Rochus : Die Pest und ihr Patron 3871911313

Aus Angst und Verzweiflung geboren — als eine neue Pest-Welle über Europa hinweggeht, um 1500, entsteht die Legende des

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German Pages [69] Year 1989

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Rochus : Die Pest und ihr Patron
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MICHAEL ZELLER

ROCHUS

DIE PEST UND IHR PATRON

MICHAEL ZELLER

ROCHUSDiePest und ihr Patron

1989

VERLAG HANS BÖCKEL

Rochus (Ausschnitt), Rochus-Altar, 1485/90, St. Lorenz Nürnberg

WIE AUS EINEM MENSCHEN EIN HEILIGER WIRD -

DIE LEGENDE ZU PROTOKOLL

FRANCESCO DIEDO, IHR VERFASSER: EIN POLITIKER, KEIN MÖNCH

I. Frage einen deiner Freunde, was man denn anstellen müs­ se, ein Heiliger zu werden. Groß werden seine Augen schauen, verstört, im wahren Wortsinn: ungläubig. Oder er lacht und erwartet, daß du ihm einen Witz erzählst. Kein Mensch wird diese Frage heute noch in seriöser Weise beantworten können, mehr noch: die Frage selbst hat jeden Kontakt zu unserer Gegenwart verloren. Heiligkeit ist zu einem schieren Anachronismus geworden. Vielleicht, wenn dein Freund ein heller Kopf ist — natürlich, wie könntet ihr sonst befreundet sein? —, viel­ leicht wird er, nachdem die Schrecksekunde vorbei ist, vielleicht wird er ein bißchen über das Wort „heilig” phi­ losophieren: wie es abstammt aus der Wurzel heil machen, ganz machen. Möglich sogar, daß er sich dann, einmal ins Schwadronieren geraten, weitertragen läßt zu einem ganz­ heitlichen Begriff von Gesundheit, nicht nur im körper­ lichen Sinn, sondern auch seelisch und geistig ... Mit der beiläufig angestellten Erkundi­ gung nach dem eigenen wertvollen Befinden kannst du ihn umgehend wieder auf die Erde holen. Auf eine andere Frage aber, die Frage, wie früher aus einem Menschen ein Heiliger wurde, wird an Antworten kein Mangel sein, und manche werden sogar

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Geburt und Darreichung des Abendmahls an den einge­ kerkerten Rochus, Flügelaltar Rochus(Imhoff)-Kapelle, 1521, linker Innenflügel, Rochusfriedhof Nürnberg

stimmen. Außerdem: es gibt ganze Bibliotheken voll ge­ lehrter Bücher, in denen man nachschlagen kann, warum und zu welchem Ende der christliche Heilige entstand — von den ersten Märtyrern unter den Römern, über den je­ suitisch inspirierten Seligsprechungsprozeß der Gegenrefor­ mation bis hin zu Mutter Theresa, die derzeit alles unter­ nimmt, um ... nun gut: man wird sehen. Sollte mich jemand zur Rede stellen, wie es denn nun wirklich zugegangen sei, daß zum Bei­ spiel aus dem Mann Rochus von Montpellier einer der po­ pulärsten Schutzpatrone des Mittelalters wurde, in ganz Europa, dann fackle ich nicht lange, sondern gebe, auf das Notwendigste gedrängt, seine Legende zu Protokoll (die weitbögige Erzählornamentik des Mittelalters ist uns ja längst abhanden gekommen, leider). Rochus also, berichte ich, Rochus wird 1295 in Montpellier geboren, als Sohn des Stadtfürsten, der dort — wir wundern uns nicht — gerecht und in Güte regiert. Schon durch seine Geburt ist Rochus in zweifacher Weise ausgezeichnet: Mutter Liberia gebiert den einzigen Sohn erst im Greisenalter, wie vormals Sara; der Säugling kommt mit einem roten Kreuz auf der Brust zur Welt. Von Anfang an zeigt Rochus nicht das mindeste Interesse an den angestammten Staats­ geschäften. Vielmehr zieht es ihn ständig zu den Kranken und Armen der Stadt hin, und als die Eltern sterben, vor seinem zwanzigsten Lebensjahr, überläßt er das Regiment dem Onkel und zieht gen Italien, ohne Begleitung, als Pilger: ein kurzes rotes Gewand trägt er, darüber den Man­ tel, Wanderschuhe, Mütze, Ranzen, dazu den Stab. So überquert Rochus die Alpen. Auf italienischem Boden, in der Stadt Aqua-

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Rochus im Spitalgarten, Flügelaltar Rochus(Imhoff)Kapelle, 1521, rechter Innenflügel, Rochusfriedhof Nürnberg

pendente, herrscht die Pest. Rochus braucht sich nicht zu besinnen. Er eilt ins Hospital und „berührte die Hände al­ ler, stärkte sie mit dem Zeichen des Kreuzes und befreite sie” von der Seuche. „Das erfüllte alle mit größtem Er­ staunen”, erzählt uns die Legende, und „sie hoben Gott und den Namen des Rochus in den Himmel. Denn sie hiel­ ten ihn für einen Gesandten des Himmels und ein Ge­ schenk Gottes”. Wieder reagiert Rochus merkwürdig. Er verbietet den Geheilten, seinen Namen zu nennen, schnürt sein Ränzel und wandert einfach weiter. Unterwegs, auf seinem Weg nach Rom, denn dorthin will er natürlich, zum Heiligen Vater, befreit er die Stadt Cesena von der Pest. Ganz lapidar gesprochen. In Rom wendet Rochus sich an den Kardinal Britannicus. Wir wissen es ja längst, aber auch der Kardinal nimmt das Leuchten auf dem Gesicht seines Besuchers wahr. Wie aber kommt er dazu, den fremden jungen Mann gleich zu bit­ ten, er möge die Stadt von der Pest erlösen? Rochus fragt nicht. Er packt es an, zeichnet als erstes die Stirn des Bri­ tannicus mit dem Kreuz. Es drückt sich dem Kardinal tief in die Haut, als sei es eingebrannt. Britannicus erschrickt und möchte — staunen wir noch? — das Kreuz wieder ge­ löscht sehen, um nicht ein Opfer des Gespötts zu werden. Rochus muß ihn ermahnen, das Zeichen in stolzer Demut zu tragen. Auch der Papst, dem Rochus vorgestellt wird, erkennt das göttliche Leuchten in dem Pilger, doch selbst vor dem Heiligen Vater gibt Rochus seinen Namen und seine Her­ kunft nicht preis. Nach dem Tod des Britannicus verläßt Rochus Rom. Er wandert durch Oberitalien, von Ort zu Ort, und befreit dabei abermals mehrere Städte von der Pest, indem

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Der Hl. Rochus mit Engel und Hund, rechte Flügelinnenseite, Quinten Massys (+ 1530), Eichenholz, Alte Pinakothek, München

er den Kranken das Kreuz auf die Stirn drückt. In Piacenza endlich — lange schon lauerte etwas in uns auf diese Nach­ richt — ereilt Rochus die Krankheit selbst. Um die anderen Patienten nicht zu behelligen, nimmt er seine Kissen und legt sich vor dem Hospital nieder, auf den blanken Boden. Diese Rücksicht scheint uns allerdings des Gutes zu viel, aber in der Logik der Legende ist sie nötig, um grell den Kontrast zu zeichnen. Denn wie reagieren die Bürger von Piacenza darauf? Richtig! Die braven Bürger halten Rochus für verrückt, und krank ist er außerdem, ansteckend krank. Also hinaus mit ihm aus der Stadt. Rochus schleppt sich in einen Wald. Hilfe wird ihm hier von einem der niedrigeren Geschöpfe aus Gottes Werkstatt: von einem Hund. Schämen sollen wir Menschen uns, sagt zwischen den Zeilen die Legende. Der Hund des reichen Gutsherren Gotthard schnappt sich jeden Tag ein Brot vom Tisch und trägt es dem Kranken in den Wald hinaus. Und Rochus kommt wieder auf die Beine. Kaum ge­ nesen von der Pest, kehrt Rochus nach Piacenza zurück, das neuerlich von der Pest befallen ist, und heilt die Kran­ ken. Wieder verschweigt er seinen Namen. Auf dem Rück­ weg in seine Klause heilt Rochus die pestbefallenen Tiere des Waldes. Damit hat sich erfüllt, was Rochus auf Erden beschieden war. Wie geht es weiter? Die Legende wendet den Blick hinauf zum Himmel: die höhere Weisung. Pünktlich vernimmt Rochus von dort den Befehl, in seine Heimat zu­ rückzukehren, damit er „in die Schar der Heiligen aufge­ nommen” werde. Rochus geht nach Montpellier, wird dort als Spion gefangengenommen und dem Regenten der Stadt vorgeführt. Das kann nicht gut gehen, wir ahnen es. Der

