»Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«: Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens 9783495820827, 9783495490440


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Table of contents :
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Inhalt
Hinweis zur Zitation:
Prolog
Teil A: Intention
Kapitel I: Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit, die als ernstzunehmender Beitrag zur Nietzscheforschung will gelten können
Kapitel II: Der ›frühe‹ Nietzsche, hier: »Wagners Nietzsche«
Kapitel III: Der ›mittlere‹ Nietzsche, hier: »Nietzsches Nietzsche«
Kapitel IV: Der ›späte‹ Nietzsche, hier: Ein »Denker am Abgrund«
Kapitel V: Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz
1. Zu Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873)
2. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« – ein Einstieg über die Hintertreppe der Rezeptionsgeschichte
3. »Nichts ist wahr …« in Zarathustras Rede Der Schatten – ein Interpretationsversuch
4. »Nichts ist wahr …« – weitere Deutungsaspekte aus Der Wanderer und sein Schatten (1880)
5. »Nichts ist wahr …« in Zur Genealogie der Moral (1887)
Kapitel VI: Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen
1. Nietzsche zwischen Wirkungserwartung und Realismus oder: Über Verlockungen metaphysischen Denkens
2. Nietzsches psychologische Dekonstruktion der ästhetischen Metaphysik
3. Nietzsches psychologische Dekonstruktion der Metaphysik des Werdens
4. Über Wirkungserwartung und Realismus am Beispiel des Nietzschebildes der deutschsprachigen Pädagogik und ihres neueren Metaphysikverbotes
5. Nietzsches psychologische Dekonstruktion metaphysischer Bildungsphilosophien respektive eines Bildungshistorikers
Kapitel VII: Nietzsches andere Vernunft und Welt, jenseits der Hinterwelt der Hinterwäldler
1. Nietzsche und die ›wahre‹ sowie ›scheinbare‹ Welt
2. Nietzsche und die ›andere‹ Welt
3. Die andere Vernunft in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde
Kapitel VIII: Nietzsches psychologische Philosophenkunde
Kapitel IX: Nietzsches »neue« Aufklärung à la Voltaire
Kapitel X: Nietzsches Siegfried in Abgrenzung zu jenem Wagners
Kapitel XI: Nietzsches Übermensch in Abgrenzung zu hin und wieder gebräuchlichen (in Gegenwart wie Vergangenheit)
1. Der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt
2. Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft«
Teil B: Wirkung
Kapitel XII: Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit, die als ernstzunehmende Rezeptionsforschung in Sachen Nietzsche will gelten können
Kapitel XIII: »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«
Vorspiel (in der Hölle, Anfang der 1960er Jahre)
Intermezzo: Zum Stand der Forschung
Vorspiel II (in Nizza, 1887)
Erster Akt: Nietzsche in Leipzig, November/Dezember 1887 – Februar 1889
Zweiter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1904–1909
Dritter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1911
Vierter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1911, 1914/1916
Fünfter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1915, 1926
Sechster Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1932
Siebter Akt: Unruhen im völkischen Lager – und anderswo
Nachspiel
Kapitel XIV: Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart – ein Abriss
1. Das fängt ja gut an: Nietzsche, der Held der Avantgarde
2. Nietzsche, der Kriegsphilosoph
3. Nietzsche in Weimar
4. Von der Nazifizierung Nietzsches
5. Nietzsche nach 1945
Kapitel XV: Nietzsche heute: Das Beispiel Corey Robin – der hellsichtig Donald Trump vorhersagte, aber im Fall Nietzsche einer Lesehilfe bedarf
Kapitel XVI: Nietzsche und die Neue Rechte – ein Anathema, gemessen an der Frage: War Nietzsche womöglich ein Linker? Oder doch ›nur‹ ein Rechter?
1. Who are you? Die Problemstellung
2. Nietzsche, als ›authentischer Linker‹ lesbar gemacht
3. Nietzsche, als bloß ›rhetorischer Rechter‹ aufbereitet und ad acta gelegt
Zugabe: Nietzsche & Co., darunter Trump, auf der Couch
Epilog
Literatur:
Danksagung
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»Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«: Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens
 9783495820827, 9783495490440

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Christian Niemeyer

»Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820827

.

B

Christian Niemeyer »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Christian Niemeyer

»Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Christian Niemeyer »Embark, philosophers!« Friedrich Nietzsche and the abysses of thought On Nietzsche’s 175th birthday, this book gives a thorough introduction to the most important aspects of his work, concentrating on intention and effect. This happens – in Part A – in the form of a small exhibition of his work; Nietzsche’s concept of truth; his critique of metaphysics and its inherent concept of ›other reason‹; his psychological philosophical study; his concept of a ›new Enlightenment‹ à la Voltaire; his differentiation with Richard Wagner as well as his overman (›Übermensch‹) construct. In Part B (Effect), Nietzsche’s reception is of interest from its beginnings through the Nietzsche image in the Third Reich to the Nietzsche image after 1945, with special attention being paid to Nietzsche’s position towards the ›Hitler precursor‹ Theodor Fritsch, which was suppressed by his sister. Thus the foundations are laid for a chapter on Nietzsche’s current reading as a neoliberal and as an alleged source of ideas for right-wing populism, which is followed, as an encore, by a chapter on Nietzsche and Donald Trump.

The Author: Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer, born 1952, educationalist and psychologist, taught social pedagogy at the TU Dresden until 2017, before that, from 1989 to 1993, at the FU Berlin. Since 2003 managing editor of the Zeitschrift für Sozialpädagogik. Numerous books on social pedagogy, the youth movement and Nietzsche, particularly noted and translated into both Spanish and Brazilian: Nietzsche encyclopedia (WBG: Darmstadt 2009; 22011; Ed.). Most recently published: Nietzsche as educator (2016), Nietzsche on the couch (2017), Social pedagogy as sexual pedagogy (2019) with E-book novel supplement 2029: Game over, AFD! (2019), all: Beltz/Juventa: Weinheim Basel.

https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Christian Niemeyer »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens Zu Nietzsches 175. Geburtstag gibt dieses Buch eine gründliche Einführung in das Wichtigste an seinem Werk unter Konzentration auf Intention und Wirkung. Dies geschieht – in Teil A – in Gestalt einer kleinen Werkschau; Nietzsches Wahrheitsbegriff; seine Metaphysikkritik und das ihr innewohnende Konzept einer ›anderen Vernunft‹; seine psychologische Philosophenkunde; sein Konzept einer ›neuen Aufklärung‹ à la Voltaire; seine Abgrenzbarkeit zu Richard Wagner sowie sein Übermenschenkonstrukt. In Teil B (Wirkung) interessiert die Nietzscherezeption von ihren Anfängen über das Nietzschebild im Dritten Reich bis hin zum Nietzschebild nach 1945 unter besonderer Beachtung von Nietzsches – von seiner Schwester unterschlagenen – Position gegenüber dem ›Hitlervorläufer‹ Theodor Fritsch. Damit sind die Grundlagen gelegt für ein Kapitel zur aktuellen Lesart Nietzsches als Neoliberalen sowie als angeblichen Ideengeber des Rechtspopulismus, dem, als Zugabe, ein Kapitel zu Nietzsche und Donald Trump folgt.

Der Autor: Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer, Jg. 1952, Erziehungswissenschaftler und Psychologe, lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden, davor, von 1989 bis 1993, an der FU Berlin. Seit 2003 geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Sozialpädagogik. Zahlreiche Bücher zur Sozialpädagogik, zur Jugendbewegung sowie zu Nietzsche, besonders beachtet und sowohl ins Spanische als auch ins Brasilianische übersetzt: Nietzsche-Lexikon (WBG: Darmstadt 2009; 22011; Hrsg.). Zuletzt erschienen: Nietzsche als Erzieher (2016), Nietzsche auf der Couch (2017), Sozialpädagogik als Sexualpädagogik (2019) m. E-Book-Roman-Beigabe 2029: Game over, AFD! (2019), alle: Beltz/Juventa: Weinheim Basel.

https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © psdesign1 – AdobeStock Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49044-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82082-7

https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Inhalt

Hinweis zur Zitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Prolog

13

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Teil A: Intention I. Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit, die als ernsthafter Beitrag zur Nietzscheforschung will gelten können . . . . . . . . . . .

21

II. Der ›frühe‹ Nietzsche, hier: »Wagners Nietzsche« . . . . . . .

27

III. Der ›mittlere‹ Nietzsche, hier: »Nietzsches Nietzsche«

. . . .

38

IV. Der ›späte‹ Nietzsche, hier: Ein »Denker am Abgrund«

. . . .

49

V. Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zu Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« – ein Einstieg über die Hintertreppe der Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . 3. »Nichts ist wahr …« in Zarathustras Rede Der Schatten – ein Interpretationsversuch . . . . . . . . . . . . . . . .

68 72 76 83

7 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Inhalt

4. 5.

»Nichts ist wahr …« – weitere Deutungsaspekte aus Der Wanderer und sein Schatten (1880) . . . . . . . . . »Nichts ist wahr …« in Zur Genealogie der Moral (1887)

VI. Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen . 1. Nietzsche zwischen Wirkungserwartung und Realismus, oder: Über Verlockungen metaphysischen Denkens . . . 2. Nietzsches psychologische Dekonstruktion ästhetischer Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nietzsches psychologische Dekonstruktion einer Metaphysik des Werdens . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Über Wirkungserwartung und Realismus am Beispiel der deutschsprachigen Pädagogik und ihres neueren Nietzsche- und Metaphysikverbots . . . . . . . . . . . 5. Nietzsches psychologische Dekonstruktion metaphysischer Bildungsphilosophien respektive eines Bildungshistorikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87 90

101 101 111 120

126

133

5 VII.

1. 2. 3.

Nietzsches andere Vernunft und Welt, jenseits der Hinterwelt der Hinterwäldler . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsche – und die »wahre« Welt . . . . . . . . . . . . Nietzsche – und die andere Welt . . . . . . . . . . . . . Die andere Vernunft in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142 145 150 154

VIII. Nietzsches psychologische Philosophenkunde . . . . . . . . .

160

IX. Nietzsches »neue« Aufklärung à la Voltaire . . . . . . . . . . .

174

X. Nietzsches Siegfried, in Abgrenzung zu jenem Wagners . . . . .

187

8 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Inhalt

XI. Nietzsches Übermensch, in Abgrenzung zu hin und wieder gebräuchlichen (in Gegenwart und Vergangenheit) . . . . . . . 1. Der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt . 2. Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200 208 218

Teil B: Wirkung XII. Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit, die als ernsthafter Beitrag zur Rezeptionsforschung in Sachen Nietzsche will gelten können XIII. »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?« Ein deutsches Trauerspiel in sieben Akten zur Unterschlagung der wichtigsten Dokumente für Nietzsches Anti-Antisemitismus als Voraussetzung seiner Nazifizierung . . . . . . . . . . . . . Vorspiel (in der Hölle, Anfang der 1960er Jahre) . . . . . . . Intermezzo: Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . Vorspiel II (in Nizza, 1887) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Akt: Nietzsche in Leipzig, November/Dezember 1887 – Februar 1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1904–1909 . Dritter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1911 . . . . Vierter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1911, 1914/16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünfter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1915, 1926 . Sechster Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1932 . . . Siebter Akt: Unruhen im völkischen Lager – und anderswo . . Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV. Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart – ein Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das fängt ja gut an: Nietzsche, der Held der Avantgarde . 2. Nietzsche, der Kriegsphilosoph . . . . . . . . . . . . .

233

249 249 250 252 258 263 268 272 277 279 280 285

288 289 311 9

https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Inhalt

Nietzsche in Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Nazifzierung Nietzsches . . . . . . . . . . . . Nietzsche nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316 326 352

XV. Nietzsche heute: Das Beispiel Corey Robin, der hellsichtig Donald Trump vorhersagte, aber im Fall Nietzsche einer Lesehilfe bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

3. 4. 5.

XVI. Nietzsche und die Neue Rechte – ein Anathema, gemessen an der Frage: War Nietzsche ein Linker? Oder womöglich doch nur ein Rechter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Who are you? Die Problemstellung . . . . . . . . . . . 2. Nietzsche, als »authentischer Linker« lesbar gemacht . . 3. Nietzsche, als »rhetorischer Rechter« aufbereitet und ad acta gelegt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

384 390 393 398

Zugabe Nietzsche & Co., darunter Trump, auf der Couch. Ein didaktisch ambitionierter Versuch, das Phänomen Nietzsche vom Amokläufer Robert Steinhäuser aus sozialpädagogisch zu verstehen (mit Seitenblicken auf den aktuellen US-Präsidenten als ›blonde Bestie‹) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

475

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

10 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Hinweis zur Zitation:

Nietzsches Werke werden zitiert nach römischen Ziffern, also: I–XV = KSA: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. G. Colli u. M. Montinari. München 1988. Nietzsches Briefe werden zitiert nach arabischen Ziffern, also: 1–8 = KSB: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. v. G. Colli u. M. Montinari. München 1986. Weitere Siglen: GBr = Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe. 5 Bände. Hrsg. v. E. Förster-Nietzsche u. a. 2. Aufl. Leipzig 1909. GSD = Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bde. 1–10, Leipzig 41907. Bde. 11 u. 12, Leipzig 5o. J. KGB = Friedrich Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. Berlin, New York 1975 ff. Kr = Richard F. Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. Bd. I. 2. Aufl. (= Kr I). Bd. II. 2. Aufl. (= Kr II). Bd. III. (= Kr III). Bd. IV (= Kr IV). Berlin, New York 1998–2006. NLes = Nietzsche: Die Hauptwerke. Ein Lesebuch. Hrsg. v. Ch. Niemeyer. Tübingen 2012. NLex = Nietzsche-Lexikon. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Hrsg. v. Ch. Niemeyer. Darmstadt 2011. SW = Arthur Schopenhauer: Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1991.

11 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Prolog

Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen! (Nietzsche, 1882)

Nietzsche wollte, als »Dynamit« (I: 365), die Geschichte der Menschheit in zwei Epochen spalten, in eine vor und in eine nach ihm. Tatsächlich spaltete er vor allem seine Leserschaft: in einige, die ihm in allen folgten; in andere, die ihn glatt für verrückt erklärten; und schließlich in die große Mehrheit jener, die ihn, zumal nach 1945, als bête noire der (deutschsprachigen) Pädagogik ad acta legten. Aber auch in der Philosophie, zumindest doch der deutschsprachigen, gilt Nietzsche mehrheitlich als eine Art bête noire, mit Werner Stegmaier geredet: die meisten Fachgelehrten lehnten (und lehnen) ihn als »maßlos, wirr und politisch gefährlich ab.« (Stegmaier 2000: 41) Nietzsches hier als Motto sowie Buchtitel gewählter Imperativ »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« (III: 530) aus Die fröhliche Wissenschaft (1882) verhallte häufig entsprechend resonanzlos. Wer hier – wie der Verfasser mit diesem Buch – für Abhilfe sorgen will, oder, wie Nietzsches allerneueste Biographin Sue Prideaux eine gewisse Ordnung in die Vielfalt der Nietzschebilder bringen möchte, also Antwort zu geben sucht auf die von Prideaux aufgeworfene Frage »Where do we place a thinker who was equally beloved by Albert Camus, Ayn Rand, Martin Buber, and Adolf Hitler?« (Prideaux 2018: U 2), muss, wenn er Erfolg haben will, zu mehr befähigt sein als nur zum professionellen Biographienschreiben. Er muss schlicht wissen, möglichst aus eigener Forschung, was alles dazugehört, um als »Freund Nietzsches« zu gelten, dem es, so Nietzsche 1885/86, eine »Ehren-Sache« sein müsse, Nietzsche eine »Burg zu bauen«, wo er »gegen die grobe Verkennung« (XII: 169) bewahrt war – eingeschlossen, so jedenfalls verstehe ich den Ausdruck 13 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Prolog

»Ehren-Sache«, dass es nicht angehen kann, den Rechtsgrund von Nietzsches Negativimage einfach in Abrede zu stellen. Belehrend ist in dieser Frage die Lektüre von Der Wille zur Macht in der von Heinrich Köselitz und (vor allem) Elisabeth Förster-Nietzsche zu verantwortenden 1906er Fassung. Selbst der Hinweis, Nietzsche habe gleichsam letzter Hand abgesehen von der Veröffentlichung dieser von ihm im Zeitraum von immerhin fünf Jahren zusammengestellten Nachlasspassagen, die letztlich nur so schlimm gerieten durch die Eingriffe von Nietzsches Schwester in den Text, ändert nichts an der Tatsache an sich: Nietzsche verfügte über dunkle Seiten, die man nicht einfach hinwegerklären darf, sondern thematisieren können muss. Dies wird womöglich, wie im Epilog angedeutet werden wird, noch ein weiteres Buch erforderlich machen. Hier indes, in diesem Buch, soll es nach Art einer Zwischenbilanz zum 175. Geburtstag bevorzugt um die hellen Seiten Nietzsches gehen inklusive der dunklen insbesondere in seinem Frühwerk und dem an sich rätselhaften Umstand, dass er den selbstkritischen Zugriff auf diese gegen Ende seines geistig wachen Lebens teilweise wieder verbarg. Ein Beispiel hierfür ist Nietzsches Umgang mit der schwächsten seiner Schriften, der 1873 auf Druck Richard Wagners hin vorgelegten ersten Unzeitgemässen Betrachtung über den Schriftsteller David Friedrich Strauß (1808–1874) voller deutschthümelnder und bellizistischer Anspielungen – seiner letzten Opfergabe also auf dem Altar Wagners, dem »Genie des Herzens« (V: 237). Denn drei Jahre nach dieser hellsichtigen Bemerkung aus Jenseits von Gut und Böse, genauer geredet: am 15. Oktober 1888, also an seinem 40. Geburtstag, begann Nietzsche aus Ärger über den ausbleibenden Geburtstagsgruß seiner Mutter seine Autobiographie Ecce homo. Drei Wochen später war er so gut wie fertig – mit der Folge, dass das Werk Nietzsches nicht wiederzuerkennen war, wortwörtlich kein Stein mehr auf dem anderen stand. Soll heißen: Aus der zuletzt etwas zugestellt wirkenden, rosenbewachsenen verträumten Villa mit ihren verwinkelten Erkern und ihren verschrobenen Winkeln und Labyrinthen und Gängen, die teils ins Nichts ausliefen, ist ein extrem langweiliger monumentaler Zweckbau geworden, geradelinig und funktional, mit einem hochmodernen Fahrstuhl von Nietzsches ›Erstling‹ im Keller bis in die Beletage, auf der es, immer wiederkehrend, ebenso end- wie sinnlos hallt, dass »Alles Eins ist und Eins will.« (8: 245) Nicht mehr die Rede ist hingegen von dem geradezu wütenden Abriss des allerersten Gebäudes um 1876/77 bei gleichzeitigen ersten Ver14 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Prolog

suchen eines Wiederaufbaus mit dem Argument, »als Vorarbeit für alles zukünftige Philosophieren« täte »nichts so noth, als Stein auf Stein, Steinchen auf Steinchen psychologische Arbeit zu häufen und tapfer jeder Mißachtung dieser Arbeit zu widerstreben« (VIII: 444), mit dem Ergebnis eines die Werke der Freigeistepoche (Menschliches, Allzumenschliches I und II, Die fröhliche Wissenschaft sowie Morgenröthe) beherbergenden Gebäudes mit der Aufschrift Nietzsches Nietzsche. (vgl. hierzu Kap. III) Weniger bildlich geredet: Der große Psychologe und Erzieher Nietzsche, der mit diesen Werken begann, hat offenbar mit Ecce homo aufgehört zu existieren zugunsten eines sich mit großer Geste Feiernden, der geradezu stolz ist wegen des Urteils eines zeitgenössischen Kritikers, sein »Attentat sei für Strauss tödtlich verlaufen.« (VI: 317) Kaum zu glauben: Nietzsche hat offenbar ganz vergessen, besser: er will vergessen, dass er zeitnahe, etwa in einem Brief an seinen Freund Carl von Gersdorff vom 11. Februar 1874 (4: 200), eher mit Scham denn mit Stolz auf Strauß’ Tod reagierte. Und er hat offenbar auch nicht mehr auf dem Schirm, dass der geistige Tiefpunkt jener 1873er Schrift durch den Satzteil markiert wird, mit Strauß, also mit »dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heisst: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile« könne »man keine Feinde bezwingen.« (I: 163) Ich bin mir sicher: Hätte Nietzsche noch, wie auch immer, geistig die Kurve gekriegt und froh und glücklich seinen 60. Geburtstag gefeiert – er hätte diesen Text aus dem Verkehr gezogen. Es kam, wie wir alle wissen, anders: Nietzsche versank wenige Monate nach seinem 44. Geburtstag in geistige Umnachtung und verstarb schließlich nach elfjährigem Siechtum. Vier Jahre nach seinem Tod unterzeichnete Elisabeth Förster mit den stolzen Worten »Am sechzigsten Geburtstage meines theuren Bruders« (Förster-Nietzsche 1904: VI) das Vorwort zum dritten und letzten Band ihrer großen Nietzschebiographie, enthaltend das Wichtigste aus der zwei Jahre später päsentierten ›kanonischen‹ Fassung von Der Wille zur Macht und brachte bei dieser Gelegenheit erstmals Sätze Nietzsches unters Volk (etwa: »Meine Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zugrundegeht«), die so wirkten, als seien sie ganz auf Line des eben kritisierten 1873er Bellizismus aus der ›Straussiade‹ (wie man die erste ›Unzeitgemässe Betrachtung‹ auch nennt). Kurz: Als die Zeit derlei Parolen günstig war, ab 1914, dann wieder ab 1933, avancierte Nietzsche als ›tragischer‹ Philosoph im wortwörtlichen Sinne: Er wurde erst zum Kriegsphilosophen des 15 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Prolog

Wilhelminismus und danach via Alfred Baeumler zum Staatsphilosophen des Dritten Reichs – und wurde denn auch vierzig Geburtstage später, von 1904 an gerechnet, gebührend gefeiert. So wurde ihm zum 15. Oktober 1944 seitens des damals schon ziemlich in Trümmern liegenden ›Tausendjährigen Reichs‹ die Ehre einer Titelgeschichte im Völkischen Beobachter zuteil, ganz zu schweigen von den Gedenkreden Hans Franks (1900–1946), offiziell Generalgouveneur von Polen, inoffiziell »Judenschlächter von Krakau« – und 1946 als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg zum Tode verurteilt, wie der zweite wichtige Festredner, Baeumlers Vorgesetzter Alfred Rosenberg (1893–1946). Die Pointe? Nun, nichts hat sich wohl tiefer in die Seele der damals im Alter etwa eines Rudolf Augstein (1923–2002) oder Jürgen Habermas (* 1929) befindlichen und einseitig im Geist des NietzscheNazi sozialisierten Vertreter des Intellektuellen-Nachwuchses eingegraben, als diese gruseligen Gesten eines untergehenden verbrecherischen Systems, ausgesendet von mehrheitlich (Frank wie Rosenberg) wenig später als Kriegsverbrecher zum Tode Verurteilten. Womit wir bei der zweiten, nicht minder wichtigen Pointe sind: Was haben jene Feiergesten sowie die – hier unterstellten – zwei Empörungsgesten (Habermas, Augstein) eigentlich mit Nietzsche zu tun? Die Antwort ist simpel, dies jedenfalls unter Ausklammerung der, wie angedeutet, andernorts zu thematisierenden dunklen Seite Nietzsches: Sie haben so gut wie nichts mit Nietzsche zu tun, jedenfalls dem von ihm Intendierten und zur Überlieferung Bestimmten zufolge. Wer diese Antwort nachvollziehen können will, sollte dieses Buch lesen. In ihm wird Nietzsche großräuming zur Schau gestellt, in Sachen Intention (Teil A), aber auch in Sachen Wirkung (Teil B). Einer Einführung in die als ideal anzusehende Nietzsche-Lesart (I) folgt eine solche in die wichtigsten seiner Werke (Kap. II–IV). Danach wird sukzessive »Nietzsches Nietzsche« freigelegt, im Blick auf seinen Wahrheitsbegriff (Kap. V), seine Metaphysikkritik (Kap. VI), seine ›andere Vernunft‹ (Kap. VII), seine Philosophenkunde (Kap. VIII), sein Verständnis einer ›neuen Auflärung‹ (Kap. IX) sowie Nietzsches Siegfried (Kap. X) und die implizite Pädagogik seiner Philosophie, zutage tretend im Übermenschenkonstrukt (Kap. XI). Weiter geht es in puncto Wirkung (Teil B), ein Teil, der gleichfalls einen methodologischen Vorspann erfordert (Kap. XII). Einer Fallstudie zur schier unglaublichen (Kriminal-) Geschichte der von Nietzsches Schwester zu verantwortenden Unterschlagung von Nietzsches Briefen an den An16 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Prolog

tisemitenchef Theodor Fritsch (Kap. XIII) folgt eine kleine Rezeptionsgeschichte (Kap. XIV), die deutlich macht: Nietzsche begann als Held der Avantgarde (Kap. XIV/1), mutierte dann, unter unfreundlicher Mithilfe seiner Schwester, zum Kriegsphilosophen (Kap. XIV/2), um schließlich, nach einem vieldeutigen Intermezzo in der Zwischenkriegszeit (Kap. XIV/3), einer weiträumigen Nazifzierung unterzogen zu werden (Kap. XIV/4), was nach 1945 nicht so einfach vergessen war (Kap. XIV/5). Dies erklärt offenbar letztlich auch den aktuellen Versuch eines New Yorker Politikwissenschaftlers, Nietzsche als Philosophen des Neoliberalismus und der Gegenrevolution auszuweisen (Kap. XV). Ein Beitrag zum Thema ›Nietzsche und die Neue Rechte‹, deutlicher: zur in diesem Zusammenhang sich stellenden Frage, ob Nietzsche ein »rhetorischer Rechter« oder vielmehr ein »authentischer Linker« war (Kap. XVI), schließt dieses Buch ab. Als Zugabe geeignet schien ein 2018 erschienener Vortrag zum Thema Nietzsche und Donald Trump. Vielleicht, so die Hoffnung im Blick auf die in diesem Vortrag gewählte, zumindest doch ungewöhnliche Erzählweise, wird dadurch ja der Folgeimperativ freigesetzt, dann im Nachgang zu Nietzsches 175. Geburtstag: Auf die Schiffe, ihr Leser und Leserinnen!

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Teil A: Intention

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Kapitel I

Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit, die als ernstzunehmender Beitrag zur Nietzscheforschung will gelten können

Zur Einstimmung eine kleine Geschichte, und die geht so: Eines Tages, im März 1900, übersandte der damals gerade einmal 43-jährige, weithin unbekannte Wiener Nervenarzt Sigmund Freud ein druckfrisches Exemplar seiner soeben erschienen Traumdeutung auf Anraten seiner Gattin dem damals in Wien weilenden dänischen Nietzscheentdecker Georg Brandes ins Hotel. (vgl. Brandell 1976: 8) Uns soll hier nicht interessieren, was Brandes mit dieser Gabe anstellte, nur: Wäre Freud wenig später, wie Nietzsche, nur drei Monate nach seinem 44. Geburtstag geistig zusammengebrochen, würde heutzutage von ihm, selbst in Wikipedia, wohl allenfalls noch erinnert werden, dass er neben der Bedeutung der Träume die Geschlechtsorgane der Aale und die betäubende Wirkung der Kokapflanze entdeckt habe sowie Ende der 1890er Jahre mit einigen wüsten Theorien über sexualisierte Gewalt im Wiener Bürgertum Furore machte – übrigens gleichsam kritisch gegen Kant, von dem, wäre er gleichfalls schon mit 44 Jahren geistig zusammengebrochen, heutzutage wohl nicht mehr in Erinnerung gebracht werden würde als der Umstand, dass es sich hier um einen Unterbibliothekar der Königsberger Schlossbibliothek gehandelt habe, dessen 1762 vorgelegte Antwort auf eine Preisaufgabe der Berliner Akademie lobende Erwähnung fand. Was folgt aus diesem Beispiel? Dass man sich Nietzscheforscher als glückliche Menschen vorzustellen hat, weil es sie, Kant oder Freud als Maßstab genommen, viel härter hätte treffen können in Sachen Leseaufwand? Oder dass man sich Nietzsche als eine Art Genie aus einer anderen Welt vorzustellen hat? Nietzsche selbst hätte wohl die zweite Antwort bevorzugt, angesichts des fast schon enthemmten Spotts, mit dem er Kant bedachte (vgl. NLex: 189 f.), aber auch im Blick auf den Geniekult, den er um sich trieb. Denn natürlich meinte er mit jenem »Gewitter […], welches mit neuen Blitzen schwanger geht«, sich selbst, ebenso wie mit dem Wort von dem »verhängniss-

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I · Prolegomena

volle[n] Mensch[en], um den es immer grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht.« (V: 235) Freilich: Als Nietzsche dies so niederlegte, stand bei ihm das eigentlich Unheimliche, der Wahnsinn als fast unvermeidbarer Zwilling des Genies, schon ante portas. Und, auch dies wird man an dieser Stelle wohl notieren dürfen: Die Vokabel ›Genie‹ darf fraglos nicht auf jedes einzelne Werk oder jeden einzelnen Satz Nietzsches erstreckt werden. Deutlicher und auf den hier interessierenden Punkt hin gesprochen: Zumal in so manchem Frühwerk Nietzsches ist nicht das Genie (auf eigene Faust) zu bewundern, sondern ein Autor, der sich als Wagnerianer zu beglaubigen sucht und in dieser seiner Eigenschaft nur von der dabei offenbar stattgehabten Vaterübertragung aus begriffen werden kann (vgl. NLex: 390 ff.). Nicht minder prekär und teilweise (gleichfalls) peinlich ist jener späte Nietzsche, dessen Ehrgeiz dahin zu gehen scheint, als politisch inkorrekter Autor zu brillieren – und der auch noch, durchaus unpassend, darüber scherzt, dass er am Ende noch als »medicynisch« (VI: 306) wahrgenommen werden würde, wenn er alles sagte, was er dächte. Sicherlich: Es lohnt sich, diesen Nietzsche, der mit martialischen Parolen im Blick auf (Erb-) Kranke Furore zu machen suchte, auf die Couch zu legen (vgl. Niemeyer 2011: 22 ff.). Dessen ungeachtet lässt dieser Nietzsche Genie vermissen, ebenso wie jener, der eher für Larmoyanz und Geschwätzigkeit steht und, zumal im Zarathustra, in verklausulierter Form von eigenen Lebens- und Liebestragödien handelt, um gleichsam gegen wirkend in Sachen eines zureichend geadelten Begattungs- und Zeugungsstrebens Peinlichkeiten zu Papier zu bringen wie beispielsweise: »Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und deiner Befreiung.« (IV: 90) So betrachtet stimmt die erste Antwort doch, zumindest ein wenig: Man kann sich Nietzscheforscher als glückliche Menschen vorstellen, wenigstens im Blick auf das rein Quantitative. Denn Nietzsches Werk, die Kindheits- und Jugendschriften sowie die Kompositionen außer Betracht gelassen, umfasst zwar einiges: 6 Bände Werke, 7 Bände Nachlass, 8 Bände Briefe (Nietzsches). Aber wenn man das Frühwerk in Abzug bringt oder zumindest doch relativiert, also die zehn letztlich verlorenen Jahre als Altphilologe und als Wagnerianer, Jahre – wie Nietzsche 1888 klagte – »wo ganz eigentlich die E r n ä h r u n g des Geistes bei mir stillgestanden hatte, wo ich nichts Brauchbares hinzugelernt hatte, wo ich unsinnig Viel über einem Krimskrams verstaubter Gelehrsamkeit vergessen hatte« (VI: 325), 22 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

I · Prolegomena

bleibt an wirklich Relevantem nicht mehr gar so viel übrig. Nimmt man nun noch hinzu, dass sich Nietzsche in einer von seiner Schwester unterdrückten Gesprächspassage dagegen verwahrte, dass etwas von ihm herausgegeben würde, »was er selbst [nicht] für die Publication bestimmt und fertig gestellt hätte« (zit. n. Krummel 1988: 488), gibt es gute Gründe, den Leseaufwand weiter einzuschränken, also auch den Nachlass weitgehend außer Betracht zu lassen. Nimmt man noch Nietzsches maßlose Empörung über den vergleichsweise harmlosen Umstand hinzu, dass sein Verleger 1879 ohne Erlaubnis einen Satz von ihm in werblicher Absicht verwendet hatte (5: 395 f.), gibt es insgesamt gute Gründe, bevorzugt über die von Nietzsche zum Druck freigegebenen Werke zu reden und den Nachlass und die ihm zuzurechnenden Abhandlungen nur ganz ausnahmsweise beizuziehen. Freilich: Leseaufwand meint nicht gleich Deutungsaufwand. Und dass dieser erheblich ist, zeigt schon der eigentliche ›Fall Nietzsche‹, also der bereits angesprochene enge Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn, aber auch der Umstand, dass manche Formulierung – etwa aus dem Zarathustra – »dunkel und verborgen und lächerlich« sei »für Jedermann«, weil es um einen »persönlichen Sinn« (6: 525) gehe (den man folglich entschlüsseln können muss). Auf diesen Sachverhalt zielt wohl Nietzsches – für sich gelesen schadenfrohes – Bekenntnis, er tue eben »Alles« dafür, »schwer verstanden zu werden.« (V: 45) Auch dem häufig beklagten Umstand, dass man bei Nietzsche Alles fände, aber auch das Gegenteil zu Allem, hat schon der Meister selbst die Spitze gebrochen mit seiner ebenso koketten wie frivolen Feststellung: »Dieser Denker braucht Niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber.« (II: 662) Um diese vieldeutige Sentenz ins Allgemeine zu wenden: Nietzsches Werk ist schillernd, voller Abgründe und Fallstricke, stilistisch zumeist (aber fraglos nicht immer) brillant, zahllose Erzähl- und Stilformen erprobend, durchsetzt von Fabeln, Rätseln, Gleichnissen – und es stammt von einem Autor, der die Warnung ausgab, dass er sich hier und da möglicherweise widerlege, also absichtsvoll widerspreche. Angesichts dieser Ausgangslage macht es durchaus Sinn, den methodologischen Überlegungen Nietzsches etwas genauer als üblich nachzugehen. Dies ist in der Nietzscheforschung nicht ungewöhnlich (vgl. etwa Müller 1995: 55) und durchaus rechtfertigungsfähig. Ulrich Willers etwa begründete sein diesbezüglich analoges Vorgehen mit dem Autor/Leser-Schema und mithin mit dem Argument, dass 23 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

I · Prolegomena

man auf diese Weise zu dem Leser werde, den der Autor »sich erwünscht und erwirken will.« (Willers 1988: 34) Dabei scheinen Nietzsches Wünsche allerdings, jedenfalls auf den ersten Blick betrachtet, äußerst bescheiden gewesen zu sein. So wünschte er sich beispielsweise einen Leser, der in der Lage ist, »ordentlich zu lesen« (VIII: 411), empfahl also etwas an, »zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ›moderner Mensch‹ sein muss: das Wiederkäuen …« (V: 256) Folgerichtig sang Nietzsche denn auch sein Loblied auf den ›guten Leser‹, einen Leser, »wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen.« (VI: 305) Und er legte Verwahrung ein gegen die ›schlechtesten Leser‹, die »wie plündernde Soldaten verfahren«. (II: 436) Entsprechend definierte Nietzsche ausgesprochen schulmäßig: »Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden, – Thatsachen ablesen können, o h n e sie durch Interpretation zu fälschen, o h n e im Verlangen nach Verständniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren.« (VI: 233) Bis zuletzt blieben dies für Nietzsche achtbare Tugenden, wobei hier außer Betracht bleiben soll, ob Nietzsche selbst sich immer an ihnen orientierte. Über das Bekenntnis zu philologischer Solidität führt Nietzsche dort hinaus, wo er den Typus des ›vollkommenen Lesers‹ in den Blick nahm und definierte als »ein Unthier von Mut und Neugierde […], ein geborner Abenteurer und Entdecker.« (VI: 303) Denn damit ist ein sehr viel stärker die Aktivität des Interpreten fordernder Deutungstypus angesprochen, der sich im Fall Nietzsche vor allem auch deswegen nahelegt, als er sich selbst mit Vorliebe als einen »geborenen Räthselrather« (III: 574), »Seelen-Errather« (V: 222) oder gar »Nussknacker der Seele« (V: 358) sah. Diesem nämlich scheint nur jemand gewachsen zu sein, der sich mit seiner Abenteurer- und Entdeckerfreude in die Komplementärrolle zu begeben weiß. Zu suchen wäre dann, nach der Methode der Ausschaltung unwahrscheinlicher Lesarten in absteigender Folge, jene Interpretation, die das sinnvolle Ganze aus den zunächst unverständlichen einzelnen Bruchstücken zu bilden vermag. Irritierend für das insoweit begründete Vorgehen mag indes ein Satz Nietzsches sein wie der folgende: »Die Herkunft eines Werkes geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten!« (V: 343) Denn dieser Formulierung unterliegt eine gewisse Geringschätzung jener Rolle, der auch der Autor der vorliegenden Arbeit nachzufolgen 24 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

I · Prolegomena

sucht. In der breiten Nietzsche-Literatur der Gegenwart sind denn auch eher gegenläufige, auf den ›Artisten‹ abhebende Selbstzuordnungen beobachtbar. Dabei sieht man sich als Beobachter des Ganzen mitunter in einige Zweifel gestürzt hinsichtlich der Frage, was denn nun zu diskutieren sei, Nietzsche oder der ihn je begleitende ›Artist‹. Befördert wird dieser Zweifel vor allem im Rahmen postmoderner Nietzsche-Kommentare. Bernard Pautrat etwa urteilte: »[J]eder hat schon gesagt, was über Nietzsche zu sagen er Lust hat, und es ist ein Kompromiß zwischen all diesen Lüsten kaum möglich«, ergo: »Ich werde […], ohne weitere Umstände, von dem, was mich interessiert, reden und meine Begierde an der Lektüre realisieren.« (Pautrat 1973: 113) Wer hier meint, dieses Zitat sei ja schon recht alt, die Postmoderne hingegen neueren Datums, dem sei hier entgegengehalten: Ich kenne noch weit ältere Texte, etwa aus 1910 das Argument des österreichischen Schriftstellers Wilhelm Fischer (genannt »Fischer in Graz«), dass ihm Nietzsches »aphoristische Denkart nicht eine systematisch zusammenhängende Darstellung« abverlange, ergo: »Ich knüpfe daher in seiner Weise an, wo es mir interessant erscheint, und lasse den Faden fallen, wo es nichts mehr nach meiner Anschauung zu weben gibt. Auch Wiederholungen, Widersprüche werden bei mir nicht ausgeschlossen sein; die Berechtigung dazu schöpfe ich aus Nietzsche selbst.« (Fischer 1910: 2) Heißt? Nun wie wäre es mit: Lesefaule hat es schon immer gegeben, vergleichsweise neu ist allerdings der Trick, aus dieser Not eine Tugend zu machen, behängt mit dem Schild: »Postmoderne«? Zumal sich diese Untugend und die ihr unterliegende kaum verborgene Identifizierung mit dem heimlichen Selbstideal prächtig mittels der Vorstellung drapieren lässt, dass, weil nichts mehr gewiß sei, den Leser doch immerhin interessieren könne, wie man sich selbst seinen höchst privaten Nietzsche zurechtgebastelt habe? Positiv gewendet: Im Gegenzug zu derlei Narzißmen wird der Autor der vorliegenden Arbeit Nietzsche (wieder) der öffentlichen Rede zuzuführen suchen, im Blick auf ein Gesamtwerk, das im folgenden Kapitel erst einmal, primär referierend und nebenbei hin und wieder schon problematisierend, seinen maßgebenden Zügen nach vorgestellt sei. Das leitende Prinzip ist dabei, dass nicht alles wichtig ist 1 und nicht überall, wo ›Nietzsche‹ draufsteht, Original-Nietzsche drin ist, man also nicht wirklich um es wissen muss. Dazu gehört 1

Dazu rechnet Der Fall Wagner (1888), aber auch Kompendien wie Nietzsche contra

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I · Prolegomena

allererst Der Wille zur Macht, eine Textkompilation, für die FörsterNietzsche aus ziemlich unbedachter Tantiemengeilheit sich ihre Urheberschaft gerichtlich bescheinigen ließ. (vgl. Fiebig 2018) Leitend zwecks Organisation der im Folgenden gebotenen kleinen Werkschau in drei Teilen war des Weiteren die Frage, ob man der Werkvielfalt nicht mittels Unterscheidungen Einheitsstiftendes abgewinnen könne, etwa, so in neueren Einführungen (etwa Schönherr-Mann 2008: 7 f.; 112), durch Trennung zwischen ›Frühwerk‹ und ›Spätwerk‹, mit der Rubrizierung von Menschliches, Allzumenschliches (I) (1878) und Menschliches, Allzumenschliches II – mit Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) sowie Der Wanderer und sein Schatten (1880) – unter Ersterem. Meine Antwort hierzu à la Radio Eriwan: Im Prinzip ja – aber nicht so: Jene insgesamt drei Aphorismensammlungen sind nicht ›Frühwerk‹, sondern sie gehören, zusammen mit Morgenröthe (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882), einer eigenen, ›mittleren‹ Werkphase an. Dem ›Frühwerk‹ hingegen sind allein die bis 1876 erschienenen Arbeiten (sowie der Nachlass aus dieser Zeit) zuzurechnen, insbesondere also Die Geburt der Tragödie (1872) sowie die vier Unzeitgemässen Betrachtungen (1873–1876). Was bleibt – also alles ab Also sprach Zarathustra (I) (1883) – ist ›Spätwerk‹. Wer hier noch zweifelt und Kontinuität meint behaupten zu dürfen, sollte beachten, dass Nietzsche 1888 den Sammelrezensenten Carl Spitteler für die »Sicherheit des ästhetischen Taktes« lobte, »mit der er die Form der verschiedenen Bücher und Epochen von einander abhebt.« (8: 244) Zu beachten ist des Weiteren, dass Nietzsche sein Frühwerk – unter Einschluss seiner Baseler Antrittsrede – 1885 unter der (pejorativ gemeinten) Rubrik »E r s t l i n g e « (XI: 669) auflistete. Entscheidend aber ist: Das Frühwerk unterscheidet sich fundamental von allen anderen Werkphasen vor allem wegen Nietzsches abfälligem Urteilen über selbiges – wie gleich zu Beginn anhand unseres damit naheliegendenden ersten Gliederungspunktes (die beiden weiteren gelten dem ›mittleren‹ [Kap. III.] wie ›späten‹ [Kap. IV] Nietzsche) dokumentiert sei.

Wagner (1888) – von Nietzsche selbst in letzter Sekunde ad acta gelegt (vgl. Christoph Landerer in NLex: 278).

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Kapitel II

Der ›frühe‹ Nietzsche, hier: »Wagners Nietzsche«

Unter den zahlreichen Äußerungen Nietzsches über den ›frühen‹ Nietzsche, hier zugleich als Rechtfertigung genommen, für das Frühwerk das Attribut ›Wagners Nietzsche‹ zu wählen und es zur Makulatur zu erklären, ragen die folgenden, in der Nietzscheforschung kaum beachteten Sätze von 1885/86 aus dem Entwurf einer nie fertig gestellten ›neuen‹ Unzeitgemässen Betrachtung hervor: »Man verehrt und verachtet in jungen Jahren wie ein Narr und bringt wohl seine zartesten und höchsten Gefühle zur Auslegung von Menschen und Dingen dar, welche nicht zu uns gehören, so wenig als wir zu ihnen gehören […]. Später, wo man stärker, tiefer, auch ›wahrhaftiger‹ geworden ist, erschrickt man zu entdecken, wie wenig man damals die Augen offen gehabt hat, als man auf diesen Altären opferte.« (XI: 669 f.)

Was dieses Statement prägt, ebenso der Zusatz, er habe damals »im Geheimen« angefangen, »über Richard Wagner zu lachen«, aber, da er noch nicht aufgehört hatte, ihn zu lieben, habe ihn sein eigenes Gelächter »noch in’s Herz« gebissen, »wie es zur Geschichte eines Jeden gehört, der von seinem eigenen Lehrer unabhängig wird und endlich seinen eigenen Weg findet« (XI: 671), ist die nachträgliche, staunend registrierte Verzweiflung ob des ›frühen‹ Nietzsche, der den ›späten‹ fast schon sprachlos macht wegen dessen unkritischer Wagnerverehrung. Nicht zu vergessen, und dies nun ist für das Folgende zentral: Was ausgehend von derartigen Sätzen gar nicht geht, ist eine Position wie jene Werner Stegmaiers, der, im Einvernehmen mit einflussreichen Strömungen der Nietzscheforschung, dafürhält, Nietzsche habe »schon in seinen frühen Schriften zu der ›Aufgabe‹, den wichtigsten Thema und leitenden Unterscheidungen seines Philosophierens gefunden.« (Stegmaier 2011: 210) Ganz ähnlich heißt es in einer noch recht frischen Dissertation:

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II · Der ›frühe‹ Nietzsche, hier: »Wagners Nietzsche«

»Die Tragödienschrift ist – stellvertretend für den gesamten frühen Nietzsche – der notwendige Ausgangspunkt seines Denkens, ohne den der Fortgang seines Schaffens und damit seine gesamte Philosophie nicht adäquat verstanden werden können.« (Kast 2019: 41)

Somit kann das Folgende durchaus auch als (weiterer) Versuch gedeutet werden 2, auch diese Zweiflerin, Christina Kast, wenigstens doch diesmal vom Gegenteil zu überzeugen, zumindest aber doch davon, dass man um die Bedeutung Wagners für den ›frühen‹ Nietzsche wissen muss und um die guten Gründe, diesem eine Sonderrolle zuzuschreiben, ebenso wie jenem Nietzsche, der dessen Einfluss vorübergehend erlag und Ungeheuerlichkeiten und, in einem Entwurf zum Vo r w o r t a n R i c h a r d W a g n e r, Absurditäten zu Papier brachte wie etwa: »Weder der Staat, noch das Volk, noch die Menschheit sind ihrer selbst wegen da, sondern in ihren Spitzen, in den großen ›Einzelnen‹, den Heiligen und den Künstlern liegt das Ziel.« (VII: 354)

Wenige Wochen zuvor hatte sich Nietzsche diese Quintessenz in einer privaten Niederschrift gleichsam als Auftrag in eigener Sache vorgelegt:

Der 2012 erschiene Heidelberger Kommentar von Jochen Schmidt zur Geburt der Tragödie referiert unter der Überschrift Der Stellenwert der Tragödienschrift in Nietzsche Gesamtwerk in beide Richtungen weisende Geltungsgründe, also »einige auffallende Kontinuitäten und eine große Zahl aufschlußreicher Diskontinuitäten im Verhältnis der Erstlingsschrift zu N.s späteren Werken« (Schmidt 2012: 62), was zugleich meint: ›Diskontinuitäten‹ überwiegen bei weitem, gruppiert etwa um den von Schmidt (ebd.: 64) in Erinnerung gebrachten 1878er Vorwurf Nietzsches, der Geist von Wagners Musik führe »den allerletzten Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung« (II: 451), bis hin zu Nietzsche gleichfalls von Schmidt (2012: 400) angeführter 1884er Kritik an Wagners »falschem Germanenthum.« (XI: 244). Konterkariert wird das Ganze aber von dem von Schmidt (2012: 19, 78 f.) referierten, eher auf Kontinuität hinweisenden Argument aus Ecce homo, er, Nietzsche, habe in GT mit dem »Verständnis des d i o n y s i s c h e n Phänomens« auch »dessen erste Psychologie« (VI: 310) gegeben. Wie es insbesondere zu diesem letzten Bewertungswechsel kam, lässt Schmidt offen, positiv reformuliert: Er will offenbar zumindest in dieser Frage kein Leserurteil vorgeben, sondern es, durch Bereitstellung von möglichst viel Material, ermöglichen. Nicht zu diesem Material gehört aber beispielsweise das eben beigezogene Argument Nietzsches von 1885/86, so dass nichts gegen die hier verfochtene Lesart spricht, das in der Summe auf das Urteil Diskontinuität hinausläuft und auf den Befund, wer von GT redet oder gar von diesem Werk schwärmt, thematisiert nicht Nietzsche, sondern »Wagners Nietzsche«.

2

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II · Der ›frühe‹ Nietzsche, hier: »Wagners Nietzsche«

»[J]eder Mensch, mit seiner gesammten Thätigkeit, hat nur so viel Würde als er, bewußt oder unbewußtes Werkzeug des Genius ist.« (VII: 348)

So weit Nietzsche damals, mit 26 Jahren, noch die »Sprache des Fanatismus« (IX: 47) sprechend und – mit einem selbstironischen Wort Nietzsches vom Sommer 1880 geredet (vgl. Kap. XII) – weniger einem Menschen denn einem Huhn gleichend, dem »ein Stück Gehirn« ausgeschnitten wurde und das nun »halbtrunken und schwankend die Reflexbewegungen der Anbetung« (IX: 159) ausführt. Damit ist eigentlich schon das Urteil gefällt über die ›Tragödienschrift‹, also Nietzsches ›Erstling‹ Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872). Von Wagners Verleger veröffentlicht, lässt dieses Buch schon bis in die Aufmachung hinein erkennen, dass Nietzsche damals begeisterter Wagnerianer war und als solcher Wert legte auf die Ausstattung »genau nach dem Muster von Wagners ›Bestimmung der Oper‹.« (3: 243) Inhaltlich orientierte sich Nietzsche an Wagners »herrliche[r] Festschrift« (I: 23) Beethoven (1870) und mithin an dem hier angestimmten Loblied auf den deutschen »Weltbeglücker« (Beethoven), dem der erste Rang vor dem deutschen »Welteroberer« (GSD 9: 126) zugebilligt wird. Von hier aus erscheint dann auch die von Wagner popularisierte Figur des ›deutschen Jünglings‹ (GSD 8: 36) in einem fahlen Licht, ebenso wie deren Adaptation bei Nietzsche, dies verbunden mit dem Auftrag, für die »W i e d e rg e b u r t d e s d e u t s c h e n M y t h u s « (I: 147) Sorge zu tragen, und dies getragen von der Hoffnung, dass der deutsche Geist sich eines Tages wach finden werde, »in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er die Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken – und Wotan’s Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können!« (I: 154) Trotz derlei (verdeckt) antisemitischer Töne kann man Nietzsches GT allerdings nicht in toto als eine völkische Programmschrift lesen. So redet Nietzsche an einigen Stellen ›nur‹ vom Wiedergewinn »der metaphysischen Bedeutung des Lebens« (I: 148) – also ohne das Attribut ›deutsch‹. Er scheint dabei getragen von dem Ziel, mittels des Rekurses auf Dionysos als Gott der Ekstase und als Gegenspieler des die Natur zu Ordnung und Schönheit bändigenden Apollon eine Kategorie für Fortschritts- und Vernunftkritik und eine Chiffre für eine Art neuer Empfindsamkeit respektive für das durch Wagners Schaffen ausgelöste rauschhafte Musikempfinden verfügbar zu machen. In dieser Lesart stand das Apollinische für so etwas wie eine Art Toten29 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

II · Der ›frühe‹ Nietzsche, hier: »Wagners Nietzsche«

starre des Lebens. Im weiteren Fortgang machte Nietzsche Staat und Erziehung als potentiell repressive Mächte aus, unter deren Herrschaft allein der ›sokratische‹ respektive ›theoretische‹ Mensch gedeihe. Die ihn kennzeichnenden Attribute – »der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet« (I: 120) – lassen an Nietzsches Lehrer Friedrich Wilhelm Ritschl (1806–1876) denken. Folgenreich wurde derlei Kritik im Zuge der um 1900 anhebenden reformpädagogischen Philologie- und Philologenkritik. Nietzsches Gegenentwurf zur ›sokratischen‹ Kultur, ›tragische‹ Kultur genannt, entwickelt sich aus seiner grundlegend kritischen Stellung zu Sokrates (469–399 v. Chr.) als Stammvater einer Epoche wie jener Nietzsches, die Vernunft und Wissenschaft zur Herrschaft zu bringen suche, keine Mythen mehr kenne und die sich insgesamt als misslungenes Unterfangen lesen lasse, »das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen.« (I: 99) Entsprechend auch sah sich der frühe Nietzsche weniger als ein den Ideen der Aufklärung verpflichteter Jünger der Wahrheit denn als ein von Wagner ermunterter Exponent der über sich selbst zu Bewusstsein gelangten griechischen Antike. Nietzsches Programm bestand entsprechend darin, die als dionysisch gefasste ›künstlerische Kultur‹ zu stärken, um sie der apollinisch strukturierten, auf Erkenntnis, Wissenschaft und Wahrheit setzenden Gegenwart als andere, bessere Seite entgegenhalten zu können. Dahinter verbarg sich eine Art Weckruf an seine eigene Generation, für welche Nietzsche im Blick auf das Gelehrtenideal des ›sokratischen‹ Menschen Freisetzung forderte, aber auch eine neue Bindung auf der Ebene der Gemeinschaft stiftenden Erhabenheit dionysischen Musikempfindens. Exemplarisch verdeutlicht dies der den Höhepunkt von GT markierende Ausruf: »Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden.« (I: 132)

Derlei Emphase war dem Erfolg von Nietzsches Erstling eher abträglich. Nietzsche selbst wurde erst 1886 hellsichtig und urteilte, endlich: »[H]eute ist es mir ein unmögliches Buch, – ich heisse es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit […].« (I: 14)

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II · Der ›frühe‹ Nietzsche, hier: »Wagners Nietzsche«

Außerdem – so Nietzsche in dieser seiner ›Selbstkritik‹ weiter – habe er sich mit GT »einer Autorität und eignen Verehrung« (I: 13) – lies: Wagner […] – und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist […] eben letztwillig und endgültig a b d a n k t e . « (I: 20) Leider blieb dies, wie das Beispiel Ecce homo lehrt, nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit, mit der zuletzt im Fall Christina Kast (2019) zu besichtigenden Folge, dass bis auf den heutigen Tag letztlich nicht nachvollziehbare positive Wertschätzungen dieser Schrift vorliegen, die in der Regel jenen Abgesang auf GT ignorieren, der sich in dem Satz (aus Die fröhliche Wissenschaft) verbirgt: »Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l i c h . « (III: 464)

Die Hervorhebung war gewollt und der Sache nach notwendig, bringt sie doch zum Ausdruck, dass die Kunst in Sachen der von Nietzsche in GT noch erhofften Rechtfertigung des Daseins ausgespielt hat. Auch die Stileinheitsforderung, die Nietzsche noch in GT vehement vertrat und auf die Einheitlichkeit eines im deutschen Volk sich entäußernden Kulturwillens bezog, hat nun ausgespielt zugunsten des Hohen Liedes auf das Individuum, das selbst entscheiden muss, was ihm als stilprägend zusagt – und dem der Weg zurück zur gedanklichen Welt der GT unpassierbar geworden ist, gemäß Zarathustras kaum verklausulierten Spott auf Nietzsche, der in seiner Geburt der Tragödie »gleich allen Hinterweltlern« (sprich: Metaphysikern), »seinen Wahn jenseits des Menschen« (IV: 35) geworfen habe. Von selbstkritischen Einsichten dieses Kaliber weit entfernt sind auch Nietzsches Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), die in dieser kleinen Werkschau eigentlich nichts zu suchen haben, hatte sie doch sein Urheber im Zuge seiner allmählich anhebenden Neuorientierung im Februar 1873, als »primitiv« (4: 127) erkannt und für undruckbar erklärt 3 – sehr zu Recht übrigens. Umso gravierender ist der Erklärungsdruck, der auf der Schwester (und ihren Verteidigern!) lastet, insofern sie diese Vorträge ungeachtet von Nietzsches Gebot 1894/95 erstmals veröffentlichte und damit Nietzsches Image in der Pädagogik nachhaltig

Dies ist aus Perspektive der Nietzscheforschung der entscheidende Punkt, der bezeichnenderweise von all jenen ignoriert oder einseitig als »biographisch« und »formvergessen« diffamiert wird, die wie etwa Stravros Patoussis (2017: 123) aus ihrer Freude über diesen Text und seine Vielgestaltigkeit keinen Hehl machen.

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beschädigte, ja: seiner nazifizierenden Indienststellung als eines elitären Bildungsphilosophen Vorschub leistete. (vgl. Niemeyer 2011: 90 ff.) Dabei ist durchaus einzuräumen, dass man die ›Bildungsvorträge‹, oberflächlich betrachtet, als Zeugnis lesen könnte für eine Epoche, die eine immer stärkere Spezialisierung der Wissensformen kannte und in der folglich der Bildungswert von Philosophie und Kultur und mithin der Status der Allgemeinbildung verloren zu gehen drohte zugunsten von so etwas wie »Halbbildung« (Adorno). Entsprechend scheint Nietzsches Konsequenz nachvollziehbar, dass von »Bildungsanstalten« dort nicht zu reden sei, wo »Amt« oder »Brodgewinn« (I: 715) angestrebt werde. Aber man darf nicht übersehen, dass es Nietzsche um mehr ging: um die im Dienste Wagners erhobene bildungspolitische Forderung, »an der aristokratischen Natur des Geistes« festzuhalten und eine »Ordnung im Reiche des Intellekts« zu verteidigen, deren Umsturz durch Volksbildungsbestrebungen bevorstehe, wenn man nicht gegensteuere nach dem Muster: »[N]icht Bildung der Masse kann unser Ziel sein: sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen.« (I: 698)

Damit hatte Nietzsche sich seinen – zumal infolge von Förster-Nietzsches Präsentation dieses Werkes um sich greifenden – Ruf als elitärer Bildungsphilosoph wahrhaft redlich erarbeitet, und zwar in der (nicht unberechtigten) Annahme, derlei träfe bei Wagner auf Zustimmung. Hoffnungen dieser Art trieben ihn auch um während der Erstellung von: Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873), eine Art Auftragsarbeit Wagner, die Nietzsche am liebsten denn auch nur unter Pseudonym veröffentlicht hätte. (vgl. Niemeyer 2011: 95 ff.). Dass Nietzsche seinen – wie er es 1886 nennen wird – »zornige[n] Ausbruch gegen die Deutschthümelei, Behäbigkeit und Sprach-Verlumpung des alt gewordenen David Strauss« (II: 369) später gleichwohl immer wieder mit Selbstgefälligkeit erwähnte und, wie im Prolog bereits angesprochen, in Ecce Homo über Seiten hinweg in höchsten Tönen loben wird, kann kein Gegenargument sein, sondern bezeugt eher die hagiographischen Motive, für die gerade diese späte Autobiographie berühmt-berüchtigt ist. Von ganz anderem Charakter ist: Unzeitgemässe Betrachtun32 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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gen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874). Nietzsche skizziert hier das Konzept ›kritischer‹ Historie und dies im Vertrauen auf die Jugend, die in ihrer Besonderheit und mit ihrem eigenschöpferischen und eigensinnigen Potenzial zur Geltung gebracht wird. Wagner war zwar begeistert (KGB II 4: 396), hatte aber offenbar übersehen, dass Nietzsche die Vokabel »Drachentödter« aus GT (s. I: 119) ebenso mied wie die in ihr angelegte Anspielung auf Wagners Siegfried-Mythos, ja mehr als dies: Auch von der notwendigen »W i e d e r g e b u r t d e s d e u t s c h e n M y t h u s « (I: 147) ist nun nicht mehr die Rede. Dies erklärt sich im Wesentlichen aus Nietzsches Siegfried – wir werden darauf zurückkommen (vgl. Kap. X) –, aber auch aus Nietzsches Begriff von Historie, den man in Kontrast sehen muss zur Geschichtsphilosophie Hegels und der durch sie forcierten Betrachtungsart. Sie, so Nietzsche, habe die Deutschen daran gewöhnt, »die eigne Zeit als das nothwendige Resultat d[es] Weltprozesses zu rechtfertigen« (I: 308), mit lächerlichem Ergebnis: »Der H e g e l s c h e ›Weltprozess‹ verlief sich in einen fetten preussischen Staat mit guter Polizei.« (VII: 650) Man sieht schon hier: Nietzsche war es nicht primär um Hegel denn um dessen Wirkung zu tun, etwa nach dem Kanon: »Wer aber erst gelernt hat, vor der ›Macht der Geschichte‹ den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein ›Ja‹ zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität.« (I: 309) Nietzsches (frühe) Verachtung der Massen klingt hier durch, verbunden mit der Forderung nach Befreiung von Herrschaft angesichts einer auf den Sinn ›an sich‹ abstellenden Geschichtsmetaphysik wie jener Hegels, die in Nietzsches Sicht nur eine in besonders grundlegender Form lähmende Variante historischer Bildung ist. Für jene gilt insoweit auch, was Nietzsche für diese sagt und als zentrale Lektion des jungen Menschen ausweist und damit zugleich an den Pranger stellt: »Jetzt weiss er es: in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist.« (I: 299 f.) Der Gegenentwurf ist darin bereits angelegt: Es ging Nietzsche um ein Konzept von Historie und historischer Bildung, dem die Botschaft innewohnt, dass es sehr wohl darauf ankommt, ›wie du bist‹. Ein derartiges Konzept verbirgt sich hinter dem Ausdruck ›kritische Historie‹, das Nietzsche, ausgehend von der Annahme einer »Dreiheit von Arten der Historie« (I: 258), von der ›antiquarischen‹ ebenso absetzt wie von der ›monumentalischen‹ (beide begriffen als Verfalls33 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

II · Der ›frühe‹ Nietzsche, hier: »Wagners Nietzsche«

formen). Harsch ist dabei vor allem Nietzsches Kritik an der letztgenannten Form von Historie, die nicht auf ein Werdendes, sondern nur auf ein Gewordenes reflektiere. Zu verachten sei vor allem die Wirkung etwa der »monumentalische[n] Künstlerhistorie« auf »die unkünstlerischen und schwachkünstlerischen Naturen«; sie würden, »geharnischt« durch die ihnen in erzieherischer Absicht vorgetragene Größe anderer, ihre Waffen richten »[g]egen ihre Erbfeinde, die starken Kunstgeister […]. Denen wird der Weg verlegt; denen wird die Luft verfinstert.« (I: 263) Etwas anders geartet war Nietzsches Kritik an der »antiquarischen Historie«. Schon das Adjektiv, nicht minder das Wort von den »›Greise[n]‹ der Gegenwart« (I: 331), lässt einen an Nietzsches Mentor Ritschl denken, ebenso wie der Spott auf »das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwuth, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen.« (I: 268) In dieser Logik, so Nietzsche weiter, resultiere »keine wirkliche Bildung, sondern nur eine Art Wissen um die Bildung« (I: 273), mehr als dies: »Sie [die antiquarische Historie; d. Verf.] versteht eben allein Leben zu b e w a h r e n , nicht zu zeugen; deshalb unterschätzt sie immer das Werdende.« (I: 268) Heißt, auf den Subtext hin bedacht: Nietzsche hält Ritschl hier vor, ihn, den Werdenden, unterschätzt und einen dritten Weg verkannt zu haben, eine ›kritische‹ Geschichtsschreibung, die zu unterscheiden vermag, was des Gedächtnisses wert ist und was nicht und wo es nottut, im Interesse des Neuen das Bewahren und Erinnern zu begrenzen und das Vergessen in Geltung zu setzen. Zusammenfassend betrachtet steht HL für einen Paradigmenwechsel zuungunsten von Bewusstseinsphilosophie und Kulturpädagogik und zugunsten von so etwas wie Lebensphilosophie, entsprechend des gegen Descartes’ ›cogito, ergo sum‹ geltend gemachten legendären Schlachtrufs ›vivo, ergo cogito‹, auf gut deutsch: »Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen!« (I: 329) Zutage tritt damit erstmals dasjenige, was in der Folge für Nietzsche dominant werden wird: die Option eines – dann auch kosmopolitisch angelegten – Begriffs kultureller Vielfalt, der erwartet wird von Menschen, die sich in ihrer eigenen Lebensführung ›monumental‹ auszulegen verstehen und nicht mehr unterjocht werden durch die kulturelle Überlieferung. Menschen dieser Art galt auch Nietzsches Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher (1874). Viele Jahre später, in Ecce homo, urteilte Nietzsche über dieses Werk, 34 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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ihm sei seine »innerste Geschichte«, sein »W e r d e n eingeschrieben«, hier komme »im Grunde nicht ›Schopenhauer als Erzieher‹, sondern sein G e g e n s a t z , ›Nietzsche als Erzieher‹, zu Worte.« (VI: 320) Wenn dies zutrifft, wird man SE im Blick auf die in ihr sich offenbarende Suchbewegung ihres Autors hin auf sich selbst zu deuten und dabei zu beachten haben, inwieweit Nietzsche hier erstmals einen Begriff von sich als – erzieherisch ambitionierter – Philosoph gibt, und zwar unter Ratgeberschaft seines zweiten Jugendidols neben Wagner. Auszugehen ist dabei von einer frühen, durchaus auch psychologisch aufschlussreichen Schopenhauer-Idolatrie Nietzsches, die sich noch in der beiläufigen Bemerkung bezeugt: »Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun Jahren.« (I: 346) Die Worte ›vor neun Jahren‹ weisen den Leser hin auf das berühmt-berüchtigte ›Schopenhauer-Erlebnis‹ vom Herbst 1865 (vgl. Landmann 1951), dem eine – von Marco Brusotti (2018: 107 ff.) ignorierte – Dramatik eignet wegen des engen Zusammenhangs mit einer mutmaßlich auf Nietzsches Syphilisansteckung hinweisenden Bonner Episode. (vgl. Niemeyer 2017: 183 ff.) Inhaltlich wirkt es in SE in Gestalt der Frage nach, ob das Leben nicht »trostund sinnlos« (I: 338) sei. Eine Variante dieser Klage, erkennbar forciert durch Schopenhauers Polemik Ueber die Universitäts-Philosophie, lässt Nietzsche angehen gegen das »lässige Einhergehen in erborgten Manieren und übergehängten Meinungen« (I: 337), am Beispiel Kant: Er »hielt an der Universität fest, unterwarf sich den Regierungen, blieb in dem Scheine eines religiösen Glaubens, ertrug es unter Collegen« – und brachte es folgerichtig nur zu einer »Professorenphilosophie.« Von dieser simplen Überlegung ausgehend war die Gesamtrechnung rasch erstellt: »Schopenhauer macht mit den gelehrten Kasten wenig Umstände, separirt sich, erstrebt Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft« (I: 351) – und wurde allein deswegen zum Idol jenes jungen Baseler Philologieprofessors namens Nietzsche, weil es diesen seinerzeit, krankheitshalber, danach dürstete, sich zu separieren. Über seinen Fall hinausgedacht, rief Nietzsche dazu auf, dafür Sorge zu tragen, dass die Gegenwart von kommenden Generationen nicht »aus der Geschichte der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird.« (I: 338) Entsprechend dieser eher ›linken‹ Agenda ist der Fokus nun ein anderer als etwa in der Geburt der Tragödie: Es steht nicht mehr ›das Deutsche‹ gegen ›das Ausländische‹, sondern der Topos »Bürger dieser Zeit« (I: 339) gegen den anderen: den des 35 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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›Unzeitgemässen‹, des sich als Avantgarde Verstehenden, dem die »Abwesenheit einer deutschen Kultur« (I: 392) zum Anlass wird, nun erstmals – so Nietzsche voller Stolz noch in Ecce homo – sein »M i s s t r a u e n gegen den deutschen Charakter« (VI: 362) auszusprechen. Nietzsches Ausganspunkt ist dabei seine Beobachtung, dass es offenbar eine universelle »Eigenschaft der Menschen« gäbe, nämlich den »Hang zur Faulheit.« Ähnlich hatte schon Kant die Sache in Was ist Aufklärung? (1784) gesehen, Nietzsche allerdings setzte einen anderen Akzent: »Manchen wird es dünken, er hätte richtiger und gültiger gesagt: sie [die Menschen; d. Verf.] sind alle furchtsam. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen.« (I: 337) Damit hatte er seine Nähe zu Kant betont, aber auch seinen Gegensatz zu ihm angedeutet: eben in Gestalt jenes hiermit skizzierten Programms, dem zufolge die Gründe für die so zu verstehende Furchtsamkeit des Menschen genauer zu analysieren seien, und zwar dies in Richtung einer Menschenkunde, die in der Linie des Anti-Psychologen Kant nicht zu entwickeln war, wohl aber in der Linie des Kantkritikers Schopenhauer. Aber nicht nur diese Einsicht verdankte Nietzsche Schopenhauer, sondern auch jene Frage, die er in die schlichte Form bündelte: »Wie kann sich der Mensch kennen?« (I: 340) Schon Schopenhauer hatte in Die Welt als Wille und Vorstellung gegen Kant gehalten: »Wir werden überhaupt ganz und gar nicht von Sollen reden«, um zu folgern: »Unser philosophisches Bestreben kann bloß dahin gehen, das Handeln des Menschen […] zu deuten und zu erklären.« (SW I: 358 f.) Bemerkenswert ist allerdings, dass sich Nietzsche in Sachen des damit markierten Forschungsprogramms, dem die Absage an Metaphysik inhärent ist, zunächst noch sehr zurückhaltend äußert und eher der Entbehrlichkeit von Menschenkunde das Wort redet, auch, weil man ja auf sein eigenes Leben zurückschauen und sich fragen könne: »[W]as hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt?« Diese Fragehaltung, dieser Blick zurück und in die Tiefe – so Nietzsches gleichsam letzte Ausflucht –, sei auch deswegen entbehrlich, weil gelte: »[D]ein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst.« (I: 340 f.) Nietzsche ist diese (metaphysische) Antwort im weiteren Fortgang seiner Entwicklung zunehmend fraglich geworden, im Gleichklang mit seinen Erkenntnisfortschritten als Menschenkundler und Psychologe, als – wie er es 1886 36 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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im Rückblick auf Menschliches, Allzumenschliches formulieren wird – »Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die ›Mensch‹ heisst, als Ausmesser jedes ›Höher‹ und ›Uebereinander‹, das gleichfalls ›Mensch‹ heisst.« (II: 21) Insoweit gilt, als Fazit: Erst infolge des hiermit greifenden Forschungsprogramms wird Nietzsche die Ernte einfahren, die er Schopenhauer schon 1874 hätte entnehmen können – wenn er ihn damals schon als Erzieher auch in Sachen Psychologie genutzt hätte. Insoweit ist SE eine typische Schrift des Übergangs, was ihren unfertigen und unentschlossenen Charakter erklären mag. Was dem noch folgt nach langer Zeit des Zögerns, Haderns und Neuorientierens, für das insbesondere der Nachlass dieser Zeit Zeugnis gibt sowie das dem Nachlass zugehörende Ineditum Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) – das uns noch separat beschäftigen wird (vgl. Kap. V/1) – ist die ›Festspielschrift‹ Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth (1876). Freilich: Auch im Fall dieser etwas peinlich berührenden, langatmigen und über weite Strecken unkritischen Ode auf Wagner hätte Nietzsche fraglos besser daran getan, sich an sein auf eine Vorabfassung bezogenes Urteil zu halten: »›Richard W. in Bayreuth‹ wird nicht gedruckt, sie ist fast fertig, ich bin aber weit hinter dem zurück geblieben, was ich von mir fordere.« (5: 119) Sprechend im Blick auf die Gemütsverfassung Nietzsches in jener Phase – 1876, während der ersten Bayreuther Festspiele, als deren geistige Krönung UB IV, die ›Festspielschrift‹, gedacht war, trat der Bruch zwischen Wagner und Nietzsche offen zutage, – ist ein Brief Nietzsches an Erwin Rohde von Mitte Juli 1882, in welchem er als »einzige Entschuldigung für diese Art von Litteratur, wie ich sie seit 1876 mache«, den Umstand aufruft, er sei einer »selbstgebraute[n] Arzenei gegen den Lebens-Überdruß« (6: 226) bedürftig gewesen. Heißt: ›LebensÜberdruss‹ als Effekt ist die Headline über Nietzsches Wagnerära – spannend also, weiter zu fragen, wie die Headline ›Arznei‹ über der nun folgenden Phase genau auszubuchstabieren ist.

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Kapitel III

Der ›mittlere‹ Nietzsche, hier: »Nietzsches Nietzsche«

Die Entscheidung, von einer neuen Phase in Nietzsches Schaffen zu reden, lässt sich dem Umstand abgewinnen, dass Nietzsche 1882 seine Aphorismensammlung Die fröhliche Wissenschaft mit dem Vermerk herausgehen ließ, hiermit käme eine Reihe von Schriften zum Abschluss, die mit Menschliches, Allzumenschliches begonnen habe und deren gemeinsames Ziel es sei, »e i n n e u e s B i l d u n d I d e a l d e s F r e i g e i s t e s aufzustellen.« (zit. n. Schaberg 2002: 121) Der Entscheid, diese Phase mittels der Vokabel »Nietzsches Nietzsche« – und nicht nur mit dem gängigen Attribut ›mittlerer‹ Nietzsche – zu belegen, ergibt sich zwanglos aus Karl Schlechtas Forderung von 1957, es sei an der Zeit, »sich das Selbstverständnis des späteren Nietzsche zu eigen zu machen und das eigentliche Werk mit ›Menschliches, Allzumenschliches‹ beginnen zu lassen.« (Schlechta 1957: 90) Gewiss: 1957 ist lange her und Schlechta nicht jedem wegen seiner NS-Verstrickung eine gute Adresse. Wie aber wäre es ersatzweise mit 1982 und dem Namen Mazzino Montinari? Deutlicher: Dieser unumstrittene Nestor der neueren Nietzscheforschung hat ganz wie Schlechta den »›echten‹, zu sich selbst […] zurückgekommenen Nietzsche« im »antimythischen, antiromantischen, antiwagnerschen Nietzsche« (Montinari 1982: 56) erblickt, kurz: im Nietzsche, wie er zum ersten Mal mit Menschliches, Allzumenschliches hervortritt, hier, im Einvernehmen mit einem 2013 ausführlich begründeten Sprachregelungsvorschlag (vgl. Niemeyer 2013: 9 ff.), »Nietzsches Nietzsche« geheißen. Typisch für diesen: Die Nutzung des Aphorismus als der Nietzsches Anliegen als auch seinen Lebensumständen gegenüber angemessene Redeform. Sie ersetzt die vor allem in den Unzeitgemässen Betrachtungen praktizierte, auf Überzeugung des Lesers abstellende Rhetorik durch eine, die den Leser in ganz besonderer Weise als Exegeten fordert. Nietzsche wird hierzu Jahre später erläuternd nachtragen:

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III · Der ›mittlere‹ Nietzsche, hier: »Nietzsches Nietzsche«

»In Aphorismenbüchern gleich den meinigen stehen zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten.« (XI: 579)

Eingeklagt hatte Nietzsche hiermit den aktiven Interpreten, der als Rätsel-Löser aufzutreten vermag. Inhaltlich gesehen geschieht dies zunächst anhand einer Thematik, die Nietzsche bisher nur am Rande interessiert hatte: »die psychologische Beobachtung.« (II: 57) Charakterisiert ist mit dieser Bezeichnung Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1878), das – wie man vielleicht sagen darf – Gründungsmanifest der Freigeistepoche, das, ehe es das sein kann, allererst als Anti-Wagner-Kampfschrift gelesen werden muss. Unmissverständlich ist in dieser Frage der 1876/77 verfasste Entwurf einer Art Vorrede für diese Aphorismensammlung, in der es heißt: »Lesern meiner früheren Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß ich die metaphysisch-künstlerischen Ansichten, welche jene im Wesentlichen beherrschen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, aber unhaltbar.«

Nietzsche setzte noch hinzu: »Wer sich frühzeitig erlaubt öffentlich zu sprechen, ist gewöhnlich gezwungen, sich bald darauf öffentlich zu widersprechen.« (VIII: 463) Oder, in Gestalt der zehn Jahre später verfassten Variante für die Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II: Wer vor der Zeit redet, produziert nur »Geschwätz« und »›Litteratur« und offenbart einen »Mangel an Zucht.« (II: 369) Diesem Wort korrespondiert gleichsam von hinten her Nietzsches 1885er Klage: »Es ist der Humor meiner Lage, daß ich v e r w e c h s e l t werde – mit dem ehemaligen Basler Professor Herrn Dr. Friedrich Nietzsche. Zum Teufel auch! Was geht mich dieser Herr an!« (7: 30)

Die Pointe: Nichts geht Nietzsche zu eben jener Zeit ›dieser Herr‹ an – warum sollte also uns Heutigen irgendetwas an diesem Herrn gelegen sein sowie an den Werken desselben, angefangen von Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872) über die in der Pädagogik so sehr geschätzten Bildungsvorträge von 1872 bis hin zu den vier Unzeitgemässen Betrachtungen der Jahre 1873 bis 1876? Interessant ist dabei der Zusatz, der Reiz dieser frühen Schrift(en) gründe vielleicht darin, »dass hier ein Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er n i c h t ein Leidender und Entbehrender sei«, mehr als dies: Er, Nietzsche, habe damals gelernt, »das Leben wider 39 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

III · Der ›mittlere‹ Nietzsche, hier: »Nietzsches Nietzsche«

den Schmerz zu vertheidigen und alle Schlüsse abzuknicken, welche aus Schmerz, Enttäuschung, Ueberdruss, Vereinsamung und a n d r e m Moorgrunde gleich giftigen Schwämmen aufzuwachsen pflegen.« (II: 374) Denn dies könnte heißen, dass Nietzsche Wagner die Zurechnung auf dessen ›Moorgrund‹, die Bayreuther Blätter, habe ersparen wollen – immerhin ein, nur mit ganz wenig Übertreibung geredet und auf seine fernere Geschichte hin bedacht, völkisches Kampfblatt par excellence. Erst im Kontrast hierzu gewinnt Nietzsches Widmung an Voltaire ihren vollen Gehalt: als Bekenntnis zur französischen Aufklärung als natürlichen Feind jedweder völkischen Bewegung – Zusammenhänge, die uns im Rahmen der Rekonstrution von Nietzsches Aufklärungsverständnis noch genauer beschäftigen werden. (vgl. Kap. IX) Als hier schon zu beschreibendes Blatt sei Nietzsches mit MA öffentlich werdende Freundschaft mit dem jüdischen Philosophen und Arzt Paul Rée (1849–1901) als kaum verhülltes Bekenntis Nietzsches zum (ihn mit Wagner entfremdenden) Anti-Antisemitismus (vgl. Micha Brumlik in NLex: 26 f.) gelesen. Nietzsche würdigte Rée denn auch gleich zu Anfang dieser auf den ersten Blick etwas ungeordneten Aphorismensammlung als einen »der kühnsten und kältesten Denker«, dem er die Einsicht verdanke, dass der moralische Mensch der metaphysischen Welt nicht näher stünde als der physische Mensch – ein Satz, der vielleicht einmal als Axt dienen könne, »welche dem ›metaphysischen Bedürfniss‹ der Menschen an die Wurzel gelegt wird.« (II: 61) Schon dies zeigt: MA wurde im Geist der Aufklärung mit primär anti-metaphysischer Zielsetzung erstellt. Zur Disposition stehen dabei natürlich vor allem Wagner – im veröffentlichten Text meist nur unter der Chiffre ›Künstler‹ auftretend – und dessen Kunstmetaphysik, aber damit auch Nietzsches frühe, durch Wagners Einfluss geschärfte bildungselitäre Haltung und das ihr korrespondierende Vertrauen auf Rückgewinn von so etwas wie einer deutschen Leitkultur. Ersatzweise spricht Nietzsche, sich nun zunehmend als Kosmopolit gebärdend, von der »Polyphonie der Bestrebungen« und von »Culturen« (II: 44), mehr als dies: Derjenige, der »in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng« – und der insoweit »ein Vertreter z u r ü c k g e b l i e b e n e r Culturen« sei –, wird mit Attributen wie »hart, unverständig, unbelehrbar, ohne Milde« (II: 358) belegt. In diesen Kontext gehört auch die in der politischen Gegenwartsdebatte viel beachtete Denkfigur des ›guten Europäers‹ (vgl. NLex: 40 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

III · Der ›mittlere‹ Nietzsche, hier: »Nietzsches Nietzsche«

153 f.) zu. Nietzsche entwickelt sie, erkennbar im Gegenzug zu Wagner, mit dem Argument, es sei im Interesse der »Vernichtung der Nationen« (neudeutsch gesprochen: der europäischen Einigung), dass die Deutschen »sich nur ungescheut als g u t e n E u r o p ä e r ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten.« Des Weiteren wird angedeutet – mit kritischem Seitenblick auf Wagners Antisemitismus, den der ›frühe‹ Nietzsche (der Tribschener Zeit) durchaus teilte (vgl. NLex: 27 f.) –, dass diese Denkfigur möglicherweise sogar den Antisemitismus besiegen helfe, da »das ganze Problem der J u d e n […] nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden« sei, »insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz […] in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss.« (II: 309 f.) Nicht minder grundlegend ist der Paradigmenwechsel in Sachen Philosophie- bzw. Wissenschaftsverständnis. Eine deutliche Sprache spricht hier die Inhaltsangabe zu MA aus Ecce homo: »Ein Irrthum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – es erfriert … Hier zum Beispiel erfriert ›das Genie‹ ; eine Ecke weiter erfriert ›der Heilige‹ ; unter einem dicken Eiszapfen erfriert ›der Held‹ ; am Schluss erfriert ›der Glaube‹, die sogenannte ›Überzeugung‹, auch das ›Mitleiden‹ kühlt sich bedeutend ab – fast überall erfriert ›das Ding an sich‹ …« (VI: 323)

Dies war – um die hiermit nahe liegende Vokabel aufzunehmen – ›cool‹ gesagt. Nietzsche dachte dabei offenkundig an den ersten Aphorismus von MA, in welchem, wie noch genauer zu zeigen sein wird (vgl. Kap. VI/5), die »metaphysische Philosophie« kritisiert wird. Ersatzweise und gegen Schopenhauer (vgl. Heller 1972: 213) lobte Nietzsche eine noch zu entwickelnde »historische Philosophie«, in deren Logik sich sowohl »im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft« als auch »in der Einsamkeit an uns« noch zeigen werde, dass auch auf dem Gebiete der Kultur und Gesellschaft, ähnlich wie in der Chemie, »die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind.« (II: 23 f.) Was sich hier anbahnt, durchaus im Gestus dessen, der mit den von Wagner und Schopenhauer überlieferten Vorstellungskomplexen und Programmatiken nur noch im (ideologie-) kritischen Gestus dessen verfährt, der einen Paradigmenwechsel beabsichtigt und ihn als notwendig und unhintergehbar zu beglaubigen sucht, setzt sich in den beiden Anhängen Menschliches, Allzumenschliches. Ein 41 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

III · Der ›mittlere‹ Nietzsche, hier: »Nietzsches Nietzsche«

Buch für freie Geister. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) sowie Der Wanderer und sein Schatten (1880) fort. Beide Aphorismensammlungen – die erste abgekürzt mit VM, die zweite mit WS – wurden 1886, versehen mit einer neuen Vorrede, als Menschliches, Allzumenschliches II neu aufgelegt und führen das anti-metaphysische Programm aus Menschliches, Allzumenschliches fort. Der Sache nach geht es also auch hier, unter dem 1886 nachgereichten Stichwort »Fortsetzung und Verdoppelung einer geistigen Kur« (II: 371), um die Fortführung von Nietzsches Wagnerüberwindung und entsprechend um (zumeist verklausulierte) Kritik an ihm. Dies gilt etwa dort, wo Nietzsche als »Krankheit dieses Jahrhunderts« die Tendenz der Völker geißelt, »noch mehr national« werden zu wollen, um anzufügen, wer so denke – und Wagner dachte so –, sei »ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister.« (II: 593) Und wenn man nun noch bedenkt, dass sich Nietzsche 1888 über Wagners Schriften mit dem Wort lustig machen wird, dass in diesen eigentlich nur ein Satz wiederholt werde, nämlich »dass seine Musik nicht nur Musik bedeute« (VI: 35), wird man auch den folgenden Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten als einen gegen Wagner gerichteten lesen dürfen: »Zuletzt sind und bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, – sie wollen nur, so gut sie es können, unsre N ä c h t e erhellen.« (II: 623) Immerhin: Gelegentlich findet Wagner nun auch, anders als in MA, namentlich Erwähnung, etwa wenn Nietzsche ihn mit dem politisch ambitionierten Urteil ad acta legt, seine Art der »Aneignung der altheimischen Sagen« stünde für »den a l l e r l e t z t e n Kriegsund Reactionszug […] gegen den Geist der Aufklärung.« (II: 451) Natürlich ist dieses Wort im Rückblick auf Nietzsches eigene Teilhabe an diesem ›Kriegszug‹ auch als ein selbstkritisches zu lesen. Und schließlich wird man es unter den Vorzeichen von Wagner- wie Selbstkritik einzuordnen haben, wenn Nietzsche nun als »das grösste Verhängniss der Cultur« den Umstand anführt, dass »Menschen angebetet wurden«, mehr als dies: Wenn er deutlich macht, dass »der Zusammen- und Fortklang alles Men[s]chlichen […] eben so sehr das Werk von Cyklopen und Ameisen als von Genie’s« (II: 461 f.) sei. Denn in seinem Weihnachten 1872 Cosima Wagner vermachten Pamphlet Der griechische Staat hatte Nietzsche noch das glatte Gegenteil behauptet und das Hohe Lied auf das Genie angestimmt – mit

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III · Der ›mittlere‹ Nietzsche, hier: »Nietzsches Nietzsche«

Folgen, die noch am Beispiel Corey Robin (2018) zu studieren sein werden (vgl. Kap. XV). Jenseits dieses Themenkomplexes ragen in MA II Beiträge zur Psychologie hervor, auch – unter Auswertung einschlägiger zeitgenössischer Literatur (vgl. Stefan Goldmann in: NLex: 376 f.) – solche zur Psychologie des Traums, mit der Pointe: »Unsere Träume sind, wenn sie einmal ausnahmsweise gelingen und vollkommen werden […], symbolische Scenen- und Bilder-Ketten an Stelle einer erzählenden Dichter-Sprache.« (II: 639)

In der Summe zielte Nietzsche mit der Herausstellung derartiger Sachverhalte auf Infragestellung des Glaubens an die »W i l l e n s F r e i h e i t « und der daraus entspringenden »Grundempfindung […], dass der Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wu n d e r t h ä t e r.« (II: 547 f.) Das Gegenteil sei richtig: Des einen Unfreiheit werde durch Erziehung bewirkt, des anderen Unfreiheit erkläre sich aus Temperament oder Charakter. (II: 545) Insoweit gilt, dass der Mensch sich zwar nach Freiheit sehnen mag, aber zunächst einmal in vielfältiger Hinsicht gebunden ist. Die Lehre von der Willensfreiheit hilft hier nicht weiter. Sie nämlich – so müssen wir Nietzsche verstehen – sei Metaphysik, solange sie unbesorgt bleibt um die der einzelwissenschaftlichen Forschung harrenden psychologischen Abgründe, welche sich in der menschlich-allzumenschlichen Umdeutung des den Menschen Notwendigen in ein von ihm Gewolltes offenbaren. Kaum weniger anregend, eher im Gegenteil: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881), ein erster Höhepunkt in Nietzsches Schaffen, was auch die Freude des Verfassers darüber erklären könnte, »wie reich das Buch an u n a u s g e s p r o c h n e n Gedanken ist, wenigstens für mich: ich sehe hier und dort und an allen Enden verborgene T h ü r e n , die weiter und oft sehr weit führen.« (6: 160) Geht man von Menschliches, Allzumenschliches aus, überrascht übrigens keineswegs, dass Nietzsche auch in M als Psychologe auftritt und, etwa in Sachen Traum, ergänzt: »In Allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Muthe! Nichts ist m e h r euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr e u e r Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer, – in diesen Komödien seid ihr Alles ihr selber!« (III: 117)

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Entsprechend vermag Nietzsche im ›Ich‹ keine Tatsache mehr zu sehen, sondern nichts weiter als das Resultat »[ u ] n s e r e [ r ] M e i n u n g ü b e r u n s « (III: 108), um unter dem Titel Zur Beruhigung des Skeptikers, den der Zweifel umtreibt, ob er wisse, was er tue und wissen könne, was er tun soll, nachzutragen: »Du hast Recht, aber zweifle nicht daran: du wirst gethan! in jedem Augenblicke! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer.« (III: 115)

Damit ist das ›Ich‹ endgültig hinfällig, erdrückt vom Passivum, also, wie man wohl sagen darf: vom ›Es‹ (Bernd Nitzschke in: NLex: 101 f.). Die Konsequenz, zumindest als Frage formuliert, bleibt nicht aus: Ist »all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text?« (III: 113) Freud wird diese Frage später bejahen – und berühmt werden für einen Satz, der sich so ähnlich schon bei Nietzsche findet: »Dass es ein Vergessen giebt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht.«

Dies freilich, so Nietzsche weiter, bezeichne möglicherweise nur eine »Lücke unseres W i s s e n s u m u n s e r e M a c h t . « (III: 117) Psychologisch subtil ist auch Nietzsches Maxime, dass die »Leidenschaften […] böse und tückisch [werden], wenn sie böse und tückisch betrachtet werden.« (III: 73) Das Unheil gründet also nicht in den Tatsachen, sondern in den Interpretationen und Interpreten. Dies war Grund genug für Nietzsche, den Spieß umzudrehen, also »entferntere Zwecke unter Umständen a u c h d u r c h d a s L e i d d e s A n d e r e n zu fördern«, sprich: durch seine »Freigeisterei« insbesondere seine eigenen »Nächsten« »in Zweifel, Kummer und Schlimmeres« (III: 137) zu werfen. Kritik wie diese, auch biographisch aufschlussreich, zielte darauf, das epigonal-philisterhafte 19. Jahrhundert wieder in einen der das Neue ermöglichenden »ursprünglichen Zustände der Menschheit« (III: 22) zu versetzen. Zu diesem Zweck forderte Nietzsche, die »Verunglimpfung« zurückzunehmen, »mit der die Menschen alle Jene gedacht haben, welche durch die T h a t den Bann einer Sitte durchbrachen, – im Allgemeinen heissen sie Verbrecher.« (III: 33) Summarisch gesprochen: M steht für die konsequente, nun auch um stärker anti-christliche Akzente bereicherte Fortführung der anti44 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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metaphysischen Programmatik, wie sie Nietzsche seit Menschliches, Allzumenschliches umtreibt. Erstaunlich ist dabei vor allem das Ausmaß, in welchem Nietzsche zentrale Programmformeln der Psychoanalyse Freuds vorwegnimmt. Dies betrifft sogar jene Entthronung des Ich, die sich Freud später, in Sachen Nietzsche nach eigener Angabe unkundig, als sein spezifisches Verdienst zurechnen und mit dem Siegel versehen sollte, es handele sich hierbei um eine Art ›kopernikanische Wende‹. Dass dies nicht jeder so sehen muss, zeigt der Heidelberger Morgenröthe-Kommentar von Jochen Schmidt (2015) – der allerdings auch offenbart, dass Ressentiments, selektive Lektüre und das Bestreben, Nietzsche als billigen Epigonen zu verunglimpfen (vgl. Niemeyer 2017: 178 ff.) schlechte Ratgeber sind, um auf dem Felde der Wissenschaft reüssieren zu wollen. Nietzsches Aphorismensammlung Die fröhliche Wissenschaft (1882) war noch im Dezember 1881 als »Fortsetzung« (6: 150) von M gedacht, ehe sich während der Arbeit am letzten (vierten) Buch die Akzente deutlich in Richtung der nun allmählich Kontur gewinnenden Dichtung Also sprach Zarathustra verschoben. Äußeres Anzeichen dafür ist der letzte Aphorismus (Nr. 342) von FW, der mit fast den Worten endet, mit denen Nietzsche nur ein Jahr später auch den Zarathustra eröffnen wird. Ähnliches gilt für den vorletzten Aphorismus (Nr. 341), in welchem Nietzsche erstmals den für die »Grundconception« (VI: 335) des Zarathustra zentralen Wiederkunftsgedanken vorträgt. Er wird allerdings nur verständlich, wenn man vorab die Bedingungen erläutert, die ihn erfordern. Hierzu gehört allererst der Tod Gottes, gleichfalls ein zentrales Axiom des Zarathustra, das schon in FW erstmals exponiert wird. Zu denken ist vor allem an Aph. 125: Der ›tolle‹ (= als verrückt geltende) Mensch tritt hier in der Rolle des Zarathustra auf und markiert erstmals einige der Fragen, um die es auch Nietzsche in der Folge immer wieder gehen wird. Dabei wird das Beharren auf Sinngebung in einer »Ordnung der Dinge« ohne Gott (IX: 651) auffällig, ebenso wie der Zweifel, ob der Gottesmörder Mensch dafür noch der richtige Ansprechpartner sei: »Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?« (III: 481)

Die Frage ist rhetorischer Natur – und spricht die Idee einer nach dem Tod Gottes unabweisbar an den Menschen herantretenden Nötigung aus, »selber […], wie Gott, gegen alle Dinge gerecht, gnädig sonnenhaft [zu] sein und sie immer neu [zu] schaffen.« (IX: 591) 45 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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In diesem Kontext begegnet dem Leser erstmals der Ausdruck ›Übermensch‹ und dies dahingehend, dass der Mensch gleichsam als »Vorübung zur Rechtfertigung« der ihm nun, nach dem Tod Gottes abzuverlangenden »Selbstsucht und Selbstherrlichkeit« lernen müsse, sich selber »Freiheit« zu geben »gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn.« (III: 490) Es entspricht diesem Freiheits- und Freisetzungsprogramm, dass Nietzsche nun auch seinen Kampf für das Neue aus M wieder aufnimmt und beispielsweise die »Welt des Irrsinnigen« rehabilitiert, die sich von der Welt der »Freunde ›des gesunden Menschenverstandes‹« allenfalls sukzessiv unterscheide: nicht zwischen Wahrheit und Irrsinn sei – im Sinne eines Zwei-Welten-Konzepts – zu trennen, sondern allenfalls zwischen differenten Graden in der »Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens«, im Fall der Nicht-Irrsinnigen also: des Glaubens an die Wahrheit. Durch diese Irritation der »Gläubigen des grossen Gesammtglaubens« (an Wahrheit, aber auch an Gewissheit, Vernunft etc.) will Nietzsche Platz schaffen für »d i e A u s n a h m e u n d d i e G e f a h r « (III: 431 f.) und mithin für das Neue und dessen Entdeckung bzw. Entdeckbarkeit. Damit wird es für das Thema des vorliegenden Buches spannend, lautet die zentrale Losung an die Adresse der Philosophen in diesem Kontext doch: »Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere!« (III: 526) Im Ergebnis erwartete Nietzsche eine »andere Welt« (III: 530), auch eine des Wissens, die eine begründende Theorie der Lebens- und Denkart des ›Bösen‹ respektive dessen, der für das Neue steht (vgl. NLex: 55 f.), abzuwerfen vermag. Und dafür bedarf es allererst »neue[r] Philosophen« (III: 530), über deren Leistungsprofil am ehesten Aph. 115 Kunde gibt. Den Menschen wollte Nietzsche (1.) durch die Wissenschaft vollständig beschrieben haben, basierend auf der Kenntnis realer, nicht-erdichteter Eigenschaften; er wollte (2.) ihn auch seinem Tier- und Naturhaften nach bestimmt sehen; und schließlich wollte (3.) er ihn in seiner wertsetzenden Kompetenz nach zur Geltung gebracht wissen, und zwar dies im Gegenzug zur Passivierung des Menschen im Gefolge ihn normierender Morallehren. Dies, so darf man vielleicht noch ergänzen, verdient durchaus den Titel eines sowohl psychologisch als auch anthropologisch als auch praktisch-philosophisch angelegten Projekts einer umfassend angelegten Humanwissenschaft. Spannend ist dabei, dass dieses Projekt die Forderung nach konsequenter Selbstbeobachtung einschloss, der Devise folgend: 46 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»[W]ir Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unseren Erlebnissen so streng in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag! Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein.« (III: 551)

Nietzsche ging es also nicht nur um die – wohlfeil zu erhebende – Forderung nach »Redlichkeit« (III: 550), sondern auch um einen Verfahrensvorschlag, der im weiteren Sinne auf eine Hermeneutik des Erlebens hinausläuft. Dies nun gilt auch für den zunächst beiseite gesetzten Gedanken der ewigen Wiederkunft. Denn auch dieser (antichristliche) Gedanke, der nur unter der Bedingung von Gottes Tod Sinn macht, bedarf jener Hermeneutik. Dies zeigt schon Nietzsches Bemerkung gegenüber Georg Brandes, die vom Bergprediger verbotene – dem Wiederkunftsgedanken allerdings inhärente – »Sorge ›um den andern Tag‹« sei zwar möglicherweise »unchristlich«, aber »im höchsten Grade philosophisch.« (8: 318) In der Umkehrung folgt daraus: Durch die neutestamentliche Botschaft habe »eine Theologie statt einer Praxis, ein ›Glaube‹ statt einer Lebensweise« (XIII: 178) Platz gegriffen, mit der Folge – so Nietzsche im Antichrist –, dass dem Leben das »Schwergewicht« (VI: 217) genommen sei. Diese Vokabel verweist auf den Umstand, dass Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkunft in FW 341 unter dem Titel Das grösste Schwergewicht eingeführt hatte, auf diese Weise suggerierend, dieser Gedanke werde den Menschen nötigen, seine Aufmerksamkeit wieder auf seine ›Praxis‹ und seine ›Lebensweise‹ zu konzentrieren, getreu der Losung: »Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen! – Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran.« (IX: 503)

Nietzsches Gebrauch des Gedankens der ewigen Wiederkunft erfolgte also primär in kritischer Absicht – kritisch auch jenen gegenüber, deren Lebensführung Zeugnis dafür gibt, dass diese sich besser nicht jeden Tag in genau dieser Weise wiederholen möge. Und: Nietzsche intendierte offenbar eine ethische Formel zur Beglaubigung eines vollkommenen Lebens (und Handelns). Interessant ist dabei, dass er diese Beglaubigung, anders als Kant, nicht in gleichsam horizontaler Perspektive erwartete, im Blick auf die Maximen derer, auf die sich die Anderen im Sinne eines höheren Gesetzgebungsverfahrens geeinigt haben oder auf die hin sie sich jedenfalls doch aller Vernunft 47 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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nach zu einigen hätten. Sondern Nietzsche erwartete diese Beglaubigung vom Handlungsträger selbst und als Effekt einer kritischen Selbstreflexion, also im gleichsam vertikalen Bezug einer zur Vollendung gebrachten Bildungsgeschichte. Zusammenfassend gesprochen: FW ist ein bedeutendes Buch – aber nicht so sehr, weil es den Wiederkunftsgedanken und die Diagnose vom Tod Gottes einführt. Wichtiger scheint, dass FW vom Ansatz her vorwegnimmt, was Nietzsche insbesondere in Jenseits von Gut und Böse sowie in Zur Genealogie der Moral ausführlicher exponieren wird: das Projekt einer anti-metaphysischen Humanwissenschaft. Diesem Projekt ist ein Bildungsprogramm eingefügt, das, unter der Losung ›gefährlich leben!‹, den Bildungsbedingungen jener ›vorbereitenden‹ Menschen nachspürt, derer es in einer Ordnung der Dinge ohne Gott bedarf und die, zusammen mit jenen ›neuen Philosophen‹, einem neuen Zeitalter vorarbeiten, »das den Heroismus in die Erkenntniss trägt.« (III: 526)

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Kapitel IV

Der ›späte‹ Nietzsche, hier: Ein »Denker am Abgrund«

Im April 1884 teilte Nietzsche Overbeck brieflich seinen Entschluss mit, »die nächsten fünf Jahre zur Ausarbeitung meiner ›Philosophie‹ zu verwenden, für welche ich mir, durch meinen Zarathustra, eine Vorhalle gebaut habe.« So gesehen gibt es gute Gründe, mit Nietzsche eine weitere, dritte, mit dem Zarathustra anhebende Werkphase zu unterscheiden. Allerdings muss man beachten, dass Nietzsche in eben jenem Brief noch ergänzte: »Beim Durchlesen von ›Morgenröthe‹ und ›fröhlicher Wissenschaft‹ fand ich übrigens, daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra dienen kann.« (6: 496) Nimmt man noch hinzu, dass Nietzsche Jenseits von Gut und Böse (1886) mit der Hoffnung herausgehen ließ, dass sie »ein paar erhellende Lichter auf meinen Zarathustra zu werfen« vermag (7: 223), wird beides klar: die Zentralstellung des Zarathustra für die Bestimmung dessen, was das Wort vom ›späten‹ Nietzsche meint; aber eben auch, dass sich in jenen zwei genannten Werken aus der ›mittleren‹ Phase bereits der ›späte‹ Nietzsche andeutet, dies allerdings mit der Einschränkung eines überraschenden, grundlegenden Wechsels der Erzählform, dem zuzurechnen ist, dass – so Nietzsche im Nachgang (1888) – »der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden […] nicht ausgereicht [hätte], zu errathen, dass der Verfasser von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ der Visionär des Zarathustra ist …« (VI: 287). Meint, in Übersetzung geredet: Nietzsche betritt mit dem Zarathustra ein neues Stadium seiner Entwicklung, das mit der Vokabel ›spät‹ durchaus unzulänglich beschrieben wäre im Unterschied zum hier bevorzugten Attribut »Denker am Abgrund«, das dem Untertitel des vorliegenden Buches Referenz erweist und andeuten soll, das die Entdeckerfreude à la »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« leider nicht von ewiger Dauer ist. Warum? Nun, andernorts, als ich noch statt der Vokabel »Denker am Abgrund« den Titel »Nietzsche am Rubikon« favorisierte, 49 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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schien es mir nicht unplausibel, den im Biographischen zu situierenden und mit der Vokabel »Lou-Erlebnis« (vgl. NLex: 221 ff.) zu fixierenden Gründen für eine Ende 1882 um sich greifende tiefgreifende Verstimmung Nietzsches nachzugehen, die durch den eklatanten Misserfolg des Zarathustra bedeutend verschärft wurde, wie auch und besonders anhand der Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht noch nachgewiesen werden soll. Von den Hintergründen dieser insoweit doppelten Verstimmung sei hier nicht weiter gehandelt (vgl. allerdings Niemeyer 2013: 77 ff.), zumal es vollkommen ausreicht, dieses Hintergrundes im Zuge der Lektüre des Restes dieser kleinen Werkschau gewahr zu bleiben. Wie eben schon angedeutet: Die Resonanz auf Nietzsches vierteiliges Hauptwerk Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–85), von Nietzsche noch im Februar 1884, nach Abschluss des dritten Teils, mit dem Euphemismus bedacht, er habe hier »die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht« (6: 479), war niederschmetternd. »Es ist eine ›Dichtung‹« (6: 327), hatte Nietzsche seinen Verleger schon früh warnend wissen lassen – für sich behaltend, dass der Leser sich auf eine verquere, versponnene Erzählung gefasst machen müsse, auf verfremdete Zitate (insbesondere aus der Bibel), Wortspiele und Wortverschiebungen, auf parodistische Einlagen und schwer zu deutende Rätsel, Träume, Symbole und Metaphern, auf zahllose Tiere, auf Handlungsträger, die meist unter Masken auftreten und in der Regel eine Sprache benutzen, die damals ungewohnt war und fremdartig. Dies galt schon für Nietzsches ›Maske‹ Zarathustra, die auf den altiranischen Religionsstifter Zoroaster hinweist – und darüber auf den Umstand, dass Nietzsche eine Leitfigur suchte für seine Absicht, »Geschichte im Ganzen Großen« zu denken und gleichfalls ein »Reich von tausend Jahren« (XI: 53) zu begründen, um dieses gegen das Reich Gottes zu setzen. So gesehen ist Za Nietzsches »Bibel der Zukunft« (8: 492), mit welcher ihr Verfasser – um hier das Motto aus dem Prolog anzuführen – »die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften« (6: 485) spalten wollte: in eine vor und in eine nach Nietzsche. Dieser kaum überbietbaren Ambition entspricht die Vorrede von Za I, in welcher Zarathustra als Handlungsträger – mit deutlicher Jesus-Analogie – eingeführt wird und den Tod Gottes sowie die Lehre vom Übermenschen erläutert. Als dessen Gegenpart gilt der ›letzte Mensch‹, für den Nietzsche nur Verachtung übrig hat und dem er zu bedenken gibt: 50 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze. […] Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.« (IV: 19)

Erfolgreich ist Zarathustra mit dieser Botschaft nicht, mit der Folge, dass er sich in Zukunft weniger als Lehrer versteht denn als Psychologe und als solcher sich das Studium des Menschen unter Konzentration auf das ›Tierhafte‹ zur Aufgabe macht, etwa im dritten Teil des Werkes in Gestalt des Spotts auf das »Fliegen-Glück« (IV: 214). Die Argumentationshaltung, die Zarathustra hier offenbart, ist (erneut) die des Psychologen, der das »andere Meer« vor sich ausgebreitet sieht und spricht: »Die Nacht aber war kalt in dieser Höhe und klar und hellgestirnt.« (IV: 195) Die Vokabel ›hellgestirnt‹ spielt auf Kants »moralisches Gesetz« an (vgl. Groddeck 1989: 40), das selbst auf dem Grabstein des Königsbergers eine Heimstatt gefunden hat. Freilich: Wessen Zarathustra habhaft wird, ist nicht »der bestirnte Himmel über mir« und »das »moralische Gesetzt in mir« (so in KpV, Beschluss, 1. Satz), sondern die »schwarze traurige See unter mir«, die »schwangere nächtliche Verdrossenheit« (IV: 195) des Meeres, also, so darf man übersetzen: die in derlei Metaphern sich aussprechende Notwendigkeit der psychologischen Erforschung der Nacht- und Schattenseite des Menschen anstelle einer (so bei Kant) bloßen Setzung des diesem verfügbaren moralischen Vermögens. Von diesem Forschungsprogramm erwartete Zarathustra offenbar eine belehrende, beispielgebende Wirkung auch für jene, die er als seine ›Gefährten‹ und ›Mitschaffenden‹ in Aussicht nahm und denen er in der übernächsten Rede abverlangte, dass am »Meer […] ein Jeder einmal seine Tag- und Nachtwachen haben [soll], zu s e i n e r Prüfung und Erkenntniss.« (IV: 204) Auch im vierten, von Nietzsche nur als Privatdruck in Umlauf gebrachten Teil des Zarathustra, eine, so Nietzsche vieldeutig, »Geheim-Thür […] zu ›mir‹« (8: 228) enthaltend, begegnet uns Zarathustra als »Zieher, Züchter und Zuchtmeister«, der von psychologischem Wissen angetrieben wird, diesmal: der über »Honig« als Metapher für eine Art Köder in Sachen »Menschen-Welt« und »Menschen-Meer«, ja »Menschen-Abgrund« (IV: 296 f.) verfüge, und zwar in der Absicht, »unser grosses fernes Menschen-Reich« zu begründen, »das Zarathustra-Reich von tausend Jahren« (IV: 298), mit Zarathustra als eine Art König an seinem ihm eigenen »Hof« (IV: 51 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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303). Im Vergleich zu Za I-III ist Za IV eine Art Metatext, in dessen erstem Teil Zarathustra auf der Suche ist nach den ›höheren Menschen‹ (als Vorstufe des Übermenschen) unter den zu ihn drängenden und zumeist mit Zitaten aus Za I-III aufwartenden Kandidaten. Im zweiten Abschnitt (beginnend ab Rede 11) unterzieht er sie einem Examen, das als bitterböse Persiflage auf das (Letzte) ›Abendmahl‹ Jesu angelegt ist, mit Zarathustra als Gastgeber, der noch einmal seinen ›neuen Glauben‹ erläutert. Im Ergebnis allerdings ist Zarathustra unzufrieden und jagt die ›höheren Menschen‹ am Ende als ungeeignet zum Übermenschen davon – und damit auch das darauf bezügliche Mitleid, will sagen: Der Kreis der Ewigen Wiederkunft ist nun durchbrochen, Zarathustra, der Erzieher, hört auf zu existieren. Ersatzweise beglaubigt Zarathustra am Ende seine insoweit gelungene Selbsterziehung hin zum Übermenschen. Von wieder ganz anderer Art ist Nietzsches nächstes Buch Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), aus heutiger Sicht wohl eher als das vorgenannte Nietzsches Hauptwerk, wie allein schon der mit über 900 Seiten beträchtliche Umfang des Heidelberger Nietzsche-Kommentars von Andreas Urs Sommer (2016) zeigt, ebenso wie der Umstand, dass unmittelbar zuvor zwei Reader mit vergleichbarer Absicht (Born/Pichler 2013; Born 2014) erschienen. Der Sache nach bringt JGB in insgesamt neun Hauptstücken systematisierende Gedanken, die auf zumeist sehr originelle Art weiterführen, was auch in den vorhergehenden Aphorismensammlungen der Freigeistepoche sowie im Zarathustra Thema war. Den Generalnenner suchte Nietzsche in Ecce homo auf den Begriff zu bringen: JGB sei »in allem Wesentlichen eine K r i t i k d e r M o d e r n i t ä t «, »die modernen Wissenschaften, die modernen Künste, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen.« (VI: 350) Kritisch in diesem Sinne ist auch das etwas aus dem Rahmen fallende Vierte Hauptstück, das unter dem Titel Sprüche und Zwischenspiele insgesamt 185 Aphorismen unterschiedlichster Qualität offeriert, unter ihnen der Sigmund Freuds Einsicht in die Bedeutung der Verleugnung vorwegnehmende und entsprechend von ihm gelobte Aphorismus: »›Das habe ich gethan‹ sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtniss nach.« (V: 86)

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Dieses Beispiel steht für eine Tendenz dieses Vierten Hauptstücks: Es geht ganz wesentlich um Psychologie. Psychologisch ambitioniert ist schon der erste Satz der im Juni 1885 verfassten Vorrede: »Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden?« (V: 11)

Nietzsche outet sich hiermit als Anti-Dogmatiker und wiederholt dies ganz zum Schluss, wenn er (seine) »Wahrheiten« als »rechtschaffen« aber »langweilig« (V: 239) charakterisiert – und dabei möglicherweise an seine unmittelbar zuvor durchgeführte Unterscheidung zwischen einer Herren- und einer Sklavenmoral denkt, inklusive der Annahme, dass beide Moralen einen je eigenen Menschentyp voraussetzen, erfordern oder erzeugen. Die Herrenmoral beispielsweise verknüpft Nietzsche mit dem ›vornehmen Menschen‹, den er beispielgebend repräsentiert sah in der alt-griechischen Aristokratie – und, nicht zu vergessen: wiederentdeckt in sich selbst. Denn was Nietzsche hier beschreibt und unter der Kategorie »v o r n e h m e S e e l e « (V: 233) rubriziert haben möchte, ist letztlich seine eigene Lebensweisheitsdoktrin als einsam wandernder Philosoph im Oberengadin. Das zentrale Thema von JGB klingt in Aph. 2 unter dem Titel Von den Vorurtheilen der Philosophen an. Nietzsche geht es zumindest an dieser Stelle nicht um das Lob auf den Perspektivismus an sich (vgl. Jakob Dellinger in NLex: 266 f.), sondern um dessen Tadel als Indiz für eine unzulässige, metaphysische Setzung des Eigenwertes des Wahren, Wahrhaftigen und Selbstlosen, das man sich viel eher als abgeleitet vorstellen müsse etwa aus »dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde« – Zusammenhänge, die zu erkennen es »einer neuen Gattung von Philosophen« (V: 16 f.) bedürfe. Entsprechend geht es in der Folge darum, die Anforderungen an jene ›kommenden‹ oder ›neuen‹ Philosophen, auch »Philosophen der Zukunft« (V: 60) geheißen, deutlicher zu markieren und das auch sie auszeichnende Wahrheitsstreben vom Verdacht zu befreien, per se dogmatisch zu sein. Als programmatisch darf dabei der Satz gelten: »Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte Umfang menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen dieser Erfahrungen, die ganze b i s h e r i g e Geschichte der Seele und ihre noch unausgetrunkenen Möglichkeiten: das ist für einen geborenen Psy-

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chologen und Freund der ›grossen Jagd‹ das (sic!) vorbestimmte Jagdbereich.« (V: 65)

Damit war das Grundmotiv vorgegeben. Was folgt, sind Variationen, dies etwa auch in Richtung einer in ersten Grundzügen ausgearbeiteten »P s y c h o l o g i e d e r P h i l o s o p h e n « (XIII: 285; vgl. NLex: 292 ff.), der wir uns noch etwas genauer zuwenden werden. (vgl. Kap. VIII) Psychologische Überlegungen dieser Art führen Nietzsche schließlich zur hintergründigen Infragestellung der Moral als »Z e i c h e n s p r a c h e d e r A f f e k t e « (V: 107). Eine Moral beispielsweise, die rät, dem Mitmenschen zu helfen, sei möglicherweise nur Folge des Affekts »Furchtsamkeit«, ins Große gerechnet: Vielleicht, so Nietzsches Verdacht, gäbe man dem Menschen qua Moral nichts weiter als »Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge« (V: 118) und sorge auf diese Weise im Ergebnis dafür, dass sich in ganz Europa eine » H e e r d e n t h i e r- M o r a l « (V: 124) ausbreite, mit der Pointe, dass Nietzsche »die demokratische Bewegung […] als eine […] Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung.« (V: 126) Soweit die Diagnose, über die man streiten muss, ganz zu schweigen von der Therapie. Nietzsche nämlich schlägt (erneut) »n e u e P h i l o s o p h e n « vor, lädt diesen Begriff nun aber deutlich auf, weg vom bloßen Wahrheitserwerb hin zur gleichsam platonischen Utopie einer umfänglichen Neugestaltung von Welt und Dasein inklusive der Vision großer »Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung« – eine Vision, die ihn gleichsam den Atem stocken lässt angesichts der Gefahr, dass diese (neuen) »Philosophen und Befehlshaber«, auch »Führer« genannt, »ausbleiben oder missrathen und entarten könnten.« (V: 126 f.) Nietzsche sei gepriesen für diesen Zweifel – aber, er ist zu tadeln für den Plan, auf den er sich bezieht und der, wie die Wirkungsgeschichte zeigt, fatale Folgen hatte. Insoweit hat es etwas Beruhigendes, dass Nietzsche im weiteren Fortgang als Kritiker »atavistische[r] Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei« (V: 180) Furore macht, ebenso wie als Kritiker jener, die »im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeite[n], ganz Europa zu verdeutschen« (V: 185), ja, mehr als dies: In JGB 251 stellte Nietzsche ab auf Erläuterung seiner auf den frühen Einfluss Wagners zurückgehenden »politischen Infektion« (V: 193) in Sachen Antisemitismus. Er tat dies am Exempel des anlog infektiö54 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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sen, gleich einleitend für seine »antijüdische« »Dummheit« (V: 192) gescholtenen und im weiteren Fortgang als ›antisemitischen Schreihals‹ (V: 194) bezeichneten preußischen Historikers Heinrich von Treitschke, dessen von ihm referierte, den Berliner Antisemitismusstreit vom November 1879 auslösende Stammtischparole: »Kein neuen Juden mehr hineinlassen!« (V: 193)

Nietzsche nicht etwa zustimmte, sondern zum Anlass für eine »heitere Deutschthümelei« (V: 195) nahm. Ihr Thema: Die Vision, wie es wohl wäre, wenn man Leuten wie Treitschke und anderen »Typen des neuen Deutschthums« jenes vor allem geistige Niveau der Juden als dasjenige – auch als Verheiratungsoption – vor Augen führte, dessen sie selbst wegen ihres einseitigen Vertrauens auf die fast schon »erbliche Kunst des Befehlens und Gehorchens« (V: 194) entbehrte. Zunächst als Anhang zu JGB konzipiert, schließlich aber einer Neuausgabe von Die fröhliche Wissenschaft beigefügt, gewann Die fröhliche Wissenschaft. V. Buch: Wir Furchtlosen (1887), enthaltend vierzig Aphorismen unterschiedlicher Thematik und durchgängig höchster Qualität, im Verlauf der Rezeptionsgeschichte immer mehr Wertschätzung, wie zuletzt der voluminöse Kommentar von Werner Stegmaier (2012) offenbart. Kontinuität im Rückblick auf JGB gilt zumal in Sachen der in jenem Buch gegebenen Ausblicks auf ›neue‹ Philosophen. Für diese wird nun als kleinster gemeinsamer Nenner behauptet, dass sie dem Tod Gottes und dessen Folgen beruhigt ins Auge zu sehen vermögen, die es als ›gute Europäer‹ nicht länger nötig hätten, ihre Erlebnisse dahingehend auszulegen, »wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei.« (III: 600). Die hier erneut bemühte, in Menschliches, Allzumenschliches eingeführte Denkfigur des ›guten Europäers‹ wird des Weiteren fruchtbar gemacht für eine Opposition gegen »Nationalismus« und »Rassenhass« unter der neuen Chiffre »Wir Heimatlosen« (III: 630), wobei Heimatlosigkeit in einem transnationalen, kosmopolitischen, weltbürgerlichen Sinne verstanden wird. Auch die in Jenseits von Gut und Böse grundgelegte ›Psychologie der Philosophen‹ wird in FW V neu erprobt, etwa am Exempel des Darwinismus, um den herum »Etwas wie englische Uebervölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch von Noth und Enge [haucht].« (III: 585) Speziell hinter diesem Spott verbirgt sich Nietz-

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sches anti-darwinistische Lesart des Willens zur Macht nach dem – in Götzen-Dämmerung (VI: 120) wieder aufgenommenen – Leitmotiv: »Der Kampf um’s Dasein ist nur eine Ausnahme, eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und kleine Kampf dreht sich allenthalben um’s Uebergewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.« (III: 585 f.)

Die andere Gattung grundlegender Erklärungen betrifft einzelne, zumeist der Psychoanalyse vorgreifende psychologische Annahmen, dies etwa in Gestalt der Frage: »[W]ie? ist unser Bedürfniss nach Erkennen nicht eben dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst?« (III: 594)

In Götzen-Dämmerung wird Nietzsche später nachtragen: »Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefühl von Macht« (VI: 93) – und klingt (auch) hier so, als denke Freud über Das Unheimliche nach. Nietzsches Abhandlung Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), schon mit der ersten Abhandlung eine »Psychologie des Christenthums« (VI: 352) intendierend, knüpft an Themen von Jenseits von Gut und Böse an, etwa am Dual Herren- vs. Sklavenmoral. Es wird nun historisch kontextualisiert, um die These zu stärken, »dass […] mit den Juden d e r S k l a v e n a u f s t a n d i n d e r M o r a l beginnt.« (V: 268) Die theoretische Folgerung aus dieser Annahme entwickelt Nietzsche vorwiegend über den Begriff des ›Ressentiment‹ : Es sei typisch für die Sklavenmoral, gekennzeichnet durch ein »Nein zu einem ›Ausserhalb‹, zu einem ›Anders‹, zu einem ›Nicht-selbst‹« und stehe insoweit konträr zu der – die Herrenmoral kennzeichnenden – »vornehmen Werthungsweise […]: sie agirt und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen.« (V: 270 f.) Nietzsche entwickelt daraus eine Typologie nach dem Schema ›vornehmer Mensch‹ einerseits und ›Mensch des Ressentiment‹ andererseits und dies verbunden mit Wertungen zuungunsten des Letzteren: »Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen.« (V: 272)

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Nietzsche lässt in der Folge kein gutes Haar an diesem Menschentyp und dessen »Giftauge« (V: 274). Anders verhält es sich beim – als Substitut für den Übermenschen zu lesen (vgl. Niemeyer 2011: 176 ff.) – ›vornehmen Menschen‹, dessen Geheimnis Nietzsche vor allem in der zweiten Abhandlung von GM, betitelt mit »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und »Verwandtes«, näher zu kommen sucht. Im Ergebnis kommt Nietzsche zu dem Schluss, dass der ›vornehme‹ Mensch, sprich: der über seine »vornehmeren Funktionen und Funktionäre« – wie »Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen« – gebietende Mensch beidem bedarf: dem Vergessen, »damit wieder Platz wird für Neues« (V: 291), aber auch dem Erinnern. Damit ist auch das Lernen gemeint, unter Einschluss der Inkaufnahme von »Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus« und mit dem Ziel, den Menschen »zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu m a c h e n «, denn, so jedenfalls Nietzsches ›Versprechen‹ : »Stellen wir uns […] an’s Ende [dieses] ungeheuren Prozesses, […]: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das s o u v e r a i n e I n d i v i d u u m , das nur sich selbst gleiche, […], kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der v e r s p r e c h e n d a r f – und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt.« (V: 293)

Soweit die Grundidee, mittels derer Nietzsche die Rede vom Übermenschen neu aufpolieren und die Entstehung des Gewissens erklären will. Auch Anwendungen fallen ab, etwa für den Fall ›der‹ Deutschen: Dieses ›Volk von Denkern‹ errichtet Nietzsche zufolge einen hohen Preis, der ihn am Ende seines Studiums der gängigsten Praktiken des »Steinigens«, »Räderns« und »Viertheilens« (V: 296) entsetzt ausrufen lässt: »[W]ie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller ›guten Dinge‹ !« (V: 297) In der dritten Abhandlung von GM analysiert Nietzsche, gleichsam als einen weiteren ›hohen Preise‹ (für kulturelle Leistung), das asketische Ideal, also eine Art Leibfeindlichkeit oder »PhilosophenGereiztheit und -Rancune gegen die Sinnlichkeit.« (V: 350) Ein besonders böser Seitenblick fällt dabei auf die Priester, auch auf Wagners »arme[n] Teufel und Naturbursch Parsifal, der von ihm mit so

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verfänglichen Mitteln schliesslich katholisch gemacht wird.« (V: 341) Nietzsches Pointe hat es in sich, zumal im Blick auf die aktuelle Debatte um sexuellen Missbrauch in katholischen Einrichtungen, die schon vor Jahrzehnten von Eugen Drewermann unter Bezug auf Nietzsche vormunitioniert wurde (vgl. Niemeyer 2019: 166): »[ D ] a s a s k e t i s c h e I d e a l e n t s p r i n g t d e m S c h u t z - u n d H e i l I n s t i n k t e e i n e s d e g e n e r i r e n d e n L e b e n s , welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft.« (V: 366)

Damit liegt die Folgerung nahe, dass die Kranken »des Menschen grosse Gefahr« (V: 368) seien und den Gesunden folglich ein gewisses »Pathos der Distanz« gut anstünde, denn (und vor dieser Art ›Pathos‹ schreckte Nietzsche nicht zurück): »[D]as Höhere s o l l sich nicht zum Werkzeug des Niedrigeren herabwürdigen!« (V: 371) Die so begründete Hilfeverweigerung der ›Gesunden‹ wird noch komplettiert durch den Hinweis, dass der asketische Priester »als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde« (V: 372) schließlich auch keine professionelle Hilfe biete, sondern lediglich darauf sinne, die Kranken durch seine von ihm ausgehende »Tyrannei solcher paradoxer und paralogischer Begriffe wie ›Schuld‹, ›Sünde‹, ›Sündhaftigkeit‹, ›Verderbniss‹, ›Verdammniss‹ […] u n s c h ä d l i c h zu machen […] zum Zweck der Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung.« (V: 375) Dies ist teilweise brillant analysiert, bleibt aber letztlich ohne Ausblick auf eine Alternative zum asketischen Ideal, insofern – und Nietzsche wiederholt nun dieses Zugeständnis aus Wir Furchtlosen (III: 577) – »auch wir Erkennenden von Heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen u n s e r Feuer noch von jenem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit g ö t t l i c h ist …« (V: 401) Dies mag dann auch den fast resignativen Schlusssatz erklären: »[L]ieber will noch der Mensch d a s N i c h t s wollen, als n i c h t wollen« (V: 412) Die in nur wenigen Wochen erstellte Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt (1889) lag im November 1888 gedruckt vor und gelangte Ende Januar 1889 in den Buchhandel. Gleichsam zur Einstimmung dienen 44 unter dem Titel Sprüche und Pfeile dargebotene Aphorismen, unter ihnen die Sentenz: »Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich w e i s s …« (VI: 59)

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Dass Nietzsche hier von sich redet, macht der übernächste Aphorismus wahrscheinlich: »Ich will, ein für alle Mal, Vieles n i c h t wissen« – ein Zusatz, der überraschen muss bei dem ›neuen Aufklärer‹ Nietzsche und seinem wenig später folgenden vehementen Plädoyer für »Rechtschaffenheit« (VI: 63). Ein Zusatz aber auch, der womöglich jenen im Epilog noch zu thematisierenden Hintergründen für Nietzsches Lob auf die Vergesslichkeit zugehört. Richtig ernst wird es aber erst in den folgenden zehn Einzelkapiteln, insbesondere im zweiten namens Die ›Vernunft‹ in der Philosophie mit der Feststellung: »Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. […]. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum sind für sie Einwände, – Widerlegungen sogar. Was ist, w i r d nicht; was wird, i s t nicht …« (VI: 74)

Nietzsche hat hier unter der Hand seinen eigenen Ansatz skizziert: Er will zeigen, wie das Seiende geworden ist und wie das Werdende in Geltung gesetzt werden kann. Vorauszusetzen ist dabei, dass das Seiende – dies ist zugleich der eine zentrale Vorwurf Nietzsches an seine Berufskollegen – nicht als metaphysisch verstanden werden darf: »Die ›scheinbare‹ Welt ist die einzige: die ›wahre Welt‹ ist nur h i n z u g e l o g e n …« (VI: 75) Die Konsequenz aus dieser Einsicht zieht Nietzsche am Ende dieses Kapitels, wo er, gleichsam in Vorwegnahme der Quintessenz seiner ebenso legendären wie genialen kleinen Skizze Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde (vgl. Kap. VII), ausführt: »Von einer ›andren‹ Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines ›anderen‹, eines ›besseren‹ Lebens.« (VI: 78)

Nietzsches zweiter zentraler Vorwurf gegen ›die‹ Philosophen hat mit deren Leugnung des Werdens zu tun nach dem Muster: »[D]as Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht gewachsen sein … Moral: Alles, was ersten Ranges ist, muss causa sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als Werth-Anzweifelung.« (VI 76)

Anders bei Nietzsche, der für diese »Herkunft aus etwas Anderem« seit Menschliches, Allzumenschliches den Begriff ›Sublimierung‹ 59 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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vorsieht, den er nun durch die Vokabel ›Vergeistigung‹ ersetzt. Im Ergebnis wird ihm so Liebe neu lesbar (als »Vergeistigung der Sinnlichkeit«); auch eine »Vergeistigung der F e i n d s c h a f t « scheint ihm nun denkbar, etwa dahingehend, »dass man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben.« Der Vorteil dieser Umwertung, die sich schon im der Rede Vom Freunde aus Zarathustra I andeutete, liegt für Nietzsche auf der Hand: Das Gebot der Stunde ist nicht länger »Vernichtung ihrer [der Kirche; d. Verf.] Feinde« (VI: 84), oder, wie gleichfalls in christlicher Sicht intendiert: »Ausrottung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht).« (VI: 83) Das Gebot der Stunde ist vielmehr Wertschätzung der Sinnlichkeit (als Rohstoff für vergeistigte Liebe) sowie des Feindes als Chance für eigene Weiterentwicklung – eine Art Bestandsgarantie also für das Christentum, wie Nietzsche hintersinnig hinzuzufügen nicht unterlässt: »[W]ir, wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche besteht …« (VI: 84) Im nächsten Kapitel mit dem Titel Die vier grossen Irrthümer nimmt Nietzsche das eben verhandelte Thema – die ›Vergeistigung‹ – unter der Rubrik »Irrthum einer falschen Ursächlichkeit« (VI: 90) wieder auf und konstatiert schlicht: »Es giebt gar keine geistigen Ursachen! Die ganze angebliche Empirie dafür gieng zum Teufel!« (VI: 91) Nicht minder grundlegend sind die Ausführungen zum siebten Irrtum, genannt der »Irrthum vom freien Willen«, den Nietzsche bei der »alten Psychologie« beheimatet sieht, bei der »Willens-Psychologie«: »Die Menschen wurden ›frei‹ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden (– womit die grundsätzlichste Falschmünzerei in psychologicis zum Princip der Psychologie selbst gemacht war …)« (VI: 95)

Nietzsches ›neue Psychologie‹ folgt einem anderen Leitsatz: »Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als ›Geist‹ eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung, – damit erst ist die U n s c h u l d des Werdens wieder hergestellt …« (VI: 96 f.)

