bei der Konfrontation des „Sehnsuchtsraums" Europa mit der europäischen Realität bekommt die Mitte leidliche Konturen. Sie tritt die Rolle des Erbverwalters europäischer Kulturgüter an, die der Westen im Zuge der politischen Konfrontation mit dem Osten und der Kommerzialisierung seiner Kultur verloren gegeben hat. Deswegen kann auch nur aus der Mitte heraus eine neue Einheit Europas entstehen. Politische und ökonomische Kräfte reichen nicht aus, um die einheitbildende Kraft von Literatur, Musik, Architektur, Malerei und Philosophie zu ersetzen. 54 Die Kultur erscheint Kundera als Heimstätte moralischer Integrität, weil sie sich nicht den Niederungen politischer Verstrickungen aussetzen muß. Politik wird so zum Gegenpol von Moral und in einem dekadenztheoretischen Modell gar zur Verfallsstufe der Kultur. Mit dem allumfassenden Vordringen politischer Logik und Semantik verschwanden Moral und Kultur aus dem öffentlichen Leben. Damit thematisiert Kundera die kulturellen Voraussetzungen demokratischer und freiheitlicher Politik. „Die Politik" in West und Ost zerstört entweder aktiv und systematisch die Grundlagen für eine menschliche Gesellschaft oder läßt, wie er es im Westen Europas beobachtet, durch die Kommerzialisierung und Individualisierung die Grundlagen demokratischer Gesellschaften erodieren. Kundera beruft sich jedoch auch in dieser Argumentation auf die semantische Zweiteilung Europas. „Denn in der Tat verkörpert die Zivilisation des russischen Totalitarismus die radikale Negation des Westens." 5 Doch im Westen war „der Westen" gar nicht mehr präsent. Somit spiegelt sich in Mitteleuropa ein Anachronismus wider. Die Kräfte, die den Westen von sich selber entfremdet haben, wirkten im Zentrum Europas nicht so stark. Hier sind Traditionen erhalten geblieben, hier glaubte man noch an die Verbindung von Kultur, Moral und Politik, während im Westen die Idee Europas kommerzialisiert und politisiert worden ist. „Aus diesem Grund haftet den zentraleuropäischen Aufständen etwas Konservatives, ich würde sagen, fast Anachronistisches an: Verzweifelt versuchen sie, die alte Zeit, die Zeit der Kultur, die entschwundene Neuzeit wiederzugewinnen, denn nur in jener Epoche, nur in einer Welt, die eine kulturelle Dimension bewahrt, kann Zentraleuropa noch seine Identität verteidigen" 56 . Europa wird nur in Osteuropa (im totalitären Ostblock) als bewahrenswerte Größe erfahren. Der Kultur kommt in Kunderas Argument eine große Bedeutung zu: Die Kultur war es, die Europa zu einer Einheit gemacht hat und maßgeblich war es auch die Kultur, die heute noch Mitteleuropa zu einer Einheit macht. Im Osten haben Kommunismus und Totalitarismus für eine Zerstörung der kulturellen Vielfalt gesorgt und im Westen kom-

54 55 56

Vgl. ebd., 50. Ebd., 52. Ebd.

Milan Kunderas Europa-Vorstellungen

129

merzielle, politische und mediale Modernisierung. So bleibt Zentraleuropa zurück, das die kulturellen Wurzeln für eine Neubelebung der Idee Europas in sich trägt und aus der Mitte heraus ein neues Zentrum wirklich europäischer Kultur sein könnte. Mitteleuropa erscheint als eine Art Jungbrunnen der europäischen Idee, weil es einen moralischen und kulturellen Traditionsbestand hat, auf den sowohl der etatistisch geprägte Osten, wie auch der individualistisch geprägte Westen nur neidisch blicken können. 57 Die Großmächte Deutschland und Rußland haben nur der Macht gehuldigt und darüber ihre Identität als europäische Mächte aufgegeben. Kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Mitte Europas wurden nicht Opfer der eigenen Schwäche, sondern Opfer der Zeit (der Geschichte), die gegen sie sprach. Doch Kundera läutet eine Zeitenwende ein. Wenn sich die Europäer wieder auf eine gemeinsame europäische Idee beziehen wollen, kommen sie nicht an den Erfahrungen, Traditionen und Kulturen Mitteleuropas vorbei, weil nur dort neuzeitliche Traditionen erhalten geblieben sind, in denen „die Kultur noch für die Realität höherer Werte 58

stand". Zentraleuropa wird zu einer Art „Genbank für ausgestorbene Arten". Dieser Neubeginn muß sich jedoch dann verbinden mit einer Absage an den etatistischen Zentralismus und den kommerzialisierten Individualismus. 59 Die Nachkriegserfahrungen bestärken Kundera in der These, daß es diesen eigenständigen mitteleuropäischen Raum gibt, der von dem Bezug zur europäischen Kultur getragen wird. 60 „Denn diesen neuen Protagonisten einer mitteleuropäischen Identität geht es weniger um politische oder wirtschaftliche Einigungspläne als vielmehr um die Rekonstruktion einer geistes-

57

Max Weber hat in seiner Schrift „Zwischen zwei Gesetzen" darauf hingewiesen, wie sich Macht und Kultur ausschließen. Entweder wir werden mächtig oder wir bringen Kulturgüter hervor. Schweizer und Finnen waren für ihn Beispiele der Kleinstaaten, die sich für Kultur und gegen Machtpolitik entschieden haben. (Max Weber, „Zwischen zwei Gesetzen" in Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, Bd. 1/15 Max Weber Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger, Tübingen 1985, 94-96).

58

Milan Kundera, „Un Occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas", 52. Vgl. Werner Weidenfeld und Sven Papcke, Traumland Mitteleuropa? Beiträge zu einer aktuellen Kontroverse, Darmstadt 1988, 87 mit einer langen ausführlichen Beschreibung Mitteleuropas vom Barock bis zur Moderne. In dem umfangreichen Kommentarband von George Schöpflin und Nancy Wood In Search of Central Europe sind einige der wichtigsten Reaktionen und Kritiken zusammengetragen. Hier sollen nur kurz einige Elemente zusammengetragen werden: (die ersten vier Punkte stammen von Egon Schwarz)l. Wie nicht anders zu erwarten war, richtet sich die Kritik an Kundera hauptsächlich gegen dessen scharfe Verurteilung der Rolle Rußlands.2. Schon vor dem Eindringen der Nazis gab es in Mitteleuropa Antisemitismus. Und auch die Nazis stammen aus Europa, aus Mitteleuropa, entstammen also der europäischen Kultur, wenn man sich nicht des waghalsigen Kunstgriff eines Ernst Nolte bedienen will, indem man schlicht die Verbrechen Hitlers für asiatisch erklärt. Es waren Europäer, die Europäer umgebracht haben.3. Es war den mitteleuropäischen Kleinstaaten offenbar nicht möglich, sich in der Zwischenkriegszeit zu einer Föderation zusammenzuschließen. Ein ungezügelter Nationalismus überzog die Länder.4. Der Vorwurf gegen Kundera lautet, daß er nur in seinem Aufsatz die mitteleuropäische Literatur beschwört, aber in seinem schriftstellerischen Werk Mitteleuropa überhaupt keine Rolle spielt.

59

60

130

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

und kulturgeschichtlichen Zone. Mitteleuropa wird vor allem als eine zu Unrecht vergessene Kulturlandschaft eigener Prägung vorgestellt, als eine .kulturpolitische Antihypothese', wie es György Konrad einmal formuliert hat." 61 Wie ein Steinbruch wirkte die Arbeit Kunderas, die in fast jeder Schrift zur Mitteleuropa-Idee eine wichtige Rolle einnahm. Aber ebenso zeigte sich, daß fast jede Position in Kunderas Text Bestätigung finden konnte. Von Seiten des Polen Andrzej Krasinski, der in der exilpolnischen Zeitschrift Kultura einen Bericht verfaßt hat, erntete Kundera weitgehend Zustimmung. 6 2 Er griff besonders das Thema der kulturphilosophischen Tradition Europas heraus. Mitteleuropa, so Krasinski, wird vom westlichen Kulturkreis beherrscht, vom lateinischen Kulturkreis, oder vom westlichen Christentum und steht inhaltlich für „die Akzeptanz und die Verinnerlichung westlicher Grundwerte..., besonders das Ideal der Autonomie und der Emanzipation von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen bei gleichzeitigem Fehlen von Bedingungen infolge von politischen Behinderungen, Abhängigkeiten und von außen aufgezwungenen Mustern diese Ideale in der Praxis des Gemeinschaftslebens in die Wirklichkeit umzusetzen" 6 3 In einem ausfuhrlichen Exkurs in die Geschichte versucht Krasinski, Kunderas These mitteleuropäischer Pluralität anhand der Beispiele von multinationalen Zusammenschlüssen und Pluralismus nachzugehen. 6 4 Auch das Habsburgerreich wird wieder als Vielvölkerstaat für die Eigenart des mitteleuropäischen Raums herangezogen: „Zum ersten Mal in der Geschichte befinden sich die verschiedenen Länder dieses Raumes in einer vergleichbaren Situation der Abhängigkeit, und es wurde ihnen allen ein System aufgezwungen, das nicht nur nicht leistungsfähig, sondern auch ihren Bestrebungen und Vorstellungen vom Wesen gesellschaftlichen Lebens, von der Stellung des Individuums innerhalb desselben und von der Rolle von Staat und Recht vollkommen fremd ist." 65 Praktisch gesehen wünscht er sich eine engere auch wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ländern Mitteleuropas. Was er sieht ist jedoch, daß alle Beziehungen über Moskau koordiniert werden und sich die Mitteleuropäer ihren eigenen

61

Und mit Recht betont Rudolf Jaworski die besondere Rolle von Musik, Malerei, Dichtung und Theater als „Medien kollektiver Selbstverständigung" Rudolf Jaworski, „Die aktuelle MitteleuropaDiskussion in historischer Perspektive", 543. Vgl. neben vielen anderen: Zoran Konstantinovic, „Grenzüberschreitungen in der Literatur", in: Hanns-Albert Steger, Ein Gespenst geht um... Mitteleuropa, (Dokumentation zur Internationalen T a g u n g „Grenzen und Horizonte. Z u r Problematik Mitteleuropas in Vergangenheit und Gegenwart"), München 1987, 175-182; auch Claudio Magris, „Sprache, Geschichte", ebd., 183-185. N a c h d e m Jaworski weder bei der Geographie, noch bei der Politik f ü n d i g geworden ist, kehrt auch er bei der Suche nach den Mitteleuropa verbindenden Merkmalen zur Kultur zurück und merkt an, daß Literaten wie Konrad und K u n d e r a in der aktuellen Mitteleuropadiskussion, eine so hervorragende Rolle spielen (543). In der Zwischenkriegszeit habe die kulturelle Identität nicht diese Rolle gespielt.

62

Vgl. Andrzej Krasinski, „Der Begriff Mitteleuropa"; in Johann-Gottfried-Herder-Institut (Hrsg.) Trauma oder Traum? Der polnische Beitrag zur Mitteleuropa-Diskussion (1985-1990), bearbeitet von Hans-Werner Raufenberg, Marburg (o.J.), 42-60.

63

Ebd., 43.

64

Ebd., 47. Ebd., 48.

65

Milan Kunderas Europa-Vorstellungen

131

Nachbarn nicht ausreichend zuwenden. Kulturelle Gemeinsamkeit ist auch für ihn im Gefolge Kunderas, auf den er sich hier stützt, das wirkliche Bindemittel zwischen den Ländern, in denen „das Gefühl eines gemeinsamen europäischen Erbes am stärksten entwickelt und das Bewußtsein einer mitteleuropäischen Identität am höchsten und am deutlichsten formuliert worden ist, vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) der Tschechoslowakei und Ungarn." 6 6 Es geht um die „Rettung der Authentizität des gesellschaftlichen Lebens und um die subjektive Rolle des Individuums und unabhängiger sozialer Gruppen" 6 7 Krasinski nimmt die Themen Kunderas auf, wendet sie aber selbstkritisch, um ein positives Programm für Mitteleuropa daraus zu entwickeln. Intensivere Zusammenarbeit, weniger ideelle als praktische Rekonstruktion Mitteleuropas. So findet sich bei Krasinski eine ähnliche Verbindung zwischen bürgerschaftlichem Engagement, dem Aufbau einer Zivilgesellschaft und der Orientierung am Westen. Mit anderen Ländern in der Mitte Europas nach eigener Identität zu suchen würde auch ein Teil des Erbes der europäischen Kultur zu tage fördern, daß darin besteht, „gemeinsam mit andern unablässig nach Wegen und konkreten Lösungen zu suchen, aufgezwungene Ordnungen umzugestalten und den Bereich einer freien Betätigung von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen zu erweitern." 6 8 Die Idealisierung Mitteleuropas reizte zahlreiche Kritiker zu Gegenreaktionen „Es soll uns glauben gemacht werden, daß das, was wirklich mitteleuropäisch gewesen war, immer westlich gewesen sei, rationalistisch, humanistisch, demokratisch, skeptisch und tolerant. Der Rest sei osteuropäisch, russisch oder vielleicht auch deutsch gewesen. Zu Mitteleuropa gehörten die Dichter und Denker, zu Osteuropa hingegen die Richter und Henker." 6 9 Im gleichen Sinne kritisierte Joseph Brodsky die Einseitigkeit von Kunderas Betrachtung: „Das politische System, das Herrn Kundera außer Gefecht setzte, ist ebenso ein Produkt des westlichen Rationalismus wie des östlichen emotionalen Radikalismus." 7 0 Ash hält Kundera einige inhärente Faktoren der mitteleuropäischen Schwierigkeiten entgegen und wendet sich gegen eine voreilige Externalisierung der Probleme: „Bürokratische Unbeweglichkeit und formalistischer Legalismus, die bis in ihre absurden (und unmenschlichen) Extreme getrieben wurden, waren vor 1914 schließlich auch charakteristisch für Mitteleuropa gewesen." 7 1 Kafkas Werke sind nicht nur ein Symbol für mitteleuropäische Kultur, sondern auch für die Krise der Moderne, die selbst vor Prag, Warschau und Budapest nicht halt gemacht hatte. Keinen Zweifel läßt Milan Simecka daran, daß Kunderas Beschreibung des eklatanten Widerspruchs zwischen der äußerst lebhaften, kreativen Kultur und der lahmgelegten, sterilen Politik ein Drama der europäischen Geschichte ist. 72 Aber wie auch andere

66

Ebd., 53.

67

Ebd., 54.

68

Ebd., 60.

69

Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert

70

Ebd., 194.

wird abgewählt,

194.

71

Ebd.

72

Vgl. Milan Simecka, „An Other Civilization?" in G. Schöpflin und N. Wood (Hrsg.) In Search Central Europe, Oxford 1989, 157-162.

of

132

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

zuvor kritisiert Simecka, daß Kundera die Tragödie mit dem Erscheinen der Sowjetunion beginnen läßt und nicht schon mit Hitler. Es waren nicht „die Russen", die den Sozialismus in der Tschechoslowakei stützten gegen die Reformversuche, sondern die Mitbürger, die tschechischen und slowakischen Sozialisten. „Der Westen" oder „Europa" werden in den Diskussionen oft nur als Metaphern benutzt. Dann stehen Werte wie Toleranz, die Achtung der Menschenrechte, Pressefreiheit etc. stellvertretend für Europa. In diesem Sinne liegt Kanada in Europa und das nationalsozialistische Deutschland nicht. Mihaly Vajda hat an anderer Stelle noch einmal knapp diesen Europa-Begriff auf den Punkt gebracht. In Unterstützung von Kunderas Position, Milan Simeckas Kritik zurückweisend, schreibt er: „I cannot, however, accept the civilization or culture of the country (Russia, RS) as a European one, as long as it fails to respect those who think in another way, as long as it also tries to expel from itself all „Europeans", among others Lev Kopelev himself." 73 Was Kundera, Vajda, Mellor u.a. hier transportieren ist die aufklärerische Idee des Westens, der sich an seinem Gegensatz zum Osten konstituiert.

2. György Konrads symmetrische Mitte Anders als Milan Kundera argumentiert der ungarische Soziologe und Schriftsteller György Konrad für eine stärker symmetrische Abgrenzung der Mitte Europas nach West und Ost. 74 Einige von dessen Argumenten aufgreifend, wendet sich Konrad ebenso vehement wie Kundera gegen die sowjetischen Einflüsse in Ostmitteleuropa. Aber für ihn ist Jalta das zentrale Ereignis, das ein Zusammenwirken von West und Ost gegen die europäische Mitte symbolisiert. 75 Er mobilisiert das alte Zangenbild wieder und erwartet von Europa, daß es sich erhebt gegen die nach Europa hineinragenden Flügelmächte aufrichtet: „Die großen europäischen Nationalstaaten haben die unterschiedlichen Interessen Europas immer ihren egoistischen nationalen Interessen untergeordnet. Infolgedessen ist auch ihre nationale Bedeutung geschrumpft. Durch die Schwächung Mitteleuropas konnte ganz Europa geschwächt werden. Die französische Dominanz über den europäischen Kontinent war eine ebenso arrogante Illusion wie die Illusion der deutschen Dominanz. Im Endergebnis ist ganz Europa unter die Vormundschaft zweier Randmächte geraten." 76 Zentrale Aussagen aus Konrads zahlreichen Schriften greifen Elemente auf, die schon in der Mitteleuropa-Idee des 19. Jahrhunderts einiges Gewicht hatten. Er geht zum Beispiel von der friedenstiftenden Leistung der europäischen Mitte aus, da diese sich gegen die eher militant ausgerichteten Flügelmächte Amerika und Sowjetunion als

73

Michaly Vajda, „ W h o Excluded Russia from Europe? (A Reply to Simecka)", ebd., 168.

74

György Konrad, Antipolitik.

1984 und:

ders.:

„Mitteleuropäische Meditationen an der Bruchlinie zweier Zivilisationen", in Mitteleuropa?,

Mitteleuropäische

Meditationen,

Frankfurt/M.

hrsg

v. Österreichischen Institut für Friedensforschung und -erziehung (ÖIF) Wien 1989, 7-28. 75 76

Vgl. György Konrad, Antipolitik, Ebd., 61 f.

Iii.

György Konrads symmetrische Mitte

133

Gegenprinzip darstellen könne. Konrad knüpft an die Dichotomisierung der polnischen Opposition an, wenn er die Imperative der Systemkonfrontation mit „Politik" und die aus dem persönlichen Nahraum oppositioneller Lebensstile wachsende Alternative mit „Antipolitik" bezeichnet. 77 „Da der Einparteienstaat - selbst in Ungarn - immer noch weite Teile der politischen und ökonomischen Sphäre besetzt hält, wird erwartet, daß die Widerstandspotentiale gerade aus der lange Zeit unterdrückten, aber nicht zu kontrollierenden persönlichen Sphäre kommen und kommen werden. Nicht umsonst hat György Konrad dieses Programm, das er essayistisch entworfen hat, das der A n t i politik' genannt." 7 8 Diesen Begriff hat Konrad ins Gespräch gebracht (2.1.) und argumentiert ftir eine Befreiung der europäischen Mitte, die sich zwischen Individualismus auf der einen Seite und Kollektivismus auf der anderen eingezwängt sieht. Diese Gegensätze bilden sich dann auch semantisch wieder in der historischen Literatur ab (2.2.), weil der Gegensatz zwischen West und Ost in den Begriffen Gesellschaft, Individualismus (West), Staat und Kollektivismus (Ost) reformuliert wird.

2.1. Antipolitik - der mitteleuropäische Politikbegriff Der Begriff der Antipolitik bietet ausreichend Stoff für Mißverständnisse. Während die auswertigen Beobachter von einer Wiedergeburt des Politischen geschrieben haben, mieden die Ostmitteleuropäer selber den Begriff der Politik. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man die eigenwillige Begriffsprägung György Konrads genauer betrachtet und seine eigenen Definitionsversuche analysiert. „Die Vergesellschaftung des Staatssozialismus wird das Werk von ein bis zwei antipolitischen Generationen sein. Nicht von apolitischen, die so tun, als interessierte sie das alles nicht, sondern, ich sage es noch einmal, von antipolitischen. Wer sich als apolitisch bezeichnet, irrt sich oder sagt nicht die Wahrheit. In Wirklichkeit sind solche Menschen sogar sehr politisch, in ihrer ganzen Lebensführung sind sie sorgsam darauf bedacht, mit der Politik nicht in Konflikt zu geraten." Und weiter unten: „Antipolitik ist das Politisieren von Menschen, die keine Politiker werden und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Antipolitik betreibt das Zustandekommen von unabhängigen Instanzen gegenüber der politischen Macht, Antipolitik ist eine Gegenmacht, die nicht an die Macht kommen kann und das auch nicht will. Die Antipolitik besitzt auch so schon und bereits jetzt Macht, nämlich aufgrund ihres moralisch-kulturellen Gewichts." 7 9 Der Begriff der Politik war offensichtlich so kontaminiert, daß die

77

Vgl. dazu auch: György Konrad, „An Europas Horizont kichert der Wahnsinn", Gesellschaft/Frankfurter Currents.