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Onkel erkennt den Neffen nicht und läßt ihn in den Ker­ ker werfen. Fünf Jahre bleibt Rochus im Gefängnis. Dann spürt er sein Ende nahen und ruft nach einem Priester. Den Prie­ ster graust es: die Zelle ist ganz von einem himmlischen Licht erfüllt. Der verstörte Geistliche eilt zum Fürsten, die Menschen versammeln sich vor dem Gefängnis. Ein Bote des Himmels erscheint und gibt dem Sterbenden einen letz­ ten Wunsch frei. Rochus bittet Gott, alle Menschen vor der Pest zu bewahren und die schon Erkrankten zu retten, wenn sie ihn, Rochus, als ihren Schutzherren anrufen. Jetzt kann Rochus sterben, im Jahr des Heils 1327, mit 32 Jahren, im Alter von Christus beinahe. Zu spät, ach, erkennt der Onkel das Kreuzeszei­ chen auf der Brust des Toten. In seiner Reue erbaut er dem Neffen eine Kirche und läßt an seinem Todestag, dem 17. August, jährlich ein Fest zu Ehren des „göttlichen Ro­ chus” feiern. So weit das fromme Erdenwallen des Mannes Ro­ chus, das an die Sterne reichte, wie es die Legende will. In diesem Fall haben wir das Glück, daß wir den Erzähler namhaft machen können. Das ist ganz ungewöhnlich. Francesco Diedo heißt der Verfasser. Er hat die Schrift über den heiligen Rochus um 1480 herausgebracht, in sei­ ner Heimatstadt Venedig. Doch mit dem Tod des Rochus endet die Ge­ schichte bei Francesco Diedo nicht. Das Mittelalter ist ein­ mal als die Epoche bezeichnet worden, die den Heiligen und seine Legende als Weltanschauung in sich trägt. So auch bei Diedo. Einen Heiligen, als einen Menschen, der die Tugend in sich verkörpert, ihn kann man nicht mit Worten herbeireden, auch mit den ruhmseligsten nicht. Das

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Hl. Rochus, Schwaben, um 1450—1470, Linde, Kunstmuseum Düsseldorf

Mittelalter war in diesem Punkt viel weniger fiktionsgläu­ big als wir. Der Mensch des Mittelalters wollte Taten se­ hen, Wirkungen der Heiligkeit. Den Beweis, daß Rochus nicht nur ein gott­ gefälliges Leben geführt, sondern daß Gott dieses Leben zur Heiligkeit geweiht hat, als Vorbild und zum Schutz der anderen Gläubigen, diesen notwendigen Beweis liefert Diedo am Ende seiner Schrift. „Die Verdienste dieses heiligen Mannes und seine Werke waren über 87 Jahre den Italienern unbe­ kannt.” Diedo ist peinlich genau mit seinen Angaben. Wir rechnen nach und kommen, siebenundachtzig Jahre nach dem Tod des Heiligen, auf das Jahr 1414. In eben diesem Jahr tagte das Konzil in Konstanz, währenddessen — so Diedo — die Pest ausbrach. Und dabei habe sich des Ro­ chus’ Wunderkraft zum ersten Mal bewährt. Die Kurfür­ sten, die Bischöfe sperrten sich ein in ihren Palästen, oder sie flohen aus der Stadt am Bodensee. Da aber trat ihnen ein junger deutscher Mönch mit seiner Botschaft entge­ gen. Er hatte zuvor Frankreich bereist und dort vom hei­ ligen Rochus gehört. Die Väter des Konzils ließen darauf­ hin, verzagt wie sie waren, das Bild von Rochus durch die Stadt tragen auf einer Bittprozession, die gesamte Bevöl­ kerung von Konstanz schloß sich an — und siehe: innerhalb kürzester Zeit verschwand die Pest aus der Stadt. Von nun an stand Rochus als Schutzpatron gegen die Pest sowohl in Deutschland als auch in Italien in höchsten Ehren. So weiß es Diedo. Jetzt erst hat die Heiligen-Legende von Rochus ihren Abschluß gefunden. Damit gilt sie. Sein Name erglänzt im Strahlenkranz wirksamer Heiligkeit. Bleibt uns zu fragen, wer dieser Francesco

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Diedo aus Venedig war, der die Vita zum ersten Mal er­ zählte. Es ist zum Staunen: Diedo war kein Mann der Kirche, kein stigmatisiertes Mönchlein, überhaupt kein Geistlicher. Er war, zunächst und vor allem, Venezianer, ein Venezianer patrizischer Herkunft versteht sich, glän­ zend begabt als Redner und Schriftsteller, ein Gelehrter, der seiner Republik in verschiedenen Eigenschaften diente: als Philosoph und Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Padua; als Diplomat und Unterhändler von Venedig beim Papst in Rom; zuletzt als Gouverneur von Brescia. Und als in dieser Stadt, die ihm als Feldherrn unter­ stand, die Pest ausbrach, will Diedo gelobt haben, nach einem glücklich überstandenen Ende der Seuche die Ge­ schichte des Heiligen Rochus aufzuschreiben. Und so ge­ schah’s. Auch über die Beschaffenheit seiner Quellen gibt Diedo freimütig Auskunft. Allerdings heißt es hier, wachsam zu lesen. Diese Erklärung, die seiner Zeit genügen mochte, weckt heute eher Zweifel. „Zwar habe ich”, merkt Diedo an, „über Rochus, dessen Leben ich beschreiben will, nichts Verläßliches aus alten und ehrwürdigen Handschrif­ ten zu Erfahrung gebracht; doch um Herkunft, Pilger­ schaft, Leben und Tod dieses heiligen Mannes nicht im Dunkeln zu lassen, habe ich aus einigen volkssprachlichen Fragmenten und aus lateinischen, waren sie auch in bäuri­ scher Sprache und mit derbem .Hausverstande verfaßt, ei­ niges gesammelt, woraus ich ersehen konnte, daß er Die­ ner Gottes war, und ich kam zu der Überzeugung, daß er vor allen anderen der Nachahmung, Nachfolge und Aus­ zeichnung wert sei.” Bei allem, was wir über Francesco Diedo wissen,