Was folgt, ist die Sichtung der Versuche, die Verbesserung des Menschen qua ›Züchtung‹ einerseits und ›Zähmung‹ andererseits zu erreichen – mit desaströsem Befund in Sachen Letzterer, vorwiegend 60 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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der eingesetzten Mittel wegen: »Furcht«, »Schmerz«, »Wunden«, »Hunger« führen nur zur Schwächung, »[n]icht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester ›verbessert‹ hat.« (VI: 99) Aber auch die Züchtung, exemplarisch diskutiert an dem von Nietzsche als arisch gelesenen indischen »Gesetz des Manu«, steht nicht für eine Verbesserung, vor allem wegen der erniedrigenden und grausamen Behandlung der Tschandala, der »Nicht-Zucht-Menschen.« (VI: 100) Insoweit stellt sich Nietzsche auf die Seite dieser heutzutage als »Dalits« bezeichneten untersten sozialen Schicht Indiens (Michael Skowron in NLex:163 ff.). Nur dieser Kultur vergleichende Exkurs erklärt Nietzsches ansonsten schwer verständliche Pointe, wonach das Christentum als »G e g e n b e w e g u n g gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums« und insoweit als »a n t i a r i s c h e Religion par excellence« (VI: 101) gedeutet werden könne. Erwähnt sei noch das ausführliche Kapitel Streifzüge eines Unzeitgemässen, in welchem Nietzsche in Weiterführung des hierzu in Wir Furchtlosen Gesagten herausstellt, dass der Kampf ums Dasein wegen der von Darwin übersehenen »List« und »Verstellung« (VI: 121) der Schwachen in der Regel »zu Ungunsten der Starken« (VI: 120) ausgehe. Soweit die Analyse, der man ein gewisses Recht nicht absprechen kann, im Gegensatz zu der Konsequenz, die Nietzsche unter der (zynischen) Überschrift Moral für Ärzte zumindest andeutet: »Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des a u f s t e i g e n d e n Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des e n t a r t e n d e n Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben …« (VI: 134)

Die Resonanz, auf die diese Sätze zumal im ›Dritten Reich‹ trafen, war enorm, ebenso der Schaden, der für Nietzsche nach 1945 eintrat. (vgl. Kap. XIV/5) Was dabei in der Regel außer Acht gelassen wurde, ist der Umstand, dass Nietzsche hier auch höchst private Nöte und Ängste im Blick auf seine eigene Krankheit einfließen ließ (vgl. Niemeyer 2011: 22 ff.) und sich im Übrigen im gleich nachfolgenden Absatz dagegen verwahrte, »den Sinn meines Werks dahin zu ›verstehn‹, dass ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte.« (VI: 136) Darum also war es Nietzsche nicht zu tun – wohl aber um die Infragestellung der modernen Selbstzufrie61 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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denheit im Vergleich zur Renaissance. »[W]ir Modernen«, so Nietzsches Einwand in diesem Zusammenhang, geben »mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit« vielleicht nichts weiter als den letzten Beleg für eine »s c h w a c h e Zeit«, denn: »Unsre Tugenden sind bedingt, sind h e r a u s g e f o r d e r t durch unsre Schwäche …« (VI: 138) Weil dem so ist – so darf man ergänzen – sind sie letztlich auch gar nicht als wirkliche Tugenden anzuerkennen, im Gegensatz etwa zum Streben nach Freiheit, das Nietzsche hoch hält, weil sich in ihm der »Wille zur Selbstverantwortlichkeit« (VI: 139) ausspreche. Wenige Zeilen später freilich – und auch dies ist typisch für das Spätwerk – kommen Nietzsche wieder Zweifel: »Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man ›Freiheit‹.« (VI: 141) Das Konservative dieses Einwandes nimmt Nietzsche in Kauf, ebenso wie den Widerspruch im Blick auf sein vorhergehendes, leidenschaftliches Plädoyer für Freiheit oder den Zynismus, der sich in seiner Stellungnahme zur ›Arbeiter-Frage‹ verbirgt, insonderheit in Gestalt der Sätze: »Will man einen Zweck, muss man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht.« (VI: 143) So betrachtet ist es fast folgerichtig, dass noch ein Nachtrag angefügt ist, in welchem Nietzsche jenen Passus aus Zarathustra III zitiert, der mit den Worten endet: »Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch: w e r d e t h a r t !« (IV: 268) Gar so weit von dieser Tafel hin zu Nietzsches nächstem Buch Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum (= AC) ist es übrigens nicht – Kunststück, sind doch beide Schriften aus Aufzeichungen entwickelt, die Nietzsche für sein Projekt Der Wille zu Macht sammelte. Anders als Götzen-Dämmerung schaffte es AC nicht mehr zur von Nietzsche überwachten Drucklegung. Allerdings erklärte Nietzsche AC mit neuem Untertitel (bis dato: Umwertung aller Werthe, ein Titel, den Nietzsche auch als Ersatz für Der Wille zur Macht erwog) Ende November 1888 für druckfertig. Seines geistigen Zusammenbruchs wegen erschien AC erst 1894 unter der Regie von Nietzsches Schwester. Sie ließ einige ihr politisch nicht passende Sätze weg und wählte mit Versuch einer Kritik des Christenthums einen harmloseren Untertitel. Die Besonderheit von AC deutet sich in dem Satz an:

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»Man muss rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten.« (VI: 167)

Tatsächlich ist der folgende anti-christliche Katechismus nur schwer auszuhalten: »Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? – Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden wird.« (VI: 170)

Dies gilt umso mehr, als die – schon in Götzen-Dämmerung angedeutete – Pointe nicht ausbleibt: »Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz u n s r e r Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.« (VI: 170)

Schon dieser zweite der insgesamt 62 Paragraphen verdeutlicht also, was gemeint war, als Nietzsche in der Genealogie der Moral auf AC – damals noch unter dem Titel Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe – hinwies und fast schon drohend ankündigte, er werde in diesem Buch einige jener dort erörterten Themen »gründlicher und härter« (5: 408) anfassen. So betrachtet darf es fast als Selbstdementi gelesen werden, wenn Nietzsche gegen Ende von AC den »Fanatiker« (VI: 237) – genannt werden neben anderen Luther, Rousseau und Robespierre – unter Berufung auf den ›Skeptiker‹ Zarathustra als schwach geißelt und zur Veranschaulichung dessen den (netten) Aphorismus aufbietet: »Überzeugungen sind Gefängnisse.« (VI: 236) In der Summe freilich scheint Nietzsche das Lachen vergangen zu sein – wohl infolge seiner Ungeduld angesichts der ungebrochenen Fortdauer eines von ihm längst schon entlarvten falschen Zaubers namens Christentum nach dem Motto: »Jedermann weiss das: u n d t r o t z d e m b l e i b t A l l e s b e i m A l t e n .« (VI: 210 f.) Der Autor wirkt hier und an anderen Stellen eigentümlich gehetzt und ungeduldig, als gelte es, noch einmal sein ganzes Programm seit dem Zarathustra zu rekapitulieren. Zuzugestehen ist, dass Nietzsche im Zuge dessen mancherlei hübsche Variante gelingt auf seine alte Programmatik. Ein Beispiel: Dass der ›Böse‹ seiner ›Sonne‹ (sprich: einer Erklärung) bedürfe – wie in Die fröhliche Wissenschaft erstmals gefordert –, wird nun erneut (und sehr originell) angesprochen, wenn es etwa in § 16 heißt: »Man hat den bösen Gott so nöthig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit.« 63 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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(VI: 182) Interessanter ist allerdings »die e c h t e Geschichte des Christenthums«, die Nietzsche in § 39 zu erzählen verspricht, beginnend mit: »im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz« und endend mit: »Heute noch ist ein s o l c h e s Leben möglich, für g e w i s s e Menschen sogar nothwendig.« (VI: 211) Denn dies klingt vor dem Hintergrund, dass Nietzsche wenige Monate später seine letzten Turiner Briefe mit »Der Gekreuzigte« abzeichnen wird, nach düsterer Weissagung. Besonders grundlegend gerät Nietzsches Abrechnung mit dem Apostel Paulus (um 10 n. Chr. – 64/67), dem Nietzsche vorhält, er habe »mit dem Symbol ›Gott am Kreuze‹ alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht [aufsummiert].« (VI: 246 f.) Es folgt eine Variante zum Sündenfallmythos unter der Überschrift »von der Höllenangst Gottes vor der W i s s e n s c h a f t « (VI: 226), die in der Pointe mündet, dass, in dieser Logik gedacht, der Mensch nicht als »Lernender«, sondern als ›Leidender‹ bestimmt war, der »jeder Zeit den Priester nöthig hat.« (VI: 228) In der Summe steht für Nietzsche außer Frage, dass das Christenthum »bisher das grösste Unglück der Menschheit [war]« (VI: 232), dies auch im Blick auf den Untergang der antiken Welt und der hier noch dominierenden »Vornehmheit des Instinkts« oder der »methodische[n] Forschung«, kurz: des »grosse[n] Ja zu allen Dingen.« (VI: 248) Auch »um die Ernte der I s l a m -Cultur« seien wir durch das Christentum respektive die Kreuzritter gebracht worden, die etwas bekämpften, »vor dem sich in den Staub zu legen ihnen besser angestanden hätte.« (VI: 249) Und, nicht zu vergessen: »Die Deutschen haben Europa um die letzte grosse Cultur-Ernte gebracht […] – um die der R e n a i s s a n c e . « (VI: 250) Nietzsches Resümee ist, nach einem bitteren Seitenblick auch noch auf Luther und dessen Renaissance-Verachtung, eindeutig: »Es sind meine Feinde, ich bekenne es, diese Deutschen […] Sie haben, seit einem Jahrtausend beinahe, Alles verfilzt und verwirrt […], – sie haben auch die unsauberste Art Christenthum, die es giebt […], den Protestantismus auf dem Gewissen … Wenn man nicht fertig wird mit dem Christenthum, die Deutschen werden daran schuld sein …« (VI: 251 f.)

Was dem noch folgt, ist wieder von jener Bitterkeit, die wir vom Anfang dieser Schrift her kennen und die Nietzsche auch veranlasst haben dürfte zum – von seiner Schwester unterschlagenen – Gesetz 64 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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wider das Christenthum, mit dessen viertem Satz Nietzsche in bis dato beispielloser Rigidität die christliche Leibfeindlichkeit als »die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens« (VI: 307) geißelt. Nietzsches nächste und letzte Schrift Ecce homo. Wie man wird, was man ist (EH) gilt vielen Interpreten als Nietzsches definitiver Werkkommentar. Angemessener ist es vielleicht, allererst von der größten Herausforderung kritischer Nietzscheforschung zu sprechen, dies auch wegen der deutlich pathologischen Züge, um die schon der Titel ahnen lässt, der im Übrigen folgerichtig scheint nach dem zum Antichrist Berichteten. Denn was Nietzsche hier paraphrasiert, sind die Worte des Pilatus im Blick auf Jesus mit der Dornenkrone – Worte also, die dem »Gekreuzigten« angemessen scheinen, als welcher Nietzsche wenige Monate später einige seiner letzten Briefe abzeichnen wird. Beachtenswert sind auch die Fallstricke der Text- und Editionsgeschichte. So hat Nietzsche seinem Verleger bis zuletzt immer wieder neue Änderungen und Einschübe zugeschickt, und es hat durchaus seinen Reiz aufzuklären, was wann warum und auf wessen Impuls hin der Streichung zum Opfer fiel. Im Zentrum steht dabei Nietzsches Schwester, die, als gleichsam offizielle Nachlassverwalterin auftretend, sich über einen Einschub Nietzsches empörte, in welchem er sein »unsägliches Grauen« bekannte vor ihr und seiner Mutter, dieser »vollkommene[n] Höllenmaschine« (VI: 268). Konsequenz: Erst zwanzig Jahre später, 1908, ließ sie Raoul Richter eine verstümmelte Version präsentieren, gleichsam ungeachtet ihrer Bauchschmerzen, wie sie suggerierte, da ihr Nietzsche (in allerdings von ihr gefälschten Briefen) untersagt habe, dieses Werk zu veröffentlichen (vgl. Niemeyer 2011: 51 f.). So betrachtet haben wir es mit – in der Überlieferungsgeschichte begründeten – Erschwernissen zu tun, die sich in der Wirkungsgeschichte Nietzsches teilweise fatal ausgewirkt haben. Ein Beispiel: Erst 1967 wurde erstmals publiziert, dass Nietzsche 1888 nicht nur seine Mutter wie Schwester, sondern auch Wilhelm II. geschmäht hatte, dies mit dem Wort, er »würde dem jungen deutschen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein.« (VI: 268) Angesichts solch gravierender Auslassung ist es nur zu verständlich, dass man in der Nietzscheforschung auf die Vorlage des authentischen EH erleichtert reagierte und annahm, nun werde die Deutung seiner Werke zumal in Anbetracht des auf sie zurückweisenden Erläuterungen des Autors auf sicherer Grundlage erfolgen können. 65 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Freilich: Nicht alles an EH ist als seriöser Werkkommentar zu akzeptieren, und um dies zu verstehen, muss man beachten, dass der Autor sich dieses Werk an seinem 44. Geburtstag zu erzählen begann – ein Geburtstag wohlgemerkt, zu dem ihn nur noch ein Glückwunsch erreichte und selbst seine Mutter erstmals nichts von sich hören ließ. Denn so betrachtet liegt es nahe anzunehmen, dass der Autor von der Absicht umgetrieben war, eben diese Missachtung seiner Person insgesamt zum Skandal zu erklären nach dem Muster: »Zehn Jahre: und Niemand in Deutschland hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen das absurde Stillschweigen zu vertheidigen, unter dem er vergraben lag.« (VI: 363)

Kurz geredet und in den Begriffen der Historienschrift von 1874: EH ist nicht eine ›kritische‹, sondern eine ›monumentale‹ Künstler-Autobiographie, also eine Art Auto-Hagiographie – mit gravierenden Folgen, die auch den Bereich des systematischen Fortlassens des letztlich dann doch als unklug Empfundenen berühren. Im Dienste dieser Aufgabe ließ Nietzsche manches scharfe Urteil über Wagner in gleichsam letzter Minute unter den Tisch fallen oder nahm ihn, durch Umwertung des Geschehenen, nachträglich in Schutz auf Kosten der Wagnerianer. (Vgl. Kap. X) Entsprechend wird Tribschen – jener Ort, den Nietzsche noch in Jenseits von Gut und Böse kleinlaut mit dem Verdacht in Verbindung gebracht habe, er habe sich hier eine »politische Infektion« (V: 193) in Sachen Antisemitismus zugezogen – wieder (und einseitig) zu einer Chiffre für »Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle.« (VI: 288) Wirklich gravierend ist aber etwas anderes: Beim Versuch Nietzsches, im Nachgang Werkeinheitlichkeit postulieren zu wollen, unterläuft ihm ein grober, aber bezeichnender Fehler. So hatte er noch 1886 seinen ›Erstling‹ Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik mit dem (nicht unberechtigten) Vermerk ad acta gelegt: »Aber es giebt etwas viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere […]: […] Dass ich […] vom ›deutschen Wesen‹ zu fabeln begann […].« (I: 20)

Nun jedoch, in EH, hat dieser kritische Zugriff völlig ausgespielt zugunsten eines geradezu unheimlichen, auf das kontinuierende Motiv des in der Tragödienschrift grundgelegten Dionysos-Kults anspielenden Versprechens wie des folgenden:

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IV · Der ›späte‹ Nietzsche, hier: Ein »Denker am Abgrund«

»Ich verspreche ein tragisches Zeitalter: die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, ohne daran zu leiden …« (VI: 313)

Wovon Nietzsche hier redet, gleichsam als Ausblick auf eine für 1988 in Aussicht gestellte »Partei des Lebens«, ist nicht mehr und nicht weniger als ein womöglich auf seine Syphilis abstellendes und diese damals unheilbare Geschlechtskrankheit für alle Zeiten aus der Welt schaffendes Programm der »Höherzüchtung der Menschheit […], eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen.« (VI: 313) Was aber hat dieses Programm mit Nietzsches Geburt der Tragödie zu tun? Richtig: nichts – abzüglich, so mag Nietzsche, am Abgrund seines Denkens stehend, gedacht haben, der Vokabel ›Tragödie‹ sowie seiner an die zukünftigen Interpreten seiner Werke zu adressierenden Botschaft, dass »Alles Eins ist und Eins will.« (8: 545) Das Fazit kann von hier aus kaum fraglich sein: Man wird Nietzsches Nachricht an seinen Verleger vom 6. November 1888, er sei nun fertig mit seinem Versuch, »mich selber, meine Bücher, meine Ansichten, bruchstücksweise, so weit es dazu erfordert war, m e i n L e b e n zu erzählen« (8: 464), dahingehend variieren dürfen, dass Nietzsche sein Leben in EH so weit erzählte, wie es erforderlich war, den von ihm verfolgten Zweck zu erfüllen. Damit kopierte Nietzsche, der sich im Gegensatz wähnte zur ›Verlogenheit von Jahrtausenden‹, exakt das Prinzip, das er Monate zuvor Wagner – in Der Fall Wagner – mit Seitenblick auf dessen Autobiographie Mein Leben vorgehalten hatte: »[E]r blieb […] auch im Biographischen sich treu, – er blieb Schauspieler.« (VI: 41) Für die Nietzscheforschung folgt daraus: Wer Nietzsches Äußerungen in EH, zumal die werkinterpretatorisch relevanten, wörtlich nimmt, hat schon verloren und wird Teil des Mythos, den es zu sezieren gilt. Dies gilt – um von diesem Ende auf den Anfang dieses Kapitels zu schauen – namentlich für Werner Stegmaier und Christina Kast: Sie heiligen mit ihrer Kontinuitätsannahme ausgehend vom Frühwerk jenes »Dass-Alles-Eins-ist-undEins-will« Nietzsches, das ihm letztlich, am Abgrund seines Denkens stehend, zum selbsttherapeutisch wichtigen Wahn gerät.

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Kapitel V

Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

Ich erst habe die Wahrheit e n t d e c k t , dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand. (Nietzsche, 1888)

Die vorstehende kleine Werkschau hat uns den ganzen geistigen Kosmos Nietzsches in äußerster Verknappung vor Augen geführt, die Vielzahl seiner Ideen und Konzepte, auch das Fatale seiner Entwicklung bis hin zu dem Punkt, an dem dieser große Denker sich – aus welchen Gründen auch immer – seinem Abgrund näherte. Im Folgenden wird es darum gehen, einige zwischendurch immer wieder angesprochene zentrale Probleme in systematisierender Absicht zu erörtern, ausgehend von der betrüblichen, mich zumindest betrübenden Skepsis, auf die Nietzsche nach wie vor bei Philosophen trifft, exemplarisch beim Kantianer Reinhard Brandt (2005: 92 f.), der sich beispielsweise empörte über Nietzsches Aussage: »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.« (VI: 63)

Nietzsche plädierte mit diesem – ursprünglich den Systemanspruch seines geplanten Hauptwerks Der Wille zur Macht persiflierenden (s. XII: 450) – Wort für Rechtschaffenheit respektive gegen Borniertheit, seine eigene eingeschlossen (s. XII: 538). Ungeachtet dessen tat Brandt so, als habe sich Nietzsche hiermit gegen den Sinn von Systematik und Systematisierung schlechthin ausgesprochen. Auch das Resümee des renommierten Kant- und Nietzscheforschers Volker Gerhardt hat sich über die Jahre deutlich verfinstert, wie exemplarisch sein Wort belegen mag: »Auch wenn sein [Nietzsches] Werk in fast allem unfertig geblieben ist, obgleich sich viele seiner Gedanken in einer exaltierten Geste erschöpfen und es in seinen Schriften kaum eine Einsicht gibt, die sich nicht schon bei

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V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

anderen findet, ist er zum Klassiker der Philosophie geworden.« (Gerhardt 2012: 31)

Die von Gerhardt erstellte Liste von Fehlern Nietzsches hat es wahrhaft in sich: »Missachtung Hegels«, »Spott über Schleiermacher«, »Verrat an Kant«, »Schwanken zwischen Leugnung der Freiheit und der Affirmation des ›freien Geistes‹«, »Verkennung der Metaphysik«, »Annihilation der Schulen«, »unbekümmerte[r] Umgang mit Widersprüchen in seinen eigenen Schriften« (ebd.: 32), nicht zu vergessen, und dies eher aufs Spätwerk hin gemünzt: »Phantasterei«, »empörende Wertung[en]«, »Ressentiment[s] gegen Juden und Christen« (ebd.: 43) – kurz: Ginge es nach Gerhardt, wäre ein Buch wie dieses, ein, wie ich selbstironisch sagen würde, als Geburtstagsgruß getarnter Rettungsversuch Nietzsches für die Belange zeitgemäßen philosophischen Denkens, schlicht überflüssig, wenn nicht gar gefährlich. Gott sei dank geht es in diesem Buch aber nicht nach Gerhardt, sondern allenfalls um ihn und damit auch um die Frage, wie sich die Reserve gerade von Philosophen gegenüber Nietzsche wohl der Sache nach erklären mag. Meine Vermutung lautet: Sie muss mit der antimetaphysischen, auf die Entfaltung moderner Einzelwissenschaften hinweisenden Programmatik von Nietzsches ›mittlerer‹ Phase zu tun haben, als deren Höhepunkt die kritische Vokabel »Ägyptizismus« aus Götzen-Dämmerung zu gelten hat, die ihre Erläuterung erfährt durch den oben (S. 59) bereits angeführten Satz: »Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien.« (VI: 74)

Nicht zuträglich für Nietzsches Image in Philosophenkreisen war sicherlich auch die (psychologische) Philosophen- und Philosophiekritik im Spätwerk (vgl. NLex: 316 ff.) bei zunehmend unversöhnlicher werdender Kant-Kritik (s. NLex: 189 ff.). Der so motivierten Skepsis in Sachen der Einordnung und Wertung des studierten Alt-Philologen Nietzsche als Philosoph hatte schon Nietzsches Jugendfreund Paul Deussen kräftig Vorschub geleistet mit seinem Urteil: »Ein systematischer Philosoph ist er nie gewesen; die großen Probleme der Erkenntnistheorie und Psychologie, der Ästhetik und Ethik werden nur im Vorübergehen berührt.« (1901: 99)

Warum aber dann, so wollte Deussen damit offenbar sagen, große Philosophie erwarten von einem, der noch nicht einmal ein systema69 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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tischer Philosoph war? Man kann diese schon von Hans Vaihinger (1916: 16) kritisierte Rezeptionsstrategie auch etwas anders auf den Begriff bringen: Nietzsche hätte sich, Deussen wie etwa auch Wilhelm Dilthey (1921: 27) zufolge, allererst auf dem seit Kants drei Kritiken zergliederten fachphilosophischen Terrain als trittfest erweisen müssen. Weil er dies angeblich nicht hinreichend tat, muss nicht oder nur in nachlässiger Weise geprüft werden, ob er sich nicht auch jenseits dieses Terrains festen Boden im Sinne einer seinem Denken eigenen philosophischen Systematik zu sichern verstand. Daraus könnte die gleichsam defensive Variante des Versuchs entwickelt werden, Nietzsche den Philosophen (wieder) schmackhaft zu machen. Am Ende resultierte ein Verzeichnis von für Nietzsches Denken typischen Begriffen (amor fati, ewige Wiederkunft, guter Europäer, Übermensch, Wille zur Macht etc.) samt darauf bezüglicher, lesebuchtauglicher Belegstellen in chronologischer Ordnung unter Orientierung etwa am Nietzsche-Lexikon in der 2. Auflage von 2011 (= NLex). Zweckdienlicher im Blick auf eine offenbar überfällige Korrektur des (abweisenden) Nietzschebildes zeitgenössischer Philosophen scheint es allerdings – und auch hier leistet das ins Spanische als auch ins Portugiesiche übersetzte Nietzsche-Lexikon, enthaltend 446 Lemmata von 145 Autorinnen und Autoren aus 21 Ländern der Welt, gute Dienste –, Nietzsches Beiträge zu zentralen philosophischen Grundbegriffen ins Zenrum zu stellen. Hier und da wurde dieser Weg von Lesebuchmachern angedeutet, zuletzt von Ludger Lütkehaus (2011), der Quellentexte Nietzsches nicht nur unter dem für diesen Denker typischen Stichworten wie »Gott ist tot« oder »Übermensch« darbot, sondern auch unter der – für die Philosophie in ihrer Breite bedeutungsvollen – Rubrik »Wahrheit«. Dieser konzeptuellen Grundidee ist auch des Verfassers Folgeprojekt Nietzsche: Die Hauptwerke. Ein Lesebuch (= NLese) von 2012 verpflichtet. Seine Besonderheit: Der ›frühe‹ Nietzsche, also Wagners Nietzsche, findet aus den oben (vgl. Kap. II) erläuterten Gründen hier nicht statt. Und: Der eigentlichen Quellendokumentation vorangestellt ist ein Kapitel Nietzsche zu ausgewählten philosophischen Grundbegriffen, das in chronologischer Ordnung elementare Textauszüge bringt zu sechs philosophischen Grundbegriffen (»Bewusstsein«, »Erkenntnis«, »Leib«, »Subjekt«, »Wahrheit« und »Willensfreiheit«). Auffällig dabei in Sachen des hier in Zentrum stehenden Wahrheitsbegriffs: Nietzsche hat sich von Beginn seiner Professorenkarrriere an bis kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch 70 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

immer wieder neu mit der Wahrheitsfrage auseinandergesetzt, durchaus entlang eines Ariadnefadens, der Anfang wie Ende dieses Reflektierens im als Motto angeführten Zitat aus Ecce homo auf den wichtigen Punkt bringt: »Ich erst habe die Wahrheit e n t d e c k t , dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand.« (VI: 366)

Anstatt aber hier schon (vgl. allerdings Kap. V/1) diesen Satz genauer zu erläutern, begnüge ich mich mit einer ganz wichtigen, von diesem Satz herleitbaren Ausschlussdiagnose: Ich schließe aus, dass Nietzsche – so erfuhr man 2007 aus einer in einem renommierten Verlag erschienenen Dissertation – »zeitlebens« an der Dekonstruktion der »Idee von Richtigkeit und Wahrheit (auch von Sprache und Literatur)« gearbeitet hat, sowie, und dies folgt dann daraus: Ich schließe aus, dass derjenige, der sich gleichwohl der Idee der »Richtigstellung« (etwa von Nietzschebildern) verpflichtet, »die gesamte Strategie Nietzsches aufs Spiel [setzt].« (Hofbauer 2007: 12) Deutlicher geredet: Für mich ist dies pure, postmoderne Ideologie, hilfreich, der eigenen wilden Blüte einen von vornherein herausragenden Platz an der Sonne unter vielen anderen zu sichern, nicht zu vergessen: geeignet dazu, den eigenen Mangel in Sachen Literaturrecherche und Forschungsstand als nicht erheblich zu bagatellisieren. Indes: So über Nietzsches Wahrheitsbegriff zu reden, so lässig und nachlässig, war damals durchaus gängig in postmodernen oder anything-goes Zeiten à la Paul Feyerabend. Damals auch waren Wahrheitsdebatten in philosophischen Einführungsseminaren verhältnismäßig unprobematisch zu füllen mit intellektualisisierenden Scheindebatten, etwa über die Frage, ob und wie die Interpretation »Tisch« mit der Tatsache »Tisch« koordiniert werden kann; oder, noch beliebter als pseudointellektuelles, angeblich der Philosophie würdiges Rätsel: Ob der Kreter die Wahrheit sagt oder sagen kann, wenn er zugleich behauptet, alle Kreter würden lügen. Ein gutes Jahrzehnt später war endgültig Schluss mit lustig. Der die Weltöffentlichkeit schockierende Streit um die Zuschauerzahlen bei den Inauguratonsfeiern des neuen US-Präsidenten hob eine akademische Frage auf die Ebene einer womöglich über Krieg und Frieden entscheidenden, stellte klar, dass Fakten durchaus wichtig sind und ihr Obsiegen über ihr Gegenteil, die »alternativen Fakten«. Seitdem haben wir auch und gerade in Europa auf bittere Weise erfahren müssen, dass das hin und wieder schon zuvor in rechtspopulistischen Kreisen gesichtete 71 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

und in der NS-Zeit von Goebbels aufgepäppelte Gespenst der »Lügenpresse« ganz offensichtlich nichts weniger beseitigen soll als die freie Presse, dies als Vorbereitung auf eine Zeit, die diese zu fürchten hätte und deswegen, wie das Beispiel Donald Trump aktuell lehrt, vor kaum einer Lüge zurückschreckt, um diese, angeblich im Interesse der Wahrheit, zu beseitigen. Angesichts dieser Lektion in Sachen sukzessive Abschaffung der Demokratie, von der (Präsidal-) Regierung ausgehend, scheint es aktuell kein dringlicheres Thema unter den großen philosophischen Fragen zu geben als die Wahrheitsfrage. Deswegen, aber auch, weil uns an Nietzsches wirklicher – und nicht nur, wie das Beispiel Jürgen Hofbauer lehrt, ihm unterstellter – Position zur Wahrheitsfrage liegt, wollen wir uns im Folgenden ausführlich mit diesem Thema beschäftigen. Dabei ist von dem im vorhergehenden Kapitel angesprochenen Texten Nietzsches zu dieser Thematik einer von einschlägiger Relevanz für dieses Thema: Nietzsches – wie zu zeigen sein wird – schon mit dem hier vorangestellten Motto angesprochener Essay Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873; im Folgenden: WL). Hiermit wollen wir beginnen (1.), ehe dann der Nietzsche als Urheber zugeschriebenene Spruch »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« in rezeptionsgeschichtlicher Sicht (2.1) interessieren soll und abschließend als Teil eines Interpretationsversuchs interessieren wird (2.1). Am Ende sollten wir zureichend Antwort geben können auf die Frage nach Nietzsches Wahrheitsbegriff sowie auf jene nach der Relevanz der im Motto fixierten Aussage.

1. Zu Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) Zentral an diesem von Nietzsche bewusst »geheim gehaltenen« (II: 370) »Schriftstück« ist die Definition, Wahrheit sei »[e]in bewegliches Heer von Metaphern.« (I: 880) Dieser Definition, so beispielsweise Barbara Neymeyr, eine der Kommentatorinnen des Heidelberger Nietzsche-Kommentars, inhäriere die »Unausweichlichkeit metaphorischer Diktion« und darin zugleich »die Eliminierung eines qualitativ bestimmten Wahrheitsbegriffs.« (Neymeyr 2016: 352) Die Folgen dieser Lesart kann man dann bei Felix Schönherr besichtigen. Ihm zufolge sei es »Nietzsches metaphorischem Sprachgebrauch« geschuldet, »dass sich ein klar umrissenes anthropologisches Konzept 72 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Zu Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873)

hinter der Rede vom ›Übermenschen‹ nicht zweifelsfrei erkennen lässt – beziehungsweise eine Vielzahl solcher Konzepte möglich scheint.« (Schönherr 2018: 226 f.) Womöglich – aber dies nur als Anmerkung am Rande – erklärt die Spärlichkeit der von Schönherr konsultierten Literatur diesen traurigen Befund, der uns noch beschäftigen wird. (vgl. Kap. XI) Wichtiger ist hier die Frage der Triftigkeit des von Neymeyr wie Schönherr reklamierten Wahrheitsbegriffs, sofern Nietzsche als dessen Urheber in Betracht kommt. Es bietet sich dabei an, schrittweise vorzugehen, also als erstes einzuräumen, dass der 2016 zu WL vorgelegte Heidelberger Nietzsche-Kommentar von Sarah Scheibenberger, auf eine Magisterarbeit zurückgehend und von Jochen Schmidt betreut, zu einem mit Barbara Neymeyr vergleichbaren Ergebnis kommt. Sowie: Dass er solide ist insbesondere in der auf die Rede vom ›beweglichen Heer von Metaphern‹ sich konzentrierenden spezifischen Rezeptionsgeschichte. Ob es Scheibenberger indes auch gelungen ist, diesem Text auch theoriesystematisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, darf füglich bezweifelt werden. (zum Folgenden auch Niemeyer 2017: 79 ff.) Dabei muss beachtet werden, dass dieser frühe, gegen Nietzsches Intention posthum von Nietzsches Schwester veröffentlichte Text Tücken eigener Art aufweist, denen nicht aufzusitzen schon ganz anderen Interpretinnen schwerfiel. Ein Beispiel: Sarah Kofman betonte in einem von Scheibenberger zwar beigezogenen, aber nicht in dieser spezifischen Thematik problematisierten Beitrag, dass Nietzsche »seit« WL »zwischen zwei Typen des Menschen [unterscheidet]« (Kofman 1972: 117), nämlich zwischen dem ›vernünftigen‹ und dem – von Kofman gefeierten – ›intuitiven‹ Menschen. Kofman übersah allerdings bei ihrer Vokabel »seit« – ähnlich wie Scheibenberger, hier auch infolge der Unkenntnis zentraler Sekundärliteratur –, dass der späte Nietzsche sich zumindest dort von seinem frühen Ideal des ›intuitiven Menschen‹ löste, wo er sich konfrontiert sah mit der grundlegenden Frage nach der Beschaffenheit der conditio humana im Anschluss an den in Also sprach Zarathustra deklarierten Tod Gottes. Denn hiermit trat an den Menschen unabweisbar die Nötigung heran, sich selbst im Falschen als wahr zu setzen, anstatt nur in eigenkurativer Absicht im Falschen das Wahre zu suchen. Und eben damit trat die Psychologie in ein gleichsam neues Recht, wie für die späte Variante auf den ›vernünftigen Menschen‹, nämlich den ›Menschen des Ressentiment‹ aus Zur Genealogie der Moral (1887; im Folgenden: GM), gezeigt werden 73 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

könnte bzw. schon längst gezeigt wurde. (vgl. Niemeyer 1998: 357 f.) Hier hierzu nur so viel, unter Bezug auf neuere Einsichten in dieser Angelegenheit (vgl. Niemeyer 2017: 21 f.): Die auf den ›Menschen des Ressentiment‹ bezogenen Negativattribute (»weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selbst ehrlich und geradezu«; V: 272) aus GM lassen sich ohne Weiteres in jene abwertenden Urteile übersetzen, mit denen Nietzsche in WL den ›vernünftigen Menschen‹ assoziativ verknüpft hatte, um diesen Menschentypus dann wegen des ihm eigenen Drangs, den Kampf ums Dasein mittels intelligenter »Verstellung« (I: 876) zu bewältigen, für einen ästhetisch orientierten und zweckfrei denkenden Menschen diffamierbar zu machen. Versuchen wir, dieses Beispiel aufnehmend, ein Zwischenfazit: Das kontinuierende Motiv zwischen dem frühen und dem späten Nietzsche gründet darin, dass sowohl die ›Menschen des Ressentiment‹ als auch die ›vernünftigen Menschen‹ der strategischen Handhabung des Intellekts beschuldigt werden. Das differierende Motiv hingegen gründet darin, dass Nietzsche noch 1873 die wegen der verbreiteten Klugheit der ›vernünftigen Menschen‹ geringe Aussicht, einen »ehrlichen und reinen Trieb zur Wahrheit« (I: 876) zu identifizieren, nutzte, um für sein Projekt eines eher ästhetisch-metaphorisch angelegten Umgangs mit der sogenannten ›Wahrheit‹ Politik zu machen. Der Nietzsche des Jahres 1887 hingegen argumentierte bei weitem seriöser: Er verwirft den ›Menschen des Ressentiment‹ nicht zu Gunsten einer kunstmetaphysischen Option, sondern im Interesse, in Gestalt des ›vornehmen Menschen‹ (vulgo: Übermensch) vorurteilsfreiere ›Wertungsweisen‹ von Erfahrungen zur Anschauung zu bringen, mit der erkennbar auf die zentrale Botschaft von WL rekurrierenden und hier als Motto vorangestellten Pointe aus Ecce homo: »Ich [ergänze: der Übermensch Nietzsche; d. Verf.] erst habe die Wahrheit e n t d e c k t , dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand.« (VI: 366)

Fazit: Sich, erstens und so wie Kofman, aus einem derlei komplexen Theorieangebot einen postmodernen Kuchen zusammenzustellen, scheint mir nicht sehr seriös. Sowie zweitens: Scheibenbergers Kommentar lässt nicht erkennen, dass hinreichendes Wissen für ein selbstständiges Urteil im Blick auf diese überaus komplexe Problematik vorliegt. Dies könnte dann auch erklären, dass Scheibenberger bezüglich der im Verlauf der Rezeptionsgeschichte im Zentrum stehenden De74 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Zu Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873)

finition aus WL, Wahrheit sei »[e]in bewegliches Heer von Metaphern« (I: 880), fast alle darauf bezüglichen postmodernen Nietzscheinterpretationen – etwa von Richard Rorty oder Arthur Danto – verzeichnet (Scheibenberger 2016: 23), aber die Frage nicht stellt, welchen Stellenwert jene Definition hat und welcher Rang infolgedessen Interpreten zukommt, die in deren Linie dem Wahrheitsrelativismus Tür und Tor geöffnet sahen. Kurz: Scheibenberger lässt die Deutungsoption außer Acht, dass Nietzsche mittels jener WL-Metapher (Wahrheit als »Heer von Metaphern«) möglicherweise gar nicht, präskriptiv, einem künftig nachzueifernden Sollzustand auf dem Felde der Wahrheitserkenntnis das Wort redete, sondern ›nur‹, deskriptiv, seinen damaligen, durch seine Wagner-Idolatrie geprägten defizitären Istzustand in Wahrheitsfragen charakterisieren wollte, etwa in der Linie des legendären Satzes: »Im Menschen kommt die[..] Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-demRücken-reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.« (I: 876)

Wer um Nietzsches Konstellation um 1872/73 weiß und die Briefe aus jener Zeit genau kennt, kann kaum zweifeln, dass Nietzsche hier keineswegs, wie Birgtt Recki annahm, die »Tragik des menschlichen Lebens« (Recki 2016: 266) beschreibt. Er hat vielmehr die Tragik seines eigenen Lebens im Auge und thematisiert die Verzweiflung ob seines von Klugheitserwägungen diktierten Agierens gegenüber seinem Idol Richard Wagner (und dessen Frau Cosima) in den Jahren seit 1868. Kein Gedanke hieran indes (auch) bei Sarah Scheibenberger, die in ihrem Stellenkommentar zwar alle möglichen Quellen zwecks Erklärung der Besonderheit von Nietzsches Vokabular (von Pascal bis Darwin) in Betracht zieht (Scheibenberger 2016: 34), aber, übrigens wie die meisten ihrer zahllosen Vorredner (etwa Endres 2012: 207 f.), weder den Wagner-Bezug erkennt – abzüglich einiger feiner Einzelbeobachtungen, etwa (Scheibenberger 2016: 61) bezogen auf die von Wagner entlehnte Figur des »überfrohen Helden« (I: 889), – noch jenen in Richtung des eben angeführten Ecce-homo-Zitats. Sehr viel

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näher lag in dieser Frage Josef Simon (1999: 77), insofern er die Fortführung der Thematik in Gestalt von Zarathustras Spruch »G u t e M e n s c h e n r e d e n n i e d i e Wa h r h e i t « (IV: 251) erkannte, ebenso wie die Wiederaufnahme dieser Thematik in Ecce homo mittels der Andeutung, dass Zarathustra, als ›guter Mensch‹, »Jedem das Gütigste sagt« (VI: 344), aber eben nicht die Wahrheit. Was bei Simon indes fehlt, ist die Pointe, also die Hinführung hin zu Nietzsches Einsicht aus Ecce homo: Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, weil ich lernte, einen »Typus Mensch« zu verneinen, »der bisher als der höchste galt, die G u t e n « (VI: 367) – eine Argumentation, die eine wahrheitsrelativistische zu heißen fahrlässig wäre. Des Weiteren blieb Simon ohne jeden Esprit bezüglich der Frage nach den Gründen für Nietzsches Publikationsverzicht in Sachen WL – ähnlich wie 2016 Sarah Scheibenberger, die beispielsweise schreibt: »Vermutlich schätzte er die Schrift gerade nach der Irritation, welche sein Erstlingswerk GT in philologischen Kreisen erregt hatte, als für eine Veröffentlichung ungeeignet ein.« (Scheibenberger 2016: 9) Dies ist wenig plausibel und weit entfernt von einer auch nur geringen Ahnung um die tiefe Verzweiflung, in die sich Nietzsche gestürzt sah, gesetzt, Wagner hätte den Subtext von WL erraten. Ihm nämlich war die Klage eingelegt, er, Nietzsche, fände unter dem Regiment Wagners und wegen der ihm durch es aufgelegten ›Verstellungskunst‹ nie und nimmer zur Wahrheit. Dass darin auch eine Moritat für die Nietzscheforschung allgemein und aktuell verborgen ist, auch im Blick auf die Frage, wie diese sich der Wahrheit über Nietzsche anzunähern vermag, habe ich andernorts anzudeuten versucht. (vgl. Niemeyer 2017: 12 f.) Damit nun, nach diesem Vorspiel, zum Hauptstück.

2. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« – ein Einstieg über die Hintertreppe der Rezeptionsgeschichte 1985 erfuhr man aus Band 2 der Geschichte des Genie-Gedankens des renommierten Germanisten Jochen Schmidt: »›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹ : dieser Kernsatz erklärt die Form seines Denkens wie seiner Rhetorik, und in diesem Satz liegt auch die Einheit seines Denkens und Sprechens begründet.« (Schmidt 1985: 132)

Wohlgemerkt: Dies so 1985 erstmals zu präsentieren, vor allem aber: gut dreißig Jahre später diesen ›Kernsatz‹ erneut anzuführen, diesmal 76 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

»Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«

mit der Anmerkung, er beleuchte den »nihilistischen Hintergrund« von Nietzsches »Spekulationen und seines Umgangs mit historischen Fakten« (Schmidt 2016: 71), hat(te) schon etwas – etwas Mutiges vor allem, erwies sich Schmidt damit doch als völlig immun gegenüber der vor nun bald zwei Jahrzehnten in den Nietzsche-Studien vorgetragenen Argumente in Sachen des von ihm ins Zentrum gerückten, von Nietzsche indessen nur beiläufig angeführten AssassinenWahlspruch »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« und dessen Bedeutung sowie (fataler) Rezeption (vgl. Niemeyer 1998b). Schmidt freilich war es im Fall Nietzsche offenbar schon 1985 und nun eben auch 2016 nicht um Differenzierung und Forschung zu tun, sondern um so etwas wie Warnung vor und Erziehung contra Nietzsche, wie auch seine dem eben Zitierten unmittelbar nachfolgende Erläuterung zeigt: »Wenn nichts wahr und alles erlaubt ist, dann bedarf es erst gar nicht der sorgfältigen Argumentation; jede Bemühung um Konsequenz und Kontinuität ist a limine überflüssig, alles wird zum Spiel oder zum Experiment. Wo aus dem Grundsatz, daß nichts wahr sei, der Schluß gezogen wird, daß alles erlaubt sei auch in Hinsicht […] auf das konkrete Handeln, dort gerät der Nihilismus in die Nähe des Faschismus. In diesem weiten Sinne hat Nietzsche den Faschismus geistig vorbereitet, einschließlich der faschistischen Rhetorik und Agitation: als ein System totaler Verantwortungslosigkeit.« (Schmidt 1985: 132)

Mit diesem einen Satz war Nietzsche, gleichsam nach allen Regeln der (polemischen) Kunst, erledigt – erkennbar im Vorgriff zu Schmidts auf das Jahr 1989 zurückgehender Zurechnung Nietzsches auf die von Gobineau (gegen Rousseau respektive die »Ideen von 1789«) begründete, von Nietzsche »in einigen Partien seines Werkes« »radikalisierend und universalisierend« fortgeführte »besonders unheilvolle Form der Gegenaufklärung«, die »im strikten Sinne des Wortes […] in gerader Linie zum Rassenwahn des Dritten Reichs [führt].« (Schmidt 1989: 15) Auch hiervon wäre heutzutage an sich nicht mehr zu handeln – würde Schmidts 1985er Genie-Geschichte nicht noch 2016 den völlig unkritisch beigezogenen Referenzpunkt abgeben für die an ein vergleichsweise harmloses Zitat 4 geknüpfte Ableitung, Hitler habe sich »orientiert« an Nietzsches Verengung des Bildes des Genies »auf die Vorstellung von einem heroischen »Genies außerordentlicher Art lassen keine Rücksicht auf die normale Menschheit zu.« (Hitler 1925/27: 501)

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V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

›Übermenschen‹, der sich gegen jeden äußeren Widerstand durchzusetzen verstünde.« (Hartmann et al. 2016: 1138) Noch einmal, etwas deutlicher: Dieses, wie wir noch sehen werden (vgl. Kap. XI), Nietzsches Übermenschenkonstrukt grotesk verzerrende Zitat findet sich nicht in irgendeinem Text. Es wurde vielmehr der (zu Recht) als Sachbuchbestseller reüssierenden kritischen Edition von Hitlers Mein Kampf entnommen, die durch das vom renommierten Historiker Andreas Wirsching geleitete Institut für Zeitgeschichte über Jahre hinweg erarbeitet wurde. Und, um dies noch einmal zu verdeutlichen: Jochen Schmidt hat inzwischen Karriere als Inspirator und langjähriger Leiter des wohl wichtigsten Projekts der Nietzscheforschung in Deutschland seit 1945 gemacht. Aus eben diesem Grund kann uns denn auch die von Schmidts Nachfolger Andreas Urs Sommer (2008; 2017: 107 f.) ebenso heftig wie berechtigt kritisierte Streitschrift Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen (2007) aus der Feder von Schmidts Berufs- und Gesinnungskollegen Heinz Schlaffer nicht gleichgültig sein, zumal sich dieser Autor artig für das via Schmidt über Nietzsche Gelernte bedankte. (vgl. Schlaffer 2007: 211) Nach diesem Vorspiel bietet es sich an, die von Jochen Schmidt sowohl 1985 als auch 2016 ignorierte Rezeptionsgeschichte jenes ›Kernsatzes‹ sowie natürlich seine Bedeutung für Nietzsche noch einmal neu aufbereitet zu erzählen, ausgehend von der durch Jakob Dellinger aufgeworfenen Frage, ob man diesen Spruch als »affirmativen Ausdruck von Nietzsches Erkenntniskritik« (Dellinger 2012: 158) zu lesen hat – oder eben nicht, eine Seite, der ich mich, wie im Folgenden deutlich werden wird, zuordnen würde. Denn mir scheint die Rezeptionsgeschichte Nietzsches bezogen auf diesen Spruch eher den Rückschluss zu erlauben auf Missbrauch denn auf Gebrauch der Intentionen Nietzsches. Im Einzelnen: Für den Neukantianer Paul Natorp stellte sich Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Sachlage noch recht überschaubar dar. Er hielt es schlichtweg für eine »harte Zumutung«, Nietzsche als Philosophen anzuerkennen, »nachdem er die unbedingte Voraussetzung jedes Philosophierens, den Selbstwert der Wahrheit, in nicht zweideutigen Aussprüchen verneint hat.« (Natorp 1920: 86) Dass einer dieser ›Aussprüche‹ Nietzsches »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« sei, sagte Natorp zwar nicht expressis verbis. Aber dass eine derartige Unterstellung wohl nicht ganz an der Sache vorbeigehen würde, darf man der 1926 vorgelegten Nietzsche-Kritik von 78 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

»Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«

Ludwig Klages entnehmen, mit der der in Rede stehende Aphorismus unter dem Thema »vollendete Skepsis« (Klages 1926: 185) verrechnet wurde. Im Anschluss an eine längere Diskussion der (antiken) Tradition, der Nietzsche mit diesem Skepsisbegriff unterläge, folgt der Befund: »Wir zweifeln nicht mehr: etwas in Nietzsche ringt leidenschaftlich um Wahrheit, und etwas in Nietzsche ist in wilder Flucht vor der – Wahrheit.« (ebd.: 195) Auch wenn dieser Befund irritierend-banal sein mag: Das ihm unterliegende, den angeblichen Wahrheitsskeptizismus Nietzsches tadelnde Argumentationsmuster trat von hier aus seine Karriere an und begegnet(e) einem in der Folge in ähnlicher Form überall dort, wo es darum ging (und geht), die von Nietzsche vermeintlich betriebene Leugnung »aller Wahrheit und Moral« (Pfister 1952/53: 254) zu skandalisieren. Und so konnte denn auch ein Henri F. Ellenberger umstandslos folgern, Nietzsche habe mit diesem Aphorismus die ihm eigene Leugnung der »Existenz der Kausalität, der Naturgesetze und der Möglichkeit des Menschen, zu irgendeiner Wahrheit zu gelangen« (Ellenberger 1973: 375), besiegeln wollen. Ähnlich sah Reinhard Margreiter die Sache, insofern er mit dem in Rede stehenden Aphorismus sein Argument zu stützen suchte, Nietzsche habe mit dem Tod Gottes zugleich auch den Tod der Wahrheit deklariert und mithin alle Moral als hinfällig ausgewiesen »und so auch die Norm, wahrhaftig zu sein und nach letztgültigen Verbindlichkeiten im Erkennen und Handeln zu suchen« (Margreiter 1991: 49). In ähnliche Richtung hatte schon Wiebrecht Ries argumentiert, wenn er von Nietzsches »radikale(r) Verdächtigung des durch systematische Philosophie und erkenntnistheoretische Forschung vorgetragenen Wahrheitsbegriffes« spricht und folgert, in Nietzsches kritischen Schriften sei ein »Sinnlosigkeitsverdacht« universal geworden, der – in Anlehnung an ein Nietzsche-Wort – »den Rückschlag von ›Gott ist die Wahrheit‹ in ›Alles ist falsch‹ erzwingt« (Ries 1990: 23). Namentlich die Lesart von Ries trat dabei nicht eigentlich als eine tadelnde auf, sondern als eine, mit der Nietzsche konzediert wird, er habe einer neuen Generation von Lesern die entscheidenden Stichworte geliefert angesichts der Notwendigkeit der Zweifelskultivierung in einer Epoche des allfälligen Gegenwartsnihilismus. Für diese Leser gilt die – in ähnlicher Form auch von JyungHyun Kim (1995: 211) vorgetragene – Bilanz von Gerhard Schweppenhäuser: »Das ›anything goes‹, mit dem ›postmoderne‹ Theoretiker den Rationalitätszwang diskursiven Philosophierens glauben über79 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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wunden zu haben, gemahnt an das von Nietzsche begeistert zitierte ›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹« (Schweppenhäuser 1988: 10). Immer öfter und mit einer Hartnäckigkeit, die schon staunen macht, so dürfen wir vorerst folgern, musste jenes »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« herhalten, Nietzsche wahlweise Wahrheitsskeptizismus, Nihilismus oder Anarchismus zu attestieren. Dies geschah in der Regel mit negativer Konnotation, aber auch, und dies zumal in postmodernen Zeiten, ausgehend von dem Bestreben, Nietzsche als Vordenker einer Epoche auszumachen, in der nichts mehr gewiss ist und mithin, auch in moralischer Hinsicht, tatsächlich alles erlaubt zu sein scheint. Damit bieten sich Rückerinnerungen an in Richtung des fin de siècle, wenn nicht gar in Richtung eines Dorian-Gray-Kults. Jedenfalls umriss Wilhelm Weigand 1893 das »neue herrische Evangelium« der »politischen und ästhetischen Anarchisten« unter den Nietzsche-Anhängern mit den Worten: »Es giebt keine moralischen Thatsachen! Die Wissenschaft muß unter der Optik des Künstlers gesehen werden! Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt!« (Weigand 1893: 109)

Weigand ließ, ähnlich wie Julius Duboc (1897: 20 ff.) oder Thomas Achelis (1894: 108), an seiner Kritik gegenüber einem solchen Evangelium keinen Zweifel: »Nun erscheint auf einmal alles verfahrene Thun und feige Lassen, ja selbst die neronischen Gelüste und das Waten im Schmutz gerechtfertigt; nun haben brüchige Seelen doch den zweifelhaften Trost, dass am Ende auch die bedenklichsten Ausschreitungen in irgend einer Weise dem Leben zu Gute kommen; nun mag sich sogar der zweifelhafteste Catilinarier der Grosstädte, dieser Cloaken der späteren Civilisationen, für einen Schaffenden halten und sich des cynischen Mutes rühmen, mit dem er seinen auseinandergehenden Instincten folgt.« (Weigand 1893: 107 f.)

Dieser Entschlossenheit im Urteil folgte allerdings keine in der Sache weiterführende Nietzsche-Interpretation nach. Wie weit man damals noch von einer solchen entfernt war, beleuchtet auch der in dieser Zeit vor allem in sozialdemokratischen Blättern ausgetragene Streit darüber, ob Nietzsche nicht wegen seines »Alles ist erlaubt« für die Begründung einer hedonistischen Sexualmoral in Anspruch genommen werden dürfe, die helfen könne, die Sphäre des Menschlichen vom »geschichtlichen ›Überbau‹« (Vivarelli 1984: 545) zu befreien. Der Einspruch der Gegenseite lautete, dass man wohl eher Anlass habe, gegen Nietzsche »das Banner der Moral« 80 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

»Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«

wieder ins Feld zu führen, um der »ethischen Zersetzung der Bourgeoisie« (ebd.: 546) entgegentreten zu können. Heute lässt sich gewiss deutlicher sehen als damals, dass dieser ganze Streit mit Nietzsche nichts zu tun hatte, sondern eher Zeugnis ablegt für den Sprengstoff, der sich in der Nietzsche-Begeisterung anarchistischer sozialdemokratischer Intellektueller vor dem Hintergrund des gleichsam parteioffiziellen Nietzsche-Verdikts von Franz Mehring verbarg (vgl. Behler 1984: 511 ff.). Die andere ebenso fragwürdige Nutzung der Reduktionsformel »alles ist erlaubt« entspringt der Aufarbeitung der Nazi-Diktatur und ist zu sehen in der Nachfolge zur demagogischen Nietzsche-Lesart von Georg Lukács (1954: 273 ff.), die sich unter anderen Vorzeichen auch bei Eugen Sandvoss (1969: 20) wiederholt. Die an beide nach Auffassung auch von Pädagogen anschließbare Frage lautet, ob man jenes »alles ist erlaubt« nicht einer Schaffensperiode Nietzsches überordnen solle, die die Losung trägt: »›Jenseits von Gut und Böse‹ ist alles erlaubt, ist alles gut, was aus der Macht stammt, jenseits von Wahr und Falsch gilt: ›Nichts ist wahr – Alles ist erlaubt‹.« (Reifenrath 1980: 247)

Die besondere Perfidie von derlei Assoziationsketten gründet in dem Versuch, Nietzsche als Wegbahner der »Willkür des Übermenschen« (ebd.: 248), wenn nicht gar als Legitimator nationalsozialistischer Vernichtungspraxis ausweisen zu wollen. Auch Margot Fleischer, die durch die vorstehenden Beispiele eigentlich hätte belehrt sein müssen, kommt am Ende ihrer Diskussion der Reduktionsformel »alles ist erlaubt«, die sie mit höchst fragwürdig kompilierten Nietzsche-Zitaten unterlegt, zu dem Befund: »Der Übermensch jedenfalls hat das Vorrecht zu Verbrechen.« (Fleischer 1993: 152) Dem wird dann noch die vieldeutige Fußnote angeschlossen: »Äußerungen wie die in diesem Kapitel zitierten […] legen in besonderem Maße das Thema ›Nietzsche und der Nationalsozialismus‹ nahe.« (ebd.: 306)

Die mit derlei suggestiver Pose operierende Theoriepolitik muss also als Ersatz herhalten für den an sich doch recht einfachen Blick auf den Kontext, in dem Nietzsche den strittigen Wahlspruch verwendet hat. Aber nicht nur dieser Kontext interessierte selten. Auch die Annahme ist nicht zu tilgen, dass die strittige Devise einen Aphorismus 81 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Nietzsches repräsentiere. Bei derlei Leseungenauigkeit ist es offenbar ein leichtes, sich den Kontext selbst zu beschaffen. Bernhard Lypp etwa behauptete, Nietzsche habe diesen seinen Aphorismus im Zarathustra und seinen späten Schriften zur Moral als »oberste Maxime« (Lypp 1980: 308) formuliert, und zwar im Sinne der Notwendigkeit, den Zufall zu inszenieren. Wer so argumentiert, arbeitet postmodernen Nietzsche-Lesarten vor, insofern für einige von diesen der Zufall und dessen Bedeutung in Nietzsches Œuvre zum eigentlichen Erklärungsgrund wird für das Interesse, das man heute, im Anschluss an das Scheitern der mit Kausalrelationen operierenden und auf Zufallstilgung abstellenden Weltverbesserungsprogrammatiken, noch an Nietzsche nehmen darf. Man mag, und diesen Weg beschreitet Christoph Türcke, dagegenhalten, Nietzsche habe den strittigen Aphorismus zwar »einmal begeistert zitiert«, aber es sei unzulässig, die darin ausgesprochene Erlaubnis Nietzsches, »alles Mögliche zu denken«, »mit seiner eigenen Methode zu verwechseln« (Türcke 1989: 169 f.). Aber selbst wem dieser Ausweg sympathisch ist und besser in das eigene Programm passt als der Versuch, jenes »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« in den Rang einer (postmodernen) ›obersten Maxime‹ Nietzsches zu erheben – mit einer auch nur philologisch korrekten Nietzsche-Diskussion hat all dies nichts zu tun. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« gilt, so darf man vielleicht zusammenfassen, offenkundig in erster Linie für sehr viele Nietzsche-Interpreten – und die über achtzig Jahre alte Warnung von Karl Jaspers scheint weitgehend ungehört verhallt zu sein: »Der Satz ist – für sich selbst – nicht verstehbar. Für sich genommen, ist er der Ausdruck völliger Bindungslosigkeit, Aufforderung zur Beliebigkeit, Sophistik und zum Verbrechertum«, schrieb Jaspers (1936: 202) damals, deutlich machend, dass keinerlei Grund besteht, diesen Satz ›für sich selbst‹ zu nehmen. Allererst bietet sich, wenn man anderes tut und sich nicht nur damit begnügt, der Herkunft dieses Satzes nachzugehen (vgl. etwa Kuhn 1994), ein Blick in die Textpassagen an, in denen einem der strittige Wahlspruch im Original-Nietzsche begegnet. In Betracht kommen dabei eine Passage aus dem Zarathustra und eine aus der Genealogie der Moral sowie eine aus dem Nachlass. Mit Letzterer verhält es sich am problematischsten. Nietzsche nämlich zitiert im Nachlass des Jahres 1884 jenes »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«, unmittelbar bevor er, als deutlich davon abgehobenes Notat, von der »e d l e n Art« redet, zu der der (Über-) Mensch aufgefordert sei, weil ihm Zarathustra »Alles« nahm, »den Gott, die Pflicht« 82 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

»Nichts ist wahr …« in Zarathustras Rede Der Schatten

(XI: 88) – Sätze, die Eugen Sandvoss (1969: 20) in Parallele zu HitlerZitaten gesetzt hat, wozu er sich offenbar auch deshalb berechtigt wähnte, weil Nietzsche dem noch folgen ließ: »Die F o l g e n meiner Lehre müssen fürchterlich wüthen: aber e s s o l l e n a n i h r U n z ä h l i g e zu Grunde g e h e n ./ – w i r m a c h e n e i n e n Ve rs u c h m i t d e r Wa h r h e i t ! Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde! Wohlan!« (XI: 88)

Zugestanden werden kann, dass diese Sätze interpretationsbedürftig sind. Nicht zugestanden werden kann, dass sie als Ausdeutungen jenes »Nichts wahr, alles ist erlaubt!« gelesen werden dürfen. Versuchen wir es also mit einem eigenen Interpretationsversuch, ausgehend von der ersten der erwähnten zwei Passagen aus von Nietzsche veröffentlichten Werken, in welcher der Assassinenspruch erwähnt wird.

3. »Nichts ist wahr …« in Zarathustras Rede Der Schatten – ein Interpretationsversuch Unlängst hat Katharina Grätz einen Interpretationsversuch der gemeinten Art vorgelegt, substantiell mit dem Ergebnis, der Schatten in Zarathustras gleichnamiger Rede repräsentiere philosophisch »einen erkenntnistheoretischen und moralischen Nihilismus, der ihn metaphysisch heimatlos macht.« (Grätz 2018: 132) Diese Deutung scheint mir etwas übereilt zu sein, zu unbesorgt auch um andernorts hierzu Vorgetragenes (vgl. etwa Niemeyer 2007: 102 ff.), so dass mir hier erlaubt sei – auch in der Absicht, ein Lehrstück zu geben für eine von Nietzsche geforderte gründliche, gleichsam ›wiederkäuende‹ Lektüre (vgl. Kap. I) – Älteres in aktualisierter Form in Erinnerung zu rufen und bei dieser Gelegenheit auch den Status dieser Rede klarzustellen. Dazu gehört allererst der Hinweis, dass diese Rede dem wohl wichtigsten, vierten und letzten Teil des Zarathustra entstammt und als Rede 9 den Abschnitten 2–10 zugehört, die uns Zarathustra zeigt auf der Suche nach den ›höheren Menschen‹ (darunter, womöglich: ›Der Schatten‹). Die Rede wird eröffnet mit dem Hinweis, dass Zarathustra einer neu auftretenden Figur – seinem Schatten, dessen Aufforderung zu warten er hinter sich hört, – davonzulaufen sucht und dies damit begründet, dass »ihn ob des vielen Zudrangs und Gedränges in seinen Bergen« »ein plötzlicher Verdruss überkam«, um 83 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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das Ganze mit dem Ausruf zu besiegeln: »mein Reich ist nicht mehr von d i e s e r Welt, ich brauche neue Berge.« (IV: 338) Dieses Aufbruchsmotiv spielt allerdings in der Folge keine Rolle mehr – eigentlich nachvollziehbar, denn seinem Schatten kann man nicht entweichen, wie auch Zarathustra bald feststellen muss: Plötzlich anhaltend, wird er fast umgeworfen von seinem »Nachfolger und Schatten«, der ihm im Übrigen keinen guten Eindruck macht: »so dünn, schwärzlich und überlebt«, wie er aussah, wie ein »Gespenst« (IV: 339). Soweit der Einstieg, der die Frage drängend macht, um wen es sich eigentlich handelt. Des Schattens Antwort auf diese auch von Zarathustra gestellte Frage hat es in sich: »Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also dass mir wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass ich nicht ewig und auch nicht Jude bin.« (IV: 339)

Die zentralen Vokabeln klingen bedenklich, und zwar auch ohne dass man dabei aus der Post-Holocaust-Perspektive an die nationalsozialistisch-antisemitische Engführung der seit dem 17. Jahrhundert überlieferten Sagengestalt des ›Ewigen Juden‹ – die auch Katharina Grätz (2018: 134) unter Verweis auf Alfred Bodenheimer aufruft – denken muss. Es kommt hinzu, dass sich zumal der ›frühe‹ Nietzsche unter dem Einfluss Wagners in Fragen des Antisemitismus längst schon versündigt hatte (vgl. Köhler 1996: 99 ff.; Niemeyer 1997; 1998: 167 ff.) und Folgen dessen an dem hier in Rede stehenden Textstück nachgewiesen werden können. So lässt die vermeintlich harmlose Wendung: »Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng« (IV: 339) an Wagners These denken, dass der Deutsche der Schöpfer und Erfinder, der Romane hingegen nur Bildner und Ausbeuter sei. Derivate dieser These finden sich in Nietzsches Geburt der Tragödie (1872), etwa in Gestalt der (absurden) Annahme, dass der Prometheussage »für das arische Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der Sündenfallmythus für das semitische hat.« (I: 69) Und schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die ersten drei Teile des Zarathustra im Verlag des Antisemiten Ernst Schmeitzner erschienen waren und dieser Umstand seitens der Leserschaft, darunter wohl auch Theodor Fritsch, der womöglich auch um den Privatdruck Za IV wusste, durchaus registriert wurde, wie uns noch ausführlich beschäftigen wird. (Kap. XIII) Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass Nietzsche den Schatten im Nachlass auch 84 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

»Nichts ist wahr …« in Zarathustras Rede Der Schatten

den »guten Europäer« (XIV: 337) nennt und damit offenbar auf dessen – im kosmopolitischen Sinne positive – Heimatlosigkeit in politischer Hinsicht anspielen wollte. (vgl. Kuhn 2002: 62 ff.; Santaniello 2005: 60 ff.). Wie auch immer: Der Wanderer, als welcher sich der Schatten bezeichnet, will von Zarathustra offenbar vor allem als Bedenkenträger wahrgenommen werden, der immer nur, wie eben auch Zarathustra, gegeben habe und deswegen »dünn« geworden sei, »einem Gespenste gleich«, das »in fernen, kältesten Welten« (IV: 339) Umgang pflegte. Vor allem aber gelte: »Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte«, in der Umkehrung gesprochen: »Nichts lebt mehr, das ich liebe, – wie sollte ich noch mich selber lieben?« (IV: 340)

Dies ist ein erschütternder Satz, fast ist man versucht zu sagen: Es handelt sich um eine Formulierung, in der sich die Not des unter der Brisanz seines gottlosen Denkens schwer tragenden Pastorensohnes namens Nietzsche Bahn bricht. Der Schatten klagt des Weiteren: »›Wo ist – m e i n Heim?‹ Darnach frage und suche und suchte ich, das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendwo, oh ewiges – Umsonst!« (IV: 341)

Angespielt wird hier auf eine ähnliche Klage aus Za II, nämlich auf den Satz: »›Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte‹ : so klingt unsre Klage – hinweg über flache Sümpfe.« (IV: 172)

Der erste Satzteil ist als Zitat ausgewiesen und erinnert an die in Za I vorgenommene Charakterisierung des Übermenschen als »Meer« im Gegensatz zum Menschen als »schmutziger Strom« und mit der Pointe: »Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist diess Meer, in ihm kann eure grosse Verachtung untergehn.« (IV: 15) Zu denken ist aber auch an ein Nachlassnotat Nietzsches vom Sommer-Herbst 1882, das wie folgt lautet: »›Wo ist ein Meer, in dem man wirklich noch e r t r i n k e n kann? nämlich ein Mensch!‹ – dieser Schrei klingt durch unsere Zeit.« (X: 81) Und schließlich ist hinzuweisen auf einen Liebesbrief Nietzsches an Lou v. Salomé, in welchem der Schreiber nach einem anrührend-pubertären Ideenstakkato schließlich doch mit der Sprache herausrückte: 85 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»Wo ist noch ein Meer, in dem man wirklich noch ertrinken kann? Ich meine ein Mensch.« (6: 274)

Insoweit scheint kein Zweifel möglich: Die Verzweiflung, die der Wahrsager in Za II und der Schatten in Za IV zum Ausdruck bringen, ist auch die Nietzsches. Beklagt wird der Mangel an Begegnungen und Bildungserfahrungen (derer die Lehre vom Übermenschen bedarf, wenn sie Erfolg haben will). Was noch folgt, sind Mutmacherparolen, eine davon den Umstand betreffend, er, der Schatten, habe alle Kühnheiten Zarathustras mitgemacht, mit ihm den »Glauben an Worte und Werthe und grosse Namen« verlernt, weil ihm eine Devise Auftrieb gab: »›Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‹ : so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als rother Krebs da!« (IV: 340)

In Kenntnis der Briefe Nietzsches kann zumindest das Bild im zweiten Satzteil kaum missverstanden werden: Es nimmt Bezug auf Nietzsches leidvolle Badeerlebnisse im Engadin (vgl. Niemeyer 1998: 248 ff.). So gesehen wird man den Ausruf »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt« aus dem Munde von Zarathustras Schatten wohl kaum in dem Sinne deuten dürfen, dass hier ein Nihilist sich zu diesem Spruch bekennt. Vielmehr geht es, textnah gesprochen, um nichts weiter als um eine Mutmacherformel angesichts frühjahrskalter Bergseen. Dem Sinn nach geht es um das allein durch diesen Mut sicherzustellende ›tiefe Problem‹, denn, so wird Nietzsche 1887 nachtragen: »Zum Mindesten giebt es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren man nicht anders habhaft wird, als plötzlich, – die man ü b e r r a s c h e n oder lassen muss …« (III: 634)

Zu dieser Art Überraschungshandlung wird Zarathustras Schatten durch Zarathustra aufgefordert – und das verbunden mit dem Wunsch, er möge in seiner Höhle »das Ziel« wieder finden und »den Weg«. Dass dies gelingt, soll möglicherweise durch die Vokabel »Schmetterling« (IV: 341) angedeutet werden. Denn dies könnte ein Hinweis auf das sein, was der Schatten in Zarathustras Höhle erleben wird: seine Metamorphose – weg möglicherweise vom ›Nachfolger‹ hin zum ›Führer‹. Soweit der Interpretationsversuch im Blick auf die Rede Der Schatten.

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»Nichts ist wahr …« – Der Wanderer und sein Schatten (1880)

4. »Nichts ist wahr …« – weitere Deutungsaspekte aus Der Wanderer und sein Schatten (1880) Zusätzlich einzubeziehen zwecks Deutung von Der Schatten ist die fünf Jahre ältere Aphorismensammlung Der Wanderer und sein Schatten (= WS; vgl. Kap. III), hier insbesondere der Dialog Der Fanatiker des Mißtrauens und seine Bürgschaft. Nietzsche stellte diesen ›Fanatiker des Mißtrauens‹ als ›Pyrrhon‹ vor, versah ihn also mit dem Namen des Gründers der philosophischen Skeptiker-Schule, was Ludwig Klages (1926: 187) wohl veranlasste, diesen Dialog nur als Paraphrase des antiken Skeptizismusproblems zu lesen. Tatsächlich weist der Dialog scheinbar auch eine skeptizistische Pointe auf. Nachdem der Alte nämlich Pyrrhons Lob des Mißtrauens auch gegen die von letzterem vertretene Wahrheit gewendet hat und Phyrrhon nur noch zu lachen weiß, endet der Dialog mit des Alten Frage: »Ach Freund! Schweigen und Lachen, – ist das jetzt deine ganze Philosophie?« sowie mit Pyrrhons Antwort: »Es wäre nicht die schlechteste. –« (II: 646) Bevor man Nietzsche allerdings voreilig den Skeptizisten zuordnet, sollte man beachten, welche Bedeutung das Schweigen (vgl. Andreas Poenitsch in NLex: 342) und vor allem das Lachen (vgl. Barbara Frischmann in NLex: 211) in seiner Philosophie erfüllt. Ersteres steht eher für etwas, über das noch nicht, aber über das unter den je gegebenen Voraussetzungen zu reden ist: »Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man ü b e r w u n d e n hat« (II: 369), lesen wir hierzu in der 1886 verfassten Vorrede zur Neuausgabe von Menschliches, Allzumenschliches II. Und schon Zarathustra hatte wenig Zweifel gelassen, im Blick worauf das Schweigen jedes Recht verliere: »[A]lle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig« (IV: 149), erfahren wir von ihm, ein Satz, der fast wie ein Schopenhauer-Erbe anmutet, wenn man etwa nur denkt an dessen aufklärungsorientiertes Axiom: »[J]eder Irrthum trägt ein Gift in seinem Innern.« (SW I: 71) War damit dem unmotivierten Schweigen der Ort des Anti-Aufklärerischen zugewiesen, repräsentierte das Lachen, jedenfalls auf dem Stand von Die fröhliche Wissenschaft, eher den Gegencode zu den schon von Schopenhauer getadelten »ernsthaften Bestien« (SW V: 71), also zu der, in Nietzsches Worten, gängigen Vorstellung des Intellekts als »einer schwerfälligen, finsteren und knarrenden Maschine«, wobei dem noch erläuternd nachfolgt: 87 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

»Die liebliche Bestie Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt; sie wird ›ernst‹ ! Und ›wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts‹ : – so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle ›fröhliche Wissenschaft‹. – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!« (III: 555)

Giorgio Colli monierte hier sehr ernst, Nietzsche fehle »der ›ernste‹ Aspekt der Wissenschaft«, beispielsweise »die Fülle der Erfahrung und der erforderliche Fleiß, sie zu sammeln«; eingeräumt wird aber immerhin, dass sich Nietzsche »bevorzugt für die außergewöhnlichen Individuen und außergewöhnlichen Verhaltensweisen« (III: 661) interessiert habe, also nicht etwa, und dies lässt sich auch mit Blick auf das zur Kategorie des Schweigens Gesagte ausdehnen, zum Skeptizismus neigte. Im Übrigen: »Bloße Schlauheit befähigt wohl zum Skeptikus, aber nicht zum Philosophen« (SW V: 18) – ein SchopenhauerAphorismus, der Nietzsche wohl bekannt gewesen sein dürfte, wenn man nur an sein Wort denkt: »Man muß von Zeit zu Zeit skeptische Perioden durchleben, wenn anders man ein Recht haben will sich eine wissenschaftliche Persönlichkeit zu nennen.« (VIII: 417) Wichtiger aber ist, was den hier in Rede stehenden Dialog im Innersten prägt: nämlich des Alten Frage, wie Pyrrhon denn »das Ungeheure wagen« wolle, nämlich »die Menschen im Großen [zu] belehren«; sowie Pyrrhons Antwort, dass das Misstrauen »gegen Alles und Jedes […] der einzige Weg zur Wahrheit« (II: 645) sei. Das »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« begegnet einem hier zwar nicht, und zwar dies erst recht nicht im logisch problematischen Modus einer vermeintlich gesicherten Wahrheit über die Unwahrheit des Seienden, wohl aber im methodologisch weiterführenden Modus des notwendigen ›Mißtrauens gegen Alles und Jedes‹. Eben dies bringt Karl Löwith auf den Punkt, wenn er im Zuge seiner Diskussion dieser Textpassage formuliert: »Die Wahrheit ist nicht mehr da im Vertrauen zum Sein in der Wahrheit, sondern im Mißtrauen gegen alle bis dahin geglaubt gewesene Wahrheit.« (Löwith 1935/1955: 114)

Ähnlich argumentierte auch Georg Picht in seiner Nietzsche-Vorlesung von 1967, in der er im Übrigen unmissverständlich folgerte: »Nihilistisch ist nicht, wie man geglaubt hat, der Satz ›nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹ ; nihilistisch ist vielmehr jene Sucht nach listigen Kompromissen mit der bisherigen Lüge, die aus der Angst vor den Folgen der Wahrheit hervorgeht.« (Picht 1988: 74 f.)

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»Nichts ist wahr …« – Der Wanderer und sein Schatten (1880)

Nietzsches Absicht ging folglich auf eine Strategie der sukzessiven Ausschaltung des Unwahren, wobei diese Strategie einem Bildungswerdegang eingearbeitet wird, als dessen Exempel und Vorbild sich Nietzsche selbst begreift. Er nämlich war es, der, vermittelt über seine Erzieher und Lehrer, Jahrzehnte lang »Lügen händevoll verschlingen« musste, »um nicht Hungers zu sterben« (II: 646), um also nicht der Liebe derer, die ihm wichtig waren, vor der Zeit – und dies meint: vor dem Moment der Findung seiner selbst – verlustig zu gehen. Die häufig allein wissenschaftstheoretisch interessierende Wahrheitsthematik hat Nietzsche hiermit auf die Ebene der Selbstermächtigung des aufstrebenden Subjekts angehoben. Eine Illustration dessen bietet die Rede Der Schatten aus Za IV, insofern Zarathustra hier die Rolle des Pyrrhon aus Der Wanderer und sein Schatten übernimmt, wohingegen Zarathustras Schatten den Alten repräsentiert. Nietzsche möchte also offenkundig, zusammenfassend geredet, die Skeptizismus-Lektion Teil II darbieten, für die typisch ist, dass Zarathustras Schatten keineswegs, wie Margot Fleischer (1993: 151) annimmt, ein »Nihilist« ist, der sich zu dem Spruch »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« bekennt. Er repräsentiert auch keineswegs – um noch einmal an die ganz ähnlich schlußfolgernde Katharina Grätz zu erinnern – »einen erkennntnistheoretischen und moralischen Nihlismus.« (Grätz 2018: 132) Vielmehr erweist er sich am Ende, wenn man sich bei der Interpretation belehren lässt durch den – von Grätz erst gar nicht angestellten – Rückblick auf Der Wanderer und sein Schatten, als williger Adressat von Zarathustras Botschaft, allem Zweifel zuwider mutig zu bleiben und erkenntnisoffen, gemäß des fünften Buches von Die fröhliche Wissenschaft, wo Nietzsche von sich sagt: »Denn ich halte es mit tiefen Problemen, wie mit einem kalten Bade – schnell hinein, schnell hinaus. Dass man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug h i n u n t e r komme, ist der Aberglaube der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne Erfahrung.« (III: 634)

Der Ausruf »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt« aus dem Munde von Zarathustras Schatten erfüllt also die Funktion einer Mutmacherformel im Vertrauen auf das nur durch diesen Mut sicherzustellende ›tiefe Problem‹ und das nur durch diesen Mut auf Dauer zu stellenden Misstrauen »gegen Alles und Jedes«, namentlich gegen die vermeintliche Wahrheit, dass der christliche Gott lebe. Der Satz »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt« steht also, so dürfen wir zusammenfassen, auch in der Zarathustra-Passage nicht für eine wahrheitsrelativisti89 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

sche oder gar erkenntnisanarchistische Botschaft. Dies belegt insbesondere auch die Fortführung: »Manchmal meinte ich zu lügen, und siehe! da erst traf ich – die Wahrheit.« (IV: 340)

Denn diese Fortführung bringt zum Ausdruck, dass der Wahrheitszugriff erst dort gelingt, wo Zarathustras Schatten unbekümmert bleibt um die herrschende, ihm durch Sozialisation vermittelte und in diesem Fall theologisch vorgeprägte Meinung.

5. »Nichts ist wahr …« in Zur Genealogie der Moral (1887) Theoretisch weiterführender noch 5 ist die Auslegung von »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«, die Nietzsche in der Zur Genealogie der Moral (= GM) präsentiert. Den Ausgang liefert dabei seine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen »Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten« (V: 398), als deren Merkmal er das »Stehen-BleibenWo l l e n vor dem Thatsächlichen« (V: 399) sowie das »Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt« (V: 400) ausmacht. Insoweit, so will Nietzsche damit sagen, scheint für diese Art Theoretiker tatsächlich zu gelten: »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.« Dieses Wort aber, so Nietzsche weiter, stehe in seinem ursprünglichen, historisch überlieferten Zusammenhang für Aufkündigung des Glaubens an die Wahrheit und insoweit für »F r e i h e i t des Geistes« (V: 399). Eben davon aber, so Nietzsches zentraler Vorwurf an die zeitgenössischen »H e k t i k e r des Geistes« (V: 398), sei bei diesen nichts zu spüren; vielmehr hielten sie ein Glaubenssubstitut zumindest im Sinne der Gewissheit von der Alternativlosigkeit von derlei Verneinung des Tatsächlichen in Ehren. Von dem eigentlichen Zeugnis für einen befreiten Geist hingegen, von dem, wie sich vielleicht formulieren lässt, Mut zur Bejahung des Geforderten, könne nicht die Rede sein. Und so nur Dahingehend, dass es, so Katharina Grätz, hier mehr »um die philosophische Fundierung der nihilistischen Position des Schattens« geht, nicht aber mehr – wie in Der Schatten aus Za IV – »um die lebenspraktischen Implikationen einer solchen Auffassung.« (Grätz 2018: 132) Mit Verlaub: Ich halte (1.) die hier getroffene Unterscheidung für nicht machbar, sie (2.) in ihren Einzelheiten für falsch sowie (3.) den daran gekoppelten Schluss, GM erst gar nicht auf die Agenda des zu Analysierenden zu setzen, für unhaltbar.

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»Nichts ist wahr …« in Zur Genealogie der Moral (1887)

kann man denn Nietzsches Resümee bezogen auf das Wort »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« auch erst recht verstehen: als ein Resümee nicht etwa für die Perspektive eines »radikalen Relativismus« (Stegmaier 1994: 199), sondern wider die Option für eine »›voraussetzungslose‹ Wissenschaft« bzw. wider den Versuch, die Philosophie »auf streng wissenschaftliche Grundlage« zu stellen, ergänzt um das Plädoyer dafür, dass »eine Philosophie, ein ›Glaube‹ […] immer erst da sein [muss], damit die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein R e c h t auf Dasein gewinnt.« (V: 400) In diesem Zusammenhang verweist Nietzsche noch auf den Abschnitt Inwiefern auch wir noch fromm sind aus dem im nämlichen Jahr nachgetragenen fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft, in dem es heißt, »dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch u n s e r Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube […], dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist.« (III: 577) Arthur Danto deutete diese Passage in seiner postmodernen Nietzsche-Lesart so, als habe Nietzsche hier einen »Angriff« vorgetragen »auf die Wahrheit als die letzte Gläubigkeit« und als habe er hiermit »uns ein für allemal von der Frömmigkeit jeglicher Form befreien« (Danto 1991: 145) wollen. Die nahezu gegenteilige Auslegung scheint plausibler: Der Nietzsche des Jahres 1887 ist zwar nicht wieder auf die mit dem Zarathustra endgültig preisgegebene Gottesvorstellung verfallen. Dem steht schon Nietzsches Anschlussfrage entgegen: »Aber wie […], wenn sich nichts mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?« (III: 577)

Gott bleibt mithin als Lüge präsent, aber um eben dies tun zu können, ist eine Reflexion auf den im Christentum unproblematisiert gelassenen, aber eben nicht fraglos gegebenen sowie mit dem Ausdruck »Wahrhaftigkeit« zu übersetzenden »Willen zur Wahrheit« (V: 15) erforderlich. Dieser ist, so darf man nun resümieren, erst im säkularisierten Quasi-Glauben des sich von der Gottesvorstellung freisetzenden Philosophen beheimatet, der diesen seinen Quasi-Glauben wiederum der Moralphilosophie zur weiteren Klärung anheimgibt. Nietzsche scheint in dieser Frage unmissverständlich.

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V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

»Folglich bedeutet ›Wille zur Wahrheit‹ […], ›ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht‹ : – u n d h i e r m i t s i n d w i r a u f d e m B o d e n d e r M o r a l « (III: 576).

Und im dazugehörigen Nachlass vom Herbst 1887 findet sich gar die Steigerungsform, Wahrheit sei ein Name »für einen Willen der Überwältigung: Wahrheit hineinlegen, als […] ein a k t i v e s B e s t i m m e n , n i c h t ein Bewußtwerden von etwas, hdasi ›an sich‹ fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den ›Willen zur Macht‹.« (XII: 385) Man könnte gegen diese Pointe das Bedenken vortragen, Nietzsche moralisiere hiermit das Wahrheitsproblem und verfehle die in seinem Gesamtansatz an sich sehr viel zwingendere Psychologisierung des Moralproblems. Dieser Einwand verliert indes an Kraft, wenn man der späten bildungsphilosophischen Pointe dieser wahrheitstheoretischen Position Nietzsches nachgeht und dabei den Vergleich sucht zur Bildungsphilosophie des frühen Nietzsche. Sie fand ihren literarischen Ausdruck vor allem in der Geburt der Tragödie und zielte auf Wiedergewinn der ästhetischen Rechtfertigung der Welt und des Daseins durch Erzeugung eines neuen Menschentypus, der in der Lage war, die Stelle des kunstfeindlichen, asketischen Bildungsphilisters einzunehmen, die Stelle desssen also, der als ein ›sokratischer‹ respektive ›theoretischer‹ Mensch von dem Glauben »an eine Correktur der Welt durch das Wissen, an ein durch Wissenschaft geleitetes Leben« (I: 115 f.) beseelt war. Ein Jahr später, in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, fand Nietzsche zu einem Begriffssystem, um das von ihm Intendierte etwas deutlicher zu machen. Wichtig dabei: Die Stelle des von ihm abgelehnten Menschentypus vertritt der ›vernünftige Mensch‹. Diesem zur Seite gestellt oder ihm als Vorbild vorgehalten wurde der ›intuitive Mensch‹, der, Nietzsche zufolge, erstmals im älteren Griechenland siegreich gewesen war mit der Folge, dass sich »eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen« (I: 889) konnte. Entsprechend spielte der ›vernünftige Mensch‹ in Nietzsches Aufbereitung des Themas eher den lächerlichen Part: »Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke.« (I: 888)

Das Wort vom ›freigewordenen Intellekt‹ ist hier, als positives Attribut, dem ›intuitiven Menschen‹ beigegeben, und zwar aus zwei 92 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

»Nichts ist wahr …« in Zur Genealogie der Moral (1887)

Gründen: Zum einen, um ihn unterscheidbar zu machen vom ›vernünftigen Menschen‹, dessen Intellekt noch dem Imperativ der »Verstellung« (I: 876) zum Zweck seines Bestehens im Kampf ums Dasein unterliegt; zum anderen aber, um das dem ›intuitiven Menschen‹ eigene »ästhetische Verhalten« (Bräutigam 1977: 55) im Umgang mit der Welt und den Begriffen zu kennzeichnen, und zwar dies in deutlicher Anspielung auf die »intuitive Vorstellung« (I: 823), die nach Nietzsches Auffassung Heraklits Philosophieren ihren ästhetischen Charakter verlieh (vgl. Tebartz-van Elst 1994: 165 f.). Bezieht man diesen Zusammenhang ein, wird noch deutlicher, dass das Konstrukt des ›intuitiven Menschen‹ dazu beitragen sollte, jene ästhetische Rechtfertigung der Welt und des Daseins sicherzustellen, die Nietzsches Meinung nach im Rahmen der einseitigen Logoszentriertheit der Jetztzeit nicht zu beschaffen war. Diese Thematik und das ihr unterliegende Denken in Dualen ist auch kennzeichnend für die späte Bildungsphilosophie insbesondere des Zarathustra. Der die herkömmliche Erziehung dominierende »Geist der Schwere« (IV: 242) beispielsweise, der von Zarathustra immer wieder angeklagt wird wegen seiner Hemmung dessen was im Kind an ›erster Natur‹ aufstrebt, repräsentiert zugleich das, was der erwachsen gewordene ›vernünftige Mensch‹ sich klaglos an ›zweiter Natur‹ einverwandelt hat: »Zwang, Satzung, Noth und Folge und Zweck und Wille und Gut und Böse« (IV: 248)

Und Zarathustras von derlei Schweremetaphern freigesetzte Selbstauslegung als »Dichter, Rätselrather und Erlöser des Zufalls« (IV: 248) erinnert an die Metaphern, mit denen Nietzsche noch elf Jahre zuvor den ›intuitiven Menschen‹ gekennzeichnet hatte. Insoweit repräsentiert Zarathustra in exemplarischer Form den Typus des ›intuitiven Menschen‹, und die Dichtung, die seinen Namen trägt, dokumentiert zugleich die Leistungskraft einer von Nietzsche als eines gleichfalls ›intuitiven Menschen‹ beförderten Literaturgattung, die zumal in ihren ästhetischen Motiven noch Rückerinnerungen bereithält an die von Nietzsche in der Geburt der Tragödie im Gegenzug zum Typus des Gelehrten eingeklagte Integration von Wissenschaft und Kunst. Und doch ist es auffällig, dass im Zarathustra vom ›intuitiven Menschen‹ nicht mehr die Rede ist. Überhaupt hat der späte Nietzsche die frühe Programmatik der ästhetischen Rechtfertigung der 93 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

Welt weitgehend außer Kraft gesetzt. Den Zwischenschritt in diese Richtung markierte Die fröhliche Wissenschaft, wenn es hier unter dem aufschlussreichen Zwischentitel Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst heißt: »Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l i c h « (III: 464) – ›erträglich‹ wohlgemerkt, mehr aber eben auch nicht: an eine Rechtfertigung des Daseins durch Kunst wird nun nicht mehr gedacht, auch nicht mehr an das Lob eines ästhetisch durchgebildeten Menschen. Stattdessen ist nun die Rede von der »Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird« (III: 464) – und mithin von zweierlei: davon, dass eine »n e u e A u f k l ä r u n g « (XI: 186) erforderlich sei, die die ›allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit‹ zu demaskieren in der Lage ist; und davon, dass die Kunst am »Cultus des Unwahren« (III: 464) Anteil hat. Der Anlass für Nietzsche, die Sache nun zunehmend so zu sehen, dürfte mit dem Ende seiner Wagner-Verehrung ebenso zu tun haben wie mit seinem Interesse an einer Weltkonzeption, die nicht mehr nur um (ästhetische) Rechtfertigung bemüht ist, sondern die auf das Werden und Begründen des Neuen abstellt. Entsprechend rückt als neues Dual, namentlich in GM, die Differenzierung zwischen dem ›Mensch des Ressentiment‹ einerseits sowie ›vornehmen Menschen‹ andererseits ins Zentrum des Interesses. Dabei tritt das letztgenannte Konstrukt in die Spuren ein, die der frühe Nietzsche mit seiner Rede von den ›intuitiven Menschen‹ und der Nietzsche des Zarathustra mit seinem Wort vom ›Übermenschen‹ hinterlassen hatte. Mit der Kategorie ›Mensch des Ressentiment‹ hingegen will Nietzsche offenkundig eine Weiterentwicklung anbieten bezogen auf den von ihm vierzehn Jahre zuvor beleuchteten Typus des ›vernünftigen Menschen‹. Betrachten wir zunächst das oben (S. 77) bereits angesprochene Verhältnis beider Kategorien. In beiden Fällen haben wir es mit Formeln zu tun, die die von Nietzsche abgelehnte Verfasstheit menschlichen Daseins repräsentieren. Die Differenzen scheinen denn auch marginal. Denn ähnlich schon wie der ›vernünftige Menschen‹ 1873 vorgestellt wurde als einer, der in dem ihm abgeforderten Kampf ums Dasein der »Verstellung« (I: 876) bedürfe, mit der Folge, dass sich im gesellschaftlichen Verkehr eine Verpflichtung ergebe, »nach einer festen Convention zu lügen«, gilt Nietzsche 1887 der ›Mensch des Ressentiment‹ als einer, der »weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu« (V: 272) sei. Das kontinuierende Motiv gründet also in 94 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

»Nichts ist wahr …« in Zur Genealogie der Moral (1887)

der beiden Typen eigenen strategischen Handhabung des Intellekts, ein Umstand, den der Nietzsche des Jahres 1888 im Oberbegriff des ›décadent‹ bündelt, denn: Die »décadents haben die Lüge n ö t h i g , sie ist eine ihrer Erhaltungs-Bedingungen.« (VI: 312) Für das Gegenteil von Lüge, für das Problem der Wahrheit also, war mit diesen Bestimmungen nur so viel zu gewinnen, als, solange der Einzelne die Herrschaft der Klugheit anerkannte, Wahrheit ein unerreichbares Ziel blieb. War aber schon der der Wahrheit sicher, der sich der Herrschaft der Klugheit entledigte? Noch der frühe Nietzsche, gleichermaßen kunstbegeistert wie wissenschaftsfeindlich, hätte diese Frage nicht recht zugelassen. Deswegen auch geriet ihm sein als Ideal konstruierter ›intuitiver Mensch‹ zu einem vom Kampf ums Dasein entlasteten »›überfrohen Helden‹«, der »nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt« (I: 889) – für Wahrheitssicherungsfragen war bei all dem kein Platz mehr: »Mit schöpferischem Behagen wirft er die Metaphern durcheinander und verrückt die Gränzsteine der Abstraktion.« (I: 888) Indes muss man beachten, wie Nietzsche mit seinem Konstrukt des ›intuitiven Menschen‹ im Spätwerk verfährt. Kurz geredet: Es findet keine Gnade mehr. Deutlich ist in diesem Zusammenhang der von Nietzsche in GM geforderte »Fusstritt für die schmächtigen Windhunde […], welche versprechen, ohne es zu dürfen.« (V: 294) Denn der Ausdruck ›versprechen‹ ist bei Nietzsche bildungsphilosophisch konnotiert und reflektiert auf ein Handeln aus Selbstaufgeklärtheit und Subjekthaftigkeit. Ein derartiger Handlungstypus widerrät aber fundamental jenem – auf Intuition, Metaphysikrehabilitation und Geschichtslosigkeit abstellenden – Handlungstypus, auf den Nietzsche mit seinem Konstrukt eines ›intuitiven Menschen‹ reflektierte. Der Kern des Problems einer idealtypischen menschlichen Seinsverfasstheit, die der Wahrheitstheorie des späten Nietzsche gerecht wird, ist nur dort erreichbar, wo der Mensch eine andere Lektion gelernt hat: die der Redlichkeit als des großen Antipoden von Klugheit einerseits sowie Unverbindlichkeit andererseits. »Was ist das Suchen nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit«, so heißt es folglich 1885 in einem Fragment und in einer uns durchaus schon vertrauten Konnotation, »wenn nicht etwas Moralisches?« (XI: 510) Dem korrespondiert dann auch Zarathustras Wort: »Nichts nämlich gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit.« (IV: 360) Zarathustra adressiert diese Botschaft an die ›höheren Menschen‹. Sie sind es, die er als auf dem Weg zum Übermenschen respektive des ›vornehmen Menschen‹ be95 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

findlich ansieht und die er folglich des Wahrheitszugriffs als Extrakt ihrer Redlichkeit, ihres ›Willens zur Macht‹, nahe wähnt. Dies nun auch ist der Hintergrund dafür, warum Wahrheit für den Nietzsche des Zarathustra Beute des redlichen Übermenschen ist, gemäß des Wortes: »Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.« (IV: 49)

Hiermit sowie mit der dazugehörigen Bestimmung aus dem Nachlass, wonach der – stammesgeschichtlich gesehen an Krieg und Jagd gewöhnte – Mann »jetzt die Erkenntniß als die umfänglichste Gelegenheit für Krieg und Jagd« (X: 131) liebe, lagert Nietzsche den ›Willen zur Wahrheit‹ in eine Metaphorik ein, die auf nichtdomestizierte Anteile (›gewalttätig‹, ›Kriegsmann‹) des Menschen Bezug nimmt, ohne daran doch die These vom Nicht-Verfügen über platonische Kardinaltugenden (›mutig‹, ›unbekümmert‹) zu knüpfen. Womit man es also zu tun hat, ist das Modell einer conditio humana, welche autorisiert scheint, gegen jene anzugehen, denen aus ihrer auch moralischen Beschränktheit daran gelegen sein muss, die Klugheit – und eben nicht die Redlichkeit – in den Rang eines Weltregulativs zu erheben. Wichtiger ist aber vielleicht sogar noch, dass Zarathustra in diesem seinem Aphorismus zugleich auch über die Voraussetzungen redet, derer Philosophie, als ›Philosophie der Zukunft‹ oder als Philosophie im Zeichen des Anderen der Vernunft, bedarf, wenn sie die Klugheit als Erkenntnisregulativ verabschieden will und die »Theile der Erkenntniß [ergreift], welche durch das Interesse der Klugheit nicht gefördert werden.« (IX: 201) Deutlicher als der Zarathustra macht dies die dritte Abhandlung der Genealogie der Moral. Denn Nietzsche kündigt sie expressis verbis an als eine, die der Auslegung des ›Kriegsmann‹-Aphorismus des Zarathustra dient. Dieser Hinweis wird zwar als uneindeutig eingeschätzt (vgl. etwa Wilcox 1998), und tatsächlich scheint der dann folgende Text kaum auf diesen Aphorismus einzugehen. Stattdessen wird eine Kritik der häufig verleugneten Selbstkastration geboten, die dem Philosophen- und Priesterstand herkömmlicherweise innewohne. Und doch führt spätestens Nietzsches im fortgeschrittenen Argumentgang erhobene Frage zum Kern zurück: »Ist heute schon genug Stolz, Wagniss, Tapferkeit, Selbstgewissheit, Wille des Geistes, Wille zur Verantwortlichkeit, Freiheit des Willens vorhanden,

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»Nichts ist wahr …« in Zur Genealogie der Moral (1887)

dass wirklich nunmehr auf Erden ›der Philosoph‹ – m ö g l i c h i s t ?« (V: 361)

Namentlich vor dem Hintergrund dieser Konnotationen, die in eine rhetorische und insoweit für die ›Jetztzeit‹ zu verneinende, für einen Repräsentanten der ›Philosophie der Zukunft‹ aber zu bejahende Frage eingebaut sind, wird die allerletzte, im Nachlass von 1888 ausgesprochene Pointe der ›Kriegsmann‹-Metaphorik erst so recht verständlich: »Für einen Kriegsmann der Erkenntniß«, so lesen wir hier, »der immer im Kampf mit häßlichen Wahrheiten liegt, ist der Glaube, daß es gar keine Wahrheit giebt, ein großes Bad und Gliederstrecken. – Der Nihilismus ist unsre Art Müssiggang …« (XIII: 491), will sagen: Er ist keineswegs dasjenige, bei dem ein ›Kriegsmann der Erkenntnis‹ auf Dauer stehenbleiben darf. Auch Nietzsches ›vornehmer Mensch‹ darf mithin als eine Variante jenes ›Kriegsmanns‹ verstanden werden. Er steht insoweit für den Vorgriff auf ein Modell moralgesteuerter Wahrheitssuche, das sich unter den Bedingungen des bei ihm mitgesetzten Kampfes ums Dasein als zwingend nahelegt für den Erhalt eines Gattungssubjekts, das sich als Paradigma anderer verstehen darf. Gesetzt ist dabei zugleich, dass sich der ›vornehme Mensch‹ dem ›Menschen des Ressentiments‹ überlegen wissen darf. Denn Letzterer, so Nietzsche, verrechnet alles Versteckte »als s e i n e Welt, s e i n e Sicherheit, s e i n Labsal« (V: 272) und sagt in seiner ihm eigenen »Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ›Ausserhalb‹, zu einem ›Anders‹, zu einem ›Nicht-selbst.‹« (V: 270) Der ›vornehme Mensch‹ hingegen sucht den »Gegensatz« nur auf, »um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen« (V: 271), gemäß etwa des Mottos: »Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen – das ist […] eine reife Frucht, aber auch eine s p ä t e Frucht.« (V: 295)

Anders also als bei jenem ›überfrohen Helden‹ des Jahres 1873 wird das dionysische Motiv der Bejahung hier nicht einem Selbstapplaus mit Blick auf die diesem Menschentypus eigene (erkenntnis-) anarchistische Lebensform einverwandelt, sondern einer Letztbegründung von »vornehmer Moral« (V: 270) zugeführt, die Indiz ist für den Stand der Subjektivitätsentwicklung des Einzelnen. Der letzte Anlass für diesen Auffassungswandel Nietzsches dürfte in dem Umstand zu suchen sein, dass der Nietzsche des Jahres 1887, von seiner Wagner-Verehrung ebenso geheilt wie von seiner jugend-

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V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

lichen Unbekümmertheit, den ›vornehmen Menschen‹ auf ganz neue und hochdramatische Weise dem Kampf ums Dasein ausgeliefert sieht. Deswegen auch fragt Nietzsche nun, die individualanalytische Ebene verlassend, deutlicher nach den überlebenstechnischen Vorteilen jenes Kollektivums, das sich unter dem Banner ›Menschen des Ressentiment‹ versammelt. Der Befund ist ernüchternd: »Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird nothwendig endlich k l ü g e r sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat.« (V: 273)

Nietzsche kondensiert hieraus seine nachdrückliche Warnung vor der Vorherrschaft einer bloß ›klugen Rasse‹ sowie sein Gebot der Abwehr »der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgerathenen« (V: 369) respektive der Organisierung des Widerstandes der Sachwalter »des a u f s t e i g e n d e n Lebens« (VI: 184). Was einem in dieser zuletzt genannten problematischen und, wie insbesondere der Nationalsozialismus gezeigt hat, missbrauchbaren Programmatik wiederbegegnet, ist die elaborierte Aufstufung einer Lektion, die Nietzsche schon 1875 bei Eugen Dühring gelernt hat: nämlich die von Dühring gegen Schopenhauer geltend gemachte Rechtfertigung des Optimismus unter der Chiffre einer notwendigen »S e l b s t v e r t h e i d i gung der Glücklichen gegen die Behauptungen der P e s s i m i s t e n .« (VIII: 132) Angetrieben wird Nietzsche bei dieser Option von einer Geschichtsphilosophie, die das Aufkommen der ›klugen Rasse‹ unter dem Stichwort der Herauszüchtung des »zahmen und civilsierten […] H a u s t h i e r s « aus dem »Raubthier ›Mensch‹« abzulagern weiß und die folglich berichten kann von »jenen Reaktions- und Ressentiments-Instinkten, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu Schanden gemacht und überwältigt worden sind.« (V: 276) Das Dual ›Haustier‹/›Raubtier‹ beleuchtet hier also jene Seite des Duals ›Mensch des Ressentiment‹/›vornehmer Mensch‹, die über die zeitdiagnostisch-sozialpsychologische Ebene hinausgehend in die Tiefe des geschichtlichen Raums zu denken erlaubt und die es folglich ermöglicht, die Geschichte von Bildung, Erziehung und Kultur unter dem Stichwort von Domestizierung abzulagern. Eine derartige Sehweise findet sich, mit durchaus analoger Metaphorik, auch schon bei Pestalozzi. Radikaler aber noch als bei 98 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

»Nichts ist wahr …« in Zur Genealogie der Moral (1887)

Pestalozzi offeriert die Domestizierungslogik Nietzsches Perspektiven einer Art Geschichtsprophetie, die den Selbstschutz der ›vornehmen‹ Rasse als ein Problem zu denken nötigt, das die Frage nach der Bildsamkeit des Menschen erzwingt. Dominant freilich ist die Domestizierungslogik Nietzsches dort, wo sie ihm als Instrument zur Kritik des vorherrschenden Typus, der ›Menschen des Ressentiment‹ also, dient. So warnte er beispielsweise in GM vor jenen, »welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andererseits im Verhalten zu einander so erfinderisch sind in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen, – sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde, d i e Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raubthiere.« (V: 274)

Als Exempel dachte er dabei, überraschend aktuell angesichts der Geschehnisse in Chemnitz 2018, an jene »frohlockenden Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei.« (V: 274) Die Verwendung der RaubtierMetapher ist hier eindeutig: Sie ist zu lesen als Verweis auf die dunkle Seite der Spezies ›Menschen des Ressentiment‹. Entsprechend soll sie die kleinbürgerlich-präfaschistische Seite der kolonialisierungsträchtigen Neugier für die Fremdheit des anderen zur Anzeige bringen. Insoweit begegnet uns Nietzsche hier in der Rolle eines Demaskierers des Anderen der Vernunft, der auch dort, wo er vom Übermenschen redet, skeptisch bleiben muss gegenüber dem, was sich in diesem möglicherweise an Irrationalität entäußert. In Anbetracht dieser vielfältigen Analyse der bösen Seite des Guten kann Nietzsche denn auch in Ecce homo die Ernte einfahren: »Ich verneine […] einen Typus Mensch, der bisher als der höchste galt, die G u t e n , die Wo h l w o l l e n d e n , Wo h l t ä t h i g e n .« (VI: 367)

Dieser Verneinung korrespondiert die Bejahung dessen, der sich, seiner Psychologie nach gelesen, im ›vornehmen Menschen‹ ankündigt: der Übermensch: »Der Übermensch liegt mir am Herzen, d e r ist mein Erstes und Einziges, – und n i c h t der Mensch; nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidenste, nicht der Beste« (IV: 357).

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V · Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner bildungsphilosophischen Relevanz

Und deswegen auch deklarierte Zarathustra: »Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen.« (IV: 77)

Der ›Fernste‹ und ›Künftige‹ vertritt jenes ›vornehme‹ Subjekt, auf das allein im Horizont einer unterstellten Bildsamkeit zugerechnet werden kann. Der ›Nächste‹ hingegen vertritt das – im ›Menschen des Ressentiment‹ präsente – Hemmnis, dem nachzugehen bedeuten würde, die Entdeckung des Neuen zu behindern. Insoweit ist Nietzsches Ansatz als Teil einer Menschenverbesserungspolitik zu verrechnen, die noch die aufklärungszentrierten Ideale einer Modernisierung der conditio humana in sich trägt. Anders aber als später geisteswissenschaftliche Pädagogen wie Herman Nohl oder auch Eduard Spranger suchte Nietzsche nicht die durch die ältere Generation getragene Kultur wieder als Bildungsträger in Kraft zu setzen – und die Psychologie in ihrer Tauglichkeit zur Entlarvung des je Überlieferten und zur Begründung des neu zu Fordernden aus dem Spiel zu halten. Dies war ein wichtiger Vorentscheid. Denn es sind ja gerade Psychologieabstinenz wie Hochkulturbeflissenheit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die zu den zentralen Anlässen dafür wurden, dass pädagogische Höherbildungsprogrammatiken heutzutage weitgehend außer Kurs gesetzt sind. Vielerorts sucht man Nietzsche dem damit aufgerissenen Strudel, durch den er sich gar nicht gefährdet sehen muss, zu entreißen und als Vaterfigur der Postmoderne auszuweisen, getragen von der Überzeugung, Nietzsche habe den klassischen Wahrheitsbegriff zerstört. (vgl. etwa Hofbauer 2006: 12) Aber das einzige noch, was derart Attribuierende zu ihrer Rechtfertigung vortragen könnten, ist Nietzsches Relativierung der Ich-Vorstellung, der Wahrheitsidee und der Normativitätsrechtfertigungen herkömmlicher Menschenverbesserungspolitiken. Diese Relativierungen gelten aber nur in einer Welt, in der sich das erkennende Subjekt seiner Selbstüberhebung ebenso wenig stellt wie der Fragwürdigkeit der Kulturgüter, auf die es vertraut. Sie gelten aber nicht in einer Welt, für die Nietzsche eintrat und der er mit der psychologischen Decouvrierung der die alte Welt dominierenden ›Zeichensprache‹ vorzuarbeiten suchte. Und dafür war ihm jenes »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« unerlässlich.

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Kapitel VI

Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

In Zeiten des sich schärfenden Bewusstseins der Zwänge des nachmetaphysischen Denkens drohen Metaphysiker zum Auslaufmodell zu werden. Von hier ausgehend liegt die Frage nahe: Muss man Nietzsche diesem Auslaufmodell zurechnen? Oder war er Antimetaphysiker mit Rückfallgefahr (1.), und, falls ja: Mit welchen Konsequenzen für die Pädagogik (2.) sowie seine Vernunftkonzeption (3.)?

1. Nietzsche zwischen Wirkungserwartung und Realismus oder: Über Verlockungen metaphysischen Denkens Vor gut vierzig Jahren galt so manch einem Nietzscheexperten die Metaphysik als Inbegriff dessen, was die Philosophie dem Wesen nach bestimmt und der ideengeschichtlichen Tradition zufolge zusammenhält. Ein Beispiel ist Volker Gerhardt, dem die Philosophie dort, wo sie sich, wie etwa bei Platon, Kant und Nietzsche, auf den Anspruch einlasse, das Dasein zu transzendieren, metaphysisch werde, mit der Umkehrung: Wenn die Philosophie sich gegenüber diesem Anspruch spröde verhalten würde, verlöre sie »mit der metaphysischen Reichweite zugleich auch den Charakter von Philosophie.« (Nietzsche-Studien 1981/82: 221) Gesprochen worden ist dieses Urteil seinerzeit als Schlußwort einer von Gerhardt ausgelösten erneuten Diskussion der Frage, ob Nietzsche als Metaphysiker oder als Antimetaphysiker zu verstehen sei. Erneut meint: Es war Martin Heidegger gewesen, der dieses Debatte ihr allererstes Profil gegeben hatte. Heidegger, gänzlich unverdächtig in der Frage der notwendig engen Verknüpfung von Metaphysik und Philosophie, hatte zugleich den Konnex von Wissenschaft und Philosophie enggeführt und den Maßstab für den philosophischen Gehalt von Wissenschaften »in der Sicherheit, Klarheit und Ursprünglichkeit des Fragens und in der Tragkraft des denkerischen Willens« festzumachen versucht, eines 101 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VI · Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

Willens, »der nicht an Ergebnissen der Wissenschaft sich berauscht und beruhigt, sondern diese immer nur als Mittel und Durchgang begreift.« (Heidegger 1961a: 375) Der Philosophiebegriff war hier deutlich ein im Ausdrucksmittel der Frage kulminierender und auf die Bestimmung des Philosophen als eines Denkers Bezug nehmender, der von metaphysischen Konnotationen gänzlich absieht. Eben in dieser Form war der Philosophiebegriff auch für den frühen Nietzsche von Interesse. Dies kann man seinem frühen, gegen seinen ›Doktorvater‹ Friedrich Wilhelm Ritschl (1806–1876) gerichteten Interesse an einer Philosophierung zeitgenössischer Philologie ebenso entnehmen wie seinem im Namen seines frühen Idols Arthur Schopenhauer (1788–1860) entwickelten Programms einer Rephilosophierung bloß noch ›zeitgemäßer‹ Universitätsphilosophie. (vgl. Niemeyer 2017: 168 ff.) In beiden Fällen machte sich Nietzsches Kritik daran fest, dass Philologie wie Universitätsphilosophie je für sich nur noch den Typus des Forschers kannten bzw. hervorbrachten. Ob die Reaktualisierung eines so zu verstehenden Projekts der (Re-) Philosophierung einigen (Sozial-) Wissenschaften der Gegenwart gut anstünde, soll hier nicht diskutiert werden. (vgl. Niemeyer 1994) Zu schweigen ist hier auch von der Gegenwartsphilosophie, die mitunter, als philosophische Forschung und zumal als Nietzscheforschung, den Eindruck erweckt, als habe auch hier der Typus des wissenschaftlichen Forschers die andere Figur des philosophischen Denkers verdrängt. Wichtiger ist, dass Nietzsche der seiner philologischen Epoche entspringenden Vorrangerteilung für die Philosophie auch noch in seinen späteren Schriften treu blieb, allerdings unter je besonderen Konditionen. Einige Beispiele: In Morgenröthe wird die Philosophie unter dem Titel einer durch sie leistbaren »Verschönerung« der ›häßlichen‹, ›trockenen‹, ›trostlosen‹, ›schwierigen‹ und ›langwierigen‹ Wissenschaften geführt. Dabei überwiegen allerdings die skeptischen Konnotationen, mit denen Nietzsche diese Verschönerungsprogrammatik versieht. Nietzsche nämlich denkt dabei an das Modell der »RokokoGartenkunst«, der die Philosophie in diesem ihrem Verschönerungsstreben nachgebe; er denkt also an das Streben der Philosophie, »so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Träumerei« in die Wissenschaften einzumischen, »dass man in ihr ›wie in der wilden Natur‹ und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne, – das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, träumt sogar davon, auf diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen 102 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche zwischen Wirkungserwartung und Realismus

die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat.« (III: 263) Zwischenfazit: Auch der ›mittlere‹ Nietzsche hielt eine Rephilosophierung der Wissenschaften offenbar für geboten. Aber er legte dem einen Philosophiebegriff zugrunde, der metaphysikfrei gearbeitet ist und der nur als ein solcher die Ästhetisierung der Problembearbeitung ebenso unterläuft wie die ersatzreligiöse Theologienutzung. Dies unterstreicht auch Nietzsches Ausblick auf ein Zeitalter, »das die mächtigste Schönheit gerade in den ›wilden, hässlichen‹ Theilen der Wissenschaft entdeckt.« (ebd.) Denn diese Entdeckungsleistungen wird wohl nur ein Philosophiebegriff bereitstellen können, der seine Leistungskraft vor allem mittels umfänglicher Theoretisierung der von den Wissenschaft vorgegebenen Thematisierungsrichtungen entfaltet, der also, um noch einmal Heideggers Diktum aufzugreifen, die Ergebnisse der Wissenschaft als ›Mittel und Durchgang‹ zu nutzen in der Lage ist. Dem Projekt einer Vorrangerteilung der Philosophie gegenüber den Wissenschaften blieb Nietzsche auch noch in Jenseits von Gut und Böse treu, hier in Gestalt des Hohen Liedes auf den wahrhaften Philosophen als des »Befehlenden und Gesetzgebers« (V: 145) und als des »cäsarischen Züchters« und »Gewaltmenschen der Cultur« (V: 136) anstimmt. Andreas Urs Sommer kommentierte diese Passagen sehr zurückhaltend, garniert mit Vokabeln wie »vage« oder »experimentell«, aber im Ergebnis doch den wichtigsten Punkt zumal für Belange dieses Kapitels ansprechend: »Es hat den Anschein, hier werde mit der Selbstermächtigung des Menschen zum Herrn der Geschichte der gewaltsame Gestus der Metaphysik reproduziert, so dass ein zentrales Motiv dieser Metaphysik, nämlich die Ausschaltung der Kontingenz, unversehrt erhalten bleiben kann.« (Sommer 2016: 581)

Insoweit will es fast scheinen, als kämpften zwei Seelen in Nietzsches Brust – die eine, schlimme, mit der Banderole »Wirkung« überschrieben, die andere, vorsichtige, auf »Plausibilisierung« abstellend. Der ersten Seele wäre dann auch Nietzsches Polemik gegen die die Philosophie in die »Botmässigkeit der Wissenschaft« (V: 131) zurückbringenden Modephilosophen Eugen Dühring und Eduard von Hartmann zurechenbar. Sie würden nur der Tendenz »junger Naturforscher und alter Ärzte« Auftrieb geben, ihrerseits »den Philosophen zu spielen.« (V: 129) Nietzsches Gegenmittel: Engziehen der Grenzen der Wissenschaften bei gleichzeitigem Beharren auf dem Bemühen, 103 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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die Philosophie aus jeder Popularisierungstendenz herauszuhalten und in ihrem Rang als einer Orientierungsmacht disziplinübergreifender Denkleistungen zu befestigen. Wichtig dabei: Derlei kommt ohne metaphysische Unterlegungen des Philosophiebegriffs aus. Im Gegenteil: Nietzsche scheute trotz seiner vielfältigen Kritik an der gerade in seiner Epoche anhebenden Selbstüberhebung von Wissenschaftlern gegenüber Philosophen nicht davor zurück, die Wissenschaft auch gegenüber philosophischer Hybris ins Feld zu führen. Diesem Interesse verdankt sich nicht zuletzt seine im nächsten Kapitel zu erörternde Demontage der Vernunftmetaphysik (vgl. Kap. VII), aber auch seine danach zur Erörterung anstehende psychologische Philosophenkunde (vgl. Kap. VIII). Entsprechend können wir vorerst resümieren, dass die Frage als unklar zu gelten hat, ob bestimmte Verwendungsweisen des Philosophiebegriffs nicht doch ein Absehen vom Metaphysikgebot erlauben, wenn nicht gar erzwingen, wenn denn nicht der Einfluß der Philosophie auf die Wissenschaften endgültig verlorengehen soll. Die engere Frage nun, nämlich die, ob Nietzsche als Metaphysiker oder als Antimetaphysiker zu gelten hat, gilt inzwischen als weitgehend geklärt, zugunsten des letztgenannten Attributs und basierend auf den sich seit 1878 häufenden Anzeichen für eine immer differenzierter ansetzende Metaphysikkritik Nietzsches (vgl. Marc Rölli in NLex: 245 f.). Vordringlicher scheint aktuell insoweit der Themenkomplex Nietzsche und die Wissenschaften, wie es ein gleichnamiges, aus dem Berliner Nietzsche Colloquium hervorgegangenes Handbuch (vgl. Heit/Heller 2014) zu exponieren suchte. Es geht nicht, wie schon der Titel zeigt, Nietzsches Rang als Philosophen nach, sondern reflektiert auf den Umstand, dass Nietzsche ein Vielleser war und damit notwendig auf zahlreichen Themenfeldern der sich in seiner Epoche formierenden Einzelwissenschaften und selbst in der Philosophie als Autodidakt zu gelten hat – dessen diesbezüglich schlechtes Gewissen sich schon früh (1870) in seiner Schopenhauer entlehnten Sorge entlud, er könne am Ende als »Narr auf eigne Hand« (3: 94) gelten, der von Dritten mit festem Wohnsitz in je ihrem Fachgebiet (›Fachidioten‹ also, wie die 68er spöttelten) nicht wirklich ernst genommen werde. Ein vergleichbar spätes Zeugnis für diese Sorge gibt ein Nachlassvermerk vom Juni-Juli 1885: Nietzsche gibt hier einen Abriss über sein neues, über den »Leitfaden des Leibes« (XI: 578) organisierbares Forschungsprogramm – und fühlt sich plötzlich zurückerinnert an Einwände aus seiner Zeit in Tribschen 104 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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(= »Naxos«), wo ihm Cosima (= »Ariadne«) entgegenhielt (so Nietzsches Reminiszenz, die man allerdings als solche erkennen muss; vgl. Niemeyer 2017: 82 ff.): »Positivismus! Rüssel-Philosophie! Begriffs-Mischmasch und -Mist aus hundert Philosophien! Wo will das noch hinaus!«

Nietzsche, so sein Trost in dieser (fiktiven) Konstellation: Dass »Ariadne« (und man darf hier nun getrost ergänzen: außer Cosima auch Richard Wagner) »in ihrer philosophischen Ausbildung um zwei Jahrtausende zurück [war].« (XI: 579) Die Frage angesichts des hier in Rede stehenden Handbuchs von 2014 lautet: Sind die Leser und Leserinnen desselben am Ende ihrer Lektüre schlauer als diese beiden? Können sie gar – um im Wortspiel zu bleiben – den ›Ariadnefaden‹ beim Vielleser Nietzsche erkennen? Die Antwort auf diese Frage fällt gespalten aus, wie andernorts (vgl. Niemeyer 2016c) ausführlicher dargestellt. Hier nur soviel: Evident wird, auf wie vielen Fachgebieten (genannt seien nur Historiographie, Lingustik, Religionswissenschaften, Economics, politische Philosophie, Soziologie, Psychologie, Astronomie bis hin zur Medizin) Nietzsche Anregungen zu geben versuchte, ›anti-metaphysische‹ – um den hier interessierenden Fragekomplex nicht aus den Augen zu verlieren – selbstredend, denn in all diesen Gebieten ging es ja vor allem um empirisch aussagefähiges und forschungsmethodologisch relevantes Wissen. Daraus indes folgt nicht, Metaphysik habe in diesem Handbuch grundlegend ausgespielt, wie exemplarisch anhand von Tobias Dahlkvists Artikel Nietzsche and medicine gezeigt sei. Nicht dass, was einen Teilaspekt dieses Themenfeldes, nämlich Nietzsches Krankheit angeht, nicht genügend Symptome auf Seiten Nietzsches – »migraine«, »indigestions«, »at times […] approached full blindness« – gelistet würden. Erwähnt wird selbst Nietzsches auf seinen Vater bezügliche Sorge wegen einer »hereditary neurological condition.« (Dahlkvist 2014: 138) Ansonsten aber verliert Dahlkvist hier und in seiner etwas älteren Studie Nietzsche als Pathograph und Objekt der Pathographie (Dahlkvist 2012) nicht ein Wort über die bis in die jüngste Zeit hinein allen konkurrierenden (Ausschluss-) Diagnosen (etwa Schain 2001) zum Trotz wahrscheinlichste Ursache für Nietzsches Paralyse und damit sein elfjähriges Siechtum in häuslicher Pflege: nämlich Syphilis (vgl. Schiffter 2013) – eine Art Modekrankheit damals, wie durch Namen wie Henry Murger, Charles Baudelaire, Heinrich Heine, Gustave Flaubert oder Guy de Maupassant 105 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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belegt werden könnte. (vgl. Niemeyer 2019) Besonders bedenklich dabei: Dahlkvists Zurückhaltung in dieser Frage steht offenbar für den allerletzten Schrei einer von allen guten Geistern biographieorientierter Nietzscheforschung befreiten Szene (vgl. Niemeyer 2017b), hat aber mit Nietzsches antimetaphysischem Furor in Sachen »neuer« Aufklärung (vgl. Kap. IX) nichts mehr zu tun. Dabei sei gerne eingeräumt, dass Nietzsche diesem Furor, wie andernorts ausführlich gezeigt (vgl. Niemeyer 2017: 298 ff.) und im Rahmen der kleinen Werkschau angedeutet (vgl. Kap. IV), mit EH vergleichsweise lautstark Valet sagte. Hiermit aber wird es spannend. Denn Nietzsches Interpret Dahlkvist beanstandet nicht etwa diesen Vorgang, nein, er versieht ihn auch noch mit seinem Siegel mittels der müden Pointe, »that Ecce homo, to my mind, was Nietzsche’s Essais.« (Dahlkvist 2014: 153) Gemeint ist hiermit Michel Eyquem de Montaignes (1533–1592) vielgelobtes und wunderbar gelassenes Hauptwerk, das Nietzsche als Heilmittel gegen den Pessimismus zu schätzen wusste. (vgl. Vivetta Vivarelli in NLex: 249) Der Vergleich zwischen Nietzsche und Montaigne (zuletzt: Georg 2017) ist also nicht gänzlich unstatthaft, zumal wenn man an einige besonders (auch sprachlich) gelungene Abschnitte aus EH denkt, etwa solche zu Fragen der Ernährung, kulminierend in beschwingt sein sollenden Bekenntnissen wie: »[I]n München leben meine Antipoden« (VI: 280) – hier, um dieser Fehllektüre gleich entgegenzutreten, nicht zu verstehen als Bekenntnis eines dreizehnjährigen BVB-Fans, sondern als scherzhafte Anspielung auf Nietzsches Bierabstinenz aus Gründen der Bekömmlichkeit. Indes steht doch sehr in Frage, ob derlei wirklich à la Montaigne ausgedeutet werden kann. Oder – allerdings vergleichbar fehlgreifend – à la Peter Sloterdijks Projekt »Anthropotechnik«, Spezialabteilung »allgemeinen Asketologie.« (Sloterdijk 2009: 16) Denn hier wie da (sowie dort, also bei Montaigne) geriete die dem Prinzip der sparsamsten Erklärung folgende naheliegendere Rekonstruktionsperspektive außer Betracht, wonach Nietzsche mit jenem Passagen aus EH schlicht beglaubigen wollte, was ihm seit MA als zentraler Programmsatz seiner antimetaphysischen Forschungsprogrammatik galt: »Wir müssen wieder g u t e N a c h b a r n d e r n ä c h s t e n D i n g e werden« (II: 550 f.) – ein Satz, wie wir nun erst sehen können, dessen Geist Nietzsche zuwiderhandelte, insofern er sein ›nächstes Ding‹ Syphilis unerwähnt ließ bzw. hinter der gelassenen Attitüde à la Montaigne (et Sloterdijk) verbirgt. Ergo: Indem Dahlkvist, der Handbuchartikel106 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche zwischen Wirkungserwartung und Realismus

verfasser, dies nicht erkennt, missachtet er den Subtext der vermeintlich anti-metaphysischen Rede Nietzsches aus EH – und der ist allemal ein metaphysischer, vergleichbar der zeitgleich zu Papier gebrachten Warnung: »Ve r g i s s n i c h t , M e n s c h , d e n Wo l l u s t a u s g e l o h t : d u – b i s t d e r S t e i n , d i e W ü s t e , b i s t d e r To d … « (VI: 387)

Ganz klar: Diese künstlerisch hochwertigen Zeilen aus den DionysosDithyramben sind pure Metaphysik, resultierend aus einem selbstauferlegten – übrigens durchaus verständlichen – Schweigebot Nietzsches. Aber die Nietzscheforschung heutzutage (à la Dahlkvist) macht sich m. E. mitschuldig an dessen Perpetuierung und der sie forcierenden unheimlichen Wiederkehr der Metaphysik beim ›späten‹ Nietzsche, wenn sie nicht endlich den Mut aufbringt, der nur zu verständlichen Verehrungssucht (etwa für die Schönheit des genannten Dionysos-Dithyrambus) zuwiderhandelnd, dem nicht-metaphysischen Subtext jener Zeile Ausdruck gibt, und sei es im Rapper-Style anno 2020: »Ve r g i s s n i c h t , R ö m e r, F r a n z i s k u s , w a s i s t n i c h t d a ? Kondomautomaten im Sperrbezirk, das ist doch klar!«

Heißt, in Übersetzung geredet (vgl. Niemeyer 2019: 120 ff.): Nietzsche war, genau betrachtet, derjenige, der, durchaus gegen christliche Leibfeindlichkeit und die ihr inhärente Adelung eines nur in Zeugungsabsicht zu billigenden Geschlechtsverkehrs (zwischen kirchlich Getrauten) die Anti-Aids-Parole »Safer sex!« erfunden hat – und keiner hat’s gemerkt. Wer sich nun vielleicht etwas geschockt zeigt angesichts des hiermit riskierten Ausblicks auf die Nietzscheforschung der Zukunft, dem sei zumindest doch noch versichert, dass das Vorstehende notwendig war, um die in der Kapitelüberschrift verborgene Wendung »Verlockungen metaphysischen Denkens« zu erläutern und jenen entgegentreten zu können, die, in dieser Linie gedacht, offenbar meinen, die Ausnahme, also der Rückfall, stünde für die Regel. Allererst zu denken ist hier natürlich an Martin Heidegger. Nietzsches Metaphysik titelt sich denn auch ein Abschnitt seiner berühmten zweibändigen Nietzsche-Darstellung (Heidegger 1961a,b), eine Formel, die wohl pars pro toto gelesen werden darf. Denn die von Heidegger gewählte Zwischenüberschrift deutet an, worum es ihm in der Hauptsache zu tun war: um die Darstellung der Philosophie Nietzsches un107 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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ter dem Stichwort der »Vollendung der abendländischen Metaphysik« und im bewussten Gegenzug zu Versuchen, an Nietzsche »die Absage an alle Metaphysik«, wenn nicht gar den Schritt zu ihrer »endgültigen Verleugnung« (Heidegger 1961b: 7) sichtbar machen zu wollen. In diesem seinem Erkenntnisinteresse rückte Heidegger in das Zentrum seiner Interpretation vor allem das Übermenschenkonstrukt, den Wiederkunftsgedanken sowie die Rede vom Willen zur Macht. (vgl. NLex: 155 f.; Kaufmann 2018) Für die damit erschlossenen begrifflichen Zusammenhänge, so hat man Heidegger zu verstehen, gelte, dass das Wesen der Metaphysik, nämlich »die Gründung der Wahrheit über das Seiende im Ganzen« (Heidegger 1961b: 36), zum Thema werde. So ziele beispielsweise der Wille zur Macht auf »das Sein des Seienden als solchem«, der Wiederkunftsgedanke auf »das Seiende im Ganzen« und das Übermenschen-Konstrukt bezeichne »jenes Menschentum, das von diesem Ganzen gefordert wird.« (ebd.: 260) Aber auch Nietzsches Umwertung aller Werte ist für Heidegger »als Gründung des Prinzips einer neuen Wertsetzung Metaphysik« (ebd.: 36), ganz zu schweigen von Nietzsches Psychologie: Sie sieht Heidegger (ebd.: 263 f.), im Aufgreifen der Bestimmung Nietzsches, Psychologie müsse als »Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht« (V: 38) verstanden werden, als »Metaphysik schlechthin«, konkreter: als (philosophische) Anthropologie, sofern sie »nach dem Wesen des Menschen aus dem Hinblick auf die wesentlichen Bezüge des Menschen zum Seienden im Ganzen« fragt; darüber hinausgehend aber auch als »Frage nach dem ›Psychischen‹, d. h. Lebendigen im Sinne jenes Lebens, das alles Werden im Sinne des ›Willens zur Macht‹ bestimmt.« (Heidegger 1961b: 61) Die Folgen dieser auf den ersten Blick beeindruckend geschlossenen, die Aufdeckung des »einzigen Gedanken« (Heidegger 1961a: 481) Nietzsches beanspruchenden, aber dennoch Nietzsches Metaphysikkritik und den einzelwissenschaftlichen Modus seiner Psychologie ignorierenden Interpretation sind fatal, vor allem politisch. So bemerkte Heidegger an charakteristischer Stelle an: »Wenn alles Seiende Wille zur Macht ist, dann ›hat‹ nur Wert und ›ist‹ nur ein Wert solches, was die Macht in ihrem Wesen erfüllt. Macht ist aber nur Macht als Machtsteigerung.« (Heidegger 1961b: 37)

Dies so 1940, nur ein Jahr nach Kriegsbeginn, zu schreiben und zu sagen – wenn auch nicht zu veröffentlichen –, hätte sich aus der zeitgebundenen Perspektive heraus durchaus deuten lassen als Versuch 108 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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der nachträglichen metaphysischen Adelung eines diktatorischen Systems unter Zuhilfenahme eines entsprechend reformulierten Nietzsche. Dies gilt auch für den Zusatz, dass »im Menschen, d. h. in der Gestalt des Übermenschen, der Wille zur Macht sein reines Machtwesen uneingeschränkt entfaltet« (ebd.: 62), denn diese Bestimmung hätte man ohne Weiteres der Rechtfertigung des arischen Herrenmenschentums zuführen können. Auch das gleichfalls 1940 gesprochene Heidegger-Wort von der »sich selbst in die Hand nehmenden Selbstprägung der Menschen« respektive das von der »einfachen Strenge der Vereinfachung aller Dinge und Menschen auf das Eine der unbedingten Ermächtigung des Wesens der Macht für die Herrschaft über die Erde« (ebd.: 308) war missverständlich, wenn es nicht gar für eine Fehldeutung des von Nietzsche Intendierten zeugte. Denn wenn dieser von einer »herrschenden Kaste« oder von einer »Erdregierung« (XI: 72) sprach, dachte er doch keineswegs, wie Heidegger offensichtlich anzunehmen scheint, daran, »daß die Weltentdeckung und Welteroberung und die jeweiligen Aufbrüche dazu von hervorragenden Einzelnen übernommen und geleistet werden müssen.« (Heidegger 1961b: 171) Vielmehr war Nietzsches bevorzugte Gesellungsform die »Gemeinschaft freier Einzelner« (IX: 395), die als Sozialform Bindung erforderte, nach der Nietzsche selbst existentiell bedürftig war und der die Zeit namentlich dann und dort bedurfte, wo sie sich als Barbareiepoche darlegte. Nietzsches sozialphilosophisches Konzept war also ein gerade der Epoche, in der Heidegger über ihn schrieb, zuwiderlaufendes, noch weitergehender und mit Wolfgang Müller-Lauter gesprochen: Die von Heidegger »erörterte ›Sache Nietzsches‹ ist von anderer Art, als Nietzsche selber ›seine Sache‹ verstand.« (Müller-Lauter 1981/82: 134) In ähnliche Richtung argumentierte Ernst Behler: »Wegen ihrer außergewöhnlich persönlichen Auffassungsweise und ihrer bedenklichen philologischen Textkritik ist Heideggers Deutung Nietzsches als letzter traditioneller Metaphysiker eher ein integraler Bestandteil seiner eigenen Philosophie als ein verläßliches Stück der Nietzscheforschung.« (Behler 1985: 94)

Aber man muss gar nicht einmal an diese Zusammenhänge erinnern oder der Nietzsche-Interpretation Heideggers widersprechen oder auch nur Heideggers Metaphysik-Begriff diskutieren. Es genügt, ihn, Heidegger, des mangelnden Bemühens um Rekonstruktion von Nietzsches psychologischen Hintergründen und Absichten zu zeihen. 109 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Summarisch gesprochen: Diesen Themenbereichen gegenüber hat sich Heidegger, die »eigentliche Philosophie« (Heidegger 1961a: 17) Nietzsches im Nachlass bzw. in der Textkompilation Der Wille zur Macht vermutend, als weitgehend inkompetent erwiesen. So gilt für Nietzsches Biographie zwar, dass Heidegger selbst es war, der, wie er stolz berichtete, die Veröffentlichung autobiographischer Skizzen des jungen Nietzsche veranlasste. Aber dies geschah doch lediglich im oberlehrerhaften Gestus des Sensibilisierens der Jugend für die »denkerische Aufgabe« eines großen Denkers in einem je gegebenen »geschichtlichen Augenblick.« (ebd.: 260) Unberührt von dieser Konzession gegenüber der Bedeutung des Lebensgeschichtlichen blieb aber die von Heidegger schon im ersten Satz seines Nietzsche-Buches gegebene Rechtfertigung für die Wahl des Titels – Nietzsche – mit dem Argument, dass ihm der Name »als Titel für die Sache« (ebd.: 9) gelte. Eine vergleichbare Engführung der Lesart lässt sich dort beobachten, wo Heidegger seine sich auf die Programmatik der Spätpsychologie Nietzsches konzentrierende Interpretation – ›Metaphysik schlechthin‹ – nur durch Ignoranz gegenüber jenem Psychologiebegriff Nietzsches durchzusetzen vermag, dessen Auftrag darin gründet, eine im Interesse der ›zweiten Aufklärung‹ betriebene Demaskierung des Anderen der Vernunft zu leisten. Erst unter Rückerinnerung an diese Zusammenhänge wird der von Heidegger vernachlässigte Kontext, aus dem heraus sich Nietzsche immer wieder als ein dezidierter Antimetaphysiker auszuweisen suchte, sichtbar und erkennbar. Am deutlichsten tritt diese Selbstauslegung Nietzsches auf der Basis der 1967 eröffneten und Heidegger noch nicht zugänglichen Edition der Kritischen Gesamtausgabe von Colli/Montinari hervor, die, wie Josef Simon betonte, das Nietzsche-Bild »entscheidend geändert« hat, nämlich dahingehend, dass es Nietzsche nicht um eine »neue Metaphysik« (Simon 1992: 1 f.) gegangen sei. Stützen lässt sich diese Auffassung auch mit jener Stelle aus Ecce homo, an der Nietzsche dazu aufruft, die »Fragen der Politik, der GesellschaftsOrdnung, der Erziehung« (VI: 296) nicht weiterhin dadurch zu verfälschen, dass man die Begriffe »Gott«, »Seele«, »Tugend«, »Sünde«, »Jenseits«, »Wahrheit«, »ewiges Leben« (VI: 296) ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Mit dieser damit indirekt ausgesprochenen Forderung nach sozialwissenschaftlicher Forschung gehorchte Nietzsche auch auf dieser Ebene seinem Wort:

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Nietzsches psychologische Dekonstruktion der ästhetischen Metaphysik

»Götzen (mein Wort für ›Ideale‹) umwerfen – das gehört schon eher zu meinem Handwerk. Man hat die Realität in dem Grade um ihren Werth, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit gebracht, als man eine ideale Welt erlog …« (VI: 258).