A Yearbook

in

Neue

Hefte, 39.Jg. (1992), S. 677-683; ders., „Letter from Budapest" in Cross of Central European

Culture,

1 (1982), 12-14 und ders., „Mein Traum von

Mitteleuropa" in Kursbuch Nr.81 (1985), 175-193. 78

Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, „Sind Lebensstile politisierbar?", 336/337.

79

György Konrad, Antipolitik,

Frankfurt/M. 1984, 212f. Genau im gleichen Sinne äußert sich Vaclav

Havel: „Ich glaube, daß das Phänomen des Dissidententums aus einer wesenhaft anderen Auffassung vom Sinn der Politik erwächst, als sie in der zeitgenössischen Welt vorherrscht. Der

134

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

Opposition ihr eigenes Gewicht nicht als politisches Gewicht definieren wollte. Daraus spricht zweierlei: Zum einen zeigen diese Sätze, wie weit eine demokratische Revolution über die Phantasie der damaligen Oppositionellen hinausging und zum zweiten, wie sehr Politik als solche, egal von wem und in welchem Geiste ausgeübt, als von Macht beherrscht begriffen wurde. Auch wenn Petr Pithart nach den Revolutionsjahren der Antipolitik nicht diese radikale Ablehnung der „Politik" zuschreiben wollte 80 , so war doch Konrads Beschreibung der Antipolitik auch in weiten Teilen der polnischen und tschechischen Opposition mehrheitsfähig. Antipolitik richtete sich demnach in erster Linie gegen den Staat und seine Institutionen. Der Begriff legt die These nahe, daß die staatlichen Aufgaben, die es als legitim erscheinen ließen, einen Leviathan Hobbesscher Prägung aufzubauen, gegen die Bürger gerichtet sind und letztlich damit selbstzerstörerische Konsequenzen zeitigen. Der Staat im Kalten Krieg, der wirklich die Sicherheit seiner Bürger als primäres Staatsziel im Auge hat, muß von der Bedrohung anderer Staaten absehen. 81 Solange sich die Staaten untereinander im Naturzustand befinden, pervertiert sich die Logik des starken Nationalstaats. Positiv formuliert legt der Begriff der Antipolitik den Blick auf ein (neo-) aristotelisches, bürgerzentriertes Politik-Verständnis frei. Hobbes hatte die Wissenschaft von der Politik als Projekt reiner Theorie eingeführt, die sich an den Methoden der Naturwissenschaften orientieren sollte. Er wandte sich damit konkret gegen die aristotelische Tradition eines auf politische Praxis und phronesis aufruhenden PolitikVerständnisses. „Der Begriff der Wahrheit selbst," so Rene Weiland im Anschluß an Hannah Arendt, „spielt in seinem (Hobbes, RS) System keine Rolle mehr, da für ihn jegliches Denken in der Fähigkeit besteht, aus bestimmten evidenten Voraussetzungen und Axiomen zu schlußfolgern, und Schlußfolgern für ihn nichts anderes ist als ein in sich stimmiges logisches Rechnen..." 8 2 Aus dieser gründlichen Austreibung der Urteilskraft aus dem politischen Leben bezieht Hobbes Theorie seine „zwingend-

80

81

82

Dissident operiert nämlich nicht in der Sphäre der faktischen Macht. Er strebt nicht nach Macht...Er artikuliert in seinem Handeln nur seine Würde als Bürger,...Der ureigentliche Ausgangspunkt seines politischen' Wirkens liegt also auf sittlichem und existentiellem Gebiet...[er betreibt] Politik außerhalb der Politik, Politik außerhalb der Macht." (Vaclav Havel, „Anatomie einer Zurückhaltung"; in Herterich/Semler (Hrsg.) Dazwischen. Ostmitteleuropäische Reflexionen, Frankfurt/M. 1989, 56). „Antipolitical politics never intended to defeat, exclude, or marginalize ,political politics' (by which I mean party, parliamentary, and governmental politics). The term was coined only to show that people are motivated to engage in politics for reasons other than the mere desire to gain power..." (Petr Pithart, „Kommentar zu einem Streitgespräch zwischen Vaclav Klaus und Vaclav Havel", in Journal of Democracy, 7.Jg. (1/1996), 23). In diesem Sinne äußert sich auch Karl Schlögel: „Ich wäre für eine neue Phase der Ostpolitik, wenn das Wort ,Politik' nur nicht den Sinn dessen, worum es geht, so entstellen würde, nämlich: die Bildung einer autonomen und kontrapunktierenden Öffentlichkeit, die irgendwann, nach einer Inkubations- und Akkumulationsphase, freilich auch zur Politik werden kann." (Karl Schlögel, „Nachdenken über Mitteleuropa", in Dietrich Spangenberg (Hg.) Die blockierte Vergangenheit. Nachdenken über Mitteleuropa, Berlin 1987, 11-33, hier 32f.) Rene Weiland, Posttotalitarismus und zivile Selbstbefreiung, 1128.

György Konrads symmetrische Mitte

135

faszinierende Logizität". „Ein Paradox, das nicht zuletzt auch die dialektischen GroßSysteme Hegels und Marx' beehrt hat; Systeme, die bekanntlich nur ein Handeln ,aus Notwendigkeit' kennen und deren Regime, j e rückhaltloser sie die Massen zu politisieren' verstanden, um so systematischer die Verhinderung des Politischen selber betrieben." 8 3 Aus diesem Grund entspricht der antistaatlichen Grundhaltung auch eine antipolitische. Das Regime machte aus Intellektuellen und Kulturschaffenden plötzlich Politikgebundene. „So entstand auch die politische Idee, die Institution einer Bürgergesellschaft aufzubauen, die unabhängig vom totalitären Staat ist (KOR), die Idee einer ,antipolitischen Politik' - nach György Konrads bekannter Formulierung - oder einer Politik, die auf der Macht der Machtlosen, wie Vaclav Havel es definierte." 8 4 Antipolitik heißt dann zweierlei: weniger Politik und andere Politik. Damit meint Konrad eine Rücknahme der Regelungsdichte und eine Zügelung der Steuerungsphantasien durch staatliche Institutionen und eine Rückgabe an Verantwortung in die Gesellschaft an die einzelnen Bürger. Das Staatsbild basiert erwartungsgemäß auf der Vorstellung eines totalitären Staates, dem im frühliberalen Sinne Freiräume abgerungen werden sollen: Freiheit vom Staat und von staatlicher Willkür und Schutz der persönlichen Integrität vor Übergriffen der Autorität. „In Osteuropa beschäftigt uns nicht vorrangig die Frage, ob eine Politik gut oder schlecht ist, sondern die Tatsache, daß wir überall von viel, von allzu viel Politik umgeben werden. Der Staat zieht zahllose Angelegenheiten, Fragen, Entscheidungen in den Bereich der Politik, die dort nichts zu suchen haben. Privatangelegenheiten oder Fachfragen, die den Staat letztlich nichts angehen." 8 5 Fragen der Zensur sollen niemanden mehr beschäftigen, sollen also nicht mehr politisch geregelt werden: „Ich fordere im Zusammenhang mit meinen Schriften keine andere Politik, sondern ich fordere ganz einfach überhaupt keine Politik." 86 Somit stehen sich drei Überlegungen sehr nahe und werden systematisch in seinem Argument verknüpft. Politik, Staat und Blockstrukturen (Ost-West) stehen Antipolitik, Zivil-(Gesellschaft) und Mitteleuropa gegenüber. Die solchermaßen entstehenden Gegensatzpaare sind wechselseitig austauschbar. An einigen Stellen heißt es, der Staat solle sich nicht in Angelegenheiten der Gesellschaft einmischen, an anderer Stelle heißt es analog, die West-Ost-Mächte sollen sich nicht in Angelegenheiten der Mitteleuropäer einmischen oder wiederum analog: die Politik soll nicht die Freiräume der Antipolitik beschneiden. Konrad füllt den Begriff der Antipolitik mit einer positiven Alternative, mit einem produktiven Gegenbild, das den Begriff der Politik selber wieder aus dem „ S u m p f zieht, in den er vorher gestoßen wurde. „Antipolitik ist das Politisieren von Menschen, die keine Politiker werden und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Antipolitik betreibt das Zustandekommen von unabhängigen Instanzen gegenüber der politischen Macht, Antipolitik ist eine Gegenmacht, die nicht an die Macht kommen

83

Ebd..

84

Adam Michnik, „Ethik und Politik", in ders. Der lange Abschied 1992, 197-203, hier 198.

85

György Konrad, Antipolitik,

86

Ebd..

211.

vom Kommunismus,

Reinbek

136

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

kann und das auch nicht will. Die Antipolitik besitzt auch so schon und bereits jetzt Macht, nämlich aufgrund ihres moralisch-kulturellen Gewichts" 8 7 So sehen sich die Dissidenten und bereiten damit eine moralisch-kulturelle Revolution vor, deren Charakter nicht apolitisch, aber antipolitisch ist. „Antipolitik heißt Verneinung des Machtmonopols der politischen Klasse." 8 8 Und auch andere Begriffe fließen in das semantische Feld der Antipolitik ein: Öffentlichkeit, Gemeinschaft, Ehrlichkeit, geistige Macht, Zivilcourage, Gesellschaft, Vielfalt, Menschenrechte. 8 9 Diese antipolitische Politik ist die Strategie des politischen Widerstands, die so formuliert ist, daß sie auch gegenüber den westlichen Demokratien als kritische Folie dienen kann. Die Mitte wird bei Konrad zu einem Hort der kulturellen Voraussetzungen für eine funktionierende Zivilgesellschaft, die auf den oben beschriebenen Werten aufruht. Und so geht es tatsächlich, strategisch und symbolisch eher darum, die gesellschaftlichen, moralischen und kulturellen Voraussetzungen demokratischer Regierung zu thematisieren, als die Demokratie selber. Daß für die Rückgewinnung der moralischen und kulturellen Voraussetzungen im Notfall auch hart gekämpft werden muß, ist für Konrad eine schwierige aber notwendige Folge. Schließlich läuft doch alles wieder auf die Machtfrage hinaus, die Konrad keineswegs gesinnungsethisch umgeht, sondern in einem Anflug von Realismus aggressiv beantwortet. Wer etwas Gutes erreichen will, muß möglicherweise auch bereit sein, Gewalt anzuwenden: „Die Antipolitik setzt das Recht auf Selbstverteidigung der Gemeinschaft mittels adäquater Waffen gegen die Okkupanten. Wenn wir auf die Okkupanten schießen müssen, so ist das ein großes Unglück. Auch wir werden dadurch zu Mördern, doch es ist möglich, daß wir zu der Entscheidung gelangen: Wir müssen zu Mördern werden." 9 0

2.2. Die Mitte zwischen Individualismus und Kollektivismus Konrad beobachtet ein politik- und machtvergessenes Europa, das keine eigenständige Politik betreibt, sondern sich in die Interessengegensätze der Großmächte USA und Sowjetunion einspannen läßt. Nur von einer Revitalisierung originär europäischer Politik, also einer Stärkung europäischer Interessen kann für ihn eine friedliche Zukunft ausgehen. Jalta wird so zum Ausgangspunkt der mitteleuropäischen Krise. „Die Hauptursache für die heutige Kriegsgefahr ist Jalta. Dort kam die Teilung des ohnmächtigen Europa zustande (...) In Jalta wurde das auf dem Gleichgewicht zwischen der Sowjetunion und Amerika basierende System der internationalen Beziehungen geboren." 9 1 Hier haben sich die Europäer den „raumfremden Mächten" (Carl Schmitt)

87

Ebd., 213.

88

Ebd., 213.

89

Vgl. Ebd., 2 U f f .

90

Vgl. Ebd., 215.

91

György Konrad, Antipolitik, 7. An die Labilität der umstrittenen europäischen Grenzen erinnert Konrad, wenn er in Erinnerung der berühmten Sentenz Paul Valerys schreibt: „Bis wohin erstreckt sich Europa? V o m Atlantischen Ozean bis zur Elbe? Bis zur sowjetischen Grenze? Bis zum Ural?

György Konrads symmetrische Mitte

137

unterworfen. Europa den Europäern, heißt Konrads Motto. „Das heißt, die kleineren und größeren Nationen West- und Ostmitteleuropas dürfen ihre gegenseitigen Beziehungen möglichst wenig der Blockpolitik unterordnen. Im Gegenteil, sie müssen ihre Beziehungen von der sowjetisch-amerikanischen Rivalität, von den groben Schemata der Ost-West-Beziehungen unabhängig machen." 9 2 Über die Konfrontationslogik hinweg sucht Konrad den Weg zum Frieden über den Dialog zwischen Ost und West. „Beginnen wir den Dialog, wir unabhängigen Osteuropäer, mit den unabhängigen Westeuropäern!" 9 3 Wie auch schon im Bild der Zangenbewegung aus der Ideengeschichte bekannt, sieht Konrad ganz Europa in Gefahr, wenn es zwischen den „Flügelmächten" aufgerieben wird. Und so beschreibt er das Blocksystem als Gefahr für die europäische Identität. „Und was ist mit uns Osteuropäern, die wir uns lieber als Mitteleuropäer bezeichnen? Ist Europa groß? Keineswegs. Es ist die feingliederige und rege westliche Halbinsel Euroasiens. Das kleine Westeuropa irrt, wenn es sich mit Europa im allgemeinen identifiziert. Es irrt, wenn es sich, indem es dem Osten den Rücken zukehrt, innerhalb des Blocksystems Ruhe und Sicherheit erhofft. Selbst seine inneren Konflikte wird es erst dann lösen können, wenn es die Utopie von der Einheit Europas vorantreibt. Die Idee der europäischen Identität steht im Widerspruch zur dauerhaften Stabilität des Blocksystems." 9 4 Diese Re-Zentrierung der europäischen Politik soll von Maßnahmen begleitet werden, die sich unabhängig von der Bedrohungssituation aus der sowjetischen Okkupationspolitik ergeben. An die Stelle der Flügelmächte Deutschland und Rußland ist in Konrads Bild die Blockstruktur eingerückt. Interessanterweise betrachtet Konrad, wie auch Kundera, die „einheitliche marxistisch-leninistische Staatskultur" als „eine russische Entwicklung, die Fortsetzung jener Tradition, wonach der Zar nicht nur Staats-, sondern auch Kirchenoberhaupt war" 9 5 , also als Verlängerung des Cäsaropapismus. An anderer Stelle: „Der Kommunismus sowjetischen Typs setzt eine östliche Tradition fort, derzufolge der Apparat des Reichs über die Rechte der Personen gestellt wird. Das war für das chinesische Reich bezeichnend, für das islamisch-türkische Reich und für den unmittelbaren Vorläufer, für den Staat der russischen Zaren." 9 6 Auch bei Konrad wird der Werteantagonismus in geographischen Kategorien ausgedrückt: „Die russische Elite denkt in zwei Wertsystemen. Das eine ist das westliche, christliche, europäische, pluralistische, rationalistische, Veränderungen anstrebende Wertsystem, das andere ist das asiatische, autokratische, imperiale, dogmatische, Veränderungen gegenüber fanatisch argwöhnische Wertsystem." 9

Bis zum Stillen Ozean? Gehören nur die Länder des Gemeinsamen Marktes zu Europa, die neutralen Staaten Westeuropas nicht?" (ebenda) 92

Ebd., 63.

93

Ebd., 51.

94

György Konrad, zitiert nach Christian Weimer, Mitteleuropa 217.

95

Ebd., 204.

96

Ebd., 85.

97

Ebd..

als politisches

Ordnungskonzept?

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

138

Dazwischen liegt Ost-Mitteleuropa, daß sich zwischen diesen beiden Macht- und Wertblöcken eingezwängt sieht und nicht fähig war, oder vielleicht auch: nicht mächtig genug war, oder: nicht einig genug war, eine eigenständige Politik zu machen, die weder das eine noch das andere imitiert. „Das historische Mißgeschick OstMitteleuropas besteht darin, daß es nach der östlichen tatarisch-türkischen Hegemonie und später nach der westlichen österreichisch-deutschen Hegemonie nicht unabhängig werden konnte und wieder unter eine östliche Hegemonie sowjetisch-russischen Typs geriet. Dieses Mißgeschick hindert unseren Raum an der Entwicklung der seit tausend Jahren bestehenden Option, also an der Entfaltung unserer innersten historischen Neigung." 98 Konrad beschwört eine Art Erweckung des ostmitteleuropäischen Raums aus geistig-kultureller und politischer Fremdherrschaft. Anders als Kundera, der eine deutliche Asymmetrie der Wertsysteme von West und Ost ausmacht, ist Konrads Position durch eine symmetrische, gelegentlich sogar schematische Gegenüberstellung zweier Systeme gekennzeichnet. Macht Kundera einen grundlegenden Unterschied zwischen Ost und West, scheint Konrad aus der Mitte heraus, eine Äquidistanz zu beiden Systemen anzunehmen." Auf die Frage, wie denn die Mitte Europas von West und Ost abgegrenzt wird, haben zahlreiche Historiker versucht, Konrads These der eigenständigen im Stile einer historisch-soziologischen Analyse zu stärken. Dabei werden die westlichen als gesellschaftszentrierte und die östlichen als staatszentrierte Kulturen beschrieben, zwischen denen Ostmitteleuropa einen eigenständigen Charakter ausgearbeitet habe. Diese Beschreibung des staatlichen Ostens und des gesellschaftlichen Westens, des östlichen Kollektivismus und des westlichen Individualismus konnte sich über lange Zeit in der sozialgeschichtlichen Literatur halten. 100 Es herrschte Konsens darüber, daß die Sozialverfassungen Alt-Rußlands und Alteuropas nicht zueinander gehören. „Unter der Moskauer Autokratie ist ,ständisches Wesen' in Landschaft und Stadt, abgesondert von der Sphäre des Staates, nicht ins Freie gekommen. Vollends nach der Rationalisierung der Selbstherrschaft durch den neuzeitlichen Absolutismus haben sich im

98 99

Ebd., 86 So schreibt Christian Weimer: „In seiner Analyse begreift er (Konrad, RS) den Ost-West-Konflikt als einen kaum auffindbaren, irrational mystifizierten Machtkonflikt zweier Nationalstaaten und deren ,Arbeitern des ideologischen Krieges'. Dabei bemerkt er mit gewissen Einschränkungen eine

Symmetrie amerikanischer und russischer Imperialpolitik:

,Die politische Klasse

der

Amerikaner und der Russen hat sich für die Strategie der Konfrontation und des Prestigekampfes um die Vorherrschaft in der Welt entschieden.' Die dadurch bedingte bipolare Weltstruktur läßt sich nach Konrad,'...mittels genauer Analyse auf die globale Rivalität zweier Machteliten der zwei mächtigsten Nationalstaaten unserer Zeit zurückführen...', deren Ideologien lediglich Instrumente ihrer nationalstaatlichen Strategien seien. Konrad konkretisierte seine Position noch, indem er später feststellte: ,Nicht zwei Wertsysteme kämpfen miteinander, nicht der Kommunismus und der Liberalismus...nicht die Demokratie gegen die Diktatur...Nicht zwei Gesellschaftssysteme kämpfen miteinander, sondern zwei supranationalistische Systeme. In der Falle des Blocksystems'". 100

(Christian Weimer, Mitteleuropa als politisches Ordnungskonzept?, 221). Vgl. zum folgenden: Dietrich Geyer, „Die Gesellschaft als staatliche Jahrbücher für die Geschichte

Osteuropas,

Bd. 14 (1966), 21-50..