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Hl. Rochus, Ober St. Veiter Altar, zwischen 1505 und 1507, Erzbi­ schöfliches Dom- und Diözesan­ museum, Wien

drängt sich die politische Lesart seines Kommentars als die entscheidende auf. Der Statthalter Venedigs in Brescia sah sich mit einer Bevölkerung konfrontiert, die in Angst, Verzweiflung, Panik lebte — angesichts der Pest, einer Krankheit, die binnen dreier Tage zum Tode führt und für die weder Mediziner oder Theologen noch irgendje­ mand sonst eine Erklärung wußten. Vor einem sicheren Tod erschlafft die Treue zum Gesetz, die bürgerliche Dis­ ziplin. Wo wäre ein Halt? Da selbst Gott nicht eingreifen mochte beim großen Sterben, schuldete man ihm auch kei­ nen Gehorsam mehr. Konnte ein Gott so etwas überhaupt wollen? Wie, wenn es ihn gar nicht ...? Still! Nicht auszu­ denken. Als verantwortlicher Staatsmann stand Diedo vor der Frage, wie er seine Schutzbefohlenen unter Kontrolle hal­ ten, wie er ihnen Trost geben, eine Orientierung aufzeigen könne. Er hörte sich um unter den Bürgern seiner Stadt, konsultierte die Geistlichen, die den Betroffenen am näch­ sten waren, den Sterbenden, den ratlosen, verzweifelten Angehörigen. Und dabei wird Diedo, denkt ich mir, auf diesen Franzosen namens Rochus gestoßen sein, von dem gemunkelt wurde in der Stadt, daß er in grauer Vorzeit ein­ mal viele Menschen vor der Pest gerettet habe und ihr sogar selbst entkommen sei. Diedo erkennt, daß aus diesem Gerücht etwas zu machen ist, schlägt zuhause in seinen schlauen lateini­ schen Folianten nach, zieht aber auch „volkssprachliche Fragmente mit derbem Hausverstande” zu Rate, prüft, ver­ gleicht, rundet ab und auf und kommt dann zu der Über­ zeugung, daß in der Geschichte des Rochus eine heilende Botschaft ruht. Um dem, was bisher so ein Gemurmel war, die

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Ein Zöllner erkennt den Aussatz, Ulm um 1500, Holzschnitt in Aesops „Vita est fabulae” (nach der Ulmer Ausgabe)

Autorität höchster staatlicher Anerkennung zu geben, setzt er sich hin, der Herr Gouverneur und Schriftsteller, und schmückt das Leben des Rochus als eine fromme Legende aus. Die späteren Hagiographen, vor allem die des 19. Jahr­ hunderts, haben Diedos Erzählung kritisch gegen den Strich gebürstet und einige prägnante historische Unstim­ migkeiten dabei aus ihrem Fell geklaubt. So weiß man heute, daß während des Konstanzer Konzils von 1414 überhaupt keine Pest grassierte. Der Mann Rochus wurde auf seinem Heimweg nach Montpellier bereits in der Lom­ bardei eingesperrt und ist dort auch zu Tode gekommen. Vor allem aber: nach Diedo soll Rochus 1327 gestorben sein. Die Pest aber brach in Europa zum ersten Mal im Jahr 1348 aus. Man hat also eine wesentlich spätere Lebenszeit für Rochus anzusetzen (zwischen 1350 und 1380). Ich habe keinerlei Schwierigkeiten damit, mir den politisch inspirierten Schriftsteller Diedo bei diesen kleinen Tatsachenbeugungen am Schreibtisch vorzustellen: wie er die heroische Tugend seines als aktu­ elles Vorbild geplanten Helden soweit als möglich zurück­ datieren möchte, nach der Devise: je älter desto ehrwür­ diger. Und daß er den schmählichen Undank an Rochus lieber den fernen Bürgern von Montpellier als den nicht eben geliebten, aber doch näheren Vettern aus der Lom­ bardei in die Schuhe schieben will — wozu, Phöbus Apoll, wäre denn die Imagination der Dichter nütze wenn nicht zu feinen Polituren an einer unerfreulichen Wirklichkeit

Denn schließlich ging es um Größeres als um historische Treue, es ging um die Meisterung der Gegenwart angesichts einer Gesundheits-Katastrophe, für deren Ausmaß heute,

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selbst wenn noch das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs in Erinnerung wäre, unsere Begriffe, gar unser Vostellungsvermögen bei weitem nicht hinreichen.

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SAN ROCCO ALLEWEGE - WO ER WAR,

DA HERRSCHTEN VENEDIGS WAREN UND DIE PEST

DIE UNERGRÜNDBARKEIT DER SEUCHE

II.

Diedos Schrift erschien, wir wissen es bereits, um 1480 in Venedig. Schon kurze Zeit später, 1484, sehen wir Gesand­ te der Republik Venedig in Montpellier über die Gebeine des Heiligen Rochus verhandeln. Ihre Geduld ist so knapp, wie die Macht des Staates, den sie vertreten, erdrückend wirkt. Eile ist geboten, jede Stunde kostbar. Es geht um Leben und Tod. Die Pest herrscht in Venedig und rast über die Menschen dahin. Innerhalb acht Monaten fallen drei­ ßigtausend Venezianer der Seuche zum Opfer, dreißigtau­ send Menschen innerhalb von acht Monaten, in einer ein­ zigen Stadt. Die Unterhändler drängen. Wie sie endlich an die Reliquien kamen — ob durch Bestechung, ob durch Raub, ob vielleicht sogar durch ehrlichen Kauf —, das ist heute nicht mehr zu klären, jedenfalls im März des Jahres 1485 segelt ein Schiff mit dem kostbaren Schatz an Bord in die Lagune ein. Wer noch gehen und stehen kann, winkt erlösungshungrig am Quai, in der vordersten Reihe wartet der versammelte Senat, und unter Hochrufen und verzücktem Jubel werden die Knöchelchen — oder viel­ mehr der Rest davon, der nicht vorher schon verschachert worden war — in Empfang genommen: als sei damit das Ende der Pest, die Rettung aus dem Tod ein für allemal ga­ rantiert. Wir als nachgeborene Besserwisser werden die Stir­ nen runzeln über so viel selbstvergessenen Wunderglauben. Und wissen wir es besser heute?

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Man wird sich in die Lage der Menschen damals hineinversetzen müssen, um zu ermessen, was es für die Menschen damals hieß, mit der Pest zu leben. „Als das Übel allgemein geworden war, da verschlossen sich die Herzen der Einwohner der Menschenliebe. Sie flohen die Kranken und alles, was ihnen angehörte, und hofften auf diese Weise, sich zu retten. Andere verschlossen sich mit ihren Weibern, Kindern und Gesinde in ihre Häuser, aßen und tranken, was köstlich und teuer war, aber mit äußer­ ster Mäßigkeit. Niemand erhielt zu ihnen Zutritt, keine Todes- und Krankennachricht durfte ihnen hinterbracht werden, im Gegenteil vertrieben sie sich die Zeit mit Ge­ sang, Musik und mancherlei Kurzweil. Andere dagegen hielten dafür, viel Essen und Trinken, Vergnügen aller Art und Befriedigung aller Neigungen sei, mit leichtem Sinn über alles, was da vorfiel, verbunden, die beste Arznei, und handelten danach. Sie wanderten Tag und Nacht von einem Wirtshause zum andern und zechten ohne Maß und Ziel, so viel sie gelüstete. Auf diese Weise wichen sie stets, so gut es gehen wollte, jedem Kranken aus, und überlie­ ßen Haus und Gut dem Zufall, wie Menschen, deren To­ desstunde geschlagen hat. Unter diesem allgemeinen Jam­ mer und Elende war in der Stadt die Kraft und das Anse­ hen göttlichen und weltlichen Gesetzes verschwunden. Die meisten Beamten waren an der Pest gestorben oder la­ gen krank oder hatten so viele Glieder ihrer Familie verlo­ ren, daß sie keine Dienste verrichten konnten. Daher tat von nun an ein Jeder, was ihm beliebte.” Diese Beobachtungen von Giovanni Boccaccio, einhundertfünfzig Jahre zuvor, 1348, beim er­ sten Auftauchen der Pest in Europa, in seiner Heimatstadt Florenz notiert, sie galten unvermindert für das Venedig