Systematisch bedeutungsvoller als diese Passage ist eine erst im Rahmen der Colli/Montinari-Ausgabe erstmals veröffentlichte Textumarbeitung vom Januar 1888, mit der sich Nietzsche als Repräsentant einer »antimetaphysischen Philosophie« darbietet bzw. als Repräsentant »einer eigentlichen Philosophie des Werdens, welche an ein ›Ansich‹ überhaupt nicht glaubt und folglich ebensowohl dem Begriffe ›Sein‹ als dem Begriffe ›Erscheinung‹ das Bürgerrecht verweigert.« (XIV: 119) Heidegger (1961b: 79) würde dieser Textpassage gegenüber vermutlich sein angedeutetes Argument entfalten, dass Nietzsche sich hier zu Unrecht als Antimetaphysiker bezeichne. Dies mag insoweit auch einsehbar sein, als eine ›Philosophie des Werdens‹ durchaus als Metaphysik des Werdens gelesen werden könnte und in dieser ihrer Eigenschaft offenkundig die ästhetische Metaphysik seiner Frühzeit ablösen soll. Dieses Argument gilt es nun zu prüfen.

2. Nietzsches psychologische Dekonstruktion der ästhetischen Metaphysik Margot Fleischer hat nachdrücklich das Wort von Nietzsches (früher) ästhetischer Metaphysik gegen das andere von Nietzsches Ästhetik zur Geltung zu bringen versucht und daran die These geknüpft, dass Nietzsche »im Gegendenken gerade auch gegen eine eigene (eigenständige) metaphysische Position zum Antimetaphysiker geworden« (Fleischer 1988: 74) sei. Dieser These wird auch hier gefolgt, wenngleich ihre Kontextualisierung eine andere, eben psychologische ist. Das Thema selbst war in den letzten Jahren von einiger Bedeutung, weniger wohl für die Nietzscheforschung als vielmehr für den postmodern eingestimmten Gegenwartsdiskurs. Denn in ihm wurde zu Beginn mit Vorliebe Nietzsche konsultiert, wenn es darum ging, die eigenen Ästhetikinteressen metaphysisch aufzuwerten und mit dem Namen des angeblichen ›Vaters der Postmoderne‹ zu rechtfertigen, wie etwa für Michel Foucault und dessen Entwurf einer »Ästhetik der Existenz« (Foucault 1986: 18) nachweisbar, ähnlich wie für Richard Rortys Plädoyer für eine »ästhetisierte Kultur«, die von der 111 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Annahme getragen wird, dass sich die »echten Prüfsteine der Wahrheit« nicht mehr von denen unterscheiden lassen, »die nur kulturelle Artefakte sind.« (Rorty 1992: 99) Zuletzt gewann das Thema neue Aufmerksamkeit im Sog der von Günter Gödde & Jörg Zirfas behaupteten Konjunktur des Themas »Lebenskunst« (unterteilt noch einmal in »historische«, »ästhetische«, »phänomenologische«, »anthropotechnische, »geteilte«, »therapeutische« sowie »kritische«) und festgemacht an Themenfeldern wie »Leib«, »Gesundheit«, »Kraft«, »Tanz«, »Wille zur Macht«, »Zeitigen«, »Kunst« und »Lust«) sowie, was Nietzsche angeht, zusammengehalten durch den Schlusssatz: »Friedrich Nietzsche ist […] davon überzeugt, dass die Lebenskunst viel weniger das rationale Bewusstsein, sondern vor allem das körperliche Sein betrifft, und dass die wechselseitige Durchdringung von Kunst und Leben nicht nur zur Verlebendigung der Kunst, sondern vor allem zur Vitalisierung des Lebens beiträgt.« (Gödde/Zirfas 2016: 24)

Mit Verlaub: Sätze wie diese machen sich wunderbar in einem Apothekenblättchen – haben aber, dargeboten in einem »philosophischpsychologischen Kompendium« eines philosophischen Fachverlags, etwas zumindest mich Irritierendes, dies zumal im Vergleich zu dem Alternativsatz, der mir dazu eingefallen wäre, nämlich der Folgende: Nietzsche zeigt sich im Zuge der sukzessiven Überwindung seiner Wagnerabhängigkeit zunehmend davon überzeugt, dass sein in der Geburt der Tragödie artikuliertes Projekt, wonach das Dasein und die Welt nur als »ästhetisches Phänomen […] ewig gerechtfertigt« (I: 47) werden könne, seiner über Schopenhauer beziehbaren Plausibilitäten entbehrt und die wechselseitige Durchdringung von Kunst und Leben als ein durch Nietzsche philosophisch zu rechtfertigendes Anschlussprojekt zunächst nichts weiter ist als eine Behauptung. Einverstanden: Um diesen Satz in Analogie zu jenem von Gödde & Zirfas als Schlusssatz eines einführenden Handbuchartikels aufbieten zu können, hätten zuvor einige Klärungen erfolgen müssen, etwa Nietzsches Beiseitesetzung von Schopenhauers Überlegungen zur Metaphysik des Schönen und zur Ästhetik betreffend, genauer gesagt: bezüglich Schopenhauers Satz, »die Musik überhaupt« sei »die Melodie, zu der die Welt der Text ist.« (SW V: 378) Nietzsche hierzu 1885/86, gutgelaunt, was bei ihm meint: extrem ironisch: 112 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsches psychologische Dekonstruktion der ästhetischen Metaphysik

»Die Musik offenbart n i c h t das Wesen der Welt und ihren ›Willen‹, wie es Schopenhauer behauptet hat […]: die Musik offenbart nur die Herren Musiker!« (XII: 77 f.)

Letztere, die »Herren Musiker« standen damit weitgehend nackt da, jedweder metaphysischen Zurüstung beraubt, konnten also nicht länger glaubhaft machen, jedenfalls nicht Nietzsche, ein »Orakel« zu sein oder gar »ein Priester […], eine Art Mundstück des ›An-sich‹ der Dinge, ein Telephon des Jenseits«, ein »Bauchredner Gottes«, kurz, und die nun greifende Erweiterung ist entscheidend: »[E]r redete fürderhin nicht nur Musik […] – was Wunder, dass er endlich eines Tags a s k e t i s c h e I d e a l e redete? …« (V: 346)

Gesetzt nämlich, was gesetzt werden darf auf dem Stand von Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887) – aus dem das Zitierte stammt –, das ›asketische Ideal‹ sei, dem Mainstream zufolge, eine Werdensbedingung philosophisch gehaltvoller Prosa, nach Nietzsches Meinung (seit Menschliches, Allzumenschliches) hingegen kaum mehr als ein Indiz dafür, dass »der Mensch einen Theil von sich als Gott an[betet] und […] dazu nöthig [hat], den übrigen Theil zu diabolisiren« (II: 130 f.), war damit etwas ›der‹ Philosophie angeblich Nützliches als etwas den Menschen (diesen so denkenden Philosophen beispielsweise) in Wahrheit Schädigendes ausgewiesen. Kein Ruhmesblatt also für die insoweit sich als lebensschädigend erweisende Metaphysik, und ergo erst recht kein Ruhmesblatt für eine ästhetische wie ethische Metaphysik zusammenbringende Lebenskunstlehre à la Gödde & Zirfas. Nicht geleugnet sei dabei, dass die Verknüpfung beider Themen schon Wagner in Die Kunst und die Revolution angedeutet hatte, indem er seinem Ästhetikbegriff die Annahme unterlegte, dass eine christliche Daseinsrechtfertigung wohl kaum gelingen könne. Nicht geleugnet sei ferner, dass Nietzsche dem noch fast vier Jahrzehnte später weitgehend folgte: In der Logik des Christentums, so lesen wir in seinem Versuch einer Selbstkritik, den er der 1886 besorgten Neuausgabe seiner Geburt der Tragödie vorangestellt hatte, sei seine 1872 noch angezielte ästhetische Lösung des Rechtfertigungsproblems nicht vorstellbar gewesen, insofern das »Christenthum als die ausschweifendste Durchfigurierung des moralischen Thema’s, welche die Menschheit bisher anzuhören bekommen hat« (I: 18), weniger einer ästhetischen denn einer ethischen Metaphysik das Wort rede. Nietzsche hatte sich damit den Hauptertrag seiner frühen ästheti113 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VI · Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

schen Option in Erinnerung gerufen: Die ihr zugrundeliegende, wenn auch noch nicht ausgesprochene Theismus-Dekonstruktion, die man auch als Teil der Metaphysik-Dekonstruktion zu lesen hat; und der sich in der ästhetischen Metaphysik ankündigende Vorgriff auf eine Formel für die Rechtfertigung des Daseins und der Welt, die zwar keine ästhetische mehr sein wird, die aber zumindest »sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die m o r a l i s c h e Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird.« (I: 17) Dies mochte zwar nur eine andere Wege ausschließende und insoweit noch nicht hinreichend klare Antwort sein auf die Frage, was den späten Nietzsche im Reich der Metaphysik oder besser wohl: im Reich des Metaphysikersatzes umtrieb. Aber es war dem Zweck einer Vorrede angemessen und mag auch hier zunächst genügen, um zu verdeutlichen, was der späte Nietzsche seiner frühen ästhetischen Metaphysik meinte danken zu können und worin er ihre Grenzen erblickte. Dass Nietzsche seine frühe ästhetische Metaphysik überwand, steht mithin außer Frage. Volker Gerhardt (1984b) hat denn auch die Stationen nachgezeichnet, auf denen Nietzsche zu dieser seiner Spätposition fand. Entsprechend stark ist der Erklärungsdruck, der auf denen lastet, die, wie etwa Jürgen Habermas, mit der starken These aufwarten, Nietzsche habe »alles, was ist und sein soll, aufs Ästhetische zurück[ge]führt« und seine Erkenntnis- und Moralkritik nur mit dem Interesse an dem Nachweis geführt, dass es »weder ontische, noch moralische Phänomene« gäbe, »jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem Nietzsche von ästhetischen Phänomenen spricht.« (Habermas 1985: 118) Die Folgen dieser Interpretation sind beachtlich und werden uns im rezeptionsgeschichtlichen Teil B noch beschäftigen (vgl. Kap. XIV/5) Denn über die Perspektive einer probeweise von Nietzsche als Ersatz aufgebotenen, psychologisch dekonstruierten ethischen Metaphysik muß, ginge es nach Habermas, nicht mehr verhandelt werden. Zugleich wird Nietzsche nun vorführbar als jemand, der das Ästhetische »zum Anderen der Vernunft hypostasiert[e]« (ebd.: 120), womit Habermas wohl Nietzsches Geeignetheit, als Drehscheibe der Postmoderne zu fungieren, verständlich zu machen vermochte, ihn damit zugleich allerdings auch aus dem Kreis der mit Ernst zu bedenkenden Autoren hinauskomplimentierend. Immerhin konzedierte Habermas noch, wenn auch weitgehend belegfrei und folgenlos, dass der späte Nietzsche die »jugendliche Naivität« (ebd.) seiner in der Geburt der Tragödie angedeuteten ästhetischen Metaphysik kritisiert habe. Wolfgang Welsch und Wiebrecht Ries, je auf 114 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsches psychologische Dekonstruktion der ästhetischen Metaphysik

ihre Art Nietzsche und dessen ästhetischen Optionen weitaus freundlicher zugetan, waren da schon unbedenklicher. Ries (1990: 121) etwa erweckte den Eindruck, Nietzsches ästhetische Metaphysik sei identisch mit einem auf das Ganze seiner Absichten abhebenden Programm, wusste sich indes keinen wirklichen Reim zu machen auf Nietzsches Wort von 1885/86: »Die Übertragung der Musik in’s Metaphysische war ein Akt der Verehrung und Dankbarkeit; im Grunde haben es alle religiösen Menschen bisher so mit ihrem Erlebniß gemacht.« (XII: 118)

Kaum besser verhält es sich mit Wolfgang Welsch’ Bemühen, Nietzsches Satz aus seinem Versuch einer Selbstkritik von 1886, es gelte, »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers […], die Kunst aber unter der des Lebens« (I: 14) zu sehen, als Programmsatz zu deuten derart, dass es gelte, die Wissenschaft »fortan« dem – von Welsch protegierten – ›Projekt‹ »ästhetischen Denkens« (Welsch 1989: 45) zu überantworten. Was Welsch ignorierte: Dass Nietzsches 1886er Feststellung, er stünde seiner 1872 markierten Aufgabe »nicht fremder« (I: 14) gegenüber, nur innewohnt, dass er sie als solche nachvollziehen kann, nicht aber, dass er ihr nach wie vor anhängt. Endgültig verliert der Versuch, Nietzsche auch noch die Verantwortung für den antiwissenschaftlichen Ästhetikkult postmodernen Denkens der 1980er und 1990er Jahre zuweisen zu wollen, jedes Recht, wenn man die Gründe einbezieht, die Nietzsche veranlassten – etwa im Nachlass vom Sommer 1878 –, gar eine »Art Sühne« anzubieten dafür, dass er »früher einer gefährlichen Aesthetik Vorschub leistete.« (VIII: 531) »[D]as Metaphysische treibt zur Verachtung des Wirklichen« und sei insofern »zuletzt culturfeindlich« (VIII: 552), erfahren wir da beispielsweise, sowie, aus Menschliches, Allzumenschliches, gleichsam zur Erklärung in Sachen »Cultus des Genius«: Nur wenn der Künstler »ganz fern von uns gedacht wird, als ein miraculum, verletzt er nicht« (II: 151) – eine psychologisch grandiose Beobachtung, die man eines Tages womöglich in eine Axt verwandeln könnte zwecks Rodung der Liegenschaften eingefleischter Hinterwäldler. In der Umkehrung geredet: Wer als Nietzscheforscher Nietzsche als Metaphysiker feiert, bringt ihn um sein eigentliches Potential als Kritiker der von ihm als ›unzeitgemäß‹ (bis lebens- wie kulturfeindlich) eingeordneten Modernität. Mit diesem insoweit zu rechtfertigenden psychologischen Zugriff demontierte Nietzsche zugleich ›den‹ Künstler, zunächst, in den 115 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Aufzeichnungen zu Menschliches, Allzumenschliches erkennbar, ein Codewort für Wagner (XIV: 137), der als das ursprünglich hoffnungsfroh registrierte Subjekt einer höheren Form der Weltauslegung am Ende zum skeptisch gesehenen Objekt sezierender Ideologiekritik gerät. Volker Gerhardt, der auf einige dieser Passagen aus Nietzsches mittlerer Schaffensperiode nachdrücklich hingewiesen hat, schließt seine frühe Studie über Nietzsches ästhetische Metaphysik denn auch mit der auf das Spätwerk bezogenen Folgerung ab, dass hier zwar die Kunst eine gewisse Aufwertung erfahre, etwa als »generative Kraft in allem Begreifen und Urteilen« (Gerhardt 1984b: 383). Aber von einer ästhetischen Metaphysik könne nun keine Rede mehr sein, allenfalls von einer ›Physiologie der Kunst‹ (ebd.: 388), etwa in der Linie von Nietzsches Definition »Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie« aus Nietzsche contra Wagner, für die ihm sein Bayreuth-Erlebnis des Jahres 1876 Pate gestanden haben dürfte, als er seinen gegen Wagner gewachsenen Vorbehalt in seinem MusikErleben gespiegelt sah nach dem Muster: »Protestirt aber nicht auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein Eingeweide?« (VI: 418 f.)

Den Zwischenschritt auf dem Weg zu dieser letzten Position in Sachen der ästhetischen Metaphysik absolvierte Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft, wenn es hier unter dem aufschlussreichen Zwischentitel Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst heißt: »Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l i c h .« (III: 464)

Zum Ausdruck gelangt hiermit immerhin, dass die Rechtfertigung des Daseins sich jedenfalls nur im Modus von Nicht-Kunst, im Modus von Wissenschaft also, wie man getrost sagen darf, vollzieht. Was Nietzsche jenseits dessen allein noch gelten lässt, ist Kunstindienstnahme für die Kultivierung der Lebensführung, etwa nach dem Muster des Imperativs aus FW 290: »Seinem Charakter ›Stil geben‹ – eine grosse und seltene Kunst!« (III: 530)

Für Lebenskunstapologeten à al Gödde & Zirfas ist dies ein wunderbarer Satz, FW 290 gleichsam ihr ›Kronaphorismus‹ (vgl. Brock 2014: 197; Patoussis 2014: 228) – einverstanden, sofern man dabei die Kontexte nicht übersieht, etwa in Richtung von Nietzsches alter Forderung nach »Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusse116 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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rungen eines Volkes« (I: 163) aus David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873), die nun, was Nietzsche angeht, ausgespielt hat. An ihre Stelle tritt extreme Liberalität bezüglich dessen, was das Individuum je für sich selbst als Stil prägend empfinden mag. Unerbittlich ist Nietzsche nur in einer Frage: dass, als Folge einer unentwickelten ›Lebenskunst‹, keine Unzufriedenheit, will sagen: kein Nährboden für Ressentiments verbleiben darf. Des Weiteren wichtig zu sehen: Das Lob Nietzsches geht nun eindeutig, und zwar fast im vom frühen Nietzsche noch abgelehnten ›sokratischen‹ Gestus, auf »die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird.« (III: 464) Die Kunst spielt hingegen nun nur noch die Rolle einer Art »Gegenmacht« (III: 464) im Sinne der durch sie möglichen Selbstdistanzierung von der Gefahr der Überschätzung der Redlichkeit als Garanten der Entdeckung von Wahrheit: »Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können!« (III: 464 f.)

Und selbst wenn sich Nietzsche im Mai/Juni 1888, scheinbar gegenläufig hierzu, in einem Fragment notierte: »Die Kunst und nichts als die Kunst!« (XIII: 521), zeugt dies keineswegs dafür, dass Nietzsche »1888 alle Kräfte seines Gegenkonzeptes im und am Phänomen Kunst [bündelt].« (Reschke 1995: 1) Denn auch wenn Nietzsche hier die Kunst als »Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung« lobt und als metaphysisch wertvoller auszuweisen trachtet als etwa den »Willen zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein« (XIII: 522), mit dem Ergebnis, dass sein Notat endet mit einer zustimmenden Rückerinnerung an das in der Geburt der Tragödie entfaltete Programm einer Auslegung der Kunst als metaphysische Tätigkeit des Lebens, darf man nicht übersehen, dass Nietzsche das damit in Erinnerung gerufene antinihilistische Therapeutikum zugleich doch auch als ein sehr fragwürdiges ausweist. So wird die Kunst als »das große Stimulans des Lebens« abgefertigt, als Mittel zur »Erlösung«, mitsamt des Künstlers, der für sich zwar so etwas wie einen »Glauben an das Leben« schafft und der sich für einen Moment auch als »Herr über die Wahrheit« (XIII: 521) fühlen mag – mehr aber auch nicht. Gerade 117 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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dieses letzte Attribut deutet an, dass es jenseits dieser selbstsuggestiven Macht der Ästhetik eine Wahrheit zu entdecken gilt, der gegenüber der Mensch sich tatsächlich als Herr zu erweisen hat, wohlwissend freilich, dass die Aufgabe selbst ihren Abschluss erst erfährt, wenn jenseits dieser Welt des Seins auch der Zugang gebahnt wird zu einer Welt des »Werdens und Wechselns«, der »objektiven Täuschung« (XIII: 522) – ein positiv konnotierter Ausdruck, im Gegensatz zur subjektiven Täuschung, zu der die Kunst den Weg zu bahnen allein in der Lage ist. So gesehen erlaubt das auf das ›Werden und Wechseln‹ abzielende Projekt einer ›objektiven Täuschung‹ die Folgerung, dass auch und gerade der späte Nietzsche dem Einwand des mittleren Nietzsche gegenüber dem frühen zugestimmt hätte: dem Einwand nämlich, dass die Kunst das Leben allenfalls erträglich zu machen, aber nicht zu rechtfertigen vermag. Denn eine akzeptable Rechtfertigung des Lebens geht bei Nietzsche nun nicht auf das je herrschende JetztzeitLeben, sondern nur auf eine Lebensform, die in sich noch die Perspektive des ›Werdens und Wechselns‹ birgt. Und diese Perspektive ist grundsätzlich nicht mittels Ästhetik erfüllbar, sondern, und dies gilt durchgängig für die Post-Zarathustra-Ära, sie muss bezogen werden auf ein Leben in einer Ordnung der Dinge ohne Gott. Nur unter diesen Umständen wird eine gänzliche Neubegründung des in diesem Leben Werdenden respektive des in ihm ins Werden zu setzenden neuen Lebensentwurfs, des Übermenschen also, möglich. Wir werden dieses Konstrukt noch ausführlich besprechen (vgl. Kap. XI), hier nur so viel: »Der objektive Mensch«, so heißt es in Jenseits von Gut und Böse im Blick auf den hier von Nietzsche demontierten Gelehrten, »ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das ü b r i g e Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss – und noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges, Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will.« (V: 136) Einverstanden: Expressis verbis begegnet einem hier nicht der Begriff des Übermenschen, übrigens in einer für das Spätwerk nicht untypischen Weise. Immerhin darf aber gefolgert werden, dass Nietzsche ihn als einen solchen ›complementären‹, also als einen das (übrige) Dasein rechtfertigenden Menschen würde gelten lassen. Denn die benutzten Chiffren und Attribute sind solche, die auch Zarathustra, wie wir noch sehen werden, dem Übermenschen mit auf den Weg gab.

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Nietzsches psychologische Dekonstruktion der ästhetischen Metaphysik

So gelesen ist der Übermensch als ein Wesen zu begreifen, das in seinem Streben nach Daseinsrechtfertigung zwar nicht notwendig jenseits des Ästhetischen steht, das allerdings zunächst jenseits von Gut und Böse und mithin im Rahmen des damit gesetzten neuen Anfangs seine Begründung aufzusuchen hat. Der frühe Nietzsche hingegen, um eine Kategorie wie die des Übermenschen ebenso noch verlegen wie um eine Fundamentalkritik der christlichen Gottesvorstellung, zentrierte sein Rechtfertigungsdenken unter Einfluss Wagners auf den Kunstbegriff und die durch ihn beförderbare Kultur- und Bildungskritik. Entsprechend auch ging sein Trachten noch dahin, im Ästhetischen gründende Optionen der Rechtfertigung des je Gegebenen zu ersinnen. Deswegen auch gerann ihm die dionysische Musik Wagners zu einem der kritisch an die Jetztzeit angelegten Maßstäbe. Der damit verknüpfte Kunstbegriff war ihm dann auch hilfreich für seine Kritik des sich von jeder Ästhetik freisetzenden ›vernünftigen Menschen‹ sowie für das Lob des ästhetisch gearteten ›intuitiven Menschen‹. Auch war ihm die Notwendigkeit des ›Werdens und Wechselns‹ in der damit umrissenen, auch geschichtsphilosophischen Problematik noch nicht hinreichend bewusst. So kann es beispielsweise nicht überraschen, dass Nietzsche in einem anderen Nachlassfragment aus etwas früherer Zeit (1887/88) die Kunst zumindest dort aus seinem Reflexionshorizont verabschiedet, wo er von der Notwendigkeit einer »Weltconception« redet, die »das Werden« in jedem Augenblick rechtfertigt und die mithin nicht bei »finalen Absichten« Zuflucht nimmt, mit der dann unvermeidbaren Folge, »das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen« (XIII: 34) zu rechtfertigen oder, besser wohl, in Kauf zu nehmen. Nietzsche formuliert diese geschichtsphilosophische Idee im Nachklang zu seinem Wiederkunftsgedanken: Er nämlich ist es, dem die Last aufgetragen wird, die Rechtfertigungsfähigkeit des Vollkommenheitsanspruchs an den je gegebenen Augenblick zu sichern. Nietzsche formuliert diese seine Idee aber auch unter Bezug auf seine Einsicht in einen Gott als eines »nichts w o l l e n d e n Wesens« (XIII: 35). Damit geriet, so darf man weiter folgern, der Übermensch in seiner Eigenschaft als Ersatz-Gott zum eigentlichen Garanten des Werdens des Neuen. Insoweit haben wir es weniger mit einer ästhetischen Metaphysik denn mit einer Metaphysik des Werdens zu tun, die nun freilich, so wäre sogleich hinzuzusetzen, der Übertragung bedarf in Richtung einer Psychologie der Entstehung des Neuen. Wir werden, wie angedeutet, im Übermenschen-Kapitel 119 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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noch zu zeigen haben, welche Konsequenzen sich daraus für Zarathustra – der deswegen mehr sein muss als ein Erzieher – ergeben.

3. Nietzsches psychologische Dekonstruktion der Metaphysik des Werdens Es war wiederum Volker Gerhardt (1985), der vehement und mit durchaus nachvollziehbaren Argumenten das Recht verteidigte, Nietzsche eine Metaphysik des Werdens zu attribuieren. Die hier vorzutragende Lesart sucht indes einen etwas anderen Ausgangspunkt: Sie will der an Nietzsche anknüpfenden Auslegung nachgehen, Nietzsche habe in der Post-Zarathustra-Ära eine ›Philosophie der Zukunft‹ konturiert, in der sich seine psychologische Absicht auspräge. Mit Blick auf die Metaphysik des Werdens macht dies erforderlich, deren psychologische Dekonstruktion zugunsten einer Psychologie der Entstehung des Neuen aufzuweisen. Dabei sieht man sich dann natürlich weniger auf die Ästhetik denn schon eher auf die Ethik verwiesen. Insofern wäre an sich auch das Wort von einer psychologisch dekonstruierten ethischen Metaphysik angemessen. Der Ausdruck ›ethische Metaphysik‹ ist nicht dadurch schon unbrauchbar, als Nietzsche ihn eher auf christliche Moralmodelle bezogen wissen wollte. Denn im Reich der Ethik hat sich zu artikulieren, was sich in Gegenstellung zum schlechten Alten begreift und insofern, metaphysisch besehen, als werdend gelten will. Und in die Psychologie ist dieses Neue zu überführen, wenn es sich im alltäglichen Handlungsvollzug zu bewähren hat. Gleichwohl kann damit der Ausdruck ›Metaphysik des Werdens‹ nicht als abgeschafft gelten. Denn er umgreift die umfänglichere Aufgabe der Geltungsbegründung des Neuen respektive Werdenden, legt sich aufgrund des Spätwerkes Nietzsches nahe und vermeidet die für Nietzsche gewiss inakzeptable Assoziation, dass hier nur der Bereich der praktischen Philosophie zu konsultieren sei. Wie psychologische Metaphysik-Dekonstruktion vor dem Hintergrund dieser begrifflichen und thematischen Abklärung anzulegen ist, verdeutlicht ansatzweise Nietzsches Versuch einer Selbstkritik von 1886. Der Hauptzweck dieses bereits eingangs des letzten Kapitels diskutierten Textes geht dahin, der Dekonstruktion der in der Geburt der Tragödie noch propagierten ästhetischen Metaphysik zuzuarbeiten. Allerdings lässt sich auch ein Nebenzweck sichtbar 120 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsches psychologische Dekonstruktion der Metaphysik des Werdens

machen. So ist etwa Nietzsches Wort, wonach es gelte, »die Moral selbst in die Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die ›Erscheinungen‹ (im Sinne des idealistischen terminus technicus), sondern unter die »Täuschungen«, als »Schein, Wahn, Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst« (I: 18), als ein Wort in Sachen Dekonstruktion der ethischen Metaphysik zu lesen. Deutlicher macht dies der Nachlass. So findet sich beispielsweise in einem wichtigen Fragment vom Frühjahr 1888 die, wenn man so sagen darf, Bilanz des Bemühens Nietzsches, die ›Moral selbst in die Erscheinung zu setzen‹ : »Es kommt in der ganzen Entwicklung der Moral keine Wahrheit vor: alle Begriffs-Elemente, mit denen gearbeitet wird, sind Fiktionen, alle Psychologica, an die man sich hält, sind Fälschungen; alle Formen der Logik, welche man in dies Reich der Lüge einschleppt, sind Sophismen. Was die Moral-Philosophen selbst auszeichnet: das ist die vollkommene Absenz jeder Sauberkeit, jeder Selbst-Zucht des Intellekts: sie halten ›schöne Gefühle‹ für Argumente: ihr ›geschwellter Busen‹ dünkt ihnen der Blasebalg der Gottheit.« (XIII: 291 f.)

Dieses Wort vom »Blasebalg der Gottheit« komplettiert erkennbar jenes andere vom »Bauchredner Gottes« (V: 346), mit dem Nietzsche im Zuge seiner Dekonstruktion der ästhetischen Metaphysik den dem Geist Schopenhauers folgenden wagnerianischen Musiker belegt hatte. (vgl. Kap. VI/2) Auf den Namen Schopenhauer stößt man aber auch, wenn man der von Nietzsche mit den Mitteln psychologischer Ideologiekritik betriebenen Dekonstruktion der ethischen Metaphysik nachgeht. Denn es war Schopenhauer gewesen, der die in der philosophischen Tradition gängige Unterstellung einer Differenz von metaphysischem ›Ding an‹ sich und nichtmetaphysischer ›Erscheinung‹ den Zwecken der Imputation einer höheren Form von (Mitleids-)Moral zuzuführen gedachte. Nietzsches schon in Menschliches, Allzumenschliches I anhebender »Kampf gegen die Moral«, so denn auch Georges Goedert, ist »fast ausschließlich gegen Schopenhauer gerichtet.« (Goedert 1978: 8) Im Einzelnen hatte Schopenhauer dabei damit argumentiert, dass der als Antagonist von Mitleid zu deutende verbreitete Egoismus in dieser seiner verhängnisvollen Vorherrschaft Folge des Umstandes sei, das der Mensch bei einem Blick ins eigene Innere das ›Ding an sich‹, »den Kern und Mittelpunkt der Welt« entdecke, wohingegen er bei einem Blick nach außen lediglich auf dem Gebiete der bloßen

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›Erscheinung‹ operiere und sich selbst sähe »als ein höchst Unbedeutendes, ja gänzlich Verschwindendes.« Der daraus resultierende »große Unterschied zwischen Dem, was nothwendig Jeder in seinen eigenen Augen, und Dem, was er in den Augen aller Andern ist«, sei dann, so Schopenhauer weiter, prädisponierend für eben jenen Egoismus, »den Jeder Jedem vorwirft.« (SW II: 698) Dieser resignative Befund verhieß dem von Schopenhauer protegierten Neuen also wenig Aussicht auf Erfolg, es sei denn, man konnte, wie Schopenhauer, darauf hinweisen, dass die je protegierte Mitleidsmoral das ›Ding an sich‹ repräsentiere und mithin für nichts anderes stünde als für das Übersetzen seiner Metaphysik »in Handlungen« (SW II: 698). Viel gewonnen war damit für die praktische Seite des Problems allerdings nicht, und auf der Begründungsseite klaffte eher ein großes Loch: Schopenhauer betrieb nichts anderes als – so musste Nietzsche die Sache sehen – die Bereitstellung von erschlichener Autorität, die er sich in einem angeblich bestehenden Reich metaphysischer Gewissheiten über praktisch-philosophisch akzeptable Organisationsformen des Daseins besorgt hatte. Gravierender aber wohl noch als dies war der Umstand, dass Schopenhauer damit sein Interesse an einer »Christlichen Philosophie« (SW V: 280) beförderte, in deren Begründung er noch der von Kant übernommenen Setzung folgte, dass die Metaphysik die »Stütze der Ethik« (SW III: 314) abgeben müsse, belehrt allerdings um zwei Einsichten: nämlich die erste, auf die praktische Philosophie bezogene, wonach Kants kategorischer Imperativ nur als »erkünsteltes Substitut der theologischen Moral« (SW III: 525) gelten könne; und die zweite, der Theologie zugedachte, wonach »in allen Religionen das Metaphysische falsch«, aber immerhin »das Moralische« (SW V: 303) wahr sei. Diese Bauanleitung für eine zukünftige ›Christliche Philosophie‹ oder, in Nietzsches Worten, »verkappte Theologie« (IX: 177) und die ihr innewohnende Absicht der philosophischen Rehabilitierung christlicher Nächstenliebe wäre Nietzsche, und zwar selbst in seiner frühen Phase, nie in den Sinn gekommen. Deswegen auch suchte er seinen Zugang zum Moralproblem und speziell zur Mitleidsmoral im Wesentlichen mit nichtmetaphysischen Denkmitteln und in nichtmetaphysischer Absicht: indem er die Motive der Konstrukteure von Mitleidsmoralen und die Problematik altruistischen Hilfehandelns ins Zentrum einer vornehmlich psychologischen Ideologiekritik rückte, die ihrerseits frei war von jedem Bemühen, eine Ersatz-Metaphysik zu konstruieren. Und deswegen auch konnte 122 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsches psychologische Dekonstruktion der Metaphysik des Werdens

Nietzsche lakonisch urteilen: »Schopenhauer’s Theorie ist unpsychologisch« (IX: 31), ergänzt um den erläuternden Zusatz: »Um über das Mitleid so zu phantasiren, wie Schopenhauer, muß man es an sich nicht aus Erfahrung kennen.« (IX: 55) Allerdings mochte sich Nietzsche bei seinerseits wohlwollender Schopenhauer-Exegese durchaus als Repräsentant der Schopenhauer’schen Auslegung der Philosophie als »Weltweisheit« sehen, zumal Schopenhauer die »wahre Philosophie« nicht aus abstrakten Begriffen »herausspinnen«, sondern auf »Beobachtung und Erfahrung, innere wie äußere« (SW V: 15), gründen wollte. Rechnet man dem noch Schopenhauers mitunter äußerst scharfe Christentumskritik hinzu, ganz zu schweigen von seinem aus einem antitheologischen Affekt entstandenen grundbegrifflichen Zusatz, alle Philosophie habe ihren Wert und ihre Würde darin, »daß sie alle nicht zu begründenden Annahmen verschmäht und in ihre Data nur Das aufnimmt, was sich in der anschaulich gegebenen Außenwelt, in den unsern Intellekt konstituierenden Formen derselben und in dem Allen gemeinsamen Bewußtseyn des eigenen Selbst sicher nachweisen läßt« (SW II: 711), mochte Nietzsche durchaus Anlass haben, sich geraume Zeit als Schopenhauerianer zu titulieren. Dies galt mit Blick auf das Problem der Ethik umso mehr, als Schopenhauer neben seinen metaphysischen Grundlegungsversuchen nichtegoistischen Handelns durchaus auch, etwa in den analytisch und nicht synthetisch verfahrenden Passagen seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral, der seine Kant-Kritik resümierenden Einsicht Geltung zu verleihen suchte, dass »zur Auffindung des Fundaments der Ethik kein anderer Weg [bleibt], als der empirische.« (SW III: 551) Namentlich der in diesem Zusammenhang offerierte Befund, »daß die legalen und lobenswerthen Handlungen der Menschen« oft »auf Motiven beruhen, deren Wirksamkeit zuletzt auf den Egoismus des Handelnden zurückzuführen ist« (SW III: 466), musste Nietzsche versöhnen und war ihm möglicherweise sogar Motiv für sein eigenes Projekt. Man wird also zumindest sagen dürfen, es sei ein arger Stachel für Nietzsche gewesen, dass sein frühes Jugendidol der Mitleidsmoral gleichwohl höchste metaphysische Weihen verliehen hatte. Deutlich tritt diese freilich ins Generelle weisende nichtmetaphysische Grundorientierung Nietzsches im Eröffnungsaphorismus von Menschliches, Allzumenschliches I hervor, mit der Pointe, dass auf dem Gebiet von Kultur und Gesellschaft »die herrlichsten Farben

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aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind« (II: 24), mit er Jahre später nachgetragenen Pointe: »Fast Alles, was wir ›höhere Cultur‹ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit.« (V: 166)

Dieses Argument steht, wie gleich noch zu zeigen sein wird, dem kulturpädagogischen Habitus diametral entgegen, bezeugt aber ein weiteres Mal Nietzsches Nähe zu Freud, insbesondere zu dessen Wort, die Kultur sei »auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut.« (GW VII: 149) Allerdings hat Nietzsche den Begriff der Sublimierung nicht in vornehmlich kulturkritischer oder menschenkundlicher, sondern vor allem in philosophiekritischer Absicht genutzt, vor allem in Gestalt einer ›Psychologie der Philosophen‹. (vgl. Kap. VIII) Der Name Schopenhauer wird in diesem Zusammenhang zwar elegant umschifft. Dafür aber lässt die 1886 vorgelegte Vorrede zur Neuausgabe dieser Schrift keinen Zweifel mehr, um wen es insgeheim auch schon damals ging. Der Leser der 1878er Ausgabe, so lesen wir hier nämlich, hätte einigen Grund gehabt, Nietzsche der Falschmünzerei zu zeihen, weil er damals »wissentlich-willentlich die Augen vor Schopenhauer’s blindem Willen zur Moral zugemacht hätte«, und dies zu einer Zeit, zu der er »über Moral schon hellsichtig genug war.« (II: 14) Dies ist deutlich genug – indes nicht ganz so deutlich wie der Nachlass: 1878 verteidigt der sich hier erstmals auf Voltaire berufende Nietzsche Schopenhauer noch als ›Voltairianer‹, der »mit den Metaphysikern nichts zu thun [hat].« (VIII: 495) 1885 hingegen spielt das Etikett vom ›Voltairianer‹ zwar immer noch eine Rolle, aber ergänzt um ein Klagelied über Schopenhauers – jetzt als Jugendsünde gelesene – »Metaphysik des Willens.« (XI: 459 f.). Damit erst war Nietzsches 1876/77 einsetzende Schopenhauer-Überwindung abgeschlossen: Schopenhauer wurde nun vollends jenen Philosophen zurechenbar, die für das Höhere einen ›Wunder-Ursprung‹ annahmen. Acht Jahre später (1886) nahm Nietzsche dieses Thema wieder auf. Dies geschieht – wenig überraschend übrigens anhand des analogen Aufbauprinzips (vgl. NLes: 292 f.) – erneut an pointierter Stelle, nämlich in dem Eröffnungsabschnitt von Jenseits von Gut und Böse. Wiederum übt Nietzsche hier Kritik an den »Metaphysikern aller Zeiten«, die erfolglos einen »eigenen Ursprung« für »die Dinge höchsten Werthes« »im Schoosse des Sein’s, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im ›Ding an sich‹« (V: 16) suchten bzw. 124 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsches psychologische Dekonstruktion der Metaphysik des Werdens

gesucht hätten. Und auch diesmal hält Nietzsche, ähnlich wie schon 1878, derlei Metaphysik seine These entgegen, dass jene »Dinge höchsten Werthes« in jedem Fall aus dem je Gegebenen, also »aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde« (V: 16) ableitbar sein müssten. Wie dies geschehen könne, verdeutlicht eine im Januar 1888 vorgenommene Umarbeitung des 1878er Passus. Nun nämlich muss das Wort von der ›historischen Philosophie‹ Ausdrücken weichen wie »umgekehrte Philosophie«, »eigentliche Philosophie des Werdens« oder auch »antimetaphysische Philosophie« (XIV: 119). Zwecks Erläuterung heißt es weiter: »Um mit solchen […] viereckigen Gegenüberstellungen wie ›egoistisch‹ und ›unegoistisch‹, Begierde und Geistigkeit, ›lebendig‹ und ›todt‹, ›Wahrheit‹ und ›Irrthum‹, ein für alle Mal fertig zu werden, bedarf es einer mikroskopischen Psychologie ebensosehr als einer Geübtheit in aller Art historischer Perspektiven-Optik.« (XIV: 119 f.)

Auch wenn viele postmetaphysische oder postmoderne Denker, wie Volker Gerhardt kritisierte, den hier angedeuteten Perspektivismus Nietzsches überschätzen mögen, mit der Pointe, dass ihre These, Nietzsche habe »die Metaphysik endgültig überwunden«, eher »Ausdruck einer Erwartung« sei denn eine »Tatsache« (Gerhardt 1989: 264): Es bleibt eine Tatsache, dass die tragende Säule der vom späten Nietzsche vertretenen ›antimetaphysischen Philosophie‹ jene ›mikroskopische Psychologie‹ ist. Dies gilt in dem Sinne, dass sie auf eine Kritik und Freisetzung des Neuen oder Anderen hinzuzielen hat, das in der gegebenen Welt aus ›Wahn und Begierde‹ nur in verschleierter Form enthalten ist. Dies auch war der Hintergrund, der Michel Foucault zum Zweck der Begründung seiner eigenen Genealogie Interesse nehmen ließ an Nietzsches Dekonstruktion der ›WunderUrsprungs‹-Metaphysik. (vgl. Foucault 1974). Selbstredend war es dabei vor allem Nietzsche, der eines solchen psychologischen Erklärungssystems bedürftig war, wenn er denn dem Vorwurf entfliehen wollte, er selbst würde beständig ›Geistigkeit‹ aus ›Begierde‹ oder ›Wahrheit‹ aus ›Irrtümern‹ oder gar den Übermenschen aus dem Menschen qua metaphysischer Setzung filtrieren. Namentlich der letztgenannte Vorgang ist also, wenn man Nietzsches psychologische Absicht richtig versteht, als Akt der Sublimierung des im vermeintlich ›guten Menschen‹ gründenden Uneigentlichen zu lesen. Mit dieser sich in dieser Pointe erschöpfenden 125 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VI · Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

Demontage der Voraussetzungen, auf denen Metaphysik wie Aufklärungsdenken gründeten, mit dieser Demontage auch des Versuchs der Rettung ›Gottes im Menschen‹, stand in Nietzsches Wahrnehmung mithin nur noch ein Weg zum Wiedergewinn von Verantwortlichkeit als Handlungsgrund der insoweit zweifach aufgeklärten Menschen zur Verfügung: der psychologisch wie pädagogisch gleichermaßen ambitionierte Durchgang durch den ›Dämon‹, durch das ›Böse‹, durch das also, was man bisher für irrational gehalten hatte. So erst eröffnete sich Nietzsche den Ausblick auf ein Menschenbild, mittels dessen, wie er hoffte, die Gottähnlichkeit des Menschen neu gedacht werden konnte: nicht mehr im Sinne einer bloßen Setzung des Menschen als Sinngeber seiner Handlungen, sondern im Sinne eines Rekurses auf den Menschen als eines tatsächlich freigewordenen Gottes, der auch durch das Andere seiner Vernunft hindurchgegangen ist und der nicht mehr der Selbstillusion unterliegt, er könne auch jenseits davon sein Wesen vollenden. Entsprechend kann man wohl die programmatische Formel Zarathustras: »Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe« (IV: 357) im Blick auf den Hauptertrag von Nietzsches psychologischen Beiträge in puncto Metaphysikkritik dahingehend variieren: »Der Mensch als ›freier Gott‹ starb: nun erst kann, jenseits von idealistischen Setzungen, gewollt werden, dass der Übermensch lebe.«

4. Über Wirkungserwartung und Realismus am Beispiel des Nietzschebildes der deutschsprachigen Pädagogik und ihres neueren Metaphysikverbotes Wer nun indes meint, spätestens diese Sicht der Vokabel ›Übermensch‹ habe das Interesse der traditionell für die bildungsphilosophische Frage durchaus offenen deutschsprachigen Pädagogik an Nietzsche stimuliert, sieht sich bitter enttäuscht: Nie zuvor war Nietzsche so out wie aktuell. Als Beispiel diene hier die brandneue Einführung in Bildungstheorien aus der Feder eines Oelkers-Schülers: »Nietzsche konnte […] nicht berücksichtigt werden« (RiegerLadich 2019: 180), heißt es äußerst lakonisch gegen Ende dieses Büchleins im selbstsicheren Rededuktus eines Insiders, der weiß, dass er sich des Einvernehmens seines claims gewiss sein darf für derlei lässiges posing weit ab von Begründungszwängen aller Art. Als Jahr der Wende in Sachen von (Nach-)Lässigkeiten dieser Art kommt das Jahr 126 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Über Wirkungserwartung und Realismus

2013 in Betracht: Damals erschien in zwei Bänden der von HeinzElmar Tenorth herausgegebene Reader Klassiker der Pädagogik, ›Nachfolger‹ von Hans Scheuerls gleichnamigen Projekt aus dem Jahr 1979. »Man muss nicht anders machen wollen […], was gut begründet war« (Tenorth 2003: 7), lautete des Herausgebers Credo damals im Rückblick auf Scheuerl, und in der Tat: Auch bei ihm, Tenorth, wird man in der Regel zuverlässig und kompetent unterrichtet über Rousseau, Pestalozzi, Humboldt und Schleiermacher sowie Herbart & Co., und zwar zumeist von neuen Autoren, deren Namen indes die Frage aufwerfen, ob das Fach zwischen 1979 und 2003 wirklich einen Qualitätssprung aufzuweisen hat, das seinem Wachstum im Personalcorpus korrespondiert. Hier indes sei nur eine einzige Frage gestellt: Warum sind 2003 auf Initiative zweier opinion leader des Faches im Vergleich zur Konstellation von 1979 Nietzsche & Freud dem Kanon entzogen worden, wo doch Platz war für Robert Owen, Adolf Reichwein, Helene Lange, Paulo Freire oder gar Charles Michel de l’Epée & Samuel Heinicke (um auch der potentiellen Kandidaten für die Millionenfrage Günther Jauchs zu gedenken)? Weil Nietzsche und Freud, so lautete damals die Antwort von einem der Gemeinten, Jürgen Oelkers, »radikalen Zerfallsvisionen« Vorschub geleistet hätten, Nietzsche etwa »mit seiner Vision des von aller moralischen Last befreiten dionysischen Menschen«, Freud hingegen mit seiner These vom »Triebverzicht als Basis der modernen Kulturentwicklung, deren Preis Psychoneurosen sind.« (Oelkers 2003: 12) In Übersetzung geredet und in Termini der Zwischenüberschrift: Es war offenbar an der Zeit, die ›Wirkungserwartung‹ Einzelner im Fach etwas abzukühlen und den ›Realismus‹, sprichwörtlich zum Ausdruck gebracht durch die stärker für empirische Forschung plädierende ›realistische Wendung‹ Heinrich Roths aus den 1960er Jahren, wieder etwas nach vorne zu bringen, im Vergleich etwa zu reformpädagogisch und/oder Nietzschemotiven unterlegten ›Visionen‹. Welche Visionen genau gemeint waren und, speziell auf den Fall Nietzsche hin geredet: was an ihnen besonders anstoßerregend war, lässt sich vorerst nur Oelkers’ Redewendung des ›von aller moralischen Last befreiten dionysischen Menschen‹ entlehnen: Sie verweist, in negativer Wertung, auf Zarathustras Rede vom Übermenschen und bringt als Ablehnungsgrund das Moralfreie dieser Rede vor, deutlicher: den Verzicht auf Moral als regulatives Prinzip der Erziehung hin zum Guten – ein Vorhalt, der erkennbar rekurriert 127 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VI · Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

auf einen fünf Jahre älteren Aufsatz von Oelkers, in welchem er erstmals erhebliche Vorbehalte bekundete gegenüber Nietzsche, der »radikal und folgenreich mit der christlichen Schöpfung [bricht], ohne zu einer Konfession zurückzukehren« (Oelkers 1998a: 224), schlimmer in Oelkers’ Lesart und auch dies erstaunlicherweise ernst gemeint: »Kein ›Klassiker der Pädagogik‹ sagt etwas Ähnliches, weder in der systematischen Anthropologe noch in den Frechheiten des Fragments.« (ebd.: 222) Deutlicher: Nietzsche sei »der notorische Dissident, der die Erziehung stört, nämlich die entscheidenden Prämissen umdreht und auf den Kopf stellt.« (ebd.: 213) Derlei pejorative Urteile 6 mussten ausreichen, der editorischen Entscheidung HeinzElmar Tenorths von 2003 gegen Nietzsche & Freud die Bahn zu bereiten. Fraglich indes, ob sie ausreichen, diese Entscheidung mit hinreichender Autorität auch des Arguments auszustatten. Dabei liegt es allererst nahe, den pädagogischen Diskurs um Nietzsche vor Oelkers Intervention von 1998 etwas genauer in Betracht zu ziehen, gleichsam als Ausschnittsvergrößerung aus einer noch nachzuerzählenden Teilgeschichte. (vgl. Kap. XIV/5) Begonnen sei mit Wolfgang Brezinka. Dem ›frühen‹ Nietzsche entlehnte er schon 1957 die entscheidenden Stichworte angesichts der von ihm damals als problematisch empfundenen Erziehungssituation infolge der »Unrast des modernen Lebens«, des »Chaos der Meinungen, Geschmacksrichtungen und Wertmaßstäbe« (Brezinka 1957: 96) sowie des Verlustes von Verhaltensnormen mit ›überzeitlicher Geltung‹. Der Mensch, so Brezinka in diesem Zusammenhang, befände sich in einer ähnlichen Situation, wie sie Nietzsche 1874 in seiner Historienschrift dargestellt habe, in ihm verfestige sich die »lähmende Vorstellung«: »[I]n anderen Zeiten und an anderen Orten denkt und lebt man immer wieder anders; es kommt also nicht darauf an, wie ich bin.« (ebd.: 98) Von dieser Zeitdiagnose ausgehend überrascht es kaum, dass Brezinka noch in den 1990er Jahren auch die ›Therapievorschläge‹ des ›frühen‹ Nietzsche übernahm, nämlich die in der Historienschrift unter dem Stichwort ›überhistorisch‹ angepriesenen Sinnstiftungsmächte Kunst und Religion, die, so Nietzsche, in Ge-

Zumal nur dem Experten auffiel, dass Oelkers’ Behauptung, der Nietzsche, den er zugrunde lege, sei »der der ›Sämtlichen Werke‹ von Colli und Montinari (KSA)« (Oelkers 1998a: 213), dem Umstand auffällig kontrastiert, dass die meisten seiner Zitate sich auch in Förster-Nietzsches Edition Der Wille zur Macht (1906) finden lassen …

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Über Wirkungserwartung und Realismus

genstellung zur wissenschaftlichen Weltdurchdringung den »Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt.« (I: 330) Für Brezinka (1992: 57 f.) waren damit durchaus aktualisierbare Perspektiven für die Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft benannt. Freilich: Was ihn ebenso wenig interessierte wie Karl Dienelt (1996: 353), der sich in Sachen Nietzsche gänzlich dem Brezinka-Referat anvertraute, ist die Problematik des ›frühen‹ Nietzsche. (vgl. Kap. II) Sie macht deutlich, dass Nietzsche zumindest nach seinem Bruch mit Wagner mit den beiden genannten Sinnstiftungsmächten so gut wie nichts mehr im Sinn hatte – wie Oelkers nicht entgangen war, weswegen ihm nur sein eben angeführtes Negativurteil über Nietzsche blieb, das im Wesentlichen eines über den ›späten‹ Nietzsche ist. Und tatsächlich: Was unmittelbar vor dem Stichtag 1998 in der Pädagogik an Nietzsche bezüglichen Einlassungen florierte, war durchaus dazu angetan, einem dermaßen im pädagogischen Denken geschulten Geist wie Oelkers das Fürchten zu lehren. »Unübersehbar«, so etwa Heiner Ullrich in einer skeptischen Bilanz, »gedeihen heute Nietzsches Gegengifte gegen die Wissenschaft: das ›Unhistorische‹ manifestiert sich im Praktizismus der Anti- und Alternativpädagogen, das ›Überhistorische‹ bezeugt sich in der Rehabilitation der erklärenden und verklärenden archaischen Kräfte des Mythos und seiner aktuellen Gestaltung sowie in der damit einhergehenden Neubewertung der Vormoderne« sowie, nicht zu vergessen: rehabilitiert wird »die Erfahrung der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der Kunst und im Mythos.« (Ullrich 1989: 151 f.) Besonders problematisch: Konrad Liessmann, der Nietzsche als einen Denker wahrnahm, der die »Struktur des postmodernen Denkens« (Liessmann 1994: 78) vorweggenommen habe und insofern ›an der Zeit‹ sei. Liessmann meinte gar von einem »Triumph Nietzsches über den Geist der Aufklärung« (Liessmann 1992: 413) sprechen zu können und hielt dafür, heutiges Ziel habe »die ›Inszenierung‹ von Kunst jenseits des Lebens« zu sein, mehr als dies: »[W]eil nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen, muß die Welt als lebendige verschwinden, sich auflösen in reinen Schein.« (ebd.: 415) Ernst gemeint, und dies auch noch so unbeanstandet abgedruckt in der an sich doch sehr renommierten Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik? Auf beide Fragen ein herzhaftes: Ja! – und ihm nachfolgend der zaghafte Hinweis, dass mir hier und in einer im gleichen Gestus gehaltenen monographischen Darstellung (vgl. Liessmann 2000) nicht hinreichend be129 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VI · Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

rücksichtigt scheint, dass, wie im Vorhergehenden ausführlich erläutert, Nietzsche die für ihn unter dem Einfluss Wagners wie Schopenhauers fast selbstverständliche Zentralstellung der Ästhetik im Spätwerk durch eine Art ›ethische Metaphysik‹ ersetzt hat, was im Übrigen auch wenig erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass er jenseits des Zarathustra gehalten war, auf eine Ordnung der Dinge ohne Gott zu reflektieren. (vgl. Niemeyer 1998: 324 ff.). Nicht absehen kann man in diesem Zusammenhang von Michael Wimmer, dem Nietzsches Satz, alle Handlungen seien wesentlich unbekannt und niemals das, als was sie uns erscheinen, zur Infragestellung der Illusion eines handlungsmächtigen intentionalen Subjekts nutzte (vgl. Wimmer 1996: 444). Was Wimmer nicht sah, sind die von Nietzsche erbrachten theoretischen Vorleistungen zur Neufundierung dieser Illusion, wie sie anhand des Übermenschenkonstrukts sichtbar gemacht werden können (vgl. Kap. XI), was auch für Alfred Schäfer interessant sein könnte, insofern er, ähnlich wie Wimmer argumentierend (vgl. Schäfer 2000: 64 ff.) und unter Berufung auf Christoph Türcke (1989), der Meinung Ausdruck verlieh, Nietzsche habe dem infolge von Gottes Tod auf sich selbst zurückgewiesenen Subjekt kein »für allgemein gehaltenes Deutungsmuster« angeboten, sondern allenfalls – unter dem Stichwort ›Perspektivismus‹ – »die Notwendigkeit erkenntnismäßiger wie moralischer Selbstbegründung im Wissen um deren nur interpretativen Charakter« (Schäfer 1996: 163) anerkannt. Freilich: Schäfer blieb um die Fraglichkeit der von ihm bemühten Kronzeugen unbesorgt (vgl. Niemeyer 1998: 384, 407 f.) und übersah zusätzlich, dass seine Lesart problemlos auch gegen ihn selbst gewendet werden kann derart, dass man die Perspektive einnimmt, den bloß interpretativen Charakter eben dieser Nietzschedeutung zu betonen. Deutlich ist mithin, was am Ende jenes ›Perspektivismus‹ droht: der Tod nicht nur des Subjekts, sondern auch der Tod der Hermeneutik zugunsten unersättlich sich vermehrender Paradigmen, Totschlagsargumente und Immunisierungsstrategien, die man dann, je nach Belieben, mit dem Stichwort ›Dekonstruktivismus‹ adeln mag. Gleichwohl, möglicherweise aber auch deswegen, trafen derlei Nietzschedeutungen im Umfeld einer sich neu formierenden intellektuellen Avantgarde oder Trend-Elite auf Zustimmung. Fast überall in postmodernen Texten konnte man um 1998 – dem Jahr, in welchem Oelkers sein Nietzsche-Verdikt absetzte – Sätze lesen wie: »Das Leben ist nicht in erster Linie Erkenntnis, sondern ein Rausch« oder: »Das Ich kann seine Sicherheit nicht aus seiner Vernunft schöpfen« – 130 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Sätze, die sich, wie Willem van Reijen (1988: 395) suggerierte, via Nietzsche nahelegen. Ähnliches gilt für das weitverbreitete Argument, Nietzsche habe den klassischen Wahrheitsbegriff zerstört, mit der Folge, dass es für ihn »nur noch Interpretationen und keine Tatsachen« (Radt 1998: 54 f.) mehr gab – ganz im Einvernehmen übrigens mit seinem uns noch gesondert interessierenden (vgl. Kap. V) Wahlspruch ›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹, dessen zweiten Halbsatz offenbar Arthur Danto animierte darüber zu fabulieren, »daß die Welt von uns erschaffen statt entdeckt werden soll, und daß wir der Mittelpunkt und die Gesetzgebung des Ganzen sind.« (Danto 1998: 236) Dies zu hören freut den Leser – zumal des Feuilleton –, und gleiches gilt für Dantos »Aufruf zur Kreativität, zu neuen Gebilden und unverbrauchten Idealen, in deren Glanz wir uns nach unserem eigenen Bilde neu erschaffen könnten«, begleitet von dem Imperativ: »Laßt uns unseren eigenen Weg gehen.« »Dies«, so die unmittelbare Fortführung dieses Satzes, »sind Nietzsches wesentliche Botschaften.« (ebd.) Freilich: Angekommen ist diese Botschaft – wenn es denn überhaupt die wirklich wesentliche Nietzsches war, woran berechtigte Zweifel bestehen – in einer Art und Weise, die zum Fortschritt der Erkenntnis wenig beiträgt. Spätestens hier könnte man fast zynisch oder jedenfalls doch ironisch reagieren, also postmodern, wie Richard Rorty (1992: 162) unter Berufung auf Nietzsche meinte übersetzen zu dürfen (vgl. Niemeyer 1998: 406 ff.), will sagen, mit Nietzsche: »Kämpfer und Schlangentödter« (I: 331) gibt es offenbar genug unter den Nietzschedeutern von heute, nur kaum noch Philologen. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verlockend, Montaignes einschlägigen Aphorismus (»Alles wimmelt von Kommentaren, an Autoren aber herrscht grosse Not«; zit. n. Sommer 2000: 5) wie folgt zu aktualisieren: Jeder will neuerdings Autor sein, keiner hingegen mehr Kommentator. Nietzsches einleitend erwähnte allererste Forderung – Texte genau zu lesen – gilt inzwischen vielen als kontraproduktiv im Blick auf das eigene Streben, »Erstling und Vorbild aller kommenden Culturvölker« (I: 333) zu werden. Dieses Streben mag verständlich sein, aber es führt – zumal die Nietzscheforschung – nicht weiter. Soweit also, in fraglos etwas zugespitzter Zusammenfassung, die durchaus nicht metaphysikfreie pädagogische Diskussion um Nietzsche unmittelbar vor Oelkers’ Verdikt von 1998. Es findet sich übrigens in einem Reader (Niemeyer et al. 1998) 7, mit dem die Erfor7

Zugleich Tagungsband der der pädagogischen Nietzscherezeption gewidmeten, von

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schung der pädagogische Nietzscherezeption eigentlich angeschoben werden sollte, was zunächst auch durchaus Früchte trug 8, wie zuletzt auch das hier vorliegende Buch in manchen seiner Teile hoffentlich darzutun vermag. Interessant allerdings, und nur deswegen sei hierauf verwiesen: Oelkers’ Ausgangspunkt von 1998 hat sich durch all die Forschung der letzten zwanzig Jahren nicht verändert, wie sein erwähntes 2003er Urteil über Nietzsche in der Einführung zu Tenorths Klassikerband zeigt. In diese Richtung weist auch eine Vorlesungsreihe an der PH Ludwigsburg 2011, auf welcher Oelkers, deutlich geschockt vom Skandal um sexuellen Missbrauch selbst an einem reformpädagogischen Musterinternat wie der Odenwaldskandal, vehement eintrat für »eine professionelle Lehrerschaft, die ihr Handwerk versteht und sich nicht einfach von ›Nähe‹ leiten lässt« – und schon gar nicht von irgendeiner »pädagogischen Mission auf den Spuren von Plato oder Rousseau.« (Oelkers 2013: 64) Die letztgenannte Bemerkung zielte auf die in der Denkfigur des ›pädagogischen Eros‹ zu sichernden dunklen Seiten zweier Odenwaldschulheroen, klang aber zugleich nach dem Ende von Utopie schlechthin und jedenfalls nicht wirklich so, als könne dieser alte Grieche (Platon) und dieser nicht ganz so alte Schweizer (Rousseau) angehenden Lehrern noch irgendetwas Relevantes beibringen. Dass derlei Niedergang ambitionierten pädagogischen Denkens nur für die Spitze eines Eisberges steht, wurde wenig später beim Oelkers-Adepten Patrick Bühler deutlich. Ihm nämlich waren selbst die von Nohl wegen des in ihnen sich bekundenden ›pädagogischen Bezugs‹ hochgelobten Hauslehrerberichte (1797–1807) Johann Friedrich Herbarts unter diesem Aspekt verdächtig, ganz zu schweigen vom Stanser Brief (1799) Johann Heinrich Pestalozzis. (vgl. Bühler 2014) Dies weiterdenkend, könnte es eines Tages Usus werden, (sozial-) pädagogische Klassiker nur noch in ›Giftschränken‹ der pädagogischer Bibliotheken zu verwahren, zur Einsichtnahme für Studierende mit besonderer sittlicher Reife. Will sagen: So, analog zum Image Heiner Drerup und dem Verfasser in Dresden ausgerichteten Herbsttagung 1996 der »Kommission Wisssenschaftsforschung« der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft«, erschienen als Bd. 19 in der unter Drerups Reihenherausgeberschaft stehenden Schriftenreihe »Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft« dieser Kommission. 8 Zu denken ist insbesondere an das DFG-Projekt des Verfassers »Die pädagogische Nietzscherezeption in Deutschland zwischen 1890 und 1998« (2001–2005) sowie die daraus hervorgegangenen zahlreichen Publikationen.

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Nietzsches psychologische Dekonstruktion metaphysischer Bildungsphilosophien

Nietzsches als ›Jugendverführer‹ um 1900, redet der Mainstream der Zunft heutzutage über einen Klassiker, dem Ellen Key vor einhundert Jahren noch einen grundlegenden Veränderungsimpuls entnahm. (vgl. Kap. XIV/1) Dass darf man dann wohl Niedergang nennen – Niedergang des (kritischen) Denkens innerhalb der Allgemeinen Pädagogik selbstredend, dem auch zuzurechnen ist, dass der seit 1998 sukzessive erweiterte Forschungsstand zu Nietzsche en detail überhaupt nicht mehr interessiert, auch nicht die kritische, mit Argumentationsformen Nietzsches erarbeitete Kritik des Verfassers (vgl. Niemeyer 2016a) an einer von Oelkers zu verantwortenden Edition. Ersatzweise sieht sich der Kritiker seitens des von der Kritik gar nicht Betroffenen, aber mit dem Kritisierten Sympathisierenden unversehens mit dem Vorhalt konfrontiert, dass derjenige »das Ende der Erziehungswissenschaft bzw. der Pädagogik als Wissenschaft« zu verantworten habe, der wie der Verfasser das Fach zum »Tummelplatz beliebiger Einfälle« mache, wie etwa jener Nietzsches. Dem folgt als Ratschlag wohlgemerkt: nach über zwanzig Jahren Nietzscheforschung meinerseits: »Lassen wir ihn [Nietzsche; d. Verf.] den Philosophen, arbeiten wir in unserem eigenen Revier, mit unseren eigenen Begriffen.« (Tenorth 2016: 194)

Gegenfrage, sich nahelegend nach dem Bisherigen und problemlos auch zu nehmen als Inhaltsangabe des nächsten Kapitels: Ist womöglich der renommierte Bildungshistoriker Tenorth im falschen ›Revier‹, Nietzsche aber und mit ihm der Verfasser im richtigen?

5. Nietzsches psychologische Dekonstruktion metaphysischer Bildungsphilosophien respektive eines Bildungshistorikers Die Antwort auf diese Frage, ausführlicher entwickelt in meinem parallel zu dieser Studie erarbeiteten Buch Sozialpädagogik als Sexualpädagogik. Beiträge zu einer notwendigen Neuorientierung des Faches als Lehrbuch (2019), steht unter der Voraussetzung, dass die Frage nach dem ›Revier‹ natürlich nicht unzulässig ist. Es ist also nicht des Teufels, über Zugehörigkeit an sich nachzudenken, auch über ›Zugehörigkeitsintentionen‹ an sich, also das claim making, dasjenige also, was wir früher einmal – heute übrigens oft bespöttelt – »kognitive Identität« des Faches nannten und was ganz früher ein 133 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Halbvergessener aus Oldenburg (gemeint ist natürlich Johann Friedrich Herbart, der hinter Tenorths Argument steckt) mit dem Ausdruck »einheimische Begriffe« belegte, derer ein jedes Fach bedürfe, wenn es nicht zur »eroberten Provinz« eines Dritten werden wolle. (vgl. Niemeyer 2003: 13 ff.) Freilich: So ähnlich sah die Sache auch noch Eduard Sprangers Kollege Herman Nohl – und legte eben damit die andere, die dunkle Seite des claim making frei: den Dogmatismus, der sich hinter jedem Versuch der Sicherung kognitiver Identität, landläufig Schulenbildung benannt, verbirgt. Die Einzelheiten dazu kann ich hier nicht ausbreiten (vgl. Niemeyer 32010: 142 ff.), wohl aber das Ergebnis in der Hauptsachen: Der Frage nach dem ›Revier‹ ist nicht nur ein exkludierendes Moment eingeschrieben, sondern auch ein inkludierendes im Blick auf ihre disziplinierende Wirkung, etwa qua ›kognitiver Identität‹ (deren Fehlen selbstredend diskurserschwerend wäre). Gleichwohl ist diese Frage nicht wirklich hilfreich, begünstigt Schulenbildung und damit den dogmatischen Schlummer geistig enteigneter follower, lenkt von der Frage nach der Qualität der vorgetragenen Argumente ab, schwächt also einen Diskurs ad rem (= zur Sache) zugunsten eines solchen ad hominem (= zur Person). Soweit zu diesem Thema in puncto Sozialpädagogik als ›gebranntes Kind‹, ersatzweise, ad hominem: eines Sozialpädagogen und Nietzscheforschers als selbiges. (vgl. Niemeyer 2018b) Nun noch zur eigentlichen Hauptperson, Nietzsche, zumal gilt: Auch Nietzsche lässt sich problemlos als ›gebranntes Kind‹ in der von Heinz-Elmar Tenorth so selbstgewiss aufgeworfenen Angelegenheit aufrufen, ist doch in der Nietzscheszene keineswegs unumstritten, ob er als Philosoph gelten darf, allein schon seines Hauptwerks Also sprach Zarathustra wegen – ein Werk, das ›nur‹ Dichtung zu sein scheint (vgl. Niemeyer 2011d) und in dieser Wertung neue Aufmerksamkeit auf den Umstand lenkt, dass Nietzsche, der studierte Altphilologe, ja ›nur‹, was die Philosophie angeht, ein Autodidakt war. Gewiss, viereinhalb Jahre vor Beginn seiner Arbeit am Zarathustra, im Hochgefühl, das dem Erscheinen seiner Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches folgte, hatte Nietzsche noch, sich zugleich zu seiner neuen, der anti-metaphysischen Position bekennend, geschrieben: »[J]etzt wage ich es, der Weisheit selber nachzugehen und selber Philosoph zu s e i n ; früher verehrte ich die Philosophen. Manches Schwärmerische und Beglückende schwand: aber viel Besseres habe ich eingetauscht. Mit

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Nietzsches psychologische Dekonstruktion metaphysischer Bildungsphilosophien

der metaphysischen Verdrehung ging es mir zuletzt so, daß ich einen Druck um den Hals fühlte, als ob ich ersticken müsste.« (5: 335)

Aber welcher Art war eigentlich diese neue Philosophie jenseits der ›antimetaphysischen Verdrehung‹ ? War es überhaupt noch Philosophie? Besser vielleicht: Blieb es Philosophie? Denn man muss ja bedenken, welcher Pointe die anti-metaphysische, auf die Entfaltung moderner Einzelwissenschaften hinweisende Forschungsprogrammatik Nietzsches ab Menschliches, Allzumenschliches zutrieb – auf die, zum Negativen hin, Vokabel »Ägyptizismus« nämlich, die in Nietzsches letztem, Anfang Januar 1889 erschienenen Werk Götzen-Dämmerung ihre Erläuterung erfährt durch den Satz: »Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien.« (VI: 74)

Wohlgemerkt: Hierüber kann man als Philosoph, entsprechenden Humor vorausgesetzt, vielleicht noch lachen – nicht aber, so jedenfalls nicht der renommierte Nietzscheforscher Andreas Urs Sommer, über das zeitgleich entstandene Gesetz wider das Christenthum, in welchem Nietzsche den Philosophen als »Verbrecher der Verbrecher« (VI: 254) geißelt, damit, so Sommer, seinen »Austritt aus dem Kreis der Philosophen« (Sommer 2017: 85) besiegelnd. Um in diesem Bild zu bleiben: Als ›Eintritt‹ in diesen ›Austritt‹ darf dann wohl der zwei Jahre zuvor niedergelegte Satz aus der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft vom Herbst 1886 gelten: »Jede Philosophie, welche den Frieden höher stellt als den Krieg, jede Ethik mit einer negativen Fassung des Begriffs Glück, jede Metaphysik und Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher Art, jedes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen nach einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspirirt hat.« (III: 348)

In der Linie des späteren Kontextes dieser Einlassung läge es nahe, die Eröffnung »Jede Philosophie, welche …« zu ersetzen durch: »Jedwede Philosophie …« – um zu enden mit: »… ist unmöglich, zumindest mir, Nietzsche, von vornherein verdächtig!« Heißt: Nietzsche hat offenbar seinerseits jenem ›Revier‹ Valet gesagt, dessen Autorität Tenorth aufruft. Und damit dies nicht als subjektivistische Verteidigungsrede diffamiert werden kann: Selbst ein weltweit anerkannter Nietzscheexperte wie Volker Gerhardt befand schon vor bald zwanzig Jahren: 135 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VI · Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

»Natürlich wird sich niemand weigern wollen, Friedrich Nietzsche als hoch begabten, im Überfluss der Gedanken schwelgenden Schriftsteller zu bewundern. Aber für den Philosophen kann hier nur das sic tacuisses gelten.« (Gerhardt 2000: 262)

In Übersetzung geredet: Hätte Nietzsche geschwiegen, wäre er als Philosoph vielleicht anerkannt worden. Entsprechend konsequent war in der Folge das (übrigens von Gerhardt neuerdings bedauerte) Schweigen über Nietzsche »auf deutschen Lehrstühlen« (Gerhardt 2014: 43), also in der Schulphilosophie, dem gewiss auch eine Festlegung wie jene Andreas Urs Sommers kaum Einhalt gebieten dürfte, wonach Nietzsche ein »Philosoph [ist], dem die Lust zu unbedingten Festschreibungen mehr und mehr abhandenkam« und »der einen ganzen Figurenzoo unterhielt, dessen Bewohner sich auf mannigfache Weise zu Gehör bringen«, ergänzt noch um die Beobachtung, Nietzsches Philosophie sei »keine Lehre, sondern ein Tun, eine Praxis der denkenden Weltumgestaltung.« (Sommer 2017: 2) Bei verwirrenden Vokabeln wie diesen selbst auf der Beletage wird man sich nicht wundern dürfen darüber, dass selbst jüngere Nietzscheforscher gönnerhaft meinen befinden zu dürfen, Nietzsche habe »bekanntermaßen kein theoretisches System« entworfen, könne »aber partiell als Ideen- und Stichwortgeber für den aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskurs genutzt werden.« (Schuhmann 2014: 87) Die Pointe: Nietzsche hat es offenbar bis auf den heutigen Tag nicht geschafft, Aufnahme zu finden in dem von Tenorth angesprochenen ›Revier‹. Dieser Zwischenbefund könnte dazu inspirieren, den Spieß allmählich umzudrehen. Als Ausgangspunkt geeignet: die im Vorhergehenden umrissene anti-metaphysische Wende Nietzsches ab Menschliches, Allzumenschliches. Dieser Wende zugehörend: die Neugewichtung von Leiblichkeit, wie sie uns im allerersten Aphorismus dieser Anti-Wagner-Schrift begegnet in Gestalt des Programmsatzes, wonach »die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind« (II: 24), Kultur also – in Übersetzung geredet – Produkt der Sublimierung von Natur sei, mit der griffigen Pointe: »Es giebt n u r leibliche Zustände: die geistigen sind Folgen und Symbolik.« (X: 358)

Ein Beispiel, gesetzt, Sex stünde für einen ›leiblichen Zustand‹, Setzung zwei: irritiere, als Vorstellung, die auf ›herrliche Farben‹, also auf Kulturschöpfung, abstellende Frau (wahlweise: Mann) am Schreibtisch: Auffällig ist, dass Nietzsches wohl allererstes ernst136 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsches psychologische Dekonstruktion metaphysischer Bildungsphilosophien

zunehmendes Räsonieren über Sex aus der Zeit der Erstellung von Menschliches, Allzumenschliches ihn rasch zu einer geradezu antiphilosophischen Pointe führt, wie besonders schön im Nachlass von Ende 1876 bis Sommer 1877 beobachtbar: »Wenn Menschen mit starken geistigen Bedürfnissen an die Verbindung mit Frauen denken, so überkommt sie das Gefühl als ob sie sich einem Netz näherten, welches sie immer mehr zusammenzieht«, heißt es da zunächst, ehe im nächsten Aufschrieb jene ›geistigen Bedürfnisse‹ etwas genauer in Augenschein genommen, als »metaphysische« ausgewiesen und allesamt als »erhabene Irrthümer« verworfen werden – mit einer überraschenden Pointe: »Wie es ohne alle diese erhabenen Irrthümer um die Menschen aussehen würde – ich glaube t h i e r i s c h .« (VIII: 410 f.)

›Tierisch‹ ist einerseits – der Ausgangspunkt war ja schließlich Sex – durchaus wortwörtlich gemeint und zu übersetzen mit ›triebgesteuert‹. Und die Kritik ist durchaus grundsätzlich gemeint und also – wir reden ja schließlich von Nietzsche in der Zeit der Erstellung von Menschliches, Allzumenschliches – als (forschungs-) programmatisches Statement zu lesen, das der Philosophenzunft aufträgt, anstelle ›erhabener Irrtümer‹ eine von Menschenkenntnis getragene Antwort auf das dem Menschen eigene ›geistige Bedürfnis‹ zu erteilen. Wie das Ganze dann ausgehen könnte, lässt sich 1880 der Fortsetzung von Menschliches, Allzumenschliches entnehmen, also der Aphorismensammlung Vermischte Meinungen und Sprüche, noch genauer: deren § 184 (im Folgenden: VM 184), wo unter dem Titel Wie Naturgeschichte zu erzählen ist gleich zu Beginn ausgeführt wird: »Die Naturgeschichte, als die Kriegs- und Siegesgeschichte der sittlich-geistigen Kraft im Widerstande gegen Angst, Einbildung, Trägheit, Aberglauben, Narrheit, sollte so erzählt werden, dass Jeder, der sie hört, zum Streben nach geistig-leiblicher Gesundheit und Blüthe, zum Frohgefühl, Erbe und Fortsetzer des Menschlichen zu sein, und zu einem immer edleren Unternehmungs-Bedürfniss unaufhaltsam fortgerissen würde.« (II: 460)

Setzt man in diesem Zitat einfach für ›Die Naturgeschichte …‹ ›Die Emanzipationsgeschichte jedes einzelnen Menschen …‹, wird etwas klarer, was hier zur Debatte steht: nicht weniger als eine Bildungstheorie vom Typ »Bildung als Selbstkonstruktion des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt« (Tenorth 2014: 31), der zufolge jeder Einzelne notwendig in seinem Sozialisationsverlauf allen möglichen

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VI · Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

Gefährdungen unterliegt, die er aber überwinden lernen kann und aus deren Überwindung er neue Kraft und am Ende Persönlichkeit gewinnt und kulturtradierende Macht, Letzteres zumal dann und insofern es gelingt, diese höchst persönliche Bildungsgeschichte in ein Narrativ mit Vorbildwirkung zu verwandeln. Soweit der positive Part, der konventionelle, Heinz-Elmar Tenorth womöglich überraschende, den es vielleicht gar nicht zu erzählen lohnte – wenn im Fall Nietzsche nicht auch der Niedergang dieser Botschaft, gleichsam deren Umkehr, zu studieren wäre. Acht Jahre später nämlich, in einem Brief aus Nizza an seine Schwester in Paraguay vom 31. März 1888, berichtet er ihr hier von »düsteren Wochen«, wo er »wie ein verdrossener Bär in der Höhle saß«, ehe dann etwas Positives folgt, etwa: »Auch erleichtert es mich, meine ›Litteratur‹ abgethan zu haben: ich bin sogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen. Man schreibt keine Meisterwerke im Zustand der décadence: das gienge gegen die Naturgeschichte!« (8: 282)

Auffällig an diesem Brief ist zunächst einmal seine Editionsgeschichte, deutlicher: seine Nicht-Edition durch die Briefempfängerin, als diese zwanzig Jahre später als Nachlassverwalterin Nietzsches daran ging, in zwei Bänden Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester (1909) zu edieren. Kaum weniger auffällig und nahe am Skandal: Die Nicht-Beachtung dieser Nicht-Edition durch Ulrich Sieg (2019) – hierauf wird zurückzukommen sein (vgl. Kap. XII) –, aber auch in Rüdiger Schmidt-Grépálys Teiledition Das Eine bin ich, das Andre sind meine Briefe. Nietzsches Werk im Spiegel seiner Briefe (2018): Nietzsches Schwester sei »die Einzige, die von Nietzsche mitgeteilt bekommt, dass er an seinem ‚Hauptwerk‘ arbeitet, dem Willen zur Macht« (Schmidt-Grépály 2018: 234 f.), lesen wir hier, nicht aber, was in der Line jenes Briefes vom 31. März 1888 nahegelegen hätte, nämlich dass sie die Einzige sei, die von ihm mitgeteilt bekam, dass er die Arbeit an seinem ‚Hauptwerk‘ eingestellt habe. Was sich hier wie dort fortsetzt, ist die Nachlässigkeit des Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell, der, wohl weil dies seinem Anti-Nietzsche-Ressentiment korrespondierte, einer von Nietzsches Schwester ersatzweise dargebotenen Fälschung aufsaß und daran weiträumige, aber völlig gegenstandslose Klagen knüpfte über Nietzsche. 9 Damit bekommt 9

Russells (1992: 702) Empörung machte sich – ohne dass er oder der Verlag in den

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Nietzsches psychologische Dekonstruktion metaphysischer Bildungsphilosophien

die Briefauslegung einen ersten wichtigen Hinweis: Warum unterschlug Nietzsches Schwester eigentlich diesen Brief, was empörte sie an dem eben herausgestellten Passus? Meine andernorts (vgl. Niemeyer 2017: 289 ff.) begründete Vermutung lautet: Weil sie erkannte, wie die Vokabeln in jenem Brief zu übersetzen waren: »Meine ›Litteratur‹ abgethan« meinte eigentlich: »Mein Plan, liebe Schwester, seit Jahren von mir gesammelte Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht irgendwann als Buch erscheinen zu lassen, ist aufgegeben!« Und der nachfolgende Passus (»ich bin sogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen«) ist zu übersetzen mit: »Liebe Schwester, in der Summe ihrer relativen Primitivität gehen mir diese im Zeitraum von fünf Jahren sukzessive erstellten Aufzeichnungen inzwischen gegen den Geschmack.« Kurz geredet, und dies erklärt ihre Fälschungspolitik in diesem Punkt: Nietzsches Schwester erkannte das diesem Subtext unterliegende Leitmotiv, welches auf ein Publikationsverbot in Sachen von Nietzsches angeblichem ›Prosa-Hauptwerk‹ hinauslief und dem sie entschlossen – eben durch Briefunterschlagung – zuwiderhandelte. 10 Nach dieser Vorklärung können wir uns nun der Inbeziehungsetzung dieses Briefes und des zuvor herausgestellten Passus aus VM 184 widmen. Verbindendes Motiv ist hier der Satzteil »das gienge gegen die Naturgeschichte« aus Nietzsches Brief an seine Schwester vom 31. März 1888. Denn die Vokabel »Naturgeschichte«, in Nietzsches Werk ansonsten nicht üblich, ist uns aus VM 184 wohlvertraut – und erlaubt die Ableitung, Nietzsche wolle nun, 1888, deutlich machen, dass und warum ihm kein Narrativ, das beitrage zum »Frohgefühl, Erbe und Fortsetzer des Menschlichen zu sein« (II: 460), mehr möglich sei. Und in der Tat: Wer die von Nietzsche in jenem von der vielen Jahren der Neuauflage dieses seines Grundlagentextes erkannte(n), dass er hiermit einer Fälschung aufsaß, – an dem Term ›Rasse‹ in dem von Förster-Nietzsche ihrem Bruder in den Mund gelegten Satzteil fest: »Wie stark fühle ich mich bei Allem, was Du sagst und thust, daß wir derselben Rassen angehören.« (Förster-Nietzsche 1909: 770) 10 Nachdem sie sich selbst, übrigens unter Zuhilfenahme weiterer von ihr stammender Briefe ihres Bruders, als einzig berufene Nachlassverwalterin Nietzsches bestellt hatte. So kam es, dass schließlich, 1906 gar in ›kanonischer‹ Form, Der Wille zur Macht, also die von Nietzsche abgetane ›Litteratur‹ erscheinen konnte – und die 1933 herrschend gewordene Nazifizierung Nietzsches Platz griff (vgl. Niemeyer 2019: Kap. 6), ebenso wie, nach 1945 (Beispiel: Russell), der Abscheu vor Nietzsche, als dessen Ausläufer man womöglich auch Tenorths Niemeyer-Kritik zu verbuchen haben wird.

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VI · Nietzsches Metaphysikkritik in ihren Begründungen und Folgen

Schwester unterschlagenen 1888er Brief angesprochene »Litteratur« liest, also die Nachlassaufzeichnungen zu Der Wille zur Macht, muss fast den Eindruck gewinnen, ihn habe dabei das ›Frohgefühl‹ umgetrieben, nicht ›Erbe und Fortsetzer des Menschlichen‹, sondern Begründer einer neuen Tradition des ›Unmenschlichen‹ zu sein. 11 Insoweit kann man nur froh sein, dass Nietzsche gerade noch rechtzeitig – jedenfalls für sich, nicht, wie gesehen, für seine Schwester – jenen Geschmack wiederentdeckte, der ihm half, sie, diese Nachlassaufzeichnungen, »nicht mehr zu mögen« (8: 282) und, darin beglaubigt, jene Bildung und Bildungstheorie wiederzuentdecken, auf die er mit VM 184 abgestellt hatte. Warum er zwischenzeitlich von diesem Programmpunkt abrückte und in jenen in seinem Brief an seine Schwester als Entschuldigungsgrund angeführten »Zustand der decadence« (8: 282) geriet, soll uns hier nicht mehr interessieren. (vgl. allerdings Niemeyer 2017: 286 ff.) Uns genügt der Befund: Nietzsche, zumindest der Nietzsche um 1877/78, nicht jener der décadence, der Aufzeichnungen sammelte zu Der Wille zur Macht, war ein Kulturpädagoge anti-metaphysischen Zuschnitts und hätte sich als solcher eigentlich mit Heinz-Emar Tenorth ganz gut ins Benehmen setzen können. Halten wir fest: Dass Nietzsche, wie im Vorhergehenden angedeutet, als Bildungstheoretiker der Kulturpädagogik respektive dem auf Kulturtradierung abstellenden Gewerbe à la Friedrich Paulsen (1911: 6 f.) und nachfolgend aller (geisteswissenschaftlichen) Pädagogen dieser Orientierung (vgl. Helmer 2004: 540) positive Sanktion erteilt hätte, ist eine fraglos erfreuliche Nachricht für Heinz-Elmar Tenorth. Wäre da nicht der bei genauerem Nachdenken erkennbar werdende Pferdefuß, dass Tenorth damit, jedenfalls in Ermangelung besserer Argumente, via Nietzsche hätte einsehen müssen, wie sehr es Kulturpädagogen frommt, sich zuvor von allen metaphysischen Vorstellungen des Guten, Wahren und Schönen zu trennen und so gut es geht Menschenkunde, auch Sexualitätskunde, kurz: Psychologie zu betreiben im Blick auf das, was jedem einzelnen Educanden als – in Termini von VM 184 geredet – seine spezifische ›Angst‹, als seine ›Einbildung‹, ›Trägheit‹, ›Aberglauben‹, ›Narrheit‹ im Sozialisa11 In Anwendung auf die später von Nietzsches Schwester präsentiert Edition von Der Wille zur Macht (1906) geredet: Wer nichts anderes von Nietzsches gelesen hat als diese Edition und gleichwohl hinterher begeistert ist, gehört entweder ins Gefängnis oder in die Psychiatrie, gesetzt, dass er nicht in die AfD gehört.

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Nietzsches psychologische Dekonstruktion metaphysischer Bildungsphilosophien

tionsverlauf begegnen dürfte. Deutlicher: Kulturvermittlung und nachholende Rekonstruktion der Bildungsgeschichte des Einzelnen, ihre Neuaufbereitung als (Selbst-) Emanzipationsgeschichte, wurden vom ›mittleren‹ Nietzsche in einem Konnex bedacht, ausgehend von einem grundlegenden anti-metaphysischen Programm in der Linie des erwähnten allerersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches (1878). Und, um hier zu erinnern an den eingangs dieses Abschnitts erwähnten geisteswissenchaftlichen Pädagogen Eduard Spranger: Er gab, wie gesehen und so, als redete Nietzsche über ihn, ein Beispiel für die von Nietzsche kritisierte ›metaphysische‹ Denkweise und den ihr innewohnenden Grundsatz, wonach »Alles, was ersten Ranges ist, […] causa sui sein [muss].« (VI: 76) Daraus ließe sich die einigermaßen lustige Frage entwickeln – und dies meinte ich oben mit ›Spieß umdrehen‹ –, ob es womöglich der ›Reviervorsteher‹ und Spranger-Verehrer Tenorth ist, der gleich diesem einem ›falschen‹ »Revier« entstammt. Dazu passt, dass Spranger energisch gegen jene ins Feld zog, die dem Leiblichen einen Eigenrang zuwiesen, etwa die in »großstädtischen Verhältnissen« gedeihenden »Frank-Wedekind-Figuren«, denen er gegenwirkend die Bildungswirkung der »großen Gegenstände, die die Seele ganz erfüllen« (Spranger 1925: 137 f.), entgegenzuhalten trachtete, ganz zu schweigen von der Präventivwirkung des Nicht-Wissens, die er gegen die Verführungseffekte der großstädtischen Lebenswelt geltend zu machen suchte. Man sieht: Es hängt durchaus einiges davon ab, ob man wie Eduard Spranger jenen Eigenwert des Geistigen starrsinnig setzt, um sich beispielsweise in der Bildungsarbeit mit Großstadtjugendlichen lächerlich zu machen; oder ob man, wie Nietzsche, das Geistige prinzipiell nur als Sublimiertes sich vorzustellen vermag, mit der Folge, dass man dem, was da sublimiert werden soll, einen eigenständigen Wert zuzusprechen weiß, also ihm gegenüber andere Rollen einzunehmen vermag als die des Gegners oder Feindes. Sprich: Viel Luft nach oben für Nietzsche & Co. – und eigentlich höchste Zeit zum Umlernen für Tenorth & Co. Eigentlich also eine nicht ganz schlechte Pointe in Sachen der Rekonstruktion der Beweggründe und der Bedeutung von Nietzsches Metaphysikkritik.

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Kapitel VII

Nietzsches andere Vernunft und Welt, jenseits der Hinterwelt der Hinterwäldler

»Die Grenzen der Vernunft begreifen – d a s erst ist wahrhaft Philosophie …« (Nietzsche, Der Antichrist, 1888)

Die Überschrift spielt mit einigen Vokabeln aus der wohl bösesten und anti-christlichsten Rede Zarathustras, Von den Hinterweltlern betitelt. Der Ausdruck ›Hinterweltler‹ ist in zwei Hinsichten lesbar: in der Hauptbedeutung als wörtliche Übersetzung von Metaphysiker; und in einer Nebenbedeutung als Anspielung auf ›Hinterwäldler‹, also Ungebildete. Das Thema selbst wird exponiert mittels einer kaum verklausulierten Rückerinnerung an Nietzsches eigene frühe metaphysische Phase aus der Zeit der Geburt der Tragödie (vgl. Kap. II): »Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Eines leidenden und zerquälten Gottes schien mir da die Welt.«

Dann aber, so geht die Mär weiter, habe er »den Leidenden« überwunden, sich eine »hellere Flamme« erfunden und sei nun der »Genesene.« (IV: 34 f.) Wichtig ist der Befund, zu dem Zarathustra (an dieser Stelle besser: Nietzsche) in Sachen seiner eigenen metaphysischen Phase kommt: »Müdigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will: die schuf alle Götter und Hinterwelten.« (IV: 36)

Diese Diagnose bleibt ihrer Struktur nach auch noch bestimmend für Zarathustras Analyse der Ursprünge christlicher Metaphysik: »Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen.« (IV: 37) Diese Stelle nimmt Bezug auf das Neue Testament (1 Petr 18,19) und gewinnt an Brisanz durch die Fortführung: 142 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

»Allzugut kenne ich diese Gottähnlichen: sie wollen, dass an sie geglaubt werde, und Zweifel Sünde sei. Allzugut weiss ich auch, woran sie selber am besten glauben. / Wahrlich nicht an Hinterwelten und erlösende Blutstropfen: sondern an den Leib glauben auch sie am besten, und ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding an sich.« (IV: 37 f.)

Wie womöglich aktuell, vor dem Hintergrund der neuerdings auch von Papst Franziskus moderierten Debatte um sexuellen Missbrauch in konfessionellen (wie auch weltlichen) Einrichtungen leichter erkennbar (vgl. Niemeyer 2019: 335 f.): Zarathustra respektive Nietzsche spielt hier überaus unerschrocken an auf die häufig verleugnete Nebenfolge des Zölibat – was, ganz nebenbei, die Empörung erklären dürfte, auf die er in Kirchenkreisen schon um die vorletzte Jahrhundertwende traf. Für uns bleibt vorerst nur wichtig, dass Nietzsche, ausgehend von dieser insoweit in sexualaufklärerischer Absicht geübten Kritik am Christentum, die Alternative präziser in den Griff bekam, die wir vorerst nur mit der Vokabel einer ›anderen‹ Welt beschreiben wollen, anzusteuern durch eine ›andere‹Vernunft, dem hier als Motto vorangestellten Leitsatz aus Der Antichrist folgend. Geeignet zur Veranschaulichung dieses Problems scheint mir der in neueren Debatten (vgl. Pichler 2013; Stephan 2018) fortgeführte Streit um den kurzen, eineinhalbseitigen Abschnitt Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde aus Nietzsches Götzen-Dämmerung. Heidegger hat diesen Abschnitt als »kurze Darstellung des Platonismus und seiner Überwindung« (Heidegger 1961a: 235) gelesen und daran die Frage angeschlossen, »welche neue Auslegung und Einstufung des Sinnlichen und Übersinnlichen« Nietzsche infolge dieser »Umdrehung des Platonismus« (ebd.: 243) anzubieten habe. Die hier bevorzugte Lesart nimmt ihren Ausgang, ähnlich wie jene Heideggers, von der in diesem Zusammenhang wohl provokantesten These Nietzsches: »Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! m i t d e r w a h r e n We l t h a b e n w i r a u c h d i e s c h e i n b a r e a b g e s c h a f f t ! « (VI: 81)

Anders aber als bei Heidegger und unter Rückgriff auf eine etwas ältere Darstellung (vgl. Niemeyer 1995) wird im Folgenden dieser Satz, den Nietzsche seiner Auseinandersetzung mit Gustav Teichmüller abgewann (vgl. Nohl 1913), nicht dem Platonismus-Problem als solchem kontrastiert, sondern der für dieses Buch zentralen und

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VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

deswegen ja auch schon dem Prolog als Motto vorangestellten Botschaft Nietzsches aus Die fröhliche Wissenschaft: »Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« (III: 530)

Ich sehe mich zu dieser Kontrastierung 12, die jene Heidegger weitgehend unberührt lässt, durch den Verlauf veranlasst, den der von Heidegger angeregte Streit um Nietzsches Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde genommen hat. Denn dieser Streit konfrontiert den Leser zunehmend mit dem Bild eines ›pessimistischen‹ Nietzsche, der 1888 die Abgeschafftheit der ›wahren‹ und der ›scheinbaren‹ Welt deklarierte und »nicht zur Entdeckung eines positiv bestimmbaren Ortes schöpferischer Phantasie, der für sich letztlich doch wieder ›Wahrheit‹ beansprucht« (Meuthen 1991: 169), durchdrang. Und zu diesem Bild will ja nicht recht passen, dass Nietzsche noch 1882, in gleichsam ›optimistischer‹ Manier, zur Entdeckung ›anderer‹ Welten aufgerufen hatte. Entgegen diesem Anschein der Unvereinbarkeit beider Sätze möchte ich im Folgenden also deren Anschlussfähigkeit belegen. Dabei gehe ich in drei Schritten vor: Zunächst (1.) will ich die Problematik der auf einen ›pessimistischen‹ Nietzsche abstellenden Auslegung diskutieren, um dann (2.) den ›optimistischen‹ Nietzsche zu rehabilitieren und (3.) fruchtbar zu machen für eine Neuinterpretation von Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde unter der einleitend erwähnten, in der Überschrift zum Ausdruck gebrachten Maßgabe, hier werde eine andere Vernunft und Welt sichtbar, jenseits der Hinterwelt der Hinterwäldler.

Axel Pichler monierte an dieser Stelle ausgehend von seinem eigenen ›werkimmanenten‹ Zugang zum in Rede stehenden Textstück die hiermit greifende »Aufpropfung der dekontextualisierten Schlussätze« eines »sieben Jahre älteren Aphorismus« (Pichler 2013: 202), was mir indes kein Argument zu sein scheint, sondern Zeugnis gibt für Methodendogmatismus und Gesprächsverweigerung. Und dies, wo die Nietzscheforschung allein mit Werkimmanenz vermutlich noch auf den Bäumen säße, vieldeutige papageianaloge Begleitakkorde zur von Nietzsche gespielten ersten Geige vortragend.

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Nietzsche und die ›wahre‹ sowie ›scheinbare‹ Welt

1. Nietzsche und die ›wahre‹ sowie ›scheinbare‹ Welt Der Ausdruck ›pessimistischer‹ Nietzsche legte sich aufgrund zahlreicher Auslegungen von Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde nahe und wird auch expressis verbis von Spiekermann verwandt. Dieser nämlich drückte sein Erstaunen darüber aus, dass sich der – wie er es nennt – ›erkenntnistheoretische Pessimist‹ Nietzsche selbst im Fall offenkundiger ›kosmologischer Fabeleien‹ (gemeint ist die Wiederkunftslehre) auf die Suche nach empirischen Beweisen begeben habe, obgleich ihm doch »die ›wahre Welt‹ zur Fabel geworden« (Spiekermann 1988: 496) sei. Mich interessiert bei diesem Urteil nur das in ihm verborgene Missverständnis über den Begriff ›wahre Welt‹. Denn bei Nietzsche bezieht sich dieser Begriff auf Metaphysisches, nicht aber auf Physisches. Nietzsche kann – im Gegensatz zu der Unterstellung Spiekermanns – also sehr wohl beides tun, nämlich die ›wahre Welt‹ für abgeschafft erklären und gleichwohl nach empirischen Beweisen für seine Wiederkunftslehre suchen. Ob letzteres sinnvoll war oder ist, steht hier nicht zur Debatte. Mir geht es nur um den Befund als solchen – und der lautet: Annahmen über die ›wahre Welt‹ berühren gar nicht die von Spiekermann angesprochene empirische Problemebene. Deswegen übrigens kann Nietzsche auch noch im Anschluss an Götzen-Dämmerung, etwa in Ecce homo, empirische Forschung einklagen. Prominent geworden ist etwa sein Urteil, dass die Begriffe »›Seele‹, ›Geist‹, zuletzt gar noch ›unsterbliche Seele‹« erfunden worden seien, »um den Leib zu verachten, um ihn krank – ›heilig‹ – zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen!« (VI: 374) Deutlicher kann man gar nicht für empirische Forschung eintreten, und zwar dies gerade weil die ›wahre‹ Welt, wie dieses Zitat nun deutlich macht, nicht nur als abgeschafft zu gelten hat, sondern abgeschafft werden muss – wenn denn empirische Forschung nicht behindert werden soll. Denn die von Nietzsche in diesem Zitat als bloß erfunden gerügten, die empirische Forschung behindernden Begriffe – »Seele«, »Geist«, »unsterbliche Seele« – sind nichts anderes als Beispiele für jene metaphysischen Entitäten, die Nietzsche mit seinem ›wahre-Welt‹-Konzept anspricht. Andere Beispiele für derartige metaphysische Entitäten nennt Nietzsche im Antichrist unter dem Stichwort »Fiktions-Welt« (VI: 181), vor allem aber auch in der Göt145 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

zen-Dämmerung, also in dem Text, der dem Abschnitt Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde den entscheidenden Kontext verleiht. Hier nämlich ist wenige Seiten nach diesem Abschnitt vom »Ich« bzw. von den »geistigen Ursachen« als »Fabel« die Rede, allgemeiner gesprochen: Es ist die Rede von einer »Ursachen-Welt« und einer »Willens-Welt« und einer »Geister-Welt«, die der (philosophierende) Mensch in einem Akt des »Missbrauch[s]« (VI: 91) der (tatsächlichen) Empirie geschaffen habe, weil er einem Weltmodell bedürftig sei, in der die Gottesvorstellung ebenso zu beheimaten ist wie die Gottgleichheitsvorstellung des Menschen. Der Begriff ›wahre Welt‹, so darf man aus all dem also folgern, repräsentiert in Nietzsches Verständnis – das zweifellos durch Platons Phaidros angeregt wurde – einen Sammelbegriff für metaphysische Optionen, die dem Menschen eine Adelung seiner Selbstauslegung erlauben und/oder die ihn antreiben, sich aus den Niederungen der empirischen Welt zu erheben. Insoweit Nietzsche diese ›wahre‹ Welt als abgeschafft deklariert, begegnet er uns also als Antimetaphysiker und Vordenker einer empirischen Humanwissenschaft. Warum aber redet Nietzsche dann davon, dass auch die ›scheinbare‹ Welt abgeschafft sei? Denn dies klingt ja tatsächlich sehr pessimistisch, wenn nicht gar defaitistisch und jedenfalls so, als stünde gar kein Weltkonzept für Theoriebildung und Forschung mehr zur Verfügung. Namentlich postmoderne Interpreten wie etwa Jacques Derrida (1973: 135 ff.) oder Richard Rorty (1992: 58 f.) haben denn auch aus Nietzsches These von der Abgeschafftheit der ›wahren‹ und der ›scheinbaren‹ Welt gefolgert, diese These sei identisch mit der generellen Einsicht in die Unmöglichkeit von Wahrheitserwerb und Daseinsrechtfertigung. In der Logik dieser Interpretationen und unter Missachtung der Mahnung Heideggers, dass Nietzsche dieses »leere Nichts« nicht meinen könne, insofern er »die Überwindung des Nihilismus in jeder Form« (Heidegger 1961a: 241) wolle, begegnet uns Nietzsche also wiederum als der, als den wir ihn eingangs bei Meuthen oder Spiekermann antrafen: als eine Art ›erkenntnistheoretischer Pessimist‹, nur dass die helle Seite dieses ›Pessimisten‹ nun im Vordergrund steht: etwa unter der – bei postmodernen Nietzsche-Interpretationen auch in anderen Zusammenhängen nahegelegten (vgl. Schweppenhäuser 1988: 10) – Chiffre des ›anything goes‹, die offenbar auch Richard Rorty im Blick hat, wenn er Nietzsche seinem Lobgesang auf das »Vokabular der Selbsterschaffung« einfügt, das, im Unterschied zu dem mit den Namen Dewey und Habermas beleg146 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche und die ›wahre‹ sowie ›scheinbare‹ Welt

baren »Vokabular der Gerechtigkeit«, »privat« sei und »ungeeignet zur Argumentation.« (Rorty 1992: 13) Mitunter, etwa bei Pierre Klossowski, wird diese oder jedenfalls doch eine analoge Schlussfolgerung auch noch zusätzlich gestützt durch die von Nietzsche mit der »Gott-ist-tot«-Formel angesprochenen »ontologische[n] Katastrophe« (Klossowski 1963: 39 f.). Für diese gibt der berühmte Aphorismus Der tolle Mensch aus Die fröhliche Wissenschaft gewiss die nachdrücklichste Anschauung, insofern hier der ›tolle Mensch‹ sich und die Mörder Gottes fragt: »Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? […] Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?« (III: 481)

Indes muß man hier deutlich trennen. Denn was den verzweifelten Fragen des ›tollen Menschen‹ unterliegt, ist die sich hier anbahnende Folgerung aus Nietzsches Dekonstruktion auch des Pantheismus als des Versuchs, Gott mit der Welt zu identifizieren. Nicht nur Gott ist nun nicht mehr da, auch die Welt, für die er zeugte, sieht sich ins Nichts versetzt – und bedarf neuer Sinngebung. Eben dies aber ist das entscheidende: Nietzsche begnügt sich keineswegs mit der Feststellung, dass die Welt, mit der und in der sich Gott bezeugt, mit Gottes Tod ihre Geltung verliert. Sondern Nietzsche will auch die Sinngebung für eine ›Ordnung der Dinge‹ ohne Gott – und konzentriert deswegen sein Denken mit dem Zarathustra auf den Übermenschen. Wer diesen Zusammenhang auflöst und mithin die Bedeutung des Übermenschenkonstrukts nicht mehr zu sehen vermag – und dies gilt für viele Autoren im Umfeld der Postmoderne, etwa auch für Foucault (1974: 412) –, wird notwendig nur ›pessimistische‹ Nietzsche-Bilder zu zeichnen in der Lage sein (vgl. Reschke 1994: 95 f.). Damit mögen postmoderne Einwände erledigt sein. Wie aber steht es mit den Einwänden jener, die vielleicht noch zuzugestehen vermögen, dass Nietzsche als Antimetaphysiker die – mit der Gottesvorstellung verknüpfte – metaphysische ›wahre‹ Welt als abgeschafft deklariert, die aber kaum anders als ›pessimistisch‹ damit umgehen können, dass Nietzsche der ›wahren‹ Welt auch noch die ›scheinbare‹ Welt nachwirft? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich vor allem davon ab, was unter jener ›scheinbaren‹ Welt eigentlich zu verstehen ist. Nimmt man wie Heidegger das Platon-Pro147 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

blem zum Ausgangspunkt, ist die Antwort leicht: Die ›scheinbare Welt‹ steht für das Sinnliche und repräsentiert zusammen mit dem Übersinnlichen, also der ›wahren Welt‹, »das Seiende im Ganzen.« (Heidegger 1961a: 241) Die Fortführung dieser Erwägung lässt sich dann bei Volker Gerhardt nachlesen: »Die deklarierte Abschaffung der ›scheinbaren Welt‹ beseitigt nicht die Vorgänge und Eindrücke, die uns die Welt bedeuten, sondern sie nimmt ihnen ihren von der Substanzmetaphysik zugewiesenen Charakter als bloßer Schein oder Erscheinung.« (Gerhardt 1992: 35)

Ich würde aber auch an dieser Stelle die von Heidegger wie Gerhardt in Erinnerung gerufene platonische Denk- und Begriffstradition gerne vernachlässigen. Die Berechtigung hierfür beziehe ich aus dem angeführten Zitat aus Ecce homo. Denn es ist ja auffällig, dass Nietzsche hier den von ihm abgelehnten metaphysischen Entitäten empirisch erforschbare Realitäten entgegenhält. Der Begriff ›scheinbare‹ Welt, so könnte man mithin auch sagen, repräsentiert in Nietzsches Sprachgebrauch jene empirische Welt, auf die der Mensch in seinem Erkenntnisbemühen Bezug nahm, als er um die Grenze seines metaphysischen ›wahre‹-Welt-Konzepts zu ahnen begann. Warum aber, so muß man nun natürlich fragen, wählt Nietzsche dann das Adjektiv ›scheinbar‹ und vor allem: Warum deklariert er die Abgeschafftheit dieser ›scheinbaren Welt‹, wenn er in ihr doch jenes empirische Wissen beheimatet glaubt, mit dessen Hilfe er das metaphysische ›wahre‹-Welt-Konzept zu entwerten hofft? Bei einer Antwort auf diese Frage hat man zu berücksichtigen, dass der Mensch sich wohl nie zuvor so sehr wie im auslaufenden 19. Jahrhundert von Metaphysik und Philosophie entkoppelte, um voller Optimismus die Naturvorgänge zu entschlüsseln. Indem Nietzsche die damit entdeckte und entdeckbare neue Welt des empirischen Wissens nur als ›scheinbare‹ deklariert und, ähnlich wie die ›wahre‹ Welt, für abgeschafft erklärt, erweist er sich also als Wissenschaftskritiker, deutlicher gesprochen: Er erweist sich als Kritiker einer in seiner Epoche um sich greifenden Tendenz zur Entphilosophierung der Wissenserwerbsgrundlagen. Dies nun konfrontiert uns mit einem etwas irritierenden Zwischenresultat. Denn Nietzsches Hinweis auf die Abgeschafftheit der ›wahren‹ Welt meinten wir ja lesen zu können als Indiz für seine Selbstauslegung als eines AntiMetaphysikers, der für empirische Forschung eintritt. Nietzsches Hinweis auf die Abgeschafftheit auch der ›scheinbaren‹ Welt hin148 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche und die ›wahre‹ sowie ›scheinbare‹ Welt

gegen konfrontiert uns mit einem Nietzsche, der als Rephilosophierer zu begreifen ist und vor kurzschlüssiger empirischer Forschung warnt. Wie aber kann beides zusammen gehen? Meine Antwort wäre: sehr gut. Denn, um mit dem Anti-Metaphysiker zu beginnen: Nietzsches Interesse an empirischen Beweisen für die Wiederkunftslehre oder an – um noch einmal die Themen aus dem Ecce-homo-Zitat Revue passieren zu lassen – empirischer Erforschung der Zusammenhänge zwischen menschlichem Wohlbefinden einerseits sowie Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung und Wetter andererseits ist eher didaktischer Natur. Nietzsche will also, anders gesagt, einen der Hauptsätze aus der Götzen-Dämmerung, nämlich die Formulierung »Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt« (VI: 57), als Sarkasmus kenntlich machen und, im Bewusstsein der Leser, durch die Umdrehung ersetzen: ›Es gibt mehr Realitäten als Götzen in der Welt, und wer uns das Umgekehrte glauben machen will, betreibt Ideologie.‹ Weitergehende Ambitionen sind hiermit sowie mit dieser Inanspruchnahme des Realitätsbegriffs aber nicht verbunden. Man wird dem ganzen Nietzsche nicht gerecht, wenn man hieraus folgert, Nietzsche habe ja doch an die empirische Konstitution einer – ansonsten von ihm als abgeschafft deklarierten – ›scheinbaren‹ Welt geglaubt. Insoweit erreicht auch die gegen Spiekermann naheliegende Setzung, Nietzsche sei kein ›erkenntnistheoretischer Pessimist‹, noch nicht das Zentrum des uns überantworteten Nietzsche-Problems. Daraus folgt im Umkehrschluss: Dieses Zentrum ist erst dort erreicht, wo wir in Nietzsche einen – allerdings über seine Metaphysik-Kritik belehrten – Rephilosophierer sehen, der die Frage stellt, mithilfe welcher methodologischer Vorkehrungen man sicherstellen kann, dem Publikum eine Welt des Wissens zu präsentieren, die – wie sich in Anlehnung an Kant vielleicht variieren ließe – für Blindheit der Metaphysik (›wahre Welt‹) ebenso wenig Zeugnis ablegt wie für Leere der Empirie (›scheinbare Welt‹). Diese Welt des Wissens ist m. E. jene ›andere‹ Welt, die Nietzsche erstmals in Die fröhliche Wissenschaft in den Blick nahm. Diese These möchte ich nun, in meinem zweiten Argumentationsschritt, verständlich machen.

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VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

2. Nietzsche und die ›andere‹ Welt Nietzsches Annahme, wonach es für die Philosophen noch eine »andere Welt« (III: 530) zu entdecken gäbe, beschließt den Aphorismus Auf die Schiffe! aus Die fröhliche Wissenschaft, der eröffnet wurde mit den Worten: »Erwägt man, wie auf jeden Einzelnen eine philosophische GesammtRechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt, […] so ruft man zuletzt verlangend aus: oh dass doch viele solche neuen Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!« (III: 529)

Die Anrufung des ›Sonnenscheins‹ in diesem Zusammenhang belegt, dass Nietzsche hier in sinngebender Absicht tätig ist. Denn – wir erinnern uns – die Frage ›fort von allen Sonnen?‹ markierte ja den höchsten Punkt des Sinnlosigkeitsverdachts des wenige Seiten zuvor aufgebotenen ›tollen Menschen‹. Die ›andere‹ Welt, auf die Nietzsche abzielt, ist also, so das erste Resultat, identisch mit einem neuen, sinngebenden philosophischen Grundgedankengang, der tauglich ist zu einer alternativen, aus herkömmlichen Philosophien nicht beziehbaren Daseinsrechtfertigung insbesondere für den ›Bösen‹, den ›Unglücklichen‹, den ›Ausnahme-Menschen‹, also, kurz und im Vorblick auf den Zarathustra gesprochen: den Übermenschen. In Jenseits von Gut und Böse sehen wir Nietzsche erneut ›auf die Schiffe‹ gehen, nun ein – wie er es nennt – fast noch neues »Reich gefährlicher Erkenntnisse« entdeckend, ein Reich psychologischer Erkenntnisse vor allem, wie man hinzuzusetzen hat, so dass sich Nietzsche denn auch notiert: »Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängengeblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt.« (V: 38)

Fast folgerichtig scheint der Begriff ›Tiefenpsychologie‹ für das von Nietzsche Beabsichtigte, wobei das in dieser Hinsicht (erkenntnis-) ›optimistische‹ Selbstbild durchaus auffällig ist. So lesen wir im nämlichen Jahr (1886): »Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat.« (II: 13)

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Nietzsche und die ›andere‹ Welt

Ein vergleichbares Eigenlob Nietzsches als eines Vorläufers einer, wie man es vielleicht nennen könnte, ›anderen Vernunft‹ findet sich auch in Der Fall Wagner: »Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral, – man versteht, was sich unter ihrem heiligsten Namen und Werthformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die grosse Müdigkeit.« (VI: 11 f.)

Dieser Satz kennt dann auch die Umkehrung, die lauten könnte: ›Hat man für die Abzeichen des Niedergangs kein Auge, so hält man für Moral, was nur Zeugnis verarmten Lebens ist.‹ Hinter diesem Urteil verbirgt sich auch das Plädoyer für eine neue Erkenntnismoral, die Nietzsche denen abverlangt, die sich gleich ihm aufmachen, eine ›andere‹ Welt zu suchen – und denen er folgerichtig in Jenseits von Gut und Böse aufträgt: »nun! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand fest ans Steuer! wir fahren geradewegs über die Moral w e g , wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsern eignen Rest Moralität, indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, – aber was liegt an u n s !« (V: 38 f.)

Dies klingt weit lässiger als Nietzsche der Sache nach hätte verantworten können, wie im zunächst als Fortschreibung dieses Buches gedachten, 1887 nachgereichten fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft deutlich wird, und zwar an einer Stelle, an der sich Nietzsche dezidiert als »Antimetaphysiker« zu erkennen gibt und als solcher ausführt: »Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, b e j a h t d a m i t e i n e a n d r e We l t als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ›andere Welt‹ bejaht, wie? muss er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, u n s r e Welt – verneinen? …« (III: 577)

Nietzsche lässt es erneut mit dieser (rhetorischen?) Frage bewenden, so dass auch wir uns damit begnügen wollen, die Schätze jenes (verwegenen) ›Wahrhaftigen‹ mit der Kolumbusmentalität etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Auffällig dabei: Sie geben ein Stück weit die methodologischen Optionen eines moralisch geschärften Psychologieinteresses zu erkennen. So deklariert Nietzsche beispielweise, als habe er gerade Freud gelesen:

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VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

»Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat ›das Herz‹ gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der ›guten‹ und der ›schlimmen‹ Triebe, macht, als feinere Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Not und Überdruss, – noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen.« (V: 38)

Eines hat Nietzsche nun also erkannt: Die Rehabilitation des ›Bösen‹ bedarf des psychologisch subtilen Blicks auf das Andere der Vernunft des vermeintlich ›Guten‹, deutlicher: auf dessen – in der etwas späteren Terminologie der Genealogie der Moral geredet – Ressentimentstruktur. Denn ohne Psychologie bliebe diese Struktur, diese auf Selbstidealisierung und Fremdverachtung beruhende Ideologie des ›Guten‹, in Geltung – eine Ideologie zu der gehört, das ›Böse‹ immer nur als das (qua Moral) zu Überwindende zu lesen, nicht aber als »lebensbedingende[n] Affekt« (V: 38) beziehungsweise, wie es im Zarathustra heißt, »des Menschen beste Kraft.« (IV: 359) Indem Nietzsche diese alternative Lesart des ›Bösen‹ zur Geltung bringt, löst er eben das ein, was er in Die fröhliche Wissenschaft als Desiderat einklagte: eine ›philosophische Gesamt-Rechtfertigung‹ der Lebens- und Denkart des ›Bösen‹ respektive des Übermenschen. Dass damit dem ›Guten‹, sofern dieser sich über seine geheime Immoralität Selbsttäuschungen auferlegt, die philosophische Rechtfertigung entzogen ist, gilt damit zugleich als mitgesagt. In der Linie dieser Kritik begegnet einem als weiterer Typus psychologischer Reflexion auf den dekadenten Effekt christlich unterlegter Gleichheitspostulate so etwas wie ein früher Abglanz psychologischer Biographieforschung, in dessen Linie sich Kants »Sapere aude!« als eine zwar akzeptabel pointierte, aber unzureichend durchdachte Triebfeder erweist. Die ›andere‹ Welt, auf die Nietzsche abzielt, ist also, so ließe sich nun auch und mit größerer Präzision formulieren, identisch mit einem neuen (philosophischen) Grundgedankengang, dessen philosophischer Anteil im Wesentlichen in der Psychologie – und in gekonnter Psychologienutzung hin auf die Kritik der Ressentimentstrukur des ›Guten‹ – gründet. Deswegen auch kann Nietzsche nun sagen: »Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen« (V: 39) – eine Aussage, mit der er sich als eine Art (Erkenntnis-)›Optimist‹ erweist, der zugleich an einer rephilosophierten Psychologieauslegung Interesse nimmt. Damit nun kann auch ein zentrales Element der Ausgangsfrage aufgenommen werden – die Frage nämlich, wieso Nietzsche 1888 in 152 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche und die ›andere‹ Welt

(erkenntnis-)›pessimistischer‹ Manier die Abschaffung der ›wahren‹ und der ›scheinbaren‹ Welt deklariert, obgleich er doch noch 1882 in offensichtlich (erkenntnis-)›optimistischer‹ Manier die Entdeckung einer ›anderen‹ Welt für möglich gehalten hatte. Nietzsche nämlich, dieser Eindruck drängt sich jedenfalls zunehmend auf, kam bei seiner 1882 einsetzenden Suche nach einer ›anderen‹ Welt zu der Erkenntnis, dass das psychologisch in den Blick genommene Dilemma der Welt der ›Guten‹ strukturidentisch ist mit dem Dilemma der ›wahren‹ Welt. Beide Welten nämlich können der (metaphysisch ausgerichteten?) Sicherung ihres Bestandes nicht entraten. Einigermaßen desillusioniert heißt es hierzu im Nachlass vom Frühjahr 1888: »[W]ir haben die ›wahre Welt‹ als ›e r l o g e n e We l t ‹ und die Moral als eine F o r m d e r U n m o r a l i t ä t erkannt.« (XIII: 322)

Entsprechend war es für Nietzsche auf seinem Weg in eine ›andere‹ Welt denn auch ein leichtes, auf diese gleichsam in doppelter Hinsicht fragwürdige ›wahre Welt‹ Verzicht zu leisten. Analoges gilt für die ›scheinbare‹ Welt. Auch die Abgeschafftheit dieser Welt konnte Nietzsche in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde nicht zuletzt deswegen ohne weiteres deklarieren, weil er um die – oder besser wohl: seine – ›andere‹ Welt bereits wusste. Denn die ›scheinbare‹Welt ist zwar – im Gegensatz zur ›wahren‹Welt – eine Welt ohne Metaphysik, eine Welt, die durch empirische Forschung konstituiert wird und der sich Nietzsche, wie wir hinsichtlich minder wichtiger Themen (Nahrung, Wohnung, geistige Diät, Krankenbehandlung, Wetter) gesehen haben, durchaus mitunter nahe wusste. Aber gegenüber der ›anderen‹ Welt nimmt sich die ›scheinbare‹ Welt doch eher kärglich aus, weiß sie sich doch (beispielsweise) bar des Wissens um die von Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse dem Ansatz nach entschlüsselte Selbsttäuschung in Gestalt der Ideologie des ›Guten‹. Dabei gibt – und dies ist wohl das wichtigste Resultat – die ›andere‹ Welt im Gegensatz zur ›scheinbaren‹ Welt ihr Geheimnis nicht preis durch (naturwissenschaftsanaloge) empirische Forschung, sondern durch (geisteswissenschaftsanaloge) psychologische Hermeneutik. In diesem Erkenntnisinteresse erweist sich Nietzsche als der, als den wir ihn ausgangs des letzten Kapitels meinten sehen zu müssen: als ein Rephilosophierer, der sein Veto einlegte gegen die in seiner Epoche um sich greifende Entphilosophierung. Damit steht auch unsere andere, im Zusammenhang mit dem Stichwort ›Rephilosophierung‹ stehende Vermutung wieder im Raum, insoweit des späten 153 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

Nietzsche Hauptinteresse tatsächlich darin zu gründen scheint, eine ›andere‹Welt des Wissens zu entdecken, die sich von der Blindheit der Metaphysik (›wahre Welt‹) ebenso weit entfernt weiß wie von der Leerheit der Empirie (›scheinbare Welt‹). Überraschend indes ist die Bedeutung, die der Psychologie zugewiesen wird hinsichtlich ihrer Leistungen zur Entdeckung dieser ›anderen‹ Welt. Überraschend ist allerdings auch (und nach wie vor), warum Nietzsche, wenn er denn, wie hier behauptet, derart großes Gewicht auf die Entdeckung und Entdeckbarkeit einer anderen Welt des Wissens legte, noch 1888 in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde derart apodiktisch von der Abgeschafftheit der wahren und der scheinbaren Welt redete, ohne ein Wort über diese andere Welt zu verlieren. Denn damit ging Nietzsche das Risiko ein, missverstanden zu werden. Indes – und das Wort vom Missverständnis deutet es bereits an – steht doch sehr in Frage, ob es sich hier tatsächlich um ein Problem Nietzsches oder nicht vielmehr um eines seiner Interpreten handelt. Anders gesagt: Ich möchte abschließend den Nachweis führen, dass Nietzsche trotz des knappen Textangebots von Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde jene Informationen nicht außer Acht lässt, die ihn als souveränen Anwender seiner eigenen Psychologie kenntlich machen.

3. Die andere Vernunft in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde Der kurze, eineinhalbseitige Abschnitt Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde gehört zu einem jener Nietzsche-Texte, die man eigentlich ohne Mobilisierung eines größeren Kontextes nicht interpretieren kann: zu spärlich (vom Umfang her) ist das Gebotene, zu stichwortartig das Gesagte, zu rätselhaft das Gemeinte. Außer Frage nur scheint zu stehen, dass Nietzsche hier mittels sechs stichwortartig geraffter Punkte die »wichtigsten Zeitalter des abendländischen Denkens« (Heidegger 1961a: 234) Revue passieren lässt, wenn nicht gar: die Verfallsgeschichte der Vernunftmetaphysik erzählt. Das bisher ins Zentrum gerückte Diktum von der Abgeschafftheit der ›wahren‹ und der ›scheinbaren‹ Welt repräsentiert dabei die sechste und letzte Stufe des Verfalls, also das – mit Nietzsche gesprochen – »Ende des längsten Irrtums« (VI: 81). Wenn nun Nietzsche seine eigentlichen Hoffnungen jenseits der 154 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Die andere Vernunft in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde

›wahren‹ und der ›scheinbaren‹ Welt auf die ›andere‹ Welt und deren psychologische Decouvrierung gerichtet hat, wären Aussagen hierüber zu beheimaten auf einer – aus der sechsten Stufe sich herausentwickelnden – siebten Stufe, die zugleich für die erste Stufe des NichtVerfalls sowie für die erste Stufe eines Vernunftgebrauchs stünde, der nicht heimgesucht wäre von den Dilemmata klassischer Vernunftmetaphysik. Die erste Frage an den Text Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde muss mithin lauten, ob sich Hinweise in dieser Richtung identifizieren lassen. Es liegt nahe, die Sucharbeit in dieser Richtung zunächst auf Nietzsches Ausführungen zur sechsten Stufe zu konzentrieren. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass uns hier der Name Zarathustras begegnet. Denn Zarathustra ist für Nietzsche gewiss kein Symbol des Verfalls – schon gar nicht des Verfalls der Vernunftmetaphysik – gewesen, sondern, eher im Gegenteil, Signum einer neuen Menschheitsepoche, die sich auf den Tod Gottes einzurichten weiß und mithin eine ›Ordnung der Dinge‹ ohne Gott vorzubereiten hat, eine Ordnung, deren ›ewige Wiederkunft‹ guten Gewissens gewünscht werden kann. Karl Löwith hat denn auch vorgeschlagen, die von Nietzsche nur angedeuteten Stichworte zur sechsten Stufe folgendermaßen fortzuschreiben: »Ich, Nietzsche-Zarathustra, bin die Wahrheit der Welt, denn ich habe zuerst, über die ganze Geschichte des längsten Irrtums hinweg, die Welt vor Platon wiederentdeckt. Ich will gar nichts anderes als diese ewig wiederkehrende und mir nicht mehr entfremdete Welt, welche ineins mein Ego und Fatum ist; denn ich will selber mich ewig wieder, als einen Ring im großen Ring der sich-selber-wollenden Welt.« (Löwith 1967: 128 f.)