Veranstaltung",

in

György Konrads symmetrische Mitte

139

Zarenreich korporativ verfaßte Gesellschaften, politische Standschaften, nicht entfaltet. Staat und G e s e l l s c h a f t ' sind nicht auseinandergetreten." 1 0 1 Und so haben sich, vor dem Hintergrund dieser russischen Rückständigkeit im Vergleich zur westlichen Modernisierung, Begriffe und Beschreibungen eingebürgert, die neben der deskriptiven eine eindeutig normative Ebene haben. Die russische Sonderform wurde mit dem Begriff des „orientalischen Despotismus" (Karl Marx/Max Weber/Otto Hintze) beschrieben. Hintze war es, der den Begriff des orientalischen Despotismus auch auf das 19. Jahrhundert bezog. Und auch „Lenin und Plechanov haben die ,asiatischen' Formen in der sozialökonomischen Entwicklung des autokratischen Rußland immer wieder 109 hervorgehoben." Doch unabhängig von der historischen Forschung haben sich deutungsmächtige Bilder verselbständigt, in denen die Suche nach einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung wie auch nach nationaler Selbstbehauptung thematisiert wurden. Mit dem Hinweis auf ihre historisch herleitbare Eigenständigkeit, wollten Oppositionelle wie Konrad, bestätigen, daß die soziomoralischen Grundlagen für eine demokratische und liberale Entwicklung gegeben waren. Unterstützung erfährt Konrad dabei auch von Karl Schlögel. Dieser erinnert an die beinahe vergessene Tatsache, daß sich die „bürgerliche Gesellschaft" aus der Stadtkultur entwickelt hat und nur dort auch wieder zum Leben erweckt werden kann. Wie sehr mitteleuropäische Kultur eine städtische Kultur ist, zeigt Schlögel in seiner Hommage an die unzähligen mitteleuropäischen Städte mit ihrer glänzenden Kultur, ihrem Reichtum und ihrer Vielseitigkeit. Wie ein Netzwerk erstreckt sich die mitteleuropäische Stadtkultur über die weiten Strecken von Vilnius bis zur Adria, von der Elbe bis zum Kaukasus. In diesen Städten, die vor der Zeit der nationalen Abgrenzungspolitik noch in engem kosmopolitischen Kontakt standen, ist die Erinnerung an die Einheit Europas noch lebendig. 03 Vor den Augen der Denkmäler der bürgerlichen Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts, den Bürgerhäusern, den Parlamenten etc. mußte sich die alternative proletarische Modernisierungsvariante immer mit den alten Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft und dem dort erreichten vergleichen. Sie hat versucht, nach besten Kräften die Erinnerungen auszulöschen, aber konnte es nicht schaffen, auch wenn sie die Menschen eingeschüchtert hat und mit ihrer gnadenlosen Ideologie die Erinnerung verschütten wollte. „Aber das neue System stand immer im Schatten einer politischen Kultur, die schon einmal reicher und weiter war, die das Experiment der Volkssouveränität schon durchlebt hatte, die ihre Parteien gehabt hat und Generationen, die gewöhnt waren, sich als Bürger zu verhalten...es ist wahr, daß Mitteleuropa ethnisch homogen geworden ist. Aber vieles spricht dafür, daß es nach wie vor einen zivilisatorischen Sockel, einen Grundbestand von Standards gibt, die vielleicht nicht

101 102

Ebd., 21 f. Ebd., 22. Eine derart weitgehende Absonderung der russischen Sozial- und Verfassungsgeschichte kann, so Dietrich Geyers These, nach dem Stand der historischen Forschung nicht mehr aufrechterhalten werden.

103

Vgl. dazu Karl Schlögel, Die Mitte liegt

ostwärts.

140

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

immer gehalten werden, aber doch vorhanden sind - im Unterschied zu Regionen z.B. der Sowjetunion, in denen es diesen Standard nie gegeben hat oder wo er ganz und gar zur Vorgeschichte geworden ist." 104 Für Ostmitteleuropa wird demnach der Anspruch erhoben, von beiden Seiten mehr oder weniger stark beeinflußt worden zu sein: von der autonomen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im Westen wie auch von der absolutistischen Entwicklung im Osten. 1 0 5

2.3. Die Mitte als Ort der Vielfalt Wie wir bereits festgehalten haben, hat Milan Kundera zur Kennzeichnung des Verhältnisses der Mitte zu Ost und West nicht auf das Bild der Brücke zurückgreifen wollen und hat damit für die Mitte auch die Rolle des Vermittlers bestritten. Anders dagegen György Konrad, der für alle Europäer die Rolle eines Vermittlers und damit Friedenstifters zwischen den Großmächten gesehen hat. Negativ formuliert beziehen in Konrads Schriften die Mitteleuropäer ihre Identität aus der Abgrenzung gegenüber West und Ost, weil sie sich „mit dem Osten nicht identifizieren wollen und mit dem Westen nicht identifizieren können." 1 0 6 Grundbestandteil der positiv formulierten Identität ist dabei, so lautet die historisch-soziologische Argumentation, die für Ostmitteleuropa typische und historisch bestimmende Vielfalt. Und so konnte sich die Geschichte Ostmitteleuropas als lange Geschichte von Nationen schreiben lassen, die gegen fremde Mächte ihre nationale Eigenständigkeit und damit die Vielfalt in diesem Raum Europas zu verteidigen versuchten. In den historisch-soziologischen Analysen der ungarischen Historiographie, für die hier besonders Jenö Szücs untersucht werden soll, wird im Gegensatz zur tschechischen Position Kunderas aus Mitteleuropa ein geographischer Erinnerungsbegriff. 1 0 7 Dieser Raum, um mit der Metapher Friedrich Naumanns zu sprechen „ruckt und zuckt unter der Erde" und will gerne Konturen gewinnen. Seine Geschichte ist damit eine Geschichte der verpaßten Möglichkeiten. Es gab immer wieder verhindernde Einflüsse, die entweder aus dem Westen oder aus dem Osten kamen. Die Mitte Europas sah sich immer wieder wechselnden Einflüssen ausgesetzt, die j e nach Verweildauer der jeweiligen Hegemonialmacht stärker oder schwächer waren. Die Arbeiten dieser Historiker, die zumeist lange Zeiträume in den Blick nehmen, beschreiben die Ost-West-Trennung als künstlichen Zustand, im Sinne

104

Karl Schlögel, „Mitteleuropa - Utopie und Realtität", in Arno Truger (Hg.), Perspektiven, Wien 1991, 11.

105

Vgl. dazu auch Krishan Kumar, „The 1989 Revolutions and the Idea of Europe", in Studies 40. Jg. (1992), 447ff.

Mitteleuropäische Political

106

Ebd., 88.

107

Z u m „geographischen Erinnerungsbegriff', vgl. Hans-Dietrich Schultz, „ V o m harmlosen Gliederungskonzept zum imperialen Programm. Der Mitteleuropabegriff in der deutschsprachigen Geographie des 18./19. Jahrhunderts", in Graafen/Tietze (Hg.) Raumwirksame Staatstätigkeit, Bonn 1 9 9 7 , 2 1 3 .

György Konrads symmetrische Mitte

141

von „historisch sehr jung". Sie treten damit dem politischen Kurzzeitgedächtnis entgegen und wirken aufklärerisch, indem sie historische Zeiträume beleuchten, die Alternativen zum aktuellen Stand der Geschichte offenbaren. Zu diesen wechselseitigen Einflüssen gehört u.a., daß Ostmitteleuropa dominiert wurde von den Adels-Nationen, die um eine „Krone" als symbolischem und personifiziertem Mittelpunkt gruppiert gewesen sind. Dies gilt z.B. für Polen, Ungarn und eingeschränkt für Böhmen und Mähren. Auch wenn diese „Nationen" die anderen kleineren dominierten (polonisierten, germanisierten, etc.) so wurde der ostmitteleuropäische Raum doch nie zu einer Zone reiner Nationalstaaten. 1 0 8 Die nationalen Befreiungsbewegungen hatten dort keinen Erfolg. Bis 1914 behauptete sich das aus dem Mittelalter in die moderne Zeit hineinragende ständisch-national geschichtete Alteuropa weithin. 109 Daraus ergibt sich in der modernisierungstheoretisch angeleiteten Historiographie der Topos des Modernitätsgefälles, der die bei Konrad so geschätzte Symmetrie auf den ersten Blick zu gefährden scheint. In diese Richtung gehen auch die Überlegungen von Bernard Willms, der in „Erneuerung aus der Mitte" schreibt, daß die Zivilisation sich innerhalb Europas von West nach Ost vorgeschoben hat. „Behält man im Sinn, daß die Ausbreitung europäischer Zivilisation nicht mit der Überlegenheit von Völkern oder Volkscharakteren oder ähnlichen Fiktionen zu tun hat, so lassen sich die Vorgänge frei von nationalistischen Bewertungen, in ihrer wahren Bedeutung beschreiben: Die Zivilisationsgefälle, vor allem die frühen Städtegründungen im Westen, trugen dazu bei, daß, modern gesprochen, durch die Ansiedlung von Deutschen in Böhmen westliches ,Know-how' im Sinne der Land- und Machterweiterung der böhmischen Mächtigen einsetzbar wurde. (...) Da die Stadtentwicklung in Böhmen mit der deutschen Einwanderung bzw. Ansiedlung zeitlich im großen und ganzen zusammenfiel, kam es dazu, daß die ,Stadt', als Ort mit eigenem besonderen Recht, in den böhmischen Ländern erst durch die deutschen Siedler - oft auf der Grundlage älterer tschechischer Siedlungen - richtig etabliert wurde." 1 1 0 Genau diese fremdzugeschriebene Stigmatisierung läßt sich jedoch im Sinne einer Umwertung der Geschichte angesichts der Schwächen und Katastrophen der westlichen Modernisierung als Chance umdeuten. Mitteleuropa kann, weil es nie vollends in den Sog der westeuropäischen Modernisierung hineingeraten ist, auch hier einen Sonderweg gehen und sich von West wie Ost abgrenzen. Die Mitteleuropäer beginnen, die lange Zeit als Defizit wahrgenommene Andersheit als Qualitätsmerkmal umzudeuten. Ein Mitteleuropäer beginnt zu berichten, was ihm in der Schule über die Identität Mitteleuropas berichtet wurde: „...daß wir es eben nicht geschafft hätten, den .klassischen Nationalstaat' zu verwirklichen, Nation und Staat zur Deckung zu bringen, daß wir gemessen an den Schulbeispielen Frankreich und England eben S o n d e r f ä l l e ' , wenn

108

Werner Conze, Ostmitteleuropa.

109

Ebd., 11.

110

Von der Spätantike

Bernard Willms und Paul Kleinewefers, Erneuerung

bis zum 18. Jahrhundert,

10.

aus der Mitte. Prag - Wien - Berlin.

Dies-

seits von Ost und West, Herford 1988, 117. Aus dieser angeblichen Überlegenheit, dem Transfer von West nach Ost und der deutschen Siedlungsgeschichte lehnten sich Herrschaftsansprüche ab, wie sie im Nationalsozialismus thematisiert wurden.

142

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

nicht sogar eine Abweichung von der Norm seien. Wir sind in der Sequenz der Zivilisierung, die sich wellenförmig von West nach Ost bewegte, immer zu spät gekommen; (...) Wir sind immer unfertig, heterogen gewesen, als die anderen dort schon fertig und homogen waren. Was die dort nacheinander zurücklegten, existiert bei uns noch nebeneinander. Wir sind polyglott, multikonfessionell, multikulturell." 111 An diesen Worten merkt man, wie einfach es von außen erscheint, diese Identität der „Zuspät-gekommenen" umzukehren und mit Selbstbewußtsein positiv zu wenden. Ähnliches hat sich ja auch in der deutschen Debatte um die Mittellage und den deutschen Sonderweg gezeigt. Eine problematisch gewordene Moderne, die sich selber nicht mehr unkritisch zum Maß aller Dinge erheben kann, gibt schließlich auch Anlaß, um Seitenwege der Modernisierung nicht unbesehen zu stigmatisieren. In diesen Argumenten wird eine oft wiederkehrende Formel der Mitteleuropa-Diskussion erkennbar: die Werte, die sich quasi unter Ausschluß, wenn auch unter künstlichem, vom Zugriff der schrankenlosen Modernisierung westlichen Standards erhalten haben, werden hochgehalten und zum Stolz einer neu gewonnenen Eigenständigkeit erklärt. Und auch im Verhältnis einer staatlich zu einer gesellschaftlich dominierten Entwicklung läßt sich Mitteleuropa als Gebiet der Mischung und der Vielfalt darstellen. Der von Osten kommende Einfluß großräumiger Flächenstaaten konnte in Ostmitteleuropa keine bleibenden Spuren hinterlassen. Weiträumigkeit bedingt Uniformität, wenn sie zentralistisch organisiert wird. Die kleinen Staaten, die auf engem Raum miteinander kommunizieren mußten, waren ein geeigneterer Boden „für die von ,unten nach oben' wirkenden Grundsätze von Recht und Herrschaft." 112 Sie erhielten sich dadurch ihre Vielfalt. Im ostmitteleuropäischen Raum bildeten sich westliche Strukturen als Ergebnis westeuropäischer Expansion (Drang nach Osten). So traten auch hier Vertragswesen und Generalstände ihren Weg an, den alten autochtonen Feudalismus abzulösen. Ostmitteleuropa vollzog eine „Hinwendung vom westlichen Rand Osteuropas im geografischen Sinn zur östlichen Peripherie Westeuropas im strukturellen Sinn". 113 Die Veränderungen, die in Westeuropa zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert vollzogen worden sind, wurden in Ostmitteleuropa nach westlichem Vorbild in weniger als 150 Jahren durchgezogen. Dies hatte zur Folge, daß sich die Transformation nicht als einheitliche, organische und gegliederte vollzogen hat, sondern, daß sich archaische Züge durchsetzten. Denn es war, wie schon oben erwähnt, das westliche Muster, das auch im Osten von Europa occidentalis den Ton angab; allerdings implementiert von „Reformherrschern", also von oben nach unten. 114 Es gab demnach eine Verwurzelung westlicher struktureller Grundelemente auch in Ostmitteleuropa aber mit dünnen Wurzelfasern, weil sich der Staat im Mittelalter nicht in dem Maße aufgelöst hatte, wie es im Westen der Fall war: „Im Westen unterwarf der Staat die Gesellschaft, im Osten wurde die Gesellschaft verstaatlicht'". 115

111

Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts,

112

Ebd., 29.

113

Ebd., 48.

114

Ebd., 49. Ebd., 66.

115

52.

György Konrads symmetrische Mitte

143

Dies änderte sich dann erst im 18. Jahrhundert, als die Aufklärung im Westen keine Angelegenheit des Staates mehr war, sondern der Gesellschaft. Die Französische Revolution vollendete schließlich die westliche Parabel des Absolutismus: „Nachdem der Staat sich über eine frühreife und krisenhafte mittelalterliche societas civilis erhoben hatte, hatte er auf Grundlage einer expansiven Weltwirtschaft die Gesellschaft als ,Untertanen' aus der Krise herausgezogen, um dann schließlich nach der Krise des Staates von einer höheren société civile überwunden zu werden." 116 Modernisierungstheoretisch formuliert blieben archaische Reste in Ostmitteleuropa, die, wenn man es nicht von Westen aus als Defizit betrachten will, gerade aus einem veränderten Selbstverständnis der Mitte selber das Spezifische dieses Kulturraums ausmachen. 117 So blieb in Ungarn die versteinerte mittelalterliche Idee der Heiligen Krone der Angelpunkt des politischen Denkens und der Staatstheorie, gleichzeitig war die Kultur, genauer die Hochkultur, wie z.B. die Literatur war in Ungarn immer „ein organischer Teil von Europa occidens" 118 . Mitteleuropa zeichnet sich demnach dadurch aus, daß es unter den ständigen Zugriffen des Ostens wie des Westens stand. Die Grenzlinien sind verschwommen und orientieren sich nur im seltensten Fall an nationalen, sprachlichen Grenzen. Die religionsgeschichtliche Trennung in einen weströmisch lateinischen Occidens und einen griechisch kyrillischen Oriens kann nur eine grobe Orientierung sein, neben der vor allem bevölkerungsgeschichtliche und ökonomische Veränderungen dem Raum schärfere Konturen geben. Von Westen her öffnete sich der ostmitteleuropäische Raum für die deutschen Siedler, die damit eine bleibende Verbindungslinie schafften zwischen Ost und West. Sie brachten westliche Kultur- und Wirtschaftsweise in diesen Raum, blieben aber auch wegen ihrer oft privilegierten rechtlichen Stellung - Fremdkörper in Ostmitteleuropa. Der ungarische Historiker Jenö Szücs kämpfte gegen die verbreitete Vorstellung an, daß der Ost-West-Konflikt eine lange historische Tradition gehabt haben soll. Seine historischen Studien unterstützen die These Konrads, daß die durch Europa gehende Teilung eine sehr junge, und damit eine historische Kulturräume zerteilende ist. Und auch Klaus Zernack datiert den historischen Zeitpunkt der Ost-West-Teilung wie wir sie heute kennen in die Folge der Französischen Revolution: „Erst die Auseinandersetzungen um die Französische Revolution haben den antirevolutionären, absolutistischen Imperien des Ostens ihre enorme Vergrößerung auf Kosten Polens ermöglicht. Hegemonialsysteme waren von nun an in der östlichen Hälfte vorherrschend. Erst dadurch ist jene West-Ost-Spaltung eingetreten, die bis in unsere Tage für

116

Ebd., 71.

117

Folgende Aussage kann deshalb nur aus der Sicht von außen stammen: „Aber die ungarische Gesellschaft zahlte für diese Zwangslage

nicht nur mit den bekannten

wirtschafts-

und

gesellschaftsstrukturellen Deformationen, sondern auch mit jenen charakteristischen .Krankheiten' der Mentalstruktur."

Die

hier als Krankheit

bezeichneten

Deformationen

wurden

in der

Mitteleuropa-Diskussion als Charakteristika einer europäischen Mitte dargestellt, (ebenda, 86). 118

Ebd., 87.

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

144

Europa in immer neuen Wellen bestimmend war, und die jetzt historisch überwunden wird, so wie sie historisch entstanden war." 119 Szücs Landsmann Mihaly Vajda folgt ihm in den Grundsätzen und setzt die Interpretation für die Gegenwart fort. Rußlands Weg in die Moderne erfolgt von oben, mit Hilfe des starken Staates. Das kommunistische System wird so als osteuropäische Antwort auf die Herausforderung der Moderne verstanden. 120 Die wichtigsten, drängendsten Probleme des Rußland im 19. Jahrhundert fanden im kommunistischen System ihre Antwort, damit wird der starke Staat des Leninismus/Stalinismus als Fortsetzung der russischen Traditionen interpretierbar und seine Einflüsse auf Ostmitteleuropa lassen sich in der oben beschriebenen Weise als zyklischer Eingriff des Ostens in die Entwicklung der Mitte beschreiben: „Die Sowjetunion war noch nicht verbürgerlicht, während die Nationen Ost-Mitteleuropas (...) den Weg zur Verbürgerlichung schon mehr oder minder beschritten hatten (...). Die kommunistische Diktatur mußte deshalb im Augenblick ihrer Geburt eine bereits mehr oder weniger unabhängige Gesellschaft verstaatlichen." 121 Der Widerstand gegen den etatistischen Sozialismus war entsprechend dort am geringsten, wo sich noch keine bürgerliche Gesellschaft entwickelt hatte. Der Einfluß der Sowjetunion auf Ostmitteleuropa bewirkte dementsprechend, daß eine besonders „radikale Interpretation der Marxschen Theorie...zur materiellen Kraft 122

werden" konnte. Der Rückgriff auf die Idee der bürgerlichen Gesellschaft versuchte demnach im gleichen Sinne wie die Mitteleuropa-Idee in ihrer historisch-soziologischen Ausprägung einen Nährboden für den Widerstand gegen den etatistischen, sowjetischen Weg in die Moderne zu mobilisieren. Vajda läßt offen, ob er es für möglich hält, daß sich der Sozialismus mit der Entwicklung bürgerlicher Freiheiten verbinden könnte. Nur dann jedenfalls könne er eine produktive Kraft sein, wenn er sich mit Elementen der westlichen Zivilisation

1,9

Klaus Zernack, „Zum Problem der nationalen Identität in Ostmitteleuropa" in Berding (Hrsg.) Nationales

120

Bewußtsein

und kollektive

Identität,

Frankfurt 1994, 176-188, hier 184.