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Der Rattenfloh — Xenopsylla cheopis

um 1490 und sollten, allen ärztlichen Bemühungen zum Spott, noch für Jahrhunderte gelten, ehe 1894 Alexandre Yersin den Rattenfloh als Pesterreger dingfest machte, in Hongkong. Niederdrückender als der Tod und das Ster­ ben war allemal die Unergründbarkeit der Seuche, die Ver­ lassenheit vor Gott. Und so läßt sich der Gewinn an Zu­ versicht, der für die Menschen in einer religiös geprägten Epoche in der Rochus-Gestalt liegen mußte, nicht hoch genug veranschlagen. Mit einem Mal war Hoffnung da, die Möglichkeit eines Sinnes strahlte ab von dem Mann, der vor Zeiten der Seuche standgehalten hatte — und seine Gebeine, die wunderbar gewonnenen und also wohl auch wunderwirkenden, sie waren jetzt in den Mauern von Ve­ nedig. Unverzüglich ging man den Bau einer Kirche: die Kirche San Rocco entstand als Pracht verbreitendes Gehäuse um den Schrein im Hauptaltar mit den Reliquien. Das magi­ sche Kraftfeld ihres Wirkens, das Zentrum des RochusKultes, der Ort des Hoffens und Flehens, des Dankes und, häufiger, der stummen Verzweiflung — ein von Menschen inszeniertes geistiges Mittel gegen die Seuche verkörperte sich in dieser Kirche. Heute läge der Ort wohl eher hinter der hochragenden Spiegelglasfassade eines bakteriologi­ schen Forschungs-Institutes. Der Senat der Republik rief eine Rochus-Brüderschaft ins Leben, ihr gehörten die ein­ flußreichsten Männer des Staates an. Die „Scuola di San Rocco”, in der die wohltätige Bruderschaft tagte, zählt seither mit den herrlichen Fresken von Tintoretto zu den Glanzpunkten der Lagunenstadt, und die Rochus-Bruder­ schaft ist, über die Jahrhunderte hinweg, bis heute im kari­ tativen Bereich tätig. Der bescheidene Lokal-Kult aus Montpellier, den

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sich die See-Republik unter dem ganzen Einsatz ihrer Macht zu eigen gemacht hatte, breitete sich mit der Han­ delsmetropole Venedig über den weiten Weltkreis aus, will sagen: über Europa und die gerade entdeckten beiden Amerika. San Rocco allewege — wo er war, da herrschten Venedigs Waren und die Not der Pest. Ein Sinn-Bild wurde weltweit exportiert, unter dem imperialen Zeichen des Lö­ wen von Sankt Markus. Merkwürdig oder nicht: das Verhalten der offi­ ziellen Kirche zu dem Kult des Pest-Patrons. Der Papst in Rom hielt sich zurück mit dem Kauf von Glaubens-Ak­ tien an dem Volksvermögen dieses neuen Heiligen. Ge­ schah es aus Eifersucht, Rivalität mit Venedig, Glaubens­ strenge? Rochus jedenfalls wurde niemals als Heiliger der Kirche kanonisiert. Diese Kanonisation, die Heiligsprechung eines Menschen, ist ein äußerst spannendes Verfahren. Es läuft als streng geführter juristischer Prozeß durch mehrere In­ stanzen: mit Zeugen, die die heroischen Tugenden des Kandidaten zur Heiligkeit bestätigen müssen, ebenso seine posthumen Wunder. Es geht so regelfest zu wie bei einem Kriminalverfahren. Auch ein Staatsanwalt ist vorhanden, er heißt pikanterweise advocatus diaboli. Diese juristische Form der Heiligspre­ chung ist natürlich eine späte Frucht der Theologie. Papst Urban VIII., der zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges auf Petri Stuhl saß, hat die Prozeßform eingeführt, aus dem Geist der Jesuiten, um Scharlatanerien auszuschließen — möglicherweise mittels Beelzebub? Bezeichnend jedenfalls das persönliche Ver­ hältnis von Papst Urban zum Heiligen Rochus. Er war ein großer Verehrer des Pest-Patrons, zumal er selbst an der

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Altar der Hl. Sippe, linke Flügelinnenseite, Meister der Hl. Sippe, Wallraf-Richartz-Museum, Köln

Pest erkrankte und von ihr genas, im Jahr 1624. Anläß­ lich seiner Errettung vom Schwarzen Tod las er am Altar des Heiligen über seiner Reliquie ein Pontifikalamt. Es ist auch bekannt, daß Urban die Rochus-Bruderschaften för­ derte. So weit aber, Rochus nach allen Regeln theologi­ scher Winkelkunst heilig zu sprechen, so weit konnte oder wollte dieser Papst dann doch nicht gehen. Der Vatikan segnete lediglich die schon seit beinahe anderthalb Jahr­ hunderten geübte Heiligsprechung dieses Mannes vom Volk aus ab, rückwirkend. Als „Casus exceptus” (Sonderfall) wurde Rochus als eines Kultes für würdig befunden. Die Kanonisation aber ließ man aus, bis heute. Immerhin: das Schicksal, das der Vatikan im aufgeklärten zwanzigsten Jahrhundert dem Heiligen Christophoros (samt allen seinen autofahrenden Fans) wegen seiner weichen Daten antat, dies aberkennende Schicksal blieb Rochus erspart. Zu tief schon hatte er sich in den Köpfen und Herzen der Men­ schen festgesetzt. Die Amtskirche mußte ihr Amen dazu sagen. Doch nicht nur die offizielle Kirche, auch die nach 1500 virulent werdende Gegenbewegung zu ihr, die Reforma­ tion, tat sich, milde gesagt, schwer mit Rochus und seinen Kollegen von der Zunft der Heiligkeit. In Martin Luthers Schmalkaldischen Ar­ tikeln werden die Heiligen als „antichristliche Mißbräuche” gegeißelt; der wahre Christ sei selber ein Heiliger, ein Stand besonderer Heroen der Tugend deshalb nicht vonnöten. In Rotterdam zog Erasmus die Stirne kraus über einen „gewis­ sen Rochus”, der angerufen werde, die Pest zu vertreiben. Darauf setzte Luther einen gröberen Keil. Er wetterte da­ gegen, daß die Heiligen nur um leiblicher Güter willen an­ gefleht würden, und nennt dabei Rochus mit Namen. Doch

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nachdem Luther seine Legende gelesen und quellenkritisch geprüft hatte, strich er den Angriff auf Rochus wieder aus seinem Manuksript. Am heftigsten aber attackierte der erste evange­ lische Prediger in Nürnberg, Andreas Osiander, in einem Gutachten über die kirchlichen Zeremonien 1526 die An­ dacht der Gläubigen vor den „heiligen bildern, die nie ge­ lebt oder nicht also gelebt haben, wie man schnitzt und malet”. Aber ein großer Erfolg war ihm dabei nicht beschieden. Obwohl die Stadt Nürnberg 1525 bereits den evangelischen Ritus eingeführt hatte, mußte 1543/44, im Gefolge eines neuerlichen Pest-Ausbruchs, der Pfarrer von Sankt Sebald mahnen: „Wir wissen alle, was für abgötterey im Bapstumb gewesen ist und noch sonderlichen in sterbenßleufften, das man S. Rochus, S. Sebastian angeruffen unnd mancherleyweyse jhnen gedienet hat, darumb das man durch solche verstorbene heiligen, so es anders heili­ gen sind, verhoffet hat für der pestilentz sicher zu sein.” Doch die Ohren der Gläubi­ gen, selbst wenn sie evangelisch geworden waren, blieben taub gegenüber diesen Abmahnungen einer aufgeklärten Vernunft. In den Jahren der Bilderstürme waren es immer wieder die Rochus-Altäre, vor denen die Zerstörer einhiel­ ten, so wie in Antwerpen zum Beispiel, wo sich der Altar des Pest-Patrons als einziger der vielen mittelalterlichen Altäre in den Stadtkirchen erhalten hat. Das kann kein Zu­ fall sein. Denn die, die die Rochus-Bilder und -Statuen schonten, bei all ihrer Wut auf die alte Kirche, sie wußten genau, was sie taten. Immer wieder brach die Pest aus, und gegen sie hatten auch die klugen, wortgewandten Refor­ matoren kein Kraut im Angebot. Das war die Stärke des Heiligen Rochus, wie er in der Legende von Diedo be-