Indes: Diese Formulierung, deren Tendenz nicht bestritten werden soll, krankt doch etwas an einer zu starken Konzentration auf die antiken Vorbilder des vom späten Nietzsche mit eigenem Sinngehalt aufgeladenen Wiederkunftsgedankens. Vor allem: Dass uns Nietzsche Zarathustra als »Lehrer der ewigen Wiederkunft« (IV: 275) und als Proponenten einer Ordnung der Dinge ohne Gott vorführt, will noch nicht viel besagen hinsichtlich der uns maßgeblich interessierenden Frage, ob wir in Zarathustra auch jemand sehen dürfen, der mittels seiner anderen Vernunft eine ›andere‹ Welt entdeckte. Gottlob aber führt uns Nietzsche Zarathustra ja nicht nur als Pädagogen oder Theismus-Dekonstrukteur vor, sondern auch als – wie es in Ecce homo heißt – »Psycholog[en] der Guten« und »Freund der Bösen« (VI: 369). Damit nun sind die entscheidenden Stichworte genannt, 155 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

die eine ›andere‹ Welt des Wissens entdecken helfen sollen. Denn der Auftrag an dieses Wissen geht ja – wie hier unter Bezug auf unsere Auslegung des Aphorismus Auf die Schiffe! aus Die fröhliche Wissenschaft zu erinnern ist – auf eine alternative, aus herkömmlichen Philosophien nicht beziehbare Daseinsrechtfertigung insbesondere für den (vermeintlich) ›Bösen‹. »Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisthen?«, hören wir denn auch Zarathustra, den ›Psychologen der Guten‹, fragen und seine Antwort ist der eines ›Freundes der Bösen‹ würdig: »Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: – das aber ist der Schaffende.« (IV: 26) Mit diesem Wort, so ist hier im Blick auf das vorherige Kapitel zu erinnern, legt Zarathustra seine – von Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft eingeklagte – ›philosophische Gesamt-Rechtfertigung‹ der Lebens- und Denkart des ›Bösen‹, des ›Unglücklichen‹, des ›Ausnahme-Menschen‹ vor. Die Gegenprobe zu dieser Deutung, an deren Horizont sich die andere Welt des Wissens als Ertrag einer hermeneutisch gerichteten Psychologienutzung abzeichnet, würde es erforderlich machen, auch für die anderen fünf Stufen der in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde erzählten Verfallsgeschichte der Vernunftmetaphysik analoge Argumente, nur mit umgekehrten Ergebnis, zu plausibilisieren. Es wäre also, anders gesprochen, zumindest je an einem zentralen Repräsentanten der jeweiligen Stufe ein – begriffliches oder auch persönliches – Psychologiedefizit nachzuweisen, dem der Rang eines Verfallsindikators zukommt, von dem sich Zarathustra als Repräsentant der sechsten Stufe unbetroffen weiß. Diese Erwartung verträgt sich mit Christoph Türckes Annahme, wonach man die Geheimnisse der menschlichen Vernunft nach Nietzsches Überzeugung »nicht durch so etwas Abstraktes wie Erkenntnistheorie [errät], sondern an dem jeweiligen Typus Mensch, in dem sie auf unverwechselbare Weise Gestalt, Gesicht, Geruch – konkret werden.« (Türcke 1989: 95) Indes: Ein derartiges, auf Rekonstruktion des Typus Mensch abzielendes Vorhaben scheint im Fall von Nietzsches Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde schon an dem schlichten Umstand zu scheitern, dass das knappe Textangebot entsprechendes Material nur für die erste und dritte Stufe ansatzweise zur Verfügung stellt. Ich möchte trotzdem versuchen zu sehen, wie weit sich damit kommen lässt, wobei ich mit der ersten Stufe beginne. Als Name wird auf dieser Stufe nur der Platons genannt, aber man hat natürlich dabei Anlass, an Sokrates zu denken, den Nietzsche 156 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Die andere Vernunft in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde

schon in der Geburt der Tragödie als Vorläufer der Verwissenschaftlichung von Kultur, Kunst und Moral brandmarkte, um ihn später mit den Antipoden »décadence gegen Wohlgeratenheit, Philosophieren aus dem Mangel gegen ein Denken aus der Fülle, Verneinung versus Bejahung des Lebens, Denken im Banne der Moral gegen ein Denken Jenseits von Gut und Böse« (Salaquarda 1989: 323) gegen Zarathustra auszuspielen. Vor dem Hintergrund dieser Begriffsduale will es durchaus einleuchten, warum es Sokrates ist, an dem Nietzsche »des ganzen psychologischen Geheimnisses von Philosophie innezuwerden glaubt.« (Türcke 1989: 95) Tatsächlich aber ist die Sokrates-Kritik im Umfeld des Textabschnitts, um den es hier geht, kaum psychologisch ambitioniert. Sokrates, so lesen wir hier beispielsweise, habe »aus der Ve r n u n f t einen Tyrannen« (VI: 72) gemacht und stünde in dieser seiner Eigenschaft für ein »Verfalls-Symptom« (VI: 68). Immerhin: Wenn Nietzsche in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde die mit dem Namen Sokrates assoziierbare erste Stufe der Verfallsgeschichte der Vernunftmetaphysik mit den Worten charakterisiert: »Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, er lebt in ihr, e r i s t s i e « (VI: 80),

lässt sich zumindest vermuten, dass er hier in kritischer Absicht auf Selbststilisierungen abstellt, die Sokrates (respektive Platon) eigentümlich waren und die des zu fordernden psychologisch subtilen Blicks auf das Andere der Vernunft des vermeintlich ›Guten‹ ebenso entraten wie der Voraussetzung des Zugriffs auf eine Rehabilitation des ›Bösen‹ respektive auf die ›andere‹ Welt des Wissens. Etwas fruchtbarer in Richtung der von mir beabsichtigten Gegenprobe sind die Ausführungen Nietzsches zur dritten Stufe. Sie ist nach Nietzsches Auffassung gekennzeichnet durch das Diktum: »Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.« (VI: 81)

Diese Umschreibungen spielen deutlich auf die kritische Philosophie Kants an. Die letzten drei Attribute der im Klammerausdruck nachgereichten Erläuterung bringen denn auch Kant, zumal als psychologischen Typus, ins Spiel: »bleich, nordisch, königsbergisch« (VI: 81). Gewiss: Auf den ersten Blick besagen diese Attribute für sich noch nicht viel. Bezieht man sie aber auf Zarathustras Wort, wonach die Weisheit ein Weib sei und immer nur einen – mutigen, unbeküm157 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

VII · Nietzsches andere Vernunft und Welt

merten, spöttischen und gewalttätigen – »Kriegsmann« (IV: 49) liebe, entfalten sie eine eigentümliche Kontrastwirkung. Kant nämlich, so könnte man schließen, verfügte nach Nietzsches Auffassung als (psychologischer) Typus nur über unzureichende Apriori, um den Verfall seiner Konzeption der ›wahren‹ Welt aufzuhalten und sich den Zutritt in jene ›andere‹ Welt zu verschaffen, der sich Nietzsche nur – wie wir gesehen haben – mittels Kolumbusmentalität zu nähern wusste. Wichtiger aber vielleicht noch als derartige typologische Erwägungen ist das zentrale theoretische Motiv in Nietzsches Bemühen, Kants »Behauptungen« auf »de[n] Behauptenden« (X: 262) zurückzuführen. Nietzsche nämlich, so könnte man dann sagen, exekutierte an Kant exemplarisch ein bedeutendes Teilstück seiner – uns noch gesondert interessierenden (vgl. Kap. VIII) – »P s y c h o l o g i e d e r P h i l o s o p h e n « (XIII: 285). Ein derartiges Projekt, das in der Hauptsache getragen wird von Nietzsches Annahme, dass »das meiste bewusste Denken eines Philosophen […] durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen« (V: 17) werde, ist zu sehen als zentraler Teil eines weitausgreifenden, aber nicht mehr zur gänzlichen Ausführung gebrachten Spätprogramms, das Nietzsche unter dem Titel einer Etablierung der Psychologie als »Herrin der Wissenschaften« (V: 39) ankündigt, damit sein frühes Interesse an Inthronisation der »Göttin Philosophie« (2: 329) durchkreuzend. Wir haben im vorhergehenden Abschnitt ja bereits einige eher gegenstandstheoretische und methodologische Aspekte dieses Programms angesprochen. Es gehört dem auf eine ›Psychologie der Philosophen‹ zulaufenden Programmpunkt zu, wenn Nietzsche den »Aberglauben der Logiker« (V: 30) abhandelt und in diesem Zusammenhang das »alte berühmte ›Ich‹« zur »Annahme« (V: 31) erklärt. Die Folgerung Nietzsches ist kühn und hat namentlich die Gemüter derer beschäftigt, die zumal in neuerer Zeit über die Herkunft des seit Freud in der Psychoanalyse üblichen Ausdruck des Es stritten: Das »ehrliche alte Ich« hat sich zu einem »kleinen ›es‹« (V: 31) verflüchtigt. Entsprechend auch, so darf man Nietzsche verstehen, verflüchtigen sich bei näherem Hinsehen die aus der vermeintlichen Gewissheit über ein verfügungsfähiges Philosophen-Ich aufgestellten philosophischen respektive metaphysischen Positionen. Dieses (wissenschafts-)psychologische Interesse dominiert auch die Götzen-Dämmerung, also das Werk, das dem uns hier in besonderer Weise interessierenden Text den unmittelbaren Kontext verleiht. »Götzen aushorchen« auf das hin, was ihren »geblähten Einge158 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Die andere Vernunft in Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde

weiden« (VI: 57) an Substantiellem zu entnehmen ist, so Nietzsche im Vorwort dieser Schrift, sei ein »Entzücken […] für mich alten Psychologen.« (VI: 58) Diesem Entzücken gibt Nietzsche auch unter dem Abschnittstitel Die »Vernunft« in der Philosophie Raum. Hier nämlich untersucht er »Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben« (VI: 74). Der Hauptertrag dieser Untersuchung sei nicht vorenthalten: »Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie; wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Ve r n u n f t , zum Bewusstsein bringen: Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an’s ›Ich‹« (VI: 77)

– und das glaubt letzten Endes auch an Gott: »Ich fürchte«, so Nietzsche nur eine Seite später, »wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben …« (VI: 78) Vor diesem Hintergrund macht das offenkundige Losgekommensein Zarathustras von Gott ebenso hellhörig wie seine Worte: »›Ich‹ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.« (IV: 39)

Zarathustra bezeugt hiermit nämlich, so könnte man sagen, dass er als ›Psychologe der Guten‹ und ›Freund der Bösen‹ nicht die ›rudimentärste Form von Psychologie‹ vertritt, sondern die elaborierteste. Denn er jedenfalls sieht nicht mehr nur ›Täter‹ und ›Tun‹ und ›Wille‹ und ›Ich‹, sondern er sieht allererst die ›kleinen Leute‹, die sich ›heerdenmäßig‹ der Obhut christlicher Priester und dem ›höchsten Ratschluss‹ Gottes anvertrauen und sich ansonsten über ihre tatsächlichen Handlungsimpulse Selbsttäuschungen hingeben. Diese Problemsicht Zarathustras geht auf theoretische Entlegitimierung der ›wahren Welt‹ (mithilfe der »Gott-ist-tot«-Formel); und sie geht auf psychologische Demaskierung sowie pädagogische Abschaffung der ›scheinbaren Welt‹ (der ›kleinen Leute‹). Insoweit wäre Zarathustra tatsächlich nicht (nur) Vollender der sechsten Stufe des Niedergangs der Vernunftmetaphysik, sondern er wäre (auch) Vorbereiter der siebten Stufe, auf der ein nicht sprachmetaphysisch unterlegter Vernunftgebrauch freisetzbar wird, von dem ausgehend sich über die Abgeschafftheit der ›wahren‹ und der ›scheinbaren‹ Welt in Ruhe urteilen lässt, weil nun jene ›andere‹ Welt zu Gebote steht. 159 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Kapitel VIII

Nietzsches psychologische Philosophenkunde

Als ich vor nun genau zehn Jahren das Lexem Psychologie der Philosophen im Nietzsche-Lexikon platzierte, war zumindest beim Rezensenten Paul van Tongeren (2011) die Aufregung erheblich. Er monierte den Umfang des Eintrags, auch den Umstand, dass sich der Herausgeber für seine Artikel den meisten Platz gewähre usw. – mitteilenswert? Ich meine: Nein! – aber immerhin doch aufschlussreich und als Affekt hoch- oder besser runterrechenbar bis zurück auf Nietzsche und die Aufregung, die er wegen der Gedanken, die jenes Lexem zu erläutern trachtete, ertragen musste. Zu denken ist etwa an Nietzsches vormals besten Freund Erwin Rohde, der nach knapper Lektüre des ihm von Nietzsche dedizierten Buches Jenseits von Gut und Böse – dass Nietzsches ›Philosophie des Psychologen‹ enthielt – gegenüber Nietzsches Freund und vormaligen Basler Kollegen Franz Overbeck, ihn gemahne das Ganze an »Diskurse eines Übersättigten nach dem Essen, durch die Weinanregung hier und da gehoben, aber voll einer widerlichen Verekelung an allem und jedem.« (zit. n. Patzer 1990: 108) Versuchen wir deswegen eine vorsichtige Annäherung an das Problem, auf dass Nietzsche mit seiner – wie wir hier sein Anliegen übersetzen wollen – psychologischen Philosophenkunde aufmerksam machen wollte. Impulsgebend scheint offenbar Nietzsches große Liebe Lou v. Salomé gewesen zu sein. Nietzsche jedenfalls begrüßte in einem Brief vom September 1882 ihren »Gedanken einer Reduktion der philosophischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber« als einen »Gedanken aus dem ›Geschwistergehirn.‹« (6: 259) Die so Angeschriebene zitierte denn auch in ihrer Abhandlung Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) das, was sie offenbar für Nietzsches Geschwistergedanken hielt, nämlich den Satz aus Jenseits von Gut und Böse:

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VIII · Nietzsches psychologische Philosophenkunde

»Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntniss ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires.« (VI: 19)

Und sie zögerte auch nicht, der Druckfassung ihrer Abhandlung, die sie Nietzsche in Auszügen schon im Oktober 1882 vorgelesen hatte, den Nietzsche-Brief vom September 1882 in faksimilierter Form und gleichsam als Vorwort-Ersatz voranzustellen. Damit gab sie das Signal dafür, dass Nietzsches ›Psychologie der Philosophen‹ auch auf ihn selbst Anwendung erfahren könne. Tatsächlich aber ging es Nietzsche um etwas mehr als nur, wie offenbar Lou v. Salomé vermutete, darum, »den Denker durch den Menschen zu erläutern.« (Andreas-Salomé o. J.: 11). Es ging ihm um ein nicht mehr zur gänzlichen Ausführung gebrachtes Spätprogramm, dessen Absicht auf Etablierung der Psychologie als »Herrin der Wissenschaften« (V: 39) ging. Damit wollte Nietzsche sein oben (vgl. Kap. VII/3) bereits angesprochenes, aus früher, philologiekritischer Phase herrührendes Interesse an Inthronisation der »Göttin Philosophie« (2: 329) durchkreuzen und durch das an Entmachtung der »Göttin ›Vernunft‹« (XI: 641) ersetzen. Die Hauptkonturen dieses Projekts hatte Nietzsche bereits in Jenseits von Gut und Böse aber auch im Vorwort zur 1887 erschienenen Neuausgabe von Die fröhliche Wissenschaft dargelegt. »Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältniss von Gesundheit und Philosophie« (III: 347), heißt es hier, fast drohend und im Vorgriff auf die Bemerkung aus Ecce homo: »Wer war überhaupt vor mir unter den Philosophen Psycholog und nicht vielmehr dessen Gegensatz ›höherer Schwindler‹, ›Idealist‹ ? Es gab vor mir noch gar keine Psychologie.« (VI: 371)

Wohin Nietzsche diese philosophiekritische Neuauslegung seiner Psychologenrolle führen sollte, zeigt jenes erwähnte Vorwort von 1886, aber auch seine Liste aus Jenseits von und Gut und Böse, bezogen auf die psychologischen Probleme praktischer Philosophen: »Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andere Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen, mit anderen will er sich an’s Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Lau-

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ne ausüben (…) – kurz: die Moralen sind auch nur eine Z e i c h e n s p r a c h e d e r A f f e k t e .« (V: 107)

Der eigentliche »Vater der Philosophie« sei also nicht, so Nietzsches weiter, der allerorten vorgeschützte »›Trieb zur Erkenntniss‹«, sondern »jeder Trieb« sei »herrschsüchtig: und als s o l c h e r versucht er zu philosophiren.« (V: 20) Dass das Kognitive bei der Weltauslegung nicht ohne weiteres die Oberhand gewinnt, hatte Nietzsche schon Jahre vorher geahnt: »Unser Wissen ist die abgeschwächteste Form des Trieblebens; deshalb gegen die starken Triebe so ohnmächtig.« (IX: 210) In dieser Logik, der einfügbar war, die Worte als »C l a v i a t u r der Triebe« und die Gedanken als »Akkorde darauf« (IX: 266) zu lesen, schien es konsequent, ganze Wissenssysteme ihrerseits als mühsam dem Triebgeschehen abgewonnene Interpretamente auszulegen. »Vielleicht«, so Nietzsche zunächst noch mit einiger Vorsicht, »ist die ganze Moral eine A u s d e u t u n g physischer Triebe.« (IX: 195) Dem folgte dann die Pointe: »Ehemals fragte man: ist der Gedanke wahr? Jetzt: wie sind wir auf ihn gekommen? Welches war seine treibende Kraft?« (IX: 232) 1883 folgte dem der entscheidende Satz: »Der Philosoph ist nur eine Art Gelegenheit und Ermöglichung dafür, daß der Trieb einmal zum Reden kommt.« (X: 262) Die Folgerung namentlich des späten Nietzsche war kühn und hat vor allem die Gemüter derer beschäftigt, die, zumal in neuerer Zeit, über die Herkunft des seit Freud in der Psychoanalyse üblichen Ausdrucks des Es stritten: Das »ehrliche alte Ich« hat sich zu einem »kleinen ›es‹« (V: 31) verflüchtigt. Entsprechend auch, so darf man Nietzsche verstehen, verflüchtigen sich bei näherem Hinsehen die aus der vermeintlichen Gewissheit über ein verfügungsfähiges Philosophen-Ich aufgestellten philosophischen respektive metaphysischen Positionen. Hinter der Annahme beispielsweise, »dass das Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte« und »der Schein weniger werth als die ›Wahrheit‹« (V: 17), verbirgt sich, so Nietzsche, das Interesse an »Erhaltung von Wesen, wie wir sind« (V: 18) – eine modernisierte Variante der antiken Setzung des Menschen als des ›Maßes der Dinge‹, wie Nietzsche hinzuzufügen nicht unterlässt. Nicht also, dass es Nietzsche hier, im Vorgriff auf postmoderne oder ästhetisierende Positionen, um das Lob des Unbestimmten und des Scheins zu tun war, ist der eigentliche Clou dieser hier angedeuteten, psychologisch aufgeklärten neuen philosophischen Logik. Viel 162 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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eher schon handelt es sich darum, dass Nietzsche einer Weltauffassung vorzuarbeiten sucht, die einen von jeder Anthropozentriertheit unbefangenen Zugriff auf die philosophischen Grundprobleme ermöglicht. Und dazu bedurfte es eines Vernunftbegriffs, der sich frei weiß vom Interesse der Adelung der Selbstauslegung der Philosophenzunft als einer Gattung, deren höchste Werte im asketischen Ideal kulminieren. Von hier ausgehend ist es beispielsweise nur Vordergrund, wenn wir in Ecce homo lesen: »Ich habe keinen Wunsch gehabt. Jemand, der nach seinem vierundvierzigsten Jahre sagen kann, dass er sich nie um Ehren, um Weiber, um Geld bemüht hat!« (VI: 295)

Der Hintergrund zu dieser offiziösen Lektion findet sich erst dort, wo Nietzsche sich allein weiß: im Nachlass aus dieser Zeit: »Die Antinomie meiner Existenz liegt darin, daß alles das, was ich als radikaler Philosoph radicaliter nöthig habe – Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat, Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß – ich als ebenso viel Entbehrung empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und kein bloßer Abstraktions-Apparat bin.« (XII: 197)

Im Sommer/Herbst 1884 hatte Nietzsche, auf Hölderlin und Leopardi anspielend, dies noch etwas deftiger ausgedrückt: »Irgend Etwas muß derb und grob sein am Menschen: sonst geht er auf eine lächerliche Weise zu Grunde vor lauter Widersprüchen mit den einfachsten Thatsachen: z. B. mit der Thatsache, daß ein Mann von Zeit zu Zeit ein Weib nöthig hat.« (XI: 257)

Nietzsches Anliegen war es also nicht, das Andere der Vernunft auch des Philosophen zu leugnen, nur um die Größe des Werkes unbeschädigt zu lassen. Diesen Gesichtspunkt vertiefte Nietzsche in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral. Nietzsche fragt hier nach Bedeutung und Stellenwert des asketischen Ideals, dem sowohl Philosophen als auch Theologen Tribut zollen. Die »Philosophen-Gereiztheit und -Rancune gegen die Sinnlichkeit« sowie die »Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal« scheint ihm dabei bedingt zu sein durch den Umstand, dass nur diese Einstellungen das »Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit« (V: 350 f.) gewährleisten. Im Rücken dieser Philosophen-Rationalität tut sich dann aller163 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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dings das ›Andere der Vernunft‹ auf: Nietzsche identifiziert hier »la bête philosophe«, also eine im Philosophen sich entäußernde Unterform der ›Bestie Mensch‹, die bei ihrer Art des Kampfes ums Dasein im Reich der Philosophie über das Ziel hinausschießt »und mit einer Feinheit der Witterung, die ›höher ist als alle Vernunft‹, alle Art Störenfriede und Hindernisse« (V: 350) beseitigt. Der Effekt dessen ist für Nietzsche eindeutig negativ: »Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Rancune; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes; bescheidene und unterthänige Eingeweide, fleissig wie Mühlwerke, aber fern; das Herz fremd, jenseits, zukünftig, posthum.« (V: 352)

Diese Metaphorik, in der sich ein zweifelndes Porträt der freiwilligunfreiwilligen asketischen Existenzweise Nietzsches mit bitteren Reminiszenzen an seine Zeit als Philologe mischt, steht für die dunkle Seite von Philosophie als Lebensform. Auf dieser Seite begegnet uns der Philosoph als jemand, der des asketischen Ideals im Interesse seiner Arbeitsbedingungen bedürftig ist, zugleich aber doch auch dieses Ideal immer wieder missbraucht, und sei es qua Ruhigstellen dessen, was nach Ausdruck und Berücksichtigung verlangt: die Seinsverfasstheit des Menschen etwa oder auch nur der Einspruch von Kollegen. Dabei allerdings übersah Nietzsche nicht, dass er damit doch nur geredet hatte von einem »Nothstand von Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt bestand und entstand« (V: 360), nicht aber von Faktoren, die der »Freiheit des Willens« (V: 361) auch auf Seiten des Philosophen ihr Recht einräumen. Wichtiger als dieser in weiten Teilen wissenschaftspsychologische Befund ist der die Anfangssätze dieser Abhandlung paraphrasierende Schlusssatz: »lieber will noch der Mensch d a s N i c h t s wollen als n i c h t wollen …« (V: 412) Denn zum einen ist dies Nietzsches sarkastische Antwort auf die Frage, warum sich das asketische Ideal bei der ihm innewohnenden Fragwürdigkeit überhaupt durchsetzen konnte. Zum anderen aber kann Nietzsche nun auch jene Philosophien oder Weltanschauungen, denen inhärent ist, das Nichts zu wollen, als dem asketischen Ideal zuarbeitende Ideologien entlarven und psychologisch auf die dabei herrschenden Nebengründe befragen. Dabei denkt Nietzsche vor allem an Schopenhauer, »der die Geschlechtlichkeit in der That als persönlichen Feind behandelt hat«, und der am Ende diese Art des Nichts oder der Askese geradezu exis164 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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tentiell benötigte, weil er krank geworden wäre »ohne seine Feinde, ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen Willen zum Dasein.« (V: 349) Auf eine neue Betrachtungsebene führt Nietzsche in diesem Zusammenhang der Fall Wagner. Ihn liest er nun in dieser seiner späten Perspektive als Exempel für den Missbrauch, der mit Philosophie seitens der Künstler betrieben wird. Wagner nämlich habe Schopenhauer als »Schutzwehr« (V: 345) instrumentalisiert, um über die damit verfügbare ästhetische Metaphysik Rechtfertigungen zu beschaffen für das Ansehen der Musik im Bewusstsein des Publikums. Diesen Einwand bereichert Nietzsche noch, mit einem Seitenblick auf den späten Wagner, um den spöttischen Hinweis, dass Wagner ohne die Philosophie Schopenhauers nicht »den M u t h zu einem asketischen Ideal gehabt hätte.« (ebd.) Das Wort aus dem Nachlass von 1885/86: »unser Denken und Werthschätzen ist nur ein Ausdruck für dahinter waltende Begehrungen« (XII: 17), rundet diese Analyse ab, ließe sich allerdings auch dem Projekt einarbeiten, Nietzsche zu nötigen, seine eigenen ›Begehrungen‹ kritisch zu sondieren, die ihn kurz nacheinander in zunächst gänzlich unkritisch zur Herrschaft gebrachte ›Wertschätzungen‹ für Schopenhauer wie Wagner hineintrieben. Aber auch in seiner Auseinandersetzung mit anderen, ihn nicht so existentiell berührenden Figuren der Philosophie- und Geistesgeschichte entriet Nietzsche der Selbstanwendung der von ihm an andere herangetragenen, wissenschaftspsychologisch geschärften Erkenntnishaltung. So offenbart insbesondere das Beispiel der Kant-Adaptation Nietzsches die Folgen der Unterlassung einer diesbezüglichen Metareflexion. In Kant, jenem »verwachsensten Begriffs-Krüppel, den es je gegeben hat« (VI: 110), verfolgte Nietzsche eben das, was er nicht war und seinem Naturell nach auch nicht sein konnte: ein Muster an philosophischer Schulung, dem folglich, zumal es in Nietzsches Wahrnehmung doch für mehr nicht zeugte als für Verfall, der Prozess zu machen war. Auffällig ist dabei, wie sehr Nietzsche etwa in seiner Auseinandersetzung mit Kants kategorischem Imperativ die subtile Kant-Kritik seines frühen Vorbildes Schopenhauer unterschritt. Ein Stück weit mag dies daraus folgen, dass er die Sache seitdem für erledigt hielt und seine Aufgabe allein noch darin erblickte, Kants Theoreme auf biographische Verdachtsmomente hin zu befragen. Dies gilt etwa dort, wo er das, was Kant angeblich insgeheim umtrieb, mittels der Formel paraphrasiert: »›Was an mir achtbar ist, das ist, das ich ge165 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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horchen kann, – und bei euch s o l l es nicht anders stehn, als bei mir!‹« (V: 107) Man muss Kant eine entsprechende Affektlage gar nicht bestreiten, um zu erkennen, dass der Sinngehalt des kategorischen Imperativs mit dieser Variante verfehlt wird. Aber auch dort, wo Nietzsche als Variante des kategorischen Imperativs die Formel anbietet von der »›Unbedingtheit‹ des Gefühls, ›so wie ich, müssen hierin Alle urtheilen‹« (III: 562), wird er weniger von dem Interesse an Rekonstruktion des von Kant Gemeinten getrieben denn von der Neigung der Bloßstellung dessen, was sich ihm als Wirkung der Philosophie Kants offenbarte: deren Nützlichkeit »zu Gunsten der Biedermännerei und Beamten-Tugend.« (XI: 45) Ähnlich gelagerte Unbedenklichkeiten offenbart der Fall Rousseau. Denn obwohl Nietzsche Rousseau schon als Schüler las und weiterempfahl (1: 216) und im Übrigen durchaus als ›zweiter Rousseau‹ gelten darf (vgl. etwa Riehl 1901: 18), jedenfalls seiner Sozialpsychologie zufolge, ganz zu schweigen von der Empfindsamkeit seiner Lebenshaltung und der Tragik seines Lebensentwurfs, wusste sich Nietzsche mit dieser (geheimen) Übereinstimmung nie zu arrangieren. In der Summe galt ihm Rousseau nur als »Moral-Tarantel« (III: 14), die die »Lehre von der Gleichheit« (VI: 150) gepredigt habe und einem Menschenbild nachhing, das diametral jenem widersprach, dessen das auslaufende 19. Jahrhundert bedarf: »der Mensch ist l e i d e r nicht mehr böse genug« (XII: 421), notierte sich Nietzsche hierzu im Nachlass vom Herbst 1887 unter dem Stichwort Gegen Rousseau. Dies mochte konsequent argumentiert sein. Aber die hinzukommenden psychologischen Hintergründe seiner Rousseau-Verachtung offenbarte Nietzsche doch erst im Ecce homo. Voltaire, so heißt es hier, war »ein grandseigneur des Geistes: genau das, was ich auch bin« (VI: 322) – und, so darf man wohl fortsetzen: Er war das, was Rousseau nicht war. Rousseau entschwand also Nietzsches Sympathie aus ähnlichen Gründen, die Voltaire Zuwendung sicherten: weil Nietzsche sich jenem dem Habitus und Sprachduktus nach so fremd wusste wie diesem ähnlich (hinzugerechnet die Abneigung Wagners gegenüber Voltaire, die Nietzsche Anlass genug gewesen sein dürfte, Voltaire nach seinem Bruch mit Wagner besser zu finden als zuvor; vgl. Niemeyer 2012). Einigen Aufschluss über die Hintergründe des nietzscheanischen Interessiertseins an anderen erteilt auch das Beispiel Dostojewski. Auch hier liege bei ihm, so Nietzsche, ein »Instinkt der Verwandtschaft« (8: 27) vor. Dies will man gerne glauben, wenn man etwa 166 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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nur an Dostojeswkis Roman Die Dämonen denkt, der zumal in Nietzsches Nachlass von 1887/1888 deutliche Spuren hinterlassen hat (XIII: 139 ff.), die ihrerseits die frappierende Nähe der von Dostojewski wie Nietzsche erörterten Problematik unterstreichen (vgl. Lehmann 1993: 224). Kiríllows Lösung beispielsweise, infolge der ihm unglaubwürdig gewordenen Gottesvorstellung den Freitod zu wählen, um den Beweis für seine damit erlangte gottähnliche Unabhängigkeit zu erbringen, scheint deutlich das Hauptthema der Spätphilosophie Nietzsches vorwegzunehmen – mit dem Unterschied freilich, dass sich Nietzsche mit dieser Lösung keineswegs anfreunden konnte (vgl. Hillebrand 1984: 90 f.). »Niemals, niemals würde ich mich erschießen können …« (XIII: 142), erfahren wir folglich im Nachlass von einem, der längst schon beschlossen hat, dass die Vergöttlichung des Menschen die einzig akzeptable Reaktion auf den Tod Gottes sein kann. Gemünzt worden war das Nietzsche-Urteil vom ›Instinkt der Verwandtschaft‹ allerdings gar nicht auf Die Dämonen, sondern auf eine zweiteilige, unter dem Titel L’esprit Souterrain angebotene Novellensammlung, die Nietzsche, wie er Overbeck im Februar 1887 mitteilte, zufällig in einer Buchhandlung in Nizza entdeckt haben will – vergleichbar zufällig, wie er nicht vergisst hinzuzusetzen, wie er als Einundzwanzigjähriger auf Schopenhauer und als Fünfunddreißigjähriger auf Stendhal stieß. (8: 27 f.) Die hier von Nietzsche bemühte Parallele zu seinem Schopenhauer-Erlebnis weist auf eine Parallele auch der Ausgangslage hin. Denn ähnlich wie damals war Nietzsche auch nun, und dies zumal nach der enttäuschenden Zarathustra-Rezeption, geradezu süchtig nach einem bedeutenden Zeitgenossen, mit dem er sich zumindest den Grundfragen nach einig wissen konnte. Nietzsche war aber auch eines Menschen oder gar Psychologen bedürftig, der ihm einen Zugang bot zur Spiegelung der Not auch seiner höchst eigenen Existenzweise. Möglicherweise kommt dieses Motiv für Nietzsches allererste Eindrucksbildung im Fall Dostojewski sogar als das ausschlaggebende in Betracht. Denn der Erwähnung wert sind allemal die Einleitungssätze aus der Novelle, die Nietzsche vermutlich, wenn auch in einer stark gekürzten französischen Übersetzung (vgl. Miller 1978: 130 f.), in jener erwähnten Buchhandlung in Nizza im Februar 1887 in Händen gehalten haben, wenn nicht gar gelesen haben dürfte:

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»Ich bin ein kranker Mensch […]. Ich bin ein boshafter Mensch. Kein einnehmender Mensch. Ich glaube, ich bin lieber krank. Übrigens habe ich keinen blaßen Schimmer von meinem Leiden und weiß gar nicht, was bei mir nicht in Ordnung ist. Ich stehe nicht in ärztlicher Behandlung und habe mich nie behandeln lassen, obwohl ich die Medizin und die Ärzte achte. […] Ich lebe schon lange auf diese Weise, wohl an die zwanzig Jahre lang. Jetzt zähle ich bereits vierzig. Früher hatte ich ein Amt, im Augenblick aber habe ich keins mehr.« (Dostojewski o. J.: 504 f.)

Nietzsche ist zu dieser Zeit 42 Jahre alt, seit gut fünfzehn Jahren mehr oder weniger stark krank, seit fast zehn Jahren ohne Amt – Gründe genug, sich durch Dostojewski porträtiert zu wähnen. Dies könnte auch schon für Dostojewskis Roman Schuld und Sühne gelten. Denn dessen Held Raskolnikow tritt auf als ein zwar genial veranlagter, aber ungeselliger und sich über seine Kommilitonen erhebender (Ex-)Student, der seinen Zweifel, ob es Gott gäbe, bis zur letzten Konsequenz, bis zur Tötung vermeintlich lebensunwerten Lebens, steigert und in Auseinandersetzung mit denen, die ihm helfen wollen, seine Mitleidsskepsis zu kultivieren beginnt. Auch die fiktiven biographischen Details erinnern in mitunter irritierender Weise an das im Fall Nietzsche präsente Urbild: Ebenso wie Nietzsche hatte Raskolnikow einen kleinen Bruder, der mit sechs Monaten starb; ebenso wie Nietzsche sah sich Raskolnikow umsorgt von Mutter wie Schwester, die indes an seinen Handlungsmotiven weniger Anteil nehmen denn an der Frage, wie und ob es wohl gelänge, ihn zum christlichen Glauben zurückzuführen. Vor dem Hintergrund dieser vielschichtigen Problematik überrascht der auf bloße Geste beschränkte und um die Sekundärliteratur unbesorgte Kommentar Peter Sloterdijks zu Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) dahingehend, Nietzsches »Reaktion auf dieses Stück« sei »hinlänglich bekannt.« (Sloterdijk 2009: 120) 13 Weniger ›hinlänglich bekannt‹ – um diese Wendung aufzuGemeint ist dabei offenbar nur die philosophische Reaktion, denn wenige Zeilen später folgt, Nietzsche habe (in Reaktion auf diese Aufzeichnungen?) »die Metaphysik als Symptom des Leidens an der Welt und als Hilfswerk zur Weltflucht gedeutet« und die »Flucht in die entgegengesetzte Richtung« angetreten: »die Bejahung des Unbejahbaren.« (Sloterdijk 2009: 120) Dem mag schon so sein (oder auch nicht), ebenso, wie Sloterdijk weiter ausplaudert, dass der rumänische Aphoristiker Emile M. Cioran über den für diese Flucht stehenden und mithin unbejahbaren Übermenschen nur lästern konnte und ihn eine »puerile Fiktion« hieß, einen »aufgeblasenen Hausmeister, der seine Fahne aus dem Fenster hängt.« (ebd.) Indes und um diesen endlosen Text Sloterdijks an dieser Stelle mit einem Zwischenbefund zu unterbrechen: Sloter-

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nehmen – ist, dass die Rangaufstufung der Psychologie in Nietzsches Spätwerk so lange problematisch ist, solange die mit ihr mögliche Analyse des Anderen der Vernunft der Anderen nicht gebunden wird an eine Reflexion auf das Andere der Vernunft dessen, der da analytisch tätig wird. In diesem Sinne lässt sich für Nietzsche zusammenfassend nur sagen, dass er selbst jenen Einwänden nur schwer zu entziehen ist, die er gegenüber anderen erhob. Wenn er beispielsweise formuliert: »Man nehme es als symptomatisch, wenn einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindsüchtige Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das Entscheidende sahen, sehen mussten: – es waren eben Menschen in Nothlagen« (III: 585), lässt sich kaum die Frage vermeiden, ob nicht auch Nietzsche aus einer ihn höchst existentiell berührenden ›Notlage‹ heraus philosophierte. Das Dilemma, in das Nietzsche damit gerät, zeigt schon der weitere Fortgang seines Arguments. Nietzsche nämlich deklariert auch die seiner Meinung nach neuesten Vertreter der spinozistischen Selbsterhaltungsphilosophie, die darwinistisch orientierten Naturforscher, zu Spezies dieser ›Menschen in Notlagen‹ : »ihre Vorfahren waren arme und geringe Leute, welche die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nähe kannten« und denen insoweit, so soll der Leser folgern, die Losung vom ›Kampf ums Dasein‹ zu einer ganz natürlichen Formel geriet, dabei den für Nietzsche sehr viel gewichtigeren Satz außer Acht lassend, wonach der Kampf sich weniger ums Dasein denn »allenthalben um’s Uebergewicht [dreht], um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.« (III: 585 f.) Tatsächlich aber lässt sich auch die von Nietzsche bevorzugte Formel ›Wille zur dijk sagt nicht wirklich, was von Ciorans Urteilen über Nietzsche zu halten und was an ihnen wichtig ist bezogen auf die Ausgangsfrage, Nietzsches Dostojewski-Entdeckung. Mehr als dies: Trotz seiner großen Geste (»hinlänglich bekannt«) erfährt der Leser Sloterdijks genau genommen nichts über die Details dieser Entdeckung, zumal nichts über die psychologische Reaktion Nietzsches auf Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, und zwar ungeachtet des hierzu längst schon Vorliegenden: das hier im Fließtext Präsentierte ist nur neu aufbereitet, nicht aber wirklich neu (vgl. Niemeyer 1998: 307 ff.), hätte also auch schon Sloterdijk zur Verfügung stehen können. Sichern wir also den Zwischenbefund: Sloterdijk ersetzt, jedenfalls in diesem Fall, aber als Arbeitshypothese wohl nicht ganz an der Sache vorbeigehend, das Interesse an Details – dies erst macht Nietzscheforschung aus – durch die große Geste, für die das Desinteresse an psychologisch aufzuklärenden Zusammenhängen typisch ist, und dies in Korrespondenz zum anti-biografischen Apriori der neueren Nietzscheforschung.

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Macht‹ ohne weiteres unter Beiziehung seiner eigenen, psychologischen wie milieuorientierten Problematik mittels jenes Denkansatzes entkräften, den Nietzsche gegenüber Spinoza ebenso wie gegenüber den Darwinisten in Anwendung brachte. Ähnliches ließe sich für Nietzsches in Jenseits von Gut und Böse vorgelegte Annahme zeigen, wonach es Moralen gäbe, mithilfe deren Urheber »an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben.« (V: 107) Denn ohne weitere Zusatzannahme ist der Eindruck kaum vermeidbar, Nietzsche spräche hier von sich und der Motivstruktur, die ihm Anlass wurde, als Menschersatz den Übermenschen zu konzipieren. So wusste Paul Federn schon 1908 in Freuds Psychologischer Mittwoch-Gesellschaft vorzutragen, Nietzsches »Philosophie sei die Kontrastbildung gegen seine eigene Existenz« (zit. n. Nunberg/Federn 1976: 337). In dieser Logik geriet Nietzsches Übermensch sehr schnell zum »Wunschtraum einer kranken Seele« (Carrière 1949/50: 127) respektive zur »gedanklichen Schutzreaktion einer verwundeten Seele« (Türcke 1989: 170) respektive zum »narzißtischen Wunschtraum« (Kjaer 1990: 103). Dem entspricht auch die Lesart Klaus Gochs: Ihm gerann der Zarathustra als »groß angelegte Macht- und Männerphantasie« zu einem »Akt der Befreiung im schönen Schein der Kunst: Das schwache, durch alles Weibliche verstörte und darum angstvolle Ich rettet sich mit der Zarathustra-Figur in die Zwangspose männlicher Omnipotenz« (Goch 1992: 219). Es war zwar Nietzsche selbst – und nicht etwa Freud – gewesen, der den von den hier angeführten Autoren durchweg in Anwendung gebrachten Mechanismus der Idealisierung des Gegenteils als erster beschrieben hatte. (vgl. Niemeyer 1998: 276 ff.) Bei Nietzsche findet sich auch das wohl treffendste Porträt der sich dieses Mechanismus bedienenden Menschen: »Es ist ihr Höhepunkt: sie r u h e n dann ü b e r ihrem Wehe, mit einem verächtlichen Blick nach unten.« (IX: 195)

Aber zugleich hätte Nietzsche sein Mutmaßen wohl nur in seltenen Fällen dunkler Ahnungen darauf erstreckt, man könne dereinst sein eigenes philosophisches Wollen mit diesen von ihm vorbereiteten psychologischen Waffen derart unvermittelt zu entkraften sich bemühen. Im Übrigen hätte er darauf beharrt, dass man erst den Beweis anzutreten hat für eine tragfähige Werkinterpretation, bevor man sich an so komplizierte Dinge wie an jene psychologischen Hintergründe wagt. Und doch scheint damit das Missbrauchspotential, das 170 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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seinem eigenen Projekt einer ›Psychologie der Philosophen‹ innewohnt, auf nur sehr vordergründige Weise bewältigt zu sein. Insoweit hätte es in Nietzsches ureigenem Interesse liegen müssen, seinem Projekt Grenzen zu ziehen, wenn sich denn eine Diskussion über Sinn und Zweck des Übermenschen-Konstrukts nicht in den unwegsamen Niederungen der psychologistischen Reflexion über die verborgene Motivlage des Konstruktproponenten verlaufen soll. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus auffällig, wie sehr Nietzsches Spätwerk zumindest der Präsentation nach den Eindruck erweckt, als sei die einzig triftige philosophische Position nun allein jene, die wie die seine unter Anerkennung der Herrschaft der Psychologie und im Interesse des Vermeidens der mit ihr zu entlarvenden unerkannten Nebenabsichten allen Theoretisierens und Kulturschöpfens entworfen werde und die mithin nicht eines fernen Tages gleichfalls der psychologischen Sezession unterworfen werden könne. So gesehen gewinnt auch die einleitend dieses Buches schon aufgerufene Selbstetikettierung Nietzsches als »Dynamit« (8: 492) respektive als eines Denkers, »der die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet« (6: 485), eine gesonderte Bedeutung. Pate stand bei diesem Selbsturteil offenbar Ralph Waldo Emersons von Nietzsche schon 1874 mit deutlichem Wohlbehagen zitiertes Wort, wonach alles in Gefahr sei und in der Wissenschaft eine gänzlich »Umdrehung« einsetzen könne, »wenn der grosse Gott einen Denker auf unsern Planeten kommen lässt.« (I: 426) Nietzsche hat dieses Wort damals schon klammheimlich und nach dem Zarathustra durchaus lautstark auf sich selbst bezogen und suchte damit seine Auffassung zu untermauern, dass er mit diesem Werk die christliche von der nachchristlichen Zeitrechnung abgespalten habe. Wenn man aber Nietzsches Psychologie zur Grundlage nimmt, steht dieses Wort möglicherweise auch für ein gleichsam inoffizielles Selbstverständnis Nietzsches als desjenigen, von dem die Scheidung einer vorpsychologischen von einer psychologischen Welt- und Philosophieauslegung, begrifflich gesprochen: die Scheidung einer ›Philosophie der Vergangenheit‹ von einer ›Philosophie der Zukunft‹, ihren Ausgang nahm. War aber nicht dann der von Nietzsche an sich nur Zarathustra zugedachte Rang als »jener prädestinirte Mensch, der die Werthe für Jahrtausende bestimmt« (XI: 541), in Wahrheit einer, den er sich selbst zurechnete, und zwar weil er sich selbst für einen großen Psychologen hielt? Etwas anders gefragt: War Nietzsche im Zuge der Selbstanwendung seiner ›Psychologie der Philoso171 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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phen‹ klammheimlich zu dem Ergebnis gekommen, dass ihm die christliche Ordnung der Dinge nur deshalb in unwiderlegbarer Weise hatte unglaubwürdig werden können, weil er der erste war, der sein eigenes Wollen als Philosoph beharrlich auf das üblicherweise verborgen gehaltene psychologische Regime befragt hatte? Ein Stück weit jedenfalls will einem dies so scheinen, wenn man Nietzsche recht unverstellt davon reden hört, dass er in seinem Erkenntnisstreben weniger der Tugend der Redlichkeit denn der Untugend der Grausamkeit gehorche, insofern »jedes Tief- und Gründlich-Nehmen« eine »Vergewaltigung« sei, »ein Wehe-tun-wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig zum Scheine und zu den Oberflächen hin will.« (V: 167) Denn dass Nietzsche seinen Vorgängern und Kollegen eben jene psychologische Bereitschaft oder auch nur kognitive Fähigkeit zur Tiefe und mithin zu einer »g e g e n s i c h s e l b s t gewendeten Grausamkeit« (V: 166) nahezu durchgängig nicht zusprach, steht außer Frage und mithin auch: dass er offenbar meinte, hier ersatzweise tätig werden zu müssen. Hat Nietzsche also eigentlich nur Nietzsche ernstgenommen? Diese Fragen lassen es an sich ratsam erscheinen, jenes Reflektieren über die »Reduktion der philosophischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber« einzustellen, das über die eingangs angedeutete, theoriebiographische Nutzanwendung Lou Andreas-Salomés hinausgeht. Dies scheint auch Jürgen Habermas zu meinen, wenn er am Ende seiner frühen Auseinandersetzung mit Nietzsche zu dem Schluss kommt, »daß Selbstreflexion der Wissenschaften nur zur Psychologisierung von Verhältnissen führt, die als logische und methodologische Verhältnisse mit empirischen Beziehungen nicht auf eine Ebene gestellt werden dürfen.« (Habermas 1973: 364) Gänzlich fahrlässig schiene jedenfalls die Forderung, die Philosophie habe, allerdings ohne dabei zur Wissenschaft zu verkommen, eine auch im psychologischen Sinne kritisch gesicherte und kleinteilig erarbeitete Erfahrung in den Rang einer condito sine qua non ihrer Daten- und Theorieorganisation zu erheben. Wenn dieses Problem gleichwohl noch eines ernsteren Bedenkens bedarf und wenn Nietzsche mithin beharrlicher an seinem Projekt der psychologischen Dekonstruktion von Philosophen und Philosophien arbeitete, als dies vielleicht bisher deutlich wurde, hat dies Gründe, die weit über das in diesem Kapitel Erzählte hinausgehen. Deswegen wollen wir uns hier mit dem Befund begnügen, dass Nietzsche wohl der erste und bisher einzige Philosoph war, der den Mut hatte, seine Zunft mit Fragen wie den hier aufgeworfenen zu 172 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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behelligen. Paul van Tongerens eingangs refereriertes Erstaunen über den Umfang des Lexem Psychologie der Philosophen im NietzscheLexikon bestätigt, vermutlich wider Willen, diesen Befund.

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Kapitel IX

Nietzsches »neue« Aufklärung à la Voltaire

Der Streit um die Frage, ob Nietzsche nun als Aufklärer gelten darf oder als Gegenaufklärer gelten muss, nimmt sich stellenweise recht wüst aus – bis hin zu Reinhard Brandts Urteil, Nietzsche sinke »weit unter das humanitäre und intellektuelle Niveau der großen Denker des 18. Jahrhunderts zurück«, er habe die Aufklärung »nicht vorsichtig fortgeführt, sondern bedenkenlos vertan.« (Brandt 2005: 112) Versuchen wir deswegen einen Beitrag zur Beruhigung der Gemüter: Dargetan werden soll, dass Nietzsche irgendwo zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung sich platziert sah, aber schließlich für sich einen Ausweg fand in Richtung dessen, was er selbst als »neue Aufklärung« bezeichnete. Nietzsche, so die Ausgangsthese dieses insoweit als Selbsterziehungsprojekt verstandenen Vorgangs, hat sich von einem Kritiker der (wissensbasierten) Aufklärung – resultierend aus der am Beispiel Richard Wagner geschulten Perspektive der Verherrlichung von Kunst und Intuition – zu einem Aufklärer entwickelt, mehr als dies und konkreter: Er hat sich von einem Verächter der (französischen) Aufklärung (und Revolution) unter den Vorzeichen der gleichfalls von Wagner entlehnten (völkischen) Kritik an »einer gänzlich ungermanischen, ä c h t r o m a n i s c h flachen Philosophie« (VII: 346) zu einem engagierten Verfechter und Erneuerer derselben (als »neue Aufklärung«) gewandelt. Dieser Paradigmenwechsel ist bemerkenswert und will auf seine Gründe hin genau bedacht sein. Noch in seiner Antrittsvorlesung vom Mai 1869 redete Nietzsche einer Art Dialektik der Aufklärung das Wort, etwa am Beispiel des »modernen Menschen«, der wegen des wissenschaftlichen Fortschritts im Begriff stünde, »in glücklicher Bewunderung vor sich selbst« niederzufallen, wenngleich er auf das über seinem Haupt schwebende »Schwert des Barbarenthums« (BAW 5: 286 f.) hingewiesen werden müsse. In Begriffen des ›Erstlings‹ Die Geburt der Tragödie (= GT) gesprochen: Auf der dunklen Seite des »über dem 174 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Eingangsthor der Wissenschaft« (I: 99) prangenden mutigen Bekenntnisses des Sokrates zu wissen, »n i c h t s z u w i s s e n «, sei die Verurteilung von (bestehender) Kunst wie Ethik zu notieren unter dem Vorhalt »Mangel der Einsicht« bzw. »Macht des Wahns.« (I: 89) Sokrates geriet in dieser Lesart zum Vorläufer des Strebens nach verwissenschaftlichter Kultur, Kunst und Moral und mithin zum Urheber einer Epoche wie jener Nietzsches, die die bloße Vernunft zur Herrschaft zu bringen suche, keine Mythen mehr kenne und sich insgesamt als misslungenes Unterfangen lesen lasse, das Dasein »als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen.« (I: 99) Vergleichbar kritisch sah Nietzsche den durch diese Entwicklung geförderten und geforderten Menschentyp, den »sokratischen« oder »theoretischen« Menschen, der »an eine Correktur der Welt durch das Wissen, an ein durch Wissenschaft geleitetes Leben« (I: 115) glaube und den »Gebildete[n] allein in der Form des Gelehrten« (I: 116) gelten lasse. Denn was daraus dann beispielsweise resultiere, so Nietzsches Bedenken, sei eine Dichtkunst, die »aus gelehrten Imitationen« (ebd.) schöpfe, sowie zur Seite der Rezeption hin: eine Kunstnutzung, die nach »D e k o r a t i o n d e s L e b e n s « (I: 333) begehre und den »›Kritiker‹ ohne Lust und Kraft« (I: 120) bevorzuge, kurz: den Epigonen. Vor diesem Hintergrund scheint der pathetische (gegenaufklärerische) Bannspruch folgerichtig, der da lautet: »Ueberstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tödtet nur deine eigene. Miss nur einmal deine Höhe als Wissender an deiner Tiefe als Könnender.« (I: 313)

Korsettiert wird das Ganze durch den in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (= WL) angestimmten Lobgesang auf den »intuitiven Menschen«, der, anders als jener »sokratische«, »theoretische« oder – hier nun – »vernünftige Mensch« »nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt« und den Nietzsche schon im vorsokratischen Griechenland siegreich sah, mit der Folge, dass sich »eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen« (I: 889) konnte. Diesen Sieg auch für die Gegenwart vorzubereiten, war folglich das allererste Anliegen des frühen Nietzsche. Hilfreich schien ihm dabei der Slogan »vivo, ergo cogito«, den er an die Stelle der von Descartes herrührenden (Früh-) Aufklärung (»cogito, ergo sum«; I: 329) treten lassen wollte, weil ansonsten die 175 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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von Nietzsche als krankmachend dechiffrierte Übermacht historischer Bildung nicht zu überwinden sei. Im Rücken dessen entwickelte sich, als Folge einer von Nietzsche schon in Willensfreiheit und Fatum (1862) geübten Kritik an der »feigen Furchtsamkeit« zumal des Christenmenschen, »dem Geschick mit Entschiedenheit entgegenzutreten« (BAW 2: 60), eine grundlegende Erörterung der damit benannten und seit Kant (1784) geradezu klassischen Hemmnisse der (deutschen) Aufklärung, nämlich Faulheit und Feigheit, die auch noch gefördert werde durch »g e i s t i g e A u f k l ä r u n g «; sie sei »ein unfehlbares Mittel, um die Menschen unsicher, willens-schwächer, anschluss- und stützebedürftiger zu machen.« (XI: 570) Thematisch relevant ist derlei schon mit dem Auftakt von Schopenhauer als Erzieher (= SE) und dem (witzigen) Beiseitesetzen von »öffentlichen Meinungen« (als »privaten Faulheiten«) sowie der Verdammnis von »öffentlich meinende[n] Scheinmenschen« (I: 338), die, wie am Typus des Bildungsphilister zu besichtigen, »um sich herum lauter gleiche Bedürfnisse und ähnliche Ansichten« (I: 166) wahrnehmen würden (denen sie denn auch sogleich Folge leisteten). Für Nietzsche jedenfalls steht bald – etwa in unter dem Titel L’ombra di Venezia bekannt gewordenen Aufzeichnungen zur Vorbereitung von Morgenröthe – fest: »Die Verkümmerung vieler Menschen hat darin ihren Grund, daß sie immer an ihre Existenz in den Köpfen der Anderen denken, das heißt sie nehmen ihre Wirkungen ernst und nicht das, was wirkt: sich selber.« (IX: 63)

Der Imperativ »[S]ei du selbst!« (I: 338) aus SE steht hier erneut im Raum, diesmal im Nachgang zum die Besonderheit des mittleren Nietzsche kennzeichnenden Bekenntnis zu Voltaire (»einem der grössten Befreier des Geistes«) auf dem Vorblatt zur Erstausgabe von MA sowie im Nachgang zu dem nun geltenden Programmsatz: »Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen.« (II: 186)

Beides ärgerte Wagner: dieser Programmsatz, aber auch jene – ihn (gleichfalls) ins Abseits drängende – »persönliche Huldigung« Nietzsches an die Adresse Voltaires. Denn immerhin hatte er in seinen für Ludwig II. verfassten Tagebuchaufzeichnungen vom September 1865 die These verfochten, die im 18. Jh. anhebende »Neugeburt des deutschen Geistes« sei seinerzeit durch den Umstand konterkariert worden, dass »Friedrich mit Voltaire französisch philosophirte« (Strobel 176 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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1936, Bd. IV: 9) – eine Art Todsünde, die Nietzsche nun Wagners Befürchtung zufolge in etwas anderem Maßstab zu wiederholen im Begriff stand (vgl. Naegele 1995: 139 f.; Niemeyer 1998: 206). Wagners Aufregung war erheblich und veranlasste seine Frau Cosima zu dem Scherz, »dass, wenn unter allen Menschen einer, der hiermit gefeierte Voltaire die Geburt der Tragödie nicht verstanden haben würde!« (Wagner 1976, Bd. 1: 87) Einen deftigen Paradigmenwechsel also konstatierte die Dame, dies zumal im Rückblick auf Nietzsches von ihrem Gatten noch gefeierten Erstling von 1872: ein Paradigmenwechsel weg vom Wagnerianer Nietzsche hin zum Freigeist Nietzsche, der den Eindruck erweckt, er sei nun Voltairianer. Jahre später, in Ecce homo (1888), wird Nietzsche die Widmung denn auch mit den bemerkenswerten Worten begründen: »Voltaire ist, im Gegensatz zu allem, was nach ihm schrieb, ein grandseigneur des Geistes: genau das, was ich auch bin. – Der Name Voltaire auf einer Schrift von mir – das war wirklich ein Fortschritt – z u m i r …« (VI: 322)

Liest man diesen Satz seinem Subtext nach, dann lautet er: ›Der Name Wagner, noch 1871 von mir hochgehalten, war ein Rückschritt, eine Entfernung von dem, was mir eigen ist.‹ Die Folgen des nun greifenden, teils euphorischen Verständnisses von (neuer) Aufklärung mit der Setzung von »Vernunft« und »Erfahrung« als Götter, »die in u n s sind: unsere Vernunft und unsere Erfahrung« (III: 44), sind erheblich und lassen sich exemplarisch an der sich nun wandelnden Einschätzung Rousseaus studieren. Das Besondere an Rousseau ist der Umstand, dass niemand vor ihm in dieser Konsequenz die Grundlagen freizulegen versuchte, die erforderlich sind, um ein demokratieförderndes, authentisches, auch politisch folgenreiches Handeln freizusetzen in einer Epoche des dominierenden Absolutismus und der ihm erst abzuringenden Vertragsmündigkeit. Dabei ist vor allem an seine sozialphilosophische Schrift Le Contrat Social zu denken: Rousseau nahm die Menschen hier, »wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können«, und er entwickelt aus dieser Prämisse das Modell einer »bürgerlichen Ordnung«, die durch eine »rechtmäßige und sichere Regel für das Regieren« (Rousseau 1762b: 5) ausgewiesen ist. Jeder, der in der Folge den Anspruch erhob, die Impulse der Aufklärung in eine moderne Staatskonzeption zu überführen, hatte sich an dieser Schrift abzuarbeiten. Politisches Handeln, so war aus ihr zu lernen, hat auf die Sicherstel177 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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lung regelgeleiteten Handelns gemäß anerkennungsfähiger Zentralwerte zu zielen. Folgenreich wurde dieses Politikverständnis erstmals mit der Französischen Revolution, deren zentrale Motive – liberté (Freiheit), égalité (Gleichheit), fraternité (Brüderlichkeit) – man ebenso aus Le Contrat Social bezog wie das Streben nach einer gesetzmäßigen und die Willensbildung des Volkes berücksichtigenden Ordnung. Sozialpädagogische Folgen zeigte dies vor allem bei Paul Natorp, der im Contrat Social, aber auch und vor allem in Rousseaus – der Sache nach weniger der Aufklärung denn der Empfindsamkeit zuzurechnende (vgl. Niemeyer 1992: 160 ff.) – Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloise »das reine Bild des gesunden sozialen Körpers« aufgestellt sah, und zwar »als Richtmaß für soziale Arbeit« (Natorp 1917: 52). In dieser Rückerinnerung verbarg sich für Natorp auch ein Bildungsauftrag – mit der dazugehörenden Befürchtung, dass Jugend dem »Kultus des Individuums« (Natorp 1914: 29) zu frönen geneigt sein könne und sich damit dem Auftrag der Behebung des Verfalls im gesamtkulturellen Zusammenhang entzöge. Biografisch aufschlussreich für den Nachvollzug von Rousseaus spezifischer Selbstauslegung als eines Aufklärers ist jene Schlüsselszene, in der der mutterlos aufgewachsene Sechzehnjährige nach einem längeren Spaziergang die Stadttore seiner Heimatstadt Genf verschlossen fand und spontan beschloss, auf (sozialpädagogisch gesprochen) »Trebe« zu gehen. Rousseau schreibt hierzu in seiner Autobiografie Les Confessions: »Frei und Herr meiner selbst, glaubte ich alles tun, alles erreichen zu können.« (Rousseau 1782–89: 48) Paul Sakmann urteilte später: »Diese Stunde war die Geburtsstunde seines autonomen Individualismus.« (Sakmann 1923: 7) Dem korrespondiert von der Theorie her Rousseaus erster Discours, in dem wir lesen, als habe Nietzsche Rousseau die Feder geführt: »[I]mmer fordert die Höflichkeit und gebietet der Anstand, immer folgt man angenommenen Gebräuchen und niemals seinem eigenen Sinne. Man wagt sich nicht mehr zu zeigen, wie man ist, und unter diesem beständigen Zwang handeln alle Menschen, welche diese Herde, die man Gesellschaft nennt, bilden und sich in allerlei Umständen befinden, immer einförmig, wenn nicht mächtigere Beweggründe davon abhalten.« (Rousseau 1750: 35 f.)

Ähnlich negativ beurteilte Rousseau den vermeintlichen Erfolg der Wissenschaften hinsichtlich des Fortschritts der Sitten:

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»Gleich von unserer Kindheit an putzt eine unvernünftige Erziehung unseren Geist auf und verdirbt unser Urteil. Allenfalls gewahre ich riesige Anstalten, wo die Jugend mit großen Kosten erzogen wird und wo man sie alles lehrt, nur nicht über ihre Pflichten. Eure Kinder werden ihre eigene Sprache nicht kennen, doch sie werden andere sprechen, die nirgends in Gebrauch sind. Sie werden Verse machen, die sie kaum verstehen können. Sie werden die Wahrheit nicht vom Irrtum unterscheiden können und gleichwohl die Kunst besitzen, dieselben durch spitzfindige Scheingründe für andere unkenntlich zu machen.« (ebd.: 52 f.)

Dass die Impulse der Frühaufklärer – zu nennen wäre in diesem Zusammenhang vor allem René Descartes (1596–1650) – versandet waren, stand für Rousseau also außer Frage. Anstelle eines Befreiungsschlages vom überkommenen Bücherwissen mittels Rekurses auf das sich selbst denkende Ich bestand infolge des Modernwerdens des Lesens, der Salons und der Geselligkeit die Gefahr, dass sich der moderne Mensch in der Variante eines von sich selbst entfremdeten Apologeten vermeintlich aufklärerischen Halbwissens zur Herrschaft aufschwang. St. Preux, der Held von Rousseaus Briefroman Julie ou La Nouvelle-Héloise (1761), lernt denn auch, in Paris, »mit Hilfe der Philosophie alle Grundsätze der Tugend um[zu]stoßen, seine Leidenschaften und Vorteile durch spitzfindige Sophismen [zu] bemänteln und den Irrtum in neumodischer Gestalt [zu] zeigen, gemäß den Forderungen des Tages.« (Rousseau 1761: 239) Rousseaus Utopie – in diesem Roman, aber auch andernorts – ging ersatzweise in Richtung des Entwurfs einer naturbezogenen, gemeinschaftsorientierten Lebensform, in der Kultur wie Wissenschaft kaum von Belang sind und jedenfalls nicht mit dem Anspruch instrumentalisiert werden, der Sittenverbesserung hilfreich zu sein. Sie geht in Richtung jenes »Zurück zur Natur«, zum Ausdruck gelangend in der Annahme, »daß die Natur den Menschen glücklich und gut gemacht hat, daß aber die Gesellschaft ihn verdirbt und ins Elend bringt.« (Rousseau 1776: 569) Fast gleichsinnig lauten die ersten Sätze von Rousseaus Erziehungsroman Émile: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.« (Rousseau 1762: 9)

Dies war kultur- wie gesellschaftsskeptisch gemeint und bezeugte das neue Menschenbild, für das Rousseau stand. Denn für ihn war der Mensch, jedenfalls in seinem Naturzustand, gut und nicht etwa, wie insbesondere die Theologie in der Logik des Erbsündedogmas meinte, 179 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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schlecht oder jedenfalls doch gefährdet und insoweit der Rettung bedürftig. Mithin war es in Rousseaus Sicht die Pädagogik, die den Nachweis zu erbringen hatte, dass in ihren Einrichtungen, insbesondere in der Schule, eine Entartung des an sich guten Menschen nicht zu befürchten sei. Die Pädagogik, so darf man vielleicht auch sagen, musste sich erst gegen Rousseaus Kulturkritik behaupten lernen, ehe sie hoffen konnte, zur Kulturpädagogik, also zur Sachwalterin der jeweils herrschenden Kultur, zu werden. Wichtiger aber vielleicht noch: Rousseau legte mit jenem ersten Satz seines Emile eine Zurechnungsursache frei, die man bisher eher im Dunkeln gehalten hatte und die dann in der Folge überhaupt erst ein dem Kind zugewandtes, wenn nicht gar vom Kind ausgehendes Reflektieren ermöglichte. So betrachtet gab es gute, nicht nur aus Rousseaus Angehen gegen das Erbsündedogma herleitbare Gründe für Nietzsche, Rousseau zu mögen. Anfangs schätzte er ihn auch, empfahl als Sechzehnjähriger Rousseaus Émile tadelnd einem Schulkameraden, »von dem [S]ie etwas Natürlichkeit und Bildung lernen könnten, auch, daß man seine Versprechen halten müsse.« (1: 216) Auch ansonsten verbindet Nietzsche durchaus einiges mit Rousseau. Wer beispielsweise Rousseaus Les Confessions und Nietzsches Ecce homo im Vergleich liest, dürfte in mancherlei Bestürzung fallen: Ist da nicht die nämliche Empfindsamkeit zu konstatieren, die vergleichbare Verzweiflung ob einer als existentiell bedrohlich verbuchten Vereinsamung? Herrscht nicht gar eine analog paranoide Grundstimmung vor? Oder lässt es nicht an den späten Nietzsche kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch denken, wenn Nietzsche Rousseau in Der Wanderer und sein Schatten (1880) mit Vokabeln zu charakterisieren versucht wie: »das Halbverrückte, Schauspielerische, Thierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale und Sich-selbst-Berauschende« (II: 654), um Jahre später in Götzen-Dämmerung (1889) wieder mit Seitenblick auf Rousseau Vokabeln nachzutragen wie: »Idealist und canaille in Einer Person […], krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung« (VI: 150) – und damit offenbar nichts anderes im Sinn hatte als eine Kopie der Schimpftiraden seines neuen Idols, Voltaire? Unwägbarkeiten bleiben also, und selbst wenn man all dies in Abrede stellen würde – an einem kommt man nicht vorbei: an dem Umstand, dass sich Nietzsche in Morgenröthe (1881) gegen Kant und Schopenhauer notierte, beider Gedanken machten nicht, so wie etwa jene Rousseaus, »eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte aus« (III: 180 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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285). Denn Jahre später, im Februar 1888, wird sich Nietzsche im Zuge seines Einspruchs gegen eine Art Sammelrezension seiner Werke durch Carl Spitteler exakt jenem Rousseau-Typus zurechnen – und damit letztlich jede Nietzschedeutung, die diesen Aspekt unterschlägt und den insoweit notwendig engen Zusammenhang zwischen Biographie und Werk außer Betracht lässt, fragwürdig machen (vgl. Niemeyer 2011: 13). Aber mehr als dies: Nietzsche war Aufklärungs-, Kultur- wie Wissenschaftskritiker wie Rousseau, auch er übte heftigste Kritik an den »Scheinmenschen« (I: 338), die infolge ihrer Furchtsamkeit der Konvention folgten und entsprechend »heerdenmässig zu denken und zu handeln« (I: 337) gewohnt seien. In Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne heißt es gar im Kontext eines allerdings nicht wahrheitsrelativistisch zu deutenden Schriftstücks (vgl. Kap. V/1), beim Menschen sei die Verstellungskunst »so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.« (I: 876) Dies hätte auch Rousseau sagen können, nur dass Nietzsches durch derlei Beobachtungen vorangetriebene Forderung nach einem »Zurück zur Natur« eine etwas andere Gestalt gewann. Denn ihm war es nicht, wie Rousseau, um ein Leben und Aufwachsen außerhalb von Gesellschaft und außerhalb von pädagogischen Institutionen zu tun. Sondern ihm ging es zumindest in dieser frühen, noch durch die Freundschaft mit Wagner dominierten Phase seines Schaffens um den Rückgewinn einer natürlichen Wertungs- und Empfindungsweise mittels Musik sowie darum, dass Dasein und Welt nur als »ästhetisches Phänomen […] ewig gerechtfertigt« (I: 47) werden könnten. Dabei schien ihm diese ästhetische Rechtfertigung am ehesten über Wagners Musik möglich; sie jedenfalls wurde ihm Impulsgeber für »die richtige Empfindung, die Feindin aller Convention« und mithin für die »Rückkehr zur Natur« (I: 456). Diese Lösung nun, so will es allerdings scheinen, hatte nichts mehr mit Kulturkritik zu tun, im Gegenteil: Bürgerliche Hochkultur à la Wagner kam gerade in der Auslegung Nietzsches zu neuem Ansehen. Deswegen sei hier erneut betont, dass dies nur für den frühen, den von Wagner abhängigen Nietzsche gilt. Man kann dies ganz deutlich sehen an Nietzsches anlässlich der Bayreuther Festspiele im Jahre 1876 einsetzender Wagnerkritik. Nietzsche nämlich musste feststellen, dass dem dort versammelten Publikum an allem anderen 181 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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mehr gelegen war als an einem Musikempfinden, das ihm ein Gefühl des »Zurück zur Natur« vermittelte. Deswegen auch erörterte Nietzsche das Thema der Konformität des Menschen ab jetzt sehr viel grundlegender, eingelagert in eine breit angelegt Menschenkunde, über deren Motive ein Nachlassvermerk aus dem Jahre 1878 Auskunft gibt: »Mein Gemälde Wagner’s ging über ihn hinaus, ich hatte ein i d e a l e s M o n s t r u m geschildert, welches aber vielleicht im Stande ist, Künstler zu entzünden. Der wirkliche Wagner, das wirkliche Bayreuth war mir wie der schlechte allerletzte Abzug eines Kupferstichs auf geringem Papier. Mein Bedürfniß, wirkliche Menschen und deren Motive zu sehen, war durch diese beschämende Erfahrung ungemein angereizt.« (VIII: 495)

Die Parole, die Nietzsche in Sachen der nun anhebenden und bis zum Ende anhaltenden Phase ausgab, gehorcht einem nicht zufällig mit Seitenblick auf Rousseau formulierten Imperativ: »›Rückkehr zur Wissenschaft! Zur Natur und Natürlichkeit der Wissenschaft!‹« (III: 263)

Was aus diesem Imperativ im Einzelnen folgt, kann hier nur in wenigen Strichen angedeutet werden: Nietzsche stellt u. a. »die unerhörte Quacksalberei an den Pranger […], mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheit zu behandeln gewöhnt ist« (III: 56). Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch Aph. 202 und die hier angedeutete Hoffnung, dass eines Tages »Das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück […] Heilkunst und Heilwissenschaft« (III: 178) verwandelt haben möge. Diese Entwichtung der Ethik zugunsten der Medizin respektive Psychologie schien Nietzsche vor allem aufgrund des (zeitgenössischen) Umgangs mit Verbrechern ratsam – und versteht sich als Teil der in Aph. 13 erhobenen Forderung, »den Begriff der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen!« (III: 26) Mehr als dies (und mithin fast schon zum Thema der kriminologischen und sozialpädagogischen Bedeutung Nietzsches): In Aph. 133 entdeckt Nietzsche im Rücken altruistischen Hilfehandelns die dunkle Seite des Mitleids, also das Helfersyndrom und damit zugleich auch, so die Botschaft aus Aph. 97: dass die »Unterwerfung unter die Moral […] nichts Moralisches [ist].« (III: 89) Dieser Satz zielt mitten hinein in die Gottesvorstellung als Begründungsmotiv moralischen Handelns, wie Aph. 464 deutlich macht:

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»Wenn immer ein Anderer um uns ist, so ist das Beste von Muth und Güte in der Welt unmöglich gemacht. Möchte man nicht gegen diese Zudringlichkeit des Himmels, gegen diesen unvermeidlichen übernatürlichen Nachbar ganz des Teufels werden!« (III: 279)

Gott wird hier nicht expressis verbis genannt. Aber er spielt eine Rolle als Kontrollorgan – und gegen ihn steht Nietzsche, der sich in jenen ›Teufel‹ verwandeln, sich dieser ›Zudringlichkeit des Himmels‹ erwehren und im Zarathustra den Tod Gottes erklären wird, um den Ausblick auf eine Tugendlehre ohne Gott freizulegen. Rousseau spielte in und ab dieser Phase keine Rolle mehr – jedenfalls nicht als irgendwie bestimmbare positive Figur. Dies war, wie gesehen, 1862 noch anders gewesen – was zugleich meint: So zu reden wie ein Lehrer oder Pastor, entsprach nicht mehr dem Freigeist Nietzsche, der um 1878 anhebt, sich Voltaire als neues Idol erwählt und dem Rousseau von nun an nichts weiter ist als ein »Moral-Fanatiker« (XII: 340) oder eine »Moral-Tarantel«, die vom »moralischen Fanatismus« (III: 14) umgetrieben werde. Folgerichtig ist, dass Nietzsche Rousseau 1880 in Der Wanderer und sein Schatten als Teil jenes Europa im 18. Jahrhundert durchziehenden »Strom[s] moralischer Erweckung« (II: 650 f.) samt exzentrischer Nebenfolgen verrechnen wird, um mahnend anzufügen: »Ihre [der Aufklärung; d. Verf.] Gefährlichkeit ist dadurch fast grösser geworden, als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die grosse Revolutionsbewegung kam. Wer diess begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, a n s i c h s e l b e r, das We r k der Aufklärung f o r t z u s e t z e n und die Revolution nachträglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.« (II: 654)

Diese Mahnung darf man wohl so übersetzen, dass eine politische Umwälzung dann entbehrlich sei, wenn man sich selbst in die Zucht der Selbstaufklärung nimmt und den – angeblich von Rousseau verscheuchten – Geist der Aufklärung »bei sich selber« (II: 299) zurückruft, um so jeder von außen kommenden Tugendlehre für alle Zeiten enthoben zu sein: eben als Freigeist. Nimmt man nun noch hinzu, was Nietzsche acht Jahre später in Götzen-Dämmerung nachträgt, nämlich dass sich im Streben nach Freiheit der »Wille zur Selbstverantwortlichkeit« ausspreche und damit zugleich auch der Hohn und Spott auf jenes »Wohlbefinden«, von dem »Krämer, Christen, Kühe, Weiber und andre Demokraten träu183 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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men« (VI: 139 f.), wird klar, wie wichtig der Punkt ist, der hier zur Debatte steht. Gewiss: Nietzsche hat die Sache in einer Weise formuliert, die ihn scheinbar endgültig als Anti-Feministen und AntiDemokraten erkennbar werden lässt. Und doch: Dem intelligenten Leser konnte kaum verborgen bleiben, dass Nietzsche hier einen wichtigen Punkt angesprochen hatte: Egokratie geht vor Demokratie, Selbsttransparenz und -herrschaft vor Volksherrschaft. Wer dies nicht erkennt, wird immer nur, wie Rousseau, Parolen freisetzen können, die demokratisch legitimiert sein mögen, aber verhetzend wirken und nicht Beleg sind für das – so Nietzsche in Zur Genealogie der Moral – »s o u v e r a i n e I n d i v i d u u m , das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum« (V: 293). Es ist dieses, so betrachtet, ›demokratische‹ Individuum, auch (missverständlich) Übermensch geheißen, dem Nietzsches ganzes Sinnen und Trachten galt – und das ihn als einen längst noch nicht ausgeschöpften Demokratietheoretiker ausweist. Folgerichtig ist insoweit auch die Forderung Nietzsches, ungeachtet (oder gerade wegen) der »F e i n d s c h a f t d e r D e u t s c h e n g e g e n d i e A u f k l ä r u n g « diese selbst – unter den Vorzeichen von »Historie«, »Verständniss des Ursprungs«, »Mitempfindung für das Vergangene«, »Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntnis« – »weiterzuführen« (III: 171). Folgerichtig ist auch der Spott – er wird erst als solcher erkennbar vor dem Hintergrund von Nietzsches (späterem) Lobspruch auf die in die »U n t e r w e l t des Ideals« hineinleuchtende »Fackel« Voltaires (VI: 323) – auf die (alte) Aufklärung in Gestalt der Mär vom »tollen Menschen, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹« (III: 480) Nun freilich, infolge der in Zarathustra ausführlich vorgetragenen Lehre vom Tod Gottes und der ihr zugehörenden Lehre vom Übermenschen, tritt an den Menschen unabweisbar die Nötigung (der neuen Aufklärung) heran, sich selbst im Falschen als wahr zu setzen nach dem Motto: »Der aber hat sich selbst entdeckt, welcher spricht: Das ist m e i n Gutes und Böses.« (IV: 243)

Derlei wird zwar nicht mit der Vokabel ›Aufklärung‹ belegt. Auffällig ist allerdings, dass Nietzsche im Zuge der Planungen zum Nachfolgetitel Jenseits von Gut und Böse die Überschrift »neue Aufklärung« in diversen Zusammenhängen erprobt und es gar zur »Aufgabe der 184 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Aufklärung« erklärt, »den Fürsten und Staatsmännern ihr ganzes Gebaren zur a b s i c h t l i c h e n L ü g e zu machen, sie um das gute Gewissen zu bringen, und die unbewußte Tartüfferie aus dem Leibe des europäischen Menschen wieder herauszubringen.« (XI: 86) Die »neue Aufklärung« wird des Weiteren aufgeboten gegen »die Kirchen und Priester«, »die Gutmüthigen Mitleidigen« und »die Gebildeten und den Luxus« (ebd.), und zwar »in Betreff ›Wahrheit und Lüge‹ am Lebendigen«, »in Betreff ›Gut und Böse‹« und »in Betreff der gestaltenden umbildenden Kräfte«, und dies in der Absicht, das – vor allem von Rousseau zu verantwortende – Dilemma der »alten« Aufklärung, die »Gleichmachung Aller«, zu vermeiden und ersatzweise »den herrschenden Naturen den Weg [zu] zeigen« (XI: 295). Insoweit kann man die neue Aufklärung Nietzsches als »eine Aufklärung mit neuen politischen Tönen« (Ottmann 1985: 26) lesen, wichtiger aber wohl noch: Man hat sie als eine psychologisch gerichtete Aufklärung zu verstehen (vgl. auch Gödde 1993: 153 f.), wie vor allem Nietzsches Psychologie zeigt, die im Kern darauf zielt, der »vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr [zu] werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden« (V: 169) und für die insoweit der Programmsatz gilt: »Wir haben umgelernt […]. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ›Geist‹, von der ›Gottheit‹ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.« (VI: 180)

Die Befreiungstat der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die den Menschen als geistigen Gottersatz zum Durchbruch hatte bringen wollen, die also »den Gott im Menschen«, den »freien Gott«, verteidigt hatte, »nachdem sie ihn sonst hat fahren lassen« (IX: 246), sah der mittlere und späte Nietzsche mithin als unzureichend an. Erst infolge jener in Der Antichrist geforderten Zurückstellung des sich als »freien Gott« zelebrierenden Menschen der (alten) Aufklärung in das Reich des Leibhaften hoffte Nietzsche jenen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, um die der Mensch als Übermensch wissen musste, wenn er nicht einer Selbsttäuschung hinsichtlich der eigentlichen Motive seines Handelns unterliegen will. Deswegen auch wäre Nietzsche anti-szientistisch missverstanden, wenn man ihn lediglich als einen kulturphilosophischen Bahnbrecher Wagners feierte. Wer dies wie Jürgen Habermas tut, kommt kaum an dem Urteil vorbei, Nietz-

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sche habe »alles, was ist und sein soll, aufs Ästhetische zurück[ge]führt« (Habermas 1985: 118). Nietzsche war, aufs Ganze gesehen, sehr viel mehr als dies. Er war Wegbahner einer neuen Aufklärung, Vordenker Freuds und vor allem der erste zentrale Diagnostiker des Todes Gottes und der daraus entspringenden Nötigung an den Menschen, in einer weit über den Aufklärungsimpuls des 18. Jahrhunderts hinausgehenden Konsequenz sich von der überlieferten Kultur und Sitte freizusetzen und sich seine eigene Tugend und letztlich auch Kultur zu geben sowie für Restitution seiner durch Primärsozialisation beschädigten Subjektivität Sorge zu tragen.

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Kapitel X

Nietzsches Siegfried in Abgrenzung zu jenem Wagners

[I]ch liebte nur den Wagner, den ich kannte, d. h. einen rechtschaffnen Atheisten und Immoralisten, der die Figur Siegfrieds, eines sehr freien Menschen, erfunden hat. (Nietzsche, 1885)

Die politische Geschichte um Wagners Siegfried scheint relativ überschaubar, ebenso wie die Gründe, die Siegfried nach 1870/71 »zur Symbolfigur des Deutschen im neuen, noch jungen Kaiserreich« werden ließen: als, so Klaus von See, »der Deutsche, der als ›Zuspätgekommener‹ die politische Bühne betritt und sein ungelenkes, polterndes Auftreten als Ausdruck jugendlich-unbändiger Kraft verstanden wissen will.« (See 2005: 141) Am Ende der damit eröffneten Reihe sitzt Siegfried unter dem Namen Adolf Hitler im Führerbunker und zerbeißt lustlos eine Zyankalikapsel, zugleich das Ende ›des Deutschen‹ schlechthin markierend. Dies jedenfalls das Bild, das Joachim Köhlers (1997: 95 ff.) brillante Darstellung dieser Zusammenhänge inspiriert. Was aber hat es eigentlich mit Nietzsches Siegfried auf sich? Ist er wirklich, wie der Antisemitenpate Theodor Fritsch offenbar meinte, ehe er sich im März 1887 eine entsprechende Abfuhr durch Nietzsche einhandelte (vgl. Kap. XIII), so ohne weiteres für die völkische Sache in Dienst zu stellen? Ist er, gemäß des von Fritsch 1907 wiederholten, nun aber namensmäßig unbelegtem Kalküls, »der gewaltigste Held aller Zeiten, der eigentlicher Drachentöter, der wahre Siegfried«, der die Judenfrage löst, »um wieder deutsches und arisches Leben zu ermöglichen.« (zit. n. Pross 1959: 256)? Anders gefragt, gleichsam mit dem Abstand von zwei Weltkriegen und somit auch zwei ›deutschen Katastrophen‹ : Ist Nietzsche kaum anders als Wagner ein Steigbügelhalter des Faschismus? Zu denken gibt hier die als Motto vorangestellte Bemerkung Nietzsches aus dem Nachlass, kulminierend in dem Lob, Wagner habe »die Figur Siegfrieds, eines 187 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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sehr freien Menschen, erfunden« (XI: 491) Denn vordergründig politisch klingt dies nicht, mehr als dies: Folgt aus diesem Satz, dass Nietzsche jenen anderen, jenen politischen Wagner nicht liebte? Oder nicht kannte? Oder nicht wirklich kennen wollte? Also: Dass er ihn also am liebsten vergessen gemacht, deutlich: verdrängt hätte, wenn nicht gar: verdrängt hat? Um auf diese schwierigen Fragen sinnvoll antworten zu können (vgl. zum Folgenden auch Niemeyer 2016b), muss man die Geschichte wohl etwas anders, etwas psychologischer erzählen als üblich – etwa als Geschichte des Drachentöters Siegfried, der den sich ihm als Ersatzvater anbiedernden Schmied Mime tötet und schließlich Erlösung findet in den Armen des von ihm erlösten Traumweibs Brünnhilde, ein Szenario, das durchaus als eines in selbsttherapeutischer Absicht von Wagner verfasstes gelesen werden darf und dies zumal unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Siegfried vorübergehend annimmt, die erweckte Brünnhilde sei seine Mutter. Vorauszusetzen ist dabei, dass, so Franz Strunz, das »Trauma des Verlusts« das Wagners Leben »beherrschende, allerpersönlichste Leitmotiv« gewesen ist, wie beispielhaft die von Cosima Wagner dokumentierten über vierhundert (Alp-)Träume Wagners offenbaren. Denn der Sache nach geht es hierbei immer wieder um die Vision der »Erlösung des unbegünstigten Helden durch ein liebendes Weib.« (Strunz 1986: 560) Wagners von Nietzsche beklagte späte Rückkehr zum Christentum gewinnt ausgehend von diesem Erlösungsmotiv, das sich auch im Fliegenden Holländer, im Tannhäuser sowie im Lohengrin identifizieren lässt (vgl. Schüler 1971: 21), weniger den Charakter einer »religiösen Erlösung« denn das Merkmal einer »Erlösung von Allein-, Ausgeliefert-, Ungeborgen-, Unerkanntsein in diesem Leben und ihre Aufhebung in einer mütterlichen Protektorin.« (Strunz 1986: 562) Noch spannender ist ein anderes, damit zusammenhängendes Motiv: das der Vatersuche, auch dies im engen Bezug zu Wagners Biographie, wobei hier nur ein Aspekt erwähnt sei: der Umstand, dass sich die von Marc Weiner (1995) überzeugend als Judenkarikatur dechiffrierte Figur des angeblichen Siegfried-Vaters Mime auch so interpretieren lässt, als habe Wagner hiermit seinem Stiefvater Ludwig Geyer ein (fragwürdiges) Denkmal setzen wollen, zumal dieser von Beruf Schauspieler (= Mime) gewesen war (vgl. Niemeyer 1998: 124 ff.). Nicht absehen kann man in diesem Zusammenhang vom (späteren) ›Märchenkönig‹ Ludwig II., seit Oktober 1864 (für zu188 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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nächst drei Jahre) gleichsam der Sponsor in Sachen Ring: Wir schreiben Ende November 1865, als Ludwig II., schwer traumatisiert von seinem 1864 verstorbenen Vater und entsprechend harsch auf dessen Tod reagierend, nämlich mit einem »›Keiner ging, doch Einer [lies: Richard Wagner] kam‹« (zit. n. Strobel 1936, Bd. 1: 44), von eben jenem so Gelobten darüber in Kenntnis gesetzt wird, es gelte, zwei wichtige Figuren im Umfeld des Königs, die zwischen beiden unter den Chiffren ›Mime‹ und ›Fafner‹ abgehandelt wurden, zu entlassen, damit, wie Verena Naegele formulierte, »Siegfried-Ludwig endlich Brünnhilde-Deutschland erwecken konnte.« (Naegele 1995: 350) Bemerkenswert ist dabei die Kaltschnäuzigkeit, mit der Wagner vorging. Denn schon sechs Wochen zuvor hatte er Ludwig II., auch vorbeugend im Hinblick auf künftige Ratschläge seinerseits, vieldeutig wissen lassen: »Was ich Ihnen mittheile, sollte es selbst ein Rath hzui erscheinen sich erkühnen, ist nur der innerste Gedanke Ihrer grossen Seele, in der ich lese, aus der ich dichte und trachte.« (Strobel 1936, Bd. 1: 200) Dem ließ Wagner dann noch, gleichsam zur Bekräftigung, den Satz nachfolgen: »Ich bin nur ihr Bewusstsein von sich selbst. – Nie, nie vergessen Sie diess, mein herrlicher Freund! Bin ich dessen sicher, so behalte ich immer Muth: – aber nur dann!« (ebd.: 201) Auf dieser Vorarbeit aufbauend, hatte Wagner in seinem erwähnten Brief vom November offenbar auch keine Sorge, vom König richtig verstanden zu werden, als er diesem mitteilte: »Ich kann und darf nicht weitergehen als der hoffende Wanderer und das gutgelaunte Waldvöglein. Da steht er! Seht den Holden, den Kühnen! Vertraut ihm! Schon hält er das selbstgeschmiedete Schwert am Griff. Der Ekel wird ihm den Augenblick der That eingeben!« (ebd.: 224)

Ludwig II., sich zunehmend wohlfühlend in der Wahnwelt der Wagner’schen Musikdramen, in die ihn sein ›vielgeliebter Freund‹ immer tiefer hineinführte, antwortete auch diesmal wie erhofft: »Siegesgewißheit und Freude spricht aus ihrem Brief; jubelnd und muthentbrannt will ich dem tückischen Mime und Fafner entgegeneilen, unter Jauchzen will ich sie besiegen.« (ebd.: 228)

Soweit kam es dann zwar nicht mehr – vielmehr musste Wagner München Ende 1865 aufgrund des Bekanntwerdens von derlei Aktivitäten verlassen –, aber der Befund ist auch so kaum abweisbar: Wagner nutzte im Fall Ludwig II. dessen Vaterübertragung skrupellos für politische Absichten aus. Und nichts gibt Anlass zu der Ver189 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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mutung, dass er dies nicht auch im Fall des fast gleichaltrigen ›Jünglings‹ Nietzsche unter anderen Vorzeichen zu wiederholen beabsichtigte. Interessant ist dabei vor allem das psychologische Motiv: Wagner ließ mittels der Verherrlichung, die ihm Ludwig II. angedieh, vor allem seinem eigenen ungestillten Narzissmus Befriedigung zuteilwerden. Am deutlichsten macht dies ein Brief Wagners vom November 1865, in dem er Cosima v. Bülow Bericht erstattete über ein Gespräch mit dem von ihm schließlich gar noch als Ideologieträger Parsifals instrumentalisierten bayerischen König: »Parzival hörte mit ungeheurem Ernste zu … Wahrlich, erst jetzt bin ich der ganzen Erhabenheit und Schönheit seiner Liebe bewußt geworden … Er ist Ich, in neuer schöner jugendlicher Wiedergeburt: Ganz Ich, und nur soviel Er, um schön und machtvoll zu sein.« (zit. n. Naegele 1995: 339)

Von hier ausgehend scheint der Schluss erlaubt, dass auch Nietzsche unter der Herrschaft seiner von Wagner klug gesteuerten Vaterübertragung die politische Problematik Wagners und der Siegfriedfigur erst verzögert und im Ergebnis unzulänglich erkannte. Dabei ist vorab daran zu erinnern (vgl. zum Folgenden auch Niemeyer 2011: 63 ff.), dass Nietzsche, der Wagner und dessen Musik zunächst durchaus skeptisch gegenüberstand, einiges mitbekam von dem von Skandalgerede umwölkten Geschehen um Wagner und Ludwig II. und beispielsweise im Oktober 1866 spottete, dass es nicht schadete, »wenn der ›König mit dem Wagner gienge,‹ (gehen in des Wortes verwegenster Bedeutung), natürlich aber mit anständiger Leibrente.« (KGB I/2: 174) Ähnlich sarkastisch argumentierte Nietzsche über zwanzig Jahre später im Blick auf die Wagner-Biographie Ludwig Nohls und die hier wiedergegebenen Anekdote, wonach Ludwig II. in einem Gespräch mit Wagner erleichtert zur Kenntnis genommen habe, dass auch Wagner die ach so langweiligen Weiber nicht möge. Nohl, der die in diesem Gespräch zutage tretende Haltung Ludwigs II. mit dem Attribut »›j u g e n d l i c h u m f a n g e n ‹« belegte, habe dabei wohl übersehen, so Nietzsche mit beißendem Spott, dass der »König von Baiern […] ein bekannter Päderast war« (KGB III/5: 338), was im damaligen Sprachgebrauch anspielte auf ein im alten Griechenland als Erziehungsmittel gebräuchliches, erst später »in unnatürliche Laster ausartend[es]« »inniges Verhältnis zwischen einem Mann und einem Jüngling«. (Meyers Hand-Lexikon 21878: 1417) Wichtig des Weiteren: Was hier vorliegt, sind zwei Briefe, aber eine Meinung, die im Kern darauf hinausläuft, den Be190 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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reich des Menschlich-Allzumenschlichen als solchen deutlich zu markieren, und dies im Gegenzug zum allfälligen Streben nach Widerspruchsverleugnung und Heldenverehrung. So betrachtet muss auffallen, dass dieser kritische Nietzsche irgendwo auf dem Weg zwischen 1866 und 1888 (vorübergehend) verloren gegangen ist – mit dem Ergebnis von peinlichen Bekenntnissen wie dem folgenden (aus einem dann doch nicht verwendeten Entwurf eines Wagner gewidmeten Vorworts für die Geburt der Tragödie vom Februar 1871): »Nun wünschte ich nichts mehr, als daß mir einmal […] ein Wesen von zürnender Hoheit, stolzestem Blick, kühnstem Wollen, ein Kämpfer, ein Dichter, ein Philosoph zugleich [begegne], mit einem Schritte, als ob es gälte über Schlangen und Ungethüme hinweg zu schreiten.« (VII: 353)

Soll man hier ergänzen: ein Wesen wie Wagner also, eine Art SuperSiegfried oder Vor-Übermensch, der den Gegentypus zum »Unmensch ohne Rast und Ziel« (VII: 331) zur Vollendung treibt und Nietzsche inspiriert, die »[k]ünstlerische Erfüllung der germanischen Begabung« (VII: 241) voranzutreiben? Die Frage ist rhetorisch und auch über den Zeitpunkt, an dem diese Verwandlung Nietzsches hin zum unkritischen, auf Wagners Aktivismus vertrauenden Wagnerianer sich erstmals andeutet, scheint kaum Streit möglich: Es war ein Abend im November 1868 (vgl. Niemeyer 2017: 198 ff.), an dem Nietzsche im Hause Brockhaus in Leipzig Wagner vorgestellt wurde und über den er seinem Freund Erwin Rohde ausführlich Bericht erstattete, diesen kaum in Zweifel lassend, dass die Erhebung Wagners in den Rang eines Ersatzvaters durch Nietzsches Vision beschleunigt worden sein dürfte, dass so ungefähr wie Wagner auch sein eigener, gleichfalls 1813 geborener Vater hätte werden können, wenn er nicht in jenem Jahr (1849) gestorben wäre, in dem der damalige Revolutionsanhänger Wagner noch gegen den »heuchlerischen Absolutismus« (GSD III: 16) zu Felde zog, als dessen Anhänger sich Nietzsches Vater begriff. Die weitere Entwicklung, insbesondere Nietzsches Berufung nach Basel und die dadurch erleichterten Besuche Nietzsches in Tribschen betreffend, kann hier als bekannt vorausgesetzt werden, nur an einige Daten sei noch erinnert, etwa an Nietzsches Brief vom 25. August 1869 an Paul Deussen, den er wissen ließ:

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»Neuerdings beglückende Annäherung der wärmsten und gemüthvollsten Art an Richard Wagner: den g r ö ß t e n G e n i u s und g r ö ß t e n M e n s c h e n dieser Zeit, durchaus incommensurabel!« (3: 46)

Wagner seinerseits, der Nietzsche erstmals ausgerechnet für jenes Wochenende nach Tribschen eingeladen hatte, an dem Cosima mit seinem ersten und einzigen Sohn Siegfried niederkam, schreckte nicht davor, Nietzsche im November 1869 nach dem Muster des Siegfried als seines Sohnes Erzieher zu fingieren, mit sich in der Rolle des Wotan, der der Erziehung »von weitem« zusieht (Wagner 1976, Bd. 1: 237). Im Juni 1870 schließlich, anlässlich von Siegfrieds (auch Fidi genannt) erstem Geburtstag (zugleich der »Gedächtnisstag Ihres ersten Aufenthaltes in meinem Hause«) bestimmt Wagner Nietzsche gar als »Wächter über diese Angedenken an mich« (KGB II/2: 218). Zwei Jahre später legte er nach: »Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar glücklicher Weise noch Fidi dazu; aber zwischen dem und mir bedarf es eines Gliedes, das nur sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel.« (KGB II/4: 29)

Dies war die gleichsam offizielle Erhebung Nietzsches in den Rang eines – zugleich als Nachlassverwalter bestellten – Ersatzsohnes, ausgesprochen im Juni 1872, auf dem Höhepunkt der Beziehung beider. Nietzsche blieb dabei nichts schuldig, wie sein Brief zu Wagners 60. Geburtstag (am 22. Mai 1873) zeigt: »Was wären wir [die Menschen; der Verf.] denn, wenn wir sie nicht haben dürften, und was wäre ich zum Beispiel anderes […] als ein todtgebornes Wesen!« (4: 153) Folgerichtig war dann die Botschaft exakt ein Jahr später: »So feiere ich Ihren Geburtstag auch zur Feier meiner Geburt« (4: 228) – der zweiten geistigen Geburt Nietzsches, wie man noch ergänzen muss im Rückblick auf seinen 1867er Dank an Ritschl, ihn »zum Philologen geboren« (BAW 3: 300) zu haben. Freilich: Dieser zweite Nietzsche war noch immer nicht der ›wahre‹ Nietzsche, wie dieser selbst im Übrigen schon längst ahnte, aber zu Ende zu denken sich offenbar nicht getraute. Ein interessantes Dokument in dieser Frage ist ein Brief Nietzsches an Wagner (vom 18. April 1873), in dem es zunächst ganz mutig heißt: »Ich wünschte mir so oft wenigstens den Anschein einer größeren Freiheit und Selbständigkeit […]«, ehe dann der fügsame Ersatzsohn dem Rebellen in den Arm fällt und den Satz fortführt mit: »… aber vergebens. Genug, ich bitte Sie, nehmen Sie mich nur als Schüler.« (4: 144) Wagner 192 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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wusste diese Hilflosigkeit Nietzsches mit großer Instinktsicherheit zu konservieren. Beständig ließ er Nietzsche um die Verlässlichkeit seiner Gunstbeweise bangen, dabei einem schon früh praktizierten Muster folgend: »Nun aber kein Wort weiter, denn Sie sind mir bedenklich geworden.« (KGB II/2: 116) So hatte er es Nietzsche am 14. Januar 1870 mitgeteilt, weil es dieser offenbar an der gebotenen brieflichen Danksagung für das gemeinsam in Tribschen verbrachte Weihnachtsfest hatte fehlen lassen. Im Mai 1871 wurde Nietzsche in Tribschen auf der Basis eines Gerüchts der »Sucht des Verrats« (Wagner 1976, Bd. 1: 347) bezichtigt und entsprechend in eine Art »Schule der Unterwerfung« (Köhler 1996: 62) genommen. Unzufriedenheit fungierte dabei offenbar als ›Erziehungsmaxime‹. So klagte Nietzsche beispielsweise gegenüber v. Gersdorff, nachdem ihn Cosima von Wagners Kränkung wegen seines unterlassenen BayreuthAbstechers auf seiner Weihnachtsreise via Naumburg in Kenntnis gesetzt hatte (KGB II/4: 206 ff.): »Gott weiß übrigens, wie oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedes mal von Neuem und kann gar nicht recht dahinter kommen, woran es eigentlich liegt.« (4: 131)

Ängste dieser Art – in der Regel basierend auf Auftritten ähnlichen Charakters – befielen Nietzsche in der Folge in schöner Regelmäßigkeit (vgl. Förster-Nietzsche 1897: 178 f.) und finden einen wohl letztmaligen Niederschlag in den Entwürfen Nietzsche für (an die Wagners adressierte) Begleitschreiben vom Juli 1876 zu Richard Wagner in Bayreuth. So schreibt Nietzsche beispielsweise: »Denke ich an das zurück, was ich diesmal gewagt habe, so schließe ich die Augen und ein Grausen überkommt mich hinterdrein. Es ist fast a l s o b i c h m i c h s e l b e r aufs Spiel gesetzt hätte.« (KGB II/5: 172)

Die Wortwahl klingt auf den ersten Blick etwas übertrieben, wenn man aber etwas genauer hinschaut – was Wagner seinerzeit noch unterließ –, war Nietzsches Sorge nicht unberechtigt. In der Summe spricht also vieles für die Annahme einer den Zeitraum 1868 bis 1876 überspannenden Vaterübertragung Nietzsches auf Wagner, die ihn in (geistiger) Abhängigkeit hielt und nicht zu einem authentischen Sprechen kommen ließ. Die Folgen sind in Nietzsches Frühwerk zu besichtigen: Es dient in vielen Passagen der Einverständniserklärung gegenüber dem, der von ihm die Mitwirkung an der Errichtung eines geistigen Überbaus 193 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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für sein eigenes Streben erwartete: eben Wagner. Dessen Siegfried kommt dabei besondere, gleichsam Initial gebende Bedeutung zu. »Als ich das letzte Mal dort [in Tribschen; d. Verf.] war«, so protokollierte Nietzsche im August 1869 gegenüber Erwin Rohde mit bedeutungsschwangerem Unterton, »wurde Wagner gerade fertig mit der Composition seines ›Siegfried‹ und war im üppigsten Gefühl seiner Kraft.« (3: 42) Über ein Jahr später besteht erneut Anlass zur Freude: »Zu Weihnachten«, so jubelte der seit gut eineinhalb Jahren in Tribschen fast heimisch gewordene neu gewonnene Wagner-Adlatus via Naumburg, »bekam ich ein prachtvolles Exemplar des ›Beethoven‹ […] und – etwas ganz Einziges – das e r s t e E x e m p l a r vom Klavierauszuge des ›S i e g f r i e d ‹ erster Act, eben fertig geworden« (3: 172). Beide Geschenke waren wohlkalkuliert und zeigten die von Wagner offenkundig erhofften Wirkungen bei einem, der sich die ambivalente Danksagung Brünnhildes an ihren sie mit seinem Schwert von Harnisch wie Helm befreienden, quasi-deflorierenden Helden Siegfried fast so zurecht legte, als sei sie auch für ihn bestimmt. Jedenfalls ist sich Nietzsche noch im Oktober 1872 sicher, die kompositorische Unterlegung der Zeilen »Verwundet hat mich, der mich erweckt!« bei seinem ersten Besuch in Tribschen im Mai 1869 vom Garten aus heimlich belauscht zu haben (4: 62). Dies ist vermutlich eine nachträgliche Mystifikation (vgl. Janz 1978: 294 f.), die dartun sollte, schon damals habe ihm das Waldvöglein Wagner gewarnt, die ihm zu verdankende geistige ›Erweckung‹ werde nicht ohne (langfristig zutage tretende) ›verletzende‹ Folgen von statten gehen. Dessen ungeachtet entschließt sich Nietzsche, vorerst nur die ›erweckte‹ Habenseite in Betracht zu ziehen: Scheinbar unbekümmert um den von ihm referierten und als »harmlos[]« abgetanen Spott aus der Nationalzeitung, er sei »de[r] einzige[] aus dem ›Tross Ihrer l i t t e r a r i s c h e n L a k a i e n ‹ […], der einen akademischen Lehrstuhl inne hat«, versichert Nietzsche an seinem 28. Geburtstag (am 15. Oktober 1872) dem »[v]erehrte[n] und geliebte[n] Meister«, er »werde glücklich und heiter gestimmt, wenn ich mir vorstelle, durch irgend welche Production einmal Ihren Beifall zu gewinnen.« (4: 61 ff.) Noch immer also funktioniert es wie geschmiert, jenes Produktionsprinzip, dessen Folgen Wagner erstmals Anfang jenes Jahres besichtigen konnte. Damals hielt Nietzsche in Basel seine – im März 1872 auch in Tribschen mit großer Aufmerksamkeit (vor-)gelesenen – Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in dessen zweiten sich 194 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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die Quintessenz aus Wagners Beethoven (1870) findet, etwa in Gestalt der Überlegung: »Was […] sich jetzt mit besonderem Dünkel ›deutsche Kultur‹ nennt, ist ein kosmopolitisches Aggregat, das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller, wie Meyerbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die […] ungermanische Civilisation der Franzosen […]. Mit dieser angeblich deutschen, im Grunde unoriginalen Kultur darf der Deutsche sich nirgends Siege versprechen.« (I: 690)

Zu beachten ist hier, an dieser gleichsam exemplarischen Verdoppelung der von Wagner schon in An das deutsche Heer vor Paris (1871) vorweggenommenen Auslegungstendenz, vor allem der antisemitische Geheimcode (›Journalist‹ ; ›Meyerbeer‹). Er verweist auf Nietzsches Vertrautheit auch mit Wagners – 1869 neu aufgelegtem – Pamphlet Das Judentum in der Musik und findet sich auch in Nietzsches Geburt der Tragödie wieder, etwa wenn Nietzsche die »lange Entwürdigung« tadelt, »unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienste tückischer Zwerge lebte.« (I: 154) Für den Eingeweihten war hiermit erkennbar, dass Nietzsche sein Einverständnis mit Wagners Absicht bekundet hatte, den Ring des Nibelungen als Moritat auf die Unterdrückung des ›deutschen Genius‹ Siegfried durch die jüdischen ›tückischen Zwerge‹ Mime und Alberich aufzubereiten. Dass Nietzsche sechzehn Jahre später die Auffassung vertrat, das Wort von den ›tückischen Zwergen‹ habe sich auf »die christlichen Priester« (VI: 310) bezogen und der, wie er nun zugesteht, »deutsch, selbst reichstreu« sich gebärdenden Geburt der Tragödie hafte, so betrachtet, eine gleichsam »deutsch-antichristlich[e]« (XIII: 227) Nuance an, will man gern glauben: So muss man offenbar reden, wenn man sich der eigenen antisemitischen Vergangenheit schämt und die zwischenzeitlich eingenommene Position des Anti-Antisemitismus beglaubigen will (vgl. Köhler 1996: 106), gleichsam gegen Wagner, der in »Erkenne dich selbst« (1881) nachtrug, der Ring des Nibelungen müsse als Kommentar zur »Kunst des Geldmachens aus Nichts« und insoweit zu dem Umstand verstanden werden, dass »unsere ganze Zivilisation ein barbarisch-judaistisches Gemisch ist, keineswegs aber eine christliche Schöpfung.« (GSD X: 268) Angesichts von Äußerungen wie dieser und einer – im unmittelbaren Wagnerkontakt freigesetzten – Rezeptionstendenz wie der Nietzsche’schen (in der Geburt der Tragödie, in den Bildungsvorträgen, aber auch in der ersten Unzeitgemässen Betrachtung) ist es ab195 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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surd und wohl nur vom Zweck der Freisprechung Wagners inspiriert, wenn Nietzsche in Ecce homo, in Übersetzung der gleichsam lyrischen Variante zu diesem Themenkomplex aus Also sprach Zarathustra II 14, seine Empörung erklärt, die ihn 1876 zur Abwendung von Wagner geführt habe: »Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden! – Die d e u t s c h e Kunst! der d e u t s c h e Meister! das d e u t s c h e Bier! … Wir Andern, die wir nur zu gut wissen, zu was für raffinirten Artisten, zu welchem Cosmopolitismus des Geschmacks Wagners Kunst allein redet, waren ausser uns, Wagnern mit deutschen ›Tugenden‹ behängt wiederzufinden.« (VI: 323 f.)

Dies klingt wunderbar, geradezu rührend, nur: Wer die Details kennt – sei es nur die der spezifisch ›Bayreuther‹ Nietzscherezeption (vgl. etwa Hudek 1990; Ferrari Zumbini 1990) –, vermag nichts zu identifizieren, was für diese auf einen Missbrauch Wagners durch ›die‹ Wagnerianer hinweisende Lesart spricht oder auch nur für Nietzsches Klageruf: »Der arme Wagner! Wohin war er gerathen! – Wäre er doch wenigstens unter die Säue gefahren! Aber unter Deutsche! …« (VI: 324)

Denn natürlich war es Wagners Deutschtumsvision – inklusive der sich auch schon im Siegfried aussprechenden Rassenideologie – und nicht etwa die der Wagnerianer, die hier als kausal zu setzen ist, ein Zusammenhang, um den Nietzsche als intimer Zeuge der Tribschener Vorgänge wusste, die er sich nun allerdings, in Ecce homo gleichsam auf sein Leben und Werden zurückschauend, nicht mehr einzugestehen getraut. Weit ist der Weg von diesem allein noch an Autohagiographie interessierten Nietzsche zurück zu jenem kühler Spötter aus der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches II, der Wagner noch mit dem souveränen Urteil ad acta legte, seine Art der »Aneignung der altheimischen Sagen« stünde für »den a l l e r l e t z t e n Kriegs- und Reactionszug […] gegen den Geist der Aufklärung.« (II: 451) Immerhin: Damals, in der Zeit einer gleichsam doppelten Morgenröte findet Nietzsche mit seiner auch aus Gründen des bei ihm anhebenden Anti-Antisemitismus erklärbaren Abwendung von »Und einst wollte ich tanzen, wie nie ich noch tanzte […]. Da überredetet ihr meinen liebsten Sänger. / Und nun stimmte er eine schaurige dumpfe Weise an; ach, er tutete mir, wie ein düsteres Horn, zu Ohren!« (IV: 144)

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Wagner (vgl. Niemeyer 2011: 115 ff.) auch zu einer neuen Lesart des Ring und damit des Siegfried. Der Höhepunkt dessen ist in Der Fall Wagner (1888) erreicht: Nietzsche betont nun, erkennbar in Nachbearbeitung seines Versuchs, die »Siegfried-Caricatur« (XI: 592) Parsifal (und dessen Schöpfer) unter den Vorzeichen des Verfalls zu deuten, dass Wagner Siegfried als einen »typische[n] Revolutionär« konzipiert habe, dessen Abkunft aus Ehebruch und Blutschande für eine »Kriegserklärung an die Moral« zeuge und in dessen Liebe zu Brünnhilde sich »die Götterdämmerung der alten Moral« (VI: 19) zur Anzeige brächte – um dann nachzutragen, dass Wagner diese Idee letztlich nicht in Einklang mit seinem Schopenhauer-Verständnis habe bringen können, was den Schluss der Götterdämmerung erkläre: »Alles läuft schief, Alles geht zu Grunde, die neue Welt ist so schlimm, wie die alte: – das N i c h t s , die indische Circe winkt … Brünnhilde, die nach der ältern Absicht sich mit einem Liede zu Ehren der freien Liebe zu verabschieden hatte, die Welt auf eine socialistische Utopie vertröstend, mit der ›Alles gut wird‹, bekommt jetzt etwas Anderes zur tun. Sie muss erst Schopenhauer studiren […].« (VI: 21) 15

Dies war, bezogen auf die Fakten (vgl. Kitcher 2008: 405 f.; Sommer 2012: 77 f.), wohl nicht ganz ernst gemeint – aber man täusche sich nicht: Schon sechs Jahre zuvor in Die fröhliche Wissenschaft (1882) hatte Nietzsche der Substanz nach ganz ähnlich geredet und diagnostiziert, Wagners »ganze Kunst« habe sich »als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen Philosophie«, nicht aber als ein solches »der menschlichen Erkenntniss und Wissenschaft« (III: 455) geben wollen – ein Fehler, wie der Leser lernen soll; und ein Auftrag, wie man leicht erkennen kann, insofern kaum verhüllt die Aufforderung im Raum steht, Wagners Kunst daraufhin zu testen, unter welchen Umständen sie als Seitenstück seiner [= Nietzsches] Philosophie – ein, wie man vielleicht sagen darf, bis dato (und wohl auch seitdem) unerreichten Höhepunkt in Sachen ›menschlicher Erkenntnis und Wissenschaft‹ – in Betracht komme. Spätestens an dieser Stelle freilich scheint in Rückerinnerung an den Epilog ein Einwand unabweisbar. Denn von Nietzsches Philosophie zu reden – zusammengehalten auch noch, um nur dies zu nen-

Nietzsche dachte dabei wohl vor allem an § 59 des Vierten Buches von Die Welt als Wille und Vorstellung, wo Schopenhauer den (ruchlosen) Optimismus tadelt (SW I: 422).

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nen, durch die im Zarathustra exponierte Lehre vom Übermenschen –, fällt manchem Nietzscheforscher gerade heutzutage schwer. Freilich: Darf man ihn eigentlich einfach so ignorieren – Nietzsches Stolz gerade auf diese Schrift? Bände spricht Nietzsches geradezu drängender Appell in Richtung Carl von Gersdorff vom Juni 1883: »Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein t i e f s t e r E r n s t und meine g a n z e P h i l o s o p h i e .« (6: 386)

Nimmt man noch Nietzsches Ärger hinzu über sein Image als »neuer unmöglicher unvollständiger aphoristischer Philosophus« (6: 124), wird es nicht überraschen, dass es ihm um Entkräftung dieses für ihn verheerenden Images ging – und sei es dadurch, dass er seine Philosophie in ihrer Besonderheit als sachkundigen Kommentar zu Wagners Kunst entwickelte: »Erst meine Philosophie ist recht dafür« (IX: 683), lautete der diesbezügliche Auftrag vom Sommer 1882. Was dies im Einzelnen hieß und erforderte, verdeutlicht ein Nachlassvermerk von April–Juni 1885, der dahingehend lesbar ist, dass nur Nietzsches Philosophie geeignet sei, Siegfried als »Figur […] eines sehr freien Menschen« (XI: 491) auszulegen. Denn von hier ist es nicht weit bis zur ›Figur‹ des Übermenschen, dessen zentrale Eigenschaften bereits in den klagenden, rhetorischen Fragen an das Bayreuther Publikum von 1876 anklingen: »Wo sind […] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch?« (I: 509)

Deutlicher: Schon diese Vokabeln aus Richard Wagner in Bayreuth (1876) zeigen, dass sich Nietzsche nicht länger als Verfechter jener in der Geburt der Tragödie (1872) noch mitgetragenen völkischen Utopie Wagners versteht, sondern fast ausschließlich der Aufklärung verpflichteten Vokabeln Auftrieb gibt, erkennbar die Pointe vorbereitend, auf die Nietzsches vielfältige und nicht immer ganz einfach auf ein Leitmotiv zu bringende Erläuterungen zum Übermenschen (vgl. Kap. XI) zulaufen: Es geht darum, »dem Menschen ein Anrecht zu schaffen, sich für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen.« (XIII: 308) Bedenkt man diesen Nietzsche at it’s best vom Frühjahr 1888, sollte man Nietzsches Siegfried aus der sechzehn Jahre älteren Tragödienschrift, jenen »Führer«, dem am »›Wiederbringen‹ aller deutschen Dinge« (I: 149) gelegen war, besser in den Orkus werfen. Vielleicht kann man einiges an ihm Nietzsches Vater198 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

X · Nietzsches Siegfried in Abgrenzung zu jenem Wagners

übertragung auf Wagner in Rechnung stellen. Drängender für uns hier an dieser Stelle des Buches ist es, nun die eben angedeutete Auslegung des Übermenschenkonstrukts genauer zu begründen.

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Kapitel XI

Nietzsches Übermensch in Abgrenzung zu hin und wieder gebräuchlichen (in Gegenwart wie Vergangenheit)

In der (internationalen) Nietzscheforschung scheinen in Sachen des »Unworts« (Musial 2009: 247) Übermensch aktuell mal wieder markige Sprüche angesagt à la: »If my reading of Nietzsche’s superman is correct, we can only shudder.« (Gillespie 2005: 67)

Im gegeben Fall kann zwar aufgeatmet werden – Lukasz Musials Vokabel ist schlecht begründet, des Gleichen Michael Gillespies’ Lesart –, der Trend allerdings ist unübersehbar, so wie bei Wolfram Groddeck zu beobachten, der bei einem Vortrag zur Gaudi des Publikums das Wort vom »Übermenschen-Quatsch« (Groddeck 2015) in Umlauf brachte. Freilich: Lachen scheint mir gar nicht erforderlich, es genügt, Nietzsches Übermenschen richtig zu interpretieren. Dies geht übrigens auch – um nicht als männerfeindlich wahrgenommen zu werden – gegen Karin Priem und Lynn Fendler: Kaum gebremst durch die von ihnen maßgeblich beigezogene Sekundärliteratur (Rüdiger Safranski), behaupteten sie im nämlichen Jahr in der Zeitschrift für Pädagogik, Nietzsches Glaube an den Übermenschen sei metaphysischen Zuschnitts und das Konzept selber in der Historienschrift als Glaube an das »Werk herausragender Individuen« (Priem/Fendler 2015: 651) präfiguriert worden. Fragt sich nur: Wie?, insofern bei dieser Lesart die ›kritische Historie‹ als zentrale Denkfigur aus dieser Schrift zugunsten der von Nietzsche verworfenen ›monumentalen Historie‹ komplett ignoriert wird. Dass derlei Unausgegorenheiten unbeanstandet bleiben, mag auch daran liegen, dass Nietzsches Übermensch ganz offenbar, jenseits transhumanistischer Projekte (etwa Sorgner 2019), die nicht wirklich via Nietzsche begründbar scheinen (vgl. Niemeyer 2016: 241 ff.), zur Verschrottung anzustehen scheint, wie etwa auch der wissenschaftliche Kommentar zu Mein Kampf insinuiert mit seiner durch Jochen Schmidt (1985) inspirierten Deutung, Hitler habe sich 200 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»orientiert« an Nietzsches Verengung des Bildes des Genies »auf die Vorstellung von einem heroischen ›Übermenschen‹, der sich gegen jeden äußeren Widerstand durchzusetzen verstünde.« (Hartmann et al. 2016: 1138) Ganz nah dran an dieser Deutung ist auch, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. Kap. XV), Corey Robin (2018: 209). Urteilen wie diesen, sie mögen so krude begründet sein wie das letztere, scheint der aktuelle Trend der Nietzscheforschung entgegenzukommen, sicherheitshalber und von Ausnahmen abgesehen (etwa Schönherr-Mann 2008: 78 ff.; Winteler 2010) lieber einem Nietzsche ohne Zarathustra und jedenfalls ohne Übermensch das Wort zu reden, figuriere Nietzsche doch »sein antihumanistisches Denken nicht zuletzt über den Übermenschen.« (Georg 2018a: 97) Deutungen dieser Art stehen für beides: für rezeptionstechnische Unglücksfälle, aber auch für die Fortschreibung selbiger, deren allererster zu besichtigen ist im Fall des späteren NS-Rassenhygienikers Alfred Ploetz: »Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: ›Alles für mich.‹« (IV: 98)

So erfuhr Ploetz als junger Arzt von Zarathustra und stellte es prompt dem ersten Teil seinen Grundlinien einer Rassen-Hygiene (1895) als Motto voran (vgl. Ploetz 1895: I), war also, als anhebender Spezialist für ›Entartung‹ (der Erbsubstanz), begeistert, zumal dem eben Zitierten der Satz vorherging: »Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht E n t a r t u n g ?« (IV: 98)

Beide Zitate sind problematisch und ziehen den Verdacht auf sich, Zarathustra habe mit dem hiermit in Rede stehenden letzten Kapitel Von der schenkenden Tugend aus Za I das Konstrukt ›Wille zur Macht‹, abweichend von der zuvor in Von tausend und Einem Ziele angedeuteten kosmopolitischen Lesart dieses Konstrukts, verfügbar machen wollen zwecks Adelung einer quasi-darwinistischen Lesart des Übermenschen als neuer Art (›Über-Art‹), und zwar dies auch noch in Gestalt einer Vision der zu bevorzugenden Herrschaftsansprüche des deutschen, ›auserwählten Volkes‹. (vgl. Niemeyer 2007: 34) Deswegen ist hier vielleicht der Hinweis angebracht, dass Zarathustra ausgerechnet an dieser Stelle ein deutliches Stoppzeichen setzt (»Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der 201 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Schüler bleibt«) und, im Ausblick auf Za II, ankündigt, er werde hier seine Jünger »mit andern Augen« suchen und sie »mit einer anderen Liebe […] lieben.« (IV: 101 f.) Zarathustras Erläuterungen zum Übermenschenkonstrukt gehen in dem bisher Gesagten nicht auf, darf man hieraus folgern, sowie: In der Summe werden sie, wie angedeutet, auf den Versuch hinauslaufen, »dem Menschen ein Anrecht zu schaffen, sich für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen.« (XIII: 308) Daraus folgt zumindest dies: Der vormalige Basketballstar Shaquille O’Neal (*1972; Körpergröße: 2,16) irrte, als er vor Jahren die Frage, ob ihm sein Trainer schon einmal ein Buch in die Hand gedrückt habe, mit den Worten meinte beantworten zu dürfen: »Ja, Friedrich Nietzsche, es ging um den Übermenschen. Ich habe es nicht gelesen. Ein Übermensch bin ich selbst, und ich wollte nichts über mich lesen.« (Der Spiegel 32/2001: 132) Und, um es eine Nummer kleiner zu versuchen: Auch der vormalige Zehnkämpfer und spätere ›Seewolf‹ Raimund Harmstorf (1939-1998; Körpergröße: 1,87) wäre fehlgedeutet, wenn man meinte, seiner Figur des Wolf Larsen aus der Verfilmung von Jack Londons Roman The Sea-Wolf (1904) eigne irgendetwas vom Übermenschen. Dies nämlich hieße, Londons in dieser Figur anschaulich gemachte kluge Allegorie auf den Untergang Nietzsches als Syphilitiker zu übersehen, wie sie sich auch andeutet in der ›blonden Bestie‹ (London 1927: 21) Ernest Everhard aus Londons S/F-Roman The Iron Heel (1907). Noch einmal sei es also herausgestellt, in diesem Fall mit dem London-Biographen Thomas Ayck (1976: 101 f.) und gegen seinen DDR-Kollegen Rolf Recknagel, der, beispielweise, in Larsen nichts weiter verkörpert sieht als »extremen Individualismus im Sinne von Nietzsches ›Übermenschen‹« (Recknagel 1975: 159): Es geht beim Übermenschen, im Einvernehmen mit Walter Kaufmann (1974/82: 360) geredet, eher um ›overman‹ denn um ›superman‹, es geht also nicht um Kraft, Macht oder gar um (Körper-)Größe. Sondern es geht um ›hohe Zustände und Handlungen‹ sowie die Frage, was diese ausmacht und wie jeder einzelne jederzeit sicherzustellen vermag, sich als (deren) ›Ursache denken zu dürfen‹. Damit ist das Thema des Folgenden hinreichend benannt. Allererst wird uns dabei der Umstand zu interessieren haben, dass jener Basketballstar nicht alleinsteht. Tatsächlich – wir haben es eben am Beispiel Alfred Ploetz gesehen – zog Nietzsches bzw. Zarathustras Rede vom Übermenschen eigentlich von Beginn an Missver202 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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ständnisse aller Art auf sich (vgl. Penzo 1992; Reichel 1994), auch, weil terminologische Feinheiten außer Betracht gerieten. Max Brahn beispielsweise, seit 1912 als Nachfolger Raoul Richters Vertrauensperson Förster-Nietzsches im Nietzsche-Archiv – 1944 wurde er in Auschwitz ermordet (vgl. Dietzsch 2009: 103) –, erklärte 1923 im Vorwort zur neuen, gekürzten Version von Der Wille zur Macht das so gut wie vollständige Fehlen der Vokabel ›Übermensch‹ in diesem angeblichen Hauptwerk Nietzsches damit, dass »der Übermensch […] in der Gesamtauffassung des neuen, großen Menschen überhaupt« (KA 9: VIII) untergehe. Die Folgen dessen lassen sich in § 675 (= § 960 der 1906er Edition von Förster-Nietzsche) studieren: Nietzsche fabuliert hier, in einem von Förster-Nietzsche (1927: 171) auch in ihre Edition Nietzsche prophetische Worte über Staaten und Völker übernommenen Nachlassvermerk von 1885/86, über die »Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden […], welche sich die Aufgabe setzen, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen ›Herren der Erde‹.« Dieser Passus hat, entgegen der Lesart, die Brahn nahelegt, mit dem Übermenschen nichts zu tun. Worum es stattdessen geht, erklärt Nietzsche selbst im nächsten Satz: Thema ist »eine höhere Art Menschen, welche sich, Dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichthum und Einfluß, des demokratischen Europa bedienten als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am ›Menschen‹ selbst als Künstler zu gestalten.« (XII: 87 f.)

Besser, klarer, verständlicher wird durch diesen Zusatz nichts – abgesehen davon, dass hier von jener ›höhere Art Mensch‹ die Rede ist, nicht aber vom Übermenschen. Zu beachten ist dabei, dass es Nietzsche selbst war, der noch Jahre später, in Ecce homo, Verwahrung dagegen einlegte, dass der Übermensch »fast überall […] als ›idealistischer‹ Typus einer höheren Art Mensch, halb ›Heiliger‹, halb ›Genie‹«, verstanden worden sei; auch mit Darwinismus habe dieses Konzept nichts zu tun, ebenso wenig wie mit Thomas Carlyles »›Heroen-Cultus‹« (VI: 300). Sicherlich: Lesartenhilfen wie diese wurden erst 1908 mit dem Erscheinen von Ecce homo zugänglich – wodurch aber niemandem verboten ist, sie doch wenigstens heutzutage, zumal als Nietzscheforscher, zu nutzen. Ein Beispiel: Michael Storch wäre in deren Linie und weiteren Erläuterungen (vgl. Niemeyer 2011: 164 ff.) fraglos aufgefallen, dass seine kaum verhüllte Empörung über § 960 von Förster203 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Nietzsches Edition Der Wille zur Macht aus den genannten Gründen fehladressiert wäre, wenn man sie, was Storch gleichwohl tut, als Empörung über Nietzsches Übermenschenkonstrukt meint weiterführen zu dürfen – mit der Schlussfolgerung, Ernst Jüngers kaum weniger martialisches Bild des Übermenschen werde letztlich als triftig adelbar, weil »Phantasien über Züchtung […] in genau jenen Werken Nietzsches [gemeint ist Der Wille zur Macht von 1906; d. Verf.] dominant werden, die Jünger mutmaßlich kannte.« (Storch 2018: 438) Nein, nochmals sei es gesagt: Auch Jünger hätte jene eben vorgetragene Ableitungskette anstellen können, basierend auf der 1908 publizierten Ecce-homo-Stelle. Er tat es nicht und wollte es wohl auch nicht – und dieser Unwille sollte durch die Nietzscheforschung des Standes 2018 nicht auch noch geadelt werden. Sie, die Nietzscheforschung, hätte die Verplichtung, jene Ableitungskette zu unterbrechen, derzufolge es ab 1900 zumal in der deutschsprachigen Rezeption gängig war, Nietzsche eine »Verbrecherund Zuchthausmoral« (Lyon 1899: 466) zu bescheinigen oder ihm vorzuhalten, die verbrecherischen Triebe »als das natürliche Recht des Individuums gegenüber der menschlichen Gesellschaft hinzustellen.« (Schädel 1904: 214; ähnlich Kiefl 1912: 819) Zumal Pädagogen völkischer Orientierung – wie etwa Paul Förster, Bruder von Nietzsches Schwager – neigten entsprechend dazu, die Rede vom Übermenschen zwecks Brechung der aktuell bestehenden »Herrschaft der Untermenschen« (Förster 1906: 143) weiterzuentwickeln. Derlei Attribute, bereichert beispielsweise um Ernst Bertrams dunkle Annahme, der Übermensch trage das Stigma »deutschen Werdens« (Bertram 1918; 80), trafen auch noch in der Weimarer Epoche auf Widerhall. Weitverbreitete Texteditionen von selbsternannten Nietzscheexperten taten ihr Übriges. In jener des Lehrers und Schriftstellers Walter v. Hauff konnte man beispielsweise zum Stichwort ›Übermensch‹ lesen: »Schmerzen sind nötig, größere Schmerzen, als je ausgehalten worden sind, um das Starke noch stärker zu machen, um ein viel kräftigeres Geschlecht heranzuzüchten, als bisher je gewesen ist […]. Wer diese ungeheuren Schmerzen und Nöte nicht aushalten kann, der soll zugrunde gehen, denn er ist dem Übermenschen nur im Wege.« (Hauff o. J.: 424)

Nach 1933 waren Lesarten wie diese gängig in Deutschland – mit der Pointe, dass der ›Generalgouverneur‹ des besetzten Polen (Hans Frank) in seiner Gedenkrede zu Nietzsches 100. Geburtstag heraus204 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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stellte (vgl. Prolog), die ganze deutsche Nation sei »gleichsam der Übermensch im Sinne Nietzsches geworden« (zit. n. Ulbricht 2004: 256), deutlicher noch, als Pointe eines anderen Lobredners aus nämlichen Anlass: »Der Führer hat uns eine Brücke über den Abgrund gebaut und nicht den Übermenschen, sondern sein ganzes Volk hinübergeführt, daß es einmal in seine angeborene Art hineinwachse und zum andern den Untermenschen vernichte.« (Kircher 1944: 162)

Vor diesem Hintergrund scheint die Entwicklung nach 1945 folgerichtig: Georg Lukács (1966: 64) erklärte in einer in Westdeutschland am Vorabend der Studentenbewegung weitverbreiteten Textauswahl, »Barbarei und Bestialität« gehörten zum »innersten Wesen« des Übermenschen. Ähnlich sah dies, gleichsam vom anderen politischen Spektrum ausgehend, Ernst Nolte (1990: 131), und zwar unter Anspielung auf die von Nietzsche in der Genealogie der Moral beschworenen »prachtvollen nach Beute und Sieg lüstern schweifenden b l o n d e n B e s t i e « (V: 275). Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass ein gewisser Hans-Günther Assel, sich auf Ernst Nolte (1963) berufend, in einer von den Pädagogischen Hochschulen Bayerns herausgegebenen Schriftenreihe Gelegenheit erhielt, seinen »Dienst für die politische Bildung unseres Volkes zu leisten« und also Folgendes zu Protokoll gab: »Der Übermensch in der Gestalt der ›blonden Bestie‹ soll sich in den Dienst der Gesellschaft stellen, um eine ›rassische Herrenrolle‹ zu spielen und um den Sklavenaufstand der Moral zu verhindern.« (Assel 1969: 7, 20)

Auch im engeren Kreis der Nietzscheforschung trafen derlei Deutungen auf Widerhall, zuletzt bei Gillespie. Er sah am Ende seiner geradezu grotesken, um das Psychologische gänzlich unbesorgten Fehldeutung fast aller zentralen Motive des Zarathustra – inklusive der von ihm übersehenen Verabschiedung des Wiederkunftsgedankens in Zarathustras Rede Das Zeichen (vgl. Niemeyer 2007: 125 ff.) – seine These beglaubigt, dass der Übermensch »can only come into existence as a result of the destruction of European civilization.« (Gillespie 2005: 56) Als gelte es, derlei Verbalradikalismus noch zu überbieten, setzte Domenico Losurdo 2009 hinzu, der Übermensch sei ein »radikale[r] Aristokrat, der nicht davor zurückschreckt, sich ein eugenisches Programm zu eigen zu machen, das bis an die Grenze des Genozids vorstößt.« (Losurdo 2009: 933 f.) 205 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Was bei Argumenten wie diesen überraschen muss, ist das fast gänzliche Fehlen philologischer Exaktheit. Hinzu kommt das Desinteresse an dem von Nietzsche beispielsweise mit dem Schlagwort ›blonde Bestie‹ Gemeinten. (vgl. Kaufmann 1974/82: 262; Brennecke 1976; Schank 2004) Auch Nietzsches diesem Themenkomplex zugehörende Begeisterung für Napoleon wird nicht immer in ihrem – etwa von Urs Marti (1993: 236 ff.) subtil dargelegten – Kontext bedacht, geschweige denn philologisch solide erörtert. Paul Glenn beispielsweise suchte gegen Walter Kaufmann geltend zu machen, dass Napoleon als Nietzsches Ideal-Übermensch im Sinne entschlossenen politischen Handelns gelesen werden müsse. (vgl. Glenn 2001: 138 ff.; Kaufmann 1974/82: 366 ff.; ähnlich schon Taureck 1989: 69 ff.) Dabei interessierte ihn allerdings nicht die biographische Dimension dieses Problems, also beispielsweise der Umstand, dass Nietzsche in einer Vorstufe von Ecce homo noch Wert auf die Feststellung gelegt hatte, dass seine Großmutter ausgerechnet an jenem Tage »des grossen Kriegsjahres 1813« mit seinem Vater niedergekommen sei, an dem »Napoleon mit seinem Generalstab in Eilenburg einzog« (XIV: 472). Glenn ignorierte des Weiteren, dass Nietzsche in einem – von seiner Schwester unterdrückten – Briefvermerk Lou von Salomé mit Napoleon verglich (6: 452), ein Notat, das möglicherweise deswegen außer Betracht kam, weil es Glenns Kritik in Sachen der mangelnden ›gender correctness‹ von Nietzsches Übermenschenkonstrukt (»[A]ll of the examples he [Nietzsche; d. Verf.] uses are male«; Glenn 2001: 157) widerlegt hätte, deutlicher gesprochen: Lou war wohl die Verkörperung von Nietzsches Ideal der Fernstenliebe und darin zugleich »das Fest der Erde und ein Vorgefühl des Übermenschen.« (IV: 78) Und schließlich noch, und damit wird es langsam ernst: Glenn meinte sich ausgerechnet auf die durch § 1017 von Der Wille zur Macht populär gewordene Bestimmung berufen zu dürfen, dass Napoleon »die nothwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen« (XII: 456) habe – und dies, obgleich es sich hierbei nur um eine Vorstufe zu der dann in der Genealogie der Moral vorgetragenen Kritik von derlei Einsicht als »Problem« Napoleons handelt, das auf die »Synthesis von U n m e n s c h und Ü b e r m e n s c h « (V: 288) verweist, deutlicher und mit einem älteren Nachlassvermerk von 1883 gesprochen: Für Nietzsche stand bei aller Bewunderung für Napoleon außer Frage, dass dieser »durch die Mittel, die er anwenden m u ß t e , corrumpiert worden [war] und […] die

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n o b l e s s e des Charakters v e r l o r e n [hatte].« (X: 251) Insoweit wird man ihn fraglos nicht als Nietzsches Ideal auslegen dürfen. Ohnehin trifft die Suche nach jenen Heroen in der Geschichte, die unter der Chiffre des Übermenschen Nietzsches Billigung erfahren hätten, nicht wirklich das Problem Nietzsches. So lobte er zwar in einem als § 871 von Der Wille zur Macht berühmt gewordenen Nachlassvermerk Cesare Borgia oder Don Juan als die »großen V i r t u o s e n des Lebens« (XIII: 72), ließ aber zugleich doch keinen Zweifel daran, wofür ihm diese ›Virtuosen‹ standen: Nietzsche ging es nicht, wie Alfred v. Martin 1941 einwandte – in Vorwegnahme seiner nach 1945 greifenden Aburteilung Nietzsches wegen der von ihm angeblich vorangetriebenen »Romantisierung von Krieg und Gewalt« (Martin 1946: 235) –, um ein Lob auf »den sich über jegliche Bindung hinwegsetzenden, grundsätzlich unbürgerlichen Menschen als solchen.« (Martin 1942: 137; kritisch: Kaufmann 1974/82: 260 f.; allgemein: Treiber 2006) Ebenso wenig ging es ihm um ein theoriepolitisches Programm, das auf – wie schon ein zeitgenössischer Kritiker zu Nietzsches nicht gelindem Ärger meinte – »Abschaffung aller anständigen Gefühle« (VI: 136) hinausliefe. Sondern Nietzsches Absicht war, die Renaissance als »die letzte grosse Zeit« sehen zu lehren, in welcher die Tugenden nicht »bedingt« gewesen seien, nicht »herausgefordert durch unsre Schwäche.« (VI: 138) Nietzsches Thema war also nicht das Lob auf einzelne Übermenschen oder gar die Forderung nach Wiederbegründung der Renaissance. Vielmehr ging es ihm um eine Tugendlehre, die sich den Geboten der Zeit zu entziehen wusste. Deswegen auch betonte er, dass »in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit […] ›böse‹ so viel [bedeutet] wie ›individuell‹, ›frei‹, ›willkürlich‹, ›ungewohnt‹, ›unvorhergesehen‹, ›unberechenbar‹.« (III: 22) Weil Nietzsches Interesse darauf ging, das auslaufende 19. Jahrhundert wieder in einen in diesem Sinne ursprünglichen Zustand zu versetzen, forderte er dazu auf, die »Verunglimpfung wieder zurückzunehmen, mit der die Menschen alle Jene bedacht haben, welche durch die That den Bann einer Sitte durchbrachen, – im Allgemeinen heissen sie Verbrecher.« (III: 33) (vgl. Balke 2003) Dies erklärt Slogans wie »Wir b r a u c h e n das Anormale« (XIII: 341), aber auch die Zarathustra-Worte: »Das Böse ist des Menschen beste Kraft« sowie »Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem.« (IV: 359) Nicht vergessen sei schließlich Nietzsches gegen Rousseau gerichtete Feststellung: »[D]er Mensch ist leider nicht mehr böse genug.« (XII: 421) Hinter der insoweit nur 207 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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als Metapher zu lesenden Kategorie des Verbrechers verbarg sich mithin das Problem des Schaffens des Neuen und die Frage, ob die Gesellschaft möglicherweise nur mithilfe von Toleranz gegenüber dem Abweichenden die Regeneration ihrer selbst sicherstellen könne, unter – mit Nietzsche gesprochen – Einschluss der Freude darüber, dass »die Gedanken Anderer gegen die eigenen zu Rechte kommen.« (III: 271) Von diesen Hinweisen ausgehend soll im Folgenden der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt rekonstruiert werden. Anschließend daran geht es um die Einfügung dieses Konstrukts in jenes Projekt einer »Philosophie der Zukunft«.