Vgl. dazu auch den Aufsatz von Jane Mellor, „Is the Russian Intelligentsia European?", in G. Schöpflin und N. Wood, In Search

of Central

Europe,

Oxford 1989, 163-167. Mellor stützt

Kunderas Argument der spezifisch russischen Lösung einer Avantgarde-Partei. Es habe sich schon bei der Politik Katherina der Großen abgezeichnet, daß die Entlassung der Aristokratie aus dem Staatsdienst zu einer sozial vagabundierenden, ungebundenen, kritischen Intelligenz fuhren würde. Der russische Sozialismus, allen voran Lenin und seine Marx-Rezeption, lassen sich nach dieser These nur aus der russischen Geschichte erklären und stellen eine für den europäischen R a u m f r e m d e Tradition dar. So schließt Mellor: „By agreeing with Kundera, I would be arguing that it was the imposition of this one variant - a Russian variant, of C o m m u n i s m upon Central Europe that constituted and constitutes the rape of the long, rich, spiritual and cultural traditions of this diverse area of Europe."(ebd., 167) 121

Michaly Vajda, Russischer

Sozialismus

in Mitteleuropa,

60. Oder an anderer Stelle in ähnlichen

Worten: „Im ostmitteleuropäischen Gebiet hingegen, muß der seinen Ansprüchen nach totalitäre Staat die ursprünglich hier mehr und anderswo weniger unabhängige Gesellschaft wortwörtlich vergewaltigen,

damti das ganze Funktionieren

scheinbar entspricht." (ebd., 158). 122

Ebd., 80.

dem aus Osteuropa übernommenen

Modell

György Konrads symmetrische Mitte

145

verbindet. Und so zitiert er Kundera zustimmend: „Deshalb empfindet jenes Europa, das ich zentral nenne die Wende seines Schicksals nach 1945 nicht allein als politische Katastrophe, sondern als die Infragestellung seiner Zivilisation." 123 „Den Russen fehlt die Tradition, die die Menschen befähigt, sich der monolithischen Willkür zu widersetzen (...) In meinem halbeuropäischen Land (Ungarn, d.V.) hat die Herrschaft dieses Rußlands die negativsten Züge dieses Individualismus bis zum äußersten gesteigert, während es alles Positive, das in Europa an den Kult des Individualismus gebunden ist, zu vernichten trachtet." 124 Auch Vajda benutzt die Terminologie von Staat und Gesellschaft, wie wir oben sehen konnten. Auch er unterscheidet zwei Wege in die/der Moderne. Den östlichen, der auf den Staat als Reformer von oben setzt und den westlichen mit der Gesellschaft als zentralem Akteur, der sich von staatlicher Lenkungsautorität emanzipiert. Dazwischen liegt Ostmitteleuropa, zu dem bis zum Zweiten Weltkrieg nach dieser Definition auch Preußen/Deutschland angehörte. Wichtig ist in diesem Fall noch, daß sich der Begriff der Gesellschaft oder Zivilgesellschaft nicht zu konturlos darstellt. Denn es ist j a nicht allein die Trennung von Staat und Gesellschaft, die zu demokratischen Strukturen fuhrt, sondern der Lenkungsvorsprung der Gesellschaft gegenüber dem Staat, der dieser gegenüber Befehlsempfänger ist. So formuliert Vajda für die Schärfe des Begriffes zuträglicher: „Der typische Weg, sich aus der Umklammerung des totalitären Staates zu lösen, ist der, den Staat machen zu lassen und Politik Sache für eine Elite zu erklären, während wichtige Gebiete dem Zugriff des Staates zunehmend entzogen werden. Dies führt jedoch nie so weit, daß der Staat sich vor der „Zivilgesellschaft" verantworten muß." 1 2 5 Ungeachtet dessen, ob die These stimmt, daß sich der Sozialismus als russischer Weg in die Moderne mit autoritären Mitteln erwiesen hat, so trifft Vajda auf breite Zustimmung. Die Auseinandersetzung der Nationen, z.B. Ungarn gegen Rußland, taucht chiffriert in den Begriffen Staat gegen Gesellschaft auf. Es ist das nach Freiheit suchende Ungarn (die Gesellschaft), die sich gegen Rußland (den Staat) zur Wehr setzt. Demokratisches und nationales Aufbegehren fallen in eins. Hier finden sich nicht nur eine Reihe von Parallelen zur Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa, sondern auch zum Risorgimento-Nationalismus im Europa des 19.Jh. 126 Dieser Individualismus ist, wie wir schon oben bei Leszek Kolakowski u.a. gesehen haben die eigentliche Quelle der civil society-Idee. So galt die ganze umfangreiche Argumentation über Staat und Gesellschaft, wie auch die historische Unterfütterung allein dem Zweck zu zeigen, daß es an den nötigen soziomoralischen Grundlagen zum Aufbau einer freiheitlichen Gesellschaft demokratischen Zuschnitts nicht scheitert.

123

Milan Kundera, zitiert in: Michaly Vajda, Russischer

124

Ebd., 228.

Sozialismus

in Mitteleuropa,

125

Ebd.

126

Zum Begriff des Risorgimento-Nationalismus, vgl.: Peter Alter, Nationalismus,

227/228.

Frankfurt/M.

1985, 33ff, und zur Zwischenkriegszeit: Joseph Rothschild, East Central Europe between the two World Wars, London 1974.

146

D i e Rekonstruktion der Mitte Europas

Es wird deutlich, daß die Mitteleuropäer Erfahrungen mit in den europäischen Dialog einbringen, der auch für den Westen interessant sein könnte. „In Ungarn läßt sich noch vieles retten, was im entwickelten Westen schon verloren und durch dessen Verlust das Leben trostloser geworden ist...Wir sind keine eindimensionalen Gesellschaften. Wir haben noch keine rationale Übersichtlichkeit, wir sind nicht identisch mit unseren Institutionen. Wir sind nicht langweilig-problemlos identisch mit unserem Schein. Kakaniens größte Energie verbarg sich im Gemischtsein." 1 2 7 ; an anderer Stelle wird es noch einmal auf die geographische Lage bezogen: „In Budapest zu leben, heißt für mich, daß ich mich mit dem einen Kopf dem Osten und mit dem anderen dem Westen verschrieben habe. Wir leben hier an der Westflanke des Ostens, an der Bruchlinie zweier Zivilisationen, wo man infolge eines praktischen Relativismus nicht umhin kann, Werte und Institutionen miteinander zu vergleichen. Im östlichen Mitteleuropa sind West und Ost beisammen, verwickelt in ein beharrliches Ringen miteinander - rationale Kritik und Ständehierarchie. Sowohl im System als auch in uns, in unserer gesamten Kultur. Nichts davon läßt sich verleugnen, und dadurch ist unsere Sicht der Dinge paradox." 1 2 8 Hier argumentiert Konrad mit der besonderen Lage an der Schnittstelle von Zivilisationen, von Kulturen, Werthaltungen, die einen besseren Einblick in die Tiefen der jeweiligen Kultur ermöglichen. Diese Werthaltung entspricht der Kultur des Humanismus: „Wir brauchen eine neue, eine universale Weltanschauung. Der Schutz der grundlegenden Menschenrechte ist der neue Humanismus des zweiten Jahrtausends."' 2 9 Zivilgesellschaft, Antipolitik, Mitteleuropa greifen ineinander. Aus der Mitte Europas kommen Erfahrungen mit dem Untergang der westlichen Kultur. Diese lassen sich auch für Westeuropa nutzen, die die Erfahrungen der Mitteleuropäer ernster nehmen sollten. Konrad schrieb seine Gedanken ebenso aus dem Exil wie auch Kundera. Die Ferne und die philosophische Distanz zur tatsächlichen, praktischen Organisation des Widerstands im Untergrund oder in der alltäglichen Reibung mit der Staatsmacht und ihrem Überwachungsapparat stecken in den Texten. Gleichwohl verfügen beide über die gleichen Begriffe, wie oben angedeutet wurde: Antipolitik, Zivilgesellschaft und Mitteleuropa.

127

György Konrad, "Mitteleuropäische Meditationen am Schnittpunkt zweier Zivilisationen", 14/15.

128

Ebd., 24.

129

Ebd., 23. Sekundärliteratur zum D e n k e n György Konrads: Juliane Brandt, ,Antipolitik' als Ethos. Z u m literarischen und essayistischen Werk v o n György Konrad", in L u d w i g Richter und Heinrich O l s c h o w s k y (Hrsg.) Im Dissens Südosteuropas,

Berlin 1995.

zur Macht.

Samizdat

und Exilliteratur

der Länder

Ostmittel-

und

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas

147

3. Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas Wie Kunderas und Konrads Essays und die Arbeiten von Michnik kreisen auch Havels Essays zum einen „um die zeitkritische Analyse der späten (,posttotalitären') sozialistischen Regime in Osteuropa; zum anderen um die Reaktivierung der durch den Sozialismus zerstörten Gesellschaften zu einer aktiven „Bürgergesellschaft", die nicht mehr Objekt, sondern wieder Subjekt der Politik ist." 130 Seine Analyse zeigt starke Verwandtschaft mit der von Adam Michnik und unterscheidet sich von der Kunderas. 1 3 1 Sie alle verurteilen die sowjetische Dominanz in Mitteleuropa und den dadurch gewaltsam okroyierten Kommunismus. Aber lediglich Michnik und Havel teilen die Überzeugung, daß Kommunismus und Totalitarismus sich aus gemeineuropäischen geistesgeschichtlichen Ideenbeständen speisen. Sie vertreten nicht wie Kundera die These, daß der Kommunismus als russischer Sozialismus zu verstehen sei und widersetzen sich somit einer einfachen Dichotomisierung von West und Ost. Die westlichen Traditionen sind für Havel zu ambivalent, als daß er sich noch auf einfache Traditionslinien aus dem 17. oder 18. Jahrhundert beziehen würde, wie es das folgende Zitat von Theo Stammen suggeriert: „Die Erfahrungen totalitärer Regime hatten überall klargemacht, daß diese plausible normative Feststellung der Funktionalität des Staates in bezug auf die bürgerliche Gesellschaft und den Bürger als autonomes Subjekt und Vernunftwesen, wie sie im 17. Jahrhundert von Locke in England und im 18. Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent von Montesquieu und Kant philosophisch begründet worden war, auch als Leitidee beim Neubau republikanischer Verfassungsstaaten nach dem Ende des totalitären Sozialismus weiterhin Geltung hat." 132 Richtig ist natürlich, daß Havel, wie auch Locke u.a. dafür kämpften, den Staat zu einer „gesellschaftlichen Veranstaltung" zu machen, aber Havels Überlegungen sind zu „antipolitisch", als daß er sich selber in der Tradition der liberalen Klassiker sehen würde. Sein Programm ist eher darauf ausgerichtet, politische Veränderungen aus moralischer Integrität und praktizierter Sittlichkeit herzuleiten. Seine intellektuellen Ziehväter sind nicht Locke und Kant, sondern die über Jan Patocka vermittelten Heidegger und Husserl und sein Ansinnen ist eher ein republikanisches, als ein originär liberales. Im folgenden sollen nun vor dem Hintergrund von Havels Regimekritik (Kap. 3.1), seine Vorstellungen von intellektuellen und moralischen Gegenöffentlichkeiten aufgebaut werden (Kap. 3.2.), für die er in der Mitte Europas einen besonderen Resonanzboden sieht. Dort sieht Havel die besten soziomoralischen Grundlagen für eine politische und geistig-kulturelle Erneuerung Europas (Kap. 3.3).

130

Theo Stammen, „Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels", in Aus Politik und Zeitgeschichte

131

B 10/1993, 22-29, hier 28.

„Die Idee der Rückkehr nach Europa kann - wie fiir Milan Kundera - radikale antirussische Rhetorik bedeuten, sie kann aber auch ein Akt des Glaubens an die Europäisierung des gesamten östlichen Teils unseres Kontinents, einschließlich Rußlands, sein." (Adam Michnik, Osteuropäische Gedanken, in ders., Der lange Abschied

vom Kommunismus,

Reinbek bei Hamburg 1992,

112). 132

Theo Stammen, „Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels", 28

148

D i e Rekonstruktion der Mitte Europas

3.1. Antitotalitarismus Fast gleichzeitig mit dem polnischen K O R um A d a m Michnik und Jacek Kuron begann der o f f e n e organisierte Widerstand der tschechischen Dissidenten um Havel, H a j e k , Patocka, den drei ersten Sprechern der Charta 77. Daß diese zu keinem Zeitpunkt über die Unterstützung aus Intellektuellenkreisen hinausgekommen sind, ist der große Unterschied zu den R a h m e n b e d i n g u n g e n der polnischen Aktivisten. In einer seiner wichtigen zeitkritischen Schriften, die 1984 erstmals in Englisch unter dem Titel Anti-Political Politics erschien, beschreibt er seine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus oder besser Post-Totalitarismus, wie er selbst es nennt. 1 3 3 Vergleichbar mit Horkheimer und A d o r n o in der „Dialektik der A u f k l ä r u n g " greift er die Kritik an einem instrumenteil verkürzten Vernunftverständnis auf, das er bei Descartes und Galilei in Philosophie und Naturwissenschaft, wie bei H o b b e s und Machiavelli in der politischen Theorie verankert sieht und als Kennzeichen der gesamten Entwicklung der M o d e r n e beschreibt. Der Realsozialismus habe es keineswegs geschafft, die Aporien der M o d e r n e zu überwinden. Eher habe er als „antiwestliches O r g a n westlicher Zivilisation" dazu beigetragen, „Säkularismus, Modernität und die in der westlichen Technologie beschlossene Zweck-Mittel-Rationalität als G r u n d lage allen Handelns weltweit durchzusetzen." 1 3 4 Vor diesem modernitätskritischen Hintergrund entwickelt Havel seine politischen Überzeugungen, die in der These enden, daß sich die Politik z u n e h m e n d von der Lebenswelt entfernt habe (Havel nimmt hier den Husserlschen Begriff auf), durch das von Machiavelli ausgehende Ende der Politik als praktischer Philosophie: „ M a n kann sagen - trotz aller verschlungenen historischen Peripetien daß gerade hier der eigentliche Ursprung des modernen Staates und der modernen Politik zu suchen ist, also wiederum in einem Augenblick, in dem der menschliche Verstand sich v o m M e n s c h e n zu ,befreien' beginnt 1 3 , von seiner persönlichen Erfahrung, seinem persönlichen G e wissen und also auch von dem, worauf sich in den Dimensionen der Lebenswelt j e d e Verantwortung einzig bezieht, nämlich von seinem absoluten Horizont." 1 3 6 Anders als Kundera und deutlicher als Konrad analysiert Havel in den M e r k m a l e n des Totalitarismus die westlichen Wurzeln von Rationalismus und Technokratie. Die A b w e n d u n g vom H u m a n i s m u s ist ein europäisches Phänomen gewesen und damit nicht

b3

Vaclav Havel, „Über Macht und Manipulation", in: Politik

und Gewissen,

hg. von Otfried

Pustejovsky und Franz Olbert, München 1990, 11-32. Dieser Text ist in Deutsch auch noch unter dem Titel: „Politik und Gewissen" erschienen, in: Vaclav Havel, Am Anfang

war

das

Wort,

Reinbek: Rowohlt 1990. In englischer Sprache ist der Aufsatz unter dem programmatischen Titel „Antipolitical Politics" erschienen, in: John Keane (Hrsg.): Civil European

Perspectives,

Society

and the State.

New

L o n d o n / N Y 1988, 3 8 1 - 3 9 8 .

134

Dan Diner, Krieg der Erinnerungen

135

In der englischen Übersetzung heißt es präziser: „break free of humanity", was stärker auf Havels

und die Ordnung

der Welt, Berlin 1991, 85.

Rekurs auf den Humanismus hinweist. (Vaclav Havel, „Antipolitical Politics", in John Keane (Hg.), Civil Society and the State. New European Perspectives, London/"Ncw York, 387). 136

Vaclav Havel, „Über Macht und Manipulation", 18.

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas

149

allein mit russisch-autokratischen Traditionen zu verbinden. „Es waren gerade Europa und der europäische Westen, die der Welt all das gegeben, j a vielfach direkt aufgezwungen haben, worauf diese Macht heute steht - von der neuzeitlichen Wissenschaft, dem Rationalismus, Szientismus, der industriellen Revolution und überhaupt der Revolution als Fanatismus der Abstraktion, über die Internierung der Lebenswelt in das 137

Badezimmer bis zum Konsumkult, der Atombombe und dem Marxismus." Die modernen totalitären Staaten sind nur eine Verzerrung moderner westlicher Zivilisationselemente. Der Totalitarismus erscheint bei Havel nicht als russischer Sozialismus, nicht als Verlängerung der russischen Geschichte und ihrer autokratischen Merkmale, sondern als Ausgeburt westlicher Zivilisation, die mittels des Rationalismus jeden Sinn für Humanität ausgetrieben hat. Dies sieht Vaclav Benda, ein tschechischer Freund Havels und katholischer Oppositioneller ebenso: „(T)he main principle of totalitarian control is the utter destruction, the atomization of this and every other community replacing them with a paramilitary pseudo-party or, more probably, with a perfectly subordinated, perfectly sterile, life-treatening party apparatus." 1 3 8 Aus diesem Grund finden sich in Havels Texten keine einfachen Gegenüberstellungen von Ost und West. „Der Westen" ist für ihn auf Grund seiner modernitätskritischen Position kein normativer Fluchtpunkt. „Havel's objection to Czechoslovak totalitarianism is merely an aspect of his broader objection to modernism, technology, and rationalism." 1 3 9 Darin folgt er ganz der Tradition Husserl und Heideggers, vermittelt über Patocka und den eher unbekannten tschechischen Philosophen Vaclav Belohradsky. Aus diesem Verständnis des Totalitarismus ergibt sich zwangsläufig seine Kritik an Kunderas Beschreibung der mitteleuropäischen Krise. „Ungern möchte ich Kundera unrecht tun, doch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß seiner Konzeption des von Asien geraubten Europa, des geistigen Friedhofs, der Herrschaft des Vergessens und der Geschichte als unerschöpflicher Quelle grausamer Scherze durchaus die Vorstellung entspricht, bei uns sei alles immer noch so wie zu A n f a n g der siebziger Jahre und daß alle diese Petitionen immer deutlicher ihrer absurden Hoffnungslosigkeit überführt werden."' 4 0

137

Ebd., 19f.

138

Benda, Vaclav, „Parallel Polis, or An Independent Society in Central and Eastern Europe: An Inquiry", in Social Research,

55. Jg. (1-2/1988), 218. Dieses Sonderheft beinhaltet noch Beiträge

von Milan Simecka, Ivan M. Jirous, Jiri Dienstbier, Vaclav Havel, Ladislav Hejdanek und Jan Simsa. 139 140

Aviezer Tucker, „Vaclav Havel's Heideggerianism", in Telos 85, (Herbst 1990), 72. Vaclav Havel, Fernverhör,

Reinbek 1987, 214. Havel bezieht sich auf die eigenen Petitionen und

die Risiken, die er dabei einging mit der Gefahr der möglichen Sinnlosigkeit des eigenen Einsatzes. Havel nahm seinem Schriftsteller-Kollegen Kundera den aus dem Exil geschriebenen Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" übel. In seinen Augen stellte er die Ernsthaftigkeit oppositioneller Arbeit in der Tschechoslowakei in Frage und gab die Intentionen der Unterzeichner der Charta 77 der Lächerlichkeit preis.