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Hl. Rochus, Umkreis des Veit Stoß, um 1520, ausge­ schnittenes Flachrelief, Rochus(Imhoff)-Kapelle, zur Zeit des Fotos (1913) noch Außen-Plastik, Rochusfriedhof Nürnberg

schrieben ist, und daraus zog sein Kult die Lebenskraft: es haftete dem Mann etwas Volkstümliches an. Geboren aus der Not und Hilflosigkeit angesichts der verheerenden Seuche der Pest verfließen in seiner Gestalt Glaube und Aberglaube, magisches Denken und uralte, vorchristliche Bräuche ununterscheidbar ineinander — über die Zeiten hinweg. Ein starkes Wiederaufleben erfährt der RochusKult noch einmal im 19. Jahrhundert, anläßlich der Cho­ lera-Epidemien von 1835 und 1854. Und heute? Die Pest ist medizinisch im Griff. Von dieser Seuche droht keine Gefahr mehr. Und die Christenheit hat sich, scheint es, ein wenig verlaufen in der letzten Zeit. Aber Wegmarken seines Wirkens sind doch geblieben, bei Christen, vor allem aber in der Volks­ religion. In Italien gibt es bis heute kaum ein Städtchen, in dem sich nicht eine Rochus-Statue, ein Altar oder so­ gar eine Kapelle erhalten hat. Seine Bilder hängen über Haustüren, in Eckgiebeln, in Wegkapellen an der Straße, und immer noch sind sie mit Blumen und Kerzen ge­ schmückt. In Brasilien, in Mexiko, auf den Philippinen, wo­ hin ihn spanische und portugiesische Mönche brachten, wird er als Schutzheiliger der Kranken ganz allgemein ver­ ehrt. Und wer, der heute in Glasgow sich eine Kopf­ schmerztablette kauft aus den „St. Rollox Chemical Works”, wer — Hand aufs Herz — käme von uns dabei auf die Idee, daß er damit in einer jahrhundertelangen, kultu­ rell höchst aufschlußreichen Traditionskette steht? Dennoch: die Winke des Heiligen Rochus ha­ ben sich verwischt, sind nurmehr blasse Relikte allenfalls in einem unbegriffenen Brauchtum. Wo Rochus aber tiefe Spuren eingegraben hat, das ist im Raum der Kunst, auf Gemälden, Altären, in Statuen. Wenn die Kunst zu nichts

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taugte: als Speicher menschlichen Denkens, Fühlens, Wol­ lens, als Protokoll und Tagebuch all unserer Ideen, unseres Wahns ist sie unübertroffen und wird es, trotz Computer, wohl auch bleiben vorerst. Ein Wort zu mir, soweit es zur Sache gehört. Ich bin mit einer Rochus-Statue aufgewachsen: ein schö­ nes, vollplastisches Stück, leider vollkommen abgebeizt, Linde, nehme ich an. Sie mißt achtzig Zentimeter in der Höhe (das erste Mal, daß ich sie, jetzt, beim Schreiben, messe). Dunkel erinnere ich mich der Zeiten, es ist eher ein Ahnen, da waren wir ungefähr gleich groß, der hölzerne Wichtel und ich. Das schafft Zutrauen. Und fremd war er mir tatsächlich nie, auch wenn ich mich nicht rühmen darf, jemals in meinem Leben fromm gewesen zu sein, selbst als Bub nicht. Und heute, da ich, vor der Seuchengefahr der Gegenwart nach Orientierung suchend, auf seine Legende gestoßen bin, spüre ich an dieser Plastik, die mir, zwischen den beiden Schreibtischen über Eck, immer im Blick ist, eine Lebenskontinuität, einen Rest von Kindheit — nur meiner? Nun darf man sich den Umgang mit dem Heiligen bei uns zuhause keinesfalls feierlich vorstellen. Die Figur war zunächst mal ein Möbel, das alle Nase lang abgestaubt werden mußte in den vielen Rillen seines fußlangen Ge­ wandes. Sie wurde hin- und hergerückt, nach den wohnli­ chen Bedürfnissen, im Winter hier, im Sommer dort. Und manchen Umzug hat sie mitgemacht. Spätestens in den Händen von Möbelpackern wäre alle Weihe zerbrochen. Auch war niemand von meiner Familie in der Lage, mir die Geschichte des Heiligen zu erzählen. Rochus nannten wir ihn, das war ein merkwürdiger, fremder, dunkler Name — mehr nicht. Dazu dieses grämlich zerfurchte Gesicht eines

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Hl. Rochus, Niederrhein, Anfang des 16. Jahrhunderts, Eiche, Kunstmuseum Düsseldorf

alten Mannes. Dem ging’s nicht gut. Schon unappetitlich das aus dem Gewand vorgeschobene nackte Knie, viel zu fleischig für den Alten. Auf dem Oberschenkel dann die ekelige Sensation: die offene Wunde. Dicke Tropfen Eiter fließen daraus. Die Hand mit dem ausgestreckten Zeige­ finger weist auf diese Wunde, der Blick des Mannes aber geht über die Geste, wie abwesend vor Schmerz, zur Seite hinweg. Dies Bild des Schmerzes hat mich als Kind niemals in Ruhe gelassen, es hat mir gegraut vor ihm, aber ich habe es auch immer gesucht. Es zeigte mir etwas Fremdes vom Le­ ben, das mich fesselte, auch wenn es über meine Begriffe ging: einen Ernst, eine Sorge, ein böses Geheimnis. Viel­ leicht auch — wenn ich’s fassen konnte — Würde? Jetzt glaube ich ihn besser zu ver­ stehen, seit ich mich in seine Geschichte eingelesen habe und sie bearbeite — diese Studie hier ist das Beiwerk zu einem neuen Roman, an dem ich schreibe. Vor kurzem erst habe ich mir die Figur von der Familie erbeten, und es hat mich gerührt, sie auf den Armen, wie ein krankes Kind, hinunter zum Auto zu tragen und auf den Rücksitz zu betten. Ja, es hatte etwas Erschreckendes. Ich schaue sie mir an: eine gute, nicht allererste Barockarbeit, mit einem feinen Gesichts­ schnitt, sorgfältigem und reichem Faltenwurf am Gewand, süddeutsche Schule, wünschte ich mir. So steht er neben meiner Arbeit, Rochus, und schaut ihr leeren Auges zu, als mein säkularisierter Schutzpatron. Die Energie hat er sich erhalten, mit der zwei Hände vor mehreren Jahrhun­ derten, ich spüre sie, diese Schmerzgebärde aus einem Holzblock herausschnitten, um die tiefste aller Wahrheiten bemüht, die Wahrheit der Illusion, bis der Schmerz in

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Kunst aufgehoben war und dingfest gemacht, für die Zei­ ten danach, und sei es nur für einen einzigen. Es erleich­ tert mich, eine Stück fertige Kunst in meinem Raum zu haben, in dem ich etwas Ähnliches versuche.

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ROCHUS-HOCHBURG NÜRNBERG

DER KAUFMANN UND DIE DROGE

III.