1. Der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt Mit der Rede vom Übermenschen reagiert Nietzsche auf eine Sorge, der Zarathustra mit seiner Kritik am »letzten Menschen« (IV: 19) Ausdruck gab und der Nietzsche sowohl in Jenseits von Gut und Böse unter der Chiffre »N i v e l l i r e r « (V: 61) als auch in der Genealogie der Moral nun deutlicher unter dem Titel »Nihilismus« Raum geben wird, wenn er sagt: »Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere.« (V: 278) Diese Diagnose fußt auf einem – als § 866 von Der Wille zur Macht bekanntgewordenen – Nachlassvermerk (vom Herbst 1887), in welchem Nietzsche »die Anpassung« geißelt, »die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen«, um gegenwirkend der Notwendigkeit »der Erzeugung des s y n t h e t i s c h e n , des s u m m i r e n d e n , des r e c h t f e rt i g e n d e n Menschen« das Wort zu reden und zu diesem Zweck, als Möglichkeitsbedingung, dem »Distanz-Gefühl« im Vergleich zu den »›Nivellirten‹.« (XII: 462 f.) Michael Storch rückte Überlegungen wie diese in einen Zusammenhang mit § 752 der WM-Edition FörsterNietzsches und den Satz: »Die Demokratie repräsentirt den U n g l a u b e n an große Menschen und an Elite-Gesellschaft« (XI: 224) – als stünde diese Definition bereits für ein antidemokratisches Programm Nietzsches. Mehr als dies: Storchs Folgerung, dass »diese antithetisch-agonale Fassung des Übermenschen-Gedankens für [Ernst; d. Verf.] Jünger eine unmittelbare Evidenz erlangen [musste]« 208 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt

(Storch 2018: 439), erklärt flugs Nietzsche via Jüngers Rezeption zum Ur-Idol der konservativen Revolution sowie der Neuen Rechten, wohlgemerkt: erneut ohne Berücksichtigung widersprechender Textstellen sowie des Umstandes, dass Nietzsche eine Veröffentlichung des Zitierten ausdrücklich untersagt hatte, also ganz nach Art der im Prolog bereits angesprochenen ›plündernden Soldaten‹. Sachlich näher liegt es, die zitierten Passagen nicht kultur-, sondern zivilisationskritischen Überlegungen (vgl. Lemm 2004: 233 f.) zuzuordnen, die sich, den Fall unseres einleitend erwähnten Basketballstars oder aber auch irgendeine Nachmittags-TV-Show im Hinterkopf, durchaus auch auf je aktuelle Gegenwart beziehen lassen (vgl. Pieper 2001: 150 ff.), und zwar, dies zumal im Geist Ernst Jüngers (vgl. Löcht 2018: 464 f.), auch im Blick auf Zarathustras Kritik an jenem ›letzten Menschen‹, »der Alles klein macht« (IV: 19) und nach Gleichheit in der Herde trachtet auch ohne »Hirt« (IV: 20), will sagen: über den man – sprich: der Pastor – eigentlich gar nicht mehr herrschen muss, weil er sich schon selbst beherrscht. Dass dies nicht auf Nietzsches Zustimmung trifft, zeigt die Rede Der freiwillige Bettler aus Zarathustra IV und die hier im Zentrum stehende Vokabel »Kühe« (IV: 334), die Nietzsche, auch in zeitgleich verfassten Briefen, etwa an Köselitz mit Seitenblick auf Jacob Burckhardt (6: 515), zum Symbol wird für Unvernunft und Verständnislosigkeit. Einige Indizien, darunter einschlägige Exzerpte aus dem Nachlass vom Frühjahr 1884 (XI: 17 ff.) sowie Gesprächserinnerungen Resa v. Schirnhofers (vgl. Gilman 1981: 479 f.) sowie Josef Paneths (vgl. Krummel 1988: 490 f.), erlauben den Schluss, dass sich Nietzsche in Sachen speziell dieser Terminologie von Francis Galtons züchtungstechnischen Erwägungen anregen ließ. (vgl. Haase 1989: 647 ff.) Allerdings muss beachtet werden, dass die eigentliche Pointe von Der freiwillige Bettler nicht auf Züchtung (des Übermenschen) hinausläuft, sondern auf Bekehrung im Modus von Bildung. (vgl. Niemeyer 2007: 100 ff.) Zentral ist bei all dem Nietzsches kritische Reflexion auf das Christentum und die als lebensfeindlich eingeschätzte Gottesvorstellung als ursächliches Moment und dies angesichts der dem Menschen nach dem Tod Gottes abzuverlangenden Leistungen: »[D]as ›Individuum‹ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung.« (V: 216)

Oder, mit einem Wort Zarathustras: 209 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XI · Nietzsches Übermensch

»[I]ch nahm euch Alles, den Gott, die Pflicht, – nun müßt ihr die g r ö ß t e P r o b e einer e d l e n Art geben.« (XI: 88)

Den Hervorhebungen Nietzsches zufolge wäre das ÜbermenschenKonstrukt also in der praktischen Philosophie zu beheimaten und dies mit dem Auftrag, jener Gefahr des Nihilismus entgegenzutreten. Lesen freilich will gelernt sein, Nietzsche lesen ohnehin, aber auch ganz allgemein. Georg Lukács beispielsweise präsentierte das eben gegebene Zitat so, als habe Zarathustra von einer »edlen Tat« (Lukács 1954: 276; 1966: 59) gesprochen – und las das Übermenschen-Konstrukt Nietzsches folgerichtig als Teil einer politischen Philosophie (mit militant anti-kommunistischem Auftrag). Insoweit könnte man versucht sein, Nietzsche im Gegenzug zu Lukács richtig zu lesen, aber falsch zu betonen, mit der Pointe, dass von einer »edlen A r t « zu reden wäre und folglich von einer Zuordnung des Übermenschen-Konstrukts auf Fragestellungen der philosophischen Anthropologie. Dass diese Zuordnung nicht ganz fehlgreift, zeigt der Auftakt, sprich: Zarathustras Auftritt auf dem Markt vor dem Volk mit den Worten: »I c h l e h r e e u c h d e n Ü b e r m e n s c h e n . Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden? / Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?« (IV: 14)

Dies sind selbstredend rhetorische Fragen. Deswegen auch lobt Zarathustra gleich nachfolgend die »Stunde der grossen Verachtung«, die Stunde also, »in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Tugend und eure Vernunft« – und in welcher der zum Übermenschenideal konvertierte Mensch gelernt haben wird, voller Stolz auszurufen: »›Was liegt an meinem Glücke! Es ist Armut und Schmutz, und ein erbärmliches Behagen. Aber mein Glück sollte das Dasein selbst rechtfertigen!‹« (IV: 15)

Deutlich ist hier der Paradigmenwechsel weg vom auf die Ästhetik (Wagners) zentrierten Ideal des frühen Nietzsche hin zum Anspruch auf Daseinsrechtfertigung mittels selbstbestimmter Lebensführung in einer Epoche, in welcher mit dem Tod Gottes die Schöpfungsvollmacht für den Menschen verfügbar scheint. Es darf (oder soll man 210 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt

sagen: muss?) nun gedacht werden an die Verschiedenheit der Menschen in ihrer moralischen Zulässigkeit – und mithin an eine Existenzform, für die der Übermensch steht. Deswegen auch lässt Zarathustra im fortgeschrittenen Argumentgang (in Zarathustra IV) den ›blinzelnden‹ Pöbel (respektive ›letzten Menschen‹) im Blick auf dessen vermeintlich gesicherte, ihn beruhigende Wahrheit: »[W]ir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir Alle gleich!« ebenso trocken wie tödlich auflaufen mit der Replik: »Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott!« (IV: 356 f.) Auch dieses Statement macht deutlich: Prägend für den Begriff des Übermenschen ist, schon von seinem Präfix her, die Konnotation des Ausdrucks in Richtung eines Wesens, das für gelungene Überwindung des den Einzelnen bisher bindenden Artcharakters steht. Gegeben hat Nietzsche damit zugleich auch eine indirekte Antwort auf seine über zwanzig Jahre ältere Frage aus Fatum und Geschichte. »Hat dies Werden denn nie ein Ende?« (BAW 2: 56), hatte der Siebzehnjährige damals noch gerätselt angesichts des (darwinistischen) Befundes, dass auch der Mensch nur das Ergebnis einer langen Entwicklung sei. Jahre später in der Morgenröthe schien Nietzsche dieses Thema endgültig ad acta legen zu wollen. »Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche A b k u n f t hinzeigte: diess ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in diese Richtung!« (III: 53 f.)

Auch den anderen, eher umgekehrten Weg, nämlich den Versuch der Sicherung der Gottverwandtschaft des Menschen mittels des zukunftsorientierten Verweises auf den edlen Gehalt seiner Zielsetzungen, verwarf Nietzsche in diesem Zusammenhang: »Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge […] es giebt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer ›Erdenbahn‹ zur Gottverwandschaft und Ewigkeit emporsteigen.« (III: 54)

Trotz dieser insoweit an sich klaren Position ist Nietzsche, zumindest was den Nachlass aus dieser Zeit angeht, deutlich auf der Suche nach einem dritten Weg. Anlass hierfür gibt ihm die »Spannung zwischen dem immer reiner und ferner gedachten Gott und dem immer sündiger gedachten Menschen« und die sich hieran anschließende Frage, ob es nicht »vermittelnde Brücken zwischen zwei solchen Klüften« gäbe, 211 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XI · Nietzsches Übermensch

»Neuschöpfungen«, wobei er sich hierzu die drei Stichworte notierte: »Engel? Offenbarung? Gottessohn?« (IX: 287 f.) Drei Jahre später, im Anschluss an den zwischenzeitlich verkündeten Tod Gottes, ist diese zunächst noch mit Begriffen aus dem Metaphysik-Inventar belegte ›Neuschöpfung‹ da und wird, nun deutlich schon in nicht-metaphysischer Absicht, Übermensch geheißen. Zarathustra stellt sich also, im Rückblick auf Nietzsches Position in Fatum und Geschichte gesprochen, entschlossen in die Botschaft des notwendigen Werdens des Neuen hinein, so, als wolle er sagen, dass mit dem Übermenschen das Werden tatsächlich an sein Ende kommen könne. Der Übermensch scheint mithin ein auf Finalisierung metaphysischer Werdensvorstellungen bezogenes anthropologisches Konstrukt zu repräsentieren, das als ein solches auch Anschlussstellen bietet in Richtung nicht-philosophischer wissenschaftlicher Disziplinen. Bleibt man aber zunächst im Felde des Philosophischen, wird man den Begriff des Übermenschen mindestens noch in die bildungsphilosophische Tradition einfügen können. Der Übermensch wäre dann – so Martin Heidegger – »derjenige Mensch, der über den bisherigen Menschen hinausgeht, einzig um den bisherigen Menschen allererst in sein noch ausstehendes Wesen zu bringen und ihn darin fest zu stellen.« (Heidegger 1954: 76) Oder, wie Nietzsche in geradezu klassisch-pädagogischer Pose sagt: auf dass »man d e n G l a u b e n a n d e n M e n s c h e n festhalten darf!« (V: 278) Ganz in diesem Sinne hatte Nietzsche schon im Nachlass vom Herbst 1880 gefordert, dass »jedes Individuum der Versuch sein [sollte], eine h ö h e r e G a t t u n g a l s d e n M e n s c h e n z u e r r e i c h e n , vermöge seiner individuellsten Dinge« (IX: 237) – eine Pointe, die man mit Gerard Visser auf den Begriff bringen darf: »Der Übermensch ist kein Mensch mehr, sondern ein Individuum.« (Visser 1999: 107) Diese Bestimmung wiederum könnte Anlass sein, die (geisteswissenschaftliche) Pädagogik ins Spiel zu bringen, die seit Kant an das Projekt der Menschwerdung des Menschen gebunden ist und sich derartiges wohl unter dem Stichwort der Höherbildung einverleiben und mithilfe von Begriffen wie Bildsamkeit weiter verhandeln würde, und zwar gleichsam als Auftrag an alle, sich nicht mit dem Status quo zu bescheiden, sondern qua Bildung der eigenen Möglichkeiten inne zu werden. Dies klingt also zunächst vergleichsweise vertraut, was durchaus heilsam sein kann. Ein Beispiel: Nietzsche warnte im Nachlass (vom Mai/Juli 1885), in der Logik dieses insoweit rekonstruierten Ansatzes 212 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt

völlig korrekt, davor, dass »[ e ] i n Gott […] immer ein Te u f e l « sei, folgernd: »Es muß v i e l e Übermenschen geben: alle Güte entwickelt sich nur unter seines Gleichen.« (XI: 541)

Wenn man freilich um diese (von Nietzsches Schwester unterdrückte) Nachlasspassage nicht weiß, im Gegensatz zu der Formel »Nicht ›Menschheit‹, sondern Ü b e r m e n s c h ist das Ziel!« (XI: 210),

die Förster-Nietzsche der Nachlasskompilation Der Wille zur Macht als § 1001 einfügte – und die fortan zumal nach 1933 in Teileditionen nachlesbar war (vgl. Oehler 1933: 42) –, kann es durchaus passieren, dass man den Koch (Nietzsche) schlägt, aber den Kellner (FörsterNietzsche) unbehelligt lässt. Am Beispiel gesprochen: Albert Rebles noch 1975 vorgetragener Tadel, Nietzsche lasse den Leser im Unklaren, »ob der Übermensch dann ein seltenes, die Masse überragendes Genie oder der Typ der ganzen späteren Menschheit sein soll«, wäre besser wohl an Förster-Nietzsche adressiert worden (wegen ihrer Verantwortung für den Nichtabdruck jener Nachlasspassage vom Mai/ Juli 1885). Reble ist damit keineswegs aus dem Schneider, im Gegenteil: Ihm ist anzulasten, die Nazifizierung Nietzsches gleichsam im gleichen Atemzug nachträglich sanktioniert zu haben mit seinem Urteil, die Herrenmoral des Machtmenschen à la Nietzsche bestünde darin, »daß er r ü c k s i c h t l o s a l l e s d a s a l s › g u t ‹ s e t z t , w a s s e i n e r M a c h t u n d L e b e n s e n t f a l t u n g d i e n t , und daß er sich dabei weder um ›Wahrheit‹ noch um andere objektive Werte, noch um schwächere Menschen kümmert.« (Reble 1975: 254)

So wohlgemerkt einer der führenden (westdeutschen) Pädagogen der Nachkriegsepoche über Nietzsche in einem weit verbreiteten Lehrbuch. Wenden wir uns von diesem Abgrund noch einmal Nietzsche zu, so bleibt festzuhalten: Der in die Belange der Bildungsphilosophie einzuordnende Auftrag Nietzsches in Sachen Übermensch erging an jeden einzelnen Menschen. Dies zeigt auch Zarathustras Parabel Von den drei Verwandlungen (des Geistes), in welcher, mit Eugen Fink gesprochen, die »Genesis des Übermenschen« (Fink 1960: 72) vorgeführt wird, und zwar in Analogie zu Nietzsches Bildungsgeschichte. Das Kamel beispielsweise, das die erste Stufe der Geistesentwick213 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XI · Nietzsches Übermensch

lung repräsentiert und vorgestellt wird als der »tragsame Geist«, der »gut beladen sein [will]« (IV: 29), steht offenkundig für eine Reminiszenz an Nietzsches Schul- und Studienzeit. Des Kamels Frage beispielsweise, ob der Sinn tatsächlich darin liegen könne, »sich von Eicheln und Gras der Erkenntniss nähren und um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden« (IV: 29), war exakt Nietzsches selbstquälerische Frage als Student, die ihn notwendig in die Philosophie hineinführte, in der Erwartung, dass seine Seele dort weniger Hunger leide. (vg. Niemeyer 1998: 91 ff.) Auch der Löwe, platziert auf der zweiten Stufe der Geistesverwandlung, erinnert an Nietzsche, diesmal wegen des Imperativs »ich will« (IV: 30), der Nietzsches Kalkül – aus der Historienschrift – wieder aufnimmt auf ein »neues Geschlecht«, das sein (moralisches) »So soll es sein« gegen das (geschichtliche) »So ist es« (I: 311) zu setzen vermag. Nicht zu vergessen die Kindmetaphorik: Sie drängte sich für Nietzsche vermutlich auf, weil das – auch den Übermenschen kennzeichnende – Wollen »seines Willens« und das Interesse am Gewinn »seiner Welt« nahe legt, an das auch dem Kind eigene »Spiel des Schaffens«, der »Unschuld«, des »Vergessens« (IV: 31) zu denken. (vgl. Gadamer 1986: 6) Die Kindmetaphorik ist hier gekennzeichnet durch den Bezug auf das Spielerisch-Zweckfreie. Sie setzt damit, wie schon Schopenhauer (SW II: 461) wusste, Assoziationen frei in Richtung des Genies. Außerdem wird die Differenz zum ernsthaft-vernünftigen Erwachsenen betont, der in seinen subjektiven Interessen aufgeht und nur durch sein Nützlichkeitsstreben diktiert wird. Zusammenfassend gilt: Was Nietzsche in der Parabel Von den drei Verwandlungen vorgelegt hat, ist die Skizze einer befreiungsorientierten Theorie des Bildungsgangs, die ihr Zentrum erkennbar auf der zweiten Stufe findet: auf der des Löwen, der an Nietzsche in seiner nach-philologischen Ära erinnert und dessen Auftrag ein zweigleisiger ist: Nach hinten hin hat er, in Analogie zu Nietzsches Bildungsgeschichte gesprochen, die Destruktion der das Kamel (den Philologen Nietzsche) noch regierenden Klugheit zu leisten. Und nach vorn zu muss er die Schaffung neuer Werte und mithin eine Lebensform vorbereiten, in der dann, eben in Gestalt des als Übermenschen zu deutenden Kindes, das Motiv der Selbstbestimmung das Regiment übernehmen kann und die Epoche des Epigonalen endgültig endet. Komplettiert wird das Ganze – aber das kann hier nicht mehr dargestellt werden (vgl. Niemeyer 2007: 125 ff.) – in der allerletzten Rede Zarathustras mit der auch von Alexander Nehamas 214 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt

(2000: 18) betonten Pointe, dass es Zarathustra selbst ist, der sich hier als Übermensch beglaubigt bzw. vollendet. Nietzsche und Zarathustra sind so gesehen die beiden zentralen Exempel nicht nur für die bildungsphilosophische Ausdeutbarkeit des Übermenschen-Konstrukts, sondern auch für dessen Realisierbarkeit, jedenfalls unter der Bedingung einer wach und selbstreflexiv durchlebten Bildungsgeschichte. Dass Nietzsche derlei nur als »Glücksfälle« gelten lassen wollte, als Indizien für »ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Culturen heraus« (VI: 171), sollte man nicht mit Pessimismus verwechseln. Denn dahinter verbirgt sich der Auftrag, dass man derlei in Zukunft eben entschiedener »z ü c h t e n soll, w o l l e n soll« (VI: 170), wobei der Kontext deutlich macht: Entscheidend ist der letztgenannte Ausdruck. Er lässt im Übrigen erkennbar werden, dass Nietzsche nicht mit einem Geschichtsgesetz oder einer Fortschrittsidee operierte, sondern mit den Intentionen eines handelnden Subjekts im Blick auf ihm obliegende veränderbare kulturelle und gesellschaftliche Phänomene. Diesem Gebot gehorcht auch noch Nietzsches im Nachlass vom 1887/88 als »Schlußsatz« angekündigte Formel, wonach »alle ›Wünschbarkeiten‹ in Hinsicht auf den Menschen absurde und gefährliche Ausschweifungen waren« und ihm mithin »der w i r k l i c h e Mensch einen viel höheren Werth darstell[e] als der ›wünschbare‹ Mensch irgend eines bisherigen Ideals.« (XIII: 56) Hiermit wird keineswegs, wie Reinhart Maurer mit erkennbarer Erleichterung annahm, »Nietzsches gelegentliches Übermenschenzukunftspathos« (Maurer 1994: 113) korrigiert. Nietzsche kritisiert hier lediglich eine Strategie, mit der eine »einzelne Art von Mensch i h r e Erhaltungsund Wachstumsbedingungen über der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte.« Diese Kritik zielte auf den vom »welt- und menschenverleumdenden« Christentum protegierten Typus des vermeintlich ›guten‹ Menschen, bei dem übersehen werde, »daß die Fähigkeit des Menschen, Werthe anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt war, um dem tatsächlichen, nicht bloß ›wünschbaren‹ W e r t h e d e s M e n s c h e n gerecht zu werden.« (XIII: 56) Maurer, der diesen Passus bezeichnenderweise nicht zitierte, übersah folgerichtig, dass hiermit der Übermensch wieder im Raum steht, und zwar als ein Wesen, dessen Fähigkeit, neue Werte anzusetzen, gerade nach dem Tod Gottes hoch entwickelt sein muss.

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Diesen Gedanken und die Hybris, die er in sicht birgt, bringt Zarathustra auf den Punkt: »Die Guten m ü s s e n Den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet!« (IV: 266)

Angesprochen ist hiermit eine Sorge, die Zarathustra durchaus auch auf sich und sein Übermenschenprojekt bezieht. Entsprechend brachial fällt sein erster, spontaner Ratschlag aus: »Z e r b r e c h t , z e r b r e c h t m i r d i e G u t e n u n d G e r e c h t e n ! « (IV: 267)

Zarathustra hat hiermit, so will es scheinen, erstmals nicht nur das Zerbrechen alter Tafeln, sondern auch der ihnen Folge leistenden Menschen gefordert. Diesen Aspekt verrechnete Paul Loeb (2004: 132) als Beleg für die Wiederkehr des dem Frühwerk eigenen Fanatismus – eine nicht wirklich überzeugende Argumentation, wie andernorts gezeigt wurde (vgl. Niemeyer 2007: 140 f.) und auch Zarathustras Gegenwehr gegen die Vorherrschaft der Guten in ihrer gleichsam subtilen Variante andeutet, etwa in der Rede Von der schenkenden Tugend: Zarathustra versucht hier nicht etwa, für seinen Glauben anstelle des christlichen zu werben, sondern er fordert seine »Jünger« auf: »Nun heisse ich euch mich verlieren und euch finden.« (IV: 101) Dies geschieht in der Absicht, das entmündigende Moment christlich geforderter Selbstverleugnung herauszustellen und dagegen das produktive Moment der Verleugnung des Lehrers »als unumgängliche Voraussetzung aller Selbst- und Sinnproduktion« (Pieper 1990: 364) zu betonen. Auf diese Weise versucht er seine Einsicht, dass er sich eine eigene Tugend erfinden müsse, zum Motiv aller zu machen und darüber die Zahl der ›Guten und Gerechten‹ zu reduzieren. Dass »Jeder sich s e i n e Tugend, s e i n e n kategorischen Imperativ erfinde« (VI: 177), trägt Nietzsche denn auch im Antichrist gleichsam als Extrakt seiner praktischen Philosophie vor, die zugleich auch Geltung erheischt für den, der sich hinter Zarathustra verbirgt: Nietzsche nämlich war es, der sich, gleich einem neuen ZarathustraChristus, im Kampf gegen die Pharisäer seiner Zeit sah, sich damit zugleich seine eigene Tugend erfindend – und folglich mit einigem Recht vermutend, dass man ihn, wenn dies nicht zum Motiv aller würde, kreuzigen werde. Die Zeichnung einiger ›Wahnsinnsbriefe‹ Nietzsches vom Januar 1889 mit »Der Gekreuzigte« (8: 572 f.) ist so betrachtet folgerichtig und weist auf Nietzsches späte Analogsetzung 216 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als bildungsphilosophisches Konstrukt

mit Jesus hin (vgl. Detering 2009), aber auch auf seine Gewissheit, letztlich in all seinen Ambitionen gescheitert zu sein, weil am Ende die ›Guten und Gerechten‹ und mithin der Nihilismus obsiegt haben. Wenn damit gleichwohl noch nicht das Ende der Durchsage in Sachen Übermenschen-Konstrukt erreicht ist, dann liegt dies an Aspekten, denen wir uns nun zuwenden wollen.

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2. Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft« Vorab ist der Kontext zu erläutern, dem der Ausdruck ›Philosophie der Zukunft‹ zugehört. Anzusetzen ist dabei an einem Brief Nietzsches an Köselitz vom März 1884, in dem es heißt: »Der Teufel weiß! – nun, nachdem ich soweit mein Stillschweigen gebrochen habe, bin ich zu ›mehr‹ verpflichtet, zu irgendeiner ›Philosophie der Zukunft‹.« (6: 487)

Geschrieben wurde der Brief zu einer Zeit, zu der Nietzsche den Zarathustra für abgeschlossen hielt. Er ist sich nun sicher, dass der Leser, der einmal in diesem Buch »g e l e b t hat, […] mit einem andern Gesichte wieder zur Welt zurück[kommt].« Insoweit markiert der Zarathustra den die geistige Umkehr des Lesers bewirkenden »Abgrund der Zukunft« (6: 479), noch nicht aber, wie man hinzusetzen könnte, jene ›Philosophie der Zukunft‹, die zugleich auch die Rechtfertigungen für die Notwendigkeit dieser Umkehr und mithin für die Notwendigkeit einer nach-christlichen und gleichwohl sinnvollen und verantwortbaren Weltauslegung und Lebensführung vorzutragen hätte. Will man die Konturen einer so zu verstehenden ›Philosophie der Zukunft‹ bestimmen, hätte man folglich genauer zu betrachten, was dem Zarathustra folgt. Dabei ist auffällig, dass viele dieser Arbeiten offensichtlich weniger durch eine philosophische denn durch eine psychologische Absicht geprägt sind. So wird beispielsweise Der Fall Wagner angekündigt als »ein honnettes Duell eines Psychologen mit einem frommen Verführer« (8: 523); Nietzsche contra Wagner figuriert im Untertitel unter der Chiffre Aktenstücke eines Psychologen; die Götzen-Dämmerung ging ursprünglich unter dem Titel Müssigang eines Psychologen an den Verlag; und Ecce homo schließlich verdient es, schon wegen des autobiographischen Bezuges als Dokument für Nietzsches psychologische Neugier gelesen zu werden. Sie erhält im Übrigen nun auch Zufuhr von Dritten, etwa von Dostojewskij, dem Nietzsche, wie er im November 1888 festhält, »das werthvollste psychologische Material« (8: 483) verdankt. Rechnet man noch den Stolz hinzu, mit dem Nietzsche im gleichen Monat auf das Lob Strindbergs reagiert, der in ihm »den größten Psychologen des Ewig-Weiblichen« (8: 496) erblickte, hat man allen Anlass, den psychologischen Absichten Nietzsches als den für sein Spätwerk 218 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft«

maßgeblichen nachzugehen. Dies gilt auch für jene zwei Werke der Nach-Zarathustra-Ära, die Nietzsche im Juni 1888 zu den »weitgreifendsten und wichtigsten« (8: 340) seines Gesamtwerks erklärte: nämlich die Genealogie der Moral sowie Jenseits von Gut und Böse. Insoweit liegt die Vermutung nahe, dass Nietzsche in dieser Werkphase auch das Übermenschen-Konstrukt in psychologisierter Fassung aufbereitet hat und nur in dieser Form als Vermächtnis seiner ›Philosophie der Zukunft‹ der Nachwelt anbieten wollte. Begonnen sei dabei mit einem Seitenaspekt: Zarathustras Scheitern als Erzieher schon in Zarathustra’s Vorrede ist keineswegs ein Zeichen von Schwäche oder gar ein Konstruktionsfehler des Zarathustra. Vielmehr ist es folgerichtig und zwingend, um die nun erst greifende Exposition Zarathustras in seiner neuen Rolle als Psychologe anschaulich zu machen. Diese Neuauslegung Nietzsches als, wie man mit Benjamin Kaiser (2017: 303) sagen könnte, »Denker der Ohnmacht« – der zumeist als »Denker der Macht« eingeordnet und überschätzt werde, – beginnt mit der Setzung aus der berühmten vierten Rede »Leib bin ich ganz und gar und Nichts ausserdem« sowie der nachfolgenden Erläuterung: »›Ich‹ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.« (IV: 39)

Was Zarathustra hier weiterführt, ist Nietzsches Überlegung aus Morgenröthe, wonach im »sogenannten ›Ich‹« nicht eigentlich eine Tatsache zu sehen sei (III: 107), sondern eher ein Indiz für die dem Menschen eigene Neigung, das »Activum und das Passivum [zu] verwechseln.« (III: 115) Die Konsequenz für die Selbstauslegung Zarathustras als ›Lehrer des Übermenschen‹ ist erheblich. Denn wessen es nun und als Ersatz für seine übereilte volkserzieherische Tätigkeit bedarf, ist eine Psychologie des Lernens sowie des Unbewussten. Sie hätte wiederum einer Pädagogik des Übermenschen, zumindest aber einer subtilen Menschenkunde zuzuarbeiten, vorgetragen in einer »Menschensprache« – wie Friederike Felicitas Günther dies nennt, leider etwas nebulös –, »die anthropologische Bedingungen spiegelt.« (Günther 2016: 389) Ein Maß hierfür ist die Auslegung Zarathustras als »Räthselrather und Erlöser des Zufalls« angesichts dessen, »was Bruchstück ist am Menschen und Räthsel und grauser Zufall.« (IV: 248) Hiermit sowie mit der 1888 nachgereichten Titulierung Zarathustras als »der 219 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XI · Nietzsches Übermensch

erste Psycholog der Guten« und folglich »Freund der Bösen« (VI: 369) sind die entscheidenden Stichworte genannt. Denn tatsächlich erweist sich Zarathustra zumindest in einigen der Reden, die noch folgen, als beides, und dies in durchaus raffinierter Konstruktion, denn: Als ›Psychologe der Guten‹ auftretend, ist er zugleich der vermeintlich Guten hartnäckigster ›Feind‹ ; und als ›Freund der Bösen‹ agierend, ist er zugleich der vermeintlich Bösen hartnäckigster Psychologe. Als solcher will er im Sinne der Leitidee von Menschliches, Allzumenschliches dartun, dass »die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind« (II: 24), oder, so Zarathustra in einer seiner Reden an einen potentiellen Jünger: dass »deine Tugenden […] aus deinen Leidenschaften [wuchsen].« (IV: 43) Beispielhaft für diese neue Lehre und Lehrstrategie sind – was Zarathustra I angeht – die Reden Vom bleichen Verbrecher sowie Vom Baum am Berge, was hier nicht mehr erläutert werden kann. (vgl. Niemeyer 2007: 18 ff.) Auch in Zarathustra II agiert Zarathustra weniger als Erzieher denn als Psychologe. Als solcher führt er fürwahr eine »neue Rede« (IV: 106), etwa, wenn er von der »Unterwelt« und den »Schatten des Ehemals« (IV: 154) spricht oder davon, dass sich »die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten [hebt].« (IV: 159) Metaphern wie diese – ob nun gelungen oder nicht – sind zu lesen als Vorschein auf eine zu entwickelnde psychologische Fachsprache, die einen Paradigmenwechsel im Blick auf Nietzsches Kulturbegriff anzeigt. Zarathustra bedarf ihrer, weil er sich das Studium des Menschen unter Konzentration auf das ›Tierhafte‹ zur Aufgabe macht, sprich: weil er als »der Erkennende […] unter Menschen a l s unter Thieren« (IV: 113) wandelt. Das Ergebnis ist niederschmetternd und möglicherweise biographisch aufschlussreich: »Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen […]; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern.« (IV: 155)

Entsprechend demaskiert Zarathustra nacheinander die ›Mitleidigen‹, die ›Priester‹, die ›Tugendhaften‹, das ›Gesindel‹ und schließlich die »Prediger der G l e i c h h e i t «. Ihnen lastet er Rachsucht an und die Vermummung der »heimlichsten Tyrannen-Gelüste […] in TugendWorte« (IV: 129), vor allem aber: Er hält ihnen vor, dass der Übermensch unter dem Regiment der von ihnen verfochtenen (christlichen) Idee der Gleichheit gar nicht real werden kann. Zusammenfassend gesprochen darf man Nietzsches Zarathustra als Zeugnis lesen für zumal des späten Nietzsches Einsicht in die 220 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft«

Schwäche von Erziehung. Diese besteht dann und sofern sie nicht vom Wissen um die Psychologie des Menschen getragen ist und allein darin gründet, »den Einzelnen« – wie es in Die fröhliche Wissenschaft kritisch heißt – »durch eine Reihe von Reizen und Vortheilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, w i d e r s e i n e n l e t z t e n Vo r t h e i l , aber ›zum allgemeinen Besten‹ in ihm und über ihn herrscht.« Kurz: Die im Fall gelingender Erziehung resultierende Tugend des Einzelnen ist nach Nietzsche eine »öffentliche Nützlichkeit«, aber ein »privater Nachtheil« (III: 392), ein Preis, den er zu zahlen nicht bereit war und wohl unter dem Stichwort ›Selbstverleugnung‹ abgespeichert hätte. Nietzsches Alternative ist um Vokabeln gruppiert wie Psychologie und Selbst-Erziehung sowie Wiederherstellung der »Unschuld« des Geschehens durch Entfernung des »Begriffs der Strafe« (III: 26) aus der Welt. Speziell für Erzieher ist der – auch in Zarathustra III (IV: 222 ff.) wieder aufgegriffene – Ratschlag von Interesse: »Ringen wir nicht im directen Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserm Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir den Andern durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber d u n k l e r werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei Seite! Sehen wir weg!« (III: 552)

Vielleicht waren dies insgesamt Positionen, die es der auf Autonomie erpichten psychologieabstinenten deutschsprachigen Pädagogik des vergangenen Jahrhunderts eher ratsam erscheinen ließ, allenfalls einige Slogans des Zarathustra zu adaptieren und den Rest als a-moralisch oder schwer verständlich ad acta zu legen. Die Sprache des Zarathustra als Bildersprache, aber auch als angeblich nicht entschlüsselbare Privatsprache, war dabei als Ausrede hilfreich. Damit freilich sollte nun, im 21. Jahrhundert, Schluss sein. Neues Licht fällt, von hier aus betrachtet, auch auf Nietzsches Frage, wie es denn dazu kommen konnte, dass die Menschen mehrheitlich in jener dekadenten Gleichheit versanken, aus der zu erheben des Übermenschen Auftrag ist. Denn hier dominiert zunächst – wenig überraschend – ein theologiekritischer Fokus: Nietzsche rechnet es – so im Nachlass vom Frühjahr 1880 – der Vorherrschaft der christlichen Gleichheitsdoktrin zu, dass der Mensch »alle Verschiedenheit als unmoralisch« (IX: 73) zu verwerfen habe (also auch jene, 221 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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die sich aus der Differenz Mensch/Übermensch ergibt). So die – in der Figur des ›letzten Menschen‹ bereits angesprochene – Ausgangslage, die zu verändern er sich anheischig macht. Spätestens die Frage, wie denn diese Ausgangslage im alltäglichen Handeln der Menschen ihre Bestärkung erfahre, führt Nietzsche immer näher an sozialisationskritische, auch sozialpsychologische Analyseschemata heran. Letztere waren schon dem frühen Nietzsche nicht unvertraut. So lesen wir in Schopenhauer als Erzieher (1874): »Die Massen scheinen mir nur in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als verschwimmende Copien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Grossen und endlich als Werkzeuge der Grossen; im Uebrigen hole sie der Teufel und die Statistik!« (I: 320)

Diese Formulierung spiegelte noch deutlich die Wagner-Verehrung des aufstrebenden Genies wider. Immerhin liegt aber schon der Gedanke nahe, dass die Ununterscheidbarkeit des in der Masse aufgehenden Einzelnen für jene Dekadenz der Gleichheit zeuge. Im Ergebnis dessen vermochte Nietzsche nur noch »Scheinmenschen« (I: 338) zu sichten, die infolge ihrer Furchtsamkeit, »dem Geschick mit Entschiedenheit entgegenzutreten« (BAW 2: 60), der Konvention folgten und entsprechend »heerdenmässig zu denken und zu handeln« (I: 337) gewohnt seien. Damit lagen insgesamt zentrale Grundbegriffe der sich später herausbildenden Sozialpsychologie bereit. Die Analyse selbst folgt freilich noch weitgehend den Intentionen der Aufklärung, den sozialpsychologischen Motiven auch eines Rousseau oder Schopenhauer, ohne die von Nietzsche erst 1884 angemeldete Notwendigkeit einer »neuen Aufklärung« (XI: 86) zu betonen. Sie hätte den psychologisch geschärften Blick zu leisten hinter die Kulissen desjenigen, der sich, etwa im Sinne der berühmten Formel Kants, zu dem Mut bekannt hat, seinem Verstand ohne Leitung eines anderen zu folgen. Dies nun ändert sich mit der Genealogie der Moral. Die Vokabel ›Übermensch‹ begegegnet einem hier zwar nicht, wohl aber das mit ihr markierte Thema (so Niemeyer 1998: 353 ff.; ähnlich: May 1999: 116 ff.; Loeb 2005/06; eher skeptisch: Acampora 2004/06), etwa wenn es heißt, das »eigentliche Problem vom Menschen« bestünde darin, ein »Thier heran[zu]züchten, das v e r s p r e c h e n d a r f .« (V: 291) Wie die von Nietzsche stammende Hervorhebung deutlich macht, geht es nicht um Züchtung oder Artumwandlung, sondern um die 222 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft«

Frage nach Ressourcen des Menschen im Blick auf Neues. Angetrieben wird das Ganze von der Beobachtung, dass viele Menschen im Erfahrungsaufbau gebunden bleiben durch Erinnerungen, durch Traditionen, durch Gewöhnung, also: dass sie im lebensgeschichtlichen Ablauf herabsinken zu Wesen, die nur Altes perpetuieren. Was angesichts dessen Not tut, ist eine »Kriegserklärung« des Menschen gegen seine »Thierseele« (V: 323) sowie eine Art »aktive Vergesslichkeit« in Bezug auf das in ihm bisher Akkumulierte, auf dass »ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins« entsteht, »damit wieder Platz wird für Neues, vor allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen.« Dies, so Nietzsche weiter, erfordere dann aber auch, dass sich der Mensch ein »Gegenvermögen« anzüchtet, »ein Gedächtniss, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass versprochen werden soll.« Aus diesem Zugleich von ›aktiver Vergesslichkeit‹ und Konsolidierung des den eigenen Wert und Willen bestimmenden Neuen mittels des Gedächtnisses entspringt also, so darf man Nietzsche verstehen, jener Mensch, der, »wie es ein Versprechender thut, für sich als Zukunft gut sagen« darf (V: 291 f.). Diese Perspektive war zwar nicht gänzlich neu. So hatte Nietzsche schon in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben das Dilemma des Menschen (im Vergleich zum Tier) darin gesehen, »das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen.« (I: 248) Das Vergangene geriet aus dieser Sicht zum »Todtengräber des Gegenwärtigen«, und der Forschungsauftrag lautete entsprechend, die Größe der »plastischen Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur« zu bestimmen, »aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.« (I: 251) Aber wie diese ›plastische Kraft‹ auf individualpsychologischer Ebene sich darstellt, blieb dabei noch im Dunkeln, und das Beibehalten des Kraftbegriffs hätte dieses Rätsel wohl auch auf Dauer gestellt. Denn dieser aus der Rhetorik entlehnte Begriff (vgl. Robling 1996) bahnte noch nicht den Zugriff auf eine Theorie der Psychodynamik, so wie sie sich dem späten Nietzsche, im angeführten Passus der Genealogie der Moral, als sehr viel leistungsfähigere Perspektive andiente. Fast belangvoller als die hiermit vorliegende, modern gesprochen: kognitionspsychologische Auslegung dessen, was der frühe 223 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Nietzsche noch ›plastische Kraft‹ hieß, sind die eher sozialpsychologischen Implikationen der damit im Raum stehenden Theoriesprache, wie zumal am Begriff ›Ressentiment‹ deutlich gemacht werden kann. Die »Freiheit vom Ressentiment«, so lesen wir als Höhepunkt dieser Gedankenkette in Ecce homo, sei seine persönliche Lektion: In den »Zeiten der décadence« habe er sich das Ressentiment als »schädlich« verboten, in den besseren Zeiten »verbot ich [es] mir als u n t e r m i r.« (VI: 272 f.) Wichtig ist dabei das zuvor, im Antichrist, vorgetragene analoge Lob auf Jesus (»Das Ve r n e i n e n ist eben das ihm ganz Unmögliche«; VI: 204), was Nietzsche – so Heinrich Detering – »mit Jesus verbindet und sie in eine Front bringt gegen Paulus und Kirche.« (Detering 2010: 183) Wichtig ist auch in dem hier im Zentrum stehenden Zusammenhang, dass das zuvor erwähnte Wort von den ›vornehmeren Funktionen und Funktionären‹ (aus der Genealogie der Moral) seine zentrale Bedeutung erst vom Ressentimentbegriff aus gewinnt. Nicht nur – wie wir bisher annahmen – um die durch Handlungsentlastetheit erreichbare Freisetzung neuer Wahrnehmungs- und Planungsressourcen des Menschen ist es dann nämlich zu tun. Vielmehr geht es beim Ressentiment, in einem ersten Zugriff gesprochen, um die Kritik einer Wertungsart, die von Vorurteilen geleitet wird. Mehr als dies: Nietzsches Thema ist die Auslöschung des Subjekthaften in dem, der seinen Vorurteilen das Regiment über seine Urteile überlässt. Und damit geht es zugleich, in der Umkehrung gesprochen, um die Frage des Rückgewinns der Subjektivität. Deutlich macht dies vor allem Nietzsches Kritik an den der Wissenschaft immer wieder »untergeschobenen Wechselbälgen«, den »Subjekten« (V: 280). Nietzsche denkt dabei etwa an jene, die ihre »Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet [haben], gleich als ob die Schwäche der Schwachen selbst […] eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine That, ein Verdienst sei.« (V: 281) Dass auch die Stärke der Starken nicht deren Verdienst sein muss, gilt damit als mitgesagt, nicht aber: dass insofern insgesamt, wie heutzutage vielerorts mit Verweis auf Nietzsche gemeint wird, vom Tod des Subjekts zu reden sei. Denn – und dies ist Nietzsches zweiter Argumentationsschritt – im ›vornehmen Menschen‹ feiert das Subjekt seine Auferstehung als ein bildsames Wesen, das außer seiner Stärke auch noch den ›Willen zur Wahrheit‹ hat und das sich insoweit seinem Gegentypus, dem ›Menschen des Ressentiment‹, überlegen wissen darf. Exemplifiziert wird 224 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft«

dies am Fall jenes ›vornehmen Menschen‹, der das Fremde oder den »Gegensatz« nur aufsuche, »um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen.« (V: 271). Der ›Mensch des Ressentiment‹ hingegen, so lautet die Gegenrechnung unter Bezug auf diesen, betrachte alles Versteckte »als s e i n e Welt, s e i n e Sicherheit, s e i n Labsal.« (V: 272) Entsprechend, so Nietzsche weiter, sage dieser Typus Mensch in seiner ihm eigenen »Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ›Ausserhalb‹, zu einem ›Anders‹, zu einem ›Nichtselbst‹.« (V: 270) Und damit eben kann der Subjektbegriff wieder gedacht werden, jedenfalls am Exempel dessen, der, so wie etwa der ›vornehme Mensch‹, Dritte ohne Vorurteile zu sehen vermag und mithin wieder Herr über seine Wertungsart geworden ist. Ausmaß und Bedeutung dieser psychologischen Wende des späten Nietzsche lässt sich auch indirekt demonstrieren: am Beispiel der Tragödienschrift von 1872 und der Arbeiten aus dieser Zeit. Denn damals noch hatte Nietzsche, deutlich erkennbar unter dem Einfluss Wagners, einen ganz anderen Menschentypus als den des ›vornehmen Menschen‹ als Idealfigur ins Bewusstsein zu heben versucht: den ›intuitiven Menschen‹. Dieser spielte den Gegenpart zu dem von Nietzsche abgelehnten, auf Weltkontrolle qua Wissensanwendung zielenden ›vernünftigen Menschen‹. In Gegenstellung hierzu begriff Nietzsche den ›intuitiven Menschen‹ als einen vom Kampf ums Dasein entlasteten »›überfrohen Held‹«, der »nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt« (I: 889) – eine fast postmoderne Pointe, die einige spätere Interpreten dem ›intuitiven Menschen‹ damit beigegeben sahen. (etwa Türcke 1989: 135) Tatsächlich aber verpasste Nietzsche, wie im Vorhergehenden gezeigt (vgl. Kap V/5), diesem erkenntnisskeptischen Schöngeist des Jahres 1872 fünfzehn Jahre später, eben in der Genealogie der Moral, einen barschen »Fusstritt« (V: 294). Diese Abfuhr enthielt unausgesprochen auch die Forderung nach einem Fußtritt für die ›intuitiven Menschen‹ und darf mithin als Nietzsches Nekrolog auf sein eigenes Vorgängerkonstrukt gelesen werden. Ursächlich für diesen Totschlag an seinem frühen Konzept ist, dass Nietzsches vordringliche Sorge nun, 1887, einem Subjektmodell gilt, das den ›vornehmen Menschen‹ als ein reifes, über einen starken Willen verfügendes Wesen zu denken erlaubt, gemäß etwa des Mottos: »Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen – das ist […] eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht.« (V: 295) Auffällig an diesem Zitat ist, dass das Motiv der 225 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XI · Nietzsches Übermensch

Selbstbejahung, anders als bei jenem ›intuitiven Menschen‹ des Jahres 1872, nicht einem Selbstapplaus mit Blick auf die diesem Menschentypus eigene ästhetisierende Lebensform einverwandelt wird. Stattdessen geht es um eine Letztbegründung »vornehmer Moral« (V: 270), die ihrerseits Welt gestaltende Absichten vorträgt und Gradmesser sein will für den Stand der Subjektivitätsentwicklung des Einzelnen. Entsprechend gering ist die Bereitschaft des späten Nietzsche, sich mit dem Lob norm- und moralfreier ›intuitiver Menschen‹ oder auch nur mit der Restitution von deren Empfindungsweise zufrieden zugeben. Er möchte vielmehr einem Subjekt Geltung verschaffen, das in seiner Art der Selbstauffassung und Weltauslegung auch auf andere verpflichtend wirkt. Der letzte Anlass für diesen Auffassungswandel dürfte in dem Umstand zu suchen sein, dass der Nietzsche des Jahres 1887, von seiner Wagnerverehrung ebenso geheilt wie von seiner jugendlichen Unbekümmertheit, den Menschen auf ganz neue und hochdramatische Weise dem Kampf ums Dasein ausgeliefert sieht. Deswegen auch fragt er, die individualanalytische Ebene verlassend, deutlicher nach den überlebenstechnischen Vorteilen jenes Kollektivums, das sich unter dem Banner ›Menschen des Ressentiment‹ versammelt. Der Befund ist, wie nicht anders zu erwarten, ernüchternd: »Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird nothwendig endlich klüger sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges.« (V: 273) Nietzsche kondensierte hieraus seine nachdrückliche Warnung vor der Vorherrschaft einer bloß ›klugen Rasse‹ sowie sein Gebot, »der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgerathenen« (V: 369) entgegenzutreten und den Widerstand der Sachwalter »des aufsteigenden Lebens« (VI: 184) zu organisieren. Angetrieben wurde Nietzsche bei dieser Option von einer Geschichtsphilosophie, die das Aufkommen der ›klugen Rasse‹ unter dem Stichwort der Herauszüchtung des »zahmen und civilisierten […] Hausthiers« aus dem »Raubthier ›Mensch‹« abzulagern wusste. Folglich meinte Nietzsche berichten zu können von »jenen Reaktions- und Ressentiments-Instinkten, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu Schanden gemacht und überwältigt worden sind.« (V: 276) Das Dual ›Haustier‹/ ›Raubtier‹ beleuchtet in dieser Lesart jene Seite des Duals ›Mensch des Ressentiment‹/›vornehmer Mensch‹, die über die zeitdiagnostisch-sozialpsychologische Ebene hinausgehend in die Tiefe des ge226 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft«

schichtlichen Raums zu denken erlaubt. Folglich wurde es Nietzsche möglich, die Geschichte von Bildung, Erziehung und Kultur unter dem Stichwort der Domestizierung abzulagern. Eine derartige Sehweise findet sich mit durchaus analoger Metaphorik, auch schon bei Pestalozzi. Ganz anders aber als bei ihm offeriert die Domestizierungslogik Nietzsches Perspektiven einer Kritik der »Liebe zum Nächsten« und das dem folgende Lob der »Liebe zum Fernsten und Künftigen.« (IV: 77) Dieses Lob, das aus Nietzsches großer Liebesenttäuschung Zufuhr erhielt (vgl. Niemeyer 1998: 40 ff.), reflektiert auf die These, dass der ›Fernste und Künftige‹ jenen ›vornehmen Menschen‹ vertritt, auf den allein im Horizont einer unterstellten Bildsamkeit zugerechnet werden kann. Der ›Nächste‹ hingegen, so könnte man fortfahren, vertritt das im ›Menschen des Ressentiment‹ präsente Hemmnis, dem nachzugeben bedeuten würde, die Entdeckung des Neuen zu behindern. Für diese Auslegung spricht auch die Vorbereitung dieses Gedankens in Morgenröthe, wo es heißt, entferntere Zwecke seien »unter Umständen auch durch das Leid des Anderen zu fördern.« (III: 137) Jochen Schmidt meinte hierzu in seinem Heidelberger Nietzsche-Kommentar, Nietzsche empfehle »den angeblich freigeisterischen Mut, Menschen ›aufzuopfern‹«, und er erkläre »im Bewusstsein seiner Superiorität, aus dem er schon früher die Sklaverei bejahte«, das gegen diesen Mut gerichtete Bedenken »zum Ausdruck ›kleinbürgerlicher Moral‹« (Schmidt 2015: 226) – ein Urteil, das den biographischen Hintergrund ignoriert, der den Rückschluss erlaubt, Nietzsches »Freigeisterei« habe vor allem seine Nächsten »in Zweifel, Kummer und Schlimmeres« geworfen, ein Preis, den er ihnen allerdings nicht habe ersparen können. Und so nimmt das fernere Unheil denn auch seinen Lauf: Schmidt wirft Nietzsche vor, »für eine kleine Elite […] einen Freiraum ›jenseits von Gut und Böse‹« (ebd.: 87) schaffen zu wollen – um diese Deutung dann zu zementieren mittels der Annahme, Nietzsche habe in M 146 dem »Anspruch auf ein Ausnahmemenschentum, dem alles erlaubt sei« (ebd.: 55), vorgetragen, womit sich der Kreis schließt in Richtung des Assassinenspruchs, den Schmidt, wie gesehen (vgl. Kap. V/2), schon seit 1985 als Zeugnis liest für Nietzsches NS-Nähe. Freilich: Selbst Schmidt, obwohl ›nur‹ Germanist, nicht Erziehungswissenschaftler, müsste eigentlich wissen, worum es Nietzsche in M 146 wirklich zu tun war: nämlich um die im Interesse der Entdeckung des Neuen geforderte Umkehrung des in der Pädagogik seit Schleiermacher anerkannten Generationenverhältnisses, die einem 227 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XI · Nietzsches Übermensch

später in der Reformpädagogik wieder begegnen wird. Dies macht übrigens schon deutlich, warum Nietzsche nicht so ohne weiteres der Programmatik eines geisteswissenschaftlichen (Sozial-) Pädagogen wie Herman Nohl einzufügen war, der gegen Nietzsche und gegen die Reformpädagogik das Generationenverhältnis, also den pädagogischen Bezug und die durch die ältere Generation getragene Kultur wieder als Bildungsträger in Kraft zu setzen suchte. Dem gehört zu, die Psychologie und insbesondere die Psychoanalyse in ihrer Tauglichkeit zur Entlarvung des je Überlieferten und zur Begründung des neu zu Fordernden aus dem Spiel zu halten sowie die Thematik dort zu traktieren, wo sie Nohls Auffassung nach allein hingehörte: in den Bereich von praktischer Philosophie, philosophischer Anthropologie und Bildungsphilosophie – Fachgebietsbezeichnungen, die gleichsam als Chiffren für psychologiefreie Zonen zu verstehen sind und im Blick auf die Nietzsche wohl seinen eben erwähnten Imperativ »Rückkehr zur Wissenschaft!« (III: 263) geltend gemacht hätte. Es war diese insoweit psychologisch grundierte Skepsis, aus der heraus Nietzsche angesichts der Sozialisation der Deutschen hin zu einem ›Volk von Denkern‹ der Ausruf entfuhr: »Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte […], alle diese Vorrechte und Prunkstücke der Menschen: wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller ›guten Dinge‹ !« (V: 297)

Nietzsche, so ist hier festzustellen, nutzte seine psychologisch gerichtete Vernunft- und Aufklärungskritik auch zu einer Demaskierung jenes Volkscharakters, aus dem sich selbsternannte Übermenschen, wie die Geschichte dann noch lehren sollte, nur allzu bereitwillig erhoben. Nietzsche ging noch einen Schritt weiter: Er machte jenseits der gerade bei den Deutschen so gern vorgeführten Fassade der ›guten Dinge‹ den »Geist der Kleinheit und Knechtschaft« sowie »eine gedankenarme Unverschämtheit gegen alle selbständigen Menschen und Völker« (IX: 375) aus. Deswegen auch trug Nietzsche in einem – in Förster-Nietzsches Briefedition selbstredend fehlenden – Briefentwurf an seine Schwester unter Anspielung auf deren Mann nach, dass ein Deutscher, »der bloß daraufhin, daß er ein Deutscher ist, in Anspruch nimmt mehr zu sein, als ein Jude, […] in die Komödie [gehört]: gesetzt nämlich daß er nicht ins Irrenhaus gehört.« (8: 82) Von diesen Bestimmungen ausgehend, war Nietzsche viel eher 228 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Der Übermensch als Teil von Nietzsches »Philosophie der Zukunft«

stolz darauf, sich als »guten Europäer« (III: 631) betrachten zu dürfen. Dieses von Nietzsche gegen Wagners Deutschtum in Anschlag gebrachte Europäertum gab vielen Deutschen Anlass zur Sorge. So warnte schon Julius Hart inmitten des anhebenden Nietzscheruhms der 1890er Jahre nachdrücklich: »Aber ihr guten deutschen Schwachköpfe, seht Ihr nicht, daß Ihr Eueren erbittertsten Feind in Euer Haus eingelassen habt?« (Hart 1899: 88)

In Missachtung von derlei Quellen blieb Norbert Elias das Urteil überlassen, Nietzsche habe »mit seiner Hochstellung der Macht« in der Werteskala der Menschen Entwicklungstendenzen Ausdruck gegeben, die »in der von ihm häufig angegriffenen kaiserlich-deutschen Gesellschaft seiner Zeit zur Dominanz gelangten.« Auch Elias war also der »gelegentliche Deutschenhaß« Nietzsches nicht unbekannt, aber seine These, dieser stünde für nicht mehr als für eine »Art von Selbsthaß« (Elias 1989: 157, 154), bezeugt einen der Diskussion nicht weiter bedürftigen Psychologismus. Dagegen wird man wohl festhalten dürfen, dass bei Nietzsche im Blick auf die Deutschen die Rede vom Raubtier dominierte, dessen kleinbürgerlich-präfaschistische Seite sich in den ›Menschen des Ressentiment‹ exemplarisch ausspricht. Fast ist man mithin versucht zu folgern: Gerade Nietzsche hätte den Deutschen die Fortschreibung ihrer eigenen Geschichte mit ›viel Blut und Grausen‹ bis in den Holocaust hinein problemlos zugetraut. Auf diese Seite Nietzsches haben die seriösen Interpreten auch immer wieder hingewiesen. (etwa Kaufmann 1974/82: 337 ff.) Einzuräumen ist – und damit komme ich zum Schluss –, dass der späte Nietzsche das Wort Übermensch als offenkundig missverständlich beiseite rückte, um Platz zu schaffen für den Blick auf das dahinter verborgene Theoriemodell. Dieses, so mochte seine stille Hoffnung lauten, war anschlussfähig für solche, die die mit dem Zarathustra gesetzten Signale, insbesondere das hier verfochtene Leibpardigma betreffend, verstanden hatten. Kaum jemand freilich hat, wie im Vorhergehenden zu zeigen versucht wurde, diese Hoffnung Nietzsches erfüllt. Anders jedenfalls sind die Losungen jener Nietzscheexperten nicht zu verstehen, die meinen, sie müssten einem Nietzsche ohne Übermensch das Wort reden. Das Gegenteil liegt näher, gerade im 21. Jahrhundert, in einer globalisierten Welt, die zunehmend irre daran wird, an Gott zu glauben oder an dessen Stellvertreter und in der es umso wichtiger ist, ›dem Menschen ein Anrecht zu schaffen, sich für seine hohen Zustände und Handlungen als 229 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Ursache denken zu dürfen.‹ Ob man derlei dann umschreiben mag mit dem zumal von Sloterdijk-Bewunderern lancierten Satz, »Nietzsches berüchtigtes Wort vom Übermenschen« bedeute nichts anderes als die Aufforderung, »aus dem Halbfabrikat, das Mütter und Lehrer in die Welt entsenden, ein autoplastisch sich fortbildendes Ich-Kunstwerk zu schaffen« (zit. n. Böhmer 2007: 126 f.), mag dahingestellt bleiben – solange Klarheit in der Sache besteht.

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Teil B: Wirkung

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Kapitel XII

Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit, die als ernstzunehmende Rezeptionsforschung in Sachen Nietzsche will gelten können

Noch ein Jahrhundert Leser – und der Geist selber wird stinken! (Zarathustra, 1883)

Mit Nietzsche, auch mit Fragen seiner Wirkung, hat das hier als Motto gewählte Zarathustra-Zitat (IV: 48) offenbar wenig zu tun – wenn man einmal davon absieht, dass auch Nietzsche zu Anfang seiner Karriere den Lesern der Wirkung wegen mehr entgegenkam als verantwortbar und beispielsweise den Erfolg seines Erstlings mit nur halb erzählten respektive journalistisch zugespitzten Vereinfachungen erzwingen wollte (so der Verdacht seines Kritikers Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; vgl. Niemeyer 1999). Mehr als dies: Strategische Interessen dieser Art brachen später immer mal wieder durch und trugen zu Nietzsches Ruf als ›Modeschriftsteller‹ vom Typ ›Schlagwortkunde‹ bei. Nietzsches Autohagiographie Ecce homo ist hiervon nicht auszunehmen, schlimmer: Diese Schrift scheint in Gänze, wie andernorts ausführlich begründet (vgl. Niemeyer 2013: 88 ff.), nach dem Strickmuster des aktuell beim US-Präsidenten Donald Trump in Reinkultur zu besichtigenden Programmsatzes geschrieben: Winning ugly by untold stories. Dies aber würde bedeuten, dass die im Motto aufgerufene Sorge Zarathustras, ebenso die auf Theodor W. Adorno zurückgehende Warnung vor der ›Kulturindustrie‹, die, den Marktgesetzen unterworfen, »Aufklärung zum Massenbetrug« (Adorno 1963: 345) zu machen drohe, durchaus auch auf Nietzsche passt, insofern auch er schon wusste – seine wie aus einer Marketingabteilung stammenden Sprüche (»Gelobt sei, was hart macht«), aber auch Buchtitel wie Die fröhliche Wissenschaft oder Jenseits von Gut und Böse lassen darum ahnen –, dass sowohl beim Verkaufen nicht nur von Industrie-, sondern auch von Kulturindustrieprodukten ein gewisses Werbetalent nicht verachtet werden kann. Dass Nietzsches größter Werbecoup sein geistiger Zusammenbruch 233 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XII · Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit

im Januar 1889 in Turin war, analog zu einer Dostojewskij-Szene mit Pferd und Peitsche als Requisiten, soll damit allerdings nicht gesagt sein, ausdrücklich im Gegensatz zu anderen, die da, wie etwa Wolfgang Harich, weniger Bedenken zu kennen schienen (vgl. Niemeyer 2016: 24 ff.). Aber immerhin und, um über (Meta-)Scherzen wie diesem nicht die basics aus den Augen zu verlieren: Gefährlich wird es für Nietzsche und der Vorstellungen wegen, die man sich von seiner Wirkung macht, wenn man sich, zumal als Nietzscheforscher, nicht ganz sicher ist in Sachen der Gründe, die Rechtfertigung sind für die auf Georges Bataille zurückgehende Verhohnepipelung von Nietzsches Schwester als »Elisabeth Judas-Förster«. Volker Gerhardt beispielsweise, bei fast jeder passenden Gelegenheit dazu auffordernd, »entsetzt und befremdet« zu reagieren, wo immer Nietzsche »gegen die Mittelmäßigkeit polemisiert, die Humanität karikiert und das Menschenrecht perhorresziert« (Gerhardt 2014a: 65), scheint m. E. etwas unsicher in der Frage, was man davon Nietzsche und was seiner Schwester in die Schuhe schieben kann. So lastete er Nietzsche schon vor Jahren, ähnlich wie neuerdings Jochen Schmidt (2016: 128 ff.), »eine erbärmliche Begeisterung für den Krieg« an (Gerhardt 1995: 66) und hielt dafür, Nietzsche lasse seinen Zarathustra ein »Loblied des Krieges« (ebd.: 14) singen – was, da die Vokabel ›Krieg‹ in dieser Dichtung nur als Metapher gebraucht wird, schlicht falsch ist. (vgl. Niemeyer 2011: 137 ff.; NLex: 202 ff.) In diesem Zusammenhang scheint mir Gerhardts in der 2006 veranstalteten Neuflage seiner Nietzsche-Einführung von 1992 unverändert zum Abdruck gebrachte Bemerkung auskunftsträchtig: »[W]er sich [wie Nietzsche; d. Verf.] mit verletzendem Spott und schneidender Kritik von den leitenden Idealen seiner Epoche nicht nur einfach distanziert, sondern ihnen überhaupt den ›Krieg‹ erklärt, der hat mit Gegnerschaft, ja mit Feindschaft zu rechnen. Also hat Nietzsche den Kampf eröffnet, und er konnte von Anfang an sicher sein, daß seine Widersacher in der Wahl ihrer Waffen nicht zimperlich sein würden. Und in der Tat, sie greifen zu Wortverdrehung, Zitatverstümmelung und Verfälschung ganzer Texte und setzen in allem auf das bewußte Mißverständnis.« (Gerhardt 1992/2006: 208)

Spannend, dass an dieser Stelle die Vokabel ›Widersacher‹ unbelegt bleibt, der Name der Schwester also nicht fällt, auch im ganzen Buch nicht – durchaus fatal, denn erst so gewinnt der Satz den Charakter einer Generalamnestie für Nietzschefälscher. Die Anschlussfrage 234 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XII · Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit

steht damit im Raum: Warum redet Gerhardt eigentlich an dieser Stelle so gänzlich ohne Nennung von Ross und Reiter? Weil er es nicht besser weiß? Oder, im Sinne seines ohnehin schon vorher feststehenden Schuldspruchs an die Adresse Nietzsches: Weil er es nicht besser wissen will? Für Ersteres spricht, dass Volker Gerhardt noch in der 2006er Fassung seiner Nietzsche-Einführung von 1992 ein Zitat von Karl Löwith (1956: 451 f.) mit dem Attribut »souveränes Urteil« (Gerhardt 1992/2006: 221) versah – ohne zu merken, dass Löwith hier (wie auch in seiner im nämlichen Jahr erschienen Einleitung zu einer Auswahledition [vgl. Löwith 1956a: 11]) einer Brieffälschung der Schwester aufsaß (vgl. Niemeyer 2011: 49). Dem korrespondieren Mitteilungen Gerhardts über Nietzsches Schwester wie die folgende: »Sie erwirbt sich gewiß Verdienste bei der ersten großen Gesamtausgabe und bei der Sammlung der hinterlassenen Papiere. Ihre ganze Tatkraft stellt sich in den Dienst des Werks. Dabei zeigt sie viel familiären Egoismus, aber wenig Verständnis für philosophische Fragen und schon gar keinen Respekt vor dem Genie ihres Bruders.« (Gerhardt 1992/2006: 60)

In der Hauptsache bekommen wir bei Gerhardt also Zweitwichtiges oder gar Bagatellisierendes zu lesen der Art, Elisabeth Förster-Nietzsche habe sich später mit der Herausgabe des Hauptwerks Der Wille zur Macht »wichtig gemacht« (Gerhardt 1992/2006: 56), eine Formulierung, die, wenn man die Details der von ihr zu verantwortenden Fälschungen gerade dieses Werkes in Betracht zieht, späteren Verharmlosern vom Schlage Domenico Losurdos Auftrieb geben musste. Ähnliches gilt für Förster-Nietzsches allerletzten Biographen Ulrich Sieg, der zwar nicht als Nietzscheexperte wird gelten können, wohl aber heiß geliebt wird vom Feuilleton wegen einiger Biographien (etwa zu Paul de Lagarde) – und nun mit Die Macht des Willens. Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt (2019) auch bei Nietzsches Schwester angekommen ist. Er zeichnet sie ganz ähnlich wie seine Vorrednerin Kerstin Decker in Die Schwester (2016), beabsichtigt also, diese »heftig kritisierte Person […] nicht schwärzer, sondern schärfer zu sehen«, eine, wie hinzugefügt führt, »schwierige Aufgabe« (Sieg 2019: 16) – die sich der Autor allerdings bedeutend vereinfacht hat. So bleibt der Stand der Nietzscheforschung in Sachen Förster-Nietzsche weitgehend unerwähnt, wie exemplarisch für die Syphilisthematik gezeigt sei: Der von Roland Schiffter (2013) auf souveräne Art beigelegte Streit um spektakuläre Alternativdiagnosen 235 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XII · Prolegomena zu einer jeden Tätigkeit

interessiert Sieg nicht. Ersatzweise wird, wohl, weil dieser Autor ein »ausgewogenes Urteil« böte – was für ein Kriterium bei Fragen wie diesen! –, Volker Gerhardt zitiert, der vermutlich, als Philosoph und Nicht-Mediziner, zu allem bei Nietzsche besser Auskunft geben könnte als ausgerechnet zu »Nietzsches Krankheiten« (Sieg 2019: 379), und dies zumal nicht mittels seiner eben schon beigezogenen Einführung von 1992. Sieg zitiert sie, verschämt, nach der 4. Auflage von 2006, was zugleich meint: Wenn Gerhardt von der »bis heute nicht ganz sichere[n] Diagnose […] progressive Paralyse« (1992/ 2006: 60) redet, hätte dies für Siegs Feststellung, »dass die Diagnose seiner Krankheiten bis heute nicht zweifelsfrei feststeht« (Sieg 2019: 164), nur dann Bedeutung, wenn zwischen 1992 und heute nichts passiert wäre. Wichtiger fraglos im hier interessierenden Kontext: Ulrich Sieg erzählt zwar, wie vor ihm, selbstredend, Nietzsches Schwester, dass Nietzsche ihr (und ihrem Gatten) am 2. September 1886 geschrieben habe, wie ernst er sein vierbändiges Hauptwerk Der Wille zur Macht nähme, räumt auch ein, dass er »die Idee einer umfassenden Monographie zwischen Ende August und Anfang September 1888 endgültig verwarf« (Sieg 2019: 201), übersieht allerdings, dass Nietzsche seine Schwester schon fünf Monate zuvor, am 31. März 1888 aus Nizza, hatte wissen lassen, dass er »erleichtert« sei, »[s]eine ‚Litteratur‘ abgetahn zu haben« (8: 282), in Übersetzung geredet: dass er nicht mehr daran denke, an seinem Hauptwerk Der Wille zur Macht weiter zu arbeiten. Diesen Brief – und darüber schweigt Ulrich Sieg – sowie einen weiteren mit einer ähnlichen Tendenz an Paul Deussen vom 26. November 1888 unterschlug Nietzsches Schwester (vgl. Niemeyer 2013a: 79), als sie 1900 damit begann, ihres Bruders Briefe zu edieren. Aber es kommt noch schlimmer. Denn Ulrich Sieg ist offenbar gesonnen, die Fälschungsthematik an sich umzuwerten, etwa mittels des Hinweises, dass zwar an »Elisabeths Rücksichtslosigkeit und ihrem kalkulierten Umgang mit Fakten« kein Zweifel mehr bestünde, aber »damit sei längst nicht alles gesagt. Denn, umsichtig gelesen, zählen Fälschungen zu den wertvollen Quellen des Historikers, die Aufschlüsse über die Wertmaßstäbe einer Epoche geben können.« (Sieg 2019: 349) Dieser Auffassung nach wird man nur zu bedauern haben, dass man Konrad Kujau, dem Fälscher der Hitler-Tagebücher, das Handwerk legte. Denn damit versiegte eine der wichtigsten Quellen für kommende Historiker etwa der 2050er Jahre, die 1980er Jahre auf ihre in dieser Zeit geltenden ›Wertmaßstäbe‹ hin einordnen zu 236 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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können. Aber es kommt noch schlimmer mit Siegs Argument: Ihmzufolge wird man auch jene angreifen müssen, die Quellenkritik ernstnehmen, etwa im Fall der von Fälschungen durchsetzten Dokumentation der deutschen Jugendbewegung von Werner Kindt. (vgl. hierzu kritisch: Niemeyer 2013) Ein Trost insoweit, dass Sieg mit dieser seiner Auffassung eher Außenseiter seiner Zunft ist und zum Außenseiter der Nietzscheszene werden dürfte mit seiner FörsterNietzsche-Biographie, die als weitere Fragwürdigkeit mit Sätzen belastet ist wie: Es gelte, »Elisabeth als selbständig handelnde Person ernst zu nehmen«, die »Fälschungsproblematik« sei »enorm hoch aufgeladen«, aber das Ganze sei »schon länger Geschichte, und so sollte der Deutung ihrer Editionen aus dem jeweiligen historischen Kontext nicht mehr allzu viel entgegenstehen.« (Sieg 2019: 17 ff.) Heißt? Man weiß es nicht genau, ahnt es nur, wenn man zuvor davon abstrahiert, dass beides fraglos nicht geht: die Figur der ›selbständig handelnden Person‹ aufrufen – und gleich danach den ›historischen Kontext‹, was ja letztlich meint, dass Nietzsches Schwester nur so etwas war wie eine Schachfigur in einem vom Weltgeist diktierten Geschehen. Wie gesagt: Abstrahieren wir hiervon – und nehmen wir nur an, Sieg habe sagen wollen, man könne Elisabeth Förster-Nietzsche Absolution erteilen, zumal ihren gefälschten Editionen ja immerhin wichtiges Material darüber entnehmbar sei, wie man sich Nietzsche damals so zurechtlegte. Im Übrigen, so deutet ›Verteidiger‹ Sieg jedenfalls an, sei Nietzsches Schwester ja immerhin »geistige Überzeugungstäterin« gewesen, also keine »bloße Kriminelle.« (ebd.: 19) Ah ja? Schade nur, dass wir Nietzsche als Opfer der Taten seiner Schwester nicht mehr befragen können, was er von derartigen Verteidigungsstrategien der Gegenseite hält. Deswegen nur zur Klarstellung und unter Bezug auf im Folgenden am Fall Theodor Fritsch (vgl. Kap. XIII) zu Exemplifizierendes: Nietzsches Schwester ließ als Biographin und Herausgeberin über Jahrzehnte hinweg nichts unversucht, um Nietzsche der nationalsozialistischen (vormals völkischen) Bewegung schmackhaft zu machen. Um dies zu erkennen, muss man allerdings Bescheid wissen über Förster-Nietzsches Theoriepolitik in ihrer ganzen Breite und die darauf bezügliche Forschung – womit wir nicht nur bei Ulrich Sieg, sondern auch bei seiner Vorrednerin Kerstin Decker sind, gleichfalls eine professionelle Biographienschreiberin, die, womöglich angeregt durch die im Vorhergehenden angedeute Nachlässigkeiten auf der Beletage, ihrer Idee kaum widerstehen konnte, als gewiefte 237 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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und sich auf das Werbliche verstehende Vielschreiberin Nietzsches Schwester zu rehabilitieren, wenn nicht gar: zu überbieten in Fragen der Vermarktung der Marke ›Nietzsche‹, nun angewandt auf die Marke ›Förster-Nietzsche‹. Und die darin, allein schon des Spektakulären dieses ›Alleinstellungsmerkmals‹ wegen und auch der gender correctness halber, auf gleichsam vorauseilenden Zuspruch des skandalsüchtigen Feuilletons setzen durfte, zumal des gendermäßig auf der Höhe der Zeit befindlichen, wie Juliane Vogels Rezension von Kerstin Deckers Die Schwester (2016) in der FAZ vom 27. März 2017 mittels der Worte offenbart: »Das Bild der Nachlassfälscherin wird mit nachvollziehbaren Argumenten in ein weniger grelles Licht gerückt.«

Sorry, aber mir als Nietzscheexperten und Rezensenten (vgl. Niemeyer 2018a) des nämlichen Buches wollte es eher scheinen, als werde das Bild der Nachlassfälscherin Elisabeth Förster-Nietzsche von Kerstin Decker vom Hellen ins Dunkle zurückgestellt, und zwar mit Argumentationsstrategien, die unter Berücksichtigung der von Adorno kritisierten Mechanismen der ›Kulturindustrie‹ nachvollziehbar sein mögen, sich in der ›Welt der Wissenschaft‹ aber verbieten. Indes wäre es wohl unangebracht, diese Kritik hier zu wiederholen. Ersatzweise möchte ich im Folgenden zusammenstellen, was Kerstin Decker von Nietzsches Schwester und ihrem fatalen Einfluss auf die Wirkungsgeschichte Nietzsches hätte wissen müssen, aber, des Erfolges ihrer Lesart wegen, klugerweise verschwieg. Und um den Verdacht des Misogynen erst gar nicht Platz greifen zu lassen, sei hier ergänzt: Dieser Vorhalt gilt auch für Männer wie Maurizio Ferraris (2016: 38 ff.) sowie Ulrich Sieg (2019). Der Ausgangspunkt ist dabei zu setzen, gegen Letzteren, der dafürhält, Fälschungen seien für Historiker »meist kein Skandalon, sondern aussagekräftige Zeugnisse« (Sieg 2019: 19), mit dem Standardsatz aller Quellen: Die Quellen – dies mag inzwischen bei Historikern anders sein, ist aber für Krimifans selbstevident – darf man nicht vergiften, den Tatort nicht betreten! Man darf nichts verändern, nichts anfassen, nichts kontaminieren! Am besten wartet man still, bis die Expertin oder der Experte von der Spurensicherung kommt! Dies sind selbstverständliche, an sich, wäre nicht Ulrich Sieg, kaum der Begründung bedürftige Forderungen, die selbstredend auch für den Umgang mit Nietzsche gelten, im übertragenen Sinn natürlich: Über Nietzsche sollte nur derjenige urteilen, der alles von ihm kennt, ebenso wie alles von de238 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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nen, die für ihn wichtig waren. Auch kann nur der Experte wissen, ob die in Diskussion stehende Primärliteratur echt ist und vollständig. Dabei ist selbstredend die Fähigkeit zum richtigen Lesen und wissenschaftlich korrekten Arbeiten vorauszusetzen, an einem zunächst noch recht harmlosen, eher witzig gemeinten Beispiel geredet: Der Umstand, dass das in über fünfzehn Jahre von fünfzig führenden Fachvertretern erarbeitete Historische Wörterbuch der Pädagogik (Benner/Oelkers 2004) ausweislich des Personenregisters Nietzsche nicht nennt, bezeugt nicht, wie man meinen könnte, das diesbezügliche Ressentiment dieser Disziplin, sondern steht schlicht für Schlampigkeit – Nietzsche kommt vor, und zwar aparterweise häufiger als beide Herausgeber –, wenn nicht gar für den Umstand, dass dieser Gottesleugner wohl seinen eigentlichen Widersacher, den Druckfehlerteufel, übersah. Etwas ernster gemeint (und zu bewerten) ist der Fall des Religionsphilosophen (und Logikers) Heinrich Scholz, war doch seine Empörung über Nietzsche nach 1945 offenbar so groß, dass er glatt meinte, dieser habe in Aph. 283 von Die Fröhliche Wissenschaft »furchtbarere« – nicht aber, wie dort tatsächlich geschrieben steht, »fruchtbarere« (III: 526) – Menschen gefordert und insoweit »die Hitlerform des deutschen Menschen […] vorausgesehen.« (Scholz 1946: 15; hierzu Riedel 1997: 204) Ähnliches lässt sich bei Bernhard Taureck beobachten, der im Vorspann zu seinem Nietzsche-ABC (1999) Nietzsche schon 1870/ 71 von »nationalsozialistischer« (statt »nationaler«) Leidenschaft ergriffen sah. Nicht in Betracht gezogen werden kann schließlich die Empörung Crane Brintons (1941: 213) über die Vokabel »race« in § 954 der von ihm benutzten Ausgabe von The Will to Power. Denn es handelt sich hier allein um ein Problem des Übersetzers (Oscar Levy), nicht aber um ein solches Nietzsches (der die Vokabel ›Rasse‹ in jenem Kontext gar nicht verwendete; vgl. Voegelin 1944: 203). Und schließlich noch: An der Sache vorbei geht auch die Empörung über § 52 der nämlichen Edition (diesmal deutsche Ausgabe), in welchem Nietzsche verkündet, er sei nicht für Solidarität in einer Gesellschaft, »wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente giebt, die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden, als sie selbst sind.« Denn es handelt sich hier lediglich um ein – von Nietzsche übersetztes – Zitat von Charles Féré (XIII: 433), was Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, verantwortlich für jene Edition, mitzuteilen ›vergaß.‹ (vgl. Montinari 1984: 76; Lampl 1986) Spätestens hier dürfte es dem Laien etwas ungemütlich werden, 239 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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zumal er ahnt, dass das bisher Berichtete nur für peanuts steht. Denn damit scheint die Folgefrage unabweisbar: Steht es wirklich so schlimm um die Primärliteratur Nietzsches (und um manche Sekundärliteratur)? Soll man vorerst ausweichend antworten: Es steht auch schlimm um andere, etwa um sein (frühes) Idol Richard Wagner? Denn immerhin ist es ja in dem hier thematischen Zusammenhang nicht ohne Interesse, dass der Herausgeber (Dieter Borchmeyer) der 1983 vorgelegten zehnbändigen Wagner-Jubiläumsausgabe (im InselVerlag) sich offenbar so sehr über die seiner Meinung nach ausufernde Diskussion über Wagners Antisemitismus geärgert hat, dass er die in diesem Zusammenhang relevanten Texte Wagners erst gar nicht abdruckte. Die Begründung ist frappierend: Man könne derlei ja auch andernorts nachlesen, im Übrigen sei dieser Verzicht »aus Gründen des intellektuellen Niveaus […] eher erfreulich.« (zit. n. Weiner 1995: 39) Die Folgen der mit diesem ›Argument‹ gerechtfertigten Herausgeber- respektive Verlagspolitik vom Typ ›Entnazifizierung durch Begradigung der Quellenlage‹ können am Fall Nietzsche besichtigt werden: Hier bekamen Interessierte über Jahrzehnte hinweg nie alles von Nietzsche zu lesen, sondern nur dasjenige, was den jeweiligen Herausgebern jeweils in den Kram passte oder was sie nach Maßgabe des ihnen genehmen Nietzschebildes frisiert, verfälscht oder auch frei erfunden hatten – diesmal aber mit der eher diametral entgegen gesetzten Folge einer dadurch begünstigten Nazifizierung Nietzsches. Gerade dieser Erfahrung wegen kann die Forderung nur lauten, skeptisch zu sein gegenüber dem, was hier und da unter dem Namen Nietzsche firmiert. Verantwortlich für dieses an sich ja durchaus lästige Lob auf Quellenkritik als Grundtugend jedes Nietzscheforschers ist vor allem Nietzsches Schwester. Sie war es – wie im Prolog bereits angesprochen –, die Nietzsches Vermächtnis, dass er »alle seine Freunde verpflichten [würde], nichts von ihm nach seinem Tode herauszugeben als was er selbst für die Publication bestimmt und fertig gestellt hätte« (zit. n. Krummel 1988: 488 f.), bei ihrer erstmaligen Wiedergabe dieses Dokuments (Förster-Nietzsche 1904: 488) unterschlug und in der Folge konsequent ignorierte. Grund genug also, sie uns nun etwas genauer anzuschauen, genauer jedenfalls als Kerstin Decker und also ähnlich wie zuletzt Nils Fiebig (2018). Nietzsches Schwester, zwei Jahre nach ihrem Tod von Georges Bataille mittels der in die Überschrift dieses Kapitels eingeflossenen Namensverhunzung ›Elisabeth Judas-Förster‹ als Verräterin Nietzsches geoutet (vgl. Bataille 1937: 141), war über vierzig Jahre hinweg 240 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Herrin der Editionspolitik in Sachen Nietzsche gewesen. Dass sie es in diesem Job nicht primär mit der Wahrheit hielt, sondern mit der Nützlichkeit, überrascht nicht wirklich angesichts ihrer andernorts (vgl. Niemeyer 2017: 152 ff.) etwas genauer besichtigten Tricks in Sachen Krankheit des Vaters. Mit jener ihres Bruders trieb sie es noch ärger. (vgl. Guthke 1997) So suchte sie im letzten Band ihrer Nietzsche-Biographie zu suggerieren, Nietzsches Anti-Antisemitismus sei eine Reaktion auf den auch für ihn persönlich schädlichen, gar tödlichen Antisemitismus. Die Langfassung dieser Geschichte präsentierte sie 1904, und in ihr spielt ein angeblicher Brief Nietzsches eine wichtige Rolle, aus dem hier nur die Pointe mitgeteilt sei: »Ich nehme [aus Ärger über jene Intrige eines Antisemiten; d. Verf.] Schlafmittel über Schlafmittel, um den Schmerz zu betäuben, und kann doch nicht schlafen. Heute will ich so viel nehmen, daß ich den Verstand verliere …« (Förster-Nietzsche 1904: 896 f.)

– was ihm dann auch gelang, so darf man jedenfalls die Schwester verstehen, die sich bei diesem Passus skrupellos an eine Formulierung aus einem (von ihr unterschlagenen) Briefentwurf Nietzsches vom Dezember 1882 an Lou v. Salomé und Paul Rée (6: 307) anlehnte. Der Sache nach wollte sie mit dem nachfolgenden und später (vgl. Förster-Nietzsche 1914: 524) von ihr wiederholten Hinweis auf einen Brief, der, wie sie 1909 ergänzte, »nicht mehr existirt« (GBr V/2: 807), den Verdacht abweisen, Nietzsche sei den Folgen der Siphylis erlegen oder (sonst wie) hereditär belastet. Das Ganze krönte sie dann 1912 durch den Hinweis, ihr Bruder habe in Basel im Januar 1889, als er angab, er habe sich (1866) »zweimal specifisch inficiert« (zit. n. Volz 1990: 381), nicht an Syphilis, sondern an seine Angst vor einer zweimaligen Infektion mit der zu dieser Zeit in Leipzig und Umgebung auftretenden Cholera gedacht, also die Frage des Arztes missverstanden. (vgl. Förster-Nietzsche 1912: 186) Auch das Private ist politisch, kann man aus diesem Beispiel lernen. Tatsächlich weist auch ihre Ehe mit dem militanten Antisemiten Bernhard Förster (1843–1889) in Richtung dieser These. Hinzuzurechnen ist ihre (spätere) Begeisterung für Mussolini oder der Umstand, dass sie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in die (monarchistische) DNVP eintrat »und damit ein deutliches Zeichen für ihre Abneigung gegenüber der Weimarer Republik setzte.« (Reuter 2008: 24) All dies wurde sorgsam notiert von der »Lichtgestalt unter den Dunkelmännern aus dem Familienclan der Försters und Oehlers« 241 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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(Kostka 2000: 166), Harry Graf Kessler. Er notierte sich unter dem Datum des 20. Juli 1922 in seinem Tagebuch über seinen jüngsten Besuch bei ihr in Weimar einigermaßen konsterniert: »Die gute alte Dame spricht von den Rechtsradikalen nur als ›Wir‹ !« (zit. n. Pfeiffer-Belli 1996: 345) Derlei registrierte man auch in völkischen Kreisen mit der Folge, dass sich um das Weimarer Nietzsche-Archiv ungeachtet der Skepsis aus dem alt-völkischen Lager um Adolf Bartels und Theodor Fritsch zunehmend ein entsprechend politisch disponiertes Netzwerk knüpfte. (vgl. Naake 2000: 75 ff.; Salehi 2000) Nietzsches Schwester war dabei die Spinne im Netz, die überaus wendig agierte, wie sich exemplarisch 1913 offenbarte: Seit 1906 subventioniert vom jüdischen Bankier Ernst Thiel (vgl. Peters 1983: 256 ff.), erschien Förster-Nietzsches kleine Nietzschebiographie Der einsame Nietzsche, in welcher es der Autorin nicht zuletzt dieser Subvention wegen (vgl. Diethe 2001: 173; Barbera 2004: 270; Mittmann 2006: 98) opportun schien darzutun, dass ihr der Antisemitismus »eigentlich unangenehm« sei und sie aufgrund ihrer Erziehung und Herkunft »so wenig Antisemitin [war] wie möglich« (Förster-Nietzsche 1913: 259, 348), und dies gelte letztlich auch für ihren Bruder. Des Weiteren erklärte FörsterNietzsche bei dieser Gelegenheit – wohl, um nach allen Seiten offen zu bleiben – den Anti-Antisemitismus Nietzsches (gleichfalls) biographisch. Diesmal allerdings berief sie sich auf einen von ihr erstmals 1909 präsentierten Brief Nietzsches – eine Fälschung –, den er ihr angeblich am 3. Mai 1888 geschrieben habe in der Absicht, ihr seine »Stellung zum Antisemitismus« zu erklären und ihr zu versichern, dass es unter den Antisemiten »achtbare, tüchtige, willensstarke Charaktere« gäbe und sein Anti-Antisemitismus im Grunde jenem ihrer beider Mutter entspräche, also »harmlos« sei: »[E]r hat nur den einen Grund, dass dessentwegen unser ›einziges Lamm‹ oder Lama etwas übereilt über’s Meer geschleppt worden ist.« (GBr V/2: 776) Wie klug dieser Diener nach beiden Seiten hin war, zeigte sich 1928: Der Krieg war verloren, im Sog der Debatte um den Versailler Friedensvertrag kam es zu einer weiteren Rechtswende (auch im Mitarbeiterkreis des Nietzsche-Archivs), außerdem hatte die Inflation (1923) die Thiel-Einlagen im Stiftungsvermögen dahin gerafft, kurz: es wurden neue Karten im Spiel gebraucht. Dies zeigt die durch Förster-Nietzsche protegierte Neuedition des erstmals 1900 erschienenen Nietzschebuches von Henri Lichtenberger im Jahre 1928: »Zweitau242 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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send Jahre lang«, so konnte man hier, eben mit Förster-Nietzsches Billigung, lesen, »währte der erbitterte Kampf zwischen Rom […] und Judäa, der Heimat des Ressentiment und des Hasses, dem Lande des Priestergeistes: – Judäa hat gesiegt.« (Förster-Nietzsche / Lichtenberger 1928: 200; vgl. Mittmann 2006: 99) Dies war deutlich – und markiert exemplarisch den antisemitischen Geist, der in der Folge vergleichsweise ungehemmt in Weimar Einzug hielt und in FörsterNietzsches 1935er Rückblick auf die »Zeit der jüdischen Zeitungsherrschaft, die jetzt glücklicherweise verschwunden ist«, gipfelt, ebenso wie in der hier en passant angebrachten – im Übrigen der Sache nach falschen, der Absicht zufolge denunziatorischen und folgerichtig auch von Nationalsozialisten bevorzugten (vgl. Zapata Galindo 1995: 201) – Mitteilung, Lou v. Salomé sei »jüdischer Abkunft.« (Förster-Nietzsche 1935: 108, 131) Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass Förster-Nietzsche den italienischen Botschafter im August 1931 hatte wissen lassen, Nietzsche würde Mussolini fraglos »als seinen besten u. herrlichsten Jünger betrachten.« (zit. n. Kirchner 2009: 5) Analog verfuhr sie im Fall Hitler: Ihm überreichte sie bei dessen Besuch im Weimarer Nietzsche-Archiv am 2. November 1933 Nietzsches Degenstock sowie ein Exemplar der Antisemitenpetition ihres Gatten an Bismarck, »die bereits alle die Forderungen in der Judenfrage enthält, die in neuerer Zeit vom Nationalsozialismus erhoben […] worden sind.« (zit. n. Hoffmann 1991: 110 Entsprechend legte sie 1933/34 vehement Einspruch ein gegen den nationalsozialistischen Nietzscheskeptiker Martin Löpelmann (1933), dessen Bedenken wegen Nietzsches Deutschenfeindlichkeit und judenfreundlicher Gesinnung sie systematisch und nach Art des Hauses zu zerstreuen suchte, um im Ergebnis einen »heroische[n] Nietzsche« zu offerieren, der »für den Nationalsozialismus der herrlichste Wegbereiter« (GSA 72/30: 1) sei. Nicht vergessen sei schließlich ihr Telegramm vom Juni 1934 via Venedig anlässlich des dortigen Treffens zwischen Hitler und Mussolini: »Die Manen Friedrich Nietzsches umschweben das Zwiegespräch der beiden größten Staatsmänner Europas.« (zit. n. Algermissen 1947: 3) Hitler revanchierte sich wenige Wochen später (am 20. Juli 1934) mit einem erneuten Besuch im Nietzsche-Archiv, ein Ereignis, über das der damalige Archivmitarbeiter Karl Schlechta in den Weimarer Nachrichten kundtat: »So mag in alten Zeiten eine große Mutter ihren großen Sohn, eine Prophetin einen Helden empfangen, ein großer Mensch die die heilige Flamme hütende Priesterin empfangen 243 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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haben.« (zit. n. Riedel 1997: 81) Kein Wunder also, dass sie zehn Tage vor ihrem Tod in einem Brief an einen jüdischen Sponsor schrieb: »Man muß diesen großen herrlichen Mann [Hitler; d. Verf.] lieben, wenn man ihn so gut kennt wie ich.« (zit. n. Peters 1983: 302)

Ganz ähnlich sah dies auch ihr Cousin Richard Oehler. Wie sein Bruder Max war er im Vorstand der Stiftung Nietzsche-Archiv, wie dieser war er NSDAP-Mitglied sowie zusätzlich noch Mitglied im 1927 von Alfred Rosenberg gegründeten ›Kampfbund für deutsche Kultur‹. 1935 brachte er in einem schon von Georges Bataille (1937: 143 ff.) und Walter Kaufmann (1974/82: 338, 342, 351) wegen selektiver Zitate scharf kritisierten programmatischen Text den entscheidenden Satz zu Papier: »Was der Philosoph [Nietzsche; d. Verf.] vor Jahrzehnten erschaut und ersehnt hat, der Erneuerer des deutschen Volkes [Hitler; d. Verf.] führt es durch.« (Oehler 1935: 120)

Schon Oehlers im Mai 1933 vorgelegtes Nietzsche-Brevier huldigte diesem Programmsatz, brachte also »Marksteine dieses unerhörten Denkens zur Anschauung […], gleichgültig gegenüber zeitlicher Reihenfolge, gegenüber Entwicklung von Stufe zu Stufe, […] unbekümmert […] um Vollständigkeit, Zusammenhänge usw.« und ersatzweise allein auf »Wirkung« bedacht. (Oehler 1933: 3) Editionen mit exakt dieser Zielsetzung überschwemmten in der Folge den Buchmarkt, nur ein Beispiel sei noch genannt: Gottfried Linsmayers 1942er Edition Der Seher endet, was Aph. 203 von Jenseits von Gut und Böse angeht (vgl. Linsmayr 1942: 31), mit Nietzsches Ausblick auf »eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern […], an deren Bilde sich Alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen möchte« – von Nietzsche auch »Führer« genannt. Freilich: Linsmayer verzichtete sicherheitshalber auf die Wiedergabe der Fortführung, in welcher Nietzsche auf die »erschreckliche Gefahr« verweist, »dass sie [solche Führer; d. Verf.] ausbleiben oder missrathen und entarten könnten.« (V: 126 f.) Der hier sichtbar werdenden Theoriepolitik sind auch FörsterNietzsches zahllose Brief- wie Werkfälschungen verpflichtet, mit dem Höhepunkt der unsachgemäßen Kompilation von Nietzsches angeblichem Hauptwerk Der Wille zur Macht in der 1906 erschienen zweiten Version. Der Geist, von dem Förster-Nietzsche bei diesen 244 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Fälschungen umgetrieben wurde, lässt sich vorerst als eine ihr offenbar als Wesenszug anhaftende Tendenz zur Legendenbildung umschreiben. Schon ihre Mutter merkte hier auf: »Sie fabelt ganz außerordentlich«, ließ sie ihren Neffen (und späteren Biographen) Adalbert Oehler im Juni 1895 wissen, nachdem sie den ersten Band der Nietzsche-Biographie ihrer Tochter gelesen hatte, in der die Mutter eher eine unrühmliche Nebenrolle spielte und Ereignisse geschildert wurden, die sie, »die doch alles miterlebt« (zit. n. Gabel / Jagenberg 1994: 34) habe, jedenfalls nicht bezeugen könne. Als die Mutter dies zwei Jahre vor ihrem Tod und vor dem kurz vor ihrem Ableben verfügten Umzug Nietzsches und des von ihrer Tochter etablierten NietzscheArchivs nach Weimar zu Protokoll gab, war sie nur noch hilflose Kommentatorin eines nun vollständig von Förster-Nietzsche kontrollierten Geschehens. Begünstigend für diese Machtübernahme war der Umstand, dass ihre Ehe wenige Monate nach Nietzsches geistigem Zusammenbruch im Fiasko endete, nämlich durch den von ihr mit vielfachen Legenden verklärten Selbstmord ihres Gatten im Juni 1889. (vgl. Macintyre 1992: 188 ff.; Niemeyer 2017: 114 ff.) Unmittelbar zuvor will sie eine durchaus glorifizierende, gegen die Verunglimpfung durch die »Judenpresse« gerichtete Schilderung des gemeinsamen Lebens verfasst haben. Wahrscheinlich aber entstand dieser Text erst nach Försters Tod und wurde entsprechend vordatiert, um den aus brieflichen Dokumenten aus dieser Zeit erhärteten Verdacht eines Zerwürfnisses zwischen den Eheleuten entgegenzutreten. (vgl. Diethe 2001: 107 f.) Damit war sie gut präpariert für das nun greifende Fälschungshandwerk im großen Stil. Seine besondere Brisanz bezog es aus dem Umstand, dass sich bei ihr gefühlsbetonte Wiedergutmachungsgelüste im Blick auf den ihrer Heirat wegen verlassenen Bruders anmeldeten. Hinzu kam der durch pekuniäre Klugheit vorangetriebene Glaube, sie, die philosophisch gänzlich Unkundige, sei die einzig berufene Nachlassverwalterin, Herausgeberin und Interpretin des Werkes eines der größten Philosophen der Weltgeschichte. Damit begann die das Reden über Nietzsche für Jahrzehnte belastende Legendenbildung. Das Motiv, dem Förster-Nietzsche dabei folgte, hatte sie schon im April 1883 ihrer Mutter offenbart: »Siehst Du, ich wünschte bloß, Fritz hätte Försters Ansichten.« (zit. n. Peters 1983: 110) Die hehre Natur ihres Gatten, den Nietzsche im Mai 1885 als einen »zum näheren Verkehre« ungeeigneten »Agitator« (7: 54) ad acta gelegt hatte, 245 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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stand für sie noch Jahre später außer Frage: Bernhard sei einer der »idealsten Führer« der Antisemiten gewesen, meinte sie 1891, doch leider hätten diese ihn »schmählich« im Stich gelassen. Seine Gründung – die Siedlung ›Neu-Germania‹ in Paraguay, die »der Reinheit der arischen Rasse geweiht war und Juden ausschloß« (Santaniello 1997/98: 31) und in der nach 1945 der Auschwitz-Arzt Josef Mengele vorübergehend Unterschlupf fand (vgl. Macintyre 1992: 1992: 262 f.) – sei »verleumdet, verhetzt, von Deutschland nicht unterstützt« (Förster 1891: 45) worden. Soll man hier ergänzen: … so wie Nietzsche? Dann nämlich läge es nahe, von einer von Förster-Nietzsche vorangetriebenen Wiederauferstehung Nietzsches in der Gestalt eines antisemitischen und deutschtümelnden Försterianers zu sprechen, nach dem Muster von Walter Kaufmanns Bemerkung: »[I]n der Ironie dieses Namens [Förster-Nietzsche; d. Verf.] ist alles enthalten, was man gegen sie vorbringen kann: in der Tat verbreitete sie eine Botschaft, die zuerst die Försters und erst in zweiter Linie die Nietzsches war.« (Kaufmann 1974/82: 52)

Offenbar hatte Nietzsche auch hierum schon geahnt. Nicht umsonst jedenfalls stellte er ihr im Dezember 1887, am Ende seiner Klage darüber, »dass Herr Dr Förster auch jetzt noch nicht seine Verbindung mit der antishemitischeni Bewegung aufgegeben hat«, wodurch »die Trennung zwischen uns […] in der absurdesten Weise festgestellt« sei, die rhetorische Frage: »Hast Du gar nichts begriffen, w o z u i c h i n d e r We l t b i n ?« (8: 218)

Förster-Nietzsche reagierte übrigens hochprofessionell (in Begriffen alter Fälscherschule geredet): Sie unterdrückte diesen Briefentwurf – und ersetzte ihn durch eine erstmals 1909 präsentierte Fälschung. Ihr sollte der Leser die Botschaft entnehmen, Nietzsche habe es für »unbillig« erklärt, »das arme Lama für die Gesinnungen dieser [antisemitischen; d. Verf.] Partei verantwortlich zu machen«, im Übrigen habe er mutig allen Einflüsterungen Dritter widerstanden, »daß Du nicht zu mir und meiner Philosophie paßtest.« (GBr V/2: 754 f.) Diesem von Nietzschegegnern wie Thomas Mittmann (2001: 101) praktischerweise erst gar nicht in Betracht gezogenen Sachverhalt korrespondiert, dass Förster-Nietzsche systematisch dem Eindruck vorzubeugen suchte, Nietzsches Dissonanz mit Förster begründe sich aus einer fundamentalen Differenz in der Sache. Aus diesem Grund unterschlug sie – darauf wird noch zurückzukommen sein (vgl. 246 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Kap. XIII) – Nietzsches Briefe an Theodor Fritsch vom März 1887, enthaltend eine kaum verklausulierte Abrechnung mit seinem Schwager, der schon 1883 in Wagners Bayreuther Blättern für die Eugenik plädiert hatte und folglich für die Entfernung von »Kranke [n] und Schwache[n]« aus den »Schulen für die Gesunden und Ganzen, die Erben der nationalen Zukunft« (zit. n. Hein 1996: 153), in der Erwartung, auch Nietzsche für diese Idee gewinnen zu können. Insoweit darf man vorerst folgern: Nietzsche hatte verdammt gute Gründe für seinen nicht mehr zur Durchführung gebrachten Vorsatz (vom April 1884), den Verkehr mit allen Menschen abzubrechen, »welche zu meiner Schwester halten.« (6: 498) Und Karl Schlechta handelte durchaus im Sinne Nietzsches, als er deklarierte: »Wer sich für die Schwester entscheidet, entscheidet sich gegen Nietzsche« (Schlechta 1959: 93) –

ein Satz, dessen moderne Variante lauten könnte: Wer sich für Kerstin Deckers Buch Die Schwester entscheidet, entscheidet sich gegen Nietzsche. Oder in Gestalt einer kleinen Denkübung formuliert: Gesetzt, Deckers Arbeitsweise – also das Ignorieren alles im Vorhergehenden Referierten – stünde für die Regel, fragt man sich natürlich als ordentlicher Christenmensch und Staatsbürger, was wohl der Sinn hinter der Schöpfung der vielen Universitätsbibliotheken sein mag. Doch wohl nicht der, einer nachhaltigen Daseinsvorsorge zu dienen derart, dass das, was schon gegenwärtig hier und da vor allem als Wärmestube für Studierende in Gebrauch zu sein scheint, um 2029 herum, wenn es dank Donald Trumps Verleugnung der Klimakatastrophe immer kälter geworden sein dürfte – so kalt, wie in Roland Emmerichs Science Fiction The Day After Tomorrow (2004) angedeutet, – als Bevorratungslager in Sachen Brennbarem in Betracht gezogen wird? Dann nämlich könnte ein Szenario wie das in diesem Film geschilderte wahr werden: Ein Schüler, der Nietzsches Bücher vor dem so motivierten Flammentod bewahren will mit dem Argument, es handele sich bei dem Autor um den bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, fängt sich von seiner (gleichfalls vor Kälte mit den Zähnen klappernden) Freundin Laura die Replik ein: »Nietzsche war ein Chauvinistenschwein, das in seine Schwester verknallt war.« Um dessen Bücher es nicht schade ist, sollte dies wohl heißen. Die Pointe aus diesem, wie mir nun scheinen will, Albtraum? Nun, mir jedenfalls will die Fantasie nicht mehr aus dem Kopf, Laura habe tatsächlich nur ein Buch gelesen: jenes hier erwähnte von Kerstin Decker. Und 247 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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um der Forschungswelt jenseits dieser Engführung wieder Raum zu geben, habe ich dieses Kapitel geschrieben, das seine Fortsetzung finden wird am Exempel des wohl abenteuerlichsten Fälschungsskandals, der auf Rechnung von Nietzsches Schwester zu setzen ist und ihr das auf Georges Bataille zurückgehende Attribut eintrug: »Elisabeth Judas-Förster«.

248 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Kapitel XIII

»Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?« Ein deutsches Trauerspiel in sieben Akten zum Thema der Unterschlagung von Nietzsches Anti-Antisemitismus als Voraussetzung seiner Nazifizierung

»In der Geistesgeschichte gibt es, mit Ausnahme von Marx, keinen Fall, der dem Nietzsches an Abenteuerlichkeit gleichkommt; und niemals wird man das Unrecht gutmachen können, das man ihm angetan hat.« (Albert Camus, 1953)

Titel wie Untertitel reflektieren auf ein Szenario, das wie folgt angelegt ist:

Vorspiel (in der Hölle, Anfang der 1960er Jahre) Nietzsche sichtet Anfang der 1960er Jahre im Lesesaal der HöllenBibliothek einige Neuerscheinungen, darunter Fritz Sterns The Politics of Cultural Despair (1961). Sein Sichtungsprinzip: Das Personenregister, von hier ausgehend vorzüglich die Stellen, die von ihm handeln. Von dieser Angewohnheit her erklärt sich wohl sein nicht mehr recht kontrollierbarer Kopfschüttel-Reflex, auch jetzt wieder, als er, zunächst heftig nickend, Sterns Satz über sich liest (hier zitiert nach der deutschen Ausgabe, erschienen unter dem Titel Kulturpessimismus als politische Gefahr): »Jede Tyrannei eines Kollektivs lehnte er ab; sicherlich würde er die völkische Gemeinschaft ebenso entschieden bekämpft haben, wie er den bestehenden Staat bekämpfte.« (Stern 1961: 377)

Dann aber fällt Nietzsches Blick auf die dazugehörende Fußnote, in welcher zum Beleg seine Briefe an den Hitlervorläufer Theodor

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XIII · »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«

Fritsch (1852–1933) vom März 1887 referiert werden, sich aber eben auch der Satz findet: »Beide Briefe sind in deutschsprachigen Sammlungen von Nietzsche-Briefen nicht enthalten.«

›Kopfschütteln‹ reicht hier nicht mehr als Beschreibung, vielmehr entringt sich den vergleichsweise müden Knochen eine Art Schmerzensschrei. Heftig fährt Nietzsche auf, eilt in den Nebenraum und heischt seine dort am Spinett sitzende Schwester, außer sich vor Wut und ganz sicher, dass nur sie Schuld sein kann, an: »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«

Damit mag die Überschrift hinreichend erklärt sein, nun noch kurz, nun ja: alles ist relativ, also, besser: auf den nächsten siebenunddreißig Seiten zu den weiteren Feinheiten des Untertitels sowie zum Motto.

Intermezzo: Zum Stand der Forschung Apropos und um gleich damit zu beginnen: Wem dieses Motto, insbesondere die Vokabel »niemals« im Camus-Zitat, etwas zu pessimistisch dünkt, dem sei ein exemplarischer Blick in das Buch Die Schwester (2016) von Kerstin Decker empfohlen: Beinahe sechzig Jahre nach der Alarmmeldung Fritz Sterns – er kannte die Briefe aus einer französischen, auch für Albert Camus wichtigen Edition (vgl. Nicolas 1936) und wusste von daher sofort, dass da etwas nicht stimmen konnte mit den deutschsprachigen Nietzsche-Editionen – übergeht diese professionelle, um Rehabilitierung von Nietzsches Schwester bemühte Biographienschreiberin Nietzsches Briefe an Theodor Fritsch komplett, verliert auch kein Wort darüber, dass Nietzsches Schwester (wie Nietzsche in der Hölle sofort wusste) sie tatsächlich nicht publiziert hatte, vielmehr sie, wie seit 2003 mehrfach gezeigt (etwa Niemeyer 2003a; 2005), systematisch unterschlug. Ganz ähnlich der oben gleichfalls schon angesprochene Fall des Ulrich Sieg: Nichts Nennenswertes finden wir in der causa Theodor Fritsch bei ihm, nichts also dahingehend, dass Nietzsche, mit Albert Camus geredet, ›Unrecht‹ geschehen sei, und zwar auf ›abenteuerliche‹ Art und Weise: vor allem durch seine Schwester, der des Verfassers allerletztes Lob gilt: »Stets blieb sie die tapfere Frau eines edlen Kolonisten in 250 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Intermezzo: Zum Stand der Forschung

Südamerika und die selbstlose Schwester eines viel zu lange missachteten Genies.« (Sieg 2019: 349) Ernst gemeint? Oh ja – und damit wohl unter unbeabsichtigte Real-Satire abbuchbar. Schlimm dabei, dass diesem Mann noch ein weiterer, von ihm sanft aber auf unverständliche Weise getadelter 16 weiterer Mann zur Seite steht: Robert C. Holub. Auch diesem renommierten US-Germanisten und Nietzscheforscher kommt nur selten oder garnicht ein Lob Nietzsches über die Lippen, im Vergleich etwa zum Lob auf die Schwester, der Holub sich, wie es scheinen will, seit 2002 verpflichtet fühlt (vgl. Holub 2002), was seine wütende Attacke auf Ankläger derselben (vgl. Niemeyer 2009; zur Kritik: Holub 2014; zur Gegenkritik: Niemeyer 2014a) erklären mag, ebenso wie den Grundtenor seines Buches Nietzsche’s Jewish Problem. Between Anti-Semitismus and Anti-Judaism (2016). Denn was man in diesem Buch in eben dieser spezifischen Angelegenheit zu lesen bekommt, ist nichts anderes als eine substantiell unveränderte Nacherzählung des erstmals 2002 von Holub hierzu Vorgetragenen inklusive aller Mängel, summarisch geredet: noch immer scheint Holub im Zuge seiner wortreichen Verteidigungsrede pro Elisabeth Förster-Nietzsche nicht um die entscheidenden Gegenargumente zu wissen oder wissen zu wollen. Davon (vgl. allerdings Niemeyer 2017c: 413 ff.), auch von den sich daraus sich ergebenden weiteren Fragen in Sachen von Nietzsches Verständnis ›großer Politik‹ (vgl. Knoll 2018), sei hier nicht weiter gehandelt – abgesehen von einem im folgenden besonders interessierenden Punkt: »We do not posess Fritsch’s letter«, stellt Holub (2016: 155) an entscheidender Stelle des 5. Kapitels seines Buches (Anti-Semitic Confrontations) fest – und dies, wo er, wäre er auf dem Stand der Forschung in dieser Angelegenheit oder auch nur auf jenem Fritz Sterns von 1961, hätte formulieren und in der Folge erläutern müssen: »Why not?« Warum Holub diese Frage auch 2016 noch immer hartnäckig vermeidet? Weil an ihrem Ende immer nur ein Name hätte stehen können: der von Elisabeth Förster-Nietzsche, ein Name, den Holub allerdings um jeden Preis schützen will – und Sieg schreibt, Förster-Nietzsches Paraguay-Erfahrung und die Beiseitesetzung ihres Gatten durch die antisemitische Bewegung hätten dazu geführt, dass sie »fortan einige prominente Antisemiten« (gemeint ist vor allem Theodor Fritsch) ablehnte, was »in der Forschung zu Verwirrung geführt« habe, weil (und dies spielt auf Holub an) »ihre Aussagen meist grundsätzlicher gelesen werden, als sie eigentlich gemeint waren« (Sieg 2019: 162) – ein Satz, der, da ohne weitere Erläuterung, die einleitend konstatierte ›Verwirrung‹ der Forschung fraglos potenzieren dürfte.

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sei es für den Preis des Lobs der analog fehlerhaften und deswegen schon längst kritisierten (vgl. Niemeyer 2010: 312 ff.) Darstellung von Domenico Losurdo (2009) als »useful« (Holub 2016: 214). Um diese Kritik an Holub nachvollziehen zu können, inklusive der Pointe, dass er als auch Kerstin Decker der von Albert Camus skandalisierten Missbrauchsgeschichte Nietzsches ein neues Kapitel anfügen, ist die Lektüre der folgenden Erläuterungen anzuraten, die nach Art eines Trauerspiels angelegt sind und mit einem weiteren Vorspiel eröffnet werden.

Vorspiel II (in Nizza, 1887) Im März 1887 erhielt Nietzsche, zu dieser Zeit (seit Oktober 1886) in Nizza weilend, einen Brief des damals vierunddreißigjährigen Leipziger Verlegers Theodor Fritsch, dem – wie aus der Rückschau deutlich wurde – »wichtigsten deutschen Antisemiten vor Hitler« (Phelps 1961: 442). Fritsch erwarb sich diesen zweifelhaften Ruhm in den Jahren bis zu seinem Tod durch die von ihm herausgegebene und verlegte Antisemitische Korrespondenz, die Begründung der HammerBewegung (vgl. Bönisch 1996), die gleichnamige 1901 begründete Zeitschrift sowie die Herausgabe des Antisemiten-Katechismus, der unter dem Titel Handbuch der Judenfrage vierzig Auflagen erleben sollte (vgl. Schüler 1971: 106) und dem Hitlers Freund und Mentor Dietrich Eckart nachrühmte, es offeriere »eigentlich unser ganzes Rüstzeug« (zit. n. Maser 1981: 96). Des Weiteren gewann Fritsch erheblichen Einfluss auf die völkische Jugendbewegung (vgl. Laqueur 1962: 89 ff.; Winnecken 1991: 36). Insbesondere wird man ihn verantwortlich machen dürfen für das dort gängige Nietzscheverdikt, welches sich exemplarisch in der Wandervogelführerzeitung Bahn brach, namentlich in Gestalt des hier vorgetragenen vehementen Protestes gegen das von Walter Hammer propagierte pazifistisch-kosmopolitisch gefärbte Nietzschebild (vgl. Niemeyer 2002: 133). Mit Nietzsche kam Fritsch in Berührung, weil er die Geschäfte des seinerseits antisemitisch eingestellten frühen Nietzsche-Verlegers Ernst Schmeitzner übernommen hatte (vgl. Ulbricht 1996: 288 f.) und mit Nietzsches Schwager Bernhard Förster befreundet war, sprich: im April 1881 als einer von fünf weiteren Erstunterzeichnern dessen mit 267.000 Unterschriften versehene Antijuden-Petition abgesegnet hatte (vgl. Podach 1932: 125) sowie seit 1883 einige 252 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Vorspiel II (in Nizza, 1887)

von Försters Schriften verlegte und wohl meinte, auch Nietzsche brieflich für die antisemitische Sache gewinnen zu können. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass Nietzsches Schwager, dem Nietzsche im Mai 1885 einen Privatdruck von Za IV vermacht hatte, seinen Gesinnungsgenossen Fritsch über den insbesondere in Der Schatten genutzten Topos ›ewiger Jude‹ sowie das Begriffspaar ›Jude und Junker‹ (vgl. Kap. V/2) in Kenntnis gesetzt hatte und Fritsch dadurch ermutigte, Nietzsche zu fragen – so die Rekonstruktion des Briefinhalts aufgrund von Nietzsches Antwort vom 23. März 1887 –, ob er möglicherweise »durch irgend eine gesellschaftliche Rücksichtnahme« zu »schiefen Urtheilen« (8: 46) hinsichtlich des Judentums verführt werde. Nietzsche allerdings musste Fritsch enttäuschen: Er habe unter den Juden zwar keine Freunde (mehr) und insoweit diesbezügliche Rücksichten nicht zu nehmen, sein bisheriger Lebensweg gäbe aber auch keine Wahrscheinlichkeit dafür ab, dass er sich »von irgend welchen Händen ›die Schwingen verschneiden lasse‹«; im Übrigen fühle er sich »dem jetzigen ›deutschen Geiste‹ zu fremd […], um seinen einzelnen Idiosynkrasien ohne viel Ungeduld zusehn zu können. Zu diesen rechne ich in Sonderheit den Antisemitismus.« (8: 46) Angefügt war dem noch der (fromme) Wunsch, Fritsch möge eine »Liste deutscher Gelehrter, Künstler, Dichter, Schriftsteller, Schauspieler und Virtuosen jüdischer Abkunft« herausgeben, denn dies »wäre ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der deutschen Cultur (auch zu deren Kritik!).« (8: 46) Wenige Tage später, am 29. März, schickte Nietzsche Fritsch drei Hefte der von diesem herausgegebenen und verlegten Antisemitischen Correspondenz zurück mit dem Vermerk, er bitte darum, fürderhin von derlei Zusendungen verschont zu werden. Denn: »[D]ieses abscheuliche Mitredenwollen noioser Dilettanten über den We r t h von Menschen und Rassen, diese Unterwerfung unter ›Autoritäten‹, welche von jedem besonneneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden (z. B. E. Dühring, R. Wagner, Ebrard, Wahrmund, P. de Lagarde – wer von ihnen ist in Fragen der Moral der unberechtigste, ungerechteste?), diese beständigen absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe ›germanisch‹, ›semitisch‹, ›arisch‹, ›christlich‹, ›deutsch‹ – das Alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen und aus dem ironischen Wohlwollen herausbringen, mit dem ich bisher den tugendhaften Velleitäten und Pharisäismen der jetzigen Deutschen zugesehen habe.« (8: 51)

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Hervorhebenswert ist an dieser Aufzählung der Name des ev. Theologen und Orientalisten Paul de Lagarde (1827–1891), dessen Deutsche Schriften (1878–81) Nietzsche 1885/86 mit dem Wort bedacht hatte: »– man muß schon bis zum letzten Wagner und seinen Bayreuther Blättern hinuntersteigen um einem ähnlichen Sumpf von Anmaaßung, Unklarheit und Deutschthümelei zu begegnen« (XII: 55).

Aber nicht nur um Lagarde war es Nietzsche zu tun, sondern auch um die von ihm in seinem Brief an Fritsch erwähnten anderen Heroen der völkischen Bewegung, vor allem aber um seinen Schwager, insofern dieser in einem jener von Nietzsche zurückgesandten Hefte sein 1886 in Paraguay zu Papier gebrachtes, im Januar 1887 in der Antisemitischen Correspondenz veröffentlichtes Pamphlet Unsere Arbeit, unsere Ziele! platziert hatte, in welchem ›der‹ Jude bevorzugt mit »Unkraut unter dem dichten Schatten gesunder Bäume« verglichen wird, auch mit dem »Fuchs«, der genauso wenig in den »Gänsestall« gehöre »wie der Jude in das Deutsche Reich.« (KGB III 7/3.2: 889 ff.) Derlei Ausfälle, aber eben auch den Protest ihres Bruders dagegen wollte Förster-Nietzsche unbedingt in Vergessenheit bringen, auch für den Preis, dass nun erst gar nicht publik wurde, dass Nietzsche mit dem einen eben herausgestellten Satz aus seinem Brief an Fritsch vom 29. März 1887 zugleich auch seine eigenen »Zurechtmachungen der vagen Begriffe ›germanisch‹, ›semitisch‹, ›arisch‹, ›christlich‹, ›deutsch‹« unter der Hand als absurd verworfen hatte – etwa auch jene aus der Geburt der Tragödie von 1872. Denn damals hatte Nietzsche, deutlich unter dem Einfluss Wagners stehend, noch behauptet, der Prometheussage wohne »für das arische Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung inne, die der Sündenfallmythus für das semitische hat« – eine fürwahr haarsträubende Begriffskonstruktion, zumal Nietzsche die muthaften Aspekte der Prometheusfigur mit arisch-männlichen Vorzeichen versehen hatte und die zum Sündenfall disponierenden semitisch-weiblichen Wesenszüge mithilfe von Vokabeln wie »Neugierde«, »lügnerische Vorspiegelung«, »Verführbarkeit« oder »Lüsternheit« (I: 69) zu fassen suchte, also vor kaum einem der damals im Wagnerkreis in Mode gekommenen antisemitischen Klischees zurückschreckte. Insoweit kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Fritsch im März 1887 aus derlei älteren Sätzen Nietzsches das Vertrauen geschöpft hatte, Nietzsche sei nach wie vor Teil dieses sich dann in Bayreuth formierenden völkischen 254 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Vorspiel II (in Nizza, 1887)

Grundgedankens, an dem besonders wichtig ist, dass er sich später auch in Hitlers Mein Kampf wiederfinden wird, genauer gesprochen: im 11. Kapitel des ersten Bandes, in welchem Hitler Prometheus gleichfalls als »Sinnbild des Arischen« einführte und dem kulturell angeblich unproduktiven, weil nur schmarotzendem jüdischen Typus entgegensetzte – eine, wie wir nun sehen, Argumentation in erstaunlicher Parallele zu jener Nietzsches, dies allerdings nur im Blick auf dem Stand der Geburt der Tragödie von 1872 (vgl. Niemeyer 1997; Pütz 2001). Dieser Nachsatz ist zentral – und macht es erforderlich, genauestens zu begründen, inwiefern Nietzsche der hier entwickelten Argumentationsfolie in der Phase seiner Loslösung von Wagner sowie danach zunehmend entsagte. In dem hier interessierenden Kontext ist dabei vor allem Nr. 475 aus Menschliches, Allzumenschliches von 1878 aufschlussreich, dies freilich nur, wenn man weiterzugehen vermag als Paul L. Rose, der lediglich einige Zitate dekontextualisiert darbietet (vgl. Rose 1999: 159) und damit sein Urteil meint stärken zu können, Nr. 475 verdeutliche die »für Nietzsches Haltung gegenüber Juden typische Mischung aus Gehässigkeit und Lobpreis.« (ebd.: 321). Rose übersieht, dass Nietzsche hier erstmals von der Notwendigkeit der »Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse« (II: 330) unter Einbeziehung der Juden redet – und damit ein Motiv vorwegnimmt, welches sich acht Jahre später in Nr. 251 aus Jenseits von Gut und Böse wiederfindet. Hier nämlich lobt Nietzsche die Juden infolge der von ihnen erfolgreich bewältigten Anfeindungen als »stärkste, zäheste und reinste Rasse« (V: 193) Europas – und empfiehlt dem märkischen Junkertum, Jüdinnen zwecks Verehelichung und Fortpflanzung ins Auge zu fassen. Denn auf diese Weise, so Nietzsche weiter und zugleich weiter spottend im Stile dieser seiner »heiteren Deutschthümelei« (V: 195), könne man ja sehen, »ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzuthun, hinzuzüchten liesse.« (V: 194 f.)

Dies war an sich deutlich genug und hätte jeden Völkischen darüber belehren können, dass, so der offiziöse Klagelaut im ›Dritten Reich‹ (vgl. Kap. XIX/4), Nietzsche »jüdischer Blutmischung« das Wort geredet habe. 255 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Freilich: Dies war, bei Lichte betrachtet, noch nicht einmal der eigentliche – völkisch respektive nationalsozialistisch geredet – ›Skandal‹ an Nietzsches Argument, wie überhaupt jede Deutung der in Rede stehenden zwei Passagen fehlgreift, die, so wie dies seit Raoul Richter (21909: 267 ff.) verbreitet geschieht (vgl. etwa Taureck 1989: 28 ff.; Hoyer 2002: 629), den rasse- oder züchtungstheoretischen Aspekt ins Zentrum rückt. Denn in beiden Fällen ging es Nietzsche primär gar nicht um jene Fragen, die man vielleicht als solche nach der Kopulation und Population bezeichnen darf. Sondern es ging ihm um Fragen der Mentalität, wenn nicht gar der Multikulturalität – und damit, zumal unter Berücksichtigung der für Nietzsches Spätwerk zentralen Ressentimentanalyse (vgl. Niemeyer 1998: 351 ff.), um eine sozialpsychologische Fortschreibung des gegen Wagner gerichteten Projekts einer ›Entdeutschung der Deutschen‹ in Richtung dessen, was Nietzsche seit 1878 mit dem Stichwort ›guter Europäer‹ belegte. Deswegen auch steht eben dieses Stichwort – und nicht die Vokabel ›europäische Mischrasse‹ – im Mittelpunkt von Nr. 475 aus Menschliches, Allzumenschliches, etwa wenn Nietzsche schreibt, es sei im Interesse der »Vernichtung von Nationen« (neudeutsch gesprochen: der europäischen Einigung), dass jeder Deutsche lernt, sich als »g u t e n E u r o p ä e r aus[zu]geben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen [zu] arbeiten.« (II: 309) Ähnliches gilt für Nr. 251 von Jenseits von Gut und Böse. Denn auch hier geht es primär nicht um die Züchtungs-, sondern um die Entdeutschungs- sowie Europäisierungsthematik. So wird beispielsweise gleich zu Anfang harte Kritik laut an mal antifranzösisch, mal antijüdisch, mal antipolnisch aber eben auch an »Wagnerianisch« akzentuierten – summarisch gesprochen: sowohl anti-europäischen als auch ressentimentlastigen – »Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens«, und dies im unmittelbaren Vorgriff auf Nietzsches Entschuldigung bei seinen Lesern, dass er seinerseits nicht völlig von dieser politischen »Krankheit« verschont blieb infolge eines »kurzen gewagten Aufenthalts auf sehr inficirtem Gebiete.« (V: 192 f.) Mit dieser Bemerkung spielte Nietzsche auf seine Zeit in Tribschen an sowie auf den Geist von Bayreuth. Wie ›infizierend‹ Tribschen damals war, zeigt ein Blick in den 1869 in zweiter Auflage vorgelegten Wagner-Aufsatz Das Judentum in der Musik: »Der Jude«, so Wagner an charakteristischer Stelle in diesem nicht zuletzt durch Ressentiments gegenüber den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer gepräg256 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Vorspiel II (in Nizza, 1887)

ten, erstmals 1850 unter Pseudonym erschienenen Pamphlet, »fällt uns im gemeinen Leben zunächst durch seine äußere Erscheinung auf, die […] etwas […] Fremdartiges hat: wir wünschen unwillkürlich mit einem so aussehenden Menschen Nichts gemein zu haben.« (GSD 5: 69) In diesem Stil geht es seitenlang weiter, kulminierend in dem Befund, dass »[d]er Jude, der an sich unfähig ist […], sich uns künstlerisch kundzugeben, […], nichtsdestoweniger es vermocht [hat], in der […] Musik zur Beherrschung der öffentlichen Meinung zu gelangen.« (GSD 5: 73) Das Ganze endet mit der – nun direkt an ›die‹ Juden gerichteten – Mahnung: »[B]edenkt, dass nur Eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasver’s, – der U n t e r g a n g !« (GSD 5: 85) Auch wenn nach Meinung zahlloser Experten (etwa Cancik 1997/98: 77; Fischer 2000: 85 ff.; Friedländer 2000: 168; Borchmeyer 2002: 385) die letztgenannte Vokabel nicht im Sinne der Forderung nach physischer Vernichtung zu deuten ist, sondern, beispielsweise, auf das Projekt der Assimilierung des Juden durch Übertritt zum Christentum verweist, besteht zumal in Anbetracht der gegen diese Lesart gerichteten Einwände (etwa Rose 2000a: 289 ff.; Zelinsky 2000; Hein 1997: 202; Köhler 1997: 415 ff.) kein Anlass zur Beruhigung. Dies gilt auch deshalb, weil Wagner in der erweiterten Neuauflage von 1869 analog argumentierte. Diesmal bevorzugte er die Formel der »gewaltsame[n] Auswerfung der zersetzenden fremden Elementes.« (GSD 8: 259) Gleichwohl ist bei Wagnerianern Bagatellisierung nach wie vor en vogue, wie Marc Weiner (1995: 30 ff.) nachdrücklich zumal am Mainstream der deutschsprachigen Wagnerforschung zu demonstrieren suchte. Auch in einem einschlägigen Handbuch konnte man noch 2008 in einem von Dieter Borchmeyer mitverfassten Text lesen, in Wagners Schriften spiele die Judenfrage nach 1850 »nur noch eine periphere Rolle – ganz zu schweigen von seinem musikdramatischen Werk.« (Borchmeyer / Figl 2008: 173) Freilich: Borchmeyer kann kaum unbekannt sein, dass das Gegenteil richtig ist. Der 1869 wieder veröffentlichte Aufsatz von 1850 steht für den »Beginn von Wagners Antisemitismus im Sinne eines kulturpolitischen Konzepts.« (Wagner 1997: 92; Chamberlain 1933: 224 f.; Zelinsky 2000: 312 f.) Und dieses Konzept programmgemäß bis in alle Einzelheiten umzusetzen, war offenbar der zentrale, erstmals von Hitlers Jugendfreund August Kubizek (1953: 83 ff.) beglaubigte Wahn und Handlungsimpuls des ›Führers‹. (vgl. Hamann 2002) Wagner selbst sprach denn auch noch zehn Jahre später (im Oktober 1879), nun längst in Bayreuth residie257 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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rend, voller Stolz und im Blick auf eine gerade gehaltene Rede des antisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker davon, dass sein 1850er Aufsatz »den Anfang dieses Kampfes gemacht« (Wagner 1976, Bd. 3: 424) habe – eine Einschätzung, die Theodor Fritsch noch 1931 im von ihm herausgegebenen antisemitischen Handbuch der Judenfrage teilte. (vgl. Fritsch 1931: 8) Fassen wir zusammen: Nietzsche hat mit Nr. 475 aus Menschliches, Allzumenschliches die ihn fürderhin bestimmende Perspektive des ›guten Europäers‹ eingeführt, die er mit Nr. 251 von Jenseits von Gut und Böse fortführt, damit zugleich endgültig Abschied nehmend vom völkischen Kreis, der sich, von Wagner stimuliert, in Bayreuth gebildet hatte. Diesen 1878 eröffneten emanzipativen Akt, so können wir folglich schließen, vollendete Nietzsche mit seinen Briefen an Fritsch vom März 1887 – und eben darin liegt deren Bedeutung.