150

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

3.2. Das „Als ob" und seine subversive Wirkung Die soziologischen Analysen der ostmitteleuropäischen Gesellschaften der 70er Jahre stellen fest, daß Regierung und Kommunistische Partei aus mangelnder Legitimation darauf verzichten mußten, einen Zusammenhalt zwischen den Bürgern herzustellen. Staats- und Parteiführung tolerierten, manche würden sogar sagen: forcierten Atomisierung und Zersplitterung der Gesellschaft. Der ungarische Weg über eine Schattenökonomie war zumindest eine Möglichkeit, über eine sozioökonomische Ausdifferenzierung Ansätze einer Sozialintegration in die Gesellschaft zu übertragen. Dieser Weg blieb den Polen und Tschechoslowaken jedoch versperrt. Gegen diese verfestigte, auf Parteiraison, Konsumismus, Lethargie und Angst vor Repression aufgebaute Struktur versuchte die politische Opposition ihre alternativen Vorstellungen von Sozialintegration durchzusetzen. Selbstverständlich lag es nicht in ihrer Macht, den „Normalweg" der Modernisierung über einen ausdifferenzierten eigenständigen ökonomischen Bereich einzuschlagen. Aber sie konnten bei den Bürgertugenden ansetzen, bei der moralischen Einstellung jedes einzelnen. „Fundamentalistische Bewegungen und gemeinschaftliche Formen der Integration waren das einzige, was die atomisierten Menschen der etatistischen Ordnung entgegenstellen konnten. Diese Bewegungen waren Produkt, Negation in der Negation und damit ihrerseits Abbild der geschlossenen Gesellschaft, die sie kritisierten. Aber zugleich bildeten sie die einzig mögliche soziale Basis, die den politischen Durchbruch von innen tragen konnte. Sie formulierten das Interesse der Gesellschaft, den gesellschaftlichen Zustand als ganzen aufzuheben und die kulturelle Gemeinschaft der Menschen als civil society zu konstituieren." 141 Wie stark die Reformbewegung in Ostmitteleuropa im Sinne Ken Jowitts und Jan Kubiks an einer Ausarbeitung eines neuen politischen Vokabulars und kultureller Deutungsmuster arbeitete, kann der Hinweis auf die Strategie des „als ob" zeigen. Darin steckte der Keim einer deutungskulturellen Revolution; also in der existentiellen oder moralischen Fiktion einer unabhängigen Persönlichkeit, die so handelt, als ob ihr eine differenzierte Sphäre bürgerlicher Freiheiten zur Verfügung stände. 142

141

142

Jadwiga Staniszkis, „Dilemmata der Demokratie in Osteuropa", in Deppe/Dubiel/Rödel (Hrsg.) Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt 1991, 226ff. Über die Frage der Vorreiterrolle des KOR für Solidarnosc gibt es eine anhaltende Kontroverse zwischen denjenigen, die Solidarnosc primär als Gewerkschaft verstehen wollen, welche Arbeiterinteressen vertritt und denjenigen, die Solidarnosc als neuartige gesellschaftliche Formation verstehen, welche die alten Rechts-Links-Schemata, den Klassenbegriff etc. fallenläßt. Auf der einen Seite z.B. Ken Jowitt mit der Aussage: „Solidarity was...carried out by a working not middle - class (...)" in: ders., „The Leninist Extinction", in Daniel Chirot (Hg.), The Crisis of Leninism and the Decline of the Left: the Revolutions of 1989, 77. Und auf der anderen Seite z.B. Smolar („The Polish Opposition"; in: Ferenc Feher und Andrew Arato (Hrsg.): Crisis and Reform in Eastern Europe, New Brunswick 1991, 175-252), der den „sozialen Kitt" zwischen den Menschen nicht auf ihre Interessen, sondern auf ihre moralische Integrität zurückfuhren will. M e l a n i e T a t u r stützt sich a u f p o l n i s c h e e m p i r i s c h e U n t e r s u c h u n g e n zur Z u s a m m e n s e t z u n g d e r

Aktivisten von Solidarnosc und konstatiert deren Zugehörigkeit zu einer aufstiegsorientierten

V a c l a v H a v e l s A n s t o ß zur Regeneration Europas

151

Ein zentraler Protagonist der als-ob-Strategie war Leszek Kolakowski. Die Stabilität eines Systems hängt, so seine These, nicht allein von seiner objektiven Gestalt ab, sondern im gleichen Maß auch davon, daß es Legitimitätsgründe in der Gesellschaft mobilisieren kann, kurz: daß es für legitim gehalten wird. „Was eine Gesellschaft ist, wird auch davon bestimmt, was sie in ihrer eigenen Vorstellung ist. (...) Eine Gesellschaft, die ihre Werte verteidigt, die versucht, in ,Wahrheit' und ,Würde' zu leben (...), eine solche Gesellschaft verfugt über effektive Druckmittel gegen das System, die auf lange Sicht in der nationalen und sozialen Befreiung wirksam sein könnten." 1 4 3 Auch wenn Kolakowski dies hier noch sehr vorsichtig formuliert, wird die Bedeutung dieser Strategie für die Opposition deutlich. Es wurde quasi eine intellektuelle Nebenöffentlichkeit gegründet, die nach dem Prinzip der praktischen Philosophie als parallele Polis eine politische Gegenwelt simulieren sollte: „By simply living as though free, rather than demanding of the regime freedoms you know it will not or cannot grant, one creates the very social sphere whose existence one seeks." 144 Diese Umstellung war eine von universalistischen, sozialtechnologischen Machbarkeitsvorstellungen der sozialistischen Tradition auf eine Strategie der kleinen Schritte, die Havel mit seinen Ideen unterstützte. Damit verloren die Utopien an Bedeutung, die entlang von Revolutionierungen des Arbeitsprozesses formuliert wurden. Diese Praxis des „Als o b " bestimmte den Umschwung in der oppositionellen Strategie: die Errichtung einer alternativen Öffentlichkeit auf der Basis von Moral und Recht. Diese als-ob-Praxis nahm die sozialistische Gesellschaft beim Wort. Im rechtlichen Bereich hieß das, rechtliche Normierungen, die zur Legitimationsbeschaffung gedacht waren aber nicht zum alltäglichen Vollzug, wörtlich zu nehmen. Denn hier zeigten sich die bürgerlichen, westlichen Wurzeln der ostmitteleuropäischen Systeme, daß sie auf Legitimation durch Verrechtlichung nicht verzichten konnten. Verstöße gegen das Recht seitens des Systems mußten selber wieder rechtlich codiert werden oder durften nicht öffentlich werden. Die sozialen Schizophrenien, die demgemäß entstehen können, wurden an zahlreichen Orten beschrieben. Es gibt Rechtsnormen; deren Einsatz erfolgt jedoch nur unter Berücksichtigung von politischen Opportunitätsgesichtspunkten. Auf der anderen Seite gibt es die Gruppennormen des direkten familiären oder persönlichen Umfelds. Konformes Verhalten wird so in der sozialistischen Gesellschaft über a) Sanktion von oben oder b) private Gruppennormen erreicht. Es fehlen intermediäre Institutionen, die die Identifikationslücke schließen können. 1 4 5 So führt der „instrumenteile oder fiktive Charakter von Normen" dazu, daß deren „Verinnerlichung und damit eine moderne Form der Vergesellschaftung der Individuen unmöglich" gemacht wird.

Schicht (Mittelschicht, qualifizierte Arbeiter, Intellektuelle). V g l . dazu M e l a n i e Tatur, „Moralischer Protest und politische Innovation Lebensstile 143

in Polen", in M ä n i c k e - G y ö n g y ö s i / R y t l e w s k i

in sozialistischen

Gesellschaften,

Leszek Kolakowski, zitiert nach Winfried Thaa, Die schaft

144

und Kulturmuster

und Legitimitätskonflikt

T o n y Judt, „The D i l e m m a s o f

in den Revolutionen

Wiedergeburt

von 1989,

des Politischen.

Zivilgesell-

196.

Dissidence: T h e Politics o f Opposition in East-Central Europe",

261. 145

(Hrsg.)

Köln 1990, 96.

M e l a n i e Tatur, „Moralischer Protest und politische Innovation in Polen", 9 9 f f .

152

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

„Konformes Verhalten wird über zwei Mechanismen gesichert: Durch Androhung von Sanktionen und instrumenteile Anreize wird eine pragmatische Anpassung in der Sphäre der staatlichen Institutionen erzielt, daneben sichern private Gruppennormen die soziale Integration." 146 Daraus leitet sich die Forderung des „als ob" ab, die Öffentlichkeit aus dem privaten Bereich wieder mit Werten und Tugenden zu beseelen. Die andere Möglichkeit wäre, wie Winfried Thaa formuliert, daß nicht eine sozialstrukturell bestimmte Systemkrise, sondern „... die Zerstörung der normativen Sozialintegration den Ausgangspunkt der zivilgesellschaftlichen Politik gegen das kommunistische Regime" bildet. 147

3.3. „Die Krise der menschlichen Identität" - zur Authentizität menschlicher Existenz Ein Beispiel der von Havel anvisierten oppositionellen Haltung zeigt sich im offenen Brief an Alexander Dubcek vom August 1969, seinem ersten im engeren Sinne politischen Essay. Der Prager Frühling jährte sich zum ersten Mal und Havel appellierte an Dubceks Gewissen, auf keinen Fall Konzessionen gegenüber der Moskauer Parteiführung zu machen. Wichtig sei, daß Dubcek mit seinem Verhalten allen Tschechoslowaken ein Vorbild abgebe. Havel verlangte nicht weniger, als daß Dubcek die Qualitäten eines Gesinnungsethikers zeigen sollte. Ein zählbares, machtpolitisch relevantes Ergebnis erwartete Havel ehedem nicht. Egal wie Dubcek handele, die Macht, d.h. die sowjetische Zentrale in Moskau hat die Fäden in der Hand. Gerade deswegen, so Havel, werde die symbolische Ebene seines Handelns besonders wichtig. Man fühlt sich an die Passagen aus „Politik als B e r u f von Max Weber erinnert, in denen dieser dem Gesinnungsethiker die Lutherischen Worte in den Mund legt: „Während es unermeßlich erschütternd ist, wenn ein reifer Mensch - einerlei ob j u n g oder alt an Jahren - , der diese Verantwortung für die Folgen real und mit voller Seele empfindet und verantwortungsethisch handelt, an irgendeinem Punkt sagt: ,Ich kann nicht anders, hier stehe ich.' Das ist etwas, was menschlich echt ist und ergreift. Denn diese Lage muß freilich für jeden von uns, der nicht innerlich tot ist, irgendwann eintreten können." 1 4 8 . Bei Havel heißt es dann in dem Brief so: „Es gibt hin und wieder Augenblicke, in denen der Politiker wirklichen politischen Erfolg nur erringen kann, indem er das ganze verknüpfte Netz relativierender politischer Rücksichten, Analysen und Kalkulationen vergißt und sich einfach wie ein ehrenhafter Mensch benimmt. Die plötzliche Anwendung unmittelbar menschlicher Maßstäbe inmitten der entmenschlichenden Welt politischer Manipulationen kann wie ein Blitz wirken, der diese unübersichtliche Land-

146 147 148

Ebd., 99. Winfried Thaa, Die Wiedergeburt

des Politischen,

204.

Max Weber, „Politik als B e r u f ; in: Politik als Beruf/Wissenschaft als Beruf, Bd. 1/17 der Max Weber Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter, S. 157-252.

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas

153

schaft mit hellem Licht überstrahlt. Und auf einmal ist die Wahrheit wieder Wahrheit, die Vernunft Vernunft und die Ehre Ehre." 149 Doch das erhoffte Signal blieb aus, Dubcek konnte die von Havel in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. In einer Welt, in der Politik nur im Rahmen der festgefugten Grenzen des Parteimarxismus ablaufen kann, wird die Kultur, speziell die Subkultur zum Keim des Widerstands. Die Kultur ist es, von der aus eine Gegenwelt zum herrschenden Politikbereich aufgebaut werden kann. „Durch die Kultur vertieft die Gesellschaft ihre Freiheit und entdeckt die Wahrheit - welches Interesse an der Kultur kann also eine Macht haben, deren Wesen sich gerade in der Unterdrückung jener Werte äußert?" 150 Die wichtigste Tat des unabhängigen Intellektuellen ist nach Havel zum einen, die Spielregeln des Systems zu mißachten und durch Subversion zu verändern. Zum zweiten aber, und dies ist mindestens genauso wichtig, ideologischen Sprachgebrauch zu vermeiden. Seine Aufgabe sieht er darin, der offiziellen Sprache einen Spiegel vorzuhalten, um authentische Erfahrungen wieder mitteilbar zu machen. Die Sprache im System wird „von einem Gewebe der Heuchelei und Lüge durchsetzt: Die Macht der Bürokratie wird Macht des Volkes genannt; im Namen der Arbeiterklasse wird versklavt; die allumfassende Demütigung des Menschen wird für seine definitive Befreiung ausgegeben; Isolierung von der Information wird für den Zugang zur Information ausgegeben; die Manipulierung durch die Macht nennt sich öffentliche Kontrolle der Macht, und die Willkür nennt sich die Einhaltung der Rechtsordnung; die Unterdrückung der Kultur wird als ihre Entwicklung gepriesen..." 151 Der subversive Ort der neuen Sprache ist der persönliche Nahraum. 1 2 Denn dort wird die authentische

149

Vaclav Havel, „Offener Brief an Dr. Husak", in ders., Am Anfang war das Wort, Reinbek 1990, 47-76.

150

Ebd., 53.

151

Vaclav Havel, zitiert nach Theo Stammen, „Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen

Systemwandels",

26.

An

anderer

Stelle

bezeichnet

Adam

Michnik

die

Sowjetisierung als Feind; Sowjetisierung heißt: Propaganda, Kulturlosigkeit, Lüge, Newspeak, „Durch die organisierte Lüge, durch die Massenmedien, welche zu massiven Zerstörungsmitteln des Geistes und des Gewissens umfunktioniert wurden, verwischt die sowjetische , Kultur' die Unterschiede zwischen Werturteil und Beschreibung, zwischen der Wirklichkeit und deren propagandistischem Bild... Bestimmte Wörter verschwinden. Das Wort .Pluralismus' verschwindet, weil in der sowjetischen Welt ,die Einheit des Denkens und des Handelns' herrscht..." Adam Michnik, Die Kirche und die polnische 152

Linke, München 1980, 134/135.

Wie eng Havel sich an Patocka orientierte, soll der folgende Abschnitt zeigen; ein längeres Zitat aus der Charta 77, das in seinem Wortlaut maßgeblich von Patocka verfaßt wurde: „If human development is to match the possibilities of technological instrumental reason, if a progress of knowledge is to be possible, humankind needs to be convinced of the unconditional validity of principles which are in that sense, „sacred" valid for all humans at all times, and able to set out humanity's goals. We need, in other words, something that in its very essence is not technological, something that is not merely instrumental: we need a morality that is not merely tactical and situational but absolute...No society, no matter how well-equipped it may be technologically, can function without a moral foundation, without convictions that do not depend on convenience,

154

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

Sprache noch gepflegt. Es ist hauptsächlich ein Problem des öffentlichen Raums, daß die Begriffe dort ihre Bedeutung verloren haben und sprachliche Äußerungen zu rituellen Handlungen verkommen sind. Aus diesem Nahraum persönlicher Aufrichtigkeit, mehr mit dem Gestus eines Rebellen als eines Revolutionärs, baut der Akteur der unabhängigen Gegen-Gesellschafit nach und nach Kontakte auf, die zu einer parallelen Gesellschaft (parallelen Polis) und einer Gegenöffentlichkeit führen sollen. Für diese Strategie fand sich schnell das Etikett der „selbstbeschränkenden Revolution", für die Havel mit seinen frühen Texten die intellektuelle Vorarbeit zu leisten half. Die Forderung lautet: Menschliche Werte müssen wieder aus dem Bereich der Privatsphäre in der Öffentlichkeit Einzug halten. 153 Havel selber zeigte des öfteren, daß er bereit war, für seine Überzeugungen auch in Konfrontation mit dem System zu leben. Ohne konkreten Anlaß setzte er mit seinem gewagten Offenen Brief an Dr. Husak ein Signal. Er wollte zeigen, daß die Normalisierung der schweigenden Mehrheit keineswegs als Zeichen der Zustimmung zur Politik des kommunistischen Regimes zu bewerten ist. Deren Rückzug aus der Politik, durch innere oder äußere Emigration, ist vielmehr ein Zeichen kultureller Armut, dem gezielt entgegengearbeitet werden müsse. Je länger dieser kulturlose Zustand anhalte, umso unwahrscheinlicher werde es, daß sich die Menschen wieder an eine wertvolle, ehrliche, wahrhaftige Art des Lebens gewöhnen. Sie täten nur etwas für den Staat, um von ihm in Ruhe gelassen zu werden. Dieser forciere bewußt die Privatisierung, die psychologisch wie ökonomisch gewollt sei. „Die gesellschaftliche Macht begrüßt und unterstützt diese Verlegung des Energieflusses ins ,Private'". 154 Es herrscht „die Flucht aus der ,öffentlichen' Sphäre." 155 In einer an Herbert Marcuse erinnernden Terminologie bezeichnet Havel den auf das Private reduzierten Menschen als „eindimensionalen Menschen", der auf die Konsumwelt fixiert und vom sozialistischen Ideal weit entfernt ist. Die Kritik des Verlustes der Öffentlichkeit und der konsumfixierten Eindimensionalität trifft keineswegs ausschließlich die Realität des kommunistischen Systems. Havel beschreibt die „Krise der modernen technischen Zivilisation" 156 als „Krise der 157

menschlichen Identität". Aus dieser Sicht heraus versucht er sein Verständnis von antipolitischer Politik verständlich zu machen: „Ich bin für ,antipolitische Politik'. Nämlich für eine Politik nicht als Technologie der Macht und der Manipulation mit ihr oder als eine kybernetische Menschenführung oder als Kunst des Zweckmäßigen, Praktischen und

circumstances, or expected advantage." Jan Patocka, zitiert nach Aviezer Tucker, „Patocka vs. Heidegger. The Humanistic Difference" in Telos 92 (1992), 85-98, hier 97. 153

Im folgenden ergänzt Havel, daß es darauf ankomme, der „anonymen, unpersönlichen und unmenschlichen Macht der Ideologien, Systeme, Apparate, Bürokratien, künstlichen Sprachen und politischen Schlagworte entgegenzutreten; sich gegen ihren komplexen und allseitig entfremdenden Druck zu wehren." Vaclav Havel, Über Macht und Manipulation,

154

Vaclav Havel, „Offener Brief an Dr. Husak", 47.

155

Ebd..

156

Ebd., 52.

157

Ebd..

28.

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas

155

der Intrige, sondern für eine Politik als eine der Arten, wie man im Leben Sinn suchen und erlangen kann; (...) für eine Politik als praktizierte Sittlichkeit; als Dienst an der Wahrheit; als wesenhaft menschliche und nach menschlichen Maßstäben sich richtende 158 Sorge um den Nächsten." Politik von unten, von der Basis einfacher Menschen und Menschlichkeit aus, dafür setzt sich Havel ein. An die Stelle der dominanten Konfrontation von Kapitalismus und Sozialismus, die seiner Meinung nach aus der „Tiefe des vergangenen Jahrhunderts" zu ihm dringt, setzt Havel die in seinen Augen wirkliche Gegenüberstellung von menschlicher und technokratischer Politik. „Mir scheint es geht schon lange nicht mehr um diese durch und durch ideologischen und semantisch vielfach unklaren Kategorien, sondern um eine ganz andere Frage, eine tiefere und alle gleich betreffende, nämlich die Frage, ob es gelingt, in irgendeiner Weise die Lebenswelt wieder als echtes Terrain der Politik zu rekonstruieren, die persönliche Erfahrung des Menschen als Ausgangsmaß der Dinge zu rehabilitieren, die Sittlichkeit der Politik und die Verantwortung dem Zweck überzuordnen, der menschlichen Gemeinschaft wieder Sinn zu geben und der menschlichen Sprache wieder Inhalt, das souveräne, integrale und würdige menschliche ,Ich' wieder zum Brennpunkt des gesellschaftlichen Geschehens zu machen,(...), weil es sich auf etwas über sich bezieht (...)" 159 Havel spricht von menschlicher Würde und Selbstverwirklichung, die auch mit seiner wirtschaftlichen Tätigkeit verbunden wird, aber eben auf einer Marktebene. Es geht ihm um „menschlichen Unternehmungsgeist und (...) Eintreten (...) in nichtfiktive Marktbeziehungen." 1 6 0 . Posttotalitäre Gesellschaften bewegen sich in einem ausgeprägten Rahmen von Paradoxien. Sie sind auf Konsens angewiesen, können diesen aber nicht über eine pluralisierte Öffentlichkeit konflikthaft sich selber herstellen lassen. Sie haben Politik monopolisiert und damit ihres eigentlichen Sinns beraubt. Politik im traditionellen Sinn, so lautet Havels Analyse zusammenfassend, findet in diesen Gesellschaften nicht statt. Im ureigensten Sinne politische Ambitionen werden kriminalisiert und politisches Denken ebenso. Gleichwohl gibt es einzelne Gruppen und einzelne Persönlichkeiten, die sich diesem „Spiel" widersetzen, die auf die Politik, als auf ihre Lebensaufgabe, nicht verzichten wollen, die versuchen, auf diese oder jene Art politisch unabhängig zu denken, sich zu äußern und eventuell zu organisieren - um mit Havel zu sprechen, ein „Leben in Wahrheit" zu fuhren. Diese halten Traditionen aufrecht, die auch posttotalitäre Gesellschaften mit dem Westen, mithin mit ihren eigenen Wurzeln verbinden.

158

Vaclav Havel, „Über Macht und Manipulation", in Politik

und Gewissen,

hg. von Otfried

Pustejovsky und Franz Olbert, München 1990, 30. Vgl. dazu: Petr Pithart, „Kommentar zu einem Streitgespräch zwischen Vaclav Klaus und Vaclav Havel" und natürlich das Gespräch selber. Aus dem Kommentar von Pithart: „Antipolitical politics never intended to defeat, exclude, or marginalize political politics' (by which I mean party, parliamentary, and governmental politics). The term was coined only to show that people are motivated to engage in politics for reasons other than the mere desire to gain power, and that much can be achieved beyond an electoral contest for power."(23) 159

Vaclav Havel, „Über Macht und Manipulation", 24.

160

Ebd., 25.