In Nürnberg, wo ich seit einem guten Jahrzehnt lebe, steht ein Rochus-Altar, der nach Einschätzung der Kunsthisto­ riker als das „früheste und in seinem vollständigen Erhal­ tungszustand kostbarste Dokument des beginnenden Ro­ chus-Kultes in Deutschland, wenn nicht in Westeuropa überhaupt” zu gelten hat. Dieser Altar ist, vor allem anderen, ein wun­ dervolles Kunstwerk. Doch ästhetische Vollkommenheit — man kann sie rühmen, sagen läßt sich nichts darüber. Glücklicherweise aber ist die Geschichte seiner Entstehung mit der buchhalterischen Treue dieser Kaufmannsstadt aufgezeichnet worden, und so läßt sich an Hand des Ro­ chus-Altars ein Stück mittelalterliches Leben rekonstru­ ieren, zu einer Zeit, da die Pest zum Alltag der Menschen hier gehörte. Die Freie und Reichsstadt Nürnberg, in den Jahren vor der Reformation: schon um 1485 liegt Francesco Diedos Legenden-Büchlein in deutscher Sprache vor, in einem hiesigen Druck, als „Das Leben des heiligen Henn sant Rochus”. Weitere Drucke schließen sich in schneller Folge an. Schwerpunkte dieses besinnlichen Bestsellers sind Lübeck, Köln, Ausgburg, Straßburg, Wien — Zentren also des Handels und des Buchdrucks. Nirgendwo aber ist der einsetzende Rochus-Kult dichter bezeugt als in Nürn-

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Die Heiligen Sebastian und Rochus, rechte Flügelinnenseite des Marienaltars, um Joos van Cleve, um 1515, Eichenholz, Alte Pinakothek, München

berg, das sich zu einer Hochburg des Rochus-Kultes dies­ seits der Alpen entwickelt. Nicht zufällig. Die Gründe wahrhaft drängend genug. Offen sind die Menschen dieser Stadt für Ro­ chus, einen Heiligen, der unbekannt ist und von auswärts kommt, aus Venedig gar, der geschätzten Partnerstadt in der Lagune: die Pest grassiert im Nürnberg dieser Jahre. 1348, als der Schwarze Tod zum ersten Mal über Europa kam und nach Schätzungen der Historiker 25 Millionen Opfer mit sich nahm, 1348 war Nürnberg verschont ge­ blieben vom großen Sterben und hatte gerade daraus, so sagt man, bedeutenden wirtschaftlichen und politischen Nutzen gezogen. Umso gieriger aber griff die Pest jetzt in der zweiten Welle nach der Stadt. In den Sterbebüchern der Nürnberger Pfar­ reien sind die Zahlen säuberlich aufgelistet. 1483 zum Bei­ spiel starben 4488 Menschen am Schwarzen Tod, 1494 waren es — innerhalb eines halben Jahres — 9780. Setzt man diese Zahlen in Beziehung zu der damaligen Bevöl­ kerung von allenfalls 40 000, kann man es ablesen: zwi­ schen 1450 und 1530 suchte die Seuche alle zehn bis zwölf Jahre die Reichsstadt heim und raffte jeweils zwi­ schen fünf und zwanzig Prozent der Bevölkerung dahin. Schrecklich das Reden in abge­ rundeten Todesraten! Deshalb die Stimme eines Zeitge­ nossen, eines Mannes aus dem Patriziat, Lazarus Spengler, Ratsschreiber der Stadt: „Mit dem Sterben steet es allso, das es noch alle tag zu 60, 70 und 80 wegnimpt. Ist am Montag 86 und im lazareth 500 weniger 10 person gewest. Gott will herr und maister sein und pleiben und uns durch dise straf ursach geben, zu ime zu schreien und ine für unsern ainigen helfer zuerkennen.”

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Rochus-Altar, 1485/90, St. Lorenz Nürnberg

Ein Sterben in Massen. Die Ärzte vollkommen ratlos. Halb­ herzig empfehlen sie bestimmte Kräuter und Säfte in allen möglichen Mischungen, das probateste Mittel aber ist und bleibt die Flucht aus der Stadt. „Fluech bald, fluech fern, kom spaet herwider”, denn das sind fürwahr nützlichere Kräuter als eine ganze Apotheke, so heißt es unter den Bür­ gern. Wer es sich leisten kann, nimmt diese einzig wirk­ same Medizin ein. Viele Ärzte sind unter den Flüchtenden, die Patrizier natürlich vor allem, und auch ein junger Ma­ ler, dreiundzwanzig Jahre jung, gerade erst von der Wan­ derschaft zurückgekommen und frisch vermählt dazu: auch Albrecht Dürer flieht 1494 die Stadt und setzt sich nach Venedig ab. Die Entdeckung der italienischen Renaissance für die deutsche Malerei ist, wenn man so will, ein Ge­ schenk der Pest. Die Früchte der Geschichte reifen unter einem absonderlichen Licht. Die Menschen aber in der Stadt, die keinen Ort zum Entweichen kannten — was blieb ihnen außer der schieren Verzweiflung oder dem Glauben an Gott? Unruhe in den unteren Schichten. Die Ratsherren im straff geführ­ ten Stadtstaat ergreifen beschwichtigende, abwiegelnde Maßnahmen. Erlaß einer „Pestilentz-Ordnung”, um den — wie sagt man heute? — sozialen Frieden zu wahren. Nur noch einmal in der Woche soll für die Toten geläutet wer­ den, und die kleinere Glocke langt. Die Wagen, die die Lei­ chen auf die Friedhöfe vor die Stadt karren, dürfen nicht mehr mit beschlagenen Reifen fahren, um das Scheppern auf dem Pflaster zu vermeiden. Vor die Friedhöfe wird Erdreich aufgeschüttet, „damit der gestanck auß den grebem (Massengräbern natürlich) nicht schaden bringe” — im Klartext: Ansteckung, neuen Tod. In eben den Jahren dieses erbärmlichen

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Sterbens, 1485/90, wird der grandiose Rochus-Altar ge­ schaffen, so wie er heute im Seitenschiff der Lorenzkirche unverändert und vollständig erhalten steht: ein spätgoti­ sches Meisterwerk aus Schnitzerei und Malerei, eine kultu­ relle Hochleistung. In seinem Zentrum, im Schrein, die Vollplastik des Pest-Patrons. Ein Engel zur Seite, etwas kleiner, prä­ sentiert ihn den Gläubigen. Der Heilige aus Montpellier ist als kraftvol­ ler Mann mittleren Alters gegeben, im Pilgerkleid, mit Schnallenschuhen, Stab und Tasche. Mit seinen beiden Händen zieht er das Gewand nach oben und legt die Pest­ beule frei: bläulich umrandet, realitätsgetreu, weit oben am Schritt, keineswegs schamhaft nach unten versetzt. Den Gläubigen wird nichts vorgemacht, sie kennen ihre Pest. Die Malerei auf den Flügeln hält die Stationen von Rochus’ Leben fest, in siebzehn Szenen, so wie wir sie von Francesco Diedo kennen, vom Kinder­ bett der Liberia über die Einsiedelei im Wald bis zu seinem „leuchtenden” Tod im Kerker. Kein Zweifel, daß das BildProgramm aus der Legende des Diedo schöpfte, und man spürt heute noch die Erzählerfreude, die dem Maler dabei die Hände geführt hat, aber auch den Willen des Auftragge­ bers, den hier unbekannten Heiligen möglichst eindring­ lich vorzustellen, mit vielen Details aus dem Alltag, den Gläubigen zum Zeichen: Seht, er war wirklich, Rochus, so hat er gelebt. Die Nutzanwendung, sehr direkt, ist auf einem Spruchband festgehalten, in den Händen eines En­ gels. Für jedermann, der lesen konnte, sind die Worte unge­ wöhnlich deutlich und gut lesbar plaziert, nicht in Latein, sondern in volkssprachlicher Unmittelbarkeit, und gereimt dazu, daß man sie sich leichter einprägen kann und mit ih-

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Spruchband, Rochus-Altar, 1485/90, St. Lorenz Nürnberg

nen, belehrt und getröstet, von dannen gehen.