Erster Akt: Nietzsche in Leipzig, November/Dezember 1887 – Februar 1889 Fritsch hatte infolge von Nietzsches zwei Briefen vom März 1887 offenbar erkannt, dass eine weitere Nachfrage entbehrlich sei. Entsprechend wusste er, was zu tun war – und veröffentlichte im November/Dezember 1887 in der Antisemitischen Correspondenz unter dem Pseudonym Thomas Frey eine Rezension von Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. Aus ihr erfuhr der Leser, es handele sich bei dem von ihm besprochenen, damals noch fast gänzlich unbekannten Autor um einen »›philosophischen Seichtfischer‹, dem ›all und jedes Verständnis für nationales Wesen‹ abgehe« und der zumal in Fragen des Judentums nur den »›flachen geistreichelnden Schwatz eines angejüdelten Stuben-Verlehrten‹« (zit. n. Kr I: 143) anzubieten habe. Ein gutes Jahr später sprang der Chemiker und Biologe Willibald Hentschel (1858–1947), im Rahmen der völkischen (Jugend-)Bewegung eine wichtige Figur als Rassenzuchtideologe (vgl. Hermand 1988: 78 ff.; Niemeyer 2013: 57 ff.), seinem frühen völkischen Weggefährten in der Antisemitischen Correspondenz bei und ließ an Nietzsche allenfalls »den ›früheren Vorkämpfer für die Wagner’sche Musik‹« gelten, beklagte aber ansonsten, »daß ›die Juden-Liebhaberei sich seither wie ein roter Faden durch seine Schriften‹ ziehe« (zit. n. Kr I: 165) – ein Urteil, zu dem sich wenig später auch der Kulturanti258 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Erster Akt: Nietzsche in Leipzig, November/Dezember 1887 – Februar 1889

semit Adolf Bartels bekannte (vgl. Kr I: 440). Damit war die Nietzschefrage schon im Jahre 1889 für die zentralen (älteren) Träger der völkischen Bewegung erledigt – dies jedenfalls vom Prinzip her. Damit diese Einschränkung nicht falsch verstanden wird: Es kann kein Einwand gegen diese Finalisierungsthese sein, dass Hentschel, der Jahre später in einem von Fritsch verlegten Buch die Vorgabe lieferte für die völkische Siedlung Mittgart, welche auf rassische Hochzucht abstellte und in die Geschichte der Jugendbewegung (Stichwort: Artamanen) sowie des Nationalsozialismus und speziell der SS (Stichwort: Lebensborn) einmündete (vgl. Linse 1996: 409), sehr wohl auf Nietzsche rekurrierte, etwa indem über dem Eingangstor dieser Institution die Worte aus der Geburt der Tragödie stehen sollten: »Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch.« (I: 30). Denn dies bezeugt allenfalls Hentschels Respekt für den frühen Nietzsche und betrifft im Übrigen nicht den Kern der Sache, welchen Hentschel vor allem Gobineau entlieh (vgl. Breuer 2001: 66). Andere Zuchtutopien sektenförmigen Charakters beriefen sich zwar in zentralerer Hinsicht auf Nietzsche, insofern ihre Protagonisten beispielsweise der Auffassung huldigten, den Germanen falle als »echten Erben Zarathustras« sowie als »Rasse der Zukunft« die »Weltherrschaft« (Linse 2001: 277) zu. Aber dies blieb randständig und ist aus den vorgenannten Gründen absurd. 17 Hentschel ließ denn auch bis zu seinem Tod Substantielles und Weiterführendes zum Thema Nietzsche nicht verlauten. Und auch für Fritsch, der wie Bartels der Auffassung war, dass »nur durch rassische Einheitlichkeit die Selbsterhaltung der Völker gesichert werden« Insoweit kann man auch Wolfgang Harich auf sich beruhen lassen, der 1987 keine Probleme hatte, eine gerade Linie auszuzeichnen von einzelnen Passagen aus Nietzsches Werk hin zu Himmler und mithin zu den »Praktiken des ›Lebensborns‹« sowie »des industriell betriebenen Genozids an den Juden und den Sintis und Romas aus ganz Europa.« (Harich 1994: 75) Dass Harich als Nietzscheexeget (sowie als Historiker) absichtsvoll versagte, zeigt beispielsweise schon der Umstand, dass er sich – ebenso beispielsweise wie Georg Lukács (1954) oder Bernhard Taureck (1989) – für den hier erörterten, aus den späten 1880er Jahren herrührenden völkisch motivierten Widerstand gegen Nietzsche und die diesbezüglichen Quellen (etwa Nietzsches FritschBriefe) nicht interessierte, ja: die Edition, die diese Briefe zugänglich machte, noch 1989 mit Hohn und Spott übergoss (vgl. Harich 1994: 154 ff.) – und dies, obwohl Rüdiger W. Schmidt (1988: 263 f.) auf die Bedeutung dieser Briefe ausgerechnet in einem Band aufmerksam gemacht hatte, der Harich allein schon seiner sonstigen (marxistischen) Autoren wegen (Manfred Buhr, Hans Jörg Sandkühler, Domenico Losurdo, Friedrich Tomberg, Robert Steigerwald u. a.) hätte interessieren müssen.

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XIII · »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«

(Breuer 2001: 66) könne, war durchgehend – wie gesehen spätestens seit März 1887 – klar, dass mit Nietzsche, lax gesprochen, kein rein arischer Staat zu machen war. Theodor Fritsch hat das Thema Nietzsche in der Folge wohl auch nur deswegen nicht ad acta gelegt, weil immer mal wieder kritische Nachfragen auch seitens der nachwachsenden Vertreter der völkischen Bewegung in Sachen der Berechtigung des Nietzscheverdikts aufkamen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang vor allem an den Dilthey-Promovenden Ernst Wachler (1871–1945). Schon seit Januar 1889 durch Entdeckung der gerade erschienen Götzen-Dämmerung begeisterter Nietzscheleser (vgl. Kr I: 164), geriet er trotz seines jüdischen Glaubens noch während seiner Studienzeit unter den Einfluss seines akademischen Lehrers Heinrich v. Treitschke (1834–1896), um in der Folge Grundzüge einer germanozentrischen Weltanschauung zu erarbeiten. Unter Berufung auf den sich als Nietzschefortsetzer missverstehenden, geistig nicht ganz sattelfesten (vgl. Niemeyer 2014b) völkischen Ideologen Julius Langbehn (1851– 1907) forderte Wachler ein nationales Kulturprogramm ein, in dessen Linie er in der Folge eine gewisse Bedeutung gewann als einer der zentralen Führer der völkischen Heimatkunstbewegung, Unterabteilung Landschafts- und Naturtheaterbewegung (vgl. Puschner 1996). Mit Nietzsche schien sich all dies nicht ohne weiteres in Verbindung bringen zu lassen – hätte Wachlers Nietzschebild 18 nicht eine besondere Profilbildung und Gestaltung erfahren durch den Umstand, dass er ab 1902 in Weimar wohnte, wo er journalistisch tätig war und dem völkischen Kreis um Adolf Bartels sowie Friedrich Lienhard angehörte, der damals in Fehde lag mit der Weimarer Avantgarde um die Nietzscheverehrer Henry van de Velde und Harry Graf Kessler (vgl. Merseburger 1998: 242 ff.). Nietzsches Schwester handhabte die dadurch entstandene schwierige Situation zwar auf durchaus geschickte Art, aber im entscheidenden Ergebnis so, dass ihre Sympathie eindeutig dem völkischen Kreis und dem von Wachler favorisierten Nietzschebild gehörte, das zu kräftigen und zu fördern sie sich so gut als möglich bemühte.

Wachler hatte schon im Januar 1889 als Oberprimaner durch Zufall die Götzendämmerung in die Hand bekommen (vgl. Krummel 1998: 164) und gab infolgedessen die damals nicht eben untypischen Symptome einer jugendspezifischen Nietzscheverzückung zu erkennen, von denen sich der neun Jahre ältere Adolf Bartels gänzlich unberührt wusste.

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Erster Akt: Nietzsche in Leipzig, November/Dezember 1887 – Februar 1889

An einem Beispiel gesprochen: Wachlers Urteil vom Januar 1900, Nietzsche habe die Ungleichheit aller Menschen »ganz im Einklang mit seinem großen Zeitgenossen, dem Grafen Gobineau« (zit. n. Kr I: 164), gelehrt, klingt sehr nach Förster-Nietzsche 19 und ein wenig nach jener Anekdote, die sie zwei Jahre später Eugen Kretzer kolportieren ließ und der zufolge Nietzsche »zu Anfang der achtziger Jahre« auf ihre Frage, warum er sein Nomadenleben nicht aufgäbe, geantwortet habe: »›Aber mit wem soll ich denn umgehen?‹«, um dann, als sie ihm den Namen des 1882 in Turin verstorbenen Gobineau entgegenhielt, hinzuzufügen: »›Ja, der ist doch dahin, und solche, wie er, gibt es nur wenige!‹« (zit. n. Kr I: 99) Auf diese Anekdote bezog sich auch der spätere Jenaer Philosophieprofessor Raoul Richter, als er im Wintersemester 1902/03 an der Universität Leipzig Vorlesungen über Nietzsche hielt, aus denen ein recht erfolgreiches und für Förster-Nietzsches Nietzschebild sehr schmeichelhaftes Nietzschebuch hervorging, in dessen Linie fast notwendig der Eindruck entstehen musste, Nietzsche sei ein neuer Gobineau, dem kaum etwas dringlicher gewesen sei als das Nachdenken über das durch Alkoholkonsum vergiftete (arische) »Blut der germanischen prachtvollen, nach Beute und Sieg lüstern schweifenden Bestie mit dem Raubtiergewissen.« (Richter 21909: 265) Derlei war zwar kaum Ernst zunehmen, und auch die Kretzer-Anekdote, auf die Richter gleichfalls noch 1909 rekurrierte (ebd.: 268), wird man wohl ad acta zu legen haben, zumal Nietzsche zumindest in seinen 20 Briefen nur Die in eben jenem Jahr, sich in wilden Spekulationen darüber ergehend, wohin es wohl zahlreiche Bücher aus Nietzsches Bibliothek verschlagen haben möge, nicht ganz ohne Hintersinn die Suggestivfrage stellte: »Und wo sind die Werke von Gobineau?« (zit. n. Gilman 1985: 384) 20 In den von Förster-Nietzsche erfundenen Briefen verhält sich dies allerdings etwas anders, etwa in Brief Nr. 502, in welchem sie ihren Bruder (ihr) unter dem Datum »Ende Oktober 1888« schreiben lässt: »Ich bin also wieder in meiner guten Stadt Turin, diese Stadt, welche auch Gobineau so sehr geliebt hat – wahrscheinlich gleicht sie uns Beiden.« Damit erst gar kein Missverständnis aufkommen konnte, dass Nietzsche hiermit nichts anderes zum Ausdruck habe bringen wollen als seine Zufriedenheit darüber, dass ihn mit Gobineau die positive Wertschätzung von Ungleichheit vereinige, ließ Förster-Nietzsche dem noch den Satz nachfolgen: »Auch mir tut die vornehme und etwas stolze Art dieser alten Turiner sehr wohl. Es giebt gar keine größere Verschiedenheit als das gutmüthige, aber gründlich vulgäre Leipzig und dies Turin.« (GBr V/2: 800) Nimmt man noch hinzu, dass Förster-Nietzsche mit diesem Brief ihre Fälschung abzusichern suchte, wonach Nietzsche Wilhelm II. tauglich gesprochen habe, die Rede vom ›Willen zur Macht‹ zu verstehen, haben wir es bei diesem Brief um eine der skrupellosesten Fälschungen Förster-Nietzsches zu tun, in de19

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en passant und zumal kaum aussagekräftig (vgl. 8: 516) von Gobineau sprach. Im Übrigen betrauerte Nietzsche dort, wo er so ähnlich redete wie es ihm seine Schwester mit dieser Anekdote in den Mund legte, nicht den Tod Gobineaus, sondern vor allem jenen Montaignes. 21 Davon bleibt aber unbetroffen, dass der Züchtungsprotagonist Richter bis zu seinem frühen Tod (1912) als Hausphilosoph des Nietzsche-Archivs galt (vgl. Kostka 2000: 17) und die Gobineau-Anekdote vor allem nach 1933 wirkungsvoll war (vgl. Niemeyer 2002: 191), zumal sie auf wundersame Weise beides zusammenbrachte: Zum einen den Namen dessen, der bei den Nazis, aber eben auch schon in der völkischen Bewegung im höchsten Ansehen stand; und zum anderen das Bemühen Förster-Nietzsches, ihren Bruder durch Hinweis auf dessen Gobineau-Nähe eben dieser Bewegung ungeachtet von Fritsch’ Widerstand sowie Hentschels und Bartels’ Zurückhaltung schmackhaft zu machen. Wachler spielte also, wenn man zusammenfassend so sprechen darf, die Rolle des nützlichen als auch des einfachen Idioten, will sagen: Ohne die Tricks Förster-Nietzsches zu durchschauen, assistierte er ihr dabei, den Spalt zwischen der völkischen Bewegung und Nietzsche zu kitten – und motivierte eben dadurch Fritsch dazu, gegenwirkend immer wieder an die Briefe Nietzsches zu erinnern oder jedenfalls doch in Richtung Weimar mit deren Bekanntgabe zu drohen. Dazu passt, dass Fritsch im April 1891 in seiner Antisemitischen Correspondenz, unterstützt übrigens von Paul Förster, den Versuch der Witwe kritisierte, den Antisemitismus ihres verstorbenen Gatten Bernhard Förster nachträglich zu bagatellisieren – etwas, was Fritsch unter der ihm naheliegenden Vokabel »Beschimpfung des Verstorbenen« (Fiebig 2018: 47) abbuchte. Insoweit blieb Spannung in einem (Trauer-)Spiel, dessen nächstem Akt wir uns nun zuwenden wollen.

ren Logik zwei Dinge auffallen: Nietzsche wird wilhelminismustauglich geschrieben – und zugleich schon mal probeweise nazifiziert. 21 So heißt es beispielsweise in einem Brief Nietzsches an Mutter wie Schwester vom 14. März 1885: »Es lebt übrigens jetzt Niemand, an dem mir viel gelegen wäre; die Menschen, die ich gerne habe, sind lange todt, z. B. der Abbé Galiani oder Henri Beyle oder Montaigne.« (7: 22 f.) Förster-Nietzsche übernahm diesen Brief zwar in ihre Briefedition von 1909. Dies tat sie allerdings – aus Gründen, die uns noch beschäftigen werden – unter falschem Datum. Und sie tat es auf das Risiko hin, die von Kretzer 1902 kolportierte Gobineau-Anekdote werde auf diese Weise unglaubwürdig.

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Zweiter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1904–1909

Zweiter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1904–1909 Am 15. Oktober 1904 brachte Förster-Nietzsche ihre große, dreibändige Nietzsche-Biographie zum Abschluss. Freilich: Weder hier noch in den beiden anderen, 1895 bzw. 1897 erschienenen (Teil-)Bänden ist von Fritsch die Rede oder auch nur von weiteren Anzeichen für das, was Nietzsche im März 1887 in Nizza in Fragen des Antisemitismus umgetrieben und beunruhigt hatte. Was dem Leser hingegen ins Auge sticht, ist eine – von ihren Grundzügen her schon vier Jahre zuvor präsentierte (vgl. Gilman 1985: 636) – Schlusspassage, in der sie Gegner ihres Bruders unter der Rubrik »Feinde aus dem tückischen Zwergengeschlecht der Kleinen, die alles Hohe und Übermenschliche hassen« (Förster-Nietzsche 1904: 896), abhandelt. Mit dieser Wortwahl rekurrierte Förster-Nietzsche erkennbar auf jenes antisemitische Klischee, dem Nietzsche noch in der Geburt der Tragödie Reverenz erwiesen hatte – allerdings ohne sich darum zu bekümmern, dass Nietzsche derlei Rede spätestens ab 1878 fremd geworden war und allein darauf vertrauend, dass sie mit solchen Klischees bei den damaligen Trägern der völkischen Bewegung auf Verständnis und Zustimmung rechnen durfte. Allerdings – und dies kam in diesen Kreisen weit weniger gut an – bezog Förster-Nietzsche dieses antisemitische Klischee auf einen Antisemiten, der »sich für einige judenfreundliche und antisemitenfeindliche Bemerkungen in Nietzsche’s letzten Schriften« habe rächen wollen und der zu diesem Zweck Nietzsche in anonymen Briefen den Glauben beibrachte, sein Schwager Bernhard Förster sei der Verfasser eines »gegen den Zarathustra gerichteten Artikels«, der mit seiner und ihrer Billigung »in einem antisemitischen Blatt abgedruckt werden sollte.« (Förster-Nietzsche 1904: 894) Nietzsche, so Förster-Nietzsche weiter und weiter ohne jeden Beleg, habe daraufhin in einem in den Hinterlassenschaften ihres Mannes vorgefundenen Antwortbrief darüber geklagt, »ihm seinen treusten angeborenen Jünger, seine Schwester, entwendet und verdorben zu haben«, um dann fortzufahren: »Der ganze Brief klang wie der letzte Aufschrei seines gequälten Herzens, – der Borgen zersprang, der Held brach zusammen – ein Schlaganfall traf den Theuersten in den letzten Tagen des Jahres 1888 und lähmte für immer diesen unvergleichlichen Geist.« (ebd.: 897)

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Förster-Nietzsche war für derlei abenteuerliche Konstruktionen im hohen Maße begabt. Dies wird deutlich, wenn man die diversen Varianten durchgeht, die sie in Umlauf brachte in Sachen des Todes ihres Vaters, ihres Mannes sowie Nietzsches (vgl. Niemeyer 2017: 151 ff.). Insoweit steht das hier Referierte nur für die Spitze eines Eisberges und gehorchte dem Zweck, die zumal nach Nietzsches Tod erneut ins Kraut schießenden Gerüchte, ihr Bruder sei einer Geisteskrankheit erlegen und insbesondere seine späten Werke müssten folglich unter Pathologieverdacht gestellt werden, endgültig zum Verstummen zu bringen. Des Weiteren wollte Förster-Nietzsche dem Eindruck vorbeugen, Nietzsches Dissonanz mit Bernhard Förster begründe sich aus einer fundamentalen Differenz in der Sache. Dies mag auch erklären, dass sie einen Brief ihres Bruders vom 14. März 1885, in dem dieser sie mit der unausgesprochenen Bitte der Weiterleitung dieser Nachricht an Förster hatte wissen lassen, er brächte es leider nicht zum von ihm offenbar erwarteten »Enthousiasmus für ›deutsches Wesen‹ […], noch weniger aber zu dem Wunsche, diese ›herrliche‹ Rasse gar rein zu erhalten« (7: 23), einfach umdatierte, also in ihrer 1909 vorgelegten, mit Fälschungen durchsetzten Edition Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester unter dem Datum »21. März 1885« darbot. Warum sie dies tat, wird klar, wenn man etwas genauer hinschaut – und sich dabei als erstes den Brief ansieht, den sie ersatzweise unter der Datumangabe »Mitte März 1885« präsentierte. Dieser Brief scheint auf den ersten Blick unanstößig und dem Inhalt nach harmlos: Nietzsche teilt seiner Schwester mit, er stimme ihrer Ehe sowie dem damit verbundenen Umzug nach Paraguay zu, weil es besser für Förster (und sie) sei, »in eine neue Welt zu gehen, wo ihn, fern von jenen negativen Bestrebungen, die so leicht einen edelgearteten Charakter verderben, neue positive Aufgaben erwarten.« (GBr V/2: 602) Im Lichte dieses Briefes verwandelt sich alles in eitel Sonnenschein: Nietzsche hatte am Charakter seines Schwagers nichts auszusetzen gehabt, ebenso wenig wie an dessen Ambitionen, wohl aber an jenen »negativen Bestrebungen« – und folglich allen Grund, eine Woche später seine Skepsis in Sachen des ›deutschen Wesens‹ zu Protokoll zu geben. Das Problem ist nur: Dieser Brief stammt von der ersten bis zur letzten Zeile aus Förster-Nietzsches Feder. Damit aber nicht genug: Förster-Nietzsche schreckte noch nicht einmal davor zurück, das von Nietzsche selbst in Druck gegebene – und insoweit an sich nicht mehr verfälschbare – Werk zu ›frisieren‹, 264 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Zweiter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1904–1909

sobald eine Neuauflage anstand und falls die Angelegenheit hinreichend brisant war, sich zugleich aber stillschweigend erledigen ließ, an einem im Vorhergehenden bereits interessierenden Beispiel gesprochen: In der 1899 erschienenen ›Großoktavausgabe‹ (GA), aber auch in der 1906 veranstalteten ›Taschenausgabe‹ (TA) wird aus Jenseits von Gut und Böse zwar Nietzsches Wort von der »beim adeligen Offizier aus der Mark […] erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens« korrekt wiedergegeben, nicht aber das andere: nämlich dass es diesem an »Geist und Geistigkeit« (V: 194) fehle. Sowohl in der GA als auch in der TA fehlen an der betreffenden Stelle die Worte »Geist und«, und zwar dies offenbar allein deswegen, weil Förster-Nietzsche der Gedanke schreckte, es werde ansonsten dereinst aus dem völkischen Lager heraus skandalisiert, Nietzsche habe ausgerechnet den »stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums« (ebd.) einen Mangel an (deutschem) »Geist« attestiert – und dies auch noch im Blick auf ein nur über den ›jüdischen Umweg‹ zu heilendes Defizit. Vor diesem Hintergrund offenbart es ein erschreckendes Maß von Ignoranz gegenüber dem Stand der Nietzscheforschung, wenn Robert C. Holub in seinem Buch Nietzsche’s Jewish Problem (2016) darüber fabuliert, warum die Übersetzung der Vokabeln »Geist und Geistigkeit« mit »intellect and intellectuality« (statt »spirit and spirituality«) zu bevorzugen sei (Holub 2016: 235), ohne offenbar zu merken, dass diese Erwägung ganz nebensächlich ist im Vergleich zu dem ihm gegenüber schon 2014 (vgl. Niemeyer 2014: 168 f.) und nun eben erneut zu erhebenden Einwand: nämlich noch immer nicht der Diskussion für wert zu halten, dass die Vokabeln »Geist und«, mutmaßlich von Nietzsches Schwester, in Wegfall gebracht wurden – ein Befund, den Holub schon 2014 ohne jede Diskussion mit dem Urteil »alleged suppression« (Holub 2014: 249) ins Abseits rückte. Zurück zur Sache: Stellt man den von Holub ignorierten Aspekt in Rechnung, kommt man einer Antwort auf die von ihm nicht gestellte Frage »Why?« etwas näher. Denn nun wird klarer, warum Förster-Nietzsche darauf aus war, dass der Brief, den Nietzsche im März 1887 von Fritsch erhalten hatte, ›verloren‹ blieb und die Antwortbriefe Nietzsches an Fritsch nicht publik wurden – derer sie allerdings einfach nicht habhaft werden konnte. Dieses Damoklesschwert schwebte also beharrlich über ihr – ebenso wie jenes im Blick auf den Brief, den Franz Overbeck bis zu seinem Tod verwahrte und den Nietzsche seinem Baseler Freund und Kollegen am 24. März 1887 265 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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geschrieben hatte. Denn dieser Brief hätte einen Rückschluss darauf erlauben können, was Nietzsche einen Tag zuvor Fritsch geantwortet hatte. Förster-Nietzsche fand auch in dieser Frage eine Lösung: Sie nahm den Brief in ihre 1909 erschienene Briefedition auf, dies allerdings nicht in Originalgestalt. Vielmehr erweckte sie mittels kaum sichtbarer chirurgischer Eingriffe den Eindruck, Nietzsche habe Overbeck mitgeteilt, er stehe Fritsch’ Versuch der Indienstnahme für die Sache der Antisemitischen Correspondenz mit Wohlwollen gegenüber. So ließ sie beispielsweise den – deutlich die Distanz Nietzsches verratenden – Eröffnungssatz fort, mit dem Nietzsche Overbeck auf die Schilderung seiner Fritsch-Episode einstimmen wollte: »Anbei ein komisches Faktum, das mir mehr und mehr zum Bewußtsein gebracht wird.« (8: 48) Den nachfolgenden Satz (»Ich habe nachgerade einen ›Einfluß‹, sehr unterirdisch, wie sich von selbst versteht.«) ersetzte sie durch die sehr viel eindeutiger klingende Formulierung: »Ich habe nachgerade etwas wie ›Einfluß‹.« (GBr V/2: 718) Dem ließ sie, abzüglich stilistischer Umstellungen, einige weitgehend korrekt wiedergegebene Sätze folgen, mündend in der Formulierung: »Zarathustra ›der göttliche Mensch‹ hat es den Antisemiten angethan; es giebt eine eigne antisemitische Auslegung davon, die mich sehr hat lachen machen.« (8: 48) Als entscheidende Pointe präsentierte sie Nietzsches Satz: »Das Problem des ›Gesetzgebers‹ dämmert diesen Köpfen, die gewohnt waren, auf StimmenMajoritäten ihr Heil zu setzen.« (GBr V/2: 718) Dieser Satz sollte im unbedarften Leser den Verdacht erzeugen, Nietzsches Lachen sei nicht etwa ein sarkastisches gewesen, sondern eines resultierend aus Freude über seinen Erfolg bei den Antisemiten – ein, wie man vielleicht noch hinzusetzen muss, hochriskantes Spiel. Denn das Original des von Förster-Nietzsche frisierten Briefes (vom 24. März 1887) war als Teil des Overbeck-Nachlasses in der Universitätsbibliothek Basel aufbewahrt. Außerdem hielt der Nietzsche-Nachlass zwei Passagen bereit, deren Veröffentlichung Förster-Nietzsches Auslegung vollends zur Farce hätte werden lassen. In dem einen Vermerk, der erstmals 1974 von Colli/Montinari veröffentlicht wurde, findet sich die erkennbar auf Fritsch’ Brief vom März 1887 und Nietzsches Antwort vom 23. März bezogene Bemerkung: »Inzwischen hat ein sehr sonderbarer Herr, namens Theodor Fritsch aus Leipzig mit mir correspondirt: ich konnte nicht umhin, da er zudringlich war, ihm ein paar freundliche Fußtritte zu versetzen. Die jetzigen ›Deutschen‹ machen mir immer mehr Ekel.« (XII: 200)

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Zweiter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1904–1909

Ein paar Bögen weiter folgt das ähnlich gehaltene Notat: »Neulich hat ein Herr Theodor Fritsch aus Leipzig an mich geschrieben. Es giebt gar keine unverschämtere und stupidere Bande in Deutschland als diese Antisemiten. Ich habe ihn zum Danke einen ordentlichen Fußtritt versetzt. Dieses Gesindel wagt es, den Namen Z(arathustra) in den Mund zu nehmen! Ekel! Ekel! Ekel!« (XII: 321)

Dass Nietzsche diesen Ekel auch empfunden hätte, wenn ihm noch die Editionspolitik seiner Schwester zu Ohren gekommen wäre, versteht sich wohl von selbst. Diese Politik betraf auch den Briefwechsel zwischen Franz Overbeck und Heinrich Köselitz aus den 1890er Jahren, etwa Köselitz’ Bemerkung aus einem Brief an Overbeck vom 4. April 1891, FörsterNietzsches Entscheidung betreffend, Za IV, obwohl fertig gesetzt, aus dem Druck zu nehmen. Köselitz war entsetzt, bezweifelte gegenüber Overbeck ihr Argument (»[v]on einer Veröffentlichung 2 0 J a h r e n a c h s e i n e m To d e hat mir Nietzsche gesprochen«) – und spottete, mit Seitenblick auf Nietzsches Mutter, die Pastorenwitwe: »Eigentlich ist es zum Kranklachen, zwei gottesfürchtige Weiber […] über die Veröffentlichbarkeit von Schriften eines der ausgemachtesten Antichristen und Atheisten zu Gericht sitzen zu sehen. Augenblicklich fehlt mir aber der Humor zum Lachen.« (zit. n. Montinari 1977: 320)

›Augenblicklich‹ darf man erweitern: 1908, siebzehn Jahre nach Niederlegung dieser Zeilen, erwirkte Köselitz, inzwischen ins Lager der Schwester übergelaufen und sich aktiv an deren Fälschungen beteiligend (vgl. Nlex: 57 ff.; 419 ff.; David Marc Hoffmann in NLex: 201) – was mir jedenfalls eine Neubewertung seiner Person (vgl. de Moraes 2018) unmöglich macht, – gerichtlich die nachträgliche Schwärzung dieser und anderer Stellen von Carl Albrecht Bernoullis Darstellung Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft (1908) 22, und zwar auf Druck der Schwester, die keine Mühen und Kosten gescheut hatte, diesen Gerichtsbeschluss, Köselitz’ Briefe betreffend, gegen Bernoullis Verleger Eugen Diederichs zu erwirken. (vgl. Fiebig 2018: 179 ff.)

Sie enthält auch Briefe Overbecks an Köselitz aus dem Zeitraum 11. Januar 1889 bis 13. März 1889 (vgl. Bernoulli 1908b: 231 ff.), die Heinrich Detering über einhundert Jahre später erneut präsentierte, zusammen mit Overbecks Erinnerungen an Friedrich Nietzsche (vgl. Overbeck 2011).

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Dritter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1911 Im März 1911 indes schien Schluss mit lustig. Denn von Leipzig aus meldete sich Fritsch im Hammer erneut zu Wort mit einem giftsprühenden Attacke, die in den Worten gipfelte: »Niemand begibt sich gern in die Gesellschaft ansteckend Kranker und Wahnsinniger.« (Fritsch 1911: 115)

Neu war dieser Ton seinerzeit nicht, im Gegenteil: Inspiriert durch unmittelbar nach Nietzsches geistigem Zusammenbruch aufkommende Gerüchte über eine sowohl väterlicher- wie auch mütterlicherseits bestehende Disposition Nietzsches für Geisteskrankheiten war immer mal wieder die These vertreten worden, zumal sein Spätwerk sei unter Pathologieverdacht zu stellen. Insoweit bewegte sich Fritsch in einem damals durchaus vertrauten Argumentationsumfeld, setzte in ihm allerdings eine höchst eigene Duftmarke, indem er das Pathologische an Nietzsche in einen Zusammenhang rückte mit Erwägungen im Blick auf Nietzsches ›Rasse‹ – ein Aspekt, der damals in der völkischen Bewegung im Zentrum stand und an Bedeutung gewann im Zusammenhang mit dem sog. »Polengerücht«. Es war erstmals 1895 von Förster-Nietzsche unter Bezug auf eine Äußerung ihres Bruders aus dem Jahre 1883 in Umlauf gebracht worden und besagt, Nietzsche sei polnischer Abkunft und auch noch stolz darauf gewesen – ein Skandal, wie schon Cosima Wagner 1897 fand, als sie (erfolglos) versuchte, ihren Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain auf die Idee zu bringen, aus Nietzsches slawischen Ursprung eine Erklärung dafür zu entwickeln, warum es nichts sei mit Nietzsches Philosophie. (vgl. Brömsel 2018: 56) Einige Jahre später, 1903, war es dann der völkische Nietzscheverächter Arthur Drews, der sich unter Berufung auf das ›Polengerücht‹ seinen eigenen Reim zu machen suchte auf die eigentlichen Abgründe von Nietzsches »Deutschenverachtung« (zit. n. Kr I: 164). 1908 – und nicht zuletzt deswegen dürfte Fritsch 1911 auf dieses Thema zurückgekommen sein – gab es neuen Anlass für derlei Aufregung, denn die Veröffentlichung von Nietzsches autobiografisch angelegter Schrift Ecce homo ließ sich nicht länger hinauszögern. Die Vorgeschichte dieser Edition ist in unserem Zusammenhang von einigem Interesse, zumal sie noch einmal exemplarisch vertraut macht mit einigen Abgründen von Förster-Nietzsches skrupelloser 268 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Dritter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1911

Editions- und Theoriepolitik. So hatte sie in einem in Nietzsches Todesjahr erschienenen Artikel zwar eingeräumt, ihr Bruder habe »am sechsten November« (1888) gegenüber seinem Verleger Naumann nachdrücklich Wert gelegt auf den sofortigen Druck des zwei Tage zuvor nach knapp drei Wochen Arbeit abgeschlossenen Ecce homo »zu vielen Tausenden in mehreren Sprachen« – um aber sogleich anzudeuten, sie verfüge über einen »noch ganz von dem glücklichen Geist jener goldenen Herbsttage« (zit. n. Gilman 1985: 637) erfüllten, von der Veröffentlichung des Ecce homo abratenden Brief ihres Bruders (von Anfang Oktober). Damit schien, aus Förster-Nietzsches Sicht betrachtet, alles klar: Nietzsches Brief an Naumann – und mithin der darin ausgesprochene Veröffentlichungswunsch – stand fortan ebenso unter Pathologieverdacht wie jener Teil des Ecce homo, in denen sich die »feindsäligsten Ausfälle gegen Deutschland, die Deutschen und den Antisemitismus« fänden. Des Weiteren stellte FörsterNietzsche für »später« eine authentische Fassung des Ecce homo »für die vertrauten Freunde des Nietzsche-Archivs« in Aussicht. Mit dieser Mitteilung, öffentlichkeitswirksam publiziert in der von Maximilian Harden herausgegebenen Zeitschrift Die Zukunft, hatte Förster-Nietzsche erst einmal Zeit gewonnen, derer sie dringend bedurfte. Denn der von ihr erwähnte Brief Nietzsches an Naumann ist gänzlich frei von jenen pathologischen Spuren 23, wie man sie ihrem Referat zufolge erwarten darf (weswegen sie ihn sicherheitshalber unterschlug). Auch existiert kein Brief des Inhalts, wie ihn Förster-Nietzsche Anfang Oktober 1888 von ihrem Bruder erhalten haben will. Was hingegen existiert, ist ein Briefentwurf Nietzsches an seine Schwester von Mitte November 1888, in welchem er sie, die »nicht den entferntesten Begriff« von seiner Bedeutung habe, »inständig« davor warnt, die Schriften zu lesen, »die jetzt von mir herauskommen.« (8: 473) Förster-Nietzsche tat angesichts dieses Dilemmas das ihr Naheliegende: Sie unterschlug auch den letztgenannDies gilt nicht für einen gut drei Wochen später verfassten Brief Nietzsches (vom 25. November), wobei sich die hier interessierende Passage allerdings nicht auf den Ecce homo bezieht, sondern auf den Antichrist, den Naumann doch bitte »in 7 Hauptsprachen durch lauter ausgezeichnete Schriftsteller Europas« (8: 487) übersetzt herausbringen möge. Förster-Nietzsche hatte offenbar an diesen Brief gedacht, als sie dem Publikum 1900 ihre auf den Ecce homo bezogene Paraphrase des Nietzsche-Briefes (vom 6. November) darbot. Um zu verhindern, dass dies herauskam, verzichtete sie (respektive Richard Oehler) auf den Abdruck sowohl des einen als auch des anderen Originals …

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ten Briefentwurf – und fügte in Anlehnung an ihre 1900 ausgegebene Devise dem von ihr 1909 präsentierten, bereits erwähnten berühmtberüchtigten Brief Nr. 502 von Ende Oktober 1888 24 eine Passage ein, welcher der Leser entnehmen sollte, Nietzsche habe darauf gedrungen, dass Ecce homo von niemandem anderem außer ihr gelesen werden dürfe (GBr V/2: 802). Mittels dieser Brieffälschung wollte sie dem Käufer der neun Jahre zuvor in Aussicht gestellten und 1908 in einer Auflage von nur 1250 Exemplaren erschienenen Erstausgabe des Ecce homo suggerieren, dass er sich als einer der wenigen Bevorzugten glücklich schätzen könne und sie im Interesse der neugierigen Nachwelt ein großes Opfer auf sich genommen habe. 25 Tatsächlich aber hatte sich Förster-Nietzsche nicht über die Verfügung ihres Bruders, diese Schrift nicht zu veröffentlichen, hinweggesetzt – im Gegenteil: Sie hatte diese Verfügung, wie gesehen, frei erfunden – und die real existierende Verfügung Nietzsches, Ecce homo mit all den von ihm noch in buchstäblich letzter Minute angeordneten Veränderungen so rasch als möglich zu veröffentlichen, schlicht ignoriert. (vgl. Montinari 1972) In Sachen des hier im Zentrum stehenden ›Polengerüchts‹ wurde aufgrund dieser Umstände lediglich ein Satz publik, der sich Jahrzehnte später selbst noch in Karl Schlechtas Ausgabe Werke in drei Bänden (SA = ›Schlechtaausgabe‹) 26 findet und der wie folgt lautet: »Und doch waren meine Vorfahren polnische Edelleute: ich habe von daher viel Rassen-Instinkte im Leibe, wer weiß? zuletzt gar noch das liberum veto. Denke ich daran, wie oft ich unterwegs als Pole angeredet werde und von Polen selbst, wie selten man mich für einen Deutschen nimmt, so könnte es scheinen, daß ich nur zu den angesprenkelten Deutschen gehörte.« (SA II: 1073)

Dass nun nicht mehr, wie noch neun Jahre zuvor, von »Anfang Oktober« die Rede war, wird man vernachlässigen können nach dem Motto: nobody is perfect! 25 Um die Seriösität dieser schon vor Erscheinen infolge von Vorbestellungen vergriffenen bibliophilen Erstausgabe zu beglaubigen, verpflichtete Förster-Nietzsche Raoul Richter als Herausgeber, ohne allerdings verhindern zu können, dass bald schon Skepsis aufkam in Sachen der Verlässlichkeit dieser für die Allgemeinheit unerschwinglichen ›Bankiersausgabe‹ (vgl. Hoffmann 1991: 79). 26 Diese wiederum gab den Grundstock ab für die von Hans Heinz Holz besorgte vierbändige Fischer-›Studienausgabe‹ von 1968, welche noch im Juni 1973 in 2. Auflage im 23.–26. Tausend erschien und deren Relevanz für das Nietzschebild – namentlich der damaligen Studentengeneration – nicht unterschätzt werden sollte. 24

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Dritter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1911

Diese Formulierung musste Fritsch und anderen Nietzscheverächtern unter den Gralshütern des völkischen Gedankens selbstredend einigen Auftrieb geben. Immerhin aber – so offenbar Förster-Nietzsches Kalkül – hielt sich dieser Schaden noch in Grenzen im Vergleich zu der Aufregung, die wohl entstanden wäre, wenn man damals schon in diesen Kreisen hätte lesen können, was Nietzsche tatsächlich geschrieben hatte und was man erst 1969 aus der von Colli/Montinari bekannt gemachten authentischen Fassung des Ecce homo erfuhr: Nämlich beispielsweise, dass Nietzsche dem (neuen) Kaiser Wilhelm II. nicht die Ehre zugestehen wolle, sein »Kutscher zu sein«, sowie in Sachen des ›Polengerüchts‹ folgendes gelte: »Und hiermit berühre ich die Frage der Rasse. Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.« (VI: 268)

Dass Nietzsches Schwester vor dem Hintergrund der von ihr verfolgten Editions- und Theoriepolitik an der Bekanntgabe von derlei Spott, Sarkasmus und höheren Blödsinn nicht gelegen war, versteht sich von selbst, rechtfertigt allerdings nicht ihr Vorgehen. Fritsch freilich genügte das ihm 1911 Verfügbare, um zu wissen, was zu tun war: Er geißelte Nietzsche als »frechen Polen« und »undeutsche Natur« – um in Richtung Weimar drohend anzufügen, er besäße Briefe von ihm, »worin er mich wegen meiner nationalen Bestrebungen verhöhnt und Schimpf und Schande auf alles Deutsche häuft.« (Fritsch 1911: 115) Damit war die Katze halbwegs aus dem Sack – und dies in einem argumentativen Kontext, der auch aus anderem Grund alles andere als harmlos ist. Denn Fritsch ging es bei seiner Attacke nur vordergründig um den Selbstmord eines Leipziger Oberprimaners, der verfrühter Nietzschelektüre in Rechnung zu stellen sei und den Fritsch mithin als Folge von Nietzsches »unmännlichen, weibisch koketten« Denken gedeutet wissen wollte. Die Sache so oder ähnlich zu sehen, war damals durchaus gängig im Rahmen des immerhin schon seit Jahren geführten und uns noch gesondert interessierenden Kampfes besorgter Erwachsener gegen Nietzsche, den ›Jugendverführer‹ (vgl. Kap. XIV/1). Entscheidender ist die geistige Mobilmachung im Vorfeld des Ersten Weltkrieges unter Rückgriff auf Lagarde-Motive (vgl. Kap. XIV/2) und der nun auf breiter Front im völkischen Lager anhebende Kampf gegen Nietzsche und andere »heimliche Zernager und Untergraber des Deutschtums« (Fritsch 1911: 116) – und dies, wo man sich in Weimar gerade anschickte, Nietzsche von seinem Ne271 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIII · »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«

gativimage als ›Jugendverführer‹ zu befreien, um ihn ersatzweise als ›Kriegsphilosophen‹ aufzubereiten (vgl. Niemeyer 2002: 93 ff.). Zwar beschränkte sich Fritsch vorerst nur auf Andeutungen und sah von der Veröffentlichung der beiden Briefe Nietzsches an ihn ab. Gleichwohl war zumal für Förster-Nietzsche nun klar, dass er diesen Sprengsatz jederzeit zünden konnte. Zumal ihr zwei Jahre zuvor angestellter Versuch, Nietzsches Brief an Overbeck so zu deuten, als habe sich ihr Bruder im März 1887 darüber gefreut, als ›Gesetzgeber‹ der antisemitischen Bewegung Anerkennung gefunden zu haben, ließ sich im Lichte von Fritsch’ Einlassung kaum noch aufrechterhalten. Entsprechend schien in speziell dieser Frage eine gewisse Zurückhaltung ratsam zu sein.

Vierter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1911, 1914/1916 Der zuletzt genannte Umstand könnte erklären, warum der Nietzsche-Neffe Richard Oehler den Brief Nietzsches an Overbeck vom 24. März 1887 – in der von Förster-Nietzsche 1909 frisierten Fassung – nicht mehr berücksichtigte, als er 1911 im Insel-Verlag eine Auswahl von Briefen Nietzsches besorgte, deren Fälschungen und Weglassungen hier aufzuzählen der Platz fehlt. Nur ein Beispiel sei genannt: Weder in dieser Ausgabe noch in jener Wiederauflage, die dieser Verlag 1993 zu präsentieren skandalöser Weise für geboten hielt, 27 findet sich Nietzsches Satz (aus einen Brief an Georg Brandes vom 20. November 1888), dass es sich bei den »Herrn Deutschen« um »die zweideutigste Art Mensch«, um die »im Verhältniß zum Chris-

Dabei lässt sich noch am ehesten der fehlgreifende Hinweis verschmerzen, der 1993er Nachdruck der 1917 erschienen 2. Auflage dieser Edition sei erstmals 1922 erschienen. Wichtiger ist etwas anderes: Das Argument, der Walter de Gruyter Verlag habe sich bedauerlicherweise geweigert, »die Lizenz für eine längst wünschbare Auswahlausgabe zu gewähren«, hilft ebenso wenig wie der verschämte Nachsatz: so bliebe eben nur dieses »textlich gewissermaßen nicht korrekte« Buch, das immerhin doch darüber informiere, wie Nietzsches Korrespondenz »von zwei bis drei Generationen von Lesern zur Kenntnis genommen wurde.« (Oehler 1993: 414) Denn weder der eine noch der andere Gesichtspunkt hätte von der Pflicht entbinden dürfen, die Textabweichungen zumindest in einem Anmerkungsapparat aufzulisten und zu kommentieren.

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tenthum fluchwürdigste Rasse der Geschichte« (8: 482) handele. Nimmt man die Tilgung dieser Stelle als exemplarisch für die von Weimar ausgehende Fälschungsstrategie, kann es kaum überraschen, dass auch Oehlers Edition Nietzsches Fritsch-Briefe nicht präsentierte und der Herausgeber keinerlei Anstalten unternahm, dieser – für das Nietzschebild Förster-Nietzsches kompromittierenden – Quellen habhaft zu werden. Ersatzweise beließ er es dabei, einen bereits 1909 publizierten, ausgerechnet auf den »23. März 1887« (also den Tag des Abgangs des ersten Briefes von Nietzsche an Fritsch) datierten Brief Nietzsches an seine Schwester wiederzugeben, der von der ersten bis zur letzten Zeile aus eben deren Feder stammt. Die Absicht dieser Fälschung ging offenbar dahin, für alle Fälle gewappnet zu sein, also deutlich zu machen, dass Nietzsche zu eben jener Zeit, zu der ihn die Fritsch-Korrespondenz beschäftigte (oder beschäftigt haben sollte), über nichts Dringlicheres nachsann als darüber, seinem »lieben Lama« zu versichern, dass ihm mit einer eventuellen Verheiratung nicht gedient sei und er für sie, die nun als Gattin Bernhard Försters in Paraguay lebte, ohnehin »keinen Ersatz« (zit. n. Oehler 21917: 306) fände. Was sich tatsächlich hinter Oehlers Zurückhaltung in Sachen von Nietzsches Brief an Overbeck verbarg, wurde erst drei Jahre später deutlich: Oehler sowie der Overbeck-Schüler Carl Albrecht Bernoulli besiegelten unter dem Datum von Nietzsches 70. Geburtstag (am 15. Oktober 1914) eine Art Waffenstillstand des Inhalts, dass sich, »ohne im übrigen ihre Stellung aufzugeben«, »zwei zu einander im Gegensatz stehende Parteien verständigt (haben), um Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck zu veröffentlichen« (Oehler/Bernoulli 1916: 1) – mit dem Effekt, dass auch der Brief vom 24. März 1887 erstmals 1916 in Originalgestalt zugänglich wurde. In anderer, zentralerer Hinsicht lief die Weimarer Fälscherwerkstatt allerdings auch in Sachen der Oehler/Bernoulli-Edition wie gehabt und mithin wie geschmiert – mit der Folge, dass Erich F. Podach (1963: 184 ff.) gut acht Druckseiten benötigte allein zur zusammenfassenden Wiedergabe der von Oehler (ersichtlich auf Veranlassung von Förster-Nietzsche) unterdrückten Stellen aus Nietzsches Briefen an Overbeck. Dass dabei in erster Linie alle verräterischen Spuren verwischt wurden in Sachen der Nietzsche in existentieller Weise berührenden ›Lou-Affäre‹ des Jahres 1882, ist angesichts des von Förster-Nietzsche gerade in dieser Angelegenheit betriebenen jahrelangen Aufwandes in betreffs der Darbietung gänzlich unhaltbarer 273 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Legenden kaum überraschend. 28 Wichtig ist in dem hier zu erörternden Zusammenhang die Gesamttendenz der Fälschungen: Weggelassen wurden von Oehler alle freundlichen Äußerungen Nietzsches über Juden und alle unfreundlichen über Nietzsches antisemitischen Verleger Schmeitzner, Nietzsches Schwester wie Mutter, Nietzsches Schwager, dessen Paraguayprojekt sowie einzelne Heroen der völkischen Bewegung, verallgemeinernd und auf den hier interessierenden Punkt hin gesprochen: Oehler (respektive Förster-Nietzsche) unterdrückte(n) systematisch vor allem jene Passagen, in denen sich exakt die Haltung dokumentiert, welche sich auch in den Briefen Nietzsches an Fritsch vom März 1887 bekundet. Einige Beispiele sind in diesem Zusammenhang vielleicht hilfreich, um das Ungeheuerliche dieses Vorgangs ermessen zu können: Die interessierte Öffentlichkeit erfuhr erst 1963 via Podach, dass Nietzsche im Dezember 1885 darüber geklagt hatte, seine Bücher würden seines antisemitischen Verlegers wegen »überall unter die ›antisemitische Litteratur‹ gerechnet« sowie seines Verlegers (gleichfalls antisemitischer) Redakteur mache ihm den Streich, ihn »in Einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dühring zusammen zu loben.« (7: 117 f.) Gleichfalls neu (bis dahin) war, dass Nietzsche im April 1888 Ferdinand Avenarius’ Kunstwart als »Schund- und Schandblatt« (8: 297) abgekanzelt hatte, um im Juli – dies allerdings hielt schon Schlechta 1956 für mitteilenswert – nachzulegen, dieses Blatt blase in das »deutschthümelnde Horn« (8: 362). Und schließlich noch wurde erstmals 1956/1963 bekannt, dass Förster-Nietzsche in einem Brief an ihren Bruder zu dessen 44. Geburtstag Georg Brandes jenen Juden zugerechnet hatte, »die an allen Töpfen geleckt hätten« (8: 549). Von all dem also erfuhr der Leser 1916 nichts – und dies war, aus Förster-Nietzsches Optik betrachtet, auch gut so. In Sachen von Avenarius’ Kunstwart beispielsweise hätte sich die Bekanntgabe der anNur ein Exempel sei hier genannt: In der Oehler/Bernoulli-Edition fehlt die beklemmende Klage Nietzsches vom 10. Februar 1883: »[I]ch habe eine solche vielfache Last qualvoller und gräßlicher Erinnerungen zu tragen! So ist es mir zum Beispiel noch nicht Eine Stunde aus dem Gedächtnisse geblieben, daß mich meine Mutter eine Schande für das Grab meines Vaters genannt hat./Von anderen Beispielen will ich schweigen – aber ein Pistolenlauf ist mir jetzt eine Quelle relativ angenehmer Gedanken.« (6: 326) Dieser Satz wäre für den Kenner der Details der ›Lou-Affäre‹ höchst aufschlussreich gewesen – und war eben deswegen für Förster-Nietzsche hoch brisant (eben mit der Folge, dass sie ihn unterdrückte).

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geführten Negativattribute Nietzsches vom April und Juli 1888 wohl nur schwer in Einklang bringen lassen mit dem Umstand, dass Nietzsche Avenarius nur fünf Monate später gleichwohl und ganz gegen seine Gewohnheit (und mithin deutlich ein Zeugnis dafür gebend, dass er nun nach jedem sich bietenden Strohhalm zu greifen gewillt war im Kampf um Resonanz) geradezu drängte (vgl. 8: 519), zwei das Wagnerproblem berührende Briefe von ihm (vom 10. Dezember 1888) abzudrucken. Ganz abgesehen davon schien aus Förster-Nietzsches Sicht eine gewisse Zurückhaltung auch deswegen ratsam, weil Avenarius, wie er im Mai 1889 in eben diesem Periodikum angedeutet hatte, über einen kompromittierenden Brief aus Nietzsches Wahnsinnszeit verfügte. Gemeint ist Nietzsches Brief an Avenarius vom 22. Dezember 1888, in welcher der Briefschreiber Ecce homo zutraut, ihm »nach Millionen« (8: 544) zählende Anhänger zuzuführen. Wichtiger für Förster-Nietzsche war aber wohl, dass der Kunstwart sich zwischenzeitlich zu einem der »der wichtigsten Organe völkischer Kulturkritik« (Hein 1996: 620) mit deutlicher Präferenz für den Nietzsche-Antipoden Paul de Lagarde (vgl. Paul 1996: 83) entwickelt hatte und Nietzsches Schwester nicht gewillt war, sich das Rest-Wohlwollen dieses für ihr Anliegen nicht ganz unwichtigen Publikationsortes durch die Preisgabe jener beiden Anti-Kunstwart-Invektiven Nietzsches gänzlich zu verbauen. Einen Aspekt gilt es dabei noch gesondert zu berücksichtigen: Avenarius hatte im Oktober 1913, also nur ein Jahr vor Verabschiedung der Oehler/Bernoulli-Editionsvereinbarung, das Schlusswort gesprochen auf dem zweitägigen Gründungsfest der Freideutschen Jugend auf dem ›Hohen Meißner‹. Dabei schwieg er – ganz in der Logik der im Kunstwart Ende 1888 erschienenen beiden Nietzschebriefe (vom 10. Dezember 1888) – von Richard Wagners »Widerpart« (Avenarius 1913: 510) Nietzsche, nicht aber von Wilhelm Raabe, Julius Langbehn sowie Ludwig Richter. Die Selbsterziehungsrhetorik, welche die Jugendbewegungshistoriographie der ›Meißnerformel‹ in der Regel bis auf den heutigen Tag nachrühmt (vgl. Niemeyer 2013: 175 ff.), war damit letztlich Makulatur, was zumal nach Kriegsbeginn deutlicher wurde. 29 Auch Nietzsche war damit weitgehend an Deswegen auch hatte Avenarius (1914/15: 14 f.) nun keine Schwierigkeiten, den Sinn des »Meißnerschwur« auf die Formel zusammenschnurren zu lassen: »Beisammen sind wir all« – wohlgemerkt: Beisammen auch im Sterben, wie diese unsägliche Kriegslyrik nach Art der Marke Kunstwart eine Zeile zuvor verrät: »›Und du? … Und

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den Rand gedrängt – und namentlich dieser Umstand könnte es gewesen sein, der Förster-Nietzsche bewog, ihrem Adlatus Oehler im Oktober 1914 aufzutragen, nicht weiteres Öl ins Feuer zu gießen, sprich: die Anti-Kunstwart-Invektiven Nietzsches (vom April und Juli 1888) für die Oehler/Bernoulli-Edition von 1916 zu streichen. Dass diese Maßnahme nicht unklug war, lässt sich zumindest indirekt erschließen, insofern Avenarius im Januar 1921, zeitgleich zu einem neu anhebenden Interesse der (welt-)kriegsschockierten Jugend an Nietzsche, Nietzsches Brief an ihn vom 10. September 1887 im Kunstwart veröffentlichte – und dies auch noch mit dem doch recht koketten Hinweis verband, Nietzsche sei damals von Avenarius’ Anfrage überrascht gewesen, weil er noch nicht gespürt habe, »wie das Leben seines Geistes in der Jugend von damals ausgesät war und keimte.« (zit. n. Kr I: 58) Durchaus vergleichbar und zumal kaum weniger kompliziert dürfte es sich in Sachen der eigentlichen Motive für die Unterdrückung der angeführten 1888er Invektive gegen den dänischen Nietzscheentdecker Georg Brandes verhalten haben. Auf den ersten Blick will es zwar scheinen, als erkläre sich das Ganze von selbst, also etwa dahingehend, dass es für Förster-Nietzsche 1914/16 nicht opportun war, jenen Brief Nietzsches an Overbeck (von Weihnachten 1888) und mithin auch ihr dort referiertes Urteil, Brandes gehöre der Kategorie (jüdisches) ›Gesindel‹ zu, nachlesbar zu machen. Denn schließlich hatte sie Brandes dem Publikum unmittelbar zuvor – erneut (vgl. Förster-Nietzsche 1904: 846 ff.) – unter gänzlichem Verzicht auf jegliche (pejorative) Anspielungen auf sein Judentum als »geistreichen Schriftsteller« (Förster-Nietzsche 1914: 458) vorgestellt und ihm zugleich ihre Dankbarkeit dafür bezeugt, Nietzsche 1888 entdeckt und in der Folge zumal in Skandinavien populär gemacht zu haben. Wenn man aber etwas genauer hinschaut, stellt man fest, dass die Sache doch nicht ganz so harmlos ist. So machte Hedwig Völkerling auf den im Weimarer Nietzsche-Archiv aufbewahrten einschlägigen Briefnachlass des völkisch gesonnenen dänischen Nietzscheverehrers Konrad Simonsen aufmerksam (vgl. Fambrini 1997: 438 f.), der der?‹ ›Fragt nicht, es tut/Soldatentod nicht weh!‹« So gesehen überrascht nicht, dass der völkische Jugendbewegungs-Ikonograph Fidus (d. i. Hugo Höppener) wenige Monate später im nämlichen Organ ausgerechnet das Leipziger Völkerschlachtdenkmal glorifizierte, also jenes Symbol des Wilhelminismus heiligsprach, demgegenüber sich das Meißnerfest, der offiziösen Jugendbewegungshistoriographie zufolge, als Friedensveranstaltung zur Geltung gesetzt haben soll. (vgl. Niemeyer 2002: 130)

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Fünfter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1915, 1926

sich ab 1906 (bis 1935) immer wieder bei Förster-Nietzsche (und Richard Oehler) meldete und dabei zunehmend Propaganda machte für seine These, Brandes sei allein schon seiner Eigenschaft als Jude wegen ein gänzlicher untauglicher Nietzscheinterpret. Förster-Nietzsche hätte sich auf diese Lesart der Dinge an sich durchaus einlassen können, wie wohl auch Simonsen mutmaßte, insofern er die 1914 erschienene deutsche Ausgabe seiner 1913 in Dänemark veröffentlichten Brandes-Philippika ihr dedizierte. Allerdings beging Simonsen, offenbar in Unkenntnis der Zusammenhänge, einen entscheidenden Fehler: Er veröffentlichte sein Buch (auf Empfehlung von Adolf Bartels) ausgerechnet im Leipziger Hammer-Verlag, dessen Verleger, eben Theodor Fritsch, es sich nicht nehmen ließ, ein Nachwort beizusteuern, in welchem er die von Simonsen am Exempel Brandes vorgetragene antijüdische Argumentation als beispielhaft lobte für einen »Geistes- und Kulturkampf vornehmster Art.« (Völkerling 2001: 270) Damit fand sich Förster-Nietzsche unvermutet in einer für sie überaus schwierigen Konstellation wieder – und tat das (ihren Moralbegriffen zufolge) einzig Richtige: Sie ignorierte Simonsen, beginnend schon mit jenem Brief, den er ihr am 19. September 1914 von Jena aus geschickt hatte, von wo aus er »mit germanischer Gesinnung, voller Freude, diese große Zeit in Deutschland zu erleben« (ebd.: 273), grüßte. Und sie hütete sich fortan – und zumal im Blick auf die vier Wochen später vereinbarte Briefedition von Oehler/ Bernoulli –, eben jenen Brief Nietzsches an Overbeck (von Weihnachten 1888) vollständig und mithin inklusive der Wiedergabe ihres dort referierten pejorativen Brandes-Diktums abzudrucken. Denn die Bekanntgabe von derlei Details hätte zwar Simonsen Auftrieb geben können – zugleich aber eben auch dem Nietzsche-Verächter Fritsch. Und daran konnte Förster-Nietzsche zumal in Zeiten des Krieges nicht gelegen sein.

Fünfter Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Leipzig, 1915, 1926 Auch Fritsch hielt sich während des Krieges vergleichsweise zurück, abgesehen von einem Auftritt im Januar 1915 im Hammer, wo er unter Pseudonym erneut versuchte, Nietzsche als »deutschen National-Heiligen« (Roderich-Stoltheim 1915: 3) zu demontieren. Ersatz277 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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weise brachte er für diese Funktion wiederum Lagarde ins Spiel. Allerdings verzichtete er auch diesmal darauf, die beiden Briefe Nietzsches an ihn vom März 1887 ins Spiel zu bringen, sprich: der Öffentlichkeit ihren Wortlaut endlich bekannt zu geben. Entsprechend wähnte man sich in Weimar in Sicherheit – und strickte weiter an der Legende, Nietzsche sei sehr wohl ein Patriot gewesen und tauge gar zum ›Kriegsphilosophen‹. Erfolgreich war man damit auch im völkischen Lager, wie das Beispiel Ernst Wachler belegt, der 1918, als »Hauptmann im Feld« grüßend, in der von dem Lagardeverehrer und völkischen Schulreformer Friedrich Lange herausgegebenen Blatt Deutsche Zeitung Förster-Nietzsche in demonstrativer Weise dafür dankte, dass Nietzsche infolge ihres Wirkens mehr und mehr in die Geistesschätze der Nation eingedrungen sei (vgl. Kr I: 802 f.). Nach Kriegsende allerdings, im erkennbaren Nachgang zur 1925 im Hammer betriebenen Ausrufung Lagardes als »Führer und Baumeister des neuen Reiches« (zit. n. Paul 1996: 83), geschah, was man all die Jahre über in Weimar befürchtet hatte: Nietzsches FritschBriefe gelangten 1926 in der Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Hammer zum Abdruck, wo sie mit dem ironischen, offenbar von Fritsch stammenden Vermerk versehen wurden: »Die Briefe Nietzsches […] verdanken ihre Aufnahme dem Wunsche, auch einen repräsentativen Gegner des antisemitischen Gedankens zu Wort kommen zu lassen.« (zit. n. Kr I: 230)

Dies mag dann auch erklären, dass Adolf Bartels zwei Jahre später meinte, Nietzsche sei nur noch von historischem Interesse und scheine »›durch die völkische Bewegung beinahe überwunden zu sein‹« (ebd.: 92) – wobei sich das Wörtchen »beinahe« möglicherweise auf Ernst Wachler bezog. Denn dieser gab einfach keine Ruhe: Noch 1924 war er für eine in Weimar zu errichtende philosophische Schule eingetreten, die sich der Pflege der »›arisch-heroischen‹ Welt- und Lebensanschauung« (ebd.: 147) widmen solle, dies selbstredend nicht zuletzt unter Bezugnahme auf Nietzsche. Drei Jahre später billigte Wachler Nietzsche sogar zu, die »Wiederherstellung des nordischgermanischen Menschen in Klarheit und Ganzheit« erschaut und als »›Weltsendung‹« (ebd.: 251) der Deutschen formuliert zu haben. Möglicherweise mag dieser insoweit fortdauernde Streit im völkischen Lager über Nietzsche und dessen Bedeutung erklären, dass man sich im Umfeld des Weimarer Nietzsche-Archivs durch die ›Ent278 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Sechster Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1932

hüllung‹ im Hammer nicht sonderlich beunruhigen ließ – und insgeheim den Gegenschlag vorbereitete.

Sechster Akt: Nietzsches Fritsch-Briefe in Weimar, 1932 Nach Ablauf der Schutzfrist für Nietzsches Werke und Briefe im Jahre 1930 war es soweit: Förster-Nietzsche, deren Renommee als Nietzsche-Biographin u. a. durch Enthüllungen Erich F. Podachs (1930) schweren Schaden genommen hatte, fand in Alfred Baeumler einen kongenialen Partner – mit der Folge, dass auch Baeumlers Edition Nietzsche in seinen Briefen und Berichten von Zeitgenossen durch Podach (im September 1932) unter dem Titel Die Schändung geht weiter vernichtend kritisiert wurde (vgl. Hoffmann 1991: 109). Diesmal freilich half der Lauf der Zeit. Im ›Dritten Reich‹ jedenfalls war der Edition Baeumlers großer Erfolg beschieden, wobei es sicherlich nicht von Nachteil war, dass Baeumler darauf verzichtet hatte, Nietzsches Fritsch-Briefe sowie die dazugehörigen zwei Nachlassnotate abzudrucken. Denn immerhin muss man hier bedenken, dass Podach (1930: 125 ff.) zeitgleich auf die Distanz zwischen Nietzsche und Förster sowie die eigentlichen Abgründe der Fritsch/Förster-Beziehung hingewiesen hatte und es sich insoweit (so möglicherweise Baeumlers Kalkül) nicht gut gemacht hätte, wenn man den Nietzscheinteressenten unter den Nationalsozialisten durch die Bekanntgabe dieses Briefwechsels weitere Steine in den Weg gelegt hätte. In Sachen von Nietzsches diesbezüglich verräterischem Brief an Overbeck vom 24. März 1887 verfuhr Baeumler diesmal allerdings etwas vorsichtiger als Förster-Nietzsche und brachte nicht die von ihr 1909 präsentierte Fälschung, sondern das von Oehler/Bernoulli erstmals bekanntgemachte Original. Allerdings behielt Baeumler die von Förster-Nietzsche vorgezeichnete Deutungslinie bei, kommentierte also wie gehabt: »Der freundliche Ton, den er [Nietzsche; d. Verf.] gegenüber den Antisemiten anschlägt, geht offenkundig darauf zurück, daß er in ihrem Kreis als Führer anerkannt zu werden scheint.« (Baeumler 1932: 408)

Dem ließ Baeumler, als müsse er der Fälscherin Förster-Nietzsche wenigstens noch die letzte Ehre erweisen, den Satz folgen, im Ent-

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XIII · »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«

wurf, enthalten in den Briefen an Mutter und Schwester, stünde noch der kennzeichnende Satz: »Das Problem des ›Gesetzgebers‹ dämmert diesen Köpfen, die gewohnt waren, auf Stimmenmajoritäten ihr Heil zu setzen.«

Damit hatte sich Baeumler auch in philologischer Hinsicht mitschuldig gemacht an der von Förster-Nietzsche eingeleiteten Nazifizierung Nietzsches. Gravierend ist dabei vor allem, dass Baeumler sich nicht scheute, auch weitere von der Schwester erfundene Briefe erneut abzudrucken, darunter einen, den Nietzsche am 26. Dezember 1887 von Nizza aus an sie geschrieben und nach Paraguay geschickt haben soll und an dem Baeumler offenbar deswegen gelegen war, weil er völkischen Nietzscheskeptikern unter Bezug auf dieses (gefälschte) Briefzeugnis meinte versichern zu können, Nietzsche sei Anti-Antisemit geworden, weil »ein Antisemit ihm das hilfreiche ›Lama‹ [nahm].« (ebd.: 409) Liest man dies im Zusammenhang, bleibt nur der Schluss, dass Baeumler, in Nachahmung der von Förster-Nietzsche in dieser Angelegenheit unter Beweis gestellten kriminellen Energie, mit seiner 1932er Dokumentation, selbstredend aber auch in seiner Eigenschaft als Nietzsche-Herausgeber und –Interpret, alles tat, um den Antisemitismus Nietzsches zu beglaubigen und gegenteilige Zeugnisse entweder zu ignorien oder zu entkräften – ein Teufelsdienst im Blick auf Nietzsche, ein Liebesdienst allerdings hinsichtlich der eigenen Ambitionen, insofern Baeumler unter dem Protektorat nationalsozialistischer Nietzscheverehrer nach 1933 zu einem der führenden Naziideologen aufsteigen sollte (vgl. Piecha 1998; Niemeyer 2002: 198 ff.; Grätz 2018a).

Siebter Akt: Unruhen im völkischen Lager – und anderswo Die Träger der völkischen Bewegung mit ihrem ihnen von Fritsch her vertrauten Nietzscheverdikt gaben sich allerdings so rasch nicht geschlagen, wenngleich sie weiterhin Widerstand im eigenen Lager zu brechen hatten. Zu denken ist in diesem Zusammenhang wiederum an Ernst Wachler, der den Vorteil aufwies, beides zu sein: ein alter Weggefährte von Fritsch, für dessen Hammer er seit 1904 schrieb – aber auch ein mindestens ebenso langjähriger Verehrer FörsterNietzsches. Wie geschickt Wachler diese Doppelstellung auszunutzen 280 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Siebter Akt: Unruhen im völkischen Lager – und anderswo

wusste, zeigte sich 1931 im ersten Jahrgang des völkischen Kampfblatts Nordische Stimmen, in dem Wachler einen Text mit dem Titel Das Germanische bei Nietzsche veröffentlichte, den er Förster-Nietzsche zu deren 85. Geburtstag widmete und mit dem der Autor nachweisen wollte, dass sich in Nietzsche »›das uralte Freiheitsbedürfnis des Nordens‹« (zit. n. Kr II: 382) verkörpere und das Wissen um die Notwendigkeit arischer Lebenswerte. So zu argumentieren, ging allerdings vielen Völkischen zu weit, wie eine Anmerkung der Schriftleitung andeutet, »in der auf gegenteilige Meinungen zu Nietzsche ›in unserem Lager‹ hingewiesen wird.« Am 1. April 1933 versuchte es Wachler erneut, indem er im Hammer seine Opposition vortrug gegen jene Völkischen, die meinten, Nietzsche sei überholt (ebd.: 453). Wachler verwies dabei auf das bereits erwähnte, 1914 im Hammer-Verlag erschienene Buch Simonsens, das Wachler hervorhebenswert fand, weil Simonsen gezeigt habe, inwiefern Brandes als Jude notwendig habe fehlgreifen müsse bei der Interpretation von Genies der »germanischen Rasse« wie Nietzsche, der auf diese Weise um das gebracht worden sei, was ihn ausmache und was sich in seinen besten Freunden wie v. Gersdorff, v. Stein und v. Seydlitz, durchweg »blonden, preußischen Baronen«, exemplarisch dokumentiere. Mit dieser Rückerinnerung an Simonsen, so offenbar Wachlers Kalkül, hatte er sie alle paralysiert: Fritsch konnte nicht opponieren – es sei denn für den Preis der Kritik an seinem eigenen Verlagsprodukt von 1914. Und Förster-Nietzsche konnte keinen Protest erheben – es sei denn für den Preis ihrer erneuten Parteinahme für Brandes, den ihr Simonsen, wie gesehen, schon zwanzig Jahre zuvor in Gesprächen und Briefen als an sich dem Geist ihres Bruders widersprechend auszureden versucht hatte. So kam es teilweise, wie von Wachler erwünscht: Simonsen wurde wieder nach Weimar eingeladen – und revanchierte sich mit einer 1935 in Dänemark erschienenen Förster-Nietzsche-Hagiographie (vgl. Völkerling 2001: 237 f.). Fritsch hätte dies fraglos mit Groll registriert – insoweit war ihm sein Tod am 8. September 1933 eine Erlösung. Ersatzweise trat noch einmal Arthur Drews auf den Plan und mahnte die Nietzschefrage 1934 zur endgültigen Klärung an. Für ihn war die Antwort klar: Es schien ihm undenkbar, ausgerechnet Nietzsche, »den verhätschelten Liebling philosophisch unbeschwerter Jugend, […] als philosophisches Vorbild für die herrschende politische Partei auf den Schild zu heben« (zit. n. Kr II: 485) – ein Nietzschebild, dem deutlich anzumerken ist, dass man in völkischen Kreisen nicht bereit war, die vor dem 281 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIII · »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«

Krieg gängige Aburteilung Nietzsches als Jugendverführer und Kosmopolit in Vergessenheit zu bringen. Nicht minder deutlich operierte ein anonym gebliebener, sich im Wesentlichen auf Bartels berufender Autor, der am 14. Oktober 1934 in der von dem antisemitischen Hofprediger Adolf Stoecker begründeten deutsch-evangelischen Wochenzeitung Das Volk Nietzsches positive Einstellung zum Judentum sowie dessen – den Vorzeichen des Anti-Antisemitismus gehorchende – Wagnerkritik skandalisierte und dies zu tun insbesondere deswegen für notwendig hielt, »da man ihn ›jetzt sogar zu den Vorkämpfern und Wegbereitern des Dritten Reichs zählt.‹« (ebd.: 509) Um erst gar kein Missverständnis aufkommen zu lassen, folgte dem zum krönenden Abschluss noch, gleichsam in Gestalt eines Aktes der Wiedererinnerung an das 1926 im Hammer an Nietzsche Skandalisierte, der Wiederabdruck des Briefes von Nietzsche an Fritsch vom 23. März 1887. Das damit gesetzte Signal hatte offenbar auch Wachler verstanden. Zwar gab er gelegentlich noch ein Zeugnis ab für sein fortdauerndes Interesse an Weiterverfolgung seiner 1933 im Hammer gelegten Spur im Sinne der Rehabilitierung Nietzsches im Blick auf jene ›blonden, preußischen Barone‹, etwa indem er 1936 eine Rezension des Briefwechsels zwischen Nietzsche und v. Gersdorff veröffentlichte (vgl. Kr II: 584). Auch schlug er Förster-Nietzsche im Juli 1935 Reichsinnenminister Wilhelm Frick erfolgreich zur Auszeichnung als »›Vorkämpfer für deutsche Kultur und Kunst‹« (Puschner 2001: 127) vor, womit sie zugleich eine gleichsam parteioffizielle Bestätigung für ihre Bedeutung als zentrale Scharnierstelle zwischen der – ihrer Mehrheit nach nietzscheskeptischen – völkischen Bewegung sowie dem vom Weimarer Nietzsche-Archiv ausgehenden Bemühen um die Deutschsprechung sowie Nazifizierung Nietzsches erhielt. Auch wird man es wohl als einen nicht ungeschickten Schachzug deuten dürfen, dass Wachler im November 1937 einen angeblich schon 1929 verfassten Aufsatz vorlegte, mittels dessen er der Nietzsche-Gesellschaft vorschlug, den Weimarer Schriftsteller Gerhard Hoffmann, den Verfechter »einer sozialaristokratischen Ethik, ›die die rücksichtslose Beseitigung alles dessen verlangt, was ihrer Verwirklichung entgegensteht‹«, als »Autor im Geiste ihres Meisters aus[zu]zeichnen.« (zit. n. Kr III: 637) Denn auf diese Weise war Wachler einer eigenen Stellungnahme enthoben – und geschützt für den Fall, dass sich der Wind in Kreisen der völkischen Bewegung noch stärker, als an den Fällen Drews respektive des Anonymus aus Stoeckers Das Volk ablesbar, gegen Nietzsche drehte. 282 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Siebter Akt: Unruhen im völkischen Lager – und anderswo

Wie schnell dies gehen konnte, zeigt das Beispiel Martin Otto Johannes. Er entstammte der (völkischen) Jugendbewegung und hatte sich schon 1919/20 in der berühmt-berüchtigten Wandervogelführerzeitung in Sachen Nietzsche zu Wort gemeldet (vgl. Niemeyer 2002: 79). Im Januar 1938 war im Hammer aus seiner Feder zu lesen, man sei in völkischen Kreisen vor der ›Machtübernahme‹ zu lax mit Nietzsche verfahren, habe also das, was an ihm inakzeptabel sei, auf sich beruhen lassen und sich ersatzweise mit dem begnügt, »›was unserer Gedankenwelt entsprach und was wir vollkommen zu verstehen glaubten.‹« (zit. n. Kr III: 663) Ob nun Zufall oder nicht: Nur einen Monat später meldete sich Wachler im Hammer zu Wort und legte Nietzsche »vor allem die deutsch-feindlichen Äußerungen« sowie einen »›slavischen Zug‹« (ebd.: 670) zur Last. Insoweit war Wachler zwar überaus wendig, bewegte sich aber – ebenso wie Johannes – auf immer brüchiger werdendem Eis. Dabei mag beides eine Rolle gespielt haben: Einerseits, dass sich Hitler mit seinen Besuchen bei Förster-Nietzsche und seiner auch nach deren Tod andauernden Unterstützung von Projekten des Nietzsche-Archivs eindeutig positioniert hatte sowie, andererseits: Dass Hitler Fritsch’ Hinterbliebenen 1933 ein Beileidstelegramm geschickt hatte und Goebbels einen Nekrolog hielt, in dem er Fritsch als »›hochverdienten Vorkämpfer unserer völkischen Wiedergeburt‹« lobte mit dem Effekt, dass Fritsch, etwa in Gestalt eines Denkmals in Berlin-Zehlendorf, »in den folgenden Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zunehmend zur antisemitischen Ikone stilisiert [wurde].« (Puschner 2001: 57) Denn dies bedeutete, dass derjenige, der sich für Nietzsche aussprach und zugleich gegen Fritsch, ebenso in Probleme geriet wie derjenige, der sich allzu deutlich auf die Seite von Fritsch schlug und mithin zu dessen Nietzscheverachtung bekannte. Dies mag die relative Zurückhaltung in dieser Angelegenheit im Weimarer Nietzsche-Archiv ebenso erklären wie den Umstand, dass man zunehmend auch in völkischen Kreisen Nietzsches Fritsch-Briefe ›vergaß‹. Nicht unterschätzen sollte man dabei, dass diese Briefe immer stärker zum Politikum gerieten. So munitionierten sich Nietzscheverehrer in linken Emigrantenkreisen zunehmend mit jenem Sprengsatz, den Fritsch 1926 im Hammer gezündet hatte – nur das die erhoffte Wirkung, da ein antifaschistischer Leserkreis in Rechnung gestellt wurde, nun ein diametral entgegengesetzter war. Zu denken ist etwa an die als liberal-demokratisches Gegenstück zur (etwas linkeren) Weltbühne 1920 in Berlin gegründete Wochenschrift Das 283 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIII · »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«

Tage-Buch, die ab Juli 1933 als Das Neue-Tage-Buch in Paris und Amsterdam erschien und am 28. Oktober 1933, also ironischerweise an Fritsch’ 81. Geburtstag (und wenige Wochen nach Fritsch’ Tod), mit einem Aufmacher zum Thema Die Vergewaltigung Nietzsches aufwartete – und dabei Nietzsches Ablehnung des Antisemitismus durch den Wiederabdruck eben jener Briefe Nietzsches an Fritsch vom März 1887 zu beglaubigen suchte (vgl. Dietzsch 2001: 33). Ähnliches ließ sich 1934 am Beispiel der nun in Prag erscheinenden Zeitschrift Die Neue Weltbühne beobachten (vgl. Kr III: 500). In beiden Fällen erfüllten die Briefe Nietzsches an Fritsch die Funktion von Mutmacherformeln beim Kampf um einen gleichsam linken oder jedenfalls doch judenfreundlichen Nietzsche im Rücken der in Deutschland unaufhaltsam voranschreitenden Nazifizierung Nietzsches – und dies sehr zum Ärger der Nazis, wie sich 1938 nach dem ›Wiederanschluss‹ Österreichs in Wien studieren ließ. Denn die dort 1935 erschienene Edition Juden und Judentum in deutschen Briefen aus drei Jahrhunderten, in der auch Nietzsches Fritsch-Briefe eine Heimat fanden, wurde seitens der Reichsschrifttumskammer verboten (ebd.: 559) – eine Entscheidung mit symbolischer Bedeutung, deren Relevanz offenbar auch Wachler erkannte. Denn 1940 ließ er sich plötzlich zu dem Urteil hinreißen, Nietzsche sei der »Lichtbringer, der vielleicht ein Jahrtausend unserer geistigen Entwicklung vorwegnimmt.« (ebd.: 734) 1941 huldigte Wachler gar der Annahme, Eugen Dühring, den Heinrich Driesmans schon Jahrzehnte zuvor – mit großer Resonanz (auch Wachlers) im Hammer (vgl. Puschner 2001: 341) – zum wissenschaftlichen Begründer der völkischen Idee ernannte hatte, könne als Vorläufer Nietzsches gelten (zit. n. Kr III: 777). Was dieser Abstrusität – Dühring war ein Nietzscheverächter, Nietzsche ein Dühringverächter – dann noch nach 1941 in Sachen Nietzsche bei Wachler folgte, waren Marginalien und als letzte Veröffentlichung, erschienenen wiederum in der völkischen Zeitschrift Weltmacht der Deutschen im August 1944, eine »hochlobende Würdigung von Werk und Wirkung der Schwester.« (ebd.: 841) Damit schloss sich der Kreis. Denn, wie im Prolog bereits erwähnt als Zeichen unter mehreren: Nur zwei Monate später, anlässlich von Nietzsches 100. Geburtstag, wartete der Völkische Beobachter mit einer Nietzsche-Titelgeschichte Baeumlers auf (vgl. Pestlin 2001) und besiegelte damit das Übereinkommen, dass es höchste Zeit sei, sich den selbst geschaffenen nazifizierten Nietzsche zu erhalten – koste es, was es wolle, sprich: auch für den Preis, dass man Material von Nietzsche, 284 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nachspiel

falls es störend war für das je den Zeitläuften anzupassende Nietzschebild, unterdrückte. Dies mag erklären, dass und warum in Deutschland mit Nietzsches Fritsch-Briefen für lange Jahre jene zwei entscheidenden Zeugnisse in Vergessenheit gerieten, die als die wohl eindeutigsten Belege gelten dürfen für Nietzsches grundsätzlichen Gegensatz im Blick auf die Heroen der völkischen Bewegung. Und an derlei Zusammenhangsblindheit änderte sich auch nichts, nachdem im Dezember 1956 der dritte und letzte Band der sog. ›Schlechtaausgabe‹ an den Verlag ging, enthaltend 278 Briefe Nietzsches. Denn dem Herausgeber kommt zweifellos das Verdienst zu, Förster-Nietzsche mit erheblicher öffentlicher Resonanz (vgl. etwa Der Spiegel 12/1958, Nr. 5) als Fälscherin entlarvt zu haben, indes: Auch Schlechta unterließ sowohl die Wiedergabe der beiden Briefe von Nietzsche an Fritsch vom März 1887 als auch des Nietzsche-Schreibens an Overbeck vom nämlichen Monat – und erwies Nietzsche hiermit sowie mit dem Verzicht auf den Abdruck der beiden hierauf bezogen Nachlassnotate einen weiteren Bärendienst, unter dessen Folgen bis auf den heutigen Tage all jene zu leiden haben, denen an einer sachgerechten Erörterung des Themenbereichs ›Nietzsche und der Nationalsozialismus‹ gelegen ist und die sich dabei mit jenen herumzustreiten haben, die diese Briefe nicht kennen oder die, schlimmer noch, Briefe aus grundsätzlichen Erwägungen als Quellen nicht ernstnehmen.

Nachspiel Man könnte hier noch anfügen, all dies sei nun ausgestanden, seitdem doch die zwei Nachlassnotate seit 1974 verfügbar sind und 1984 auch Nietzsches Briefe an Fritsch sowie jener an Overbeck vom März 1887 erstmals offiziell zum Abdruck gelangten im Rahmen der von Colli/Montinari veranlassten Kritischen Gesamtausgabe. Freilich: Dass Nietzsche der Denker war und Hitler der Täter, wurde seit 1945 immer wieder neu und zumal von Marxisten wie Georg Lukács mit einem Gleichmut behauptet, der ebenso Staunen macht wie der Umstand, dass Rudolf Augstein diese kühne These 1981 in Heft 24 seines Nachrichtenmagazins mit der Weihe des Spiegel-Herausgebers versah und mithin auch für das Bildungsbürgertum annehmbar machte. Augstein hätte sich zwar mit dem Argument herausreden können, er sei ja schließlich Publizist und mithin am Erfolg seines Blattes inte285 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIII · »Wo, zum Teufel, sind meine Briefe an Theodor Fritsch?«

ressiert, nicht aber an jenen diffizilen Wahrheiten, zu deren Aufdeckung es schon eines ausgewiesenen Nietzscheforschers bedürfe. Im Übrigen, so hätte er möglicherweise noch hinzusetzen können, habe er ja seinerzeit, 1981, nicht um die Briefe Nietzsches an Theodor Fritsch gewusst. Freilich: Augstein hat diese Verteidigungsrede nie gehalten, und auch im Spiegel werden die von ihm hinterlassenen Fußabdrücke offenbar nach wie vor als so groß erlebt, dass bis auf den heutigen Tag immer mal wieder die von ihm vorgeprägte Erzählweise kund getan wird, deren letzter Trost auf den Spott hinausläuft, »Nietzsches zahlreiche Verehrer« würden – so Vittorio Hösle – nach wie vor darauf beharren, »dass ihr Philosoph vom Dritten Reich nur instrumentalisiert worden sei« (Der Spiegel 29/2001: 137). Was also tun in einer Welt des flinken Journalismus, in welcher jener leichthin als »Verehrer« stigmatisiert wird, der sich um Argumente bemüht? Was tun in einem Fach wie etwa der Pädagogik, deren Geschichtsschreibung nach 1945 über viele Jahre hinweg, wie andernorts am Exempel Werner Kindt gezeigt (vgl. Niemeyer 2013: 38 ff.), von Betroffenen dominiert wurde, mit der Folge, dass über die Vorgeschichte des Nationalsozialismus und namentlich die Geschichte der völkischen Bewegung vergleichsweise wenig gewusst wird – so wenig, dass auch Nietzsches Briefe an Fritsch bis auf den heutigen Tag weitgehend unbekannt zu sein scheinen oder jedenfalls doch nicht als eindeutiges Zeugnis akzeptiert werden? Als Wissenschaftler wird man auf diese Frage nur so reagieren können, dass man sich immer wieder neu um Belege dafür bemüht, inwiefern Nietzsche vom ›Dritten Reich‹ instrumentalisiert wurde. Und kaum ein anderer Stoff eignet sich besser für diesen Zweck als die Briefe Nietzsches an Fritsch. Schon die Editionsgeschichte dieser Briefe ist, wie gesehen, abenteuerlich genug – kulminierend in dem 1938 durch die Reichsschrifttumskammer verfügten Verbot einer Textedition, die diese Briefe enthielt. Denn spätestens doch dieses Verbot legt Zeugnis dafür ab, dass Nietzsche den Nazis im tiefsten Grunde unheimlich war und sein Werk folglich nur selektiv beigezogen wurde, also exakt das geschah, was Hösle & Co. letztlich bestreiten: Nietzsches Werk wurde instrumentalisiert, und zwar mit Nietzsches Schwester als zentraler Akteurin und damit als Anlassgeberin für den nach 1945 erteilten und hier als Motto vorangestellten Auftrag von Albert Camus (1953: 73) an die Nietzscheforschung, das Unrecht wiedergutzumachen, das an Nietzsche begangen wurde. Man sieht: Neu ist die diesem Auftrag unterliegende These Camus’ von einem geradezu 286 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nachspiel

abenteuerlichen Missbrauch Nietzsches nicht. Vergleichsweise ungewohnt und ungemütlich für die sich wieder in Szene setzenden Nietzscheverächter dürfte allerdings in Zukunft der Versuch sein, sie gegen das vorgenannte Material erfolgreich außer Kraft setzen zu wollen. Zugestanden: Diese Hoffnung war schon einmal trügerisch – aber sie stirbt ja, wie der Volksmund weiß, zuletzt. Dies alles vorausgesetzt, sind wir nun jedenfalls recht gut gerüstet, die Wirkungsgeschichte Nietzsches im Zusammenhang und in chronologischer Ordnung zu erzählen, konzentriert auf den deutschen Sprachraum.

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Kapitel XIV

Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart – ein Abriss

»Wer weiß wie viele Generationen erst vorüber gehen müssen, um einige Menschen hervorzubringen, die es in seiner ganzen Tiefe nachfühlen, w a s ich gethan habe! Und dann selbst noch macht mir der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden.« (Friedrich Nietzsche, Anfang Mai 1884)

Der hier als Motto vorangestellte Satz aus einem Brief Nietzsches an Malwida von Meysenbug steht für eines der wohl wichtigsten Zeugnisse für Nietzsches Sorge um seine Wirkung – eine durchaus hellsichtige Sorge, wenn man bedenkt, dass Kurt Tucholsky gut fünfzig Jahre später in seiner mit dem Untertitel Vom Wesen des Tragischen versehenen Glosse Fräulein Nietzsche (1932) in genialer Verdichtung resümierte: »Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen […]. Für Deutschland und gegen Deutschland; für den Frieden und gegen den Frieden; für die Literatur und gegen die Literatur – was Sie wollen. Wir wollen aber gar nicht.« (Tucholsky 1960, Bd. 10: 14)

›Wir wollen aber gar nicht‹ – soll heißen: Leser und Leserinnen suchten (und suchen) offenbar nach eindeutigen Positionen, werden verwirrt durch Mehrdeutigkeit, die allerdings bei Nietzsche wohl unvermeidbar ist, denn, so Tucholsky gleich im nächsten Satz, unter Berufung auf die Studie von Erich F. Podach (1932), möglicherweise aber auch mit Seitenblick auf Ecce homo zu Nietzsche: »Ein großer Schriftsteller mit großen literarischen Lastern. Ein schwacher Mensch. Ein verlogener Wahrheitssucher: ein Freund der Wahrheit und ein Schwippschwager der Lüge. Ein Jahrhundertkerl, der in seiner etwas kokett betonten Einsamkeit gewaltige Prophezeiungen niedergeschrieben hat.«

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Das fängt ja gut an: Nietzsche, der Held der Avantgarde

Aber nicht nur Nietzsche bekam hier sein Fett à la Tucholsky weg. Analoges widerfuhr, in Anspielung auf die von Podach in helleres Licht gerückte Fälschungspolitik von Nietzsches Schwester, eben diese: »Unterdrückte Stellen und verbrannte Briefe; verloren gegangene Karten und nicht mehr auffindbare Zettel.«

Wie in einem Brennglas verdichtet sich in dieser Auflistung Nietzsches Problem: die Quellenfrage, vor die sich jedwede Rezeptionsforschung in Sachen Nietzsche als eine von ihr qua Quellenkritik zu berücksichtigende gestellt sieht. Dies vorausgesetzt, auch das Wissen um Richard Frank Krummels grandiose vierbändige referierende Bibliographie Nietzsche und der deutsche Geist (1974–2006) sowie durch sie angeregte Gesamtdarstellungen (etwa Aschheim 1996), schließlich: basierend auf einschlägigen Vorarbeiten (seit 1998), sei im Folgenden ein Versuch zur Sache gestartet, will sagen: zur Einkreisung ›Unberechtigter‹ und ›Ungeeigneter‹ im Sinne des Mottos, und zwar in fünf Schritten: 1890–1914 (1.), Erster Weltkrieg (2.), Weimarer Epoche (3.), NS-Zeit (4.) sowie die Zeit nach 1945 (5.). Am Ende sollte man dann einigermaßen im Bilde sein, ob und wie sehr bzw. inwiefern Nietzsches im Motto angesprochene Sorge berechtigt war.

1. Das fängt ja gut an: Nietzsche, der Held der Avantgarde Die 1890er Jahre, also das erste Jahrzehnt der Nietzsche-Rezeption, könnte, aus heutiger Sicht und allein aus Perspektive der Nietzscheforschung gedacht, als vergleichsweise glückliche Epoche in Betracht kommen. Denn damals war das Wissen um Nietzsche noch ungetrübt von der Kenntnis um Nietzsches angebliches (Prosa-) Hauptwerk Der Wille zur Macht. In der Umkehrung geredet: Wer um diese Edition nicht wusste, auch nicht um Nietzsches Ecce homo – und um diesen Text konnte bis 1908, abgesehen von den von Förster-Nietzsche präsentierten Auszügen, niemand wissen –, hat über Nietzsche fraglos anders gedacht, gewiss etwas entspannter. Sprich: Die Empörung der Linken über Nietzsches angebliche Hinwendung zum Wilhelminismus in gleichsam bellizistischer Absicht, 1904 seitens der Schwester mittels einer plumpen Fälschung erstmals ins Werk gesetzt (vgl. Förster-Nietzsche 1904: 890; zur Kritik: Niemeyer 2002: 93 ff.), wäre frag289 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

los geringer ausgefallen, wenn man damals schon hinter die Kulissen der im Nietzsche-Archiv in Weimar beheimateten Fälscherwerkstatt hätte blicken können. Sowie, um auch diese Lesart Nietzsches nicht außer Acht zu lassen: Die Empörung im völkischen Lager über Nietzsches Deutschtumskritik, im Verein mit jener über seine angeblich polnischen Vorfahren, nahm erst nach Vorliegen der Erstausgabe von Ecce homo (1908) richtig Fahrt auf – und dies, obgleich FörsterNietzsche einiges unternommen hatte, die für die Rechten empörendsten Äußerungen ihres Bruders erst gar nicht zur Kenntnis zu bringen, wie uns der Fall Theodor Fritsch lehrte (vgl. Kap. XIII). Für eine Besonderheit steht auch die Nietzscherezeption im Zusammenhang der in den 1890er Jahren anhebenden Bismarck’schen Sozialreform. Wer damals jung und ehrgeizig war und entsprechend politisch prädisponiert und hinreichend skrupellos, konnte problemlos Funken schlagen aus einzelnen Äußerungen Zarathustras, den Sinn der Ehe und der Fortpflanzung betreffend – Funken jedenfalls, die sich der damals verbreitet anhebenden Anti-Sozialstaatsrhetorik (vgl. Niemeyer 2003b) einfügen ließen. Denn Nietzsche hatte ja scheinbar unerbittlich seine Feder geschwungen gegen den in Europa grassierenden »Cultus des Leidens«, gegen »Verzärtlichung« und »Unmännlichkeit« (V: 236) sowie gegen – so Zarathustra – die »Prediger der Gleichheit« (IV: 128). Obgleich Nietzsche auch seine Kritik geübt hatte an dem Besitztum als solchem, dem er vorhielt, der »giftträgerische Verbreiter jener Volkskrankheit« zu sein, »welche als socialistische Herzenskrätze sich jetzt immer schneller der Masse mittheilt« (II: 503) – im Gedächtnis zumal der damaligen sozialstaatlich orientierten Nietzschekritiker blieb doch nur Nietzsches Spott auf diese Form der »Herzenskrätze«, nicht aber die Kapitalistenkritik Nietzsches, die sich auch in seinem Ratschlag an die Besitzenden bündelt: »Euch müsst ihr zuerst besiegen, wenn ihr irgendwie über die Gegner eures Wohlstandes siegen wollt.« (II: 503) So kam es, wie es kommen musste: Nietzsche, so erklang es schon 1892 aus sozialistischer Sicht, habe ausgerechnet in einer Zeit »des industriellen Massengiftmordes, der finanziellen Plünderungszüge« und »der junkerlich-agrarischen Jagdfreiheit« (Eisner 1892: 61) auf zynische Weise Sozialgerechtigkeitskritik geübt. Nietzsche, so konnte man drei Jahre später aus katholischer Feder lesen, sei ein Autor der »oberen Zehntausend«, der »die Unterdrückung und Ausnützung der Massen [rechtfertigt], welche sich die Großkapitalisten, Großfabrikanten und auch Großgrundbesitzer zu Schulden kommen lassen.« (Grupp 290 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Das fängt ja gut an: Nietzsche, der Held der Avantgarde

1895: 243) Zehn Jahre später las Ferdinand Jodl die hier und da anhebende »Begeisterung für Nietzsches Herrenmoral« als Zeichen für Dekadenz und Zynismus, dies jedenfalls in »unserer Zeit mit ihrem fast schrankenlosen Individualismus, mit ihren […] ersten schüchternen Anfängen zu einer intensiveren Wohlfahrts- und Bildungspflege weiterer Volkskreise.« (Jodl 1905: 104) – Formulierungen, die sich in ähnlicher Form auch bei Paul Natorp (1921: 155) finden. Zusammenfassend geredet: Zwischen 1890 und 1914 war Nietzsche kein wichtiges und zumal kein erquickliches Thema für das Establishment. Der pädagogische Mainstream sah dies ähnlich und brachte in dieser Zeit allenfalls und auch das nur ganz gelegentlich den »frühen« Nietzsche zur Geltung, den Nietzsche Wagners also, den elitären, deutschtümelnden und versteckt antisemitischen Kulturkritiker der Bildungsvorträge von 1872, der noch dem Ideal einer das Genie adelnden Bildungskonzeption verpflichtet war. Ansonsten blieb diese Pädagogengeneration – der Paulsens, der Willmanns, der Diltheys, der Reins – distanziert-skeptisch und lehnte Nietzsche als christentumsfeindlich und anarchistisch ab, wenn sie sich nicht gar dazu herabließ, ihn, ganz im Geist der Zeit, für verrückt zu erklären. Abweisend verhielt sich auch der allmählich Gestalt gewinnende sozialpädagogische Fachdiskurs, der eigenständige Antworten zu geben suchte auf das zentrale Thema dieser Epoche, nämlich die soziale Frage. Abwertende Urteile im Blick auf den vom Mainstream als »Philosoph des Kapitalismus« (Tönnies 1893: 103) verdächtigten Naumburger Pastorensohn fanden sich bald schon bei Paul Natorp oder Alice Salomon, relativierende bei Gertrud Bäumer, ein gewisses, aber nicht folgenreiches Interesse an Einzelheiten der damals anhebenden Nietzscheforschung lässt sich 1913 bei Herman(n) Nohl beobachten, der sich damals allerdings noch nicht als Sozialpädagoge verstand und – wie alle anderen auch – damit zu kämpfen hatte, dass Nietzsche längst schon zum Objekt wohlfeil zu ergatternder Schlagworte geraten war und einem ernsthaften forscherischen Tun die insgesamt desolate Quellenlage im Wege stand. Was es allerdings nun nachzutragen gilt, ist, dass Nietzsche in dieser Zeit sehr wohl ein Thema für die Avantgarde war. (vgl. Niemeyer 1998a) Namentlich die links-intellektuelle Jugend interessierte sich für ihn, dezidiert für den »späten« Nietzsche, also für den Verfasser des Zarathustra und der Werke, die in den Jahren 1885 bis 1888 entstanden und in denen sich Nietzsche als radikaler Psychologe und Moralkritiker im Blick auf eine nach dem Tod Gottes notwendig wer291 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

dende neue Ordnung der Dinge auszulegen suchte – eine Lesergeneration, die noch ungetrübt war vom Wissen um die erst allmählich Gestalt gewinnende finale Edition von Der Wille zur Macht (1906). Was unter diesen Bedingungen vergleichsweise ungestört im Bewusstsein der rasch wachsenden jungen Lesegemeinde vorzugsweise großstädtischen Milieus Einzug hielt, war so etwas wie Nietzsches Nietzsche in etwas eigentümlicher Legierung: Im Vordergrund des Leseinteresses standen die bildungs- und kulturkritischen, auf die Notwendigkeit von Selbsterziehung hinweisenden Passagen aus der zweiten und dritten Unzeitgemässen Betrachtung sowie die Aphorismensammlungen der ›mittleren‹ Werkphase sowie, unvermeidbar, weil befremdend und neugierig machend: Also sprach Zarathustra, eine Dichtung, die – um nur ein Beispiel zu nennen – auf den damals (1895) siebzehnjährigen Martin Buber »nicht in der Weise einer Gabe, sondern in der Weise des Überfalls und der Freiheitsberaubung gewirkt [hat].« (zit. n. Kr I: 300) Tatsächlich wies schon die erste Rezension von Die fröhliche Wissenschaft, 1882 in einer Zeitschrift des Nietzsche-Verlegers Ernst Schmeitzner erschienen, in diese Richtung: Nietzsche gelte als gefährlicher Denker, als ›Volksverführer‹, »der mit der Verneinung des Christenthums und aller Religion überhaupt, revolutionäre Gesinnungen verbreiten wolle.« (Wagner 1882: 689) In der Folge orientierte man sich nicht eben selten an dieser Einordnung, zumeist abweisend, dies zumal aus Sicht des Establishments; aber auch begeistert zustimmend, wie vor allem aus Perspektive der nachwachsenden Generation beobachtbar und verständlich. Entsprechend resümierte die 5. Auflage von Meyers Konversations-Lexikon 1896: »Die Nietzscheschen Antworten haben viele Gegner gefunden, wie dies bei dem vielen Paradoxen und Umstürzenden in ihnen natürlich, aber auch viele Freunde besonders in der jungen Generation, in dieser zum Teil wegen der Zersetzung des Traditionellen.« (zit. n. Kr I: 394)

Als Beispiel für diese Rezeptionstendenz kommt Michael Georg Conrad in Betracht, der 1890 meinte, dass »einige jüngere Leute bereits Miene [machen], die Philosophie Nietzsches als Kanon modernen Denkens auszurufen und seine Wertungen und Umwertungen als verbindlich für jedermann aufzustellen.« (Conrad 1890: 1261) Hierzu gehörte schon bald auch Gustav Landauer, der Nietzsche im Sommersemester 1890 für sich entdeckte und im Winter in einer Festrede anlässlich einer akademischen ›Weihnachtskneipe‹ in Heidelberg »mit 292 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Das fängt ja gut an: Nietzsche, der Held der Avantgarde

der Inbrunst eines Erleuchteten den Übermenschen als Perspektive ›selbstbewußter Vollendung‹ des Menschen der Zukunft« (Delf 1997: 215) verkündete. Dass Landauer diesen Vortrag, der 1891 in Wilhelm Bölsches Freier Bühne teilweise veröffentlicht wurde, zum Entsetzen eines anwesenden Professors und eines Teils seiner Kommilitonen (Brief Landauers an Bölsche vom 7. Januar 1891; zit. n. Delf 1997: 213) zu Gehör brachte, will man gern glauben. Nur ein Jahr später legte er nach, als sei schon die Zeit gekommen für eine Bilanz in Sachen der Wirkung Nietzsches: »[I]n den Hymnen seines Zarathustra fanden die Gourmands, die den Realismus satt hatten, eine neue überaus pikante Speise, während eine frisch empor drängende Jugend sich berauschte an dieser wunderbaren, in deutscher Zunge nie gehörten Sprache und die verwegenste Negation alles Bestehenden, die kühne Revolution auf dem Gebiete der Moral sehr wohl herausfühlte und mit Entzücken von diesem edlen Geiste sich tragen ließ in das Zukunftsland einer üppigen Phantasie.« (Landauer 1892: 30)

Im nämlichen Jahr resümierte Kurt Eisner (wie Landauer 1919 von Rechtsradikalen ermordet; vgl. Niemeyer 2019: 246 f.): »Auf allen Wegen predigen begeisterte und berauschte Apostel des großen Meisters Lehre, des neuen Propheten Weisheit«, um hinzuzusetzen: »Die Geschichte des Nietzscheschen Einflusses zu schreiben, wäre bereits jetzt eine dankbare, weitgreifende Aufgabe.« Dass Eisner Nietzsche skeptisch gegenüberstand, zeigt sein Zusatz: »Will einer diese Aufgabe übernehmen, so mag er sich beeilen, damit die Nietzsche-Episode nicht früher fertig werde, als seine Arbeit.« (Eisner 1892: 18 f., 16) Eisner sollte sich mit dieser Vorhersage gründlich täuschen. Selbst Michael Georg Conrad, der die Jugend noch 1890 davor gewarnt hatte, »das Eigentümliche der Herdennatur« des Menschen dadurch zu beweisen, dass auch sie »nicht ohne Leithammel leben kann und fortwährend nach neuen Schranken und Verbindlichkeiten lechzt« (Conrad 1890: 1261), konnte sich auf Dauer der Verlockung, welche die Unterwerfung unter den ›Leithammel‹ Nietzsche insbesondere für die Jugend in sich barg, nicht entziehen. Entsprechend notierte er fünf Jahre später: »Mit Nietzsche stehen wir auf der Linie des aufsteigenden Lebens. Mit ihm haben wir uns in kein abstraktes Ideal, in kein papiernes Prinzip, in kein ertötendes Dogma, in keine heimlich mordende vampyrartig blutaufsaugende Autorität eingesponnen und eingekapselt.« (Conrad 1895: 1)

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XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

Die Metaphorik entstammt Nietzsches früher Philologie- wie Philologenkritik aus dem Umfeld der Historienschrift. (vgl. Niemeyer 1998: 91 ff.; Sommer 2016: 202) Noch Jahre später wurde sie im reformpädagogischen Diskurs vielfältig variiert dargeboten, etwa von Fritz Gansberg, der, Johannes Tews zitierend, beklagte: »Der Bureaukratismus ist der Vampyr, der allem Individuellen und Lebenskräftigen das Blut aus den Adern saugt.« (Gansberg 1909: 231)

Für ein noch späteres Zeugnis steht Stefan Zweigs Erzählung Verwirrung der Gefühle. Unter Verwendung anekdotischen Materials aus dem Baseler Nietzsche-Umfeld werden hier Erstsemestererfahrungen eines Philologiestudenten mit analogen Verfallsmetaphern auf den (dichterischen) Begriff gebracht: »Der schon den Schulknaben fühlbare Verdacht, in eine Leichenkammer des Geistes geraten zu sein, wo gleichgültige Hände an Abgestorbenem anatomisierend herumfingerten, schreckhaft erneuerte er sich in diesem Betriebsraum eines längst antiquarisch gewordenen Alexandrinertums.« (Zweig 1926: 186)

Es war nicht zuletzt die Verallgemeinerungsfähigkeit des negativen Gehalts der in diese Skizze eingegangenen Bildungserfahrung, die für die rasche Popularität Nietzsches zumindest in den Kreisen der jungen Intelligenz sorgte. »Es gibt wohl heute in Deutschland keinen leidlich gescheiten studierten oder gebildeten Mann von zwanzig bis dreißig Jahren«, so notierte sich beispielsweise Harry Graf Kessler im Januar 1895 in sein Tagebuch, »der nicht Nietzsche einen Teil seiner Weltanschauung verdankte.« (zit. n. Cancik 1987: 406) Noch Jahre später hatte dieser Satz für die je neu nachwachsenden Generationen eine gewisse Bedeutung, wie etwa das frühe Nietzscheinteresse Walter Benjamins, Siegfried Bernfelds und Gustav Wynekens und deren Schülerzeitschrift Der Anfang (1913/14) belegt, ebenso das des Wandervogels Walter Hammer (eigentl. Hösterey, Pseudonym nach dem Untertitel der Götzen-Dämmerung) in dessen Buch Nietzsche als Erzieher (1914): Anklagend und aufbegehrend wird hier wie dort die um sich greifende Militarisierung der Mentalität beklagt, ebenso wie die überlieferte Leibfeindlichkeit, und dies im Interesse der Suche nach einem ›neuen‹ Menschen, wie es sich auch in den zentralen Schülerdramen der Jahrhundertwende spiegelt. Auffällig ist dabei: Ob nun Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891), Hermann Hesses Unterm Rad (1905), Heinrich 294 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Das fängt ja gut an: Nietzsche, der Held der Avantgarde

Manns Professor Unrat (1905) oder auch Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) – immer war Nietzsche der Stichwortgeber der hier sich aussprechenden bildungs- und erziehungskritischen Tendenz. So betrifft – um nur das Beispiel Musil zu nehmen – eine der Verwirrungen des Internatsschülers Törleß den Umstand, dass dieser meinte in Zukunft »auf die Hilfe philosophischer Bücher« verzichten zu müssen. (Musil 1906: 131) Dies war das Ergebnis seines Versuchs, einen Text Kants zu verstehen – ein Text, der ihm das Gefühl eingab, »als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.« (ebd.: 113) Wie auf einen Schlag schwand Törleß auf diese Weise die Gewissheit, »daß von Kant die Probleme der Philosophie endgültig gelöst seien« und »daß es sich nach Schiller und Goethe nicht mehr lohne zu dichten.« (ebd.: 111) Expressis verbis ist hier von Nietzsche nicht die Rede. Und doch war er es, der in seiner Historienschrift gefordert hatte, dass man nicht nur »Erbe und Epigone« sein dürfe, sondern »Erstling und Vorbild aller kommenden Culturvölker« (I: 333) werden müsse. Und das erforderte die Einsicht, dass es sich eben doch und weiterhin lohne zu denken und zu dichten – und sei es auch für den Preis der Ignoranz gegenüber dem Bildungskanon der Epoche. Auch die Schriften der Franziska Gräfin zu Reventlow (1871– 1918) gehören diesem Kontext zu. Im Husumer Schloss aufgewachsen und ihre Jugend in Lübeck verbringend, erwarb sich diese enterbte Adelige, alleinerziehende Mutter und viel geliebte Gräfin sowie Übersetzerin und Autorin im Kreis um Stefan George in MünchenSchwabing des fin de siècle einigen Ruhm (vgl. Diethe 1996: 123 ff.; 2007: 201 ff.; Pechota Vuilleumier 2012: 15 ff.; Decker 2018), jenem von Nietzsches großer Liebe Lou von Salomé (1861–1937; ab 1887 verheiratet: Andreas-Salomé) durchaus vergleichbar. Schon in den frühen 1890er Jahren, als noch nicht Zwanzigjährige, für Nietzsche (und Ibsen) entflammt, gab vor allem Reventlows autobiographischer Roman Ellen Olestjerne (1903) Kunde von einer im Elternhaus zusammen mit einem ihrer Brüder absolvierten, als Erweckungserlebnis verbuchten heimlichen Zarathustra-Lektüre, die nicht untypisch war für jene Zeit und nicht ohne Folgen blieb, wie die Einsicht zeigt: »[D]ie alte morsche Welt mit ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum fiel in Trümmer, und die neue Welt, das waren sie selbst mit ihrer Jugend, ihrer Kraft, mit allem, was sie schaffen und ausrichten wollten.« (Reventlow 2009: 73)

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In Richtung Nietzsche weist auch Reventlows – die damalige Frauenbewegung provozierender – Aufsatz Viragines oder Hetären? (1899): Die hier vorgetragene Kritik folgt den Linien des von Nietzsche eröffneten Kampfes gegen die Leibfeindlichkeit, entsprechend lesen wir denn auch, unter der an Zarathustra gemahnenden Losung »Wir haben angefangen die alten Gesetzes-Tafeln zu zerbrechen«, etwas von der »moderne[n] Bewegung«, welche »die junge Generation wieder etwas von der mutigen Frohheit des Heidentums gelehrt [hat].« (Reventlow 1899: 123 f.) Nimmt man dies nun als eine epochentypische Kampfansage der Jungen in Richtung der Alten, wird man wohl manches – vor allem aus Erwachsenenperspektive entworfenes – frühe Porträt der Nietzschejünger als Kampfansage in umgekehrter Richtung lesen dürfen. Zu denken ist hier etwa an Hermann Türcks 1891er Spott auf den Jubel jenes »Geistesproletariat[s] der Großstädte« über Nietzsches »neue großartige Entdeckung, daß alle Moral und alle Wahrheit durchaus überflüssig und der Entwicklung des Individuums nur schädlich ist.« (Türck 1891: 59) Ähnlich argumentierten in der Folge Kurt Eisner (1892: 52), Franz Servaes (1892: 86), Ludwig Stein (1893: 17), Ferdinand Tönnies (1893: 104), Leo Berg (1897) und schließlich auch Theobald Ziegler in seiner Epochenbilanz von 1899, aus der man erfuhr, es sei selbstverständlich gewesen, »daß das klingende Wort vom Übermenschen die Jugend, die ja nie an einem Übermaß an Bescheidenheit leidet, wie ein Taumel und Rausch erfasste.« (Ziegler 1911: 603; vgl. auch Lange 1900: 251; Landsberg 1902: 89) Abgesehen vom Übermenschenkonstrukt und dem von Nietzsche eher beiläufig angeführte Assassinen-Wahlspruch »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« (vgl. Kap. V/2) waren es dabei vereinzelt genommene Zarathustra-Zitate – wie »Werdet hart!« –, die viele Nietzsche-Jünger anregte und mindestens ebenso vielen Nietzschekritikern bitter aufstieß. Nach 1900 veränderte sich die Ausgangslage, auf die zu reagieren war, zunächst kaum: »Unsere Jugend […], soweit sie anarchistisch denkt, steht unter dem Einfluß von Friedrich Nietzsche.« (Ziegler 1899: 696)

Nietzschekenner wie August Horneffer machten für den »ungeheuere[n] Erfolg, den Nietzsche bei der Jugend« habe, nicht nur den »Glanz und Flitter der Sprache« oder die »Überkeckheit seiner Gedanken« (Horneffer 1906: 256) verantwortlich, sondern auch den 296 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Umstand, dass der Jugend in Nietzsche »ein Eroberer, Abenteurer, ein Columbus des Geistes« (ebd.: 247) begegne. Im nämlichen Jahr legte der Studienrat Martin Havenstein eine ›Verteidigungsschrift‹ Nietzsches vor, in der er um Verständnis dafür warb, dass der Psychologe Nietzsche die Jugend »zur Reflexion über sich selbst einlädt und anleitet.« (Havenstein 1906: 50) Schon dies war eine das Establishment provozierende, in jedem Fall inspirierende Lesart der Intentionen Nietzsches. Nicht minder bemerkenswert: Havenstein räumte ein, es gäbe nichts Widerwärtigeres, »als wenn ein eitler, jugendlicher Hohlkopf in den Nachtcafés und Weiberkneipen den ›Übermenschen‹ spielt […]; oder wenn ein frühverdorbener Lüstling zu später Stunde in der Friedrichstraße ›Jenseits von Gut und Böse‹ herumflaniert.« (ebd.: 22 f.) Zugleich aber gelte, dass derlei Erscheinungen nichts mit Nietzsches Absichten zu tun hätten und auch nicht umstandslos als Folge der Lektüre seiner Werke gedeutet werden dürften. Noch gewichtiger ist, was Havenstein seinen Zeitgenossen, insoweit sie Nietzsche als Jugendverderber diagnostizierten, ins Stammbuch schrieb: »Ihr fürchtet […] auch eigentlich gar nicht für die Jugend, wie ihr glauben machen wollt, sondern ihr fürchtet euch vor der Jugend. Eine Jugend, die von diesem Geiste beseelt ist, ist euch unbequem.« (ebd.: 26 f.)

Wohlwahr: Zumal in konservativen Lehrerkreisen war es bis hin zum Auftauchen Havensteins gängig, wegen der Gefahren der »poetisierende[n] Überspanntheit« des von Nietzsche repräsentierten Individualismus für »das Gemüt regsamer und begabter Jünglinge« von der »Pflicht eines gewissenhaften Lehrers« zu sprechen, »gegen die von mancher Seite so gewissenlos betriebene Verhimmelung Nietzsches Stellung zu nehmen.« (Baumeister 1902: 2) Eine 1904 in einem Organ des Sächsischen Lehrervereins veröffentlichte Nietzsche-Philippika hatte gar die – an Berufskollegen gerichtete – Warnung für angebracht gehalten: »Hüte dich vor solch gefährlichen Denkern!« (Schädel 1904: 218) Es war nicht zuletzt dieser Argumentationshintergrund, der Berichte wie jenen von Ernst Niekisch aus seiner Zeit am Lehrerseminar Altdorf bei Nürnberg in den Jahren 1904–1907 erklären könnte, wonach Nietzsche »damals ein ebenso gefürchteter wie verrufener Mann war« (zit. n. Kr I: 318), so dass ihm die Entdeckung eines seiner Werke bei einer vom Seminardirektor veranlassten Durchsuchung seines Schreibtisches einigen Verdruss bereitet habe. Auch Ludwig Gurlitt, Oberlehrer an jenem Steglitzer 297 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Gymnasium, an dem 1901 der Wandervogel offiziell aus der Taufe gehoben worden war und einer der wenigen Nietzscheverehrer unter den Pädagogen, klagte im Rückblick auf die Zeit der Jahrhundertwende darüber, dass damals den Abiturienten in den Entlassungsreden »nichts so sehr zur Pflicht gemacht [wurde], als Ablehnung des Geistes, den sie in Wahrheit hätten verehren lernen sollen: Friedrich Nietzsches.« (Gurlitt 1927: 57) Dass derlei Warnung auch nach hinten losgehen konnte, zeigt das Beispiel des Gurlitt-Schülers Hans Blüher, eine Art Ikone der Neuen Rechten (vgl. Niemeyer 2019: 254 f.). Blüher nämlich erinnerte sich eines Steglitzer Lehrers, der immer geschimpft habe, wenn er auf den Namen Nietzsche stieß und der dann Dichtung und Wahrheit von Goethe anempfahl. »Diese Strafversetzung jugendlicher Gemüter in Goethesche Altersprosa hatte natürlich den entgegengesetzten Erfolg: Man kaufte sich von seinem Taschengelde ›Also sprach Zarathustra‹ – und der Abfall war geschehen.« (Blüher 1953: 18)

Ähnliches berichteten auch andere über ihre Zeit auf dem Gymnasium um 1900, etwa auch Stefan Zweig in Die Welt von Gestern, wo er beschreibt, »wie er und seine Freunde in Wiens Kaffeehäusern hitzig und ohne Ende über Nietzsche diskutierten, der damals noch abgelehnt wurde.« (Golomb 1997: 233) Zumal aus katholischer Sicht galt Nietzsche verbreitet als ein ›verbotener‹ Philosoph, das Wort dabei im Sinn römisch-katholischer Volkspädagogik verstanden, also »als ›mütterliche‹ Warnung und mit Sanktionen versehene Bewahrung vor glaubensschädigendem Schrifttum.« (Köster 1998: 3) Der protestantische Umgang mit Nietzsche war zwar mitunter etwas liberaler, wobei vor allem der Bremer Pastor Albert Kalthoff zu erwähnen ist, Verfasser einer unmittelbar vor Nietzsches Tod vorgelegten Sammlung von insgesamt sechzehn überaus bemerkenswerten Vorträgen über Nietzsche. (Kalthoff 1900) Denn hier sowie vor allem in seinen 1904 veröffentlichten Zarathustra-Predigten lobte Kalthoff Nietzsche als unbestrittenen Heros der Jugend und als Propheten einer neuen Kultur und unterstand sich nicht anzumerken, dass »in diesem Immoralisten mehr Moral, in diesem Antichristen mehr Christentum steckte, als in den Verkündigungen all derer, die auch heute noch so schnell bereit sind, alles zu verdammen und zu lästern, was sie nicht verstehen, die jeden kreuzigen, steinigen möchten, der ihre Bethäuser Kaufhäuser nennt und ihren Opferdienst 298 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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einen Krämerdienst und eine Mördergrube!« (Kalthoff 1904: 9) Ein Jahr darauf resümierte Kalthoff: »Wenn er den Alten auch ein Ärgernis ist und bleiben wird: unsere Jugend kennt ihn«, um einige Seiten später im Blick auf Nietzsches Lehre vom Übermenschen erläuternd nachzutragen: »Das ist eine frohe Botschaft den jungen Herzen, die alle das Brechen und Zerbrechen lieben und ihre Lust daran haben, wenn verrostete Ketten endlich fallen und morsch gewordene Altäre endlich einstürzen.« (Kalthoff 1905: 276, 278)

Kalthoff indes war Außenseiter. Der protestantische Mainstream blieb der 1894 von Gerhard Uhlhorn markierten Linie verpflichtet, Nietzsches Ideal sei der antichristliche Tyrann, »der die ganze Menschheit beherrscht und ausbeutet« – eine Vorstellung, so Uhlhorn, die ebenso entsetzlich sei, »wie alles, was die Sozialdemokratie Widerchristliches ausgeschäumt hat.« (Uhlhoff 1894: 370) Mit diesem Argument sah sich Nietzsche in die vom Uhlhorn-Idol Johann Hinrich Wichern eröffnete Kampflinie ›Christentum vs. Sozialismus /Antichristentum‹ (vgl. Niemeyer 32010: 52 ff.) eingespannt. In der Folge hatte man kaum Mühe, in Nietzsche eine »schwere Gefahr« für »unsere gebildete deutsche Jugend« (Heyn 1899: 100) zu sehen und den »Umsturz alles Bestehenden« als »furchtbare Folge« an die Wand zu malen, wenn es nicht gelänge, das Eindringen der Ideen Nietzsches ins (deutsche) Volk zu verhindern. Dieser Zweck sprach jedes Mittel heilig, etwa das Verächtlichmachen Nietzsches wegen seiner »artigen Verbeugung vor den Franzosen, unseren deutschen Erbfeinden«, und dies mit der Pointe der Warnung an die »deutsche Jugend, der akademischen zumal«, nach dem Muster: »›Laß dir von diesem Vaterlandsverräter den festen Grund und Eckstein nicht verrücken!‹« (Naumann 1899: 585 f.)

Nicht ganz so radikal, wenngleich der Tendenz nach vergleichbar argumentierte ein Baseler Pfarrer, indem er in einem unmittelbar nach Nietzsches Tod gehaltenen Vortrag die längst schon bekannten Tiraden erneuerte, also in Nietzsches Gefolge »verkannte Genies« ausmachte, vor allem aber »Jünglinge von 18–22 Jahren, von jenem Alter, wo man so furchtbar gescheit ist und fast jeder sich ein Genie dünkt, wo man in jugendlichem Übermut alles kurz und klein schlagen möchte, wie es Nietzsche thut.« Eingeleitet wurde das Ganze von dem Verdacht, dass die (Nietzsche-)Lektüre der Jugend und insbeson299 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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dere die der »Backfische« offenbar »von den Eltern nicht genügend überwacht« (Steiger 1901: 24 f.) werde. Damit war das entscheidende Stichwort zumal für den pädagogisch interessierten theologischen Folgediskurs gefallen, und dies im Verein mit vermeintlich einschlägigen Straftäterbekenntnissen, auf die 1902 ein Hofprediger hingewiesen hatte, indem er das Publikum mit der Nachricht konfrontierte, dass ein Mörder in einer Gerichtsverhandlung seiner Geliebten erklärte, »er habe das Recht, sich seine Moral selbst zu schaffen, von Nietzsche gelernt.« (Blau 1903: 50) Denn derlei stellte endgültig klar, dass es galt, Nietzsche der von Eltern und Erziehern kontrollierten Lektüre zu überantworten oder, besser noch, der gänzlichen Zensur oder jedenfalls doch einer vernichtenden Kritik zu unterwerfen. Exemplarisch hierfür ist der Güstrower Domprediger Albert Wollenberg, der 1905 in der Aula des dortigen Realgymnasiums über Nietzsche’s Gogantomachie referierte und seinen Vortrag in den Ausruf einmünden ließ, man solle sich von dem »großen Antichristen, Atheisten und Immoralisten Nietzsche« nicht das Christum in seinem Herzen »morden« lassen. (Wollenberg 1905: 21) Ein Jahr darauf (1906) wurden die Weichen im Streit um Nietzsche als Jugendverführer neu gestellt. Denn zum einen erschien die Kompilation Der Wille zur Macht als kanonische Ausgabe mit nun 1067 Paragraphen (statt 483 fünf Jahre zuvor), und zwar dies in eindeutig (theorie-)politischer Absicht, wie die Einleitung zu dieser Ausgabe deutlich macht: Georg Simmel, so lesen wir hier aus der Feder von Nietzsches Schwester, habe zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass der – in der Jugend um 1900 beliebte – »Anspruch ›sich auszuleben‹ […] unter falscher Berufung auf Nietzsche« einer »bloßen Genußsucht« (Förster-Nietzsche 1906: XIII) das Wort rede – eine Deutungsrichtung, die, so müssen wir Förster-Nietzsche verstehen, nun mit dieser Edition vollends ihr Recht verliere. Ob Zufall oder nicht: Zeitgleich ging der Leipziger Reichsgerichtsrat Adelbert Düringer, später vorübergehend (1919 bis 1922) DNVP-Mitglied wie Förster-Nietzsche, mit eben jener Jugend respektive Nietzsche harsch ins Gericht, und zwar im deutlichen Gegenzug zu der im nämlichen Jahr erschienenen Verteidigungsrede Havensteins. Düringer jedenfalls ließ an den »jugendlichen Nietzscheaner[n]« kein gutes Haar:

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»Sie feiern den Tag mit Faulenzen, weil Arbeit eine Sache der Sklaven und der Herrennatur unwürdig ist. Umso fleißiger besuchen sie Nachtcafés und Vergnügungslokale, Genußsucht, Schlemmerei, rücksichtsloses, herrisches Auftreten, Gefühlsrohheit und Mitleidlosigkeit wird von ihnen geradezu als Sport gepflegt, und mancher Hausvater, manche bekümmerte Witwe kann ein Lied davon singen, wie ihre eben erwachsenen Söhne ›praktische Nietzsche-Philosophie‹ treiben.«

Aber nicht nur die Jugend hatte der Jurist in seinem gleichsam polizeilichen Blick, auch »Künstler, Literaten, Privatgelehrte« und schließlich gar »das Überweib« (Düringer 1906: 96), Gestalten der »Welt der Demimonde« sowie »sonstige Anhängerinnen der freien Liebe«, mehr als dies: »Wie mir mitgeteilt wird«, so Düringer, damit zugleich betonend, dass er nicht etwa aus eigener Anschauung rede, »bildet die Philosophie Nietzsches in den Chambres separées eine unerschöpfliche, nie versiegende Quelle geist- und witzsprudelnder Unterhaltung.« (ebd.: 100) Soweit Düringer, »seine Kenntnis der entnervenden Wirkungen der Zügellosigkeitslehre Nietzsches« offenbar – so der Spott Richard M. Meyers noch Jahre später – »von den Herrn Oberkellnern« (Meyer 1913: 600) entlehnend. 1908 wurde er vom Reichsgericht in gleichsam letzter Minute wegen Befangenheit ausgeschlossen von dem von Förster-Nietzsche angestrengten Prozess gegen Eugen Diederichs wegen der von Carl Albrecht Bernoulli (1908, 1908a) veröffentlichten Briefe Nietzsches an Overbeck. (vgl. Fiebig 2018: 132 ff.) Richard M. Meyer, ein jüdischer Bankier und Literaturwissenschaftler, der zu den frühesten Sponsoren Elisabeth Förster-Nietzsches gehört, war es denn auch, der am »unglückselig-törichten Reichsgerichtsrath« 1907 in Das literarische Echo ein Exempel statuierte (Brief Meyers an Elisabeth Förster-Nietzsche vom 16. 9. 06; zit. n. Fiebig 2012: 140), sprich: der ihm hier »Unteroffiziersschneidigkeit« (Meyer 1907: 647) vorhielt, mittels derer er sich, in unverkennbarer Nachahmung seines Vorbildes Paul Julius Möbius (1902/ 09) sowie im Vorgriff auf gleichsinnig agierende Nachfolger (etwa Becker 1908), als unversöhnlicher Nietzschegegner zu profilieren suchte. In einer Folgepublikation suchte Düringer gar die These zu beglaubigen, dass »die Philosophie Nietzsches zahlreiche Existenzen moralisch ruiniert und unsäglich viel Familienunglück mitzuverantworten hat.« (Düringer 1907: 53) Die Folgen dieses neuen, auf empörte Ablehnung in liberalen Kreisen (etwa Jesinghaus 1907) sowie vehemente Zustimmung aus 301 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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konservativer respektive christlicher Sicht (etwa Pfennigsdorf 1908; Kiefl 1912) treffenden Tons in der Debatte waren erheblich, wie am theologisch motivierten Diskurs belegbar: Entlarvungsversuche des von Nietzsche Intendierten vollzogen sich nun nicht mehr notwendig diskursiv, sondern mit rhetorischer Geste, also etwa in Gestalt des unkommentierten Zitierens von schwer verständlichen Abschnitten aus dem Zarathustra, denen gezielt pejorative Ausrufe nachfolgen wie beispielsweise: »Doch genug des Unsinns und der Blasphemie! Die Feder sträubt sich, all das widerwärtige Gewäsch zusammenzustellen.« (Mayrhofer 1908: 33)

Wie emotional inzwischen das Thema besetzt war, unterstreicht auch der 1912 vorgelegte Beitrag des Regensburger Domkapitulars Franz Xaver Kiefl: Nietzsche, so sein Befund in der Hauptsache, hat »schon mehr Elend und sittliche Verderbnis angerichtet, als irgend eine Katastrophe oder Kriegsnot der Weltgeschichte.« (Kiefl 1912: 825) Logisch war dann schon fast das Lob auf das Land, die frische Luft und die »Einfalt der christlichen Sitte«, die »wetterharte Gestalten und ein langes Leben bedingen« (ebd.: 823), ganz abgesehen von dem »ernstesten Rat« an die Adresse der »gebildeten jungen Leute«: »Lasset Hand und Herz von den giftigen Schriften!« (ebd.: 826) Derlei Einvernehmlichkeit in der Gefahrenabwehr blieb nicht ohne Eindruck auf betroffene Eltern, wenngleich die ergriffenen Maßnahmen die Wirkung oft verfehlten. Denn ob ein Vater seinem an einem anderen Ort studierenden Sohn, von dem er einen »im Manifeststil geschriebenen Brief gelesen hatte«, »beschwörend« schrieb, er solle gleichsam aus therapeutischen Gründen »ein Jahr lang keinen Nietzsche lesen« (zit. n. Kr I: 137), oder ob ein anderer Vater seiner Frau Nietzsches Werke schenkte, nicht ohne den Hinweis, er sei »kein ungefährlicher Philosoph und für Halbwüchsige ungeeignet« (ebd.: 701) – das Ergebnis blieb sich weitgehend gleich: Im ersten Fall hatte der Sohn, entgegen der Annahme des Vaters, »noch niemals Nietzsche gelesen« (ebd.: 137) und las ihn jetzt erst recht, und im zweiten Fall hatte erst der Hinweis auf die Gefahr der Lektüre das Interesse stimuliert: »Nie zuvor (und wohl auch später nicht) habe ich ein Gift so widerstandslos genossen, mit solchem verwirrenden Entzücken.« (ebd.: 701) Eher als Ausnahme hat man insoweit zu verbuchen, dass Otto Braun, der schon als Elfjähriger im August 1908 in Wickersdorf den Antichrist las, darüber nicht nur seiner Mutter berichtete (vgl. Braun 302 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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1921: 26), sondern im Dezember 1910 sogar beschloss, ihr zu Weihnachten Nietzsches gesammelte Briefe zu schenken. (ebd.: 41) Diese Merkwürdigkeit erklärt sich bei Berücksichtigung der (biographischen) Zusammenhänge allerdings fast von selbst. So dürfte die Freie Schulgemeinde Wickersdorf der Nietzschelektüre ihrer Schüler allein schon der Nietzscheverehrung ihres Gründers Gustav Wyneken wegen kaum widerstanden haben. Es kommt hinzu, dass die Eltern Brauns, die bekannte Sozialistin und Frauenrechtlerin Lily Braun und der nicht minder prominente Sozialist und Sozialpolitiker Heinrich Braun, der Nietzschelektüre ihres Sohnes und zumal der des Antichrist schon aus weltanschaulichen Gründen nicht widersprochen haben dürften. Lily Braun war ihrerseits eine Verehrerin Nietzsches (vgl. Diethe 1996: 150 ff.) – zumal die Eltern ohnehin alles taten, um der geistigen Entwicklung ihres im Frühling 1918 gefallenen Sohnes förderlich zu sein. Im Übrigen war offenbar auch Braun, der mitunter Nietzschegedichte rezitierte, um die Lebensfreude eines Dreizehnjährigen angesichts eines Spaziergangs mit Hunden im Frühlingssturm auszudrücken, das gängige (negative) Nietzschebild der Erwachsenen nicht unbekannt. Dies belegt sein Tagebucheintrag vom September 1910, der, verfasst nach gerade stattgehabter Zarathustra-Lektüre, einerseits Zeugnis gibt für die damals ganz typische ekstatische Wirkung speziell dieses Buches auf aufstrebende Jugendliche, gepaart mit fulminanten Selbstzweifeln, um andererseits hinzuzusetzen: »Es ist sonderbar, daß ich durch Nietzsche niemals das Prinzip des Sichauslebens hörte, immer nur das größter Pflichterfüllung, allerdings anders als im bourgeoisen Sinne.« (Braun 1921: 38)

Denn was hier zum Ausdruck kommt, ist das Erstaunen darüber, dass ausgerechnet das, was Nietzsche nach Meinung Erwachsener so gefährlich machte, bei genauer eigener Lektüre gar nicht vorzufinden sei – eine Erfahrung, die 1906 auch Laura Frost als besorgte Mutter in einem Königsberger Frauenverein kund getan hatte. (vgl. Niemeyer 1998a: 104 f.) Fälle wie diese weisen schon darauf hin, dass ein schlichtes Verbot der Lektüre Nietzsches nicht tragfähig war und man nach anderen Wegen Ausschau hielt. Adolf Matthias beispielsweise, bekannt geworden als Autor eines Erziehungsratgebers, soll einer von Walter Jesinghaus kolportierten Anekdote zufolge in seiner Eigenschaft als Ministerialbeamter gelegentlich geäußert haben, dass »es […] sehr vorteilhaft [wäre], wenn sich in einem Lehrerkollegium einmal ein 303 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Vertreter fände, der privatim mit den Primanern den ›Zarathustra‹ lesen könnte.« (Jesinghaus 1907: 25) Der Vorteil, den Matthias meinte, gründete in der auf diese Weise möglichen Kontrollierbarkeit und Didaktisierbarkeit einer Lektüre, von der sich offenbar auch im Ministerium herumgesprochen hatte, dass sie auch ohne Zutun des Lehrers und jenseits jeder Verbotspolitik erfolgte. Es war dieser Hintergrund, der erklären könnte, warum sich selbst Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Nietzschegegner der ersten Stunde, für seinen Vorschlag, die Jugend durch die Lektüre Platos vor »Nietzsches ›verderblicher‹ Philosophie« behüten zu wollen, den spöttischen Kommentar gefallen lassen musste: »Mir kommt dieser Einfall gerade so klug vor, als wenn ein besorgter Vater seinen Sohn von der Liebe zu einem schönen Mädchen durch den Genuß schöner Landschaften heilen wollte.« (Rott 1912: 4)

Auf eine etwas andere Idee verfiel Friedrich Wilhelm Foerster in seinem Jugendratgeber Jugendlehre: Fast schon subversiv war seine Idee, trotz seines sonstigen diametralen Gegensatzes zu Nietzsche lieber, wenn es durch die Sache gerechtfertigt war, diesen zu zitieren, denn bestimmte Auffassungen seien »für junge Leute einer bestimmten Altersstufe recht wirksam – gerade weil es Nietzsche ist, der sie sagt.« (Foerster 1906: 649) In der Hauptsache indes verstand Foerster keinen Spaß. Deutlich jedenfalls war sein Unbehagen angesichts seines Ausblicks auf eine – angeblich durch Nietzsche geförderte – Epoche, in der »jedes beliebige Individuum mit seinem Gewissen [sich] lediglich auf seine eigene fragmentarische Lebenserfahrung und seine von Trieben und Interessen so vielfältig gebundene Vernunft stellen […] wird, statt sich durch eine große ehrwürdige Tradition des Echten erziehen und aufklären zu lassen.« (Foerster 1908: 563) Ähnliches lässt sich für den pädagogischen Mainstream des Wilhelminismus konstatieren. Friedrich Paulsen beispielsweise, Nietzsche mit seinem Frühwerk schon in Jugendjahren studierend (vgl. Reinhard Uhle in: NLex: 286 f.), setzte sich im Alter – Paulsen starb im August 1908 – deutlich von ihm ab, wie an seiner 1911 nachgelassenen Pädagogik nachweisbar: Mit Seitenblick auf Hermann Hesses Roman Unterm Rad geißelt Paulsen hier jene (pädagogische) Literatur, in der das Bild vom »hochgestimmte[n], geniale[n] Primaner« gezeichnet werde, »der von elenden, pedantischen Lehrern nicht verstanden, gehaßt, verfolgt, unters Rad gebracht wird und endlich auf

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der Strecke bleibt« – eine Sehweise freilich, die nicht »allzu tragisch zu nehmen« sei, denn: »Wenn der ›Übermensch‹ und die ›Umwertung der Werte‹ und das Getöse, das die Nietzsche-Trabanten mit diesen Plakatwörtern treiben, genugsam die Ohren des deutschen Volkes geplagt haben […], dann wird […] auch […] die anmaßliche Respektlosigkeit der Jugend […] auf das übliche und erträgliche Maß zurückgehen.« (Paulsen 1911: 73 f.)