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

156

Den Begriff der Wahrheit teilt Havel mit Adam Michnik und anderen ost- und ostmitteleuropäischen Oppositionellen: 161 „Die Devise von Alexander Solschenizyn (,Nicht in der Lüge leben') und die Devise von Leszek Kolakowski (,Leben mit Würde') sind bedeutungsgleich." 1 6 2 Michnik spricht von Charaktermerkmalen, von Werten, die wichtig sind „für eine polnische Jugend, die im Namen der Wahrheit den Konformismus ablehnt und den Weg der Revolte und des zivilen Ungehorsams einschlägt." 1 6 3 Die Ablehnung, sich an die vorgegebene Dichotomie von Kapitalismus und Sozialismus zu halten, Klassenkampf und soziale Kategorien zur Beschreibung der Gesellschaft und ihrer Krisen zu verwenden, ist bei allen genannten Oppositionellen gleichermaßen vertreten. Auch für Havel ist das Ende des ideologischen Zeitalters eingekehrt. Die Unterschiede zur polnischen Opposition liegen jedoch auf der Hand. Es gibt keine Massenbewegung, keine Kirche und keine organisierten Gewerkschaften, die den Intellektuellen eine Breitenwirkung verschaffen könnten. 1 6 4 Nicht nur Michnik und Havel, sondern auch Walesa und Havel waren sich einig, daß die Politik in der alternativen Gesellschaft eine Politik der Wahrheit und der moralischen Ansprüche, gegen ideologische Imperative sein müsse: "The new politics involves the defanaticization of the public realm, the affirmation of the right to be different and of the right to civil disobedience." 1 6 5 Gemeinsames politisches Handeln, gemeinsame politische Erfahrungen sollen eine gegen staatliche Politik gerichtete zivilgesellschaftliche Antipolitik stärken. Dabei verlassen sich Konrad, Havel, Benda u.a. auf die Integrationskraft einer gemeinsamen politischen Praxis. Gegen die Privatisierung des Individuums und gegen die Verstaatlichung der öffentlichen Belange wird eine civitas, die societas civilis ins Leben gerufen, die sich gerade nicht wie die moderne bürgerliche Gesellschaft Hegeischen Zuschnitts entlang sozial-ökonomischer Trennungslinien ausdifferenziert, sondern einen politischen demos neu schafft. Soziale Integration oder Gemeinschaftssinn kann sich nur über politische Partizipation im engeren Sinne herstellen. Und so steigern sich die Erwartungen Havels von einer „einfachen" politischen Revolution zur „existentiellen Revolution", wie er es in Heidegger-Patockaschen Begriffen erwartet. Diese existentielle Revolution beschreibt Havel auf drei verschiedene Arten. Die ersten beiden sind eng an philosophischen Reflexionen über die Quellen des Selbst gebunden und gehen auf Heidegger und Patocka zurück. Die letzte Art der Beschreibung ist eine politische und äußert sich in den Möglichkeiten „in der Wahrheit zu leben" als politischer Lebensform. Neben dem wichtigen Bezug zu

161

Adam Michnik, Die Kirche und die polnische

162

Ebd., 101.

163

Ebd., 149.

164

Vgl. dazu Theo Stammen, „Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels", 22-29.

165

Diese Überlegungen Tismaneanus stützen sich direkt auf einen Text Walesas, in dem dieser davon spricht, daß keine Ideologie vorgebracht werden sollte, sondern „we were simply seeking human dignity." (Vladimir Tismaneanu, Reinventing Politics, 131).

Linke, 99.

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas

157

Heideggers Begriff des Daseins, greift er Patockas Verständnis von Anerkennung auf: „it is a return to Jan Patocka's authentic first movement of acceptance, according to Patocka's concept of human existence as a movement divided into three submovements of acceptance, defense, and truth, inspired by a combination of Aristotle and Heidegger." Doch noch wichtiger in unserem Zusammenhang ist die politische Dimension: „it is communal and political authenticity, associated by Havel with what was perceived by Czechoslovak dissidents as anti-establishment movements: youth revolt, peace movements, human rights movements, liberal movements, religious and ecumenical revivals, and ecological initiatives." 166 Doch Havel distanzierte sich später nach seiner noch einmal sehr existentialistisch angehauchten Rede vor dem Amerikanischen Kongreß von der ursprünglichen Vorstellung, spätestens in seinen „SommerMeditationen", in denen er eine stärker von einer politischen und eben nicht existentiellen Revolution ausging. Doch eine letzte Reserviertheit gegenüber der praktischen Politik blieb. Havel trat bis heute keiner Partei bei. Dafür mußte er als Konsequenz seine weitgehende politische Marginalisierung durch seinen politischen Kontrahenten Vaclav Klaus in Kauf nehmen. Erst in den Nachwende-Schriften greift Havel den ubiquitär gewordenen Begriff der Bürgergesellschaft auf und formuliert seine Gedanken zur funktionierenden Öffentlichkeit und aktiven Bürgerpartizipation in den neuen Begriffen: „Ich bin für ein politisches System, dessen Grundlage der Bürger ist mit all seinen grundlegenden Bürger- und Menschenrechten in ihrer universalen Gültigkeit,..., ich bin also für das, was man Bürgergesellschaft nennt." 167

3.4. Regeneration Europas aus der Mitte Die enge Vernetzung der ostmitteleuropäischen Opposition - ihre Texte kursierten im Samisdat - machte die politischen Essays Havels zu Kerntexten der gesamten ostmitteleuropäischen Opposition. Sein Politik- und Gesellschaftsverständnis, seine Überlegungen zur oppositionellen Strategie und seine Gegenwartsanalyse waren von großem Einfluß. Meistens wird jedoch übersehen, daß sein (Anti-) Politikverständnis sehr wohl mit den Überlegungen zur europäischen Mitte und mit der viel beschworenen „Rückkehr nach Europa" korrespondiert, obwohl sich Havel beim Gebrauch des MitteleuropaBegriffs sehr zurückgehalten hat. Nach den Revolutionen von 1989 herrschte die Vorstellung, daß die antipolitischen Eliten in Ostmitteleuropa die einmalige Chance haben, auf Europa Einfluß zu nehmen, wenn sie geschlossen auftreten und nicht als Konkurrenten. Havel sorgte nicht nur dafür, daß die nationale, tschechische Geschichte wieder ins kollektive Gedächtnis einrückte, sondern er arbeitete auch kräftig an einem Bild über den „Sehnsuchtsraum" Mitteleuropa, in dem viele Motive des 19. Jahrhunderts wieder auftauchen. Wie schon gesehen hat seine Modernitätskritik mit dem alten Zangenmotiv und der Mitte als „buffer zone" gearbeitet. Beim Ausschmücken des

166

Aviezer Tucker, „Identity Crisis", in Telos 91 (1992), 291.

167

Vaclav Havel, „Die Herrschaft der Gesetze", in ders.: Sommermeditationen,

Reinbek 1994, 25.

158

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

zukünfigen Mitteleuropa zeigen sich folgende Motive: Ein selbstbewußtes, wenn nicht sogar leicht hybrides Bild der Mitte als Raum fortgeschrittener Erkenntnis im Sinne der alten Achsen-Phantasien, die Idee der Vielfalt, das Bild der europäischen Mitte als Vermittler und Ort der vielfachen Kreuzungen und natürlich die Mitte als Grenzraum von Ost und West. Doch kommen wir zuerst auf die gegenseitige Bezugnahme von Havel, Michnik und Konrad zu sprechen, die sich auch nach den revolutionären Umwälzungen 1989 fortsetzte. Havel, dann schon Staatspräsident, initiierte Treffen ostmitteleuropäischer Staatsvertreter, die sogenannte Visegrad-Runde und ließ keine Gelegenheit aus, die Gemeinsamkeiten der drei ostmitteleuropäischen Nachbarn zu betonen. Beide Länder bereiste er direkt nach seiner Wahl zum Präsidenten, um dort zum Ausdruck zu bringen, daß sie durch ihr mutiges Vorgehen die Ereignisse in der CSSR mitgeprägt haben. Sie haben dem „konservativsten kommunistischen Regime" 168 gezeigt, welche Möglichkeiten die Bürger im Umgang mit haltlosen Regimes haben. Etwas pathetisch spricht Havel im polnischen Sejm in Warschau, Ende Januar 1990. Er betont: „daß Ungarn und Polen ihr Blut auch für uns gegeben haben, und daß wir das gut wissen und es nicht vergessen haben...so wissen wir doch gut, daß wir uns ohne den jahrelangen Kampf der Polen, den Aufstand der Völker der Sowjetunion, den Aufstand 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn heute nicht der Freiheit erfreuen könnten." 169 In Polen drückte er mit Hinweis auf Jacek Kuron und Adam Michnik, mit denen er sich noch vor der Wende an der polnisch-tschechischen Grenze verbotenerweise getroffen hatte, die enge Verbundenheit der Dissidenten beider Länder aus. 170 Die Anerkennung beruht auf Gegenseitigkeit. Auch die polnische Seite hat ihrerseits die Verbundenheit mit den tschechischen Dissidenten im allgemeinen und mit Havel im besonderen betont. Adam Michnik erinnerte an die Zusammenarbeit von Solidarnosc, Charta 77 und die persönlichen Verbindungen. Im Zuge der jeweiligen Inhaftierungen sorgte man solidarisch für die entsprechende Gegenöffentlichkeit. 171 Ferner würdigt er Havels essayistische Leistung in dem Essay Macht der Machtlosen, der seiner Meinung nach „die umfassendste Formulierung der Philosophie der Bürgerbewegung" abgab, „die unter Verzicht auf Gewalt und Haß die Bürgergesellschaft in Mittelosteuropa aufbaute." 172 So wie Michnik wohl auch seine eigene Rolle sieht, würdigt er an Havel, daß dieser mit seinem Eintreten und seiner Person jenseits der Rechts-Links Teilung liegt. „Beim Aufbau der Charta 77 hat er es vermocht, seine 168

169 170

171

172

Vaclav Havel, „Gewissen und Politik"; in: Politik und Gewissen, hg. von Otfried Pustejovsky und Franz Olbert München 1990, 69. Ebd., 62/63. Anlaß war eine gemeinsame Erklärung zum zehnten Jahrestag des Einmarsches in die CSSR, die begleitet wurde von einem Treffen auf der Schneekoppe im Sommer 1978. (ebenda, 61). So schreibt Adam Michnik: „Als im Februar in Warschau die Verhandlungen des Runden Tisches begannen, wurde in Prag Havel wieder einmal verurteilt. Eine Protestwelle ging durch Polen, und M.F. Rakowski, Premier einer kommunistischen Regierung, besuchte demonstrativ die Premiere eines Theaterstücks von Havel. Ich selbst kletterte damals auf die Bühne und verlas einen vehementen Protest." Adam Michnik, „Osteuropäische Gedanken"; 105-119, hier 114. Ebd.

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas

159

Ideen in einer neuen Sprache zu formulieren, die den Antagonisten von gestern eine gemeinsame Ausgangsbasis bot. Diese Basis bestand in der Errichtung einer antitotalitären Gemeinschaft, einer demokratischen Polis in einer Welt der Unterdrückungsdiktatur." 1 7 3 Havel forderte, daß sich die Länder Mitteleuropas bei ihrer gemeinsamen „Rückkehr nach Europa" 1 7 4 unterstützen sollten. Er dachte dabei an eine enge Abstimmung der Tschechischen/Slowakischen Republik, Ungarns und Polens: „Die Tschechoslowakei kehrt nach Europa zurück. Im Interesse der Allgemeinheit und damit auch im eigenen Interesse will sie diese ihre Rückkehr - die politische und wirtschaftliche - mit den anderen Rückkehrern koordinieren, das bedeutet vor allem mit ihren Nachbarn, den 175 Polen und Ungarn," um nicht gegeneinander als Konkurrenten sich den Weg zu verstellen und einen Wettlauf zu beginnen, wer als erster europa-reif sei. Sicherlich ließen ihn seine Verbindungen zu ehemaligen Dissidenten und ihre gemeinsamen Erfahrungen auch von einer möglichen mitteleuropäischen Föderation träumen. „Wir stehen erstmals vor der realen historischen Chance, das große politische Vakuum, welches in Mitteleuropa nach dem Zerfall des Habsburgerreiches entstanden ist, mit etwas Sinnvollem füllen zu können. Wir haben die Chance, Mitteleuropa, dieses bisher überwiegend historische und geistige Phänomen, in ein politisches Phänomen zu verwandeln (...) in einen besonderen Körper..., der sich dem reicheren Westeuropa nicht als der arme Abtrünnige oder als der hilflos um sich blickende amnestierte Gefangene nähern wird, sondern als jemand, der auch etwas mitbringt: nämlich geistige und moralische Impulse, mutige Friedensinitiativen, ein unverbrauchtes schöpferisches Potential, das Ethos frisch erlangter Freiheit und die Inspiration zu mutigen und schnellen Lösungen." 1 7 6 Die politische Opposition in Ostmitteleuropa arbeitete im Bewußtsein, Staats- und Blockgrenzen zu überwinden. Die Mitteleuropa-Idee war die konsequente Fortsetzung der Ideen der Antipolitik und der Zivilgesellschaft. Es ist ein kleiner Schritt in der politischen Semantik von der Überwindung der Blockgrenzen und der damit verbundenen Ablehnung der Ost-West-Metaphorik hin zur Bestimmung einer Mitte, die auf sehr subtile Art und Weise das Denken in Dichotomien in Frage stellt. Und als wollte er die Kritik Heinrich Heines, der Deutschland im Luftreich der Träume darben sah, ins späte 20. Jahrhundert und auf sein Land übertragen, variierte Havel die Mitteleuropa-Thematik in emanzipatorischer Absicht: „Wir wollen niemandes Satellit mehr sein. Zugleich wollen wir aber auch nicht irgendwo im luftleeren Raum schweben und glauben, wir könnten uns selbst genügen....Um so weniger wollen wir eine seltsame Art von Pufferzone oder Niemandsland zwischen den explosiv sich ändernden Staaten der ehemaligen Sowjetunion und dem demokratischen Westeuropa sein." 177

173

Ebd., 115.

174

Vaclav Havel, „Gewissen und Politik", 75.

175

Ebd., vgl. auch: ebd, 112.

176

Ebd., 65.

177

Vaclav Havel, „Die Suche nach einem neuen europäischen Zuhause", in ders., nen, Reinbek 1994, 85.

Sommermeditatio-

160

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

Aus diesen Worten spricht das Selbstbewußtsein eines Intellektuellen, der mit seinen Schriften und seinem persönlichen Einsatz für die weitreichenden Veränderungen in seinem Land gesorgt hat. Doch uns interessiert, auf welche Bilder Havel zurückgreift, welche Deutungsangebote er vorstellt, um zu überzeugen, daß es eine mitteleuropäische Gemeinschaft geben soll, oder im Keim schon immer gegeben hat. Dazu lassen sich zwei unterschiedliche Quellen in seinen Schriften ausfindig machen: a) Die auf die geopolitische Lage der europäischen Mitte verweisende These der Vermittlungsposition, die bei Havel in leichter Abwandlung von Kunderas These der Vielfalt auftaucht und b), aus der geographischen Lage abgeleitet, der Verweis auf den großen Erfahrungsreichtum, der durch die Kontakte mit beiden großen politischen Systemen entstanden ist Kommen wir zuerst zum geopolitischen Punkt: Die philosophisch-kulturelle Untermauerung der mitteleuropäischen Kooperation basiert auf der pluralistischen Vorstellung mitteleuropäischer Identität in einem traditionellen Grenzraum. Havel: „Dabei hat unsere potentielle Geistigkeit wirklich eine eigene Identität, eine, die die Geschichte geformt hat. Wir leben in der Mitte Mitteleuropas, also an einem Ort, an dem sich seit Menschengedenken alle möglichen politischen, militärischen, ethnischen, religiösen und kulturellen Interessen, Eroberungen und Einflüsse gekreuzt haben. Östliche und westliche, nördliche und südliche, katholische und protestantische, aufklärerische und romantische geistige Strömungen, konservative und fortschrittliche, diktatorische und demokratische, liberale und sozialistische, imperiale und national-befreiende politische Bewegungen und Tendenzen." 178 Dieses so unterstützte Europa muß eine Zielvorstellung besitzen, ein „spiritual telos". 179

178

Vaclav Havel, Sommermeditationen, 150. Am eindringlichsten, auch für eine normative Betrachtung auf einer breiten kulturgeschichtlich informierten Basis, erscheint die Beschreibung des mitteleuropäischen Raums nicht in seiner geographischen, historischen, geistig-kulturellen oder politischen Dimension sondern in einer, die ich im Anschluß an Schlögel als zivilisationspolitische Dimension bezeichnen möchte. Schlögel schließt sich in einem ersten Schritt einer Annäherung von R. Strassoldo an: „Ich sehe Mitteleuropa als Grenzland zwischen der lateinischen, christlicheuropäischen Kultur und der allgemeiner zu definierenden östlichen Kultur, als ,shatterbelt', als Reibungs-und Berührungsland, als in ewiger Zersplitterung begriffen, das im Laufe der Jahrhunderte zu einer unablässigen, oft tragischen Umwälzung von Völkern und Kulturen zu politischen Veränderungen führte. Ein Raum, in dem Begriffe wie ,Nation', ,Kultur', ,Staat', ,Reich' und ,Gesellschaft' eine eigentümliche Bedeutung erlangten. Ein Raum, der vielleicht die Welt bei der schwierigen Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Einheitlichkeit und Verschiedenheit, zwischen Zweckmäßigkeit des Systems und der Autonomie der Parteien, zwischen Pluralismus und Homogenität etwas hätte lehren können." Die eigenartige Spannung zwischen „imperialer Herrschaftsstaatlichkeit" und regional ausgebildeter „Zivilität" kennzeichnet Mitteleuropa. „Dem Zusammenhang imperialer Herrschaftsstaatlichkeit steht der Zusammenhang der Zentren einer zivilen Kultur gegenüber." Gegen eine geopolitische Vorstellung setzt Schlögel die Idee Mitteleuropas als Zivilisationsprojekt. „Europa als Mitte - das wäre ein Projekt der zivilen Kräfte in Europa. Die besten Verbündeten der Europäer wären die Zentren des Zivilen in Amerika und Rußland selbst, so ungleich sie auch entwickelt sein mögen." Er beschreibt damit eine Variante des Europa-Bildes, wie es in der Tradition von Husserl und Patocka steht und auch

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas

161

Und an anderer Stelle: „Es ist entschieden kein Zufall, daß gerade hier, in dieser Umgebung ständiger Bedrohung und dauernder Verteidigung der eigenen Identität, sei es der Person, der Kultur oder des Volkes, die Idee der Wahrheit eine so lange Tradition hat, der Wahrheit für die man zahlen muß, der Wahrheit also als sittlicher Wert. Reicht doch diese Tradition von Kyrill und Method über Hus bis zu Masaryk, Stefanik und Patocka! Wenn wir über dies alles nachdenken, werden wir allmählich die konkreteren Umrisse unserer hiesigen Geistigkeit erkennen. Ihre unverwechselbaren Umrisse. Die Umrisse eines spezifischen existentiellen, sozialen und kulturellen Potentials, das hier schlummert und das - verstanden und gewürdigt - dem Geist oder der Geistigkeit unseres neu erricheten Staates ein spezifisches und unverwechselbares Antlitz geben kann." 1 8 0 Pikanterweise baut Havel hier eine durchgängige, ununterbrochene Linie nationaler Identität auf, gegen die sich gerade Patocka, in Abgrenzung von Palacky und Masaryk gewandt hat. Patocka argumentiert gegen die Mystifizierung der tschechischen Geschichte und nennt es mythischen Glauben des tschechischen Historizismus, daß es eine ungebrochene Linie tschechischer Nationalcharakteristika von der Frühzeit bis zur 181

Gegenwart gebe. Gegen diese Vorstellung versuchte Patocka die Brüche innerhalb der vermeintlich kontinuierlichen tschechischen Geschichte stark zu machen und bezeichnete die Kontinuitätsthese als Konstrukt nationalistischer Intellektueller. In der für den Mitteleuropa-Gedanken charakteristischen Spannung zwischen europäischer und nationaler Identität beschreibt Havel die Möglichkeit eines eigenständigen Charakters der Tschechen und Slowaken unter Rückgriff auf das Motiv des historischen Erfahrungsraums „Mitteleuropa", dem er in die Zukunft gerichtet einen regelrechten Projektcharakter verleiht: „Dabei geht es nicht um die Anpassung an etwas Fremdes, sondern im Gegenteil um die Rückkehr von Völkern, die gewaltsam den eigenen Traditionen, Wurzeln und Idealen entfremdet wurden, zu sich selbst, um ihre Rückkehr auf einen Weg, den sie schon einmal gegangen sind oder den zu gehen sie gewünscht haben oder wozu sie potentiell vorherbestimmt waren als Bewohner desselben europäischen geistigen Raumes. So muß auch der populäre Slogan von unserer ,Rückkehr nach Europa' verstanden werden." 1 8 2 Und nun zum geographischen Punkt: Sieht man einmal von der auch an anderen Stellen leicht schwärmerischen Note ab, die Havel seinen mitteleuropäischen Charakterisierungen gibt, dann wird sein Mitteleuropa-Bild doch stärker von den gemeinsamen

von Vaclav Havel transportiert wurde. (Karl Schlögel, „Nachdenken über Mitteleuropa", in Dietrich Spangenberg (Hg.), Die blockierte 179

Vergangenheit,

Berlin 1987, 28ff.)