O Roche got der fordert dich Dar vm so pit andechtichlich Was fir daz folck dein hertz pegert Das wirstu schnei von got gewert Wen du hast vil vm got getan Wil er nit unvergolten lan

Als stellvertretender Fürbitter vor Gott gegen die Pest also wird der Neue angerufen, denn Gott hat bei ihm — das ist gut kaufmännisch gedacht — wegen seines vortrefflichen Erdenwandels hienieden noch eine Rechnung offen. Wie fromm der Mann war und wie er zudem die Krankheit überstand — daran lassen die Bilder keinen Zweifel. Treten wir von den Altar zurück: in erstaunlich kurzer Zeit sehen wir hier diesseits der Al­ pen die Wunder-Geschichte des Heiligen Rochus in Bild und Wort entfaltet, nachdem sie gerade eben erst in Ve­ nedig „erfunden” worden war. Doch dieses Wunder schneller Kult-Über­ tragung hat gute Gründe, die wirksamsten überhaupt: sie sind im Handelsverkehr der Stadt Nürnberg verankert. Und wenn die Urkunden auch weder den Maler noch den Schnitzer des Altars namhaft machen, in gotischer Tradi­ tion, der Auftraggeber und Financier des Altars ist sehr wohl überliefert. Sein Name: Peter Imhoff, Kaufmann. Die Imhoffs, nicht zu den älte­ sten Familien der patrizischen Oberschicht gehörend und umso energischer in ihrer Geschäftspraxis, hatten sich ab 1450 zu einer Welthandelsfirma emporgearbeitet. Ge­ schickt nutzten sie die Lage Nürnbergs als Drehscheibe

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des Handels zwischen Venedig einerseits, den Rheinlanden und dem Osten andererseits. Um 1500 hatten die Imhoffs sich ein Vertriebsnetz aufgebaut, dessen Leistungsfähig­ keit sich sehen lassen konnte, mit Niederlassungen unter anderem in Leipzig, Antwerpen, Prag, in Venedig, Genua, Messina, zuletzt in Saragossa und Lissabon. Nach der Ent­ deckung Amerikas waren die Imhoffs wendig genug, die Umorientierung des Weltverkehrs rasch zu erkennen und auf die portugiesische und spanische Karte zu setzen — mit allem Erfolg. Womit sie handelten? Hauptsächlich mit Gewür­ zen. Man faßt es kaum, aber damit war im Mittelalter das große Geld zu machen, seit den Kreuzzügen, und in diesen Zeiten der Pest zumal. Safran gehörte zu den verbreitet­ sten Medizinen, mit denen Apotheker und Arzte über den Fernhandel beliefert wurden, und Safran, aus dem Krokus gewonnen, war das wichtigste Ingredienz des Theriak. Ver­ mischt mit Wein und Honig galt dieser Heilsaft, zusammen mit purem Safran in Pillenform, als d a s Prophylaktum ge­ gen die Pest. Je grimmiger die Seuche wütete, umso kostba­ rer wurde der Safran — und teurer. Die Imhoffs mit ihren Niederlassungen in Aquila, einem bedeutenden Anbauge­ biet des Krokus’ in den Abruzzen, mit ihren glänzenden Verbindungen am Stapel- und Umschlagplatz Venedig: die Nürnberger Pfeffersäcke überhaupt konnten während der Pestepidemien beträchtliche Mehreinnahmen verbuchen. Wer kann denn ausschließen, daß vielleicht sogar eine Spur von Kompensationsbedürf­ nis bei der Entscheidung des Peter Imhoff mit hinein­ spielte, als er den bedrängten Bürgern seiner Heimatstadt mit dem Rochus-Kult eine Art geistiger Medizin gratis ge­ gen die Pest verabreichte, an der er ja, wie alle nur zu gut

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Schild mit hl. Rochus, Hans Holbein d. J., aus dem Englischen Skizzenbuch, Feder, öffent­ liche Kunstsammlung (Kupferstichkabinett), Basel

wußten, so schön verdiente? Doch ausschlaggebender als diese möglichen Kräuselungen in einer Kaufmanns-Seele waren natürlich die handfesten Beziehungen zwischen Nürnberg und Venedig. Sie können nicht eng genug gedacht werden. Nürnberger Kaufleute hatten in der Lagune seit langem feste Faktoreien, die ständige Reisen und längere Aufent­ halte dort, oft über Jahre hinweg, notwendig machten. Die Söhne wurden in Venedig in die Lehre geschickt, Nürnberger Studenten studierten an der venezianischen Universität von Padua. Dazu ein ununterbrochenes Hin und Her von Briefen und reitenden Boten im Auftrag der Kaufleute und des Rates zwischen den beiden Städten. Nein, es ist wirklich kein Wunder, daß der Heilige Rochus so zielstrebig und so rasch seinen Weg nach Nürnberg fand. Viele Motivations­ schübe laufen auf die Stiftung seines Altars zu. Und als den Imhoffs später sogar gelang, im Jahr 1514, in Venedig eine Rochus-Reliquie zu ergattern, ein Stückchen von der Hirn­ schale, da war Rochus endgültig in die Reichsstadt einge­ meindet. Und nicht zuletzt: der Rochus-Altar in der Lorenz­ kirche war bald zu einem Prestige-Objekt der Imhoffs ge­ worden. Es zeugt von ihrem Einfluß innerhalb des Patri­ ziats, daß sie dem nicht gerade neuerungssüchtigen Rat der Stadt die Stiftung eines Rochus-Festes abtrotzen konnten. In prächtigem Rahmen wurde ab 1516 jedes Jahr am 16. August das Rochus-Fest begangen, dem Schutzpatron der Pest und seinen Gönnern zu Ehren, eine der letzten und machtvollsten Demonstrationen von Katholizität in Nürn­ berg überhaupt. Mit der Einführung des evangelischen Ritus in

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Nürnberg 1525 kam der Bruch. Doch kein Bilderstürmer wagte die Hand an den Rochus-Altar zu legen oder an einen anderen Heiligen. Geschickt paßten sich die Imhoffs auch diesen neuen Zeitläuften an. Den eigenen Kaplan für ihren Altar hatten sie zwar aufgeben müssen. Sein Gehalt aber wandelten sie um in ein Stipendium für einen Nürn­ berger Theologie-Studenten. Rät man, für welche Univer­ sitätsstadt das Stipendium galt? Die Stadt heißt Witten­ berg ... Ein gelernter Gesellschaftstheoretiker könnte jetzt die Hände falten und sein Haupt zur Seite neigen: Da seht ihr es! Rochus — das war Opium für das Volk, aus der Scha­ tulle eines Kapitalisten vors pestzerfressene Volk gewor­ fen, zum seligen Krepieren. So einfach aber lagen die Dinge im Mittelalter nicht, und vielleicht liegen sie nie so ein­ fach. Der von oben eingeführte Rochus-Kult schlug in Nürnberg Wurzeln. Rochus ist tatsächlich populär geworden, ein Volksheiliger, von allen Bevölkerungsschichten verehrt und angerufen. Etwas Eigenes hat sich entwickelt. Ob der Glaube an ihn Pestkranke geheilt hat, steht dahin. Man wird es bezweifeln dürfen. Aber den sozialen Frieden in­ nerhalb der Stadt in diesen heftigen, extremen Zeiten zu si­ chern — daran immerhin war er wohl doch nicht unbetei­ ligt. In den Almosengefällbüchern dieser Jahre, in denen die Spenden festgehalten sind, die an den Festtagen in den Klingelbeutel und in die Schürzen der Kerzenmache­ rinnen wanderten: in diesen Spendenlisten erzielte der fremde, unbekannte Heilige aus Welschland sehr bald die höchsten Dotierungen. Natürlich, auch dies hat, wie alles, seine zwei Seiten. Ich weiß, ich weiß. Aber streiten mag ich darüber eigentlich nicht mehr. Der Mantel der Geschichte,