Ähnlich sah dies Wilhelm Rein, der 1910 der dritten Auflage seines erstmals 1902 erschienenen Grundriß der Ethik den spöttischen Satz voranschickte: »Das wunderliche Heer der ›Unverstandenen‹, der ›Einsamen‹, der ›Übermenschen‹ beginnt sich aus der Region des ›Jenseits von Gut und Böse‹ wieder in das diesseitige Reich zu retten, das die ›Umwertung aller Werte‹ auf das rechte Maß zurückzuführen versteht.«

Reins Unwillen richtete sich vor allem gegen diejenigen, die »immerfort suchen und nichts weiter finden als immer neue Fragen, immer neue Probleme«, aber »nie etwas Positives.« Dass keinem anderem als Nietzsche die Verantwortung zukam für diese Art der – wie man mit Rein wohl sagen darf – Zweifelspervertierung, die mit »körperliche[r] Schlaffheit« und »seelische[r] Verweichlichung Hand in Hand« (Rein 1913: VII f.) gehe, stellt spätestens Reins Urteil klar, Nietzsches Wort ›Was gut und böse ist, das weiß noch niemand‹ sei (allenfalls) geeignet, »den Wirrwarr der Meinungen zu vermehren.« (ebd.: 110) Mit Wissenschaft hatte derlei Rede nichts zu tun, wie allein schon der Umstand verdeutlicht, dass Rein schlicht die Fortsetzung des Zitats fortließ, nämlich die Worte: »es sei denn der Schaffende! / – Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: Dieser erst schafft es, dass Etwas gut und böse ist.« (IV: 247) Wer den Wegfall von derlei Subtilität beklagt, übersieht allerdings, dass es Rein – und wohl auch Paulsen – um anderes ging: um Theoriepolitik. Ein Lehrstück in dieser Frage eröffnet die 1907 erschiene und von Wilhelm Rein sowie Max Heinze betreute Dissertation Ernst Webers mit dem Titel Die pädagogischen Gedanken des jungen Nietzsche im Zusammenhang mit seiner Welt- und Lebensanschauung. Der Name Heinze lässt in diesem Zusammenhang aufhorchen. Denn Förster-Nietzsche hatte diesen Familienfreund 1890 der Zuträgerei in Sachen einer angeblichen erblichen Belastung Nietzsches verdächtigt (vgl. Niemeyer 2011: 90 f.), wichtiger: 1883 hatte Heinze, 305 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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den Nietzsche schon von Schulpforta her als Lehrer kannte und der auch kurzzeitig sein Kollege in Basel gewesen war, Nietzsche in seiner Eigenschaft als Rektor der Universität Leipzig wissen lassen, dass eine Nicht-Genehmigung seines Gesuchs um einen Lehrauftrag seitens des Ministers wegen »manche[r] scharfe[n] Äußerung über die Gottesvorstellung und besonders über das Christenthum« in seinen letzten Schriften – gemeint war vor allem Also sprach Zarathustra – sicher zu erwarten sei, mehr als dies: Er, Nietzsche, möge sich doch durch diese Absage nicht davon abhalten lassen, seine »Ansichten über Griechen und griehischei Cultur in etwas zusammenhängender Form zu Papier […] zu bringen.« (KGB III 2: 389) In Übersetzung gesprochen: Nietzsche solle endlich lernen, was jedem Durchschnitts-Doktoranden auch aufgetragen wird, nämlich sich verständlich auszudrücken, systematisch zu argumentieren und mit der gebührenden Bescheidenheit und unter Konzentration auf einen ihm vom Werdegang her vertrauten Gegenstandsbereich, was im Fall Nietzsche nur die griechische Antike sein konnte. Heinze – um auch dies zu übersetzen –, seines Zeichens ausgerechnet Philosophiehistoriker, hatte schlicht vorgeführt, wie man noch 1883 mit einem Eindringling aus fremdem Lager umgehen konnte, von dem nur zehn Jahre später Hugo Kaatz meinte, dass man kaum mehr einem Aufsatz begegne, der das philosophische Gebiet auch nur streife, ohne mit dem Namen Nietzsche konfrontiert zu werden (vgl. Kr I: 241) – möglicherweise Anlass genug für Heinze, seinerseits die Seiten zu wechseln und später bis zu seinem Tod (1909) im Vorstand der Stiftung Nietzsche-Archiv zu agieren (in welcher Funktion ihn 1910 der Düringer-Kontrahent Richard M. Meyer beerbte; vgl. Fiebig 2012: 150). So gesehen könnte man die Dissertation Webers gleichfalls als Zeichen für ein Umdenken Heinzes in Sachen Nietzsche deuten – dies allerdings nur in gleichsam formaler Hinsicht. Inhaltlich nämlich verlief alles in den alten, 1883 von Heinze markierten Bahnen: Vom gotteslästerlichen Nietzsche der Zarathustra-Zeit ist bei Weber nicht die Rede, nur von Wagners Nietzsche sowie, über viele Seiten hinweg, über den Nietzsche der Bildungsvorträge von 1872, dies selbstredend unter Beiseitesetzung der Distanzierung Nietzsches von diesem Text. (vgl. Niemeyer 2011: 90 f.) Auch Webers Pointe hat es in sich:

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Das fängt ja gut an: Nietzsche, der Held der Avantgarde

»Die moderne künstlerisch-pädagogische Bewegung darf den jungen Nietzsche […] zu einem ihrer energischsten Vorläufer und leidenschaftlichsten Propheten zählen.« (Weber 1907: 163)

Nietzsche war damit gleichsam mitten im Herz der Reformpädagogik angekommen. Zwar schloss sich die Pädagogik in der Folge keineswegs dieser Einordnung oder auch nur Webers Nietzschebegeisterung an. Immerhin aber griff nun das Einvernehmen, es genüge, »die Stellung des jungen Nietzsche zu den Fragen der Erziehung und Bildung darzulegen« (Stein 1910: 74), und zwar im Nachgang zu der Ansicht, Nietzsches Geburt der Tragödie enthalte »das Grundmotiv des ganzen Nietzscheschen Philosophierens.« (Gramzow 1906: 542; ähnlich Behn 1928: 324) Dem korrespondierte ein rezeptionstechnisches Signal, dem zwei Botschaften innewohnten. Die eine ging nach hinten und in ihr stand geschrieben, dass Rudolf Lehmann (1901: 128) recht gehabt habe und allein das Frühwerk akzeptabel sei und vor allem den »Pädagogen Nietzsche« (Weber 1907: 151) zur Sichtbarkeit brächte. Die dahinter verborgene Erwartung lautete, die seit Jahren gegen die pädagogischen Aspekte des Spätwerks vorgetragenen Einwände – etwa: Nietzsche predige die »Freiheit der wilden bestialischen Selbstsucht« (Schädel 1904: 215) – ließen sich damit gleichsam als a-thematisch beiseitesetzen. (vgl. Weber 1907: 157) Die andere Botschaft Webers ging, wenn man so sagen darf, nach vorn und sollte Einwänden vorbeugen, wie sie vier Jahre später Thodor Jonkoff in seiner Dissertation Nietzsches Idee vom Übermenschen als Erziehungsideal vortrug. Jonkoff nämlich nahm an Webers Argumentationsstrategie Anstoß und beharrte auf der pädagogischen Bedeutung von Nietzsches mittlerer und später Phase (vgl. Jonkoff 1911: 9 f.) – weitgehend erfolglos allerdings: Dominant blieb in der pädagogischen Rezeption die von Weber ausführlich exemplifizierte Wertschätzung des frühen Nietzsche. Dass man damit im hier thematischen Untersuchungszeitraum erfolgreich war, sei damit allerdings nicht gesagt, will sagen: Weiterhin blieb der mittlere sowie späte Nietzsche zumal für die young hearts unter den Nietzschelesern attraktiver als der frühe – mit entsprechend fatalen Folgen für das Nietzschebild der Älteren. Ein Beispiel offerierte die Erinnerung des im Jahre 1914 durch Nietzschelektüre in seiner »Rebellion gegen die Vaterwelt« bekräftigten österreichischen Schriftstellers Ernst Fischer (Jg. 1899) an einen anderen Halbwüchsigen, der einen Raubüberfall auf die eigene Tante 307 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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verübt hatte und bei dessen Verhör vor dem Landgericht Fischer gefragt worden sei, ob er dem Angeklagten »die zynische Auffassung des Jenseits von Gut und Böse beigebracht« (zit. n. Kr I: 701) habe. Ein weiteres Beispiel, diesmal anknüpfend an der zeitgenössischen Schülerselbstmorddebatte. Für seriöse Diskutanten war das Stichwort ›Nietzsche‹ zumindest kein herausragendes Thema in diesem Kontext, im Gegenteil: Albert Eulenburg, der das gesamte Aktenmaterial der preußischen Unterrichtsverwaltung ausgewertet hatte und darüber 1907 berichtete, ermittelte bei 1152 Schülerselbstmorden (zwischen 1880 und 1903) in über einem Drittel der Fälle »Furcht vor Strafe« (Eulenburg 1907: 10) als Hauptursache. Nur im Fall eines einzigen Selbstmordversuchs wurde von einem Arzt der Ursachenkomplex »unverdaute Lektüre philosophischer Schriften (Schopenhauer und Nietzsche) und die daraus entspringende Neigung zum Pessimismus« genannt, aber nur für ein Begleitphänomen, nämlich für die vom Arzt diagnostizierte »geistige Erkrankung« – eine Diagnose, die Eulenburg unter der Kategorie »Verwechslung von Ursache und Wirkung« (ebd.: 13) zurückwies. Im Ergebnis stand für ihn außer Frage, dass Lehrer und Eltern zur »liebevolle[n] Versenkung in die individuelle Eigenart des Zöglings« aufzufordern seien, damit die Kinder nicht »die großen Unbekannten« blieben und die »schmähliche Tributzahlung jugendlicher Menschenleben als Opfer unserer gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung« (ebd.: 31) ein Ende fände. Dies war an sich deutlich – aber wegen der reformpädagogischen Kontextualisierbarkeit dieser Forderung für den pädagogischen Mainstream durchaus unerwünscht. Entsprechend behauptete K. J. Neumann nur drei Jahre nach Eulenburgs aufrüttelnder Studie ungerührt: Wie gefährlich Nietzsche »seit Jahren unserer Jugend geworden ist, davon wissen unsere Psychiater, unsere Ärzte zu berichten.« (Neumann 1910: 249) Andere Nietzschegegner wussten wenig später noch ganz anderes zu berichten: Der Selbstmord eines Leipziger Oberprimaners, so tönte beispielsweise Theodor Fritsch 1911 im Zuge seiner politisch motivierten Kampagne gegen Nietzsche (vgl. Niemeyer 2011: 56 ff.), sei Folge von Nietzsches Denken, das »unmännlich« sei und »weibisch kokett.« (Fritsch 1911: 113) Damit stand Nietzsche als jugendgefährdender Autor wieder im Fokus, dies nicht zuletzt auch wegen eines als Duell getarnten Doppelselbstmordversuchs in Rudolstadt mit dem nach 1945 zumal in der DDR unter dem Pseudonym ›Hans Fallada‹ berühmt gewordenen Volks308 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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schriftsteller als einem der Beteiligten. (vgl. Niemeyer 2007a: 5 f.) Ihn sahen Reformkräfte veranlasst durch die offiziell im Übermaß geforderte Schullektüre in Richtung »Klopstock und Co.«. Allerdings konnten sie nicht ausschließen, dass Schüler, die sich als »Kinder der Zeit« auszulegen suchten, dadurch erst recht in die – pädagogisch dann unkontrollierbare – Privatlektüre von Schriften der »drei ›Jugendverderber‹ Nietzsche, Schopenhauer und Oscar Wilde« (Ilgenstein 1911: 1159 f.) hineingetrieben würden. Das Thema selbst – Nietzsche als Katalysator pubertätstypischer Welt- und Daseinsfluchtmotive – war damit nicht mehr zu unterlaufen. Otto Ernst zog entsprechend die – zu dieser Zeit durchaus nicht mehr neue – Konsequenz, Nietzsche, der »die Seele unseres Volkes, vor allem seiner Jugend, in steigendem Maße zu vergiften droht« (Ernst 1914: III), gar nicht mehr oder jedenfalls nicht unkontrolliert der Lektüre Jugendlicher zu überlassen: »Wer die Jugend liebt, der wird ihr […] den Nietzsche gewiß nicht geben, der ein Schriftsteller für 30-, für 40jährige ist: er wird es so wenig tun, wie man einem Kinde Rum gibt.« (ebd.: 134)

Zeitgleich schienen zwar neue Zeiten anzubrechen im Umfeld des ›Meißnerfests‹ der Freideutschen Jugend vom Oktober 1913 und der hier verabschiedeten ›Meißnerformel‹. Sie hat zum Inhalt, dass die Freideutsche Jugend »aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten will.« (zit. n. Niemeyer 2013: 139) Des hierin ausgesprochenen, auf Nietzsche rekurrierenden Selbsterziehungsanpruchs wegen war die Meißnerformel vor allem auf Seiten des linken Spektrums der Jugendbewegung beliebt. Tatsächlich aber hatte das Meißnerfest selbst hiermit wenig im Sinn, ebenso wenig wie mit Nietzsche. Eher schon dominierte der Bezug auf Fichte (vgl. Lütkens 1924: 49) sowie, vom Kunstwart-Herausgeber Ferdinand Avenarius protegiert, Namen wie Wilhelm Raabe, Julius Langbehn und Ludwig Richter, und dies getragen von der Absicht, »gleichsam in deren Namen der Freude des Alters« (Mittelstraß 1913: 459) Ausdruck zu verleihen über diese Jugend. Und so konnte denn auch Ludwig Gurlitt im Mai 1914, wie einleitend dieses Kapitels angedeutet, nur voll Bitterkeit resümieren: »Friedrich Nietzsche […] wird von seiten der Berufserzieher in Schule und Kirche noch heute wie ein gefährliches Subjekt behandelt, vor dem man die Jugend sorgsam zu warnen habe.«

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Es klang schon fast hilflos-trotzig, wenn Gurlitt dem noch folgen ließ: »Es ist Nietzsches Großtat, daß seit ihm die Welt wieder voller neuer Hoffnungen voll ist, daß wir heute ›ja‹ zum Leben sagen. Schon manchen Selbstmordkandidaten hat er vom Nein zum Ja geführt.« (Gurlitt 1914: 131, 134)

Wenige Wochen, nachdem dies veröffentlicht worden war, sagte man mehrheitlich ›Ja‹ zum Krieg und wurde vielerorts entsprechend nachdenklich über das ›Nein‹, mit dem man Nietzsche versehen hatte. Unter gütiger Mithilfe von Nietzsches Schwester nahm nun die Deutschsprechung Nietzsches und seine Indienststellung als Kriegsphilosoph Fahrt auf. (vgl. Aschheim 1996: 130 ff.; Niemeyer 2002: 85 ff.; 2011: 137 ff.) Damit war der Diskurs um Nietzsche, den Jugendverführer, an ein Ende gekommen oder, genauer gesprochen: er wurde vorerst außer Kraft gesetzt. Denn das Thema selbst war nicht tot, es war nur vorübergehend inopportun geworden, brauchte man nun doch ein anderes Nietzschebild und eine durch Nietzsche zu kriegerischen Höchstleistungen motivierbare Jugend. Theodor Fritsch beispielsweise, der Nietzsche für viel zu kosmopolitisch hielt, um ihn als dezidiert deutschen Kriegsideologen aufbereiten zu können, hatte zumindest insoweit die Sache erfasst, als er im Januar 1915 – unter Pseudonym – schrieb: »Die Nietzsche-Krankheit hat seit Jahrzehnten wie ein Alb auf den Seelen unserer gebildeten Jugend gelastet und manche herrliche Blüte geknickt. Es ist Zeit, daß wir uns von ihr befreien.« (Roderich-Stoltheim 1915: 3)

Nur Einzelne beanstandeten den in der Logik dieses Gedankens liegenden skrupellosen Austausch zentraler Prämissen der NietzscheDeutung. Julius Bap beispielsweise erinnerte Ende 1914 vor dem Hintergrund des mit Nietzsche sich nun abzeichnenden ideologischen Missbrauchs als Kriegsphilosoph an den »ganz anderen, vollkommen entgegengesetzten Mißbrauch« vor dem Krieg, als »in jedem besseren Mordprozeß in Deutschland der Untersuchungsrichter den Angeklagten voll schneidiger Verachtung fragte: Er habe wohl Nietzsche gelesen?« (Bap 1914: 872) Genau besehen war dieser Missbrauch allerdings normal für einen Diskurs wie den hier Geschilderten, bei dem nur ganz am Anfang nach der Sache Nietzsches gefragt wurde, ehe die Frage dominierte, wie sich der den eigentlichen Absichten förderliche Nietzsche in Kurs und der diesen hinderliche Nietzsche außer Kraft setzen lasse. Auch die 1910/11 von Förster-Nietzsche mittels des Streits um den 310 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche, der Kriegsphilosoph

Ankauf von Nietzsche-Briefen (vgl. Fiebig 2009; 2012: 154 ff.) ins Werk gesetzte Vertreibung des Düringer-Antipoden Richard M. Meyer aus dem Vorstand der Stiftung Nietzsche-Archiv gehorchte diesem Mechanismus, nun in der Variante, dass man unsichere Kantonisten, Juden (wie Meyer) zumal, nun nicht mehr gebrauchen konnte. Förster-Nietzsche ließ denn auch in der Causa Meyer zumindest ihrem (gleichgesinnten) Vetter Adalbert Oehler gegenüber brieflich am 11. Februar 1911 das Visier herunter: »Juden in der Art von Meyer […] verstehen es falsch, wenn sie sehr höflich behandelt werden.« (zit. n. Fiebig 2012: 179) Dies war schon der Vorschein einer neuen Zeit, die nicht mehr jene Nietzsches war – ein Satz, der die Folgefrage nahelegt, ob dem ab August 1914 womöglich anders war.

2. Nietzsche, der Kriegsphilosoph Die knappste Antwort auf die eben gestellte Frage lautet: Nein! – es sei denn, man behauptete, wie Jochen Schmidt, der »durchgehende Gestus« in Nietzsches Schriften sei »der des Zerstörens« (Schmidt 1985: 130), mehr als dies: Nietzsche bekämpfe leidenschaftlich die »Ideen von 1789«, predige »einen gewalttätigen Aristokratismus«, priese »›Führer‹ und ›Befehlshaber‹, Privilegien und unterdrückerische Machtausübung« (ebd.: 135), kurz: sei, als unverbesserlicher Bellizist, auch schuld am Ersten Weltkrieg. Indes: Diese These lässt sich nicht belegen, im Gegensatz zu der anderen, auf aktive Konstruktion des Bellizisten Nietzsche abstellenden, womöglich »weltweit« einem »Einschnitt in der historischen Genese des NietzscheBildes« (Steilberg 1996: 116) gleichkommenden: Nietzsche, den wir eben noch ›Jugendverführer‹ kennengelernt haben, galt nun bei Freund wie Feind als »Philosoph des Ersten Weltkrieges«. (Zapata Galindo 1995: 65) Für diese These gibt es gleichsam müde Belege, etwa den Umstand, dass für den Verkauf der achtzehnbändigen englischen Nietzsche-Ausgabe mit dem Reklamesatz geworben wurde: »›Der Mann, der den Krieg gemacht hat.‹« (zit. n. Riedel 1997: 45) Es gibt aber auch etwas ernster zu nehmende Zeugnisse, wie etwa den Sachverhalt, dass der Soziologe Werner Sombart das im Ausland aufgekommene Urteil, der Krieg von 1914 sei der »Krieg Nietzsches« (Sombart 1915: 53), durch sein Nietzschebild festigte. Und es gibt – drittens – den nicht unbegründeten Verdacht, Nietzsche sei durch seine 311 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Schwester in einer Weise aufbereitet worden, die der Kriegsbegeisterung der Jugend ebenso fördernd entgegenkam wie der anhebenden Nietzschebegeisterung vieler Pädagogen. So ist ihren diversen Nietzschebiographien zu danken, dass schon in der Vorkriegszeit hier und da des »jungen Nietzsche große nationale Begeisterung« gerühmt und als ›Beweis‹ angefügt wurde, er habe 1870 »seine Gesundheit dem deutschen Vaterlande [geopfert].« (Stein 1910: 98) Diese Auffassung entsprach gänzlich den Bemühungen Förster-Nietzsches, die Krankheit ihres Bruders möglichst harmlos zu erklären und, im Idealfall, mit patriotischer Weihe zu versehen. Zur Hauptsache, nämlich zur Erklärung seiner Lehre als ›kriegstauglich‹, schritt sie in der Einleitung zum ersten Teil von Nietzsches angeblichem Hauptwerk Der Wille zur Macht. Aus ihm extrahierte Hermann Itschner (1914: 493) in einem unmittelbar nach Kriegsausbruch erschienenen Aufsatz voller Begeisterung die Hauptbotschaft – der ›Wille zur Macht‹ als Nietzsches Quintessenz aus seinem Kriegserlebnis. Dem aufmerksamen Leser hätte diese Botschaft schon seit 1904 (vgl. Förster-Nietzsche 1904: 682 f.) sowie aufgrund des 1912 erschienenen Buches Der junge Nietzsche (vgl. Förster-Nietzsche 1912: 267 f.) bekannt sein müssen (vgl. auch Aschheim 1996: 145). Erneut hätte er auf sie treffen können in zwei im September 1914 erschienenen Zeitungsartikeln Förster-Nietzsches (vgl. Kr I: 571 f.), in denen sie Vorabdrucke ihrer 1915 veröffentlichten Monographie Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft präsentierte. In diesem Buch suggerierte sie mittels einer neuen, nun deutlich dem Kriegsgeschehen Tribut zollenden Erzählvariante, Nietzsche habe die ersten Eindrücke für sein angebliches Hauptwerk aus seiner Tätigkeit als Sanitätshelfer empfangen und sie darüber nicht im Unklaren gelassen: »Er selbst hat es mir erzählt, daß eines Tages […] er verschiedene Regimenter unsers wundervollen deutschen Heeres vorüberstürmen sieht, der Schlacht, dem Tod entgegen […], vollständig der Ausdruck einer Rasse, die siegen, herrschen oder untergehen will. Damals hätte er zuerst aufs tiefste empfunden, daß der stärkste und höchste Wille zum Leben nicht in einem kümmerlichen Ringen ums Dasein zum Ausdruck kommt, sondern als Wille zum Kampf, als Wille zur Macht und zur Übermacht.« (Förster-Nietzsche 1915: 61 f.)

Diese Anekdote festigte Förster-Nietzsches Ruf, nichts unterlassen zu haben, »um den Deutschen dieser Tage einen Nietzsche zu bauen, an

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dem sie Wohlgefallen haben.« (Pfemfert 1915: 320) Die kriegsbegeisterten Nietzscherezipienten des Kaiserreichs waren jedenfalls begeistert und meinten nun den kosmopolitischen Nietzsche der »Caféhausliteraten« (Sombart 1915: 109) endgültig gegen den »Philosophen des Militarismus« (Verweyen 1916: 30) eintauschen zu dürfen. Tatsächlich aber findet man in Nietzsches Nachkriegsschriften nichts, was als Nachklang des von Förster-Nietzsche unterstellten Fronterlebnisses zu deuten wäre. Auch Nietzsches Kriegserlebnisse (vgl. Gamm 1998: 122 f.) sprechen eher gegen die These der Schwester. Den einzigen Trumpf, den sie für sich verbuchen konnte, ist die politische Haltung, die Nietzsche damals, unter Wagnereinfluss, einnahm. Aber das, was dem nachfolgte, war unmissverständlich – und nötigte Förster-Nietzsche dazu, erneut ihre Fälschungswerkstatt aufzusuchen. Besonders pikant war für sie ihres Bruders Notiz vom Herbst 1887, dass den »Deutschen von Heute«, weil sie »keine Denker« mehr seien, der ›Wille zur Macht‹ »schwer verständlich« (XII: 450) sei. Förster-Nietzsche tat das, was ihr nahelag: Sie ersetzte diesen Passus durch die von ihr stammende Formulierung: »›Der Wille zur Macht als Princip wäre ihm (dem Kaiser) schon verständlich.‹« (XIV: 743)

Den Umstand, dass es sich hier um eine Fälschung handelte, kaschierte sie unter Rückgriff auf eine von ihr mehrfach genutzte Strategie: Sei schrieb sich einfach selbst, unter dem Datum »Ende Oktober 1888« (GB V/2: 799) und mit der Unterschrift »Dein Bruder, jetzt ein ganz großes Thier« (ebd.: 802) einen langen Brief, der exakt diese Formulierung enthielt. Dass dies Wirkung zeigte und über Jahrzehnte unentdeckt blieb, zeigt das Beispiel Georg Lukács, der noch während des Zweiten Weltkrieges als Skandal herausstellte, wie »entschieden Nietzsche mit dem neuen Kaiser sympathisierte.« (Lukács 1943: 195) Dass derlei Indienstnahme keinen Schaden nähme – dafür hatte Förster-Nietzsche auch mit anderen Maßgaben gesorgt, wobei ihr allerdings so manches Problem im Wege stand. So hätte sie beispielsweise Nietzsches Rede von ›großer Politik‹ (VI: 366) – aus Ecce homo – interessieren können, zumal Nietzsche ein dazugehörendes, dann von ihm allerdings verworfenes Nachlassfragment von 1888/89 mit dem scheinbar unmissverständlichen Satz überschrieben hatte: »Ich bringe den Krieg.« (XIII: 637) Freilich: Schon der Folgesatz (»Nicht 313 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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zwischen Volk und Volk«) brachte eine Differenzierung, an der Förster-Nietzsche ebenso wenig gelegen war wie am Ecce homo insgesamt. Was sie schließlich, am Ende eines schon im Detail geschilderten Fälschungsprozesses (Vgl. Kap. XIII, Dritter Akt) dem Publikum präsentierte, war eine von ihr in wichtigen Details gesäuberte und umgeschriebene Variante. Auf diese Weise wurde dem Leser Nietzsches Bemerkung von 1888 vorenthalten, er würde Wilhelm II. noch nicht einmal die Ehre zugestehen, sein »Kutscher zu sein.« (VI: 268) Diese Verbalinjurie, über die selbst noch die ›Schlechtaausgabe‹ von 1955 nicht in Kenntnis setzt, dürfte die Brandspuren auf dem Originalmanuskript ebenso erklären wie den von Förster-Nietzsche stammenden Vermerk: »ein Ausdruck der in dem Blatt vorkam, das unsere Mutter wegen Majestätsbeleidigung verbrannte.« (XIV: 774) Damit aber noch nicht genug: Förster-Nietzsche behielt auch Nietzsches ›letzte Erwägung‹ von 1888/89 für sich, die endgültig hätte klarstellen können, worum es ihm bei seiner Rede von der ›großen Politik‹ gerade nicht ging (vgl. Ottmann 1999: 442). Unbekannt blieb auf diese Weise Nietzsches Auffassung, dass Europa, damit »das Haus von Narren und Verbrechern sich obenauf fühlt«, die »hirnverbranntesten Kriege« geführt habe, die je geführt worden seien. Die Konsequenz, die Nietzsche zog, war unmissverständlich: »Zuletzt können wir selbst der Kriege entrathen; eine richtige Meinung genügte unter Umständen schon.«

Sowie: Es gelte, wirksamere Mittel in Betracht zu ziehen, um »die Physiologie zu Ehren zu bringen als durch Lazarethe«, er, Nietzsche, wüsste jedenfalls »einen besseren Gebrauch von den 12 Milliarden zu machen, die der ›bewaffnete Friede‹ heute Europa kostet.« (XIII: 644) Besser hätte dies Walter Hammer, ein Pazifist aus dem Umfeld der Jugendbewegung (vgl. Niemeyer 2013: 92 f.), nicht formulieren können. Alfred Baeumler hingegen, sich gänzlich Förster-Nietzsche unterwerfend, meinte sagen zu dürfen, der Pazifismus gehöre für Nietzsche zu den »Herdenthier-Idealen«, allgemeiner gesprochen: Nietzsche habe »den Nachdruck immer mehr auf den geistigen Kampf um die Macht verlegt […]. Sollten dabei blutige Kriege entstehen, so schreckt Nietzsche vor ihrer Rechtfertigung nicht zurück.« (Baeumler 1931: 172). Wer, wie Ernst Nolte (1963) und teilweise auch Rüdiger Safranski (2000: 351) sowie Jochen Schmidt (2016), den Textzurechtlegungen Baeumlers wie Förster-Nietzsches aufsitzt, wenn 314 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche, der Kriegsphilosoph

nicht gar – vor dem Hintergrund einer inzwischen verbesserten Quellenlage – ihnen wissentlich und insoweit in theoriepolitischer Absicht weiterhin Tribut zollt (vgl. Nolte 1990: 194 f.), hat denn auch keine Probleme, den »Vernichtungsgedanken zum Zentrum von Nietzsches Spätphilosophie« (Nolte 1963: 533) zu erklären. Was die Genannten nicht sehen oder sehen wollen: FörsterNietzsche hat ihres Bruders Rede von der ›großen Politik‹ nur in verstümmelter Form zu Gehör gebracht, und sie hat es auch zu verantworten, dass der Kriegsausgabe des Zarathustra von ihr zusammengeklaubte Worte ihres Bruders »für Krieg und Frieden« vorangestellt wurden, die in dem Satz gipfeln: »›Wer wird etwas Großes erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in sich spürt, große Schmerzen zuzufügen?‹« (zit. n. Förster-Nietzsche 1918: V)

Dass dies mit dem, was Nietzsche mit dem Zarathustra beabsichtigte, nichts mehr zu tun hat (vgl. auch Riedel 1997: 42), braucht wohl kaum noch gesagt zu werden. Gleichwohl: Was den Ersten Weltkrieg angeht, ging FörsterNietzsches Saat auf. Neuer Aufmerksamkeit konnte sich nun die erstmals von Arthur Moeller van den Bruck (1906: 248 ff.) angedeutete Auffassung auch und zumal in Pädagogenkreisen sicher sein, dass »der viel verkannte und verlästerte ›Uebermensch‹ […] durchaus deutsche Züge [trägt].« (Messer 1914: 2). Auch Max Brahn meinte, Nietzsche sei ein Philosoph gewesen, an dem »sich die deutsche Jugend gern Kraft und Pflichtgefühl holt.« (Brahn 1915: 8) Zwei Jahre später deklarierte Herrmann Itschner in Teil IV seiner Unterrichtslehre: »Deutsche, die auf Nietzsche getauft sind, sind darin einig, daß der Wille zur Macht sich in der Geisterschlacht bewähren müsse als innere Bereitschaft, Zucht, Wohlgeratenheit, Vornehmheit des Leibes und der Seele.« (zit. n. Kr I: 635)

Die gleichsam endgültige Heiligsprechung Nietzsches als Jugendbildner nahm der Gymnasiallehrer Richard Müller-Freienfels vor. Er rief gegen die weltfremden Ästheten – gemeint sind die im vorhergehenden Abschnitt erwähnten ›Stürmer und Dränger der Neunzigerjahre‹ – das seiner Meinung nach innerste Wesen der Philosophie Nietzsches in Erinnerung:

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»Dieses ist der ›Wille zur Macht‹, die Bejahung des Lebens, auch des Leidens, die Liebe zum dionysischen Rausch.« (Müller-Freienfels 1917: 465 f.)

Dass hier auch von der Bejahung des Leidens die Rede ist, zeigt schon: Nietzsche ist nun Labsal gleichsam für alle Fälle, also auch angesichts des zunehmend ungünstigeren Kriegsverlaufs. In diese Richtung weist auch Karl Streckers Kommentar: »[W]elch stärkerer Hauch könnte uns von den unzähligen Grabhügeln unserer gefallenen Jugend kommen, als das Wort des Zarathustra: ›Nur, wo Gräber sind, sind auch Auferstehungen.‹« (Strecker 1916/17: 613)

Insoweit lief, aus Perspektive Förster-Nietzsches, alles wie geschmiert – abgesehen von dem einst von Nietzsche verhöhnten militanten Antisemiten Theodor Fritsch (vgl. Kap. XIII), der 1915 unter Pseudonym Nietzsche als »deutschen National-Heiligen« zu demontieren und durch Lagarde zu ersetzen suchte. (vgl. Roderich-Stoltheim 1915: 3)

3. Nietzsche in Weimar Die Weimarer Pädagogik – hier nicht als Begriff, sondern nur als Sammelname gemeint – zeugt für den Versuch, das teilweise auch der Kriegsursachen wegen radikalisierte reformpädagogische Programm mit dem noch verbliebenen Personal nun erst recht umzusetzen, etwa in der Linie des Ausrufs eines Studienrats aus dem Jahre 1921: »Gelähmt durch das Entsetzen des langen, fruchtlosen Krieges standen wir wieder auf den Kathedern. Was hatte uns all unser Fleiß und unsere Wissenschaft, auf die wir so stolz waren, genützt? Nichts!« (Schmidt-Barlen 1921: 64) In der Folge erklärte dieser Schulpraktiker seinen Übertritt zur Reformpädagogik, ein Vorgang, der offenbar nicht vereinzelt vorkam, wenn man Ernst Linde (1922: III) trauen darf. Was Nietzsche angeht, meinte dies, dass man ihm nun nicht mehr so sehr, wie noch im Kaiserreich beobachtbar, die großen Motive und plakativen Gegenentwürfe abgewann. Viel eher ging es darum, ihn einer Ausdeutung zuzuführen, der auch Gestaltungsmacht innewohnte für eine Epoche, die sich ihrer Gestaltbarkeit nicht länger widersetzte. Daraus folgt allerdings nicht, es sei unverzüglich zu einer breiten Akzeptanz Nietzsches aus fachpädagogischer Sicht gekommen. So hatte Martin Havenstein durchaus seine Gründe, in der Festschrift zum 75. Geburtstag von Elisabeth Förster-Nietzsche zu monieren, 316 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche in Weimar

wie wenig sich die deutsche Erziehungswissenschaft bisher um Nietzsche gekümmert habe. (vgl. Havenstein 1921: 93) Kurze Zeit später legte er seine Studie Nietzsche als Erzieher vor, in der Nietzsche als ›geistiges Radium‹ (Havenstein 1922) angepriesen wurde, dessen strahlende Energie wahre Wunder wirke und trotzdem in Jahrtausenden nicht ermatte. Derlei hoffnungsstarke Verlautbarungen waren deutlich noch gezeichnet vom Weltkriegsschock – eine Grundstimmung, die vielen den Zugang zu Nietzsche auf ganz neue Weise erschloss, weil es schien, als habe er dieses Gleichnis für den Niedergang des materialistischen Zeitalters vorausgesehen und als verberge sich in seinem Werk eine endlich zu beachtende Lösung für eine Zeit, die ansonsten unweigerlich in den Abgrund führe. Entsprechend dieser Vorzeichen wurde Nietzsche zumal von Nietzscheanern aus dem Umfeld des Weimarer Nietzsche-Archivs als Hoffnungsträger für den »Wiederaufbau des Lebens« sowie eines »starken Gebäudes der Kultur« (Oehler 1921: 129) angeboten. Von hier aus schien die Frage nahe zu liegen, ob Nietzsche, dieser ›Philosoph des Umsturzes‹, nicht doch »ein Vorbild für unsere heranwachsende Generation sein könne« (Lindemann 1924: 40). Wenn diese Frage von Pädagogen bejaht wurde, dann in der Regel unter Verweis auf Nietzsches Laufbahn und den sich in der Hartnäckigkeit seines Strebens bezeugende Glaube an »die Willensfreiheit und an positive Willensziele« (Schnitzler 1926: 69). Aus Sicht der Theorie blieb Nietzsche allerdings für die Mehrheit weiterhin ein »vorwiegend negativ gerichteter Geist«, der nicht »richtunggebend« werden könne »für die Gestaltung unseres Bildungswesens« (Stoeckert 1926: 222). Dieser Einwand spiegelt die Sorge, Nietzsche könne, wenn man nicht beharrlich interveniere, unversehens doch noch in Betracht gezogen werden. Denn eine 1924 vorgelegte Denkschrift des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung über die Neuordnung des höheren Schulwesens hatte immerhin ausdrücklich die Lektüre einiger Werke Nietzsches, etwa für den Philosophieunterricht, anempfohlen. Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass Nietzsche Mitte der Zwanziger Jahre den »Gipfel seines Ruhms« (Steding 1938: 55) erreicht hatte. Die rezeptionstechnischen Rituale freilich blieben weitgehend dieselben: Die gemäßigten Praktiker rekurrierten auf Nietzsches Bildungsvorträge und deren Relevanz für den »Kampf gegen den Pseudo-Geist unserer Bildungsanstalten« (Eisinger 1926: 138). Der wissenschaftliche Mainstream hingegen verwahrte sich gegen Nietzsche, etwa unter Verweis darauf, dass schließlich er es 317 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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gewesen sei, der dem ›verwegen-ehrlichen‹ Ausspruch Stendhals, Eltern und Lehrer seien »nos ennemis naturels« (II: 668), zu unverdienter Popularität verholfen habe (vgl. Schnitzler 1926: 81). Demselben Zweck diente die Rückerinnerung an »die brutalen Machtworte Zarathustras: ›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹, die als Beleg dafür genommen wurden, dass Nietzsche mit der »Autonomie der erziehungsbedürftigen Person gegenüber den Erziehern […] auch ihre Autonomie gegenüber den Grundsätzen« proklamiere (ebd.). Ähnliche Reflexe zeigte die reformpädagogische Gegenseite: Sie mobilisierte erneut die Rede vom Erzieher als Befreier und erinnerte an das Nietzschewort, wonach das »Geheimniss aller Bildung« wesentlich in der »Wegräumung allen Unkrauts« sowie in der »Ausströmung von Licht und Wärme« (I: 341) gründe. (vgl. etwa Zimmer 1929: 882) Gleichwohl ging nicht alles seinen gewohnten Gang, zumal die Erinnerung wach gehalten wurde an jene, die »1915 bei Langemark singend in den Tod gingen und die in ihrem Tornister neben Goethes ›Faust‹ auch Nietzsches ›Zarathustra‹ hatten mit dem tapferen Kapitel ›Vom Krieg und Kriegsvolke‹.« (Zimmer 1929: 883) Denn auch wenn dies nur ein Mythos war (vgl. Niemeyer 2013: 86 f.): Er blieb wirkmächtig und verhinderte, dass sich ein Nietzschebild durchsetzen konnte, das den anderen Nietzsche, den Europäer und Weltbürger, betonte. Dies erklärt wohl auch die Kritik an so manchem Nietzscheverriss der Vorkriegszeit. Der Kinderbuchautor Otto Ernst musste sich nun beispielsweise sagen lassen, dass seine »feindselige Appelschnut-Behaglichkeit gegen den Heroismus Nietzsches« (Zimmer 1929: 883) geradezu peinlich wirke. Dass Nietzsche kein ›Verzärtler‹ gewesen war, stand insoweit nach dem Weltkriegsfiasko und der motivbildenden Kraft, die die Walter-Flex-Generation aus dem Zarathustra bezogen hatte, außer Frage – dies jedenfalls aus Männersicht. Denn es gab durchaus Frauen, die nach dem Fiasko des Heroischen, das sich in dieser ›männlichen‹ Nietzscheauslegung gleichsam verdoppelte, einen neuen Blick auf das sich in Nietzsche verbergende ›weibliche Element‹ warfen (vgl. etwa Kühn 1928). Allerdings blieb diese Sicht auf Nietzsche ebenso umstritten wie die Frage, ob es gelingen könne, Nietzsche wieder als Kosmopoliten auch für die Pädagogik in Anspruch zu nehmen. Gegen diese Auffassung standen jene, die Nietzsches Deutschtumskritik als Reaktionsbildung auf seine persönliche Zurücksetzung durch die Deutschen meinten exkulpieren zu dürfen. Ihnen lag denn auch die Meinung 318 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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nahe, dass Nietzsche, wenn er den »Weltkrieg und die deutsche Notzeit noch erlebt hätte […], zur deutschen Vaterlandsliebe zurückgefunden hätte.« (Kötzschke 1932: 96) Andere hingegen wollten davon nichts wissen und waren der Meinung, dass die Haltung des Kosmopoliten tatsächlich die Nietzsche angemessene gewesen sei. Zu diesem Zweck hilfreich war Nietzsches Nachlass vom Frühjahr 1884, in dem sich der Satz findet: »›Deutschland, Deutschland über Alles‹ – ist vielleicht die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist.« (XI: 77) Vielen war dies hinreichender Anlass, Nietzsche als »deutschen Republikaner« sowie »Europäer« und »Weltbürger« respektive als »Propheten der Revolution und des Völkerbundes« (Zimmer 1929: 880) zu feiern. Mit dieser Deutungsperspektive, die wenig später auch für die Abwehr der ersten nationalsozialistischen Nietzscheinstrumentalisierungen genutzt wurde (vgl. Albert 1930: 354), sollte vor allem der politischen Linken unter den Reformpädagogen der Rückgriff auf Nietzsche ermöglicht werden. Eine neue Nachdenklichkeit in Sachen Nietzsche offenbarte sich auch auf Hochschullehrerebene, wo es zum Generationenwechsel kam, der dafür sorgte, dass sich zunehmend die Spuren eines Nietzsche gegenüber grundsätzlich sperrig verhaltenden Denkens verwischten zugunsten einer Haltung, die Nietzsche und den reformpädagogischen Ideen jedenfalls nicht abträglich war. Peter Petersen beispielsweise, ab 1923 Professor für Erziehungswissenschaft in Jena, suchte Nietzsche als einen »unerschrockenen gewaltigen Ringer um eine neue Kultur« (Petersen 1919: 312) zu rehabilitieren. Theodor Litt, seit 1919 Professor für Philosophie und Pädagogik in Bonn – zwischenzeitlich Leipzig –, näherte sich dem Historismus- und Moralkritiker Nietzsche zwar lebenslang nur mit großer Skepsis, erkannte aber immerhin an, dass die »treffendste Kritik« (Litt 1930a: 184) der historischen Bildung in Nietzsche Historienschrift verborgen sei, genauer: in Nietzsches Infragestellung der gängigen Vorstellung, der junge Mensch habe »mit einem Wissen um die Bildung«, nicht aber mit einem solchen »um das Leben« (ebd.: 185) zu beginnen. Andere Vertreter des sich neu etablierenden pädagogischen Establishments gingen noch darüber hinaus und versuchten, Nietzsche einer dem Fach gegenüber vermittelbaren ideengeschichtlichen Einbettung einzufügen. Dies gilt etwa für Herman Nohl, der, 1919 nach Göttingen berufen, 1922 dortselbst Ordinarius für Philosophie und Pädagogik wurde. In dieser Funktion bemühte er sich, eine Einheit ausgehend vom ›Sturm und Drang‹ inklusive Pestalozzi über 319 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Nietzsche bis hin zur Jugendbewegung und Reformpädagogik zu stiften. Die kosmopolitische Orientierung zumindest des späten Nietzsche trat auf diese Weise, also durch Einfügung Nietzsche in die sog. ›Deutsche Bewegung‹, allerdings ins Abseits. Ganz im Sinne Nohls stellte Martin Havenstein in dem von Nohl sowie von Ludwig Pallat edierten Handbuch der Pädagogik heraus, dass die Jugend nicht mehr frage, »wie es einstmals war, sondern wie es heute ist und morgen sein soll.« (Havenstein 1930: 342) Dieser Gedanke, das AvantgardeMotiv der 1890er Jahre wieder aufzunehmen, barg in sich einigen Zündstoff für eine Pädagogik, die nicht ohne weiteres bereit war, sich dem seit Schleiermacher in der Pädagogik zentralen Diktum zu entziehen, wonach die ältere Generation gleichsam per definitionem autorisiert sei, etwas mit der jüngeren in pädagogischer Absicht zu tun. Für Nohls Lehrer Friedrich Paulsen beispielsweise war die Welt, zumindest die der Theorie, noch in Ordnung: »Erziehung besteht in der Übertragung des ideellen Kulturbesitzes von der elterlichen Generation auf die nachfolgende.« (Paulsen 1911: 6 f.) Nicht verhandelbar war von hier aus besehen die ketzerische Frage Nietzsches: »Warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? sodass ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nöthig befunden werden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen sollte?« (III: 138)

Um Abgrenzung von derlei Vorgaben bemüht, suchte Nohl das Generationenverhältnis in Gestalt des pädagogischen Bezuges neu und dies meint vor allem: als ein kameradschaftlicheres in Geltung zu setzen, dies aber immer mit dem Zusatz, »die objektiven Mächte [seien] als das eigentlich Bestimmende […] anzuerkennen.« (Nohl 1933/ 35: 315) Man könnte diese Erzählung noch verlängern, etwa unter Verweis auf Theodor Litt, der der nicht zuletzt durch Nietzsche freigesetzten Lebensphilosophie und Lebenspädagogik »Selbstherrlichkeiten der Subjektivität« ins Schuldbuch schrieb und dagegen das »Recht der Gegenständlichkeit« (Litt 1930: 66) aufbot – das Ergebnis indes blieb das nämliche: Mittels Nietzscheüberwindung fand die Weimarer Pädagogik ihren Pfad weg von den Unwägbarkeiten einer ›Pädagogik vom Kinde aus‹. Dazu musste sie allerdings erst einmal, gleichsam als Weltkriegslektion und in Reaktion auf die sich beschleunigt fortentwickelnde geistige Situation der Zeit, die Perspekti-

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ven zurückgewinnen, die einer ›Pädagogik von der Kultur aus‹ legitimerweise innewohnen dürfen. In diesem Kontext bedurfte auch die Frage der Klärung, wie Nietzsche politisch zu bewerten sei. Förster-Nietzsche, die im November 1922 eine ihrem Geiste gehorchende Textzusammenstellung über Nietzsches prophetische Worte über Staaten und Völker herausgehen ließ und dabei – unter Zwischenüberschriften wie Die soziale Frage oder Der Einzelne in der Gemeinschaft – zu erkennen gab, wie sehr sie um die brennenden Frage der Epoche wusste, tat auf diese Weise das ihre dazu, dass eines Tages »die […] vornehme Seele als Ideal über allen Schulen und Erziehungsstätten stehen« und »Deutschland trotz aller Armut, Elend, Demütigung und Zerrissenheit noch Herrliches erleben« (Förster-Nietzsche 1922: 8) werde. Wer diese Botschaft gleichfalls für die zentrale bildungspolitische Botschaft Nietzsches hielt, musste nicht unbedingt zu einem positiven Befund gelangen. Dies galt umso mehr, als schon das auslaufende 19. Jahrhundert und die soziale Frage durch Natorp eine erste ›sozialpädagogische‹ Antwort erhalten hatte. Im Einvernehmen mit derartigen Vorgaben kritisierte Natorp im unmittelbaren Vorfeld von Förster-Nietzsches Edition den von Nietzsche angeblich angestimmten Lobgesang auf die »unmittelbare Erfassung des selbstgelebten Lebens des Einzelnen in der Zuspitzung des Augenblicks« und wandte ein, hiermit werde der ohnehin bestehende »Hang nach rücksichtslosem Erraffen aller äußeren und inneren Lebensgüter für sich und nur für sich« verstärkt, »bis alle seelische Musik in den sich so erhaben dünkenden Höhenmenschen selbst wie in den tief verachteten, zu Maschinenteilen herabgewürdigten, geistig und seelisch geopferten Massen drunten in den schrillen Dissonanzen eines wilden Krieges aller gegen alle und eines jeden in sich selbst wider sich selbst« (Natorp 1921: 155) abreiße. Was Natorp übersah, war der Umstand, dass sein Sozialpädagogikverständnis, das nicht auf eine durch den Sozialstaat zu verbürgende Politik der sozialen Gerechtigkeit setzte, sondern die Notwendigkeit der Restitution bildungswirksamer Gemeinschaften einklagte, eine Handlungsstrategie nahe legte, die in Nietzsche wohl kaum einen Opponenten gefunden hätte. So liest sich Natorps Urteil, ein Übermaß von Staatlichkeit verrate »immer eine ungesunde innere Verfassung des sozialen Körpers« (Natorp 1924: 87), fast wie die Paraphrase des Nietzschewortes: »Je besser der Staat eingerichtet ist, desto matter die Menschheit.« (VIII: 91) Nietzsches Gemeinschafts321 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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kritik, die schon Friedrich Wilhelm Foersters (1906) Zorn auf sich gezogen hatte, gewinnt erst aus diesem Zusammenhang ihren Sinn. Denn Nietzsches Votum denen gegenüber, die ein »Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden« anstrebten, ohne zu sehen, dass dieses »unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmässigung und Chineserei sein würde« (VIII: 629), opponierte nicht gegen die von Foerster bzw. Natorp visionierte Gemeinschaft ihrer Idee nach. Nietzsche ging lediglich – und dies gleichsam im Vorgriff auf die aktuelle Gerechtigkeitsdebatte – an gegen jene Verfasstheit real existierender repressiver Gemeinschaftlichkeit, die er durch die Sozialstaatsperspektive endgültig um die Chance gebracht sah, dem Einzelnen eine tatsächliche Individualisierung zu ermöglichen. Indem diese Kontexte übersehen wurden, kam man vergleichsweise rasch überein, dass Nietzsches individualpädagogische Vorstellungen für ein »völliges Versagen in Anbetracht der Sozialpädagogik« (Simonic 1928: 949) Zeugnis ablegten; dass Nietzsche, lebte er heute, kein Freund der modernen Volkshochschulbewegung sein würde (Lindemann 1924a: 154); dass auch für die Heilpädagogik im »System Nietzsche’s (…) kein Platz« (Schnitzler 1926: 74) sei. Noch weiter ging Hedwig Stoeckert, die, ausgehend von Sprangers Lebensformen, Nietzsche dem Typus des ästhetischen Menschen zurechnete, der »der caritas des sozialen oder religiösen Menschen« (Stoeckert 1926: 206) entbehre, die den wahrhaft großen Erzieher auszeichne. Angesichts dieses Einvernehmens waren Einsprüche und Widerreden selten. Für eine bemerkenswerte Ausnahme steht der Beitrag eines Berliner Diakons, der temperamentvoll gegen die »vulgäre Anschauung« zu Felde zog, wonach Nietzsche ein erbitterter Gegner alles dessen gewesen sei, »was wir unter Fürsorge und Wohlfahrtspflege zu verstehen gewohnt sind.« (Ulrich 1930: 65) Ersatzweise figuriert wird das Bild eines Nietzsche, der ernsthafte Bedenken gegen die herrschende Form der praktizierten Mitleidsmoral vorgetragen habe und eine Art der Fürsorgewohltätigkeit bekämpft wissen wollte, die auch aus dem Geist wahrer Fürsorge heraus abzulehnen sei, weil es nicht um eine »wahllos sich verschenkende altruistische Mitleidsmoral« zu gehen habe, sondern um eine »erzieherisch aktivierende« (ebd.). Eben diese sei aber durchaus auch bei Nietzsche vorfindbar, insofern er nicht das Gute an sich abgelehnt habe, »sondern ein Mitleid und eine Wohltätigkeit, die die Ehrfurcht vor dem anderen vermissen läßt, ihn beschämt und erniedrigt, statt ihn aufzurichten und zu erhöhen.« (ebd.: 70) 322 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Der sich in solchen Beiträgen aussprechende Wille zur Versachlichung der Debatte dokumentierte sich auch in der Berücksichtigung Nietzsches im Deutschunterricht (vgl. Borries/Hofstaetter 1931: 604). Auch gleichsam als Patriot kam Nietzsche nun zu neuen Ehren, etwa bei Aloys Fischer, der Nietzsches Übermenschen als Sinnbild für den Drang speziell des Deutschen las, »über die Beschränktheit auch noch des größten Repräsentanten der Gattung hinaus zu wollen.« (Fischer 1932/33: 110) Nur eine Seite später wurde Fischer in – zumindest für den Experten erkennbarer – Anspielung auf ein in der NS-Zeit vielbeachtetes (vgl. Kap. XIV/4) Nietzschezitat aus Der Wille zur Macht 30 deutlicher: »Wir [Deutschen; d. Verf.] sind nicht, wir werden […]. Wir sind in Stücken und Teilen zu uns gekommen, in der Musik, in der Philosophie, in der Romantik […]; wird sind auf dem Wege in der Wissenschaft und Wirtschaft zu uns gekommen und wir sehnen uns wenigstens, auch in der Gestalt des sozialen und politischen Lebens ›Wir‹ zu werden.« (ebd.: 111)

Dass dies damals viele so sahen, steht außer Frage – aber auch, dass dies eigentlich nicht mehr sagbar war, wie auch Fischer – als Gatte einer jüdischen Frau – bald zu seinem großen, auch persönlichen Leid erleben musste. (vgl. Niemeyer 32010: 113 ff.) Es war Teil dieser sich nun allmählich durchsetzenden Sicht auf Nietzsche, ihn als Herold maskuliner Rhetorik aufzubereiten und dabei, im Nachgang zu einschlägigen Vorkriegsbemühungen, wie sie sich etwa bei Konrad Koch (1900: 49) ausgesprochen finden, in seiner Gestalt des Protagonisten einer abhärtenden Körpererziehung habhaft zu werden. Dies gilt etwa für den Lehrer Otto Berger (1932: 33), der an das Zarathustrawort »Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem« (IV: 39) erinnerte. Dabei ging es ihm darum, einen weitgehenden Abschied von einer Epoche einzuleiten, die sich, obwohl »Nietzsches Werke in den Tornistern der Kriegsfreiwilligen lagen« und obgleich ganze Städte bloß noch »von Steuernöten und Tenniswettkämpfen« sprachen, ihrer eigentlichen, ihr von Nietzsche vorgezeichneten Aufgabe nicht mehr erinnerte: der, dass man Mut haben müsse, »zum geistigen Totschläger«, »zum Aufbau des neuen Menschen« (Brand 1930: 24). Dies war zwar nicht unvermittelbar mit dem

»Die Deutschen s i n d noch nichts, aber sie w e r d e n etwas; also haben sie noch keine Cultur – also können sie noch keine Cultur haben!« (XI: 572)

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von Ellen Key zitierten Zarathustrawort. Aber von einigen reformpädagogischen ›Illusionen‹ wollte man sich dabei doch verabschieden. Ein Zeichen hatte hier Ludwig Gurlitt gesetzt, der zwar gelegentlich weiterhin die reformpädagogische Ursprungsidee rechtfertigte, »daß die Schule der Kinder wegen da sei«, ansonsten aber, als Mitarbeiter von Wilhelm Schwaners völkischem Organ Der Volkserzieher, Schwaner neben Wyneken, Berthold Otto, Lietz und sich selbst das Verdienst zusprach, die »neue Aera des Erziehungswesens« (Gurlitt 1930: 33) eingeleitet zu haben. Dabei beunruhigte Gurlitt offenbar nicht, dass Schwaner längst schon seinen Abschied vom »Wahnsinn vom Jahrhundert des (kleinen und des großen, ›gleichund vorberechtigten‹) Kindes« genommen hatte und ersatzweise von »Siedlungen germanischer Menschen« und »hochgebauten, goldblonden, blitzäugigen Germanen« schwärmte, von einer »kerndeutschen pädagogischen Provinz der frohen Menschlichkeit«, in der wieder allgemein »auf Sitte, Ordnung und gesicherte Existenz« (Schwaner 1930: 49 f.) geachtet werde. Der Grund für die Zurückhaltung Gurlitts liegt auf der Hand: Auch er hätte sich wohl nicht gescheut, wie Schwaner gegen »Weichlingsgenüsse« oder die »altägypisch-pariserische Bubimode« zu Felde zu ziehen, die »Frauen zu Halbmännern und Männer zu Halbweibern (macht)« (ebd.). Damit waren zwei Zeugnisse für einen Kulturverfall gegeben, angesichts derer sich manchem Zeitgenossen der Rückgriff auf Nietzsche zwingend nahe legte. Der eine Weg bestand darin, erneut den Nietzsche der Bildungsvorträge zur Sprache zu bringen. Dieser nämlich habe dem »lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des Urteils« (I: 680) widersprochen und damit eine Position vertreten, die »nicht immer dem modernen Pädagogen angenehm in den Ohren [klingt].« (Knust 1931: 125) Der andere Weg war diffiziler und gehörte der Deutung zu, die Paul Schulze-Berghof anbot, den Schwaner für den »getreuesten und stillsten Mit-Höhenwanderer Nietzsche-Zarathustras« (Schwaner 1930a: 37) hielt. Schulze-Berghof fand denn auch im Volkserzieher das geeignete Forum zur Verbreitung seiner These, Nietzsche habe im Zarathustra einen »Schritt rückwärts in die Vergangenheit germanischen Urvätergeistes und hinab in den Urmutterschoß der arischen Menschheitsseele« getan, und dies mit dem Ziel der Neubegründung einer »aristokratischen Weltanschauung des Geistes, die […] in einem Menschentum gipfelt, darin persönliches Heldentum und edles Volkstum einzigartig ineinanderklingen« (Schulze-Berghof 1930: 114 f.) – ein Menschentum, auf das Schwa324 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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ners ›kerndeutsche pädagogische Provinz‹ offenbar reflektierte. Populärer als derart fragwürdige Ableitungen waren Indienstnahmen Nietzsches als Erzieher unter der Chiffre »Stahlbad für den Lebenskampf« (Oehler 1930: 20) mit der Weiterführung, dass Nietzsche, wie von Mussolini nicht zu Unrecht adaptiert, die Bedeutung einer »harten Schule zur rechten Zeit« (Oehler 1930a: 34) erkannt habe. Daran ließ sich dann noch die Erleichterung knüpfen, dass die Zahl derer, die glaubten, in Nietzsche »einen willkommenen Verfechter der Zügelund Schrankenlosigkeit zu finden«, abgenommen habe. Im Vormarsch seien vielmehr jene, die Nietzsche »mit seiner wahrhaft heroischen Lebensführung« als »Religionsstifter« sähen und hieraus »die stärksten erzieherischen Antriebe« (Oehler 1930: 11 f.) bezögen. Hierzu passte auch Martin Havensteins Aufsatz Weichlichkeiten in der modernen Erziehung (1929/30). Der vormalige reformpädagogische Nietzscheenthusiast unterstand sich hier nicht, ausgerechnet im geisteswissenschaftlich-pädagogischen Zentralorgan Die Erziehung mit Nietzsche von der reformpädagogischen Ära Abstand zu nehmen, und zwar indem er an das unmittelbar zuvor von Nietzsches Schwester (vgl. Förster-Nietzsche/Lichtenberger 1928: 61) ins Zentrum gerückte Zarathustrawort erinnerte: »Diese neue Tafel […] stelle ich über euch: w e r d e t h a r t ! – « (IV: 268)

Zwar schrieb Nohls Schüler Erich Weniger (1929/30) eine zornige Replik auf Havenstein, auf die dieser wiederum – insistierend – reagierte (vgl. Havenstein 1929/30a). Und auch Nohl selbst legte im Oktober 1932 auf der letzten großen Kundgebung gegen die pädagogische Reaktion Verwahrung ein gegen den – insbesondere von Oswald Spengler vorangetriebenen (vgl. Steinhaus 1989: 105) – Spott auf die ›Humanitätsduselei‹ der Sozialpädagogik und die damit im Zusammenhang stehende Dekretierung eines »maskulinen Zeitalters« (Nohl 1932: 240). Erinnern könnte man schließlich noch an Kurt Tucholsky, der seine Kritik an der nun um sich greifenden Zuschreibung von Härtemetaphern auf Nietzsche unter der Überschrift Fräulein Nietzsche darbot und hier den Satz aufstellte, Nietzsche heroisiere, »so wie einer masturbiert.« (Tucholsky 1960, Bd. 10: 23) Dass gleichwohl die Härterhetorik immer populärer wurde, konnte auch Tucholsky nicht verhindern.

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4. Von der Nazifizierung Nietzsches Am 21. Juni 1938 im französischen Asyl platzte dem jüdischen Arzt und Nietzscheforscher Oscar Levy (1867–1946) endgültig der Kragen. In einem Offenen Brief an Hitler (Levy 1938) forderte er dessen Exkommunizierung. Ins Zentrum seiner Attacke rückte er das Zarathustra-Wort: »[I]ch will Zäune um meine Gedanken haben und auch noch um meine Worte: daß mir nicht in meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen!« (IV: 237)

Sicherlich: Im Kontext der Rede Von den drei Bösen aus Za III gelesen (vgl. Niemeyer 2007: 74 ff.), lässt sich dieses Wort nicht ohne weiteres als eines deuten, mit dem Nietzsche vorab Verwahrung einlegen wollte gegen politischen Missbrauch à la Hitler. Vielmehr ging es offenbar um die Sorge des Autors, seine in jener Rede zum Ausdruck gebrachte libertäre Haltung zur Ehe und zur Wollust werde von ›Schweinen‹ in eroticis als Ausrede missbraucht. Gleichwohl kommt Levys Erläuterung ein gewisses Recht zu, wonach Hitler mit seiner nazifizierenden Nietzscheauslegung zwar kein Schwein im wortwörtlichen Sinne sei, wohl aber dessen »viel gefährlicheres Gegenteil: ein Heiliger und ein Schwärmer« (Levy 1938: 26), mehr als dies: die Fleisch gewordene Gefahr, die Nietzsche zeitgleich in einem Brief an Malwida von Meysenbug, als gehe es ihm um eine weitergehende Erläuterung der angeführten Za-Stelle, heraufbeschworen hatte, als er, wie im einleitend bemühten Motto schon angesprochen, vor »Unberechtigten und Ungeeigneten« warnte, die »sich einmal auf meine Autorität berufen werden.« (6: 499) Spannend an diesem Brief: Dass Nietzsche hiermit indirekt eine Art Gebrauchsanweisung für notwendig hielt, einige Gebote beispielsweise, die man bei der Lektüre der Schriften eines Philosophen seines Kalibers beachten müsse. Und: Dass Levy als Inkarnation des ›Unberechtigten‹ und ›Ungeeigneten‹ schlechthin der fanatische Hitleranhänger Heinrich Härtle galt, dessen Buch Nietzsche und der Nationalsozialismus (1937) ihn offenbar überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, jenen Offenen Brief an Hitler zu verfassen. (vgl. Dietzsch/Kais 2012: 83 f.) Insofern liegt es nahe, dieses Buch zum Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen zu machen.

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Von der Nazifizierung Nietzsches

Heinrich Härtle (1909–1986), NSDAP-Mitglied seit 1926, 1939 Nachfolger von Alfred Baeumler und nach 1945 bis zu seinem Tod unbelehrbarer Nazi und Holocaustleugner (zuletzt: Härtle 1976: 300 f.), gelang mit seinem eben erwähnten, von Walter Kaufmann (1974/82: 339) etwas zu lässig abgefertigten »offiziösen Darstellung« (Aschheim 1996: 272; ähnlich Kuenzli 1983: 432) Nietzschebuch so etwas wie die Bibel aller Nietzschefans unter den Nazis. Wichtig dabei und gleichsam Erfolgsgarant: seine Arbeitsweise, die jener von Nietzsches Schwester nahekommt. Ein Beispiel: Nietzsches von ihr unterschlagene, wohl mit Seitenblick auf seinen anti-semitischen Schwager Bernhard Förster gefasste »Maxime: mit keinem Menschen umgehn, der an dem verlognen Rassen-Schwindel Antheil hat« (XII: 205), begegnet einem zwar auch, via Alfred Baeumler (1931a: 433), bei Härtle, wird von ihm aber so eingekleidet, als habe Nietzsche sie aus Protest gegen die Rassetheoretiker seiner Zeit für nötig befunden (vgl. auch Härtle 1937: 59). Mehr als dies: Härtle dekretierte nun und gleichsam im Stil der Verkündigung der allein noch erlaubten Lesart Nietzsches, wer glaube, »Nietzsche predige Zügellosigkeit und bloße Triebhaftigkeit«, sei auf dem Holzweg: Nietzsche habe »in Leben und Lehre die moralischen Werte des Soldatentums, Tapferkeit, männliche Zucht stets hochgehalten« (ebd.: 39), wie in § 912 der Köselitz/ Förster-Nietzsche Edition Der Wille zur Macht (1906; ab jetzt: WM) studierbar, aus der Härtle denn auch vorwiegend jene Passagen zu Gehör brachte, in denen Nietzsches Vorsatz nachwirkt, dereinst ein (böses) Buch machen zu wollen »schlimmer als Machiavell« (XI: 241). Hierzu gehören Sätze (vom Frühjahr 1888) wie beispielsweise: »das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwaage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen mehr feind sein als dem Bösen …« (XIII: 346)

Dass Nazis wie Härtle derartiges dumpf-dräuendes Maschismo-Gerede (hier nach § 912) gefiel, will man gern glauben, weswegen Härtle denn auch nicht zögerte, im weiteren Argumentationsverlauf § 858 (»Über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist, der Rest ist Feigheit«) anzubieten (vgl. Härtle 1937: 136) oder gleich nachfolgend die Quintessenz von § 120 (jeweils dieser Edition), diesmal, abweichend vom Original (s. XII: 483), in Sperrdruck und so kommentiert, als fände sich bei Nietzsche eine Losung für die Rache am ›Versailler Friedensdiktat‹ :

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XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

»W i r g l a u b e n n i c h t a n e i n R e c h t , d a s n i c h t a u f d e r M a c h t r u h t s i c h d u r c h z u s e t z e n .« (zit. n. Härtle 1937: 43)

Auch um die »Folgen der Entnordung« soll Nietzsche, Härtle (1937: 297) zufolge, bereits geahnt haben, etwa in GM, wo er davon spricht, dass die »unterworfene Rasse« in Europa wieder die Oberhand bekommen habe, »in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und sozialen Instinkten«, um fortzufahren: »[W]er steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur ›Commune‹, zur primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Socialisten Europa’s jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren N a c h s c h l a g zu bedeuten hat – und dass die Eroberer und H e r r e n - R a s s e , die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist? …« (V: 264 f.)

Gewiss: Dieses Zitat aus dem Jahr 1887 scheint zureichend Wasser auf die Mühle der Nazis zu lenken, ist also kaum unterscheidbar »von dem, was 40 bis 50 Jahre später in Deutschland häufig gedruckt wurde.« (Taureck 1989: 31; vgl. auch Breuer 2001: 177) Andererseits spricht Nietzsche zu eben dieser Zeit im Nachlass davon, dass es ihm nicht um eine »Herren-Rasse« gehe, deren Aufgabe sich darin erschöpfe »zu regieren«, sondern dass ihm an einer »b e j a h e n d e n Rasse« »mit e i g e n e r L e b e n s s p h ä r e « gelegen sei, »mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur, Manier bis ins Geistigste […], stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nöthig zu haben, reich genug, um Sparsamkeit und Pedanterie nicht nöthig zu haben, jenseits von gut und böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Planzen.« (XII: 426)

Diese Passage unterstellt keineswegs »einen Konsens zur Rasseneugenik einschließlich mörderischer Konsequenzen.« (Taureck 1989: 35) Vielmehr paraphrasiert Nietzsche hier seine im Zarathustra ausgesprochene Forderung nach einem »neuen Adel, der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt ›edel‹« (IV: 254)

– eine Formulierung, die Nazis vom Schlage Härtle durchaus kritisch auf sich selbst hätten beziehen können (und eben deswegen verschwiegen). Etwas anspruchsvoller als derlei um den Kontext unbesorgtes Spiel mit für den eigenen Zweck scheinbar geeigneten ›bösen‹ Zitaten Nietzsches war Härtles Versuch, Kontinuität für Nietzsches (selbst328 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Von der Nazifizierung Nietzsches

redend rechtslastiges) politisches Denken behaupten zu wollen. Zu diesem Zweck folgte er (Schritt 1) Förster-Nietzsches (1914: 432) seit 1904 immer wieder unters (gläubige) Volk gebrachte, frei erfundene Mär (vgl. Niemeyer 2011: 145 f.), »der Gedanke des ›Willen zur Macht‹« habe Nietzsche mitten im Toben des deutsch-französischen Krieges« überfallen, er sei insofern der »P h i l o s o p h d e s P o l i t i s c h e n . « (Härtle 1937: 44) Des Weiteren erinnerte Härtle (Schritt 2) an Nietzsches – wie man ergänzen muss, aber unser Nazi zu sagen unterließ: durch Wagners Beethoven (1870) genährte – Hoffnung auf gleichsam politischen Aufstieg Deutschlands nach dem Sieg von 1871, etwa unter Bezug auf Nietzsches Vorwortentwurf zur Geburt der Tragödie und insonderheit den Satz: »Die einzige produktive p o l i t i s c h e Macht in Deutschland, die wir Niemandem näher zu bezeichnen brauchen, ist jetzt in der ungeheuersten Weise zum Siege gekommen und sie wird von jetzt ab das deutsche Wesen bis in seine Atome hinein beherrschen.« (VII: 355)

Härtle offerierte dann (Schritt 3) den weiteren Fortgang dieses Zitats, inklusive der Hoffnung Nietzsches, dass diese Macht den im Liberalismus kulminierenden »Krankheitszustand« beenden werde, »an dem das deutsche Wesen [vornehmlich seit der großen Französischen Revolution; ausgelassen von Härtle; d. Verf.] zu leiden hat« (VII: 355), um (Schritt 4) zu schließen mit der Pointe Nietzsches: »J e n e r g a n z e a u f e i n e e r t r ä u m t e W ü r d e d e s M e n s c h e n , des Gattungsbegriffs Mensch, gebaute Liberalismus wird samt seinen derberen Brüdern an jener starren, v o r h i n a n g e d e u t e t e n M a c h t v e r b l u t e n [ … ] . « (zit. n. Härtle 1937: 13)

Hiermit endet bei Härtle der – um Sperrdruck bereicherte – O-Ton Nietzsche, und zwar nun nicht etwa, um darzutun, dass und warum der späte Nietzsche von dieser in der Tat erschreckenden, fanatischvölkischen Position Abstand nahm (vgl. hierzu Niemeyer 2011: 83 ff.), sondern (Schritt 5) um Platz zu schaffen für seine Lektion: »N i e t z s c h e w u r d e b i t t e r e n t t ä u s c h t . Der Liberalismus wucherte weiter […]« (Härtle 1937: 13) – was aber nun ein Ende habe, insofern (Schritt 6) jene von Nietzsche 1871 ersehnte ›produktive politische Macht in Deutschland‹ jetzt, 1937, tatsächlich und unumkehrbar zum Siege gekommen sei. Spannend ist nun, dass sich diese Argumentationsstrategie des Nazi Härtle 1952 in fast identischer Form beim kommunistischen, 329 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

von Jürgen Habermas (1968: 506) letztlich rehabilitierten Anti-Nazi Georg Lukács (1954: 39 ff.) wiederfindet (zur Kritik an Lukács: Montinari 1979: 189 ff.; Ottmann 1984), diesmal freilich mit umgekehrter, verachtender Wertung Nietzsches. Hier wie da ist das nämliche Konstrukt in Wirksamkeit: das vom durchgehend kohärent argumentierenden, will sagen: durchgängig völkisch respektive präfaschistisch gesonnenen Nietzsche, mit Wagner allenfalls als Randfigur, nicht aber etwa als spiritus rector. So betrachtet kann nicht überraschen, dass Lukács wie Härtle, beide allein dem Diktat der Nützlichkeit des von ihnen vorgetragenen unterworfen, immun blieben gegenüber dem anderen Nietzsche, Nietzsches Nietzsche, der einem gleichsam in Reinkultur letztmals in Wir Furchtlosen begegnet. Vergebens sucht man denn auch bei beiden die auf ›Herbst 1885 – Herbst 1886‹ datierte vorbereitende Aufzeichnung Nietzsches für dieses Fünfte Buch von Die fröhliche Wissenschaft – noch unter dem Titel Wir Umgekehrten dargeboten – in Richtung eines damals noch geplanten Kapitel Warum wir antinational sind (XII: 167), in dem wir lesen: »[N]ational zu sein, in dem Sinne und Grade, wie es jetzt von der öffentlichen Meinung verlangt wird, würde an uns geistigeren Menschen, wie mir scheint, nicht nur eine Abgeschmacktheit: sondern eine Unredlichkeit sein, eine willkürliche Betäubung unseres besseren Wissen und Gewissens.« (XII: 164 f.)

Dies also war der eigentliche Hintergrund für Nietzsches in diese Zeit fallende und einleitend erwähnte »Maxime: mit keinem Menschen umgehn, der an der verlognen Rassen-Schwindel Antheil hat« (XII: 205) – womit es nun noch einmal spannend wird. Denn Lukács wie Härtle könnte man insoweit entlasten, als beide seinerzeit – 1954 der Erste, 1937 der Letztere – um jene Zitate gar nicht wissen konnten: Es war Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche gewesen, die sie sowie jene von Nietzsche für sein Buch Der Wille zur Macht bestimmte Maxime unterschlagen hatte (vgl. Niemeyer 2011: 37 f.). Man kann aber noch einen Schritt weitergehen: Wenig später, im Nachlass von November 1887 – März 1888, stellte Nietzsche seine Überzeugung heraus, dass »d e r N i e d e r g a n g d e s d e u t s c h e n G e i s t e s […] mit der Heraufkunft der Vaterländerei und des Nationalismus Schritt gehalten hat.« (XIII: 61) Ein paar Seiten darauf klagte Nietzsche mit Seitenblick auf den verheerenden Einfluss der »Hofprediger-Canaille« (XIII: 92) – ein von Förster-Nietzsche im Zuge ihrer Kompilation von § 748 von WM fortgelassener Terminus – 330 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Von der Nazifizierung Nietzsches

Adolf Stoecker, »Vater des deutschen Antisemitismus« (Fritsch 1931: 477), über die »g e i s t i g e U n s e l b s t ä n d i g k e i t « der Deutschen, und dies ausgerechnet in einer Zeit, wo deutlich werde, dass allein »in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und –Befruchten der eigentliche Werth und Sinn der jetzigen Cultur liegt!« (XIII: 92 f.) Zitate wie die bisher genannten haben zwei Dinge gemeinsam: Sie wurden (1.) von Nietzsches Schwester mit aller Raffinesse und Beharrlichkeit über vierzig Jahre hinweg in allen von ihr verantworteten NietzscheEditionen unterschlagen. Und (2.): Sie entstammen durchgängig dem Nachlass ausgerechnet jener Jahre, in denen Nietzsche scheinbar über nichts Dringlicheres nachsann als den – angeblich pränazistisch zu lesenden – Willen zur Macht und ein gleichnamiges Buch. Über dieses Buch äußerte sich Nietzsche überaus skeptisch, weswegen Förster-Nietzsche die Bemerkung ihres Bruders, die Deutschen von Heute seien keine Denker mehr, deswegen sei ihnen »[d]er Wille zur Macht als Princip […] schhweir verständlich« (XII: 450), unterschlug bzw. durch die (angebliche) Bemerkung Nietzsches ersetzte, dem deutschen Kaiser Wilhelm II. (ab 1888) sei der Wille zur Macht als Prinzip »schon verständlich« (zit. n. Förster-Nietzsche 1904: 890). Einzelheiten hierzu sind andernorts nachlesbar (vgl. Niemeyer 2011: 48 f.), inklusive der Pointe: Lukács saß bei seinem Feldzug gegen Nietzsche mitten im Zweiten Weltkrieg – aber auch noch nach 1945 (vgl. Montinari 1979: 204) – exakt dieser Fälschung Förster-Nietzsches auf, als er anprangerte, wie entschieden Nietzsche schon mit Kaiser Wilhelm II. »sympathisierte« (Lukács 1943: 195), und zwar gleichsam als Vorgriff auf jene Sympathie, die Nietzsche, in der Logik Härtles gedacht, eigentlich für Hitler hätte empfinden müssen. So betrachtet kann man den Lukàcs/Härtle-Vergleich zum Abschluss bringen: Beide mal wurde Nietzsches Nazifizierung durch korrupte oder selektierte Quellen begünstigt, einmal, um sich gesittet empören zu können (Lukács), im anderen Fall (Härtle), um sich als ungesitteter Nazi nicht so einsam fühlen zu müssen. Dies könnte dazu veranlassen, den ansonsten von der Quellenlage her nicht leicht organisierbaren Themenkomplex ›Nietzsche und der Nationalsozialismus‹ im Folgenden vor allem mittels der Frage nach den weiteren Kunstgriffen bei der Nazifizierung Nietzsches zu vereinheitlichen. Dass diese Fragestellung die dem Thema angemessene ist, zeigt sich auch bei einer Rückbesinnung auf Kurt Tucholskys 1932er Spott auf die Nietzscheanhänger unter den Nazis, »die wohl deshalb unter die hitlerschen Schriftgelehrten aufgenommen worden sind, weil sie 331 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

einmal einem politischen Gegner mit dem Telefonbuch auf den Kopf gehauen haben.« (Tucholsky 1960, Bd. 10: 14) Denn ganz in diesem Geiste hatte sich Johannes Albert noch zwei Jahre zuvor in seinem Aufsatz Nietzsche und Hitler für die Zusammenstellung dieser beiden Namen unter Hinweis darauf entschuldigt, dass es ihm um die Kritik des nationalsozialistischen Versuchs gehe, »die geistige Blöße der Hitlerbewegung dadurch ein wenig zu verdecken, daß man Friedrich Nietzsche […] als Kronzeugen für den Gedanken der faschistischen Partei- und Staatsdiktatur anruft.« (Albert 1930: 353) Dabei war es für Albert eine Genugtuung besonderer Art, Nietzsche ersatzweise als guten Europäer anbieten zu können, dem »jegliche Art von Nationalismus, beschränkter Deutschtümelei, Rassenbewegung und Antisemitismus ein unfaßbarer Greuel war.« Weiteren in diesem Zusammenhang immer wieder angeführten Nietzsche-Zitaten fügte Albert noch den Kommentar an: »Das sind Keulenhiebe für unsere Nazi-›Philosophen‹, die unvorsichtigerweise Nietzsche gerufen haben, dessen Lieblingsschriftsteller der Jude Heinrich Heine war.« (ebd.: 357)

Wenig später, nach der ›Machtergreifung‹, konnten derartige Keulenhiebe im völkischen Lager durchaus mit Beachtung rechnen. Arthur Drews (1934: 173) etwa zitierte mit bitterem Unterton Nietzsches Wort vom »Hornvieh-Nationalismus« (nach § 748 von WM), ebenso wie Karl Kindt, der im Übrigen in seinem Artikel »eine Blütenlese von Auslassungen Nietzsches über Deutschland, Deutsches Wesen, Große Deutsche, den deutschen Staat, die deutsche Geschichte, die Rassenfrage zusammenstellte«, die sicherstellen sollte, »daß allen Gleichschaltungsakrobaten und historischen Falschmünzern« in alle Ewigkeit die Lust verging, »je wieder Nietzsche zum Bannerträger des Nationalsozialismus zu machen.« (Kindt 1935/36: 2) Bedenken wie diese, erklären sie möglicherweise die doch eher geringe Präsenz Nietzsches in Lehr- und Lesebüchern des ›Dritten Reichs‹. So weist das für den Reichsarbeitsdienst konzipierte Lehrund Lesebuch Bausteine zum Dritten Reich (Kretzschmann 51934) eine glatte Fehlmeldung in Sachen Nietzsche auf, Wagner, Lagarde und Fichte hingegen sind durchaus präsent. Ähnlich verhält es sich mit dem Lesebuch Das ewige Deutschland (Hackenberg/Schwarz 1942): Lagarde kommt hier ausführlich zu Wort, ebenso wie Fichte, wohingegen Nietzsche mit einigen wenigen Gedichten und dem Imperativ »Gefährlich leben!« aus Die fröhliche Wissenschaft Vorlieb 332 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Von der Nazifizierung Nietzsches

nehmen muss. Immerhin: In der Zeitschrift Schule der Freiheit konnte man schon 1934 aus der Feder des Herausgebers lesen: »Das Gesunde und Starke muß nach oben, das Kranke und Schwache muß nach unten. Das ist in grober Form der wesentliche Inhalt der Philosophie Nietzsches.« (Lautenbach 1934/35: 90)

Ein Jahr später wurde die Zeitschrift Die deutsche höhere Schule gegründet, in der 1939 bezogen auf Nietzsches Hoffnung, man werde ihn 50 Jahre später vielleicht verstehen, geschrieben stand: »Wir haben als Deutschlehrer in der Prima die Verpflichtung, unseren Beitrag zu liefern zu dieser Erfüllung der Hoffnung Nietzsches. Es darf keine Prima mehr zur Entlassung kommen, die nicht wie zu Goethes ›Faust‹ so auch an das Werk Nietzsches herangeführt worden ist.«

Für den Autor bedeutete dies, dass man den gesamten Deutschunterricht für vier bis fünf Wochen allein auf das Studium insbesondere der Werke des ›späten‹ Nietzsche zu verwenden habe. Dabei müsse man, im Gegensatz zur vorherigen Philosophieepoche, als man immer auf die Systemlosigkeit der Gedanken Nietzsches verwies, nun die einheitliche Wertung und Grundhaltung betonen, womit Nietzsches Werk auch »bei unserer heutigen, den Lebenswirklichkeiten zugewandten Jugend Eingang findet.« (Schulz 1939: 248) Deutlich manifestiert sich hier das Wissen um den freigeistigen Nietzsche des fin de siècle (vgl. Niemeyer 2013a: 113 ff.), den es nun zu überwinden gelte zugunsten einer vorwiegend auf Ahnenliebe und Ahnenstolz abhebenden Schullektüre. Dass der andere, im politischen Sinne unkalkulierbare, kosmopolitische Nietzsche – Nietzsches Nietzsche, wenn man so will, wenn auch mit negativem Vorzeichen belegt – weiterhin im Diskurs präsent blieb, zeigte sich 1938 angesichts des Erscheinens von Christoph Stedings Das Reich und die Krankheiten der europäischen Kultur und des hier vorgetragenen, substantiell untermauerten (vgl. Piecha 1998: 148 ff.) und zumal bei nationalsozialistischen Nietzschegegnern populären Fazit Ernst Kriecks (1935: 184): »Nietzsche war Gegner des Sozialismus, Gegner des Nationalismus und Gegner des Rassegedankens. Wenn man von diesen drei Geistesrichtungen absieht, hätte er vielleicht einen hervorragenden Nazi abgegeben.« (Steding 1938: 160)

Freilich: Steding erlag im Januar 1938 mitten in der Arbeit an diesem Buch einem Nierenleiden, sehr zum Glück der fanatischen Nietzsche333 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

jünger unter den Nationalsozialisten, wie etwa Heinrich Härtle, der denn auch 1939 mit einem Verriss des aus dem Nachlass kompilierten Steding-Werkes reagierte (vgl. Härtle 1939; vgl. auch Mittmann 2006: 167 f.). Und da Härtle zu eben jener Zeit auch im Streit zwischen Krieck und Baeumler erfolgreich zugunsten des Letzteren intervenierte (vgl. Piecha 1998: 147 f.), konnte er fortan sein Nietzschebild vergleichsweise ungestört zur Geltung bringen. Abzusehen ist dabei von vereinzelten, nicht die Hauptsache berührenden Kritiken, etwa wegen seiner Ignoranz bezüglich des »positiven Verhältnisses« (Wilhelm 1939: 17) Nietzsches zu Frankreich. Überlagert wurde derlei von der schon 1933 zu Gehör gebrachten Losung, dass der »jung vorstoßenden Volkserhebung der Braunhemden […] bisher der deutsche Klassiker, der unbestrittene Geistesführer [fehlt]« (Kappstein 1933: 557) bzw. dass man nun eines neuen geistigen Heroen bedürftig sei, der Schritt zu halten vermochte mit Karl Marx, dem Helden »des nun glücklicherweise überwundenen intellektuell-demokratischen Zeitalters.« (Würzbach 1933: 21) Worum es mithin vor diesem Hintergrund ging, war eine Variante auf Nietzsches Aphorismus: »Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen« (II: 266), nun in Gestalt der Formulierung (und damit begann die Nazifizierung Nietzsches): ›Wenn ein Nazi keinen zureichenden geistigen Vater hat, so soll er sich einen anschaffen.‹ Vordergründige Belege für Thesen wie diese gibt es einige, nicht zuletzt solche, die für einen »carefully orchestrated cult« (Golomb/ Wistrich 2002: 2) sprechen – wie das von Hitlers ›Hoffotograf‹ Heinrich Hoffmann 1934 sorgfältig inszenierte Foto mit Hitler, die Büste Nietzsches fixierend. Denken könnte man auch an den Umstand, dass 1940 über dem Eingangstor der von Hitler angeregten, 1937 begonnenen, des Krieges wegen aber nie vollendeten Nietzsche-Gedächtnishalle in Weimar eine Steintafel angebracht wurde mit der Inschrift: »Friedr. Nietzsche zum Gedächtnis. Erbaut unter Adolf Hitler im VI. Jahr des Dritten Reichs.« (zit. n. Reuter 2008: 51)

Nicht absehen kann man in diesem Zusammenhang von Nietzsches Cousin Richard Oehler, in der Summe fraglos »derjenige aus dem Familienkreis der Nietzsches, der sich am meisten für eine nationalsozialistische Nietzscheinterpretation einsetzte.« (Reuter 2008: 165) Er nämlich unterstand sich nicht, gleich mittels zweier Anthologien 334 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Von der Nazifizierung Nietzsches

(Oehler 1933; 1944) jenen Nietzsche zu überliefern, dessen die Zeit bedurfte (vgl. Niemeyer 2011: 39 ff.). Das dabei führende Prinzip wurde 1942 von dem Nationalsozialisten Gottfried Linsmayer angesichts eines analogen Vorhabens für den Wiener Ostmarken Verlag auf den Punkt gebracht: Es gehe darum, jenen Teil von Nietzsches Schaffen deutlich hervortreten zu lassen, der »für die Wahlverwandtschaft unseres Denkens und unserer Anschauungen mit Nietzsche zu zeugen« (Linsmayer 1942: 5) vermag. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Fall des in Weimar residierenden Kulturantisemiten und Literaturhistorikers Adolf Bartels (1862–1945). Er hatte sich seit den 1890er Jahren immer wieder als Nietzschegegner zu Wort gemeldet, gleichsam aus Solidarität mit seinem völkischen Gesinnungsgenossen Theodor Fritsch und im gleichsam demonstrativen Gegenzug zu seinem Konkurrenten Richard M. Meyer, dem Bartels 1900 das Recht absprach, als Jude eine Geschichte der deutschen Nationalliteratur verfassen zu können. (vgl. Berbig 2009: 55) Unbeeindruckt davon legte Meyer 1913 eine beachtenswerte Nietzsche-Biographie vor, um in der Folge auch an eher abgelegenem Ort, etwa in seiner posthum erschienen Literaturgeschichte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, immer wieder sachkundig auf Nietzsche, etwa den ›guten Europäer‹ (Meyer 1916: 76), hinzuweisen. Bartels hingegen blieb Nietzsche gegenüber reserviert, ebenso natürlich wie in Sachen Meyer, dem er noch zwanzig Jahre nach dessen frühen Tod (1914) das böse Wort nachwarf, er habe »zwar sehr viel geschrieben, aber ohne bei seinem im Grunde talmudistischen Geiste irgendeiner Sache wirklich gewachsen zu sein.« (Bartels 1934: 704) Freilich: Wenn man ganz genau hineinschaut in diese im November 1933 in Druck gegangene 13. und 14. Auflage der ›Kleinen Ausgabe‹ von Bartels’ Geschichte der deutschen Literatur, dann lässt sich nicht übersehen, dass sich das Nietzschebild im Vergleich etwa zur ersten Auflage von 1901 deutlich gewandelt hat. Sicherlich: Der altbewährte Judenjäger Bartels ist weiterhin in Wirksamkeit und verdächtigt beispielsweise Nietzsches große Liebe Lou Andreas-Salomé, »vielleicht« (Bartels 1934: 571) Jüdin zu sein – ein, wie gezeigt (vgl. Kap. XIII) auch von Nietzsches Schwester weitergetragenes Gerücht, das für die damals in Göttingen lebende Literatin selbstredend bedrohlich hätte werden können und sich auch bei Härtle findet und hinter dem Attribut »nicht eindeutige ›Russin‹« (Härtle 1937: 45) verbirgt. Überraschend freilich ist derlei Denunziantenpose nicht, 335 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

wenn man bedenkt, dass Bartels in dieser Neuauflage gleichsam die Rechtfertigung für die Bücherverbrennungen vom Mai 1933 nachlieferte, indem er – nur diese beiden Beispiele seien genannt – Tucholsky als »echten jüdischen Frechling« abfertigte und Freud mit dem Spottvers entließ: »Jude«, »der eine Zeitschrift für Psychoanalyse herausgibt, Spezialist für Nervenpathologie ist und u. a. auch über den Witz geschrieben hat.« Überraschend ist auch nicht, dass Bartels Hitler als »den berufenen Führer unseres Volkes« (Bartels 1934: 710, 696, 708) würdigte. Überraschend ist vielmehr die plötzliche Nachgiebigkeit von Bartels in Sachen Nietzsche. Einige Details können hier lehrreich sein: Bartels hat zwar in jener 1934 erschienen Auflage seines Bestsellers weiterhin Bedenken wegen Nietzsches »Ungerechtigkeiten gegen das Deutschtum«, aber dies mit dem verständnisvollen Zusatz: »[I]ch sehe wohl, wie er dazu kam, und daß ein Geist wie der seinige der völligen Ungebundenheit bedurfte.« Mehr als dies: Nietzsche ist für Bartels nun auf einmal der »größte Geist« seiner Zeit und »einer unserer größten Prosaisten«, darüber hinaus »der größte deutsche Aphoristiker«, nicht zu vergessen: »ein so charakteristischer deutscher […] Geist wie nur irgend einer, nur auf dem Boden der deutschen Kultur konnte er gedeihen, und was ihm die fremden Kulturen gaben, ist viel unwesentlicher, als er selber annahm.«

Zumal der im unmittelbaren Nachgang zum Stoßseufzer »Vielleicht erhalten wir den Adolf Hitler der deutschen Dichtung« gegebene Hinweis auf Nietzsche als »führender Geist« im Blick zumindest auf die »wissenschaftliche Literatur« (Bartels 1934: 536, 534, 536, 695) darf gelesen werden als der gleichsam offizielle Ritterschlag seitens dieses »völkischen Literaturpapstes« (Klee 2003: 28), der »vom Nationalsozialismus ausdrücklich als ›Vorkämpfer‹ anerkannt und mit den höchsten Ehrungen bedacht [wurde].« (Rösner 1996: 874; Wulf 1963: 516) Dieses Beispiel pars pro toto genommen, darf also durchaus von einer politisch gewollten Nazifizierung Nietzsches geredet werden. Diesen Rückschluss erlaubt auch der von der Universität Jena lancierte und 1935 aus fiskalischen Gründen wieder aufgegebene sog. ›Weimar-Jena-Plan‹. Inaugurator war vor allem Richard Oehlers Genosse in Rosenbergs ›Kampfbund für deutsche Kultur‹, der Jenaer Rechtsphilosoph Carl August Emge. Nachdem Hans Leisegang wegen seines kaum verhüllten Fälschungsverdachts gegenüber Förster-Nietzsche 336 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Von der Nazifizierung Nietzsches

1930 in Ungnade gefallen war, nutzte Emge in klugen Briefen an sie die Gunst der Stunde, um in der Folge systematisch daran zu arbeiten, »seine Führungsrolle im Nietzsche-Archiv auszubauen und jenes für die nationalsozialistische Bewegung zu vereinnahmen.« (Reuter 2008: 120) Ein Mittel zu diesem Zweck war jener Plan, bei dem es darum ging, »die Vorherrschaft der Linken auf dem kulturellen Gebiete zu stürzen« (ebd.: 151), in der Umkehrung gesprochen: »Neben den Werken Goethes und Schillers und ihren Memorialstätten in Weimar, sollte vor allem die Philosophie Friedrich Nietzsches den Nationalsozialisten als kulturelle Säule zur Stärkung ihrer Macht dienen.« (ebd.: 122) Diesem Zweck gehorchte auch ein Brief der Stiftung Nietzsche-Archiv an Alfred Rosenberg vom 26. März 1934, in welchem um Unterstützung nachgesucht wurde für Kurse in Weimar, »welche die mit dem Nationalsozialismus zusammenhängende [sic!] Probleme soziologischer, pädagogischer, weltanschaulicher und ethischer Art unter Verwertung der im Werke Nietzsches vorliegenden Anregungen zum Gegenstand haben.« (ebd.: 165) Diesem Projekt war zwar kein großer Erfolg beschieden, wohl, weil »es zu seiner Umsetzung erheblicher finanzieller Mittel bedurft hätte.« (ebd.: 179) Dies spricht allerdings nicht für Einwände grundlegender Natur. Von entscheidender Bedeutung für die Nazifizierung Nietzsches war Elisabeth Förster-Nietzsche, die im angloamerikanischen Sprachraum über viele Jahre hinweg unter dem Titel einer »nazi sister« (Peters 1983) figurierte und, beginnend mit der Übergabe von Nietzsches Spazierstock an Hitler anlässlich von dessen Besuch in Weimar am 2. November 1933, alles dafür tat, sich diesen Ruf zu erwerben (vgl. Niemeyer 2011: 39 ff.). Besonders folgenreich war die im Wesentlichen von ihr verantwortete Edition WM sowie die von ihr und ihrem Vetter Richard Oehler mit fürwahr bewundernswerter krimineller Energie über Jahrzehnte hinweg betriebene Unterschlagung der Briefe Nietzsches an Theodor Fritsch vom März 1887 (vgl. Kap. XIII). Aber auch Alfred Baeumler ist in diesem Zusammenhang zu nennen (vgl. Montinari 1979: 171 ff.; Detlev Piecha in: NLex: 40 f.). Unmittelbar nach der ›Machtergreifung‹ wurde er zum Leiter eines neu eingerichteten Instituts für politische Pädagogik an der Berliner Universität ernannt. Seine Antrittsvorlesung am 10. Mai 1933 gab den letzten geistigen Impuls für die am Abend des gleichen Tages stattfindende spektakuläre Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz. 1934 übernahm Baeumler zusätzlich die Leitung des ›Amtes Wissenschaft‹ im ›Amt Rosenberg‹ (vgl. Piecha 1998: 134). 337 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

Noch vor 1933 hatte Baeumler die Dokumentation Nietzsche in seinen Briefen und Berichten der Zeitgenossen vorgelegt, vor allem aber – bei Reclam – eine zweibändige Nietzscheausgabe mit dem Titel Nietzsches Philosophie in Selbstzeugnissen, die zumal nach 1933 auch als Schulausgabe genutzt und insofern ausgesprochen wirkmächtig wurde. Dies war insofern fatal, als sie die nicht in Baeumlers ›System‹ passenden Schriften Nietzsches aus der mittleren Periode schlicht ignorierte. Diese Art der Editionspolitik, die Baeumler noch durch seine auf den Nachlass bezogene, bei Nazis überaus beliebte zweibändige Edition Die Unschuld des Werdens (1931) forcierte, verstärkte den aus nationalsozialistischer Perspektive erwünschten Eindruck, der ›wahre‹ Nietzsche verberge sich im Spätwerk, konkret: in der »Philosophie des Willens zur Macht.« (Baeumler 1931: 80 f.) Baeumler war es denn auch, der 1930 als Bd. 78 von Kröners Taschenausgabe Förster-Nietzsches kanonische Fassung von WM neu herausgab und in einem neuen Nachwort ganz selbstverständlich als »das philosophische Hauptwerk« (Baeumler 1930: 699) anpries – wohl, damit der Leser erst gar nicht fehl griff in Sachen der ideologischen Einordnung des titelgebenden Konstrukts, behauptete Baeumler in diesem Nachwort des Weiteren, dass dieser Begriff zum ersten Mal im Abschnitt Von der Selbstüberwindung aus Zarathustra II auftauche (vgl. ebd.: 701). Infolge dieser auf Elisabeth Förster-Nietzsche (1904: 683) zurückführbaren Fehlangabe, die beispielsweise Rüdiger Safranski (2000: 91) zu skurrilen Fehldeutungen veranlasste (vgl. Niemeyer 2007: 137), blieb notwendig unbeachtet, dass Nietzsche diesen Begriff im Abschnitt Von tausend und Einem Ziele (= Zarathustra I) eingeführt und hier gegen eine Lesart stark gemacht hatte, die einseitig »reichsdeutsche[n] Aspirationen« (XII: 450) verpflichtet war (vgl. ebd.: 26 ff.). Die Intentionen Baeumlers stützte auch Rosenbergs Sekretär Heinrich Härtle, der 1939 die Nachfolge Baeumlers im Amt Rosenberg antrat. Schon 1936 war Härtle im Völkischen Beobachter gegenüber Nietzschegegnern aus dem Bayreuther Wagnerumfeld mit der unmissverständlichen Drohung auffällig geworden: »Wer heute über Nietzsche schreibt, muß wissen, daß er sich mit einem geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus auseinandersetzt, und daß er sich darum vor dem Nationalsozialismus in jedem Fall zu verantworten hat.« (Härtle 1936)

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Von der Nazifizierung Nietzsches

Ein Jahr darauf legte Härtle seine einleitend bereits erwähnte, bei Alfred Klemmt an der Deutschen Hochschule für Politik (DHP) erstellte Arbeit Nietzsche und der Nationalsozialismus vor, die, erschienen im Hitler- und NSDAP-Verlag Franz Eher Nachf., als Zeichen für den gleichsam parteioffiziell abgesegneten Akt der Nazifizierung Nietzsches gelesen werden darf. Zu ihr gehört, wie gezeigt, der Versuch, Wagners Nietzsche gegen Nietzsches Nietzsche in Spiel zu bringen sowie die Prämisse, »d a ß ü b e r h a u p t n u r e i n b e w u s s t e r N a t i o n a l s o z i a l i s t N i e t z s c h e g a n z e r f a s s e n k a n n « (Härtle 1937: 6)

– eine Position, die den Umgang mit Kritik an Nietzsche (respektive Härtle) aus nicht-nationalsozialistischer Perspektive natürlich bedeutend vereinfachte. Im Ergebnis seiner Nietzsche-Deutung war sich Härtle jedenfalls, ungeachtet vereinzelter Bedenken, etwa wegen Nietzsches »Befürwortung der Juden-Assimilierung« (ebd.: 162), sicher: Nietzsches »philosophische Schöpfungen [sind] Bausteine einer kommenden nationalsozialistischen Philosophie«, Nietzsche, das »Genie der Wertung«, stehe in einer Linie mit Hitler, dem »Genie der Gestaltung« (ebd.: 164) – eine Lesart, die Härtle auch noch 1944 als einer der Redner anlässlich der Gedenkfeiern zu Nietzsches 100. Geburtstag propagieren wird. Was von Lesarten wie diesen zu halten ist, zeigt ein etwas genauerer Blick auf § 108 von WM, der einen im Dritten Reich in auflagenstarken Auswahleditionen (etwa Scheiner 1934: 109; Hauff 1939: 141; Oehler 1944: 310) immer wieder begegnet, wohl der Worte wegen: »Die Deutschen s i n d noch nichts, aber sie w e r d e n etwas; also haben sie noch keine Cultur – also können sie noch keine Cultur haben!« Am Ende folgt: »[…] kurz: wir Deutschen w o l l e n Etwas von uns, was man von uns noch nicht wollte – wie wollen Etwas mehr!« (XI: 572)

Härtle war begeistert: »D e r N a t i o n a l s o z i a l i s m u s h a t d i e s e s W o l l e n a u f g e n o m m e n . « (Härtle 1937: 114) Damit hatte er sich eingefügt in eine von Ernst Bertram (1918: 68) und Arthur Moeller van den Bruck (1919: 104) eröffnete und von Eduard Spranger (1939: 325) fortgeführte Deutungstradition. Freilich: Alle drei Herren gingen Nietzsches Schwester auf den Leim, die schlicht unterschlagen hatte, was dem von Härtle gegebenen Eingangszitat aus § 108 im Original nachfolgt: 339 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

»Dies ist mein Satz: mag sich daran stoßen, wer es muß: nämlich wer Deutschthümelei im Schädel (oder im Schilde) führt!« (XI: 572)

Damit wird klar: Förster-Nietzsche hatte durch einen kleinen Trick eine Äußerung ihres Bruders einer Deutung zugeführt, für die sie gerade nicht gedacht war: einer deutschtümelnden. Und darüber muss man natürlich als Nietzscheforscher informieren, anders als Alexander Nehamas (1985: 255), Steven Aschheim (1996: 270) und Bernhard Taureck (1989: 198), ein Vorwurf, der nun auch an die Förster-Nietzsche-Biographin Kerstin Decker (2016) ausgedehnt werden kann. Neben durchaus folgenreichen Umstellungen auf der großen Bühne sind auch kleinere Arbeiten zu notieren, welche insgesamt eine Nazifizierung Nietzsches begünstigten. Dazu sind auch Versuche zu rechnen, die besonders scharfe, teils ins Psychopathologische hineinspielende Nietzschekritik aus der Zeit vor 1914 in Vergessenheit zu bringen, was Heinrich Härtle am Exempel Paul Möbius (vgl. Härtle 1937: 291) und Kurt Kaßler am Exempel Adalbert Düringer (Kaßler 1941: 55) erledigten. Geboten schien auch ein möglichst flexibler Umgang mit der angeblichen Staatsverneinung Nietzsches, zum Ausdruck gelangend beispielsweise in Zarathustras Wort: »Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ›Ich, der Staat, bin das Volk.‹« (IV: 61)

Von Nietzschegegnern wurde dieses Zitat als Hemmnis gelesen im Blick auf die nationalsozialistische Instrumentalisierung des Staates (vgl. Goebel 1935: 210). Allerdings setzte sich die gegenteilige Tendenz durch: Der Satz wurde so gedeutet, als handele es sich um einen vorweggenommen Abgesang auf den Weimarer Staat (vgl. Kessler 1933: 16) bzw. als habe Nietzsche den »bürokratisch-dynastischen« bzw. den »demokratisch-kapitalistischen« oder irgendeine Art von »absoluten Staatssozialismus« (Obenauer 1940: 10) aufs Korn nehmen wollen. Ähnlich wurde mit Nietzsches Deutschtumskritik verfahren, die dem »damaligen Deutschland« (Endres 1938: 3) gegolten habe und aus diesem Umstand ihre »tatsächliche Berechtigung« (Oehler 1943: 110) empfange. Entsprechend schien Nietzsches Kritik an den Deutschen vergleichbar zu sein mit »Hammerschlägen des Propheten, der sein Volk züchtigt, da er es zur Wahrheit und Größe treiben will.« (Liebmann 1943: 133) Auch Nietzsches Lob der Juden schien von hier aus verständlich und aus Verbitterung erklärbar, »um die Deutschen zu schmähen, die ihm unerkannt unter sich hatten 340 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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wandeln lassen.« (Paulsen 1942: 15) Im Übrigen sei Nietzsche bei allen widersprüchlichen Urteilen in den entscheidenden Folgerungen doch der »Urfeind der Juden und der jüdischen Werte« (Härtle 1937: 296) gewesen, sein Anti-Antisemitismus sei Folge privater Animositäten (vgl. Römer 1940: 35). Dass dieses Argument in jüngerer Zeit dazu herhalten musste, Nietzsches Anti-Antisemitismus verdächtig zu machen, sei hier zumindest in Parenthese angemerkt (vgl. Niemeyer 2011: 126 ff.). Gleichfalls zu den Niederungen der Nazifizierung Nietzsches rechnen Satzfolgen allein noch suggestiven Charakters, wie etwa: »Walten sollen die Besten zum Wohl der Menge; Nietzsche in seiner Herrenmoral zürnt der Gleichmacherei. Der Führer befiehlt – das Volk gehorcht.« (Kappstein 1933: 558)

Mitunter wurde auch gleichsam nach jedem Strohhalm gegriffen. Heinrich Härtle beispielsweise tat so, als habe Hitler, der 1933 »mit ›demokratischen‹ Mitteln die ›Gleichheitsdemokratie‹ vernichtet[e]« (Härtle 1937: 25), sich nur an ein Drehbuch Nietzsches gehalten, insofern es in § 954 von WM heißt: »Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn Jemand käme, der sich ihrer b e d i e n t e […] jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister, welche sich auf sie stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu i h r e n Fernsichten, zu i h r e n Aufgaben?«

Bis auf eine unerhebliche Auslassung hat Härtle korrekt zitiert, und man kann ihm auch nicht anlasten, was man erst heute wissen kann: nämlich, dass Förster-Nietzsche auch diesen Paragraphen willkürlich einem längeren Textbaustein entnahm (s. XII: 71 ff.), der nichts weiter darstellt als eine Vorstufe zu Aph. 242 von Jenseits von Gut und Böse, dessen Pointe denn auch sehr viel zurückhaltender klingt, nämlich wie folgt: »Ich wollte sagen: die Demokratisierung Europa’s ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Ty r a n n e n , – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten.« (V: 183)

Diese Äußerung, weder so lesbar, als habe Nietzsche hier contra Demokratie noch: als habe er pro Tyrannen (gar noch vom Typus Hitler) votiert, reichte allerdings nicht zum Ausbau von Härtles ›Strohhalm‹ – deswegen eben sein Griff nach § 954 von WM.

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Nicht minder fatal wirkte die folgende Bemerkung Nietzsches aus dem Nachlass von 1887/88 (XIII: 18) durch ihre von Nietzsches Schwester zu verantwortende Wiederkehr als Teil von § 868 von WM: »Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die B a r b a r e n des 20. Jahrhunderts?« (XIII: 18)

Dem Dichter (und Arzt) Gottfried Benn ging 1933 die Antwort: »Hier!« auf diese Frage leicht von den Lippen (vgl. Decker 2009: 170 f.), des gleichen Nazis (vgl. Falkenberg 1934: 456), dies zumal nach Kriegsbeginn (vgl. Liebmann 1944: 44), was zugleich meint, dass (diese) Nazis sich an Textexegese, etwa in der Linie Nicholas Martins (2003), nicht interessiert zeigten. Ähnliches gilt für den Anti-Nazi Heinz Schlaffer, der jenen Spruch in einen »Zuspruch Nietzsches« (Schlaffer 2007: 154) zu den NS-Verbrechen umdeutete und damit einer Nazifizierung Nietzsches zweiter Ordnung Vorschub leistete. Auf ein entsprechendes, wie auch immer erklärbare Erkenntnisinteresse verweist auch die Bedenkenlosigkeit, in der Schlaffer ein Goebbels-Zitat von 1942 als durch Nietzsche inspiriert meint auslegen zu dürfen, analog der von »seinem [Nietzsches; d. Verf.] Geist beflügelten Urlauber und die Mitglieder des Wandervogels.« (ebd.: 119) Freilich: Mit Wissenschaft hat derlei Gerede nichts zu tun, viel aber – angesichts der erstaunlich positiven Resonanz auf Schlaffers Buch im gehobenen Feuilleton – mit Wissenschaftsverfall infolge kulturindustrieller Buchproduktion. Diesem dunklen Kapitel gehört auch der ›Strohhalm‹ des Juristen Kurt Kaßler (1936: 461) zu, der einen eigentümlichen Hintersinn in dem Umstand witterte, dass Hitler in jenem Jahr das Licht der Welt erblickte (1889), an dessen Beginn Nietzsche in geistige Umnachtung gefallen war. Erwähnt sei schließlich noch der Jurist Adolf Hösel (1934/35: 44), für den rasch außer Frage stand, dass kein anderer als Hitler selbst für jenen Schaffenden Zeugnis ablege, dem schon Nietzsches Sehnen galt, als er im Zarathustra schrieb: »Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben.« (IV: 61)

Details im Blick auf Nietzsches Anliegen interessierten bei dieser Art des auf Hitler gerichteten Personenkultes nicht. Dass es um einen solchen ging, belegt auch die These, schon Zarathustra habe das Kom342 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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men eines Führers wie Hitler vorausgesagt, ebenso wie »die Entstehung eines Reiches von tausend Jahren« (Würzbach 1933: 22), denn schließlich fände sich bei ihm der Satz: »Denn einst muss er doch kommen und darf nicht vorübergehn. Wer muss einst kommen und darf nicht vorübergehn? Unser grosser Hazar, das ist unser grosses fernes Menschen-Reich, das Zarathustra-Reich von tausend Jahren.« (IV: 298)

Dass Sinn und Bedeutung dieses Satzes (vgl. Niemeyer 2007: 91 ff.) nicht interessierten, versteht sich wohl von selbst. Dieser Entschlossenheit zum Trotz blieb gleichwohl das gesamte ›Dritte Reich‹ über unsicher in der Frage der tatsächlichen Nähe zwischen Hitler und Nietzsche. Die von der Großmutter Romy Schneiders kolportierte Anekdote, Hitler habe sich in seinen ›Wiener Lehrund Leidensjahren‹ (vgl. Hermand 1988: 85 ff.) Werke Nietzsches – insbesondere den Zarathustra – ausgeliehen, gilt als wenig glaubwürdig (vgl. Hamann 1996: 282 f.). Eher schon dürfte die von Leni Riefenstahl (2000: 249) berichtete Einschätzung zutreffen, wonach Hitler mit Nietzsche nicht viel anfangen konnte. Einzubeziehen ist auch, dass Dietrich Eckart, dem Hitlers Mein Kampf gewidmet ist, Nietzsche »zum ›geborenen Gemütskranken‹ und seine Philosophie zur ›brutalen Ellenbogenmoral‹ [erklärte].« (Riedel 1997: 126) Zwar las Hitler Schriften Nietzsches offenbar während seiner Landsberger Festungshaft, auch vermachte er Mussolini zu dessen 60. Geburtstag eine Prachtausgabe der gesammelten Werke Nietzsches (vgl. Rauscher 2001: 110 u. 529). Tatsächlich aber existiert mit Eitelfritz Scheiners – von Heinrich Härtle (1937: 6) als unzulänglich kritisierter – Anthologie (Scheiner 1934) »nur noch ein Buch aus dem Führerbunker, das mit Nietzsche zu tun hat.« (Ryback 2010: 163) Selbst Nietzscheverehrer unter den Nationalsozialisten mussten einräumen, dass im Register von Hitlers Kampfschrift Nietzsche – im Gegensatz zu Wagner und Chamberlain – fehle und dass man auch von der Sache her kaum werde zeigen können, dass die Grundgedanken dieses Buches »über Volk, Staat, Rasse, Sozialismus, Deutschtum auf Nietzsches Grundgedanken […] bewußt weiterbauten.« (Obenauer 1936: 178) Andere freilich sahen dies durchaus anders und gaben der Meinung Ausdruck, Hitlers Buch fände nicht nur in den die Propaganda behandelnden Darlegungen Anschluss an Nietzsche (vgl. Giese 1934: 138). Auch Einzelzitate aus Mein Kampf suchte man als sinngleich auszugeben im Hinblick auf Nietzsche, beispielsweise Hitlers Satz: 343 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht.« (zit. n. Beck 1939: 313)

Als wichtige Quelle in dieser Frage gelten Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, festgehalten von Henry Picker (1951). Sie erlauben den Rückschluss, das im Zeitraum Juli 1941 bis Juli 1942 an diesem Ort nicht über Nietzsche gesprochen wurde (wohl aber über Richard Wagner). Zu erwähnen sind schließlich noch Hermann Rauschnings Gespräche mit Hitler, die deutlich machen, dass Hitler sich Nietzsches Übermenschenkonstrukt ebenso wie die Formel vom Willen zur Macht in seinem Sinne einverwandelte und offenbar auch Nietzsches Antichristentum als attraktiv empfand. Jochen Kirchhoff schienen diese Indizien aussagekräftig genug, um Hitler, in Bestreitung von Rauschnings Einlassung vom ›mißverstandenen Nietzsche‹, als »›Nietzscheaner‹« (Kirchhoff 1990: 98) auszuweisen. Dies wird man sicherlich infrage stellen können, aber einzuräumen haben, dass Hitler Nietzsche gegenüber positiv eingestellt war, denn ohne sein »stillschweigendes oder ausdrückliches Placet hätte es im Dritten Reich keine so ausgedehnte Nietzsche-Bewegung gegeben.« (Langreder 1970: 63) Zu beachten ist schließlich noch die Nietzschenähe weiterer Nazi-Ideologen wie Joseph Goebbels, der zumal während des Krieges den nun erforderlichen Heroismus durch Zarathustra-Zitat untermauerte (Longerich 2010: 584) und sich rühmte, schon als Jugendlicher Nietzsche gelesen zu haben (vgl. Goch 2012). Gewichtiger ist aber fraglos der Einfluss Nietzsches auf Alfred Rosenberg. So gilt – und wir haben ja bereits auf die Fälle Alfred Baeumler und Heinrich Härtle verwiesen –, dass der Name Nietzsche von »höchster parteiamtlicher Stelle mit dem Nationalsozialismus verknüpft worden [ist]« und dass sich »im Amte Rosenberg […] auch bald die glühendsten Verehrer Nietzsches [fanden]. Hier erst [lag] der Anfang des Nietzschekults im ›Dritten Reich‹.« (Langreder 1970: 62) Aber ungeachtet dessen behandelte zwar Rosenbergs Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts – wie selbst nationalsozialistische Nietzscheverehrer zugestehen mussten – Nietzsche und seinen verzweifelten »Kampf mit den materialistischen Tendenzen seines Zeitalters« mehr »sinnbildlich für diese ganze Zeit.« (Rosenberg 1930: 530) Auch hielt Rosenberg Paul de Lagarde, Houston Stewart Chamberlain und Richard Wagner bzw. den ›Bayreuther Gedanken‹ in seiner Gesamtheit für einschlägiger als Nietzsche. Den Zarathustra, auf den Rosenberg 344 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Von der Nazifizierung Nietzsches

seitens seiner späteren Frau hingewiesen wurde, verwarf er zunächst noch als ›überpathetisch‹ und ›theatralisch‹ (vgl. Kr II: 537). Später klagte er darüber, »daß es gerade die Tragödie seines Lebens gewesen sei, Nietzsche zu spät kennengelernt zu haben, so daß er ohne größeren Einfluß auf sein politisches und philosophisches Schrifttum geblieben sei.« (Langreder 1970: 62) Besonders imponierte Rosenberg an Nietzsche, ein Zeugnis abgegeben zu haben für »das tiefste Ringen nach Persönlichkeit« anstatt für ein bloßes »Ausleben aller Triebe«; selbst das Wort von der »rassischen Hochzucht« wollte Rosenberg (1930: 530) Nietzsche nicht vorenthalten. Nicht nachsehen konnte er Nietzsche allerdings, sich nicht so wie im Gegensatz dazu Lagarde »konkreter mit deutschen Fragen« (Kr II: 537) befasst zu haben. Nicht nur die ambivalente Haltung Rosenbergs lehrt, dass mit Richard Wagner ein zweiter Heros verfügbar schien, der Eintritt in den nationalsozialistischen Himmel begehrte. Hitlers Wagnerbegeisterung war hier ein förderndes Motiv, reduzierte sie sich doch nicht nur auf die Musik, sondern bezog auch, wie die Wiener Lehrjahre dieses Diktators zeigen (vgl. Hamann 1996), Wagners kulturphilosophische Schriften ein. Zu diesen gehört auch sein 1869 wieder veröffentlichter Aufsatz Das Judentum in der Musik (1850), der für den »Beginn von Wagners Antisemitismus im Sinne eines kulturpolitischen Konzepts« (Wagner 1997: 92) steht, das durch die Hitlerbegeisterung Winifred Wagners und die komplementäre Begeisterung Hitlers für diese auf fatale Weise Verstärkung erfuhr (vgl. Niemeyer 2011: 120 f.). Neues Licht fällt von hier aus auf die Erinnerung Hans Goebels’ an Hitlers Auftrag, es gelte, »aus Notwehr zur Rettung des deutschen Volkes […] den Kampf gegen das moderne Judentum« zu führen. Denn Goebel ergänzte nicht von ungefähr, dass dieser Auftrag von Nietzsche nicht gedeckt werde, im Gegensatz zu Wagner, »der die Juden den Dämon des Zerfalls nennt.« (Goebel 1935: 208) Damit war die Richtung angedeutet, aus der heraus sich die nationalsozialistische Nietzschegegnerschaft den entscheidenden Punktsieg erhoffte. Die entsprechende Antwort aus dem Lager der Verfechter der notwendigen Nazifizierung Nietzsches, die sich – wie gesehen – nicht scheuten, mit dekontextualisierten Nietzschezitaten zu operieren, um Nietzsches Antisemitismus zu belegen, war insoweit folgerichtig, aber aussichtslos. Dies zeigte sich spätestens, als der Ton infolge der sich allmählich in Bayreuth durchsetzenden Auffassung sich verschärfte, wonach der »Einzug in die nationalsozialistische Walhalla 345 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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für beide – Nietzsche und Wagner – nicht gut möglich sei.« (Ferrari Zumbini 1990: 283 f.; Brömsel 2004) Die führenden völkischen Ideologen des ursprünglich durch Cosima Wagner wie Hans von Wolzogen organisierten ›Bayreuther Kreises‹, die ihrerseits über Jahre hinweg an der Wagner/Hitler-Verbindung geknüpft hatten (vgl. Schüler 1971: 52 ff.), sahen sich entsprechend zu einer Widerlegung der vom Nietzsche-Archiv vorangetriebenen Indienstnahme Nietzsches für die nationalsozialistische Kulturpolitik gezwungen. Daraus erklärt sich auch die Ansprache, die Walter Otto anlässlich von Nietzsches 90. Geburtstag hielt. Denn wenn Otto hier formulierte: »Die europäische Musik [lies: Wagners; d. Verf.] […] kann keine Zeitgenossin des Geistes [lies: Hitler; d. Verf.] sein, der die neue Welt erschüttert und sich in Nietzsche den Propheten erweckt hat« (Otto 1936: 24),

so war dies nichts anderes als eine verschlüsselte Kriegserklärung in Richtung Bayreuth (vgl. Bense 1938: 154). In Gegenrichtung profilierte sich insbesondere der spätere Wagnerbiograph Curt von Westernhagen (vgl. Niemeyer 2011: 118). Selbst Nietzscheverehrer unter den Nationalsozialisten mussten einräumen, dass Nietzsche nur in seiner ersten Periode, in der Zeit seiner Freundschaft mit Wagner, die »Volksidee der deutschen Bewegung [vertrat]« (Obernauer 1940: 8 f.) – eine Deutung, wie erinnerlich, der Heinrich Härtle entgegenzuarbeiten versucht hatte. Nicht minder komplex nimmt sich der Streit um die Frage aus, ob und inwieweit Nietzsche die damals weit verbreiteten rassenhygienischen Erwägungen in der Tradition Houston Stewart Chamberlains teile und wie sich sein Verhältnis zu dem Wagner-Freund Arthur Gobineau faktisch darstelle, der in seinem Hauptwerk Essai sur l’inegalité des races humaines (1853–55; dt. Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, 1898–1901) das Szenario einer seiner Auffassung nach verhängnisvollen Rassenmischung (vor dem Hintergrund einer angeblichen rassischen Höherwertigkeit der Arier) entwickelte. Die Frage lässt sich auf den ersten Blick vergleichsweise leicht beantworten: Nietzsche nahm an keiner Stelle seines Werkes auf Gobineau Bezug, auch in seiner Bibliothek herrscht, was Werke Gobineaus angeht, Fehlanzeige. Ganz abgesehen davon beantwortete Nietzsche im März 1885 die offenbar durch begeisterte GobineauLektüre angeregte Anfrage seiner Schwester sowie seines Schwagers, ob er auch – in Nietzsches ironischen Worten – einen »Enthousiasmus für ›deutsches Wesen‹« empfände, mit einem vornehmen: »Im 346 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Gegentheil, im Gegentheil –« (7: 23). Diese Antwort war durchaus wortwörtlich gemeint, wie Nietzsche ein Jahr später zu erkennen gab, als er das ›Gegenteil‹ (von Rassenreinhaltung) in Vorschlag brachte und wohl nie ernster war als hier, wo er mittels dieser seiner »heiteren Deutschthümelei« (V: 195) danach trachtete, der sich damals bereits als Herrenrasse fühlenden arisch-antisemitischen Aristokratie jenes vor allem geistige Niveau der Juden als das vor Augen zu führen, dessen sie selbst wegen ihres einseitigen Vertrauens auf Autorität und Gehorsam entbehrte. Wenn man all dies berücksichtigt und zusätzlich noch die von Giuliano Campioni (2009: 212 ff.) dargelegten Argumente einbezieht, die gegen Nietzsches Kenntnis jenes Gobineau-Werkes als auch der später von Ludwig Schemann bearbeiteten historischen Szenen Gobineaus unter dem Titel La Renaissance (1877) denkt (vgl. Gobineau 1923/44), die erstmals Ende 1880, nach Nietzsches Wagnerüberwindung, im Bayreuther Wagnerkreis Furore machten, wird man nicht genug staunen können über die Chuzpe von Nietzsches Schwester, deren Verhalten in dieser Frage man durchaus strenger als Henning Ottmann (1999: 247) bewerten darf: Obwohl spätestens durch jenen 1885er Brief ihres Bruders über seine Distanz zu Gobineaus Ansichten im Bilde, ließ sie 1902 über Dritte die – auch über Brieffälschungen verstärkte – von ihr erfundene Anekdote kolportieren, Nietzsche habe eine große Sympathie für Gobineau empfunden. (vgl. Niemeyer 2011: 49 ff.) Die Folgen blieben nicht aus: Über Alfred Baeumlers Kommentar zur Genealogie der Moral fand diese Anekdote dann auch dankbar Unterkunft bei Heinrich Härtle, der nicht zögerte zu dekretieren: »Der Einfluß Gobineaus und vor allem sein genialer Instinkt führen Nietzsche zum Rassenproblem.« (Härtle 1937: 55) In der Folge unterfütterten Nazis sowohl mit dieser These als auch mit jener Anekdote ihre Indienststellung Nietzsches (vgl. Kaßler 1941: 65), obwohl schon Härtle nach Durchsicht von in sein Konzept passenden Passagen insbesondere aus WM hatte einräumen müssen, dass an eine »rassische Reinigung unseres Volkes« im Sinne der nationalsozalistischen Ideologie der »Verhinderung weiterer Zersetzung des nordischgermanischen Volkskerns und relativ stärkerer Vermehrung des eigentlich deutschen Rassenelements im Sinne des Nordischen Gedankens« (Härtle 1937: 59) bei Nietzsche nicht zu denken sei. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge wird erst der Skandal in Johannes Hirschbergers einflussreichem Urteil erkennbar, Nietzsche habe im ›Dritten Reich‹ in Sachen seines Vorschlags einer 347 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»Kreuzung aus dem adeligen Offizier der Mark und den Juden […] eine geistreiche Gefolgschaft gefunden, die in der Tat glaubte, der Übermensch sei ein Stallversuch.« (Hirschberger 1980: 517) Großflächig wird hiermit das Gebot einer kontextbezogenen Nietzschedeutung ignoriert, auch die aus der Rezeptionsgeschichte zu entnehmenden Indizien finden keine Beachtung. Widrigenfalls wäre aufgefallen, dass nationalsozialistische Interpreten jene vorerwähnte ›heitere Deutschthümelei‹ aus Nr. 251 von Jenseits von Gut und Böse in der Regel mit Formeln abtaten wie jener vom »Paneuropa Zarathustras, in dessen Ökonomie die Juden eine so entscheidende Rolle spielen.« (Kindt 1935/36: 8) Eingewandt wurde auch, und zwar mit Seitenblick auf die ›Nürnberger Gesetze‹ von 1935, Nietzsche habe in Bezug auf die so überaus wichtige Frage, welcher Rasse die Herrschaft über Europa anzuvertrauen sei, »jüdischer Blutmischung« (Obenauer 1936: 183) das Wort geredet. Dem suchte man seitens der Nazifizierer im Nietzsche-Archiv in Weimar entgegenzutreten mit dem Argument, Nietzsche habe den Gedanken der ›jüdischen Blutmischung‹ nur im Sinne der »Einflößung eines Giftes als vorteilhafte Anreizung gedacht«, nicht aber dahingehend, »den Juden etwa als Grundlage zukünftiger Menschheitsneuschöpfung in Betracht kommen zu lassen.« (Oehler 1943: 109) Auch die Pädagogik ist hier in Betracht zu ziehen mit ihrem Part im Rahmen der Nazifizierung Nietzsches. Sie war lange schon vorbereitet auf den gleichsam erbbiologischen respektive züchtungstechnischen Zweig dieser Thematik, wenn man nur an Ellen Key erinnert (vgl. Allen 2000; Niemeyer 2002: 48) oder auch Alexander Tille in Betracht zieht (vgl. Hermand 1988: 53 ff.; Zapata Galindo 1995: 53). Exemplarisch mag insoweit der Versuch von Karl Lill von Lilienbach (1907) Erwähnung finden, in frei-subjektiver Auffassung die praktischen Vorteile darzulegen, welche sich aus Nietzsches Philosophie folgern lassen, als da wären: Aussterbenlassen, Verhinderung der Fortpflanzung und möglichste Absonderung der kranken Gattung von der zu fördernden sowie, ins Pädagogische gewendet: Herabsetzen der Unterrichtsstunden auf die Hälfte mit Ausnahme von Turnen und ästhetischen Körperübungen im Freien, für die die zehnfache Zeit zu verwenden sei. Diese Denkweise setzte sich dann fort bei Siegfried Behn, der den seiner Meinung nach in der Logik der Herrenmoral Nietzsches liegenden Versuch thematisierte, »die menschliche Erziehung auf Züchtung und Zucht zu reduzieren«, um gleichsam als Ausweis auch seiner eigenen Position anzufügen: 348 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»In einer hygienisch umhegten Zeit, wo der Tod die mißratenen Geburten nicht mehr ohne weiteres ausmerzt, muß es schon die Vernunft durch Entsagung tun, soll der Entartung der Rasse vorgebeugt werden.« (Behn 1930: 30)

Es sollte nur drei Jahre dauern, ehe analog ansetzende nationalsozialistische Argumentationen Wirkung zeigten. In diesem Zusammenhang kann nicht abgesehen werden von der Rolle der Medizin in diesem Themenfeld. So setzte ein sich auf Nietzsche berufender Arzt wie Werner Catel – einer unter vielen – Stichworte wie ›Rassenhygiene‹, ›Zwangssterilisation‹ oder ›Euthanasie‹ in die Tat um (vgl. Klee 1983: 16). Nietzsche gedieh aus der Perspektive dieser Denktradition und Handlungspraxis zum »Erwecker des eugenetischen Gewissens« (Krische 1932: 87), der Auffassungen vertreten habe, die »die Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bildeten.« (Gurski 1935: 488) Der Jurist Kurt Kaßler (1941: 66 f.) adelte diese 1935 auch von Förster-Nietzsche in ihrem letzten Nietzschebuch verfochtene Position (vgl. Förster-Nietzsche 1935: 169) dann von seiner Profession her. Das Resümee stand für viele folglich fest: »Durch die Tore […] eines neuen Züchtungsgedankens, die Nietzsche gebrochen hat, schreitet heute das deutsche Volk in die Zukunft.« (Römer 1940: 65)

Ähnlich sah dies Hans Endres, der bei seinem Argument, Nietzsche habe »auch die beste Erziehung nicht über die Vererbung« gestellt (Endres 1938: 24), an jene Passage aus Jenseits von Gut und Böse dachte, in der es heißt: »Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvorderen im Leibe habe […]. Dies ist das Problem der Rasse.« (V: 219)

Endres interessierte nicht, dass Nietzsche hier in verklausulierter Form auch von sich und seinen Eltern sprach (vgl. Niemeyer 2011: 22 ff.). Vergleichbar problematisch ist das Argument aus dem Lager der medizinisch orientierten Nazifizierer, schon Nietzsche habe eine »Ausmerze des Entarteten« (Arp 1939: 394) gefordert, beispielsweise im Zarathustra mittels des Satzes: »Stirb zur rechten Zeit.« (IV: 93) Denn zum hier einzubeziehenden Kontext gehört, dass Nietzsche Jahre zuvor über den viel zu frühen Tod Raffaels geklagt hatte – an 349 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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sich nicht sonderlich auffällig, wäre Raffael nicht in einem Alter gestorben, in dem auch Nietzsches Vater verstarb. Gleichsinnig damit kritisierte Nietzsche einen seiner Zeitgenossen, der der Auffassung war, Goethe hätte sich bei seinem Tod im hohen Alter ohnehin »ausgelebt« gehabt. Nietzsche entfuhr hierzu der Kommentar: »Dass die Vielen leben und jene Wenigen nicht mehr leben, ist nichts als eine plumpe Wahrheit, das heisst eine unverbesserliche Dummheit, ein plumpes ›es ist einmal so‹ gegenüber der Moral ›es sollte nicht so sein‹.« (I: 310)

Dem folgte dann noch, er würde lieber »ein paar Jahre des ›ausgelebten‹ Goethe gegen einen ganzen Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufte einhandeln«. Der Schluss war für Nietzsche klar: »Wie wenig Lebende haben überhaupt, solchen Todten gegenüber, ein Recht zu leben!« (I: 310)

Möglicherweise, den von Nietzsche nie recht verdaute frühen Tod seines Vaters (am 30. Juli 1849) in Rechnung gestellt, hatte der insofern weitgehend vaterlos Aufgewachsene damit zugleich auch sagen wollen: ›Wie wenig Lebende haben überhaupt, meinem Vater gegenüber, ein Recht zu leben!‹ Angefügt war dem jedenfalls noch ein Tadel der Geschichte, die in ihrer Ausformung als Schicksal unterschiedslos den Tod verfügt und insoweit als »Compendium der thatsächlichen Unmoral« (I: 310) gesehen werden dürfe. Konsequent war auch die dem angeschlossene Kritik derer, die »der Geschichte zu Hülfe kommen«, indem sie sich auf die Unerbittlichkeit ihrer Ablauflogik beziehen: Nietzsche belegte sie mit Attributen wie »Apologeten des Thatsächlichen« oder »Legionäre des Augenblicks.« (I: 310) Angelegt war darin eine verschlüsselte Kritik derer, die Nietzsche mit derartigen Worten über den Tod seines Vaters hinwegtrösten wollten. Jenseits dieser Kritik verbarg sich als visionäre und erst im Spätwerk deutlich heraustretende Alternative, dass der Mensch moralisch geadelte gute Gründe zu haben schien, in den unmoralischen Selbstlauf der Geschichte einzugreifen. Zarathustras »Stirb zur rechten Zeit«, verknüpft mit einem Bannfluch an die »Überflüssigen« (IV: 93), dass sie besser doch nie geboren worden wären, ist also in dieser biographisch dimensionierten Logik zu sehen Verweise auf Beiblatt; Einfügung fehlt dort (vgl. Niemeyer 1998: 65 ff.). Dies darf allerdings nicht dazu veranlassen, Nietzsches gefährliche Erweiterung seines ursprünglichen Klageliedes zu unterschät350 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Von der Nazifizierung Nietzsches

zen. Denn diese Erweiterung setzte den Gedanken frei, man könne Menschen in notwendige, den Lebenssinn erfüllende sowie überflüssige, den Lebenssinn verfehlende einteilen. Auch andere der sich in diesem Zusammenhang anbietenden Nietzsche-Zitate sind nicht frei von Fragwürdigkeiten. Dies gilt etwa für den Hauptbeleg in Sachen der These, Nietzsche habe »häufig erstaunlich gegenwartnahe züchtungspolitische Vorschläge« sowie »klare rassenhygienische Einsichten« (Becker 1942: 21) vertreten, nämlich den schon von Heinrich Härtle (1937: 66) ins Zentrum gerückten § 734 von WM, in dem es u. a. heißt: »Die Gesellschaft, als Großmandatur des Lebens, hat jedes verfehlte Leben v o r dem Leben selber zu verantworten, – sie hat es auch zu büßen: folglich s o l l sie es verhindern. Die Gesellschaft s o l l in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen.« (XIII: 599)

Dies klang in der Tat eindeutig – aber auch nur, weil Nietzsches Schwester als Verantwortliche dieser Edition nicht darüber informierte, dass Nietzsche diesen ursprünglich für Götzen-Dämmerung bestimmten Passus selbst zurückgezogen hatte (XIV: 772). Darüber, mit Verlaub, hätten auch Steven Aschheim (1996: 263; zur Kritik: Ottmann 1999a: 437 f.) oder Stefan Breuer (2001: 239) informieren müssen, anstatt mit Vokabeln wie »[n]eoaristokratischer Antinatalismus« (Breuer) bzw. »Empfehlungen Nietzsches« (Aschheim) letztlich gemeinsame Sache mit nationalsozialistischen Nietzscheverhunzern zu machen. Damit liegt ein Fazit nahe. Denn es ist durchaus nicht hilfreich, wenn Aschheim sein eben gerügtes Argument noch Jahre später fast unverändert wiederholt (vgl. Aschheim 1998: 24), und dies ausgerechnet in einem Text, der mit einem weiträumigen, aber im Detail nicht wirklich belegten Tadel an Walter Kaufmanns angeblicher Strategie eröffnet wird, »de[n] nazifizierte[n] Nietzsche als das Produkt einer bloßen, im Grunde unverständlichen Entstellung« (ebd.: 14) ausweisen zu wollen. Wer eine solche Strategie verfolgen sollte, muss sich, so wurde im Vorhergehenden immer wieder dargetan, am jeweils im Zentrum stehenden Material beweisen können – was dann allerdings auch für Aschheim selbst gilt, etwa für das Fazit seiner viel beachteten Studie Nietzsche und die Deutschen: »Die von Nietzsche in Aussicht genommene Gesellschaftsordnung setzte zur Schaffung des zu ihr passenden Herrenmenschen ein entsprechendes Programm positiver Eugenik voraus.« (Aschheim 1996: 263)

351 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

Dieser Satz will offenbar beides sein: Exzerpt der Nietzscheinterpretation Aschheims – und Paraphrase dessen, was beispielsweise ein Heinrich Härtle zu Nietzsche vorbrachte. Damit aber werden die Grenzen unscharf, will sagen: Aschheims Arbeit, die einen Überblick über die Rezeption Nietzsches bieten will, wird aufgrund unzureichender Nietzschekenntnis des Autors Teil einer mit ihr weiter fortgesetzten Missbrauchsgeschichte. Allein schon deswegen erfordert der gegenwärtige Stand der auf dieses Themenfeld bezüglichen Rezeptionsforschung weitere, grundlegende Untersuchungen, die von genauester Kenntnis von Primärwie Sekundärliteratur getragen sind. Dies ist im Vorhergehenden vom Ansatz her versucht worden, auch eine Pointe sei mitgeteilt. Sie lautet, dass die nach 1933 im breiten Umfang praktizierte Indienstnahme Nietzsches für den Nationalsozialismus mittels der Rede der zielgerichteten Nazifizierung Nietzsches auf den Punkt gebracht werden kann und, so betrachtet, für den endgültigen Fall von Nietzsches Nietzsche Zeugnis gibt. Dass dies Folgen hat, ist Thema des nächsten Abschnitts.