Aviezer Tucker, „Summer Meditations", in Telos 94 (1993), 183.

180

Vaclav Havel, Sommermeditationen,

181

Gerade Palacky war es, der es als Aufgabe der Geschichtsschreibung ansah, die Nation zum

151.

Selbstbewußtsein zu bringen, indem die kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit als Aufgabe für die Zukunft interpretiert wurden. Gegen diesen Mythos wehrte sich Patocka in seinem Aufsatz, „La Philosophie de l'Histoire Tcheque"; in ders., L'Idee

de l'Europe

en

Boheme,

Grenoble 1991. 182

Vaclav Havel, „Die Suche nach einem neuen europäischen Zuhause", in ders., nen, Reinbek 1994, 85-99, hier 86.

Sommermeditatio-

162

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

Erfahrungen der Nachkriegszeit geprägt, und dabei tritt besonders das durch die Überwindung des sozialistischen Systems gewonnene Selbstbewußtsein zu Tage. 183 Darin liegen Havel und Kundera oder auch Konrad mit ihren Vorstellungen nicht auseinander. Der Umgang mit dem „totalitäre(n) System des kommunistischen Typs" 184 , so ihre Argumentation, hat denjenigen, die den politischen Prozeß aktiv begleitet haben, einen Erfahrungsreichtum beschert, der für viele, die nur den Westen oder nur den Osten Europas kennen, unerreichbar war. Besonders diejenigen, die im Untergrund waren, haben die zerstörerische Kraft politischer Macht am eigenen Körper gespürt. Sie sind der Illusion nicht verfallen, daß die eine Seite - egal ob aus westlicher oder östlicher Perspektive - der anderen moralisch überlegen sei. Timothy Garton Ash zitiert dazu Adam Michnik, der durchaus repräsentativ für die mitteleuropäische Opposition spricht: „Ein Leben in der Niederlage ist destruktiv, aber es produziert auch große kulturelle Werte, die heilsam sind. Zu wissen, wie man mit der Niederlage lebt, heißt zu wissen, wie man sich dem Schicksal entgegenstellt, wie man eine Stimme des Mißtrauens gegen jene Mächte erheben kann, die vorgeben, das Schicksal zu sein." 185 Und auch der deutsche Historiker Karl Schlögel zeigte sich überzeugt, daß ein Mitteleuropa, das sich auf seine eigenen Traditionen stützt eine „Zivilisationsform" darstellen könnte, die eher in der Lage ist, mit dem fertig zu werden, „was die Supernationalstaaten der westlichen und östlichen Hemisphäre angehäuft haben." So hätte Mitteleuropa wohl eine Chance, „sich zu einem eigenen Mittelpunkt mit starker Attraktion oder gar mit Impulsen zur Umbildung in West und Ost auszubilden." 186 Schlögel betont die Potenz Mitteleuropas, das besondere Kapital, das mit den Erfahrungen zweier Modernisierungen (oder einer unterbrochenen) gewonnen wurde. „Sie haben alle Erfahrungen gemacht: die Reform von oben, die demokratische Massenbewegung, den Aufstand, die Rebellion. Im Ergebnis sind sie von einer Klugheit, die Kühnheit und Selbstdisziplin zusammenbringt. Das ist ein politisches Kapital von unschätzbarer Größe. Sie verlieren nicht die Nerven, wenn es zu Demonstrationen kommt. Sie halten das für etwas Selbstverständliches." Den polnischen Schriftsteller Czeslaw Milosz hat diese Einsicht zu den Worten veranlaßt: „es ist nicht ausgeschlossen, daß uns, den Menschen aus Osteuropa, (...) die Rolle

183

1990, schon Präsident, äußert sich Havel viel offener zu den mitteleuropäischen Gemeinsamkeiten. „Ich glaube, daß zu dem geistigen, kulturellen und mentalen Phänomen, wie es Mitteleuropa darstellt - wie es spezifische historische Erfahrungen einschließlich derer, die heute nur noch irgendwo in unserem kollektiven Unterbewußtsein dämmern, geformt haben und immer noch formen - , auch als nicht wegzudenkender Bestandteil eine besondere mitteleuropäische Skepsis gehört. Sie hat wenig gemeinsam z.B. mit dem englischen Skeptizismus; sie ist überhaupt recht seltsam: ein wenig geheimnisvoll, ein wenig nostalgisch, häufig tragisch und manchmal gar heroisch, hin und wieder ein wenig unverständlich in ihrer genügsamen

Schwerfälligkeit,

zärtlichen Grausamkeit und in ihrer Fähigkeit, die Provinzialität der äußeren Erscheinung mit weltgeschichtlicher Voraussicht zu kombinieren." Vaclav Havel, „Anatomie einer Zurückhaltung", 132. 184

Vaclav Havel, „Gewissen und Politik", 76.

185

Adam Michnik, zitiert nach: Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts, 97.

186

wird abgewählt,

225.

163

Vaclav Havels Anstoß zur Regeneration Europas

der Avantgarde zufällt. Indem wir wählten, mußten wir die einen Werte im Namen der 187

anderen opfern." Im gleichen Sinne schreibt Havel selber, daß das Leben im Totalitarismus eine besondere Fähigkeit hervorgebracht hat: „a special capacity to look, from time to time, somewhat further than someone who has not undergone this bitter experience. A person who cannot move and live a somewhat normal life because he is pinned under a boulder has more time to think about his hopes than someone who has nothing and therefore has nothing to offer in return." 188 Darin äußert sich ein ganz besonderes Bild der europäischen Mitte. Sie ist eine Art Beobachtungsposten im großen europäischen Laboratorium der utopischen Ideen. Denn für die Mitte gilt, daß sie weder im Westen noch im Osten ganz zuhause ist. Somit hat sie den Vorteil unabhängig auf die Wurzeln der westlichen und östlichen Kulturen schauen zu können; eine Vorstellung, die mit Konrads Konzept verwandt ist. Auch dort wurde deutlich, daß eine Rettung Europas weder aus dem Westen noch aus dem Osten alleine kommen kann. Die Mitte Europas ist der Ort der Selbstreflexion über den Verlauf des Zivilisationsprozesses. Die schematische These, daß im Westen der Kapitalismus und im Osten der Kommunismus Traditionen und Kulturwerte abgeschliffen habe, die in der Mitte auf Grund der mentalen Halbdistanz zu beiden Systemen erhalten geblieben seien, kann hier keiner soziologischen Untersuchung unterzogen werden. Hier kann lediglich darauf hingewiesen werden, daß diese These sehr einflußreich war und das Selbstverständnis weiter Teile der Opposition sich darin widerspiegelt. So konnte Karl Schlögel Mitteleuropa als den Ort „einer behutsamen Modernisierung" bezeichnent. Das östliche Mitteleuropa habe infolge seiner „'Zurückgebliebenheit' und seiner ,Armut' ein Stück Europa bewahrt, das anderswo planiert worden ist. Eine nachholende Modernisierung, die darauf nicht achtet, wäre den Namen nicht wert." 190 Der italienische Literaturhistoriker Claudio Magris hat diese Chance, aus der mitteleuropäischen Identität eine europäische Lehre zu ziehen, ausfuhrlich dargestellt. Die Mitte steht für ein Weder-Noch im Spiel des Entweder-Oder. „Das Bewußtsein der Krise jeden totalisierenden Systems hat in der gegenwärtigen Kultur die Sensibilität geschärft für den problematischen Status der individuellen Identität, für die Fragilität des Subjekts und die ironische Distanz zwischen der Rolle, die man auf der Bühne der Welt zu spielen vermeint und derjenigen, die man tatsächlich spielt. Dem zeitgenös-

187

Ebd., 100. „Die Osteuropäer haben mittlerweile noch mehr von der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu sehen bekommen, nicht nur den Kollaps der Ideen der Französischen Revolution, sondern auch den der Russischen. Sie haben mindestens zwei Kurse absolviert, während wir in einer eigentümlichen Bevorzugung irgendwie immer durchgekommen sind." (ebenda)

188

Vaclav Havel, zitiert nach Aviezer Tucker, Czech Philosophy

189

Diese Dissidentenposition gibt der Zivilisationskritik höheres Gewicht und bezieht ihre kritische

and Culture at the Crossroads,

86.

Substanz aus der underdog-Perspektive. „I speak in this way because, looking at the world from the perspective which fate allotted me, I cannot avoid the impression that many people in the West still understand little of what is actually at stake in our time."( ebd., 93) In ähnlicher Weise beschreibt Milovan Djilas die Bedeutung Ostmitteleuropas für ganz Europa, in: Milovan Djilas, „A revolutionary democratic vision of Europe", in International 190

Karl Schlögel: „Mitteleuropa - Utopie und Realität", 14.

Affairs, 66. Jg. (1990), 265-273.

164

Die Rekonstruktion der Mitte Europas

sischen Bewußtsein wird die radikale Demaskierung dieses Gefälles, dieser Ironie und dieses Unbehagens zur entscheidenden Leistung mitteleuropäischer Kultur, sie wird ihm zum Synonym für die Verteidigung des Marginalen und Peripherischen, des Vergänglichen, Schwachen und Unbedeutenden gegen die anmaßenden großen Synthesen und ihre Opferung des Individuellen im Namen irgendeines Allgemeinen." 1 9 1 Die Mitte entzieht sich dem einfachen Dualismus durch eine postmoderne Verwirrung der Bezüge und hat die große Chance, so könnte man die Bemühungen Havels zusammenfassen, die eindimensionalen Beziehungen zwischen West und Ost in eine räumliche Dimension vielfältiger Beziehungsebenen zu transformieren. West und Ost, so schreibt Richard Okey, können, egal entlang welcher Linie sie aufeinandertreffen, sei sie religiös, politisch oder sozial bestimmt, „generate only one relationship". Aber „(i)t is the notion of a third, central term which complicates the picture." 192 . Wenn die Mitte mehr ist als nur eine Linie, wird sie mit einem eigenen Westen und einem eigenen Osten versehen sein, die sich zueinander verhalten und mit ihren jeweiligen Nachbarn in Beziehungen treten. Für die dialektische These des Niedergangs Europas aus seiner eigenen Entwicklungslogik gibt es zahlreiche Vorgänger. Die oben schon angesprochene „Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno, die j a auch als dekadenztheoretisch angelegte europäische Zivilisationsgeschichte gelesen werden kann, weist den Weg einer selbstreflexiven Vernunftkritik. Für eine politische Lösung hat sich diese These verschlossen. Daß Europa nicht politisch, sondern geistig zusammengehalten werde, ist die These Jan Patockas, der wie sein philosophischer Mentor Edmund Husserl großen Einfluß auf die tschechische Philosophie gehabt hat. Patocka sieht die Quelle für eine Wiederbelebung Europas in den geistigen Kräften der platonischen Metaphysik. Die „Sorge um die Seele" 1 9 3 sei bestimmend gewesen für den Humanismus bis zur Renaissance. Mit der modernen Politik der Staatsraison, der instrumenteilen Logik der Wissenschaft und den wertneutralen Mitteln der Technik seien sämtliche Versuche einer Einigung Europas auf politischem Wege Schritte zu seiner Zerstörung gewesen. Die geistige Einheit „Europa" müsse gegen die politische Zerstörungskraft erhalten werden. In diesem Punkt schließt sich der Kreis zu Milan Kundera. Der hat ebenfalls gegen die geistig-kulturelle Verödung der europäischen Idee angesichts der Selbstgenügsamkeit eines ökonomisch vereinten Westeuropa angeschrieben. Eine europäische Einheit, darüber waren sich Kundera und Havel einig, würde sich auf dem Marktplatz nicht herstellen lassen. Aber Havel hat viel stärker als Kundera die Idee einer Bürgergesellschaft vorangetrieben und damit Elemente einer zukünftigen europäischen Identität angedeutet, die über Kunderas Kultur-Essentialismus hinausgingen.

191

Claudio Magris, „Mitteleuropa. Realität und Mythos - Faszination des Begriffs", 20.

192

Richard Okey, „Central Europe/Eastern Europe: Behind the Definitions", 102.

193

Jan Patocka, „Piaton und Europa", 105ff. Vgl. dazu auch: Gerard Delanty, „The Limits and Possibilities of a European Identity. A Critique of Cultural Essentialism", in Philosophy & Social Criticism 21.Jg. (1995), 15-36; ders., „The Revolutions in Eastern Europe: A N e w Social Contract?" in Contemporary Politics, l.Jg. (1/1995), 74-91; Krishan Kumar, „The 1989 Revolutions and the Idea of Europe", in Political Studies, 40. Jg. (1992), 439-461.

V. „Mitteleuropa" oder „Europa"? Eine Schlußbemerkung

Als Winston Churchill in seiner Rede in Fulton, Missouri, vom „Eisernen Vorhang" sprach, der sich mitten in Europa zwischen Ost und West gesenkt habe, prägte er ein bleibendes und wirkungsmächtiges Bild. Er sprach davon, daß Europa nun in zwei Bereiche zerfalle: in einen Westen, der vor dem „Eisernen Vorhang" liege und einen Osten dahinter. Durch diesen Vorhang werde das Licht der europäischen Zivilisation und der Aufklärung abgehalten und Osteuropa liege in dessen Schatten. 1 Die europäischen Intellektuellen um Michnik, Kundera, Konrad und Havel brachten das schon über eine Generation eingefahrene Bild der Ost-West-Teilung Europas ins Wanken. Für sie war diese Licht- und Schatten-Metaphorik besonders schmerzlich. Denn, wenn schon die Bilder von Aufklärung und Christentum bemüht wurden, dann mußte doch auffallen, daß diese Grenze traditionell zwischen dem lateinischen und dem byzantinischen Christentum gezogen wurde und im Laufe der Jahrhunderte vom Don an Ural und Wolga vorgeschoben worden war. 2 Die naheliegende Frage der Mitteleuropäer war demnach, was die Grenzziehungen im Nachkriegseuropa denn mit den „geschichtlichen Räumen" zu tun hatten, deren Verbindungen „älter und fester gewoben" waren „als die Veränderungen seit 1914, seit 1938 und seit Kriegsende" und „die sie willkürlich auseinanderreißen oder nicht minder willkürlich zusammenfugen" 3 Besonders Milan Kundera reaktivierte die Bilder der alten, historischen Grenzen wieder. Die hier vorgestellten Oppositionellen waren aber auch „europäische Revolutionäre" in dem Sinne, daß sie neben ihrer Forderung nach Bürgerrechten, liberalem Rechtsstaat und Demokratie auch die Idee „Europa" wieder ins Spiel brachten. Insofern muß der Vorwurf korrigiert werden, daß die Revolutionäre ohne Ideen vorgegangen seien. Auch Rückwärtsgewandtheit und Nachholbedarf beschreiben die politischen und ideellen Ziele der Oppositionellen nicht ausreichend. Selbstverständlich war die Idee der „civil society" ein historisches Konzept, aber die konkrete Ausformung war ein Produkt der 70er und 80er Jahre und richtete sich konkret gegen die Defizite des sozialistischen

2

3

Vgl. dazu Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994, Iff. Vgl. dazu: Rémi Brague, Europa. Eine exzentrische Identität; Berlin/New York 1993; Krzysztof Pomian, Europa und seine Nationen, Berlin 1990. Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa, Berlin 1986, 8.

166

Mitteleuropa oder Europa? Eine Schlußbemerkung

Systems. Und die Europa-Idee, die sich in den besprochenen Texten verbarg, war genauso nostalgisch in die Vergangenheit wie utopisch in die Zukunft gerichtet. Beides deutet darauf hin, daß die zentralen Oppositionsdiskurse moralische und geistig-kulturelle Defizite des sozialistischen Systems thematisiert haben. Die Opposition gegen die sowjetische Hegemonie in Ostmitteleuropa begann mit der Ablehnung der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie, die j a nicht nur ein Gesellschaftsmodell vorschrieb, sondern gleichzeitig der ideologische Kitt des Nachkriegs-Osteuropa war. Die sozialistische Elite setzte auf Zeit, indem sie die mangelnde Erfüllung der Erwartungen an das sozialistische Projekt nicht in Fehlern des Projekts selbst, sondern in einer widerspenstigen Wirklichkeit ausmachte. Die politische Opposition fürchtete dagegen das Voranschreiten der Zeit, weil dadurch das politische Wissen um mögliche Alternativen aus dem kollektiven Gedächtnis zunehmend ausgelöscht würde. Zuerst nur als Selbstvergewisserung der eigenen Wertvorstellungen intendiert, wurde die „Wiedererrichtung der civil society" zum dominanten Obertitel für kulturellen, politischen und semantischen Widerstand, der sich in zahlreichen Initiativen der alternativen Öffentlichkeit: in Untergrund-Publikationen, privaten Vorlesungen und der Gründung von Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen bündelte. In Polen führte der oppositionelle Druck schließlich zur Gründung von Solidarnosc, die einen gegenhegemonialen Diskurs begründete, der die Legitimation des sozialistischen Systems systematisch unterminierte. Es gelang, die Ablehnung gegen die Fremdherrschaft und die Traditionen nationalen Widerstands symbolisch so zum Ausdruck zu bringen, daß es zur breiten Solidarisierung über alte Gräben in der Gesellschaft hinweg kam, allerdings auf Kosten einer dualistischen Weltsicht, die sehr plakativ zwischen „gut" und „böse" unterschied. Die Struktur dieses einfachen Dualismus wurde noch in diejenigen civil society-Konzeptionen eingebaut, die in einem Gegenüber von „Staat" und „Gesellschaft" verharrten. Die politische Praxis der Gewerkschaft Solidarnosc wie auch die inhärente Logik des civil society-Konzepts brachten diesen einfachen Dualismus jedoch unter Druck. Die Normativität des Begriffs erschöpfte sich nicht darin, eine moralische Gegenwelt aufzubauen, sondern eröffnete ein pluralistisches Feld liberaler oder republikanischer Ausdeutungsmöglichkeiten. In West wie in Ost war die civil society-Debatte nichts anderes als die Vergewisserung oder Thematisierung der soziokulturellen Voraussetzungen demokratischer Gesellschaften. 4 Damit war die Brücke geschaffen zur Symbolisierung der westlichen, bzw. europäischen Wurzeln der eigenen Ideen und Aspirationen. Die immanente Verkettung von liberalen und demokratischen Gesellschaftsvorstellungen mit „dem Westen" machte es notwendig, sich auch im metageographischen Feld von „Ost" und „West" zu positionieren. Dies geschah in der sogenannten „Mitteleuropa"-Diskussion, in der, anders als der Begriff suggerieren mag, keineswegs bei allen Beiträgen dezidierte Vorstellungen über ein eigenständiges Mitteleuropa vorlagen. Die im Zusammenhang mit der „Mitteleuropa"-Diskussion vorgetragenen Ideen lassen sich in drei große Argumentationsstränge aufteilen, die der vereinfachten Darstel-

Vgl. dazu das Vorwort der Herausgeber in: Jean L. Cohen und Andrew Arato, Civil Society Political Theory, Cambridge (Mass.)/London 1992, VII.