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Hl. Rochus aus dem Altar der Antoniusbruderschaft, Benedikt Dreyer, 1520/22, Eichenholz, Museum für Kuns^un^Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck

er weht dahin, flüchtig genug, von den merkwürdigsten Winden, den unerfindlichsten Blähungen bewegt. Mir reicht es, ihn hin und wieder an einem Zipfel fassen zu können — für kurze Weile. Wohin flattert er jetzt ge­ rade? *

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AUSKLANG MIT GOETHE:

DAS ROCHUSFEST 1814 ZU BINGEN

IV. Lassen wir den Gang mit Rochus durch die schlimmen Zei­ ten der Pest mit Heiterkeit ausklingen, am Rand der Ge­ genwart: Goethe beim Rochusfest in Bingen, 1814. Wenn die Hinwendung des mittelalterlichen Menschen zu Rochus ein vitaler Aufschrei der Verzweiflung war, existentielle Sinn-Suche auf Leben und Tod im Angesicht eines massen­ haften, ganz und gar unbegriffenen Sterbens, so glimmert Goethes Erinnerung an diesen Heiligen in unsere Zeit hin­ über als die Patina auf einem liebenswürdigen Brauchtum: harmlos, beschaulich, mit einem Geschmäckle schon von touristischer Attraktion. Der fünfundsechzigjährige Goethe, in Wiesbaden kurend, nimmt in Bingen oben auf dem Rochusberg, über dem Rhein, an seinem Ehrentag teil. Kirchweih-Stimmung zwischen den Bu­ den an diesem 16. August 1814. Der Lärm eines Volks­ festes. Duft von Gebratenem über dem Gedränge. An lan­ gen Tischen sitzen die Menschen, im Freien, blinzeln in die Sonne. Was fehlt? Der Wein. Die Krüge wandern. Goethe lobt den Monzinger. „Leicht und angenehm” trinke er sich weg. Von der Pest keine Spur mehr, um Gottes Wil­ len. Sie ist vergessen und verdrängt. Die Augen des alten Herren wandern lebensdurstig über die Leute hin. „Die Kinder schön, die Jugend nicht, die alten Gesichter sehr

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Der Hl. Rochus verteilt seine Habe, 1815/16, Louise Seidler und Heinrich Meyer nach einem Entwurf von Goethe, Rochus­ kapelle, Bingen

ausgearbeitet.” Winzer haben ein hartes Leben. Die Fröh­ lichkeit der Massen hat heute ihren besonderen Grund. Zum ersten Mal seit vierundzwanzig Jahren kann das Ro­ chus-Fest heuer wieder gefeiert werden. In der Zwischen­ zeit war der Franzose hier oben, Besatzung. Allons, enfants, Kinder des Vaterlandes ... Die Barock-Kirche ging ih­ nen zu Bruch dabei. Nun ist der Berg wieder unser, end­ lich. Unser Rochusberg ... Wer aber war Rochus? Ach ja, in fernen, fer­ nen Tagen ... und Goethe erzählt, im gemütlichsten Ton jetzt, seine Legende, frei nach Diedo. Immerhin: das „po­ litisch-religiöse Fest” hat ihn so beieindruckt, daß er sofort nach seiner Rückkehr in Weimar ein Heiligenbild von Ro­ chus malen läßt, nach eigenem Entwurf. Den Karton dazu legt Professor Heinrich Meyer an, aus Zürich, Goethes „Kunscht-Meyer”, und „eine zarte liebe Künstlerin hat das Bild ausgeführt”, Louise Seidler mit Namen. So macht man das als gestandener Olympier. Das etwas arg „zart und lieb” geratene Gemälde stiftet Goethe hochherzig der neu­ errichteten Kapelle auf dem Berg. „Sie werden es schwer­ lich dem Rochusberge in Ihre Sammlung entwenden”, neckt er Sulpiz Boisseree in einem Brief, den Sammler alter deutscher Kunst. Wie schrieb Goethes früher Kollege Franceso Petrarca, der Sänger der Liebe und der Frauen, als er 1348 die Pest von Parma erleben mußte? „Was soll ich sagen? Wo soll ich beginnen? Wohin soll ich mich wen­ den? Überall Leid! Überall Schrecken! O wäre ich nie ge­ boren oder schon gestorben! Hat man je so etwas gesehen oder nur sagen hören? Wo hat man je in den Annalen ge­ lesen, daß die Häuser verlassen, die Städte aufgegeben, die Felder unbebaut, die Fluren mit Leichen bedeckt und der

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Rochus-Altar, Marienkirche Rostock, wahrscheinlich Werk­ stattumkreis des Benedikt Dreyer (+ 1555), ungefaßtes Eichenholz

ganze Erdkreis eine unermeßliche, schreckliche Wüste ge­ wesen sei? Wende Dich an die Historiker: sie schweigen. Frage die Ärzte: sie sind erstarrt. Suche bei den Philoso­ phen Rat: sie zucken die Achseln, runzeln die Stirne und gebieten Schweigen, indem sie den Finger auf die Lippen legen. Wirst Du das glauben, Nachwelt?” Aus der Not dieser Verzweiflung wurde Rochus geboren. Die Nachwelt, sie hat vergessen und verdrängt. Die Menschen haben wenig Phantasie, Gott sei Dank. Sie können nur ermessen, was sie am eigenen Leib erfahren — erfahren müssen. Damals. Heute. Sie wol­ len leben.

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„Nürnberger Schriften” 2

Bildnachweis: Bildstelle der Stadt Nürnberg 3, 6, 8, 36, 4 52 Bayerische Staatsgemäldesammlungen Mür chen 10, 46 Kunstmuseum Düsseldorf 14, 40 Erzbischöfliches Dom- und Diözesanmuset Wien 18 Bernhard-Nocht-Institut Hamburg 28 Museen der Stadt Köln, Kunst- und Museumsbibliothek 32 Kupferstichkabinett der öffentlichen Kunstsammlung Basel 20, 56 Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck 60 Oblatenkloster St. Rupertus Bingen/Rhein 64 Marienkirche Rostock 66

Umschlag: Helmut Kirsch, Nürnberg Satz: Verlag Hans Böckel, Nürnberg Lithos: Betsche, Nürnberg Druck: Werkstätten für Behinderte gern. GmbH, Krautheim/Jagst Copyright: Verlag Hans Böckel. Nachdrucl auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages. Printed in Germany 1989

ISBN 3-87191-131-3

Auslieferung an den Buchhandel: M. Edelmann, Nürnberg

Aus Angst und Verzweiflung geboren — als eine neue Pest-Welle über Europa hinweggeht, um 1500, entsteht die Legende des Heiligen Rochus. Zentren seines Kultes sind die beiden Handels-Metropolen dieser Zeit: Venedig und Nürnberg. Frömmigkeit, Aberglaube, Seuchenpolitik und Geschäftsinteres­ sen gehen im Zeichen von Rochus eine faszinie­ rende Gefühlsmischung ein. „Rochus ist tatsächlich populär geworden, ein Volksheiliger. Etwas Eigenes hat sich entwickelt. Ob der Glaube an ihn Pest-Kranke geheilt hat, steht dahin. Man wird es bezweifeln dürfen. Aber den sozialen Frieden in diesen heftigen, extremen Zeiten zu sichern — daran war er doch wohl nicht ganz unbeteiligt." Mit feiner Hand zieht Michael Zeller in dieser lite­ rarischen Miniatur die Linien aus dem Mittelalter weiter zur Seuchenbedrohung heute.

Michael Zeller, 1944 in Breslau geboren, lebt seit 1975 in Nürnberg, zunächst als Universitäts-Do­ zent für Literatur, seit 1982 als Freier Schrift­ steller. Letzte Veröffentlichungen: FÜLLENS ERBE. Eine deutsche Geschichte, Ro­ man, 1986. DIE SONNE! FRÜCHTE. EIN TOD, Roman, 1987. LUST AUF BLAU & BEINE, Gedichte, 1988.

ISBN 3-87191-131-3

15,- DM.