and

Mitteleuropa" oder „Europa"? Eine Schlußbemerkung

167

lung halber mit den einzelnen Akteuren identifiziert wurden: Erstens, die Mitte als ein Vorposten des Westens (Kundera); zweitens, die Mitte als ein historisch-soziologisch bestimmbarer Raum mit eigenständiger politischer Kultur zwischen Individualismus und Kollektivismus (Konrad); drittens, die Mitte als das eigentliche und bessere Europa, das Erfahrungen konserviert hat, die zum Widerstand verhelfen gegen Bestrebungen einer totalitär gewordenen Moderne - West wie Ost - (Havel). Milan Kundera stellte die Grenze zwischen Ost und West in Frage, um die alte kulturhistorische und religionspolitische Grenze zu Rußland stark zu machen. Dessen orthodoxe Tradition trenne es vom lateinisch-römischen Katholizismus. Auf diese Traditionsstränge wurden unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen und politische bzw. gesellschaftliche Ordnungsprinzipien bezogen: Vielheit vs. Einheit, bürgerliche Gesellschaft vs. Staat. Nach Westen schickte Kundera die verzweifelte Botschaft, daß „Europa" nur durch Rekurs auf geistig-kulturelle Werte integriert werden könne, weil die politischen Versuche der Einheitsbildung in der Zerstörung Europas endeten. Was die zerstörerische Leistung „der Politik" betraf, unterstützte György Konrad diese These Kunderas und gründete den Begriff der Antipolitik. Er vertraute der einfachen „Wir" gegen „Sie"-Metaphorik des essentialistischen Kulturalismus nicht und setzte auf die Renaissance der Volkssouveränität. Die differenziertere Begrifflichkeit der civil society-Debatte war ein Schritt zur Überwindung der dualistischen Weltsicht. Mit den Erfolgen der Opposition in Polen 1980/81 und dem demonstrativen Desinteresse „des Westens" an diesen Erfolgen wuchs deren Selbstbewußtsein. Beides führte dazu, die Idee der Mitte selbstbewußt mit eigenen politischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen neu zu besetzen. Über diesen Weg konnten Bilder der Vermittlung, der Brückenfunktion und der mäßigenden Wirkung der europäischen Mitte wieder in den Mitteleuropa-Gedanken eindringen, der noch aus der Phase seines „universalistischen Überschwangs" vor der machtpolitischen Instrumentalisierung durch das deutsche Kaiserreich stammte. In diesem doch recht symmetrisch die Mitte gegen West und Ost abgrenzenden Modell wird mit zwei Zeitkorridoren argumentiert. Im Sinne einer „histoire de longue duree" wird die tiefe Verankerung der doppelten Offenheit und damit auch der jeweiligen Unterscheidbarkeit - zum Westen und Osten hergeleitet (Bibo, Szücs) und zum anderen mit Jalta argumentiert, das fiir eine gegen die Mitte gerichtete Machtpolitik steht. In seiner politisch-philosophischen Argumentation betreibt Havel die Grundlegung für eine Renaissance der praktischen Philosophie in Mitteleuropa. In einer geo-philosophischen Argumentation versieht Havel die Mitte mit einem Erkenntnisvorsprung, weil sie den Blick auf beide Systeme und damit auf die Systempolitik als Rahmen der Politik im Ganzen erlaube. Er wendet sich gezielt gegen die These einer europäischen Zweiteilung und der Zugehörigkeit der Mitte zum Westen. Für ihn sind West und Ost gleichermaßen pervertierte Systeme der Moderne, die beide in einer Machiavellistischen Politik erstarrt sind und die Grundlagen einer politischen „civil society" zugunsten einer ökonomischen „bürgerlichen Gesellschaft" (West) oder sozialistischen antibürgerlichen Gesellschaft (Ost) aufgegeben haben. Die Mitte, und hier argumentiert Havel mit einem utopischen Anklang, könne aus ihrem Beobachtungsposten heraus beide Perversionen überwinden und Europa mit seinen Erfahrungen belehren. Die

Mitteleuropa oder Europa? Eine Schlußbemerkung

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R ü c k k e h r zu H u m a n i s m u s und zur praktischen P h i l o s o p h i e sei nach d e m E n d e der Nationalstaaten w i e d e r m ö g l i c h . D i e Mitteleuropa-Idee der 80er Jahre löste d i e j e n i g e n E u r o p a - V o r s t e l l u n g e n im Kern auf, die e n t w e d e r a u f einer Z w e i t e i l u n g des e u r o p ä i s c h e n Kontinents beruht o d e r das k l e i n e W e s t - E u r o p a z u m e i g e n t l i c h e n Europa erklärt hatten. 5 M a n m u ß nicht

die

Ü b e r z e u g u n g v o n Bernhard G i e s e n teilen, daß „alle scheinbar d i c h o t o m e n U n t e r s c h e i d u n g e n v e r b o r g e n e T r i c h o t o m i e n enthalten" und somit in der V i e l z a h l v o n B e g r i f f s p a a ren, zu d e n e n auch das Paar Ost und W e s t g e h ö r e n würde, e i n e trichotome Struktur a n g e l e g t ist, in der e s „einen vermittelnden und e i n e n trennenden G r e n z b e r e i c h " gibt. 6 A b e r es sind d o c h Ü b e r l e g u n g e n in der M i t t e l e u r o p a - D i s k u s s i o n enthalten, die das Periphere g e g e n ü b e r d e m Zentralen und das B e s o n d e r e g e g e n ü b e r d e m A l l g e m e i n e n aufwerten. R e s ü m i e r e n d k ö n n e n wir d e m n a c h f o l g e n d e s festhalten: D i e a n f ä n g l i c h e Hysterie, die der R e n a i s s a n c e der Mitteleuropa-Idee folgte, konnte mit g u t e n Gründen bald w i e der v e r f l i e g e n . D i e Rückkehr Mitteleuropas hatte w e d e r traumatische n o c h g e s p e n s t i sche Züge.

Mit d e m „ K a m p f b e g r i f f ' Mitteleuropa hatte s e i n e R e n a i s s a n c e , d i e aus den

Zentren Ostmitteleuropas oder d e m w e s t l i c h e n Exil angeregt wurde, nichts z u tun. 8 D a s geteilte D e u t s c h l a n d war in internationale Organisationen e i n g e b u n d e n und g e z ä h m t .

5

Die Kritik an „der Politik" ist bei Kundera, Konrad und Havel sehr grundsätzlich angelegt. Sie erinnert an die Studie „Kosmopolis" von Stephen Toulmin, in der er auf den Zusammenhang zwischen Dekontextualisierung und politischer Rationalität hingewiesen hat. Was für Descartes in der Philosophie und Newton in der Physik zu beobachten ist, gilt auch für Hobbes in der Politik. Es werden Verfahren entwickelt, die es erlauben, Fragen kontextunabhängig zu beantworten. Entstanden in Zeiten des Bürgerkrieges, der Pestepidemien und der wirtschaftlichen Stagnation, konnte diese Vorstellung von Politik sich durchsetzen, weil sie „mit den gesellschaftlichen Erfordernissen des zentralisierten Nationalstaats des 18. Jahrhunderts in Zusammenhang" gebracht werden konnte. (Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/M. 1991, 223) Sollten diese Zeiten vorbei sein, und die Anzeichen nicht nur in der Mitteleuropa-Diskussion gehen deutlich in diese Richtung, könnte ein politisches Denken wieder vordringen, welches einer Pluralisierung von Diskursen keinen Widerstand mehr entgegensetzt.

6

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7

8

.Mitteleuropa" oder „Europa"? Eine Schlußbemerkung

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Außerdem hatte sich die politische Kultur der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit grundlegend geändert, so daß die Anklänge an den alten Topos der Mittellage keinen Resonanzboden hatten. 9 Aber nicht nur die Alptraum-Seite, sondern auch die Traum-Seite wurde schnell in den Alltag zurückgeholt. Die Oppositionellen, die in Ostmitteleuropa von einer Renaissance der praktischen Philosophie träumten, vergaßen, daß diese an soziokulturelle Voraussetzungen geknüpft sein würde. Die Wiederherstellung der bürgerlichen Gesellschaft im ökonomischen Sinne blieb in ihren Folgen für die Wiederherstellung der bürgerlichen Gesellschaft im politischen Sinn fast vollständig unreflektiert. Als der „Westen" mehr wurde als nur eine Quelle der ideengeschichtlichen Inspiration, nämlich realer Partner, der ökonomische Ressourcen, militärischen Schutz und demokratische Aufbauhilfen liefern konnte, verschwand umgehend die Skepsis der Mitteleuropa-Theoretiker und alle sorgsam aufgebauten philosophischen Begründungssysteme ihrer vermeintlichen Überlegenheit verschwanden gleich mit. Die Rückkehr nach Europa hieß dann, in weit größerem Ausmaß als ursprünglich reflektiert, eine Angleichung der ökonomischen Systeme an die westliche Marktwirtschaft. Die Gleichsetzung von Westeuropa mit Europa, die vorher kritisch beleuchtet wurde, wurde nun weitgehend mitgetragen und die gesamte Europa-Idee ist in die Hände der „policy-maker" und „institutionbuilder" übergegangen. Wie sehr Michnik, Konrad, Havel u.a. Europa meinten, als sie Mitteleuropa sagten, zeigte sich im vollen Ausmaß erst nach den Revolutionen, als die Mitteleuropa-Idee, wo sie nicht gänzlich in Vergessenheit geriet, zu einem Hort der Reaktion gegen die Europa-Idee wurde. 1 0 Die „europäischen" Revolutionen haben das Thema Europa wieder nach vorne gebracht. Sie haben die Kritik verstärkt, die auch im Westen schon zuvor geäußert worden war, daß einer europäischen Einigung in ökonomischer und politischer Hinsicht ohne kulturelle Inspiration die Legitimation fehlen werde. Auf der Suche nach kulturellen „Erzählungen" testeten die Mitteleuropa-Theoretiker einiges durch. Weder die griechische noch die römische Tradition, auch nicht die christliche Einheit oder die Aufklärung und nicht die „große Erzählung" der westlichen Zivilisation kann zur Legitimation europäischer Einheitsbildung herangezogen werden. Lediglich die enge Verbindung von Europa-Idee und civil society, wie sie von einigen Autoren vorgeführt wurde, kann die nötige Reflexivität aufbringen, die in der post-modernen Gesellschaft noch identitätsverbürgend sein kann. Abschließend muß offen bleiben, ob die anstehende Osterweiterung der Europäischen Union der Mitteleuropa-Idee wieder Zulauf bringen wird. Neben den skandinavischen Ländern, den Ostsee-Anrainer-Staaten oder den Mittelmeer-Anrainern, könnten

9

Paradigmatisch läßt sich dieser Wandel anhand von zwei Reden Thomas Manns nach vollziehen. In den Betrachtungen

eines Unpolitischen

zeigt Mann noch für das deutsche Bildungsbürgertum typi-

sche Ressentiments gegenüber „dem Westen", speziell gegenüber Frankreich. Deutschland 10

und die Deutschen

Vgl. dazu: Krisztina Mänicke-Gyöngyösi (Hrsg.), Öffentliche Gerechtigkeit,

politische

Verantwortung

sche Politik in Ostmitteleuropa,

In der Rede

nach dem Zweiten Weltkrieg hat er diese abgelegt. und nationale

Berlin 1996.

Konfliktdiskurse

Identität.

um Restitution

Institutionenbildung

und

von

symboli-

170

Mitteleuropa oder Europa? Eine Schlußbemerkung

auch die ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten eine eigenständige Region im vergrößerten Europa bilden. Sollten sie sich zusammenschließen, können sie dies mit unterschiedlichen Intentionen tun. Zum einen könnten sie sich als Vermittler zwischen West und Ost verstehen und so eine Erweiterung nach Osten und Südosten erleichtern. Zum anderen könnten sie ihr Gewicht nutzen, um Veto-Positionen gegen eine Erweiterung aufzubauen. Beide Positionen könnten an ideengeschichtliche Traditionen anknüpfen, die hier vorgestellt wurden.

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VII. Personenverzeichnis

Adler, Dan 168 Adorno, Theodor W. 148 Albrecht, Clemens 38 Anderson, Perry 16,25 Arato, Andrew 12,80,97,106,109f, 150,166 Arendt, Hannah 12f.,105 Arndt, Ernst M. 49f Ash, Timothy G. 1 l,20f.,69,70,72,81,84,l 12, 114,117,131 Beck, Ulrich 16 Benda, Vaclav 149 Bender, Peter 71 Berding, Helmut 22 Betz, Hans-Georg 19 Beyme, Klaus von 16 Bierut, Boleslaw 87 Bismarck, Otto von 54,60,63,65 Bluhm, Harald 10 Böckenförde, Ernst-W. 51 Böll, Heinrich 70 Brague, Rémi 165 Brandt, Willy 71 Braudel, Fernand 73 Brechtefeld, Jörg 65,68 Bredow, Wilfried von 20 Brix, Emil 71,77 Brodsky, Joseph 131 Bruck, Ferdinand 54 Busek, Erhard 77 Cerny, Vaclav 118 Chrustschow, Nikita 87 Churchill, Winston 165 Cohen, Jean 106,110,166 Conze, Werner 124f, 141

Cotta, Bernhard 38,42 Culik, Jan 119 D'Alembert, Jean LeRond 41 Dahrendorf, Ralf 12,105,108 De Pradt, Abbé 8,11,31 -36,39,71 Dehio, Ludwig 31 Delanty, Gerard 15,21,30,71,164 Deleuze, Gilles 46 Deppe, Rainer 26,80,105 Dewandre, Nicole 15 Diderot, Denis 41 Diner, Dan 117,148 Dörner, Andreas 22,41 Dostojewski, Fedor 10 Droz, Jacques 18,23,52f,58,72 Dubcek, Alexander 153f Dubiel, Helmut 26,80,90,104f,108f Eco, Umberto 15 Eisel, Ulrich 19,39 Eisenstadt, Shmuel N. 22f,25 Fehér, Ferenc 12,86,112 Fest, Joachim 12 Fichte, Johann Gottlieb 49 Finkielkraut, Alain 80,127 Fischer, Fritz 57 Frantz, Constantin 9,51,55f,63 Gall, Lothar 31 Gebhardt, Jürgen 21 Geertz, Clifford 21,22 Gerhard, Ute 47 Geyer, Dietrich 68 Gierek, Edward 101 f

194

Giesen, Bernhard 22f Giotz, Peter 71 Göhler, Gerhard 16 Gollwitzer, Heinz 20,31,39,40,52 Gomulka, Wladislaw 87f,101 Goodwyn, Lawrence 80,94f Görner, Rüdiger 20 Görres, Joseph 34 Görtemaker, Manfred 52 Gralher, Martin 20 Grebing, Helga 89 Grimm, Dieter 51 Groys, Boris 122 Guattari, Felix 46 Guts-Muths, Johann Ch.F. 42,44 Guggenberger, Bernd 20 Habermas, Jürgen 12f., 18,85,106,111 Halecki, Oskar 72f Hanke, Edith 10 Hardtwig, Wolfgang 51 Haushofer, Albrecht 76 Havel, Vaclav 69,72,78,84,91,104,117,123 134f, 147-165,167f Hegel, Georg W.F. 11,35,42,44,79,106 Heidegger, Martin 117,156f Heimpel, Hermann 67 Heine, Heinrich 47,50 Herder, Johann Gottfried 38-41 Herrin, Judith 124 Herterich, Frank 90 Hintze, Otto 139 Hirsch, Helga 96 Hobsbawm, Eric 15f Hofmannsthal, Hugo von 61 Hölderlin, Friedrich 45f Homann, Harald 38 Horkheimer, Max 148 Husserl, Edmund 148,160,164 Isaac, Jeffrey C. 18 Jäckh, Ernst 54,59,65 Jahn, Egbert 20 Jaworski, Rudolf 19,117,119f, 122,130 Jowitt, Ken 78,150 Judt, Tony 80,113,116,151 Kaiser, Jakob 70

Personenverzeichnis

Kamenka, Eugene 41 Kant, Immanuel 147 Kapp, Ernst 42-44,55,65 Keane, John 108 Kennedy, Michael D. 94 Kjellen, Rudolf 65 Klaus, Vaclav 155,157 Klug, Ekkehard 120f Kobylinska, Ewa 78,97 Kolakowski, Leszek 89,145,151,156 Konrad, György 21,69,72,78,84,86,113-115, 118,130,132-148,158,165,167-169 Koselleck, Reinhart 23,25 Krasinski, Andrzej 130f Krasnodebski, Zdzislaw 121 Kraus, Karl 53 Krzeminski, Adam 87 Kubik, Jan 26,83,93,95,97,101-103,150 Kumar, Krishan 19,71,140 Kundera, Milan 69-71,76,79-81,113,115f, 118-132,138,140,145,147f, 160,164f, 167,169 Kuron, Jacek 89,148,158 Laba, Roman 80,94 Lacoste, Yves 17 Lagarde, Paul de 55 Le Rider, Jacques 30,32,53f,75f Leibniz, Gottfried W. 32,53f Lemberg, Hans 29,36,120 Lenoble, Jacques 15 Lepenies, Wolf 83 Lewis, Martin W. 10,19,114 Link, Jürgen 20,47 List, Friedrich 47,54,58-60 Locke, John 107,111,147 Lützeler, Michael 21 Magris, Claudio 68,130,163f Mänicke-Gyöngyösi, Krisztina 17,24,80-86, 92,105,107,110,133,169 Mann, Thomas 10,84,169 Marcuse, Herbert 154 Margolina, Sonja 122 Masaryk, Tomas 71,161 Metternich, Clemens Fürst v. 52f Meyer, Gerd 15 Meyer, Henry C. 18,23,30,57,64,66,72 Michnik, Adam 69f,78,84,88f,91,98-101,122,

Personenverzeichnis

195

135,148,153,156,158,162,165,168f

Schiller, Friedrich 46

Milosz, Czeslaw 122f,126

Schlegel, Friedrich 52

Moeller van den Bruck, Arthur 66

Schlögel, Karl 64,67f,70,73,76,113f,134,139f

M o m m s e n , Margarete 16

142,162f, 165,168

M o m m s e n , W o l f g a n g J. 49, 57f,69

Schmitt, Carl 33,45,76,114

Montesquieu, Charles S. de 107

Schuhmacher, Kurt 70

Müller, Klaus 13

Schultz, Hans-Dietrich

Münkler, Herfried 9,15,19,23-26,39,56,62,

51,57,69

66,69,102,117,124

Schulze, Hagen 20,120

Murphy, David T. 17

Schüssler, Wilhelm 64,66

Musil, Robert 57f

See, Klaus von 10,61

19,29,31,35,44,49

Semler, Christian 90 Naumann,Friedrich

10,18,20,30,59,60-66,72,

Simecka, Milan

13lf

140

Sinnhuber, Karl 28,30,38

Nipperdey, T h o m a s 40,50

Skilling, Gordon H. 105 Sloterdijk, Peter 10,11,14

Offe, Claus

18,26,90,107,111

Okey, Richard

19,58,114

Smolar, Aleksander 80,94,103,150 Solschenizyn, Alexander

156

Sombart, Werner 39

Ost, David 87

Somers, Margaret 25 Palacky, Frantisek 161

Spengler, Oswald 65

Partsch, Josef

38,76

Sprengel, Rainer 17,65

Patocka, Jan 117,147f, 156,160f, 164

Srbik, Heinrich von 65f

Pelczynski, Z.A. 80,95,106

Srubar, Ilja 91

Pelinka, Anton 72

Stammen, Theo

Pithart, Petr 134

Staniszkis, Jadwiga 13,26,90,95,101, 150

Plaschka, Richard G. 18

Steger, Hanns-Albert

Pocock, John G.A. 25,109

Stokes, Gale 16

Pomian, Krzysztof 89

Stoiber, Friedrich L. von 45

Preuß, Ulrich K. 11 f.

Szücs, Jenö 73,116,140,143f

17,105,147 130,168

Pumberger, Klaus 79 Tatur, Melanie

17,80,93,96,lOlf,105,151

Raina, Peter 80

Taylor, Charles 22, 79f,90,92,96,109

Rathenau, Walter 59f

Tester, Keith 108

Raynal, Guillaume-Thomas 31-36,50,71

Thaa, Winfried 12,16,79,92f, 106f, 152

Reese-Schäfer, Walter 15

Tismaneanu, Vladimir 88,126,156

Rehberg, Karl-Siegbert

Tocqueville, Alexis de

16,115

Renner, Karl 61

Tolstoi, Leo 10

Riedel, Manfred 108,111

Toulmin, Stephen

Rödel, Ulrich 26,80,105

Touraine, Alain

Rohe, Karl 16,21

Troeltsch, Ernst 10

Rohrbach, Paul 54,59 Rondholz, Eberhard

168

103 149,157,161,163

117

Rousseau, Jean-J. 39,45 Rumpf, Helmut

Tucker, Aviezer

106,108,111

Ungewitter, Franz-H. 29,42

19,61

Rupnik, Jacques 19,72,80,89,94f, 100,106

Vajda, Mihaly 68,72,76,115f, 132,144f

Ryszka, Franciszek 69

Valéry, Paul 11 Vorländer, Hans 21,25

196

Walesa, Lech 156 Walzer, Michael 109 Weber, Max 10,63,129,139,152 Weidenfeld, Werner 168 Weimer, Christian 19,52,82,118,138 Weltsch, Felix 118 Wigen, Karen E. 10,19,114 Wilfinger, Gerhard 117 Willms, Bernard 69,141 Winkler, Heinrich A. 67 Wolff, Larry 114,120,122,165 Wolff-Poweska, Anna 17 Wood, Gordon S. 25 Zaremba, Michael 41 Zernack, Klaus 72f,144 Zeune, August 28,37,44,49

Personenverzeichnis