5. Nietzsche nach 1945 Beginnen wir, auf diese Weise zugleich dem Stand der allerneuesten ›Forschung‹ Rechnung tragend, mit einer in ihren Intentionen und Grundzügen bereits im Vorhergehenden (vgl. Kap. XII) umrissenen Mär, jener von Kerstin Decker in ihrer Elisabeth-Förster-NietzscheBiographie Die Schwester (2016) vorgetragenen. Decker schreibt: »In der alten Bundesrepublik wurde Friedrich Nietzsche auf Kosten seiner Schwester entnazifiziert. Sie war das Bauernopfer, das ihrem Bruder, dem vermeintlichen Philosophen des Dritten Reichs, den Weg frei machte in eine neue Zeit. In der DDR blieb er fast bis zum Schluss, was er von Anfang an war: ein Staatsfeind.« (Decker 2016: 607)

Was will uns die in Leipzig geborene Autorin damit sagen? Dass es besser gewesen wäre, man hätte das DDR-Nietzschebild nach der Wende auf ganz Deutschland ausgedehnt, dann wäre Nietzsche, dieser verkappte Nazi, uns als Staatsfeind erhalten geblieben? Oder dass Elisabeth Förster-Nietzsches um 1900 greifende und mit ihrer Edition von Der Wille zur Macht (1906) ihren Höhepunkt erreichende Zurüstung Nietzsches als Staatsphilosoph des Wilhelminismus berech352 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche nach 1945

tigt war, um Nietzsches von Beginn an bestehendes Image als Staatsfeind zu korrigieren? Und dass die über fünfzehn Jahre alte These aus dem Bereich der Nietzsche bezüglichen pädagogischen Rezeptionsforschung (vgl. Niemeyer 2002: 232 ff.), wonach sich in der ›alten Bundesrepublik‹ unmittelbar nach 1945 einige vorübergehend NS-verführte Intellektuelle – Eduard Spranger beispielsweise, auch Erich Weniger – auf Kosten Nietzsches zu entnazifizieren hofften, Unsinn war? Und ersetzt werden muss durch die nun geltende These, dass man den Nazi-Nietzsche nach 1945 auf Kosten der Schwester entnazifizierte? Beginnen wir nach der Vielzahl dieser verwirrenden Fragen lieber noch einmal neu, nämlich mit offenbar unverändert triftigen Sätzen wie etwa den folgenden: War Nietzsche nach 1918 trotz des zuvor unternommenen Versuchs, ihn als ›Kriegsphilosophen‹ auszuweisen, durchaus noch ein breit diskutiertes und sehr ernst genommenes Thema, kann dies für die Zeit nach 1945 nicht gesagt werden. (vgl. zum Folgenden auch Niemeyer 2002: 224 ff.) Der Grund hierfür scheint leicht nachvollziehbar: Zu Beginn der Weimarer Epoche war noch das im Vorhergehenden rekonstruierte Bild des kosmopolitischen Nietzsche, wie es die ›Caféhausliteraten‹ der 1890er Jahre gepflegt hatten, in frischer Erinnerung und konnte entsprechend wiedererweckt werden. Nach 1945 aber war nicht nur diese Erinnerung verblasst, auch diejenigen, die als diesbezügliche Erinnerungsträger hätten in Frage kommen können, waren entweder mehrheitlich tot oder befanden sich im Exil. Auch war die Sachlage eine andere: Im Gegensatz zu der Zeit zwischen 1914 und 1918 war Nietzsche zwischen 1933 und 1945 gleichsam staatsoffiziell über einen vergleichsweise langen Zeitraum hinweg und unter Bezug auf sehr viele Themenbereiche ›nazifiziert‹ worden. Entsprechend problematisch geriet für viele die ›Entnazifizierung‹ Nietzsches. Peter Petersen beispielsweise, der Nietzsche noch 1919 als einen ›unerschrockenen Ringer um eine neue Kultur‹ geltend zu machen suchte, betonte nach 1945, dass nach all den Katastrophen der Vergangenheit für Nietzsche, den Fürsprecher eines vom Mitleiden befreiten modernen Menschen, kein Platz mehr sei oder jedenfalls doch: dass man an ihn nicht mehr anders denken könne als in den damit gesetzten historischen Bezügen. (vgl. Niemeyer 2001) Ein anderes Beispiel: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, ein entschiedener Verfechter der sich auf Marx zurückführenden ›materialistischen Erziehungstheorie‹, versah 1989 Nietzsches ›Gott-ist-tot‹-Klage aus Die fröhliche Wissenschaft und 353 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

die in diesem Zusammenhang gestellte Frage: »Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?« (III: 481) mit dem Kommentar, dass dies »angesichts Nazi-Deutschlands nicht mehr unsere Antwort« (Schmied-Korwarzik 1989: 466) sein könne. Hiermit war gleichsam ohne viel Umschweife unterstellt, dass von Nietzsches Frage hin zu den Gottgleichheitsvisionen vieler Nationalsozialisten ein gerader Weg führe. Die hiermit exemplarisch umrissene ›politisch korrekte‹ Sicht auf Nietzsche war die in West oder Ost mehrheitlich maßgebende, wenngleich die Ablehnung Nietzsches in der DDR fraglos grundlegender geriet und gleichsam staatsoffizielles Dogma war, dies im Nachgang zu Georg Lukács (vgl. Montinari 1979: 190 ff.), der mit seinem Urteil, Alfred Rosenberg habe Nietzsche zu Recht zum Ahnen des deutschen Faschismus ernannt (vgl. Lukács 1943: 208), dem nach 1945 in Osteuropa gängig gewordenen marxistischen Nietzscheverdikt die Bahn brach. (etwa Lukács 1954; Oduev 1977; Malorny 1989) Dies deutete sich schon nach Abzug der amerikanischen Truppen aus Weimar im Juli 1945 an: Max Oehler, der Leiter des Nietzsche-Archivs, wurde im Dezember 1945 seitens der Sowjetischen Militäradministration verhaftet und starb offenbar kurz darauf, 1997 jedenfalls entdeckten seine Enkellinnen sein Grab in einem sowjetischen Speziallager in Buchenwald. (vgl. Diethe 2001: 194) Die Signalwirkung dessen für das DDR-Nietzschebild war erheblich, wie Manfred Riedels Analyse der Hintergründe und Abgründe des gleichsam parteioffiziellen Schweigegebots in der DDR in Sachen Nietzsche offenbart. Ihren abstrusen Höhepunkt erreichte diese Strategie, als Wolfgang Harich seinen Ministerpräsidenten in Anspielung auf eine fatale Parallele – Honeckers Geburtstag fiel mit Nietzsches Todestag zusammen – brieflich wissen ließ, es sei ein unerträglicher Gedanke, wenn »künftig an den Geburtstagen unseres Staatsoberhaupts […] stille Gedenkfeiern für den […] Verherrlicher der ›blonden Bestie‹ und Befürworter der Abtötung des menschlichen Gewissens veranstaltet werden könnten.« (zit. n. Riedel 1997: 292) Was das Nietzschebild im Westen angeht, so wird man vor allem die negative Sicht auf Nietzsche durch den französischen Hauptankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als Initial gebend ansehen müssen. Er nämlich hielt dafür, Nietzsche müsse wegen seiner »Vision von der Herrschaft der Massen durch unumschränkte Herren« sowie seiner Forderung nach »Vernichtung jeglicher konventionellen Moral« als zentraler Ahnherr des Nationalsozialismus 354 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche nach 1945

gelten. (vgl. Der Prozess Bd. V, 1947: 424 f., 474) Damit nahm er das Motiv vorweg, das in den maßgeblichen Darstellungen zum Nationalsozialismus – etwa jener von William L. Shirer (1961: 97 ff.) – fortan dominierte. Das Interesse ›der‹ Deutschen an einem Schuldspruch in Richtung Nietzsche war erheblich. So lag Kurt Algermissens Darstellung Nietzsche und das Dritte Reich bereits im Jahr des Erscheinens (1947) im 35. Tausend vor. Auch hier war das Urteil über Nietzsche negativ und mündete in dem Befund ein, dass Nietzsches Ideenwelt »durch die Geschichte selber gerichtet [ist].« (Algermissen 1947: 4) Ähnliches findet sich bei Otto Flake (1946: 130 f.), der in Nietzsche den ›Kirchenvater des Faschismus‹ sah; bei Alfred von Martin (1946/ 47: 230), dem Nietzsches Vorliebe für den Assassinen-Wahlspruch ›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹ Indiz genug war, ihn zum geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus zu erklären; bei Ernst Barthel (1947: 7), der meinte, Nietzsche überwinden heiße, einen Tiefstand der Welt überwinden; bei Fritz Strich (1947: 94), der in Nietzsche – sowie in Richard Wagner – eine der ›Stützen des Dritten Reichs‹ sah; bei Walter Künneth (1947/48: 694), der Nietzsche mit dem Attribut ›Kronphilosoph des Faschismus und des Nationalsozialismus‹ belegte; oder auch bei Hans Pfeil (1949: 8) – eine Aufzählung, die nur als eine exemplarische zu verstehen ist und den Diskurs bis weit in die Mitte der Fünfziger Jahre hinein bestimmte. (etwa Kesselring 1954: 7) Das zur Stützung von derlei Thesen bevorzugt genutzte Argumentationsmuster folgte dabei der bereits zur Genüge bekannten Strategie des Präsentierens isoliert genommener oder bloß fingierter ›Belege‹. Josef Ackermann beispielsweise versah das Nietzschewort: »Das Leidenkönnen ist das Wenigste: darin bringen es schwache Frauen und selbst Sclaven oft zur Meisterschaft. Aber nicht an innerer Noth und Unsicherheit zu Grunde gehen, wenn man grosses Leid zufügt und den Schrei dieses Leids hört – das ist gross, das gehört zur Grösse« (III: 553) mit dem Kommentar: »Dieser bedenkliche Aphorismus hätte auch in einer Rede Himmlers stehen können.« (Ackermann 1989: 124) Nicht absehen kann man in diesem Zusammenhang auch von Heinz Schlaffer, der in einem eher schlichten Passus einer Goebbels-Rede aus dem Kriegsjahr 1942 (»Vor uns liegt noch ein steiler Aufstieg …«) Motive des legendären Wanderers Nietzsche wiedererkannte, dessen Übermensch sich nicht umsonst »in einer Region oberhalb der Menschenwelt« aufhalte – so wie letztlich auch der »Führer dieses Bergsteigervolkes«, der »am liebsten auf dem Obersalzberg [residierte].« (Schlaffer 2007: 118 f.) 355 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

Dieses abstruse Assoziationsgewitter steht allerdings, zusammen mit der vorgenannten Konjunktivkonstruktion, eher für die Ausnahme, um im Wortbild zu bleiben: für einen Gemsensteig. Auf der Hauptstraße hingegen marschieren jene, die im ›Dritten Reich‹ besonders beliebte Nietzschezitate ins Gedächtnis rufen, um sie, unter Anbringung der nun zeitgemäßen Vorzeichen, zu skandalisieren. Ein Beispiel hierfür gibt das in der nationalsozialistischen Nietzschedeutung selbstredend positiv besetzte (vgl. Spethmann 1935: 66; Pfeil 1940: 52) Schlusswort aus WM: »D i e s e We l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e rd e m ! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!« (XI: 611)

Diese Formulierung Nietzsches aus dem Nachlass vom Sommer 1885 geriet nach 1945 zu einem besonders extremen Dokument einer politischen Philosophie wie jener Nietzsches, die auf »nackte Unkultur« setze bzw. eine »rein machtmäßige Extension« (Martin 1946/47: 239) beanspruche. Derlei freilich ist fast noch harmlos im Vergleich zu den demagogischen Fertigkeiten eines Ernst Nolte, der seine These, der »Vernichtungsgedanke« mache den »negativen Aspekt« des »innersten Kernes« von »Nietzsches ganze[m] Denken« (Nolte 1963: 534) aus, unmittelbar gestützt sah durch das folgende Nietzsche-Zitat: »Steht seine Kraft noch höher da in der Rangordnung der Kräfte […]: so genügt es nicht, daß er nur der Grausamkeit beim A n b l i c k e vieles Leidens, Vergehens, Vernichtens fähig ist: ein solcher Mensch muß fähig sein, mit Genuß das Wehe zu schaffen, er muß mit der Hand und Tat (und nicht bloß mit den Augen des Geistes) grausam sein.«

Nolte hat fraglos recht: Dieses Zitat – wiedergegeben wird es hier nach der von Nolte angegebenen Quelle (Baeumler 1931a: 252) – ist, dekontextualisiert gelesen, fraglos schockierend. Aber: Darf man es dekontextualisiert lesen? Und: Ist die Quelle eigentlich sauber? Beides ist zu verneinen, Letzteres schon des Namens wegen, denn Alfred Baeumler ging es bei seiner von Nolte genutzten zweibändigen Anthologie zum Nietzsche-Nachlass unter dem Titel Die Unschuld des Werdens (1931) schlicht um Nazifizierung Nietzsches und mithin um Präsentation von Zitaten, die diesem Zweck gehorchten, der Kontext war dabei eher störend – ähnlich übrigens wie bei Nolte: Ihm ging es allein um Skandalisierung jenes Nietzsche, an den Baeumler glauben

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Nietzsche nach 1945

wollte. Dieser je auf ihre Art korrupten Zwecke wegen sucht man bei beiden umsonst, was mitzuteilen die schlichte Tugend der Redlichkeit verlangt hätte: nämlich dass das in Rede stehende Zitat aus einer von Nietzsche verworfenen Vorstufe (s. XIV: 365 f.) zu Aph. 229 von Jenseits von Gut und Böse entsteht. Dieser Aphorismus handelt zwar von Grausamkeit, etwa in Gestalt der zentralen These, dass »[f]ast Alles, was wir ›höhere Cultur‹ nennen, […] auf der Vergeistigung und Vertiefung der G r a u s a m k e i t [beruht].« (V: 166) Diese These freilich hat mit Hitler rein gar nichts und mit Freud sehr viel zu tun, wie die im weiteren Fortgang des Arguments angestellte Überlegung Nietzsches verdeutlicht: »Zuletzt erwäge man, dass selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, w i d e r den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu erkennen – nämlich nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten möchte –, als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet.« (V: 166 f.)

Dies klingt fast danach, als gedenke Nietzsche der ›Grausamkeit‹, die er sich selbst mit seinem Nein zu Wagner abverlangte. So betrachtet hat es fast schon etwas Perverses, dass der in den Spuren Noltes wandelnde kommunistische Nietzscheverächter Domenico Losurdo sich über die digitale Version der KSA empört, die jene Vorstufe nicht bringe (vgl. Losurdo 2009: 995), statt sich um Textexegese der angedeuteten Art zu bemühen. Auch Entsetzen über Baeumler und Nolte hätte Losurdo gut angestanden, wenn man bedenkt, dass beide je aus ihren Gründen jeden Hinweis darauf unterließen, dass es sich bei jenem von dem einen (Baeumler) als gut und von dem anderen (Nolte) als entsetzlich bewerteten Zitat nur um eine von Nietzsche verworfene Vorstufe handelte, die im Übrigen, in ihrem Kontext gelesen, weder die Nazifizierung Nietzsche à la Baeumler noch das auf Nietzsche bezogene Vernichtungsvokabular à la Nolte erlaubt. Dabei sind natürlich Ausnahmen von der hier zutage tretenden Regel der ressentimentgetragenen Nachkriegsauseinandersetzung mit Nietzsche ebenso feststellbar wie Nuancen in der Ablehnung sowie im Blick auf den nun ins Haus stehenden zukünftigen Umgang mit Nietzsche. So wurden schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit – heftig kritisierte (vgl. Eulenberg 1947) – Bedenken laut gegen das nun verbreitet einsetzende Bestreben, ausgerechnet Nietzsche, also »ziemlich den einzigen Europäer und Weltbürger, den Deutschland um die Jahrhundertwende erlebte, und einen der wenigen, die es 357 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

XIV · Nietzsches deutsche Rezeptionsgeschichte

überhaupt besaß« (Siewert 1947: 346), vor die Spruchkammer zu zerren und entnazifizieren zu wollen. Die entscheidende Frage in dieser Hinsicht stellte Carl August Emge: »Ob es heute zur Versöhnung der Geister beiträgt, wenn wir Friedrich Nietzsche als einen solchen Sündenbock ansehen?« (Emge 1947: 37)

Die Antwort: Ja, es trug offenbar zur Versöhnung der Geister bei, Nietzsche als Sündenbock zu präsentieren! Freilich war Emge als einer der Bedenkenträger gegen dieses Vorgehen wenig glaubwürdig, hatte er als NSDAP-Mitglied (ab 1931) doch seinerseits, etwa als (ab 1933) wissenschaftlicher Leiter der künftigen Nietzsche-Ausgabe, der nationalsozialistischen Indienstnahme Nietzsches Vorschub geleistet (vgl. Zapata Galindo 1995: 29), um sich 1946 bescheinigen zu lassen, er sei »›Antifaschist‹ gewesen und dies immer geblieben.« (Riedel 1997: 155) Dieses Zeugnis war freilich weit weniger wert als Emges ins Allgemeine gehender Hinweis. Denn tatsächlich: Was sich nach 1945 durchzusetzen begann, war das auch von Pädagogen extensiv genutzte Ritual, sich der eigenen Verantwortung für die Vergangenheit mittels Hinweises auf den eigentlichen Verführer zu entledigen. Dies galt auch für Herman Nohl, der 1946 vor Lehrern in Hildesheim einen – unveröffentlicht gebliebenen – Vortrag hielt, in dem auch von der Schuldfrage sowie von Nietzsche die Rede war (vgl. Blochmann 1969: 207 f.), allerdings ohne dass Nohl offenbar seinen eigenen Ansichten von 1935 Erwähnung tat. (vgl. Niemeyer 32010: 172 ff.) Bemerkenswert ist auch der Fall Balduin Noll: Nach 1945 wollte er den Lesern wieder den ›wahren‹, von »nationalsozialistischer Verfälschung« (Noll 1947: 90) befreiten Nietzsche präsentieren, ließ aber unerwähnt, dass er an eben dieser Verfälschung nicht unbeteiligt gewesen war. Noch 1939 hatte er nämlich dekretiert, Nietzsche habe mit seinem »Gedanken der großen Politik« eine Idee hinterlassen, die »uns Deutsche gerade heute mit doppeltem Stolz erfüllen [darf], die wir in diesem stolzesten Zeitabschnitt deutscher nationaler Machtstellung darin zugleich die Schüsselstellung deutschen Geistes für die Zukunft […] voll ermessen dürfen.« (Noll 1941: 171 f.) Immerhin: Dass Nietzsche in nationalsozialistischer Zeit ›verfälscht‹ oder ›missbraucht‹ worden war, wurde hier und da durchaus eingeräumt, etwa von Friedrich Georg Jünger, der zusätzlich zugestand: »Nietzsche [bedarf] nicht der Verteidigung; sein Werk verteidigt sich selbst.« (Jünger 1949: 171) Auch Johannes Hessen meinte, 358 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche nach 1945

dass es zwar »der Geist des Herrenmenschentums Nietzsches« gewesen sei, »der sich im Begründer des Nazismus auswirkte und so zur tiefsten Ursache für die furchtbare Katastrophe wurde, die wir erlebt haben«, fügte aber gleichwohl hinzu: »Nietzsche hat niedergeschrieben, was er kommen sah, aber […] er wünschte, es möchte alles anders kommen. Seine Kassandrarufe waren Schmerzensrufe.« In der Hauptsache sah sich Hessen befugt, Nietzsches Satz, dass Gott tot sei und man nun wollen müsse, dass der Übermensch lebe, umzudrehen in den Satz: »Der Übermensch ist tot; nun wollen wir, daß Gott lebe!« (Hessen 1948: 30 f.) Dass man hier für ›Übermensch‹ auch ›Hitler‹ setzen darf, ist evident, und dass die Botschaft lautet, nach dem Zusammenbruch möge ein neuer Aufschwung christlichen Denkens einsetzen, gleichfalls. Selbst Thomas Mann, der immerhin festhielt, der Faschismus sei »dem Geiste dessen, für den alles sich um die Frage ›Was ist vornehm?‹ drehte, im tiefsten fremd« (Mann 1947: 703) gewesen, scheute sich angesichts der gerade erfahrenen »Miserabilität« infolge des Missbrauchs jener Nietzsche geschuldeten »Romantisierung des Bösen« nicht »vor dem Bekenntnis zum Guten« in Gestalt solch »trivialer Begriffe und Leitbilder […] wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit.« (ebd.: 710) Dieses Bekenntnis war, was Thomas Mann angeht, nicht neu (vgl. Mann 1941: 856), und es war in der Nachkriegszeit auch nicht eben selten. (vgl. Martin 1946/47: 244) Im Rücken dieser Neuakzentuierungen schritt die zunehmend differenzierter werdende Neubewertung Nietzsches in den 1950er Jahren fort. Ein Beispiel gab Walter Hofer, als er schrieb, dass Nietzsche zwar »als Rebell gegen Pazifismus und Knechtsmoral des Christentums, als Verkünder der blonden Bestie und des Herrenmenschen, der allein vom Willen zur Macht beseelt ist« (Hofer 1957: 360), der geistigen Inerbenahme des Nationalsozialismus dienlich war, wenngleich er eines »sicher nicht« (ebd.: 366) gewesen sei, nämlich ein Antisemit. Dem freilich setzte spätestens Ernst Noltes bereits erwähntes 1963er Buch ein Ende. Dem Eugen-Fink-Schüler galt in dieser (späteren) Habilitationsschrift Nietzsche als derjenige, der als erster und in umfassendster Weise jenes »spirituelle Zentrum« zu Wort gebracht habe, »auf das hin aller Faschismus gravitieren muß.« (Nolte 1963: 534) Dabei konnte es Noltes Ansehen – und dem Erfolg dieses Buches auch noch nach dreißig Jahren – nichts anhaben, dass er dieses Urteil ungeachtet seines freimütigen Eingeständnisses fällte, weit davon entfernt zu sein, »Nietzsches überaus komplexer Philosophie im ganzen oder auch nur dem Menschen Nietzsche gerecht zu werden.« 359 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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(ebd.: 619) Noltes Versuch, dem letztgenannten Defizit mittels seines Buches Nietzsche und der Nietzscheanismus etwas abzuhelfen, muss als gescheitert betrachtet werden (vgl. Ottmann 1999a: 439 ff.), zumal es Nolte auch diesmal nicht für nötig hielt, die »großen philosophischen Begriffe Nietzsches« explizit zum Thema zu machen und es ihm offenbar genügte, ihnen »am Rande« (Nolte 1990: 196) seiner Fragestellung zu begegnen. Das Ergebnis war denn auch wie gehabt: Erneut sah man sich konfrontiert mit Noltes Urteil, wonach der für Nietzsche angeblich zentrale Begriff der Vernichtung, »im Wortsinn verstanden«, einen Massenmord zum Ergebnis hätte haben müssen, »mit dem verglichen die später real gewordene ›Endlösung‹ der Nationalsozialisten geradezu mikroskopische Dimensionen aufwiese.« (ebd.: 195) Eines freilich lehrt der Fall Nolte und die euphorischen Rezensionen, die sein Buch von 1963 seitens der damals nachrückenden Historikergarde – in Gestalt etwa eines Hans-Ulrich Wehler – erfuhr: In Sachen Nietzsche war für viele nach 1945 die Zeit für Urteile gekommen und die der feinsinnigen Bedenkenträger abgelaufen. Dies zeigte sich im Juni 1981: Der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein, möglicherweise inspiriert durch den Titel Von Nietzsche zu Hitler, unter dem die Fischer Bücherei 1966 eine überaus erfolgreiche Textsammlung des altgedienten kommunistischen Nietzschejägers Georg Lukács lanciert hatte, suchte die ihn deutlich beunruhigende Frage, ob Nietzsche für Grüne und Alternative von Interesse sein könne, gleich anfangs durch die Auflistung dessen ins Abseits zu rücken, was er für Nietzsches »Eigentliches« hielt: »Herrenmenschenund Eroberertum«, »Verachtung und Ausrottung unwerten Lebens«, »krude[r] Machtegoismus und barbarische Kriegsschwärmerei«. Dies saß – und erlaubte Augstein die Pointe, dass Deutschland eine »Nietzsche-Renaissance« nur dann bevorstünde, »wenn die Vernunft zertrümmert, wenn der heilige Irrationalismus gepriesen wird.« Damit lag Augstein ganz auf Lukács-Linie – und sah sich deswegen wohl autorisiert, für ein wahrlich dämonisch strukturiertes Doppelbild Hitler / Nietzsche sowie die Überschrift Wiederkehr eines Philosophen. Täter Hitler, Denker Nietzsche über seiner Spiegel-Titelgeschichte Sorge zu tragen. Beides, Bild wie Überschrift, hätten allerdings nicht nur von Lukács, sondern auch von Heinrich Härtle stammen können – was schon Indiz genug ist für die Vereinfachung, derer sich Augstein schuldig machte. Im Text selbst setzt sich dies fort, bis hin zum geradezu peinlichen Hitler / Nietzsche-Vergleich, der seinen Tiefpunkt fraglos mit der Feststellung erreicht: 360 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche nach 1945

»Bei beiden war der Drang zu einem regelmäßigen Sexualleben schwach, falls überhaupt ausgebildet.« (Augstein 1981: 166)

In der Summe gleichfalls weniger lustig denn traurig – aus demagogiekritischer Sehweise – war Augsteins Bezugnahme auf Nietzsches Prophezeiung aus einem Brief an seine Mutter vom 18. Oktober 1887, wonach sein Name »in 50 Jahren« in einer »Glorie von E h rf u r c h t « erstrahlen werde (8: 170). Augstein (1981: 156) nämlich diente derlei nur dazu, auf das Jahr 1937 hochrechnen zu können, also: Nietzsche unter Verweis auf die Nietzsche-Verehrung gleich zweier Diktatoren (Hitler und Mussolini) gleichsam posthum – und natürlich extrem ironisch – zu trösten. Wichtiges hingegen sucht man umsonst: etwa das Wort vom »guten Europäer« oder das vom »antipolitischen Deutschen«, von Nietzsche für Ecce homo angedacht. Ersatzweise beschwört Augstein (insgesamt dreimal) den Terminus »grosse Politik«, als verstünde er sich im Verein mit der Vokabel »blonde Bestie« von selbst: eben dahingehend, dass Nietzsche als Stichwortgeber Hitlers gelten müsse. Dies nahm Augstein auch als gewiß an im Blick auf Nietzsches in der Genealogie der Moral geübte Kritik an jenen »frohlockende[n] Ungeheuer[n]«, die »einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung« (III: 275) fähig seien: Augstein (1981: 170) tat so – wider besseres Wissen, das eine genaue Lektüre dieses Textstücks hergibt (vgl. Niemeyer 2013: 62 ff.) –, als beschreibe Nietzsche hier sein Ideal. Damit folgte er auch in dieser Hinsicht zumindest implizit der 1966 neu unters (bildungsbürgerliche) Volk gebrachten diesbezüglichen These von Lukács, nur dass dieser die Klaviatur des Demagogen noch perfekter zu bedienen wusste, wie seine auch auf das Frühwerk und mithin auf Wagners Nietzsche ausgedehnte Schlussfolgerung zeigt: »Man sieht: die Begeisterung des jungen Nietzsche für die Sklaverei in der Antike bleibt ein ständiges – freilich ständig gesteigertes – Motiv seines Philosophierens.« (Lukács 1954: 63)

Wie auch immer: In der Linie der gleichermaßen massenwirksamen Interventionen von Lukács und Augstein verfestigte sich jene Attitüde, die Günter Rohrmoser zeitgleich speziell im Blick auf die deutsche Konstellation mit den Worten umriss: »Sich nach Auschwitz noch auf Nietzsche zu berufen wie auf eine Quelle von Einsichten und Erkenntnissen, die uns noch betreffen könnten, wurde

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geahndet wie der Bruch eines Tabus, ja wie ein intellektuelles Verbrechen.« (Rohrmoser 1981/82: 328)

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Verantwortlich für diese Art der Engführung Nietzsche bezüglicher Deutungsmuster war auch die Anti-NS-Generation schlechthin, die der 68er. Ihr war, vermittelt über das sie abschreckende positive, um Der Wille zur Macht gruppierte Nietzschebild der Tätergeneration, Nietzsche kein Name, über den es länger nachzudenken galt. Entsprechend distanziert wohnte man 1968 Adornos Eröffnungsvortrag auf dem 16. Deutschen Soziologentag bei, nahm zur Kenntnis, dass der damalige deutsche Chefsoziologe bei seiner Antwort auf die Frage Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? – zugleich eine Antwort in Sachen der Aktualität von Marx –, nicht davor zurück schreckte, ausgerechnet den verpönten ›Antisozialisten‹ Nietzsche für seinen Ausblick auf eine vom Typus des ›letzten Menschen‹ bestimmte Epoche zu loben und Zarathustras Wort in Erinnerung zu bringen: »Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. […]. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.« (IV: 19 f.)

Adorno jedenfalls sprach diesem Zitat seinerzeit das Verdienst der Einsicht zu, »daß Unfreiheit […] universal über die Menschen sich ausbreitet.« (Adorno 1968: 360) Mehr als dies: Schon fünf Jahre zuvor hatte Adorno (1963a: 9) seine Frankfurter Studenten gleich zu Beginn seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie mit der Mitteilung überrascht, sein Satz, dass es kein richtiges Leben im falschen gäbe, fände in Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches eine Entsprechung, in dem Satz nämlich: »Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt.« (II: 54)

Wie das Ganze weiterging, weiß man: 1969, in jenem verhängnisvollen Sommer, an dessen Ende Adorno den Folgen eines Herzinfarkts erlag, hatte der Frankfurter Meisterdenker eigentlich vorgehabt, seinen Studenten – hätten sie ihn nur reden lassen – ausgerechnet Nietzsches Zarathustra als jemandem vor Augen zu führen, der einen Weg zu weisen wisse »aus der blinden Vorherrschaft materieller Praxis« hinaus, »potentiell hin auf Freiheit.« (Adorno 1969: 768) Freilich: Für derlei Subtilitäten war die Zeit damals eigentlich ab362 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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gelaufen, und ein Teil Schuld an dieser Variante des Niedergangs trug Jürgen Habermas. Ausgerechnet 1968, humorlos gegen seinen alten Chef und wohl nicht zufällig als böse, auch verlagspolitisch durchkalkulierte Begleitmusik zu der in jenen Tagen mit einer Erstauflage von über 20.000 Stück erschienenen veritablen vierbändigen NietzscheStudienausgabe des ›ewigen‹ Naziverfolgten und Bloch-Doktoranden – sowie Schlechta-Schülers und Nietzscheexperten – Hans Heinz Holz in der Reihe ›Bücher des Wissens‹ des Fischer Taschenbuch Verlages, dekretierte der ›Suhrkampianer‹ Habermas, Nietzsche habe nichts »Ansteckendes« (1968: 505 f.) mehr. Im gleichen Atemzug rehabilitierte er Georg Lukács gegen Walter Kaufmann. (vgl. Niemeyer 2016: 234 f.) Gelobt sei im Vergleich dazu Hans Heinz Holz, der Nietzsche zeitgleich gegen Lukács ›Verteufelung‹ in Schutz nahm (Holz 1968: 11), gleichsam in Vorbereitung seiner später (Holz 1976: 36 ff.) ausführlicher vorgetragenen Abrechnung mit diesem. Nimmt man noch Habermas’ spätere Kritik hinzu, Nietzsche habe das Ästhetische »zum Anderen der Vernunft hypostasiert« (Habermas 1985: 118, 120), wird man sich über zweierlei nicht wundern dürfen: über den Aufstieg der Postmoderne, die in der Linie dieses Zwischenrufs zu wähnen begann, sie befände sich mit ihrer metaphysischen Ästhetik keineswegs auf dem Holzweg, sondern im Fahrwasser eines um sein Politisches gebrachten Nietzsche – ein Zusammenhang, den wir oben schon erörtert haben (vgl. Kap. VI/2), so dass wir uns hier auf den anderen Teil der Habermas-Rechnung beschränken wollen, in der geschrieben steht, dass Martha Nussbaum Nietzsche drei Jahre nach Habermas als einen gleichfalls das Ästhetische zentral setzenden Autoren las. (vgl. Nussbaum 1988: 307) Zwecks Stützung dieser Lesart zog Nussbaum Zarathustras Wort bei (zum Folgenden auch Niemeyer 2017d), er trachte nicht nach seinem Glück – und mithin dem ›guten Leben‹ –, sondern nach seinem Werk (IV: 295). Freilich: Es handelt sich bei diesem von Nussbaum einseitig herausgestellten Wort um nichts weiter als um eine Rekapitulation von Zarathustras Ekel vor den – nur auf ihr »Fliegen-Glück« (IV: 214) stolzen – ›letzten Menschen‹. Es geht aber keineswegs – wie andernorts gezeigt (vgl. Niemeyer 2016b) – um eine Absage an die Idee des Glücks an sich, deutlicher und mit Zarathustra: an die Idee, dass das Glück des Menschen »das Dasein selbst rechtfertigen [sollte].« (V: 15) Ins Herz des Problems führt indes erst Nussbaums Wort gegen Nietzsche von 1993 in der vom Habermas-Nachfolger Axel Honneth mitherausgegebenen Deutschen Zeitschrift für Philosophie: Fast so, 363 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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als gelte es, das Habermas-Verdikt von 1968 noch einmal zu erhärten, will sagen: wiederum zwischen Walter Kaufmanns Rehabilitierung Nietzsches und dem – seinerzeit von Philippa Foot und Jonathan Glover unters amerikanische Leservolk gebrachte – »›Stiefel-im-Gesicht‹ Bild« (Nussbaum 1993: 831) à la Georg Lukács schwankend, kam diesmal auch Nussbaum zu dem Ergebnis, Nietzsche habe nichts Ansteckendes mehr, sei ihm doch wegen seiner Mitleidsskepsis, ein »bewußter Angriff auf die Grundlagen des politischen Sozialismus und der Demokratie« (ebd.: 832) zu danken, will sagen (und Nussbaum sagt es denn auch): Nietzsche sei nicht Rousseau, also ihr, Nussbaums, Idol, insofern ihm, Rousseau, das Verdienst zuzurechnen sei, das Mitleid (im V. Buch des Émile) zum »bindenden Element der egalitären Gesellschaft« (ebd.: 836) gemacht und damit – wie man wohl hinzusetzen darf – letztlich die Grundlagen des ›Capability Approach‹ gelegt zu haben. Spannend an dieser gemeinhin ganz unzulänglich rekonstruierten, weil diese Pointe ausblendenden Kritik (vgl. etwa Mchedlidze (2013: 187 f.), ist das, was Nussbaum verschweigt: nämlich die Gründe für Nietzsches Rousseau-Kritik sowie die Hintergründe für Nietzsches Hochschätzung von dessen Antipoden Voltaire. Nur die in diesen Kontext gehörende Pointe des hierauf gerichteten Nachdenkens (vgl. Kap. IX) sei hier genannt: Nietzsche las Rousseau als Teil jenes Europas im 18. Jahrhundert durchziehenden »Strom[s] moralischer Erweckung« (II: 651) samt exzentrischer Nebenfolgen, nicht aber als Teil eines von Voltaire angeregten Selbstaufklärungsprogramms, an dessen Ende Nietzsche den Übermenschen als »das s o u v e r a i n e I n d i v i d u u m « erwartete, »das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum.« (V: 293) Analysen wie diese scheinen indes außer Mode gekommen zu sein. Ein Beispiel: Arthur Danto las 1997, im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines seinerzeit von Jürgen Habermas als »bemerkenswert« (Habermas 1968: 510) gelobten Buches Nietzsche as Philosopher (1965), den Fall einer Gruppe sich auf Nietzsche berufender amerikanischer jugendlicher Mörder als Beleg für die Vergeblichkeit des Bemühens Intellektueller seit dem II. Weltkrieg, »Nietzsche in eine gütige Entscheidung zu verwandeln«, in der Umkehrung gesprochen: Nietzsche sei nicht wirklich domestizierbar, noch immer (und in Zukunft wohl unvermeidbar) ließen sich »jugendliche Wirrköpfe« durch seine »grelle Bildersprache« »dazu bringen, widerspenstige Mädchen niederzuschießen, ihre nörgelnden Mütter zu erdolchen 364 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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oder auch einfach Tiere zu foltern« (Danto 1998: 9) – ein Argument, das uns ein wenig an das Nietzschebild erzkonservativer Kreise im deutschen Kaiserreich erinnert. (vgl. Kap. XIV/1) Aber, und dies ist an dieser Stelle vielleicht wichtiger: Es weist auf frappierende Weise vorweg auf die Einleitung der Druckfassung von Gocha Mchedlidzes Erfurter Dissertation Der Wille zum Selbst (2013). Auch hier werden gleich zu Beginn vergleichbar mörderisch agierende jugendliche Handlungsträger (wieder USA, diesmal aber aus dem Jahr 1924) gezeichnet, gleichsam, so der Autor, als »Illustration für die übliche Wahrnehmung von Nietzsches ›praktischer‹ Philosophie.« (Mchedlidze 2013: 9) Anders aber als Danto – der gar nicht erwähnt wird – ist sich unser Doktorand nun sicher, dass »die letzten zwanzig Jahre der Nietzsche Forschung« (wohlgemerkt: die Jahre nach Danto) »konstruktive Elemente« in Nietzsches »Moralkritik« (ebd.: 9) entdecken halfen. Soll wohl heißen: Mchedlidze – er spricht sich hier nicht deutlich genug aus – traut sich zu, die von Danto umschriebene, nach 1945 begonnene Domestizierung Nietzsches erfolgreich zu vollenden, um die ewige Wiederkehr des Missbrauchs von Nietzsches »›praktischer‹ Philosophie« für die Zwecke jugendlicher Mörder zu durchbrechen. Nicht, dass Danto mit seiner Unterstellung einer Domestizierungsnotwendigkeit im Recht wäre, ist der mich hier interessierende Punkt – dies habe ich andernorts zu bestreiten versucht (vgl. Niemeyer 1999a: 288 f.) –, sondern dass Mchedlidze mit seiner Lesart Nietzsches im Unrecht ist. Die von ihm ausführlich kondensierten Passagen aus Ecce homo machen beispielsweise allenfalls deutlich, dass Nietzsche sehr viele Ideen darauf verwendete, wie er selbst für sich ein gutes Leben sichern könne, seien es nun – jeweils auf seine Krankheitssymptome reflektierende – Besorgnisse über das Klima, auch die Ernährung oder die Bewegung. Solche Überlegungen Nietzsches haben indes systematisch überhaupt keine Bedeutung und illustrieren lediglich, was für ihn seit Menschliches, Allzumenschliches ohnehin feststand: nämlich dass er, nun eben auch in dieser seiner Autobiographie, allererst als anti- respektive nachmetaphysischer Denker agiert, dem an programmatischer Umsetzung der diesbezüglichen ideologiekritischen Vorgabe gelegen ist, die sich in der Rede Von den Verächtern des Leibes aus Zarathustra I findet (vgl. Niemeyer 2007: 18). Positiv gewendet und um Nietzsches im Vorhergehenden immer wieder beiläufig aufgerufene Hauptbotschaft zumindest in groben Strichen zu skizzieren: Nietzsche vertrat eigentlich von Beginn seiner 365 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Entwicklung an, die Störung derselben durch die zwischenzeitliche Wagner-Idolatrie (vgl. Niemeyer 1998: 124 ff.; 2011: 75 ff.) hier in Abzug gebracht, ein anti- respektive nachchristliches Selbstbefreiungs- und Subjektivierungsprojekt, aufgenötigt durch den sich im alltäglichen Tun offenbarenden Tod Gottes, an dessen Ende der Mensch wieder »Macht über sich und das Geschick hat« (V: 294). Das Kalkül auf das Neue, ganz andere, Bessere, Utopische war dem schon immer eingelegt, etwa in Gestalt einer Art Arche-Noah-Prinzip, das auf Rettung der »Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts« (V: 574) sowie des Bildungsguts der neuen Zeit zuläuft (vgl. Niemeyer 1998: 54 ff.). Nietzsches von Nussbaum skandalisierte Mitleids- respektive Gerechtigkeits- respektive Gleichheitskritik gehorchte diesem auch durch Kulturkritik forcierten Interesse an einer »Welt, wie sein s o l l t e « (V: 365), sollte also dabei helfen, so etwas wie ›richtiges Leben‹ zumindest auf die Zukunft hin sicherzustellen. Zusammenfassend und damit zum Ende hin gesprochen: Es gibt m. E. einige gute Gründe, Nietzsches Ansatz insgesamt als – Nussbaums Rede vom ›guten Leben‹ überbietende – Lehre vom ›richtigen Leben‹ neu zur Geltung zu bringen und diese wiederum in die Programmatik Adornos neu einzufügen. Dies gilt umso mehr, als die via Habermas nur unzureichend auf Finessen à la Nietzsche vorbereitete studentenbewegte BRD-Generation offenbar nur unvollständig verstanden hat, was die durch Adornos Aphorismensammlung Minima Moralia (1951) populär gewordene Vokabel ›richtiges Leben‹ meint respektive erlaubt: nämlich nicht etwa den Rückschluss, ›richtiges Leben‹ sei bereits ›gutes Leben‹ im Sinne vorgeblicher sexueller Befreiung à la Jerry Rubin (1971; zur Kritik: Niemeyer 2019: 309 ff.) oder in der Linie paternalistisch herzustellender sexueller Freizügigkeit in Kinderläden und Heimen. ›Richtiges Leben‹ anstreben meint hingegen, sich um ein Leben in Selbstaufgeklärtheit im »Denken und Handeln« zu bemühen, mit dem Ziel, zumindest seinen Part dazu beizutragen, »daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« (Adorno 1966: 358) Ersatzweise liefe das Gegenideal, auch psychologisch tragfähig, auf ein Leben in Offenheit für das Andere und den Anderen hinaus, bei dem, mit Rudi Dutschke aus seinem Tagebuch (vom April 1963) geredet (Dutschke 2003: 17), die Entfremdung ein Ende hat, die sich in »Starrheit« und »Geschlossenheit« des Denkens dokumentiert. Deswegen auch bleibt Adorno nicht bei dem allenfalls als Totschlagargument der Springerpresse tauglichen 366 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»Linksfaschismus«-Label des Antipsychologen Habermas an die Adresse der Studentenführer stehen, sondern sichtet in jenem, der einem nicht demonstrations-, sondern studierwilligen Kommilitonen das Zimmer zerschlägt, nicht den, mit Nietzsche geredet, ›freien Geist‹, sondern den ›gebundenen‹, nach wie vor hängend an der »moralischen Prämie von den Gleichgesinnten.« (Adorno 1969: 764) Der ›neue Mensch‹ also bleibt für Adorno conditio sine qua non jeder Art ›richtigen Lebens‹. Ähnlich Ernst Bloch: Nietzsche – was nur wenige Blochfans, sich einseitig an der Zuordnung Nietzsches zur »Unheilslinie« (Bloch 1985: 355) in Blochs Leipziger Vorlesungen orientierend, wissen oder wissen wollen und was dem Nietzscheverächter und Stalinisten Domenico Losurdo vermutlich die Zornesröte ins Gesicht triebe – gehört zu einer seiner frühesten Entdeckungen und erklärt Gerhard Zwerenz’ Urteil, Bloch bedeute letztlich »eine Weiterführung der Subversion Nietzsches.« (Zwerenz 1987: 597) Tatsächlich stellte Bloch schon als Zwanzigjähriger (1906) heraus, dass von Nietzsche, der »Weg zu einer neuen Philosophie der Kultur« ausgehen müsse, hin »zu einem durch genaue Erforschung und Vertiefung des Selbst ermöglichten und eroberten Standpunkt der vollkommenen Autonomie.« (Bloch 1906: 593) Diesen Impuls Nietzsches in der gleichnamigen, kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen, von Jost Hermand (1978: 138) nur sehr nachlässig und mit erkennbarem Abscheu vor dem Gegenstand (Nietzsche) porträtierten Schrift (Bloch 1913) treulich bewahrend, war für Bloch klar, dass die Transformation des düsteren »I n c i p i t t r a g o e d i a « (V: 571), mit der Die fröhliche Wissenschaft endet und Zarathustra als Figur angekündigt wird, nur dann durch das Bloch’sche »incipit vita nova« (Bloch 1923: 309) ersetzt werden kann, wenn der befreiende Slogan »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« (V: 530), der jenes Werk prägt, erhalten bleibt. Dass es daran ernsthafte Zweifel gibt, die auch mit der nie recht überwundenen respektive durchschauten Wagner-Idolatrie Nietzsches zusammenhängen und sich insbesondere in Nietzsches Ecce homo beobachten lassen (vgl. Niemeyer 2013: 88 ff.), sei nicht bestritten, beeinträchtigt aber nicht das Recht, mit welchem Bloch noch 1968 – wohlgemerkt: in jenem Jahr, in dem Habermas Nietzsche, wie gesehen, ›nichts Ansteckendes mehr‹ zu bescheinigen sich getraute – Nietzsche einen »Atheismus voll utopischer Kühnheit« (Bloch 1968: 323) zusprach. Was derlei Kühnheit meint und erfordert, hat Bloch eigentlich sein ganzes langes Leben über in immer neuen Varianten 367 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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verdeutlicht: Es gilt, das ›Noch-Nicht‹ freizulegen, dass sich in jedes nachwachsenden Menschen fast schon naturwüchsig artikulierenden Widerwillens gegen den von Nietzsche skizzierten Typus des ›letzten Menschen‹ artikuliert, wenn denn nicht – so Blochs Schreckensbild schon aus früher Zeit, im Abschnitt Störende Grille aus den Spuren (1930) – am endlich zur nicht-entfremdeten Geltung gebrachten Proletarier sich jenes Drama wiederholen soll, das am Bürger, anhand von dessen Transformation vom ›citoyen‹ zum ›bourgeois‹ (Bloch 1930: 30), studierbar ist. So gesehen sind beide Utopien, jene vom ›richtigen‹ als auch jene vom ›besseren‹ Leben, auf psychologische Konzepte der Transformation in Richtung des ›neuen Menschen‹ angewiesen. Auch Nussbaums Rede vom ›guten Leben‹, die ja keine Utopie sein will, sondern Teil von realsozialistischer Politik auf UNO-Niveau, wird diesen Aspekt nicht ausklammern dürfen, wenn denn nicht jener in Bertolt Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1928/29) zu besichtigende Casus in Geltung treten soll: Dem hier in je drei Versen gefeierten guten Leben (»Wunderbar ist der Heraufkommen des Abends / Und schön sind die Gespräche der Männer unter sich!« »Schön ist die Ruhe und der Frieden / Und beglückend ist die Eintracht.« Sowie: »Herrlich ist das einfache Leben / Und ohnegleichen ist die Größe der Natur.«) folgt jeweils der gleichsam unbarmherzige Kanon: »Aber etwas fehlt« (Brecht 1928/29: 27) – übrigens sehr zur Freude von Bloch (1959: 1073), der er noch 1964 in einem Rundfunkgespräch mit Adorno Ausdruck gab (Bloch/Adorno 1964: 701) und die nachwirkt in seiner Einsicht: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein; das ist nicht nur ein biblisches Wort.« (Bloch 1968b: 397)

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Kapitel XV

Nietzsche heute: Das Beispiel Corey Robin – der hellsichtig Donald Trump vorhersagte, aber im Fall Nietzsche einer Lesehilfe bedarf

Ein Buch von 2011 geht aktuell in Neufassung um die Welt, nun auch enthaltend ein Kapitel über Nietzsche mit der rätselhaften Überschrift An Nietzsches Rändern sowie dem Untertitel Die Geburt des Neoliberalismus. Soll womöglich heißen: Man muss schon sehr weit weg sein von Nietzsches (vgl. Kap. XVI/1) ›Centrum‹, – schon von Gocha Mchedlidze (2013) aufgerufene (vgl. Kap. XIV), um einen Untertitel wie diesen für sinnvoll zu halten – der im Übrigen konterkariert wird durch den Satz, Nietzsche hätte die neoliberale Bewegung »wahrscheinlich verachtet« (Robin 2018: 157). Aber es kommt, wie die Überschrift dieses Kapitels andeutet, noch schlimmer: Das hier in Rede stehende Buch Der reaktionäre Geist. Von den Anfängen bis Donald Trump (2018) von Corey Robin, des – wie der Verlag stolz auflistet – Professors für Politikwissenschaften am Brooklyn College und des Graduate Center der City University of New York und regelmäßigen Autors des Guardian, enthält nicht ein einziges triftiges Wort über Nietzsche, und dies, wo ihm doch The New Yorker bezogen auf die Erstfassung den Werbespruch angedeihen ließ: »Das Buch, das Trump vorhergesagt hat.« Wie also kann es sein: diese Hellsicht – und jene Kurzsichtigkeit? Um keine falschen Erwartungen zu wecken: Eine Antwort auf speziell diese Frage kann ich nicht geben, will es eigentlich auch nicht, zumal sie ganz unwichtig ist – im Vergleich zur These selbst, die ich zunächst durch ein Beispiel erläutern möchte: Im dritten und letzten, von den USA – nicht von Europa, Kapitel II – handelnden Teil seines Buches geht der Autor unter der immerhin recht lustigen Überschrift Metaphysik und Kaugummi ein auf die jüdische Schriftstellerin und Drehbuchautorin Ayn Rand (1905–1982), konkret: auf deren Projekt über das »Studenten-Duo Leopold und Loeb, die sich für ›Übermenschen‹ im Sinne Nietzsches hielten und 1924 einen Mord aus reinem Überlegenheitsgefühl begangen hatten.« Die Zusammenfassung des angedachten, durchaus im US-Kino nicht ungewöhnlichen Skripts 369 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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durch die Rand-Biographin Jennifer Burns, handelnd von einem Mörder »mit einem wunderbaren, freien, leichten Gewissen« bei gleichzeitigem »vollständigen Mangel an Sozialinstinkt oder Herdentrieb« und bar jeden »Organs dafür […], die Notwendigkeit, den Sinn oder die Bedeutung anderer Menschen zu verstehen«, adelt Robins mit dem Vermerk: »Was man durchaus als zutreffende Wiedergabe von Nietzsches Lehren in Die Genealogie der Moral auffassen kann« (Robin 2018: 209) – soll heißen: Streng genommen und das Urteil dieses Politikwissenschaftlers pars pro toto gelesen, steht aktuell nicht nur Nietzsches Zarathustra zur Disposition, sondern letztlich Nietzsches Gesamtwerk (wenn man Nietzsches Genealogie, ein Werk, in welchem der Übermensch jedenfalls nicht expressis verbis von Relevanz ist, einmal nehmen darf als Teil des Ganzen). So kann man die Sache sehen, keine Frage – ist dann aber nicht mehr, wie in Rückerinnerung an das zum Übermenschen Gesagte (vgl. Kap. XI) wohl geurteilt werden darf, ›an Nietzsches Rändern‹, sondern schon weit jenseits derselben, heißt: im Niemandsland des Redens über dies und das ohne jede Sicherung. Man kann sich in diesem Niemandsland wohl fühlen, so etwa wie in der Kneipe um die Ecke, keine Frage. Aber man muss über dieses Wohlgefühl ja nicht gleich ein ganzes Buch schreiben, das selbst Robins deutscher Verlag als »thesenfreudig und meinungsstark« charakterisiert (eigentlich ein Schimpfwort, aus wissenschaftlicher Sicht). Nehmen wir, ausgehend von diesem Beispiel vorsichtig gestimmt, Corey Robins zentrale These im Blick auf Nietzsche ein wenig genauer in Augenschein. Robin macht Nietzsche zum eigentlichen Geburtshelfer des Neoliberalismus, erklärt ihn in dieser seiner Eigenschaft, zusammen mit Thomas Hobbes, zum »bedeutendsten Philosophen der Gegenrevolution« (Robin 2018: 112), den letztgenannten Term in Analogie zum Ausdruck ›Gegenaufklärung‹ gelesen und als affin gesetzt zum auf Hans Freyer zurückgehenden Term ›Revolution von rechts‹. (vgl. Weißmann 2009: 134) Attribute wie diese sind zwar etwas verwirrend, insofern die (französische) Aufklärung erst nach Hobbes begann, wie am Exempel des Hobbes-Antipoden Rousseau und dessen Demokratie- und Demokratisierungsprogramm studierbar, womit Hobbes zum ›Gegenaufklärer avant la lettre‹ mutierte. Bleiben wir aber zunächst einmal bei Robins Rekonstruktionsversuch und der ihr innewohnenden Gleichsetzung von Hobbes und Nietzsche – eine Provokation, ohne jede Frage, was man aber nur erkennen kann, wenn man die Geschichte so erzählt, wie sie 370 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Robin, wäre ihm an Wissenschaftlichkeit und Fairness gelegen, hätte erzählen müssen. So meine These, nun ihre schrittweise Begründung: Zunächst und das Allerwichtigste: Auf Hobbes’ Leviathan (1651) – ein Schlüsselwerk der Neuen Rechten (vgl. Lehnert / Weißmann 2010: 144 ff.) – geht die Formel vom »Krieg aller gegen alle« (Hobbes 1970: 115) zurück, die erst durch Rousseaus allerersten Satz aus dem Émile (1762), die Feststellung also, dass der Mensch gut sei, aber alles »unter den Händen des Menschen« (Rousseau 1762a: 9) entarte, als (Rechts-) Ideologie entlarvbar wurde, die dazu dienen sollte, Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen angesichts der von Hobbes als anthropologische Konstante gesetzten prinzipiellen Unfriedfertigkeit des Menschen als irrelevant und vergeblich zu diffamieren. Der zweite Coup Rousseaus bestand darin, seinen als demokratisches Gegenstück zu Hobbes antidemokratischem Leviathan zu lesenden Contract Social (1762) mit dem Satz zu eröffnen: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.« (Rousseau 1762a: 6) Denn damit war die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit eingeklagt, den Menschen als einen Bürger im Rahmen eines Gesellschaftsvertrages zur Geltung zu bringen – gegen Hobbes, der in seinem Leviathan sich einseitig daran interessiert zeigte, die Grundlagen für die in der Folge hin und wieder für den Staat recht nützliche Abweisung von sozialstaatlich eingebetteten Hilfeprogrammen unter Verweis auf die höheren Zwecke absolutistischen Gottesgnadentums zu legen, dessen Rechtfertigung Hobbes als eines seiner dringlichsten Ziele erkannte. Das zu diesem Zweck von Hobbes gemalte Bild eines – den Staat symbolisierenden – (künstlichen) Menschen, der damit beschäftigt ist, seine Haut auf Erkrankungen zu inspizieren, auf Geschwüre etwa, Geschwulste und Beulen, die in Hobbes’ Metaphernlehre »unrechtmäßige Vereinigungen« (Hobbes 1970: 211) repräsentieren und die es auszurotten gilt, war zu diesem Zweck extrem hilfreich, ebenso wie der allen auf Veränderungen zielenden, auch sozialen Bewegungen zu vermittelnde Hinweis: »Einigkeit ist gesunder, Aufruhr hingegen kranker Zustand und Bürgerkrieg der Tod.« (ebd.: 6)

Wer mag – und Rechtspopulisten aller Couleur mochten und mögen offenbar bis auf den heutigen Tag –, kann in Umschreibungen wie diesen einen Wink verborgen sehen für den Umgang mit oppositionellen Kräften jedweder Art als einer den Gesamtorganismus gefähr371 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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denden Entität. Gefahrgut wird, von hier aus betrachtet, Bildung, zumal durch Aufklärung forcierte, weswegen Hobbes schließlich auch noch als Anti-Bildungstheoretiker par excellence zu gelten hat, folgte er doch der Einsicht, Wissen sei Macht, Unwissen der Masse nütze also den Herrschenden (wie, dies kann hier zugestanden werden, Nietzsche in seinen allerdings von ihm nicht zur Veröffentlichung freigegebenen Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten [1872] durchaus einzuräumen bereit war; vgl. Niemeyer 2016: 56 ff.). Corey Robin äußerte sich hierzu nicht mit einer Zeile, schlimmer (zumal für ihn und sein Argument): Er ignorierte komplett (und hört es hier vermutlich zum ersten Mal), dass Nietzsches Zarathustra in wesentlichen Hinsichten als Auseinandersetzung mit Hobbes’ Leviathan gelesen werden muss. Dies ist andernorts ausführlich dargestellt worden (vgl. Niemeyer 1998: 394 ff.), deswegen hier nur so viel: Nietzsches Auseinandersetzung mit Hobbes wird im Zarathustra zum Abschluss gebracht mit Zarathustras Abgesang auf die, die es zum Staatsdienst drängt, ohne dass sie dabei bedenken, was ihnen damit abverlangt werde: nämlich Selbstverleugnung und Handhabung von Klugheitsstrategien, in der offenkundig auf Sokrates Ende anspielenden Metaphorik des Zarathustra gesprochen: »Staat nenne ich’s, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – ›das Leben‹ heisst.« (IV: 62)

Dieses Wort vom ›Selbstmord aller‹ überlagert endgültig jenes andere vom ›Krieg aller gegen alle‹, dem angeblich Hobbes’ zufolge nur die Staatsgründung in ihrer ordnungs- wie sozialpolitischen Zielsetzung abzuhelfen vermag. Anders gesagt: Nietzsche machte die Rechnung auf über die Folgen, die auch Hobbes schon hätte abschätzen können, wenn er gewollt hätte. Und er präsentierte mittels Zarathustras Umdrehung, dass der »Mensch, der nicht überflüssig ist« (IV: 63), erst dort beginne, wo der Staat aufhöre, seine gleichsam anti-etastische Option in Sachen Resubjektivierung. Kurz geredet: Insofern Nietzsche hiermit einen Lösungsvorschlag unterbreitet, die den Menschen von seiner Instrumentalisierbarkeit für Staatszwecke oder für andere Zwecke außerhalb seiner selbst untauglich macht, ist er im Ergebnis nichts anderes als ein Hobbes-Antipode. Deutlicher noch macht dies Zarathustras Schlusswort aus Vom neuen Götzen:

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»Dort, wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?« (IV: 64)

Nietzsche paraphrasiert hier den Schluss des Rheingold. Anders aber als Wagner, der die »zum Untergang verurteilte Vertragswelt des Staates« (Borchmeyer/Salaquarda 1994: 1359) verkörpern wollte, geht Nietzsches Absicht dahin, den Ausblick freizugeben auf den Übermenschen und damit auf eine vollkommene, von Staatszwecken ebenso wie von der Gottesidee freigesetzte Sozialordnung, eine, wie man vielleicht sagen darf, »Gemeinschaft freier Einzelner« (IX: 395), der der (recht verstandene; vgl. Kap. XI) Übermensch bedenkenlos »das Abbild der Ewigkeit« aufdrücken kann und die ihn folglich nicht mehr nötigt, »nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begnadigungen« (IX: 503) Ausschau zu halten. Nun auch ist erst die Bejahung möglich auf die an sich rhetorische Frage: »Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?« (III: 570) Der Gedanke der ewigen Wiederkunft, der in diese Frage eingelegt ist, kann also auch gefasst werden als ethische Formel zur Beglaubigung eines vollkommenen Lebens in einer vom Reich der Fiktion ins Reich der Realität übergesprungenen Sozialutopie. Dies indes wird nur sichtbar, wenn man Nietzsche nicht nur als Freigeist liest, sondern ernst nimmt als einen Philosophen, der in seinem sozial- wie staatsphilosophischen Denken den Einklang suchte mit dem, was dem Bestand der Erde als eines empfindsamen, von Krankheiten bedrohten Organismus frommt. Sowie, natürlich auch dies: Derlei wird nur sichtbar, wenn man Nietzsche, anders als Robin, zu verstehen versucht und nicht lediglich mit absurden Thesen, wie der, dass er gemeinsam mit Hobbes der ›bedeutendste Philosoph der Gegenrevolution‹ war, behelligt. Vor diesem Hintergrund überrascht durchaus nicht, dass Corey Robin von Nietzsches Anti-Hobbes-Pointe offenbar noch nichts gehört hat, also seiner im Nachlass nachlesbaren Schlussfolgerung zu Aph. 453 von Menschliches, Allzumenschliches: »Also ist die Existenz von Staaten überhaupt (die miteinander nothwendig im ununterbrochen bellum omnium contra omnes stehen) ein Hinderniß der Cultur.« (XIV: 147)

Direkt in Richtung Robin gefragt, rhetorisch, selbstredend: Ist dies eine Überlegung, die ein ›Philosoph der Gegenrevolution‹ riskieren kann oder hätte riskieren können? Oder ist dies nicht vielmehr eine, 373 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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die Nietzsche, wäre sie nur veröffentlicht und ›linkspopulistisch‹ unters Volk gebracht worden, unmittelbar an die Spitze der linken (Spaß-) Revolte gegen jede rechte ›Gegenrevolution‹ hätte spülen müssen – unter Einschluss der aktuell, nach den an Trump-Gegner adressierten Briefbomben sowie dem antisemitischen Amoklauf eines weiteren Trump-Anhängers offenbar allmählich Gestalt gewinnenden Aufstands der Anständigen gegen den Rechtspopulisten Donald Trump? Die sich auch, um Nietzsches Distanz zu Trump zu betonen, mithilfe von Nietzsche-Sätzen wie: »Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her« (V: 87) hätten organisieren können, des Weiteren mittels Nietzsches Spott (auch auf den Darwinismus): »Die Affen sind zu gutmüthig, als daß der Mensch von ihnen abstammen könnte.« (XI: 74) Werden wir nach diesem kleinen Ausflug vom Typ Galgenhumor wieder ernster, fragen wir nach dem Recht, mit dem Corey Robin das zweite der von ihm für Nietzsche ins Spiel gebrachten Attribute begründet: den Neoliberalismus. Auf den Armuts- wie Rechtsextremismusforscher Christoph Butterwegge geht, was den deutschsprachigen Diskurs angeht, der Vorschlag zurück, auch den Neoliberalismus (und mithin Hartz IV) der ›Neuen Rechten‹ zuzuschlagen (vgl. Gessenharter / Pfeiffer 2004: 224 ff.) – eine Idee, mit der ich zunächst nichts anzufangen vermochte, weil dies bedeutet hätte, auch Gerhard Schröder als Rechtspopulisten zu brandmarken, eine, wie mir schien und nach wie vor scheinen will, kaum hilfreiche Verwässerung des Begriffs. Jenseits dessen kann man indes durchaus darüber nachdenken, ob es weiterführt, den Neoliberalismus, vorerst definierbar als Parteinahme für den Starken mit der Folge seiner Inschutznahme vor den Ansprüchen der Schwachen, eher auf einer ›rechten‹ denn auf einer ›linken‹ Agenda zu beheimaten. Denn dies hätte den Vorteil, den Ursprung des aktuell lebhaft und vielgestaltig debattierten (vgl. etwa Mührel/Mührel 2018; Hundeck 2018) Neoliberalismus in jene Epoche zurückzuverfolgen, in welche die ›linke‹ Agenda ihre erste Beschriftung erfuhr: Gemeint ist die Zeit (was speziell Deutschland angeht) um 1900, als die ›soziale Frage‹ in den Vordergrund drängte und mit ihr das Problem, ob man selbiger mittels einer sozialstaatlichen Option im Sinne etwa der Bismarck’schen Sozialreform Herr werden solle – oder eben nicht. Letzteres meinten zumal Rassenhygieniker wie Alfred Ploetz als auch Sozialdarwinisten wie Alexander Tille, die je für sich im Ergebnis darin übereinkamen, dass, so 374 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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exemplarisch Ploetz weitgehend konform gehend mit Tille (1895: 232 f.), der »Armuth mit ihren ausjätenden Schrecken« nicht entbehrt werden könne und »›humane Gefühlsduseleien‹ wie Pflege der Kranken, der Blinden, Taubstummen, überhaupt aller Schwachen […] nur die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl« (Ploetz 1895: 9 f.) hinderten oder verzögerten – ein Programmpunkt, den später die Nazis aufgriffen und zur Abschaffung der ›Humanitätsduselei‹ schlechthin, der Wohlfahrtspflege respektive Sozialpädagogik, nutzten zugunsten einer am Recht des Volkes auf eine erbgesunde Nachkommenschaft orientierten Volkspflege, dies übrigens unter aktiver Mitwirkung einer Fachikone wie Herman Nohl. (vgl. Niemeyer 32010: 174 ff.) Hiervon wäre an sich hier nicht groß zu handeln – hätten Alfred Ploetz wie Alexander Tille nicht je für sich, auch dies in Vorwegnahme der späteren NS-Strategie, als ihren Ideengeber auf Zarathustra respektive Nietzsche verwiesen, soll heißen: Wir sind unversehens mitten im Thema – kaum überraschend übrigens, wenn man an auf Nietzsche bezügliche Attribute denkt wie »Philosoph des Kapitalismus«, die um 1900 aus linker respektive marxistischer Sehweise gängig waren (vgl. Kap. XIV/1 Niemeyer 2019: Kap. 9) und die man heutzutage offenbar, ginge es nach Corey Robin, neu beschriften müsste mittels des Satzes: Nietzsche, der »Philosoph des Neoliberalismus respektive neoliberalen Turbokapitalismus« – so dass die Erweiterung der Überschrift um das Wort ›Pro-Kapitalismus‹ vorerst gerechtfertigt scheint, etwa auch dahingehend: Wer ›anti-kapitalistisch‹ argumentiert, vertritt eine eher ›linke‹ Agenda, wohingegen einer ›rechten‹ respektive ›neu-rechten‹ Agenda immer eine ›pro-kapitalistische‹, die Kapitalseite vor ungebührlichen Belastungen durch Transferleistungen schützende Attitüde eignet. Beispiele hierfür finden sich im Wahlprogramm der als »Partei der Priveligierten« wahrgenommenen AfD unter dem Stichwort ›Abschaffung der Vermögens- und Erbschaftssteuer‹ (vgl. Butterwegge 2018: 45) sowie in Gestalt des Konzeptes »eines (sozial) schlanken, aber (sicherheitspolitisch) starken Staates« (Ptak 2018: 72) – ähnlich, unter der Losung ›Kampf gegen Obamacare‹, bei Donald Trump. Diesem Themenkomplex gehört auch Peter Sloterdijks AntiSozialstaats-Projekt zu. »Journalisten und Sozialwissenschaftler altlinker, gelegentlich sogar alt-leninistischer und paläo-maoistischer Provenienz«, so Sloterdijk, empörten sich maßlos über seinen vergleichsweise harmlosen Vorschlag, die auf Thomas Hobbes zurück375 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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gehende zentrale Stellschraube aller staatsinverentionistischen Ideologie, nämlich das »misanthropische Weltbild« (Sloterdijk 2010: 40) vom Typ ›Krieg aller gegen alle‹, ein wenig zu verschieben in Richtung eines menschenfreundlicheren, das »Mitgefühl« als »stärkste Quelle aller gebenden Handlungen« (ebd.: 40) betonenden Umgangs miteinander. Was sie, seine Kritiker, übersähen, so Sloterdijk weiter, sei, dass nur auf diese Weise »das Gemeinwesen mittels einer weit ausgebauten und psychopolitisch klug gesteuerten Geberkultur auf thymotischer und freiheitlicher Grundlage« (ebd.: 41) möglich werde und die durch die Französische Revolution versprochene »Kollektivaristokratie« (Sloterdijk in Sloterdijk / Macho 22014: 33) endlich in Wirksamkeit träte. Mehr als dies: Die beim gegenwärtigen Steuerund Abgabesystem unvermeidliche »systematische Entwürdigung der Geber durch die organisierten Nehmermächte« (Sloterdijk 2010: 42) könne auf diese Weise außer Kraft gesetzt werden. Dies ist, wie zugestanden werden kann, ein auf den ersten Blick faszinierender, vielleicht allerdings etwas zu pastoral und in der Anrufung des »Mitgefühls« durchaus auch anit-nietzscheanisch anmutender Vorschlag, dem terminologisch – und darauf kommt es uns hier allererst an – eignet, sowohl, via Inschutznahme der Starken vor organisierten Hilfeansinnen der Schwachen, neo-liberal rubrizierbar zu sein als auch pro-kapitalistisch (allein wegen der von Sloterdijk unter dem gemeinsamen Nenner ›Anti-Kapitalismus‹ zu listenden Antipoden seines Vorschlags). Auf den zweiten Blick muss allerdings durchaus auffallen, dass dem ›misanthropischen Weltbild‹ à la Hobbes ja schon längst durch Rousseau ein Menschen- wie Weltbild entgegensteht, das weit mehr exponiert als so etwas wie ›Mitgefühl‹ als Voraussetzung von ›Privatwohltätigkeit‹ (um mit der letztgenannten Vokabel Peter Sloterdijks Vorschlag herunterzubrechen auf die für ihn passende Vorstellungswelt der durch Johann Hinrich Wichern geprägten Diakonie des 19. Jahrhunderts; vgl. Niemeyer 32010: 71 ff.). Rousseau hat vielmehr gegen Hobbes, wie Sloterdijk selbstredend weiß, den wissend gewordenen aufgeklärten Bürger gegen die ihm als Gott gewollt suggerierte Ordnung in Geltung zu setzen versucht und damit, wie Sloterdijk vermutlich nicht weiß, den Sozialpädagogen Paul Natorp angeregt, die negative Anthropologie à la Hobbes zu konterkarieren, allerdings nicht wie bei Sloterdijk mittels einer positiven Anthropologie, sondern durch unmittelbare – etwa qua Nachbarschaftsverbände – Initiierung eines Miteinander, das dabei hilft, den nach Natorp eigentlichen Kern der sozialen Frage, 376 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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nämlich die Verarmung des sozialen Lebens, zu stoppen und darüber staatlich organisierte Fremdhilfe langfristig entbehrlich zu machen. (vgl. Niemeyer 32010: 102 ff.) Nicht, dass mir gelegen wäre an Wiederaufnahme derartiger Modelle, die immer ja auch, wie die NS-Zeit und hier die Artamanenbewegung lehrt (vgl. Niemeyer 2013: 76 ff.), völkischen Zwecksetzungen unterwerfbar sind. Vielmehr geht es mir um die gegen Sloterdijks Ansatz zu setzende fachgeschichtlich gesicherte Beobachtung, dass Alternativen zu sozialstaatlichen Sicherungen nicht notwendig pro-kapitalistisch angelegt waren und schon gar nicht auf das »Mitgefühl« des freiwilligen Gebers rekurrierten, sondern wie exemplarisch beim Kommunitarismus beobachtbar, bürgerschaftliches Engagement jenseits der einseitigen Fixierung des egalitären Liberalismus auf den Sozialstaat erprobten und darin den von Natorp formulierten Forschungs- und Gestaltungsauftrag im Blick auf »die sozialen Bedingungen der Bildung und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens« (Natorp) Rechnung zu tragen suchten (vgl. Niemeyer 2003: 32 ff.). Und damit nun zurück zu Nietzsche und zur Frage, was ihn eigentlich als eine Art Chefdenker des Neoliberalismus, zumal im rechtspopulistischen Gewand, qualifiziert. Corey Robin sagt es ja selbst: Nietzsche hätte die sich um den Namen des Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich von Hayek gruppierende Bewegung des Neoliberalismus »sehr wahrscheinlich verachtet« (Robin 2018: 157) – was, gelinde gesagt, nach Widerspruch klingt und so, als sei nicht wirklich ernst gemeint, was nun als Nächstes kommt: Robin unterrichtet nicht etwa, wie im Vergleich dazu Ralf Ptak, über Schlagworte Hayeks wie jenes von der »Entthronung der Politik«, also die »Idee einer von Politik befreiten Marktgesellschaft« (Ptak 2018: 69), sondern er offeriert ersatzweise eine fürwahr blumige Definition des Neoliberalismus (»eine Romantisierung und Heroisierung des Marktes« mit dem Ergebnis, das er »als Schauplatz aristokratischer Tugenden, ästhetischer Werte und kämpferischen Mutes verstanden wird, nicht als Kontor bürgerlichen Dünkels«), und zwar in der Absicht, eine Übersetzung derselben anzubieten in Richtung desjenigen, »[w]as Nietzsche die ›große Politik‹ nennt«, nämlich »die Verkörperung der antiken Ideale edlen Handelns, ästhetischer Vorstellungen von künstlerischer Schöpfung sowie einem anspruchsvollen Bild des Kriegertums.« (Robin 2018: 157) Dies sind – neidlos sei es eingeräumt – schöne, geradezu immer schöner klingende Worte, nur: Was haben Sie mit der Realität des Neoliberalismus sowie mit dem zu tun, 377 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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was Nietzsche umtrieb? Sowie: Wie kriegen wir von hier die Frage in den Griff, wie es zu – wie Robin ja meinte – Nietzsches Verachtung des so definierten Neoliberalismus kam? Eine durchaus ja berechtigte Frage, zumal Corey Robin in der Folge vor allem Material darbietet, das nicht Nietzsches Verachtung klärt, sondern der Verachtung Nietzsches durch den Leser sowie der Leserin dienlich scheint. Dies gilt etwa für das von Robin beigezogene Nietzsche-Ineditum Der griechische Staat (1872), insonderheit für die von Robin breit referierte (zynische) Aussage Nietzsches, dass wir anders als die Griechen, die womöglich »an ihrem Sklaventum zu Grunde gegangen sind«, aller Wahrscheinlichkeit nach eher »an dem M a n g e l des Sklaventhums zu Grunde gehen werden.« (I: 769) Robin erklärt diesen Satz Nietzsches zum Skandal – einverstanden. Und er ergänzt, dass Nietzsche »nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch in späteren Werken [] darauf beharrt, dass zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehöre« (Robin 2018: 162) – nicht einverstanden. Denn Robin erklärt Nietzsches Text Der griechische Staat einfach so zum Skandalon, ohne zu beachten, dass Nietzsche ihn nicht veröffentlichte und wohl auch nicht veröffentlicht haben wollte. Mehr als dies: Robins komplettes Desinteresse für die Text-, Editionswie Rezeptionsgeschichte dieses 1943 gar als Faksimile als Teil der Fünf Vorreden zu fünf ungeschrieben Büchern separat edierten 31 Textstücks kopiert jenes aus der NS-Zeit. Ein Beispiel hierfür ist Kurt Liebmanns Kommentar, dieses Zeugnis für Nietzsches politische Haltung unmittelbar nach dem deutsch-französischen Krieg lasse sich so lesen, als habe Nietzsche hiermit auch sein Placet gegeben in Sachen der »faschistischen Revolutionen […], die mit Mussolini begannen.« (Liebmann 1934: 6) Robins Motiv, Einlassungen wie diese sowie die Text- und Editionsgeschichte zu ignorieren, ist ein umgekehrtes aber komplementäres, will er doch die von ihm intendierte Skandalisierung Nietzsches als Ikone der Neoliberalen unter den Neuen Rechten nicht erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen. Um dies zu sehen, muss man beachten – dies zur Textvorgeschichte von Der griechische Staat –, dass Nietzsche Anfang 1871 in seinem Fragment einer erweiterten Form der ›Geburt der Tragödie‹ u. a. die These vertrat, »daß zum Wesen einer Kultur das SklaventIn der von W. Keiper unter Mitwirkung von A. Buchenau, F. v. d. Leyen und J. Schuster herausgegebenen Reihe Dokumente zur Morphologie, Symbolik und Geschichte, Berlin.

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hum gehöre« (I: 339), ja, mehr als dies: dass »wir [Tribschener; d. Verf.]« »die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen [dürfen], der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt.« (I: 340) Nietzsche, so will es scheinen, wollte hiermit den Wagners in Tribschen signalisieren, dass Richard Wagners Genialität wegen dessen luxuriösem, spendenbasierten (Ludwig II.) Lebensstil – von welchem der Pastorensohn aus Naumburg als (Dauer-) Gast in Tribschen auf märchenhafte Weise profitierte – gerechtfertigt sei. Lässt man diesen Kontext außer Betracht, muss der Eindruck entstehen, Nietzsche habe als generelle Attitüde zumindest in diesem Text in der Tat das vertreten, was ihm in der Regel und nun eben auch durch Robin angelastet wird, nämlich das Projekt »einer ehrlichen Sklaverei großen Stils, die zu ihrer Grausamkeit steht.« (Türcke 1989: 116; vgl. auch Taureck 1989: 9; zuletzt: Schmidt 2012) Empören muss dann vor allem die Folgerung Nietzsches, die er unter dem Leitwort »grausame Grundbedingung jeder Bildung« (I: 339) einführt: »Das Elend der mühsam lebenden Masse muß noch gesteigert werden, um einer Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen. Hier liegt der Quell jenes schlecht verhehlten Ingrimms, den die Kommunisten und Socialisten, und auch ihre blässeren Abkömmlinge, die weiße Raçe der Liberalen jeder Zeit gegen die Künste, aber auch gegen das klassische Alterthum genährt haben.« (I: 339 f.)

Freilich: Von dem, was Nietzsche hier, in einem nicht in Druck gegangenen Textfragment, ausführt, hat nur der Satz, dass die »alexandrinische Cultur« einen »Sklavenstand« brauche, »um auf die Dauer existieren zu können« (I: 117), später Eingang gefunden in Die Geburt der Tragödie. Einverstanden: Dies spricht nicht unbedingt für Nietzsche, sondern kann auch taktische Gründe gehabt haben. So ist es immerhin auffällig, dass Nietzsche die eben angeführten Gedanken von Anfang 1871 noch ein Jahr nach Erscheinen von GT fast wortgleich in seine 1872er Weihnachtsgabe Der griechische Staat übernahm, und zwar mit dem Widmungsvermerk, dies geschähe »in herzlicher Verehrung und als Antwort auf mündliche und briefliche Fragen.« (I: 755) Nietzsche wollte auf diese Weise offenbar Cosima sowie vor allem natürlich den ›olympischen Menschen‹ Richard Wagner wissen lassen, dass er sich angesichts der Finanzierungsprobleme des Bayreuth-Projekts mit ihnen solidarisch erkläre – noch, wie man

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vielleicht ergänzen muss. Denn in einem anderen Teil dieser Weihnachtsgabe klagte Nietzsche gleich zu Anfang lautstark: »Im lieben niederträchtigen Deutschland […] regiert die Scheelsucht auf alles Große so schamlos […], daß man einen starken Glauben […] haben muß, um hier auf eine werdende Kultur doch noch hoffen und vor allem für dieselbe […] öffentlich lehrend […] arbeiten zu können.« (I: 778)

Dies klingt fast wie eine erste Andeutung, Nietzsche könne irgendwann der Glaube verlassen, der nötig sei, um weiterhin als öffentlich Lehrender für die Sache Wagners einzutreten – so wie es ja dann auch durch Nietzsches Bruch mit Wagner während der Bayreuther Festspiele 1876 Realität wurde. So betrachtet hatte Nietzsche mit Der griechische Staat den Wagners nichts weiter signalisieren wollen als die Botschaft, es habe bald ein Ende mit seiner Unterstützung für diese – nichts also, was sich für irgendetwas gegen Nietzsche nutzen lässt, zumal angesichts der von Robin erst gar nicht in Betracht gezogenen Neubewertung der Sklaverei in seinen späteren Werken, die unmittelbar nach seinem Bruch mit Wagner anhebt, als Nietzsche, zu sich gekommen, zur Klarheit in diesen Fragen findet und beispielsweise in Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) fordert, dem »›Cultus des Genius‹ und der Gewalt […] als Ergänzung und Heilmittel […] den Cultus der Cultur zur Seite [zu] stellen: welcher auch dem Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, Unvollkommenen, Einseitigen, Halben, Unwahren, Scheinenden, ja dem Bösen und Furchtbaren, eine verständnissvolle Würdigung und das Zugeständniss, d a s s d i e s s A l l e s n ö t h i g s e i , zu schenken weiss.« (II: 461) Zwei Jahre später spricht Nietzsche gar von der »Schande der Slaverei.« (III: 183) Und selbst dort, wo der späte Nietzsche scheinbar in Fortschreibung jener älteren (griechischen) Thematik (so Reibnitz 1987: 61 f.) über das von ihm als arisch gelesene (indische) Gesetzbuch des Manu der Rangordnung das Wort redet und beispielsweise skandiert, nur die »geistigsten Menschen« hätten »die Erlaubnis zur Schönheit« (VI: 242), bleibt zu beachten, dass er im gleichen Atemzug zugesteht, jede »hohe Cultur« habe »zuallererst eine stark und gesund consolidierte Mittelmässigkeit zur Voraussetzung.« (VI: 244) Bemerkenswert sind auch die im Nachlass aus dieser Zeit (Frühjahr 1888) gestellten Fragen wie beispielsweise: ob nicht vielleicht gar im Sieg der Schwachen und Mittleren »eine größere Garantie des Lebens« läge, mehr als dies:

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»[M]öchten wir eigentlich eine Welt, wo die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte? …« (XIII: 323 f.)

Eines scheint mir gewiss: Auf AfD-Veranstaltungen wird man Sätze wie diese nicht zu hören bekommen. Und auch das andere darf man nun als geklärt betrachten: Die von Robin angesprochene, aber dann aus dem Sinn verlorene mutmaßliche »Verachtung« Nietzsches für den Neoliberalismus findet eben hierin ihren Grund – was aber gegen Robins Nietzschelesart und nicht etwa für sie spricht. Einen analogen Rückschluss erlaubt auch die zum Thema gehörende, aber von Corey Robin nicht berücksichtigte Rede Das Abendmahl aus Za IV. Der ›freiwillige Bettler‹, der Zarathustra als »Schlemmer« geißelt und als Taktiker, insofern er dereinst – wohl, um sich einen Vorteil zu sichern gegenüber seinen Gläubigern – gelehrt habe: »›Gelobt sei die kleine Armuth!‹« (IV: 354), wird zwar mit dem stolzen, fast schon, in Robins Begriffen, ›neoliberalen‹ Bekenntnis in die Schranken gewiesen: »Das Beste gehört den Meinen und mir; giebt man’s uns nicht, so nehmen wir’s: – die beste Nahrung, den reinsten Himmel, die stärksten Gedanken, die schönsten Fraun!« (IV: 355)

Dieser Satz hat selbst gewiefte Zarathustra-Experten (und besonders –Expertinnen) die Contenance verlieren lassen, also zu Vokabeln animiert wie »happy playboy« (Higgins 1988: 48) – zu Recht, wie es scheint, klingt dieser Satz doch selbstherrlich, autoritär, frauenfeindlich, kurz: wie das Porträt einer Übermenschen-Herrenkultur, deren ewige Wiederkehr gewiss nur der ernsthaft wünschen würde, der zu Neurosen neigt und als ›Philosoph des Kapitalismus‹ Furore machen will. Wie, meinetwegen, Donald Trump. Aber auch Nietzsche? Eine Antwort ergibt sich aus einer Vorstufe der Zarathustra-Formulierung, nämlich den Satz Nietzsches aus Menschliches, Allzumenschliches (1878): »Der Reichthum erzeugt nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die schönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden […] und vor Allem Abwendung von verdumpfender körperlicher Arbeit.« (II: 313)

Dem Charakter der hier beginnenden Phase des ›mittleren‹ Nietzsche entsprechend haben wir es mit einem deskriptiv gerichteten, quasisoziologischen, ideologiekritischen Argument zu tun. Der Nietzsche des Zarathustra hingegen geht eher präskriptiv vor und scheint 381 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Reichtumsattribute nicht als Problem zu empfinden, sondern als positiv wahrgenommene Optionen einer zukünftigen Weltordnung – deswegen vermutlich auch die Zustimmung des ›Königs zur Rechten‹. Freilich: Dass man sich die ›beste Nahrung‹ und die ›schönsten Frauen‹ ›nehmen‹ kann, will einem, jedenfalls bei Zurückstellung moralischer Bedenken, durchaus einleuchten, nicht aber, dass solchem Raubgelüst auch die ›stärksten Gedanken‹ zu Gebote stehen. Wenn Zarathustra gleichwohl diese Formulierung wählt, dann offenbar, weil er eine ganz besondere Befähigung herausstreichen möchte, die ihn und die Seinen von den gewöhnlichen Reichen unterscheidet und, im Gegensatz zu diesen, rechtfertigt. Welche Befähigung aber könnte dies sein, anders gefragt: Welche Bedeutung verbirgt sich hinter der offenbar als Metapher zu lesenden Formel von den ›stärksten Gedanken‹ sowie hinter dem Ausdruck ›reinster Himmel‹ ? Schauen wir uns, von dieser Frage ausgehend, noch einmal die eben zitierte Passage an. Seinem empirisch angelegten Beitrag zur Soziologie des Reichtums ließ Nietzsche die Hoffnung nachfolgen auf eine künftige Generation, die, durch solche Reichtumsbedingungen befördert, sich durch »grössere Freiheit des Gemüthes« und »Abwesenheit des Erbärmlich-Kleinen« (II: 313) auszeichne – Möglichkeiten, die dem ums Überleben kämpfenden und insoweit zur Verstellung genötigten Armen nicht gegeben seien. Er nämlich lerne im Kampf ums Dasein vor allem, »gebückt sich in die Höhlengänge der Gunst einzuschleichen.« (II: 314) Dieser Nachtrag macht klar, dass auch bei den Armen Redlichkeit in aller Regel Fiktion bleibt. Hieran scheint Zarathustra mit seinem Satz anzuknüpfen, indem er nicht lediglich an materiellen Reichtum (›beste Nahrung‹, ›schönste Frauen‹) denkt, sondern zugleich an Äquivalente für das, was Nietzsche noch 1878 mit der Formel ›Freiheit des Gemüts‹ bezeichnet und herbeigesehnt hatte. Das Zarathustra-Wort: ›Das Beste gehört den Meinen und mir‹ könnte insoweit nichts anderes sein als die probeweise Auszeichnung eines sozialen Zustandes, bei dem zwar ein jeder an sich alles haben kann, bei dem aber zugleich doch auch nichts mehr so eigentlich begehrt wird, weil alle zu sich und folglich zu dem gefunden haben, was der Reiche gängiger Weise im Prozess seines Reichwerdens zerstört: Wahrheit (›stärkste Gedanken‹) und Redlichkeit (›reinster Himmel‹), wie man nun den Bedeutungshorizont der strittigen Metaphern griffig bündeln könnte. Wenn man nun noch Zarathustras Forderung einbezieht, dass es eines »n e u e n A d e l s « bedürfe, »der allem Pöbel und allem Gewalt382 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt ›edel‹« (IV: 254), könnte man folgern, dass es Zarathustra auch in Das Abendmahl darum ging und nicht um die vom ›König zur Rechten‹ erhoffte Sanktionierung von dessen Lebensweise. Sowie, nicht zu vergessen: Dass Nietzsche heutzutage wohl ein entschiedener Gegner jenes mit den Worten ›Pöbel‹ sowie ›gewalt-herrisch‹ umschriebenen neoliberalen Rechtspopulismus à la Trump wäre – als dessen Proponenten Corey Robin Nietzsche noch 2018 auszuweisen die Kühnheit hatte (wie im Vorhergehenden zu zeigen versucht wurde).

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Kapitel XVI

Nietzsche und die Neue Rechte – ein Anathema, gemessen an der Frage: War Nietzsche womöglich ein Linker? Oder doch ›nur‹ ein Rechter? Ein Anathema ist normalerweise ein mit Bannfluch belegtes, nicht der genaueren Erörterung bedürftiges Thema, etwa dahingehend, dass es nach dem in diesem Buch zu Theodor Fritsch (vgl. Kap. XIII) und zur Nazifizierung Nietzsches (vgl. Kap. XIV/4) Gesagten eigentlich keiner gesonderten Begründung mehr bedürfe, dass Nietzsche auch mit der sog. ›Neuen Rechten‹ nichts oder so gut wie nichts zu tun hat bzw. haben kann. Gesetzt wird dabei, man verstünde unter der ›Neuen Rechten‹ mit Clemens Heni »eine politische Strömung von Gegenintellektuellen […], die seit Mitte der 1960er Jahre versuchen, die politische Kultur in der BRD dahingehend zu verändern, Deutschland nach Auschwitz mit sich selbst zu versöhnen und das als ›revolutionär‹ vorgestellte Konzept des ›nationalen Sozialismus‹ zu rehabilitieren, um völkisch gegen Staat und Universalismus politisch aktiv zu werden« (Heni 2018: 504), etwas kürzer geredet und die Vokabel ›neu‹ als erklärungsbedürftig herausstellend: Gesetzt wird dabei, dass die ›Neue Rechte‹ völkische Bewegung ist wie die von Hitler in die Katastrophe geführte ›Alte Rechte‹, – mit einem Unterschied: Die ‚Neue Rechte‘ weiß, zumeist jedenfalls, dass die Shoa nicht hat sein dürfen und die Euthanasie genauso wenig. Daraus wiederum folgt: Ähnlich wie wir im Vorhergehenden (vgl. Kap. XIV/4) schon zur Nazifizierung Nietzsches nein sagen mussten – ebenso wird auch der Bescheid in Richtung der hoffnungsfroh in Richtung Nietzsche blickenden ›Neuen Rechten‹ in diesem Buch eher abweisend ausfallen müssen. Es sind, anders gesagt und andernorts ausführlicher begründet (vgl. Niemeyer 2018c), im Wesentlichen die nämlichen Ideologeme, die hier bei der ›Alten Rechten‹ zur Debatte standen und aktuell bei der ›Neuen Rechten‹ zur Debatte stehen: Antisemitismus, Antiintellektualismus, Antiurbanismus, Antislawismus/Rassismus, Rassereinheit/Rassenhygiene/Euthanasie sowie Nationalismus, und fast 32 alle 32

Diese Vokabel erklärt sich mit dem Umstand, dass – wie zu Beginn von Kapitel XI

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XVI · Nietzsche und die Neue Rechte – ein Anathema

diese Ideologeme fanden in Nietzsche einen ihrer heftigsten Gegner – im ›späten‹, wie man hier sicherheitshalber noch hinzusetzen muss. Dies meint zugleich und macht die ohnehin schon recht verzwickte Thematik jedenfalls nicht einfacher: Zunächst, als Mitzwanziger, stand der frisch gebackene Basler Professor direkt daneben, als die ›Alte Rechte‹ nicht zuletzt unter Ratgeberschaft Richard Wagners (vgl. Rohkrämer 2004) erstmals ihren Giftstoff zusammenrührte. Dieser Aspekt ist deutlich unterbelichtet in der Nietzsche- wie Wagnerforschung gleichermaßen – auch, weil die Antikenfreunde unter den Nietzscheforschern das Problem des Wagnerianers Nietzsche gerne verleugnen (vgl. Niemeyer 2011: 75 ff.). Aber auch, weil Wagnerforscher Wagner zumal zu DDR-Zeiten allzu gerne ›nur‹ als Kapellmeister und 1848er lasen, nicht hingegen als NS-Vorläufer, als Antisemit, als Herausgeber der Bayreuther Blätter, also jenes von Nietzsche später 1886 mit Vokabeln wie »Anmaaßung, Unklarheit und Deutschtümelei« (XII: 55) ad acta gelegten völkischen Kampfblatts der sich damals formierenden völkischen Bewegung. Die Vokabel ›später‹ ist hier zu betonen, will sagen: Zunächst, zwischen 1868 und 1872/73, war Nietzsche noch Richard Wagners gelehrigster Schüler und fraß fast alles herunter, was der ›Meister‹ absonderte, auch den Antisemitismus. Hierzu habe ich bereits zuvor in dieser Arbeit einiges gesagt, auch zum Anti-Antisemitismus, den bereits problematisiert –Alfred Ploetz (1860–1940), später einer der führenden NSRassenhygieniker, seinem Epoche machenden Buch Grundlinien einer Rassen-Hygiene (1895) ein Motto aus Also sprach Zarathustra voranstellte, ähnlich übrigens wie einige Jahre später Ellen Key in ihrem gleichfalls in Teilen eugenisch argumentierenden Bestseller Das Jahrhundert des Kindes (1900) und ähnlich offenbar wie Key auf ein neues, eugenisch gereinigtes, von Zarathustra in Aussicht gestelltes »Kinderland« kalkulierend. (vgl. Niemeyer 2002: 151 ff.). Stefan Breuer und nach ihm Thomas Mittmann, unter Verweis auf weitere Rassenhygieniker wie Wilhelm Schallmayer (1857–1919) und Fritz Lenz (1887–1976) (Mittmann 2006: 120 ff.; zur Kritik: Niemeyer 2008: 481 f.), sichteten denn auch inhaltlich eine Verbindung zwischen Ploetz und Nietzsche, insofern auch dieser, allerdings »zumeist in nicht-veröffentlichten Passagen oder in eher beiläufigen Bemerkungen«, »ärztliche Ehezeugnisse, Zeugungsverbote, Kastrationen und sogar physische Vernichtung für die ›Mißratenen‹ fordert[e] und zugleich die Züchtung eines neuen Adels verlangt[e].« (Breuer 2001: 239) Die Nietzscheszene – zuletzt: Diana Aurenque – reagiert auf Hinweise dieser Art bevorzugt mit dem Versuch, derlei unter »bedauerliche Rezeption« abzubuchen, die »unmissverständlich auf einer Verkürzung, Ideologiesierung und Dekontextualisierung der Äußerungen Nietzsches [basiert].« (Aurenque 2018: 171) Freilich, so einfach ist dieser Fall nicht ad acta zu legen, wie allerdings in diesem Buch nicht mehr gezeigt werden kann.

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Nietzsche allmählich dagegen zusetzen lernte, wofür die Erfahrung, die er 1887 mit Theodor Fritsch machen musste, sicherlich nicht abträglich war. (vgl. Kap. XIII) Diese Vorgeschichte gilt es zu bedenken angesichts der Wiederkehr völkischer Ideologeme bei Neu-Rechten wie Jean Raspail in seiner auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 (wieder) erschienene Dystopie Das Heerlager der Heiligen (1973; dt. 1985; 2015). Über deren anti-humane Botschaft hat sich Raspail, der Gruppe der Hochaltrigen zurechenbar, in einem Gespräch mit dem österreichischen Identitären Martin Lichtmesz dahingehend ausgelassen, dass »die fortschreitende Invasion Frankreichs und Europas durch Massen aus der Dritten Welt« zur Auslöschung der französischen Kultur und Zivilisation führen werde und die »gefühlsduselige Großrednerei […] in einen Mahlstrom geführt [hat], der uns alle verschlingen wird.« (Raspail 2014: 67, 9) Diese so eingebettete »Satire«, so Alexander Smoltczyk im Spiegel (Nr. 3/2018) im Zuge einer mit Ein Schiff wird kommen (bekannt geworden durch die zwischenzeitliche Wehrmachts-Sangesdrossel Lale Andersen) nicht wirklich glücklich betitelten Story, liegt inzwischen in 1,5 Millionen Exemplaren und neun Übersetzungen vor und gilt als »Bibel der Neuen Rechten«, von Marine Le Pen bis Stephen Bannon (vgl. Ebneter/Neff 2017). Das Gebotene, so Smoltczyk im Spiegel weiter, sei eigentlich »hinlänglich bekannte[r] Sarrazinismus«, »nicht der Rede wert«, habe aber »weltweit ein Echo gefunden«, etwa auch bei Matthias Matussek, der in der Schweizer Weltwoche von einem »Meisterwerk« (Smoltczyk) gesprochen habe. Nun, ob Matussek, dessen Höhepunkt wohl erreicht war, als ihm die Satirezeitschrift Titanic Anfang 2017 per Fake News einen deftig dotierten Job plus Dienstwagen bei dem rechtspopulistischen Breitbart News Network anbot, als Leumundszeuge taugt, scheint mir doch mehr als fraglich. Zumal – ein Unglück kommt selten allein – dieser sich auf seiner Facebook-Seite über das Titanic-Angebot zunächst lautstark freute, bei dieser Gelegenheit sein Einvernehmen mit Trumps damaligem rechtsradikalem Redenschreiber Stephen Bannon betonend! Was für eine seriöse Quelle! Und was für eine tolle Raspail-Rezension Matusseks! Gelobt wird in ihr die Dummheit und der moralische Verfall eines Katholiken namens Raspail, dem der Rezensent, à la PEGIDA und AfD, einen prophetischen Kommentar zum deutschen »Willkommenstaumel« vom Sommer 2015 attestiert. Gleich neben dem Tadel an der linken Intelligentia, die ein Buch wie jenes von Raspail aus einem rechten Verlag 386 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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erst gar nicht anschauen oder allenfalls wie ein ›Menschenrechtsanwalt‹ rezensieren würde. Warum Matthias Matussek einen derartigen Rezensenten fürchtet, stellt der Plot klar. Dem Geschichtskundigen nämlich weist er weit über Alexander Smoltczyks »Sarrazinismus« zurück bis hin zu Hitlers 50. Geburtstag (1939), anlässlich dessen der NS-Dichters Hans Grimm dem »Vorrecht der Auswahl« das Wort redete und widrigenfalls den Untergang aller an die Wand malte, in den kräftigen Worten des Dichters gesprochen: »Menschenhorden […] entstehen und machen die ratlose Erde häßlich und fressen sie kahl.« (zit. n. Loewy 1966: 135) Bei Raspail geht es gut fünfunddreißig Jahre und mithin einige Welthungersnöte später im Ergebnis ähnlich zu. Das Szenario diesmal: Frankreich, im Nachgang zum Pariser Mai 1968 des ›roten Dany‹ (»Dany le Rouge«) deutlich verunsichert, wird von einem Tag auf den anderen von 1 Millionen Flüchtlingen aus Indien geflutet, im Roman »Invasoren« geheißen. Auch alles andere des aktuellen neu-rechten Speechs über die Flüchtlingsfrage aus dem Lager Ressentiment, Vorurteil, Hysterie, Lügenpresse-Paranoia ist bei Raspail präsent. Kein Wunder auch bei dieser fast durchgängig im aggressiven Ton gehaltenen, vor kaum einer Perversität zurückschreckenden Dichtung, dass sich in Deutschland nur das neurechte Lager um Götz Kubitschek und seinem sich der ›konservativen Revolution‹ zurechnenden Institut für Staatspolitik (vgl. Kellershohn 2016) zum Neudruck dieses inzwischen zum weltweiten Millionenseller avancierten Romans bereit erklären wollte – wohl wegen des zentralen Plots. So heißt es im Roman selbst an entscheidender Stelle: »Er hatte lange Haare, blond und schmutzig, trug Jeans und abgenutzte Turnschuhe. Sein Blick verriet eine schlappgewordene Seele. Damit war er ein ziemlich typisches Exemplar jener randständigen Parasiten, die Europa heute zu Hunderttausenden absondert und die in seiner Brust zum Krebsgeschwür einer Art dritter Welt von innen herangewachsen sind.« (Raspail 2015: 19)

Die Sprache (›Parasit‹, ›Krebsgeschwür‹) ist schockierend und auch unabhängig von der Frage, ob hier nun in der Fiktion Rache am weniger blonden denn ›roten‹ Daniel (›Dany‹) Cohn-Bendit geübt wird oder nicht – was Raspail hier beschreibt, ist so etwas wie der typische Antifa, der denn auch vom alter ego des Romanciers schlicht und einfach über den Haufen geschossen wird mit dem Ausruf: »Sie sind nicht meinesgleichen. Sie sind mein Feind« (ebd.: 25) – eine verräte387 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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rische Wortwahl, insofern Neurechte, ähnlich wie Altrechte, das Freund/Feind-Schema neu bewerten, nämlich nicht mehr nur nach Zugehörigkeit zum gleichen ›Blut‹, sondern auch zum gleichen ›Gemüt‹, also nach dem – erstmals in Heidenau 2015 zu besichtigenden – Volksverräter/Nicht-Volksverräter-Schema. Und ist ersteres gegeben, also die Gesinnung intellektualistisch ›entartet‹ und droht also dem Gesamtorganismus zu schaden, ist die Tötung des anderen, des ›Schädlings‹, als Option mitgedacht, ganz in der Logik des auf den NS-Hofpoeten Hanns Johst (1890–1978) zurückgehenden (vgl. Niemeyer 2013: 142) Nazi-Witzes: »Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.« So also auch hier, in Raspails Roman. Was zugleich meint, dass diese Romankonstruktion nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Vielmehr dürfte Carl Schmitt mit seiner Freund/ Feind-Unterscheidung (vgl. Gessenharter 1991: 64 ff.) hier Pate gestanden haben, jener Nietzscheverächter und NS-Staatsrechtler also, der als das eigentliche Idol der Neuen Rechten in Deutschland gelten kann, aber auch in Frankreich, wie das Beispiel Alain de Benoist (* 1943) lehrt (vgl. Weber 2004). Auf Schmitt geht auch die von Thomas Hobbes erstmals angeregte und von Hitler zur Perversion getriebene, neuerdings am 3. Februar 2017 vom rechtsextremen Politiker André Poggenburg wieder aufgegriffene Denkfigur zurück, der zufolge abweichendes Denken als den Gesamtorganismus schädigendes, etwa als ›volksverräterisches‹ Denken in Bann getan wird und »linksextremen Lumpen« Arbeitslager zukomme zwecks Therapie dieser »Wucherung am deutschen Volkskörper« (Poggenburg). So ähnlich – mit der Vorsilbe ›französisch‹ – auch Jean Raspail bzw. in dessen Roman sein alter ego Professor Calguès, der sich bei seinem Agieren an dem Satz zu orientieren scheint: »[D]ie politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daß sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß.« (Schmitt 92010: 13)

›Beseitigen‹ meint natürlich auch töten, etwa in der Logik von Schmitts Persilschein für Hitler nach dessen Niederschlagung des ›Röhm-Putsches‹, wonach »die Tat des Führers« 1934 – immerhin die Ermordung zahlreicher SA-Männer – »echte Gerichtsbarkeit« gewesen sei, so wie fast alle Verbrechen an Juden nach 1933 (vgl. Staff 1964: 170 ff.). Und, wie eben auch der Mord des Professors Calguès an jenem blonden jungen Mann »echte Gerichtsbarkeit« war. Nietzsche, so muss am Ende vielleicht noch festgehalten werden, 388 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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hatte mit all’ dem so gut wie nichts am Hut und vice versa, will sagen: Carl Schmitt hat Nietzsche verachtet – ihn, der den Deutschen vor allem eines vorwarf: nämlich eine »gedankenarme Unverschämtheit gegen alle selbständigen Menschen und Völker« (IX: 375) und der auch in Sachen Antiintellektualismus klar sah, wie sein Satz belegt: »Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, daß die Juden ›Geist‹ haben – und Geld: der Antisemitismus, ein Name der ›Schlechtweggekommenen.‹« (XIII: 365) Der in Sachen Geistesgaben ›Schlechtweggekommenen‹, wie man vielleicht noch hinzusetzen muss. Die nun mit ihrem Antiintellektualismus Rache nehmen für dieses Missgeschick. Ob nun als ›alter‹ oder, wie bei Raspail, ›neuer‹ Rechter. So dass man geneigt sein könnte, Peter Sloterdijks Fazit zu Nietzsches 100. Todestag nach wie vor für aktuell zu halten: »Daß völkische Politik auf der kläglichen Neigung zur Erniedrigung des Fremden beruht – wer hat dies schärfer auf den Begriff gebracht als Nietzsche, der schon im Wilhelminismus den Hooliganismus spürte.« (Sloterdijk 2001: 60)

Dies vorausgesetzt, überrascht nicht wirklich, dass schon die ›Alte Rechte‹, wie der Fall Theodor Fritzsch lehrt (vgl. Kap. XIII), sich schwertat mit Nietzsche und bis auf den heutigen Tag ein überzeugender Versuch in dieser Sache auch bei den ›Neuen Rechten‹ aussteht. Das offenbar als Bibel im politischen Kampf der Neuen Rechten im deutschsprachigen Raum gedachte vierbändige Staatspolitische Handbuch (Weißmann 2009; Lehnert/Weißmann 2010/2012/2014) hat in dieser Frage jedenfalls keine schlüssige Antwort parat, rechnet Nietzsche nicht den Vordenkern (Bd. 3) zu, listet allerding unter Deutsche Orte (Bd. 4) auch Nietzsches Sommerresidenz Sils-Maria – nach Seelower Höhen und vor Stalingrad sowie Tannenberg. Kaum weniger abstrus Bd. 2 von 2010 mit dem Titel Schlüsselwerke, zu welchen drei Schriften Nietzsches (Also sprach Zarathustra, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Zur Genealogie der Moral) gerechnet werden, allerdings ohne dass etwas irgendwie Triftiges oder diese Rubrizierung Rechtfertigendes vorgetragen wird, so dass Frank Lisson als der verantwortliche Autor für alle vier Artikel weiterhin mit seiner wenigstens nicht falschen, aber offenbar inzwischen ›vergessenen‹ Feststellung aus seiner unerheblichen dtv-Nietzschebiographie von 2004 leben muss bzw. konfrontiert werden darf: »Dass dieser [Nietzsche; d. Verf.] kaum damit [mit seiner NS-Nazifizierung à la Alfred Baeumler; d. Verf.] einverstanden gewesen wäre und dass sein

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Denken schwerlich zur Staatsphilosophie taugt, muss nicht mehr eigens betont werden.« (Lisson 2004: 181)

Dies konkret vielleicht nicht. Vielleicht aber wird es höchste Zeit, genauer als bisher die Frage nach der Charakteristik seines Denkens als eines politischen anzugehen, also eine Antwort auf die Frage zu erproben, wer er wirklich war (1.), zugespitzt auf die hier interessierende politische Thematik: War er ein authentischer Linker? (2.) Oder war er ein – womöglich bloß rhetorischer – Rechter? (3.)

1. Who are you? Die Problemstellung Die Problemstellung selbst markierte Nietzsche in einem Brief vom 14. Dezember 1887 aus Nizza an den Musiker Carl Fuchs in Danzig: »In Deutschland beschwert man sich stark über meine ›Excentricitäten‹. Aber da man nicht weiß, wo mein Centrum ist, wird man schwerlich darüber die Wahrheit treffen, wo und wann ich bisher ›excentrisch‹ gewesen bin. Zum Beispiel, daß ich Philologe war – damit war ich a u ß e r h a l b meines Centrum […]. Insgleichen: heute scheint es mir eine Excentricität, daß ich Wagnerianer gewesen bin.« (7: 209 f.)

Dies klingt beklemmend aktuell, was die Frage erlaubt: Hat die Nietzscheforschung, die traditionell Nietzsches Briefe als Erkenntnisquellen gering achtet, möglicherweise bis auf den heutigen Tag nicht erkannt, welcher Auftrag ihr, als Subtext dieses Satzes reformuliert, obliegt: nämlich Nietzsches ›Centrum‹ sukzessive zu bestimmen, ausgehend davon, dass es im alt-philologischen respektive wagnerianischen Frühwerk jedenfalls nicht gründen kann? Diese Frage sowie die Wendung »bis auf den heutigen Tag« legt sich nahe beispielsweise durch Christina Kasts Dissertation Friedrich Nietzsches Ja zum Leben (2019), deren korrekter Titel vielleicht auch auf Friedrich Nietzsches Ja zum Frühwerk hätten lauten können – und in welcher (deswegen) konsequent von Briefen wie jenem eben beigezogenen geschwiegen wird. Natürlich: Man kann dies tun – wird aber auf diese Weise keinen Beitrag leisten können zur strittigen Frage nach Nietzsches ›Centrum‹ und/oder einem abgeleiteten Problem wie diesem hier: Von den mir bekannten Philosophen (wohlgemerkt: so viele sind es nicht) ist Nietzsche wohl der einzige, der Fans sowohl im linken als auch im rechten Lager hat – mit, wie man fairerweise wohl noch ergänzen 390 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Who are you? Die Problemstellung

muss, nicht unbedingt den gleichen, werkbezogenen Präferenzen, an einigen Beispielen geredet: Rechte bevorzugen meiner Beobachtung nach vor allem das Frühwerk um den ›Erstling‹ Die Geburt der Tragödie (1872) sowie Elisabeth Förster-Nietzsches aus dem ›späten‹ Nachlass kondensierte Kompilation Der Wille zur Macht (1906). Linke hingegen – ich beispielsweise – konzentrieren sich auf den ›mittleren‹ Nietzsche ab Menschliches, Allzumenschliches (1878) bis hin zu Die fröhliche Wissenschaft (1882) unter Einschluss von dessen 1887 nachgereichtem 5. Buch, reden bezogen auf diese Werkgruppe von Nietzsches Nietzsche, erkennen hier den eigentlichen, zu sich selbst gekommenen Nietzsche, gruppiert um ein Statement wie das folgende aus L’Ombra di Venezia bezogen auf das von den Rechten bevorzugte Frühwerk respektive, wie Nietzsche damals, im Frühjahr 1880, sagt, seine »älteren Schriften«: »Fast überall, wo in ihnen die Rede auf Andersdenkende kommt, macht sich jene blutige Art zu lästern und jene Begeisterung in der Bosheit bemerklich, welche die Abzeichen des Fanatismus sind.« (IX: 47)

Ins Positive gewendet und also als Credo dieses von den Linken unter seinen Lesern dagegen gesetzten und von Nietzsche damals bevorzugten Programmsatzes geredet: Ziel und Ideal war Nietzsche damals (1880) ein »kommende[s] Zeitalter, welches wir d a s b u n t e nennen und das viele Experimente des Lebens machen soll.« (IX: 48 f.) So weit, so schön, so beruhigend für alle Kreuzbergs respektive Conne Islands dieser Welt – eine Frage allerdings bleibt: Wie hält man dieses Zugleich von linken wie rechten Nietzsches respektive Nietzschelesern eigentlich aus, diese, etwas zurückhaltender geredet, schon von Kurt Tucholsky verspottete Supermarktbeliebigkeit, wonach man nur sagen müsse, was man wolle, schon käme irgendjemand mit einem passenden Nietzschezitat um die Ecke, sich daraus womöglich noch einen Galgen bastelnd, an dem er den anderes oder gar Gegenläufiges an Nietzsche Zitierenden aufhängen kann, etwa – Nietzsche hat es ja 1880 vorgemacht mit, wie wir jetzt vielleicht sagen können: Nietzsche I, also dem ›frühen‹ Nietzsche – als Fanatiker? Oder ist für Fälle wie diese die postmoderne Gelassenheit erfunden werden, wonach ohnehin jeder reden könne, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, auch in Bezug auf Nietzsche, den angeblichen Vater der Postmoderne? Ich fürchte, die Zeit für derlei »laissez-faire« ist abgelaufen, zu sehr hallt uns von Washington D.C. seit über zwei Jahren die Auf391 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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forderung entgegen, Partei zu ergreifen gegen den um sich greifenden Irrsinn, der ja, wie wir von Nietzsche wissen können, »bei Einzelnen etwas Seltenes [ist], aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.« (V: 100) Aber es gibt noch einen zweiten, von Nietzsche herleitbaren Grund, sich nicht abzufinden mit dem schulterzuckenden Befund, es gäbe eben ein, zwei Nietzsches, möglicherweise auch, wenn ein jeder des Lesens und Redens Kundige den seinen zum Vortrag brächte, Milliarden Nietzsches weltweit, und dies sei auch gut so und fair, weil komplett herrschaftsfrei. Dieser zweite Grund verlangt einen neuen Einstieg, und der geht so: Von den mir bekannten Philosophen ist Nietzsche wohl der einzige, der sich derart häufig auf den griechischen (Pindar) Imperativ »Werde, der Du bist!« bezogen hat. Und dies legt natürlich die Frage nahe, welcher Nietzsche denn nun der authentische ist: Derjenige mit der »blonden Bestie«, wie offenbar Donald Trump zu meinen scheint, im Sog etwa seines Rapper-Idols Kanye West mutmaßend, ein Nietzscheaner zeichne sich durch Härte und Unverwüstlichkeit aus nach dem Muster: »What doesn’t kill me makes me stronger!«? Oder jener weiche Nietzsche mit dem »Ich-will-keinen-Krieg-gegen-das-Häßliche-führen!«- Habitus sowie, wichtiger, dem politischen Leitbild des »guten Europäer« (vgl. Niemeyer 2016: 241 ff.)? Ich habe oben schon verraten, dass mir dieser Nietzsche sehr viel lieber ist als jener. Andererseits gibt es viele Nietzscheleser, die die Sache offenbar ähnlich sehen wie mit Rudolf Augsteins Headline im Spiegel, Heft 24/1981 (Täter Hitler, Denker Nietzsche) insinuiert. Oder die sich nicht recht entscheiden können, wie neuerdings Jens Korfkamp: »Offenbar überwiegt hier die Anwendung ohne profunde Kenntnis von Nietzsche« (Korfkamp 2018: 111), merkte er sehr richtig zu Marc Jongen und Götz Kubitschek an, nachdem er unmittelbar zuvor, sehr falsch, will sagen: unter Verweis auf Arno Klönne – der mir als Nietzscheexperte nicht aufgefallen ist – Nietzsche gleichwohl in die philosophische Ahnenreihe der Neuen Rechten aufnahm, und zwar, der alphabetischen Ordnung folgend, nach Arthur Moeller van den Bruck und vor Carl Schmitt. Heißt, in meiner Übersetzung: Viele Nietzschekritiker, nun eben auch Korfkamp, gehen mit Nietzsche nach Art der von diesem – erinnert sei an die einleitend vorgetragenen methodologischen Überlegungen (vgl. Kap. I) – kritisierten ›schlechtesten‹ unter seinen Lesern um: die »plündernden Soldaten« (II: 436). Davon bleibt aber das Problem selbst unbetroffen: ›Es gibt‹ offenbar den Nietzsche dieser Nietzsche-Verhunzer vom Schlage Jon392 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche, als ›authentischer Linker‹ lesbar gemacht

gen & Co. – und es gibt den anderen Nietzsche, den ›guten Europäer‹. Welcher aber ist richtige, eigentliche? Wo ist Nietzsches Nietzsche? Ich hoffe, einer Antwort auf diese Frage in der Folge ein Stück näher kommen zu können.

2. Nietzsche, als ›authentischer Linker‹ lesbar gemacht Ein Einstieg könnte dabei sein, Erklärungsversuche zum ebenso unerwarteten wie skandalösen Modischwerden rechter Gesinnung durchzumustern und auf ihre Geeignetheit bezogen auf den Fall Nietzsche zu prüfen. Als erstes fallen mir dabei Begriffe wie Globalisierungs-, Zukunfts- oder Fremden- respektive Überfremdungsangst ein, ergänzbar um den Hinweis Betroffener, man sei gar nicht rechts, sondern sorge sich nur um das kulturell Homogene und werde der Diktatur der ›political correctness‹ zum Trotz und im Interesse der Aufrechterhaltung der Meinungsfreiheit dies oder das »ja wohl noch sagen dürfen.« So oder ähnlich klingt es jedenfalls hin und wieder an deutschen, bevorzugt sächsischen und fränkischen Stammtischen, aber auch zunehmend aus dem Blätterwald heraus, selbst von Promis wie Uwe Tellkamp, Rüdiger Safranski, Hans-Joachim Maaz oder Werner Patzelt (die offenbar allesamt in die [Klipp-] Schule des Thilo Sarrazin, SPD, gegangen sind). Weitläufig um sich greifender Geschichtsvergessenheit scheint dabei geschuldet, dass niemand mehr auf dem Schirm zu haben scheint, dass die Sache selbst sich denn doch nicht ganz so einfach hinwegerklären lässt. Vielmehr besteht Grund für die These, das definitive Wort über die psychologische Ursache des aktuell erneut (wie schon um 1879 im Zuge des ›Berliner Antisemitismusstreits‹ sowie ab 1918 unter Vorzeichen wie ›Versailler Schandfrieden‹) um sich greifenden Rechtspopulismus habe in etwa 170 Jahre auf dem Buckel und stamme von Nietzsches frühem Idol Arthur Schopenhauer (1788–1860). So schrieb er in seinen überaus lesenswerten Aphorismen zur Lebensweisheit (1851) zum Stichwort »Nationalstolz«: »[…] [E]r verräth in dem damit Behafteten den Mangel an i n d i v i d u e l l e n Eigenschaften, auf die er stolz seyn könnte, indem er sonst nicht zu Dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen theilt.«

Weiter, O-Ton Schopenhauer:

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»[…] [J]eder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn: hieran erholt er sich und ist nun dankbar bereit, alle Fehler und Thorheiten, die ihr eigen sind, […] zu vertheidigen.« (SW IV: 357 f.)

Hätte Schopenhauer dies vor wenigen Tagen geschrieben, könnte man glatt meinen, die Rede sei hier wenn schon nicht von den Vorgenannten so jedenfalls doch vom ›erbärmlichen Tropf‹ Björn Höcke (AfD). Redete Schopenhauer aber auch – weit wichtiger – schon in vager Vorahnung im Blick auf ein Phänomen namens Nietzsche? Deutlicher: War auch Nietzsche ein so ›erbärmlicher Tropf‹ wie Höcke, fällt also auch er unter – wie wir’s nun vielleicht, die Sache auf den Punkt bringend, nennen können – Schopenhauers kompensationspsychologisch angelegte Theorie zur Erklärung des Rechtspopulismus, jedenfalls sofern der ›Nationalstolz‹ respektive Nationalismus als bestimmendes Merkmal dabei in Betracht kommt und zusätzlich die Überlegung, das mit seiner Hilfe das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, welcher sozialisatorischen Herkunft auch immer, kompensiert werden soll? Und wenn nein: Welche zusätzlichen Faktoren sind noch einzubeziehen, um Schopenhauers Theorieversuch von 1851 zu einem hinreichenden weiterzuentwickeln, der ggfs. auch auf den Fall Nietzsche passt? Etwa jene unlängst vom Kinderarzt Herbert Renz-Polster (2019) namhaft gemachten, auf unsichere Bindung in der Kindheit und traumatisierende sonstige Erfahrungen zurückweisenden, wie auch beim Attentäter von Christchurch wahrscheinlich? Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein, Fragen wie diese im Blick auf den Fall Nietzsche für gegenstandslos zu erklären, jedenfalls wenn man Nietzsche als Fallbeispiel dieser Theorie betrachtet, nicht jedoch als einen ihrer Anhänger. Dies war er nämlich ohne jede Frage, wie seine ›psychologische Philosophenkunde‹ (vgl. Kap. VIII) und aus ihr seine Bemerkung von 1886 (anlässlich der Neuausgabe von Die fröhliche Wissenschaft) belegt: »Bei dem Einen sind es seine Mängel, welche philosophiren, bei dem Andern seine Reichthümer und Kräfte. Ersterer hat seine Philosophie n ö t h i g , sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlösung, Erhebung, Selbstentfremdung; bei Letzterem ist sie nur ein schöner Luxus.« (III: 347)

Nichts verbietet den Schluss, Nietzsche halte, ähnlich wie Schopenhauer, den ›Nationalstolz‹ als Indiz rechtspopulistischer Gesinnung 394 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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für eine Art ›Arznei‹ zwecks Kompensation eines genauer zu bestimmenden persönlichen Mangels. Mehr als dies: Offenbar war Nietzsche weitgehend immun gegen ›Nationalstolz‹, wie seine fast durchgängige (späte) Deutschenwie Deutschtumsverachtung zeigt, die schon seinen Nazifizierern (etwa seiner Schwester, aber auch Alfred Baeumler sowie Heinrich Härtle; vgl. Kap. XIV/4) bitter aufstieß und einen Höhepunkt fand in seinem Satz: »Deutsch denken, deutsch fühlen – ich kann Alles, aber d a s geht über meine Kräfte …« (VI: 301)

Aber auch das populistische Buhlen um Zustimmung zu einer Position wie der mit der Vokabeln ›Deutschthümelei‹ zu bezeichnenden machte Nietzsche den Garaus, wie auch seine Bemerkung aus GD zeigt: »Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? du suchst Anhänger? Suche N u l l e n !« (VI: 61) Als überzeugendster Beleg in Fragen wie diesen kommt die folgende Aufzeichnung für das Fünfte Buch von Die fröhliche Wissenschaft unter dem Titel Wir Umgekehrten in Richtung eines damals noch geplanten Kapitel Warum wir antinational sind (XII: 167) in Betracht: »[N]ational zu sein, in dem Sinne und Grade, wie es jetzt von der öffentlichen Meinung verlangt wird, würde an uns geistigeren Menschen, wie mir scheint, nicht nur eine Abgeschmacktheit: sondern eine Unredlichkeit sein, eine willkürliche Betäubung unseres besseren Wissen und Gewissens.« (XII: 164 f.) Ganz in diesem Geist notierte sich Nietzsche kurze Zeit später im Nachlass zum Stichwort Kritik der Vaterländerei: »[W]er über sich Werthe fühlt, die er hundert Mal höher nimmt als das Wohl des ›Vaterlandes‹, der Gesellschaft, der Bluts- und Rassenverwandtschaft, – Werthe, die jenseits der Vaterländer und Rassen stehen, also internationale Werthe – der würde zum Heuchler, wenn er den ›Patrioten‹ spielen wollte. Es ist eine N i e d e r u n g von Mensch und Seele, welche den nationalen Haß bei sich aushält (oder gar bewundert und verherrlicht).« (XII: 310)

Wir können hier resümieren: Nietzsche stimmte in puncto ›Nationalstolz‹ respektive dessen Kritik letztlich mit Schopenhauer überein. Auch das von Schopenhauer betonte Kompensatorische im Blick auf eine auf diesem Weg gestiftete (Ersatz-) Identität rückt ins Blickfeld, denn von Schopenhauers ›erbärmlichen Tropf‹ bis hin zu Nietzsches ›Niederung von Mensch und Seele‹ unter Einschluss der Vorstellung, 395 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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hier wie dort ginge es um kompensatorische Abgeltung der eigenen Insuffizienz gleichsam im King-Kong-Nationalstolz-Modus, ist es kein weiter Weg. Aber es kommt noch besser: Weit über Schopenhauer hinausgehend markierte Nietzsche zumindest in ersten Umrissen das Gegenideal zum ›Nationalstolz‹, verborgen in Vokabeln wie ›Werthe, die jenseits der Vaterländer und Rassen stehen, also internationale Werthe‹ – Überlegungen, die an die 1878 von Nietzsche eingeführte Denkfigur des ›guten Europäers‹ erinnern, insonderheit an den für ihn charakteristischen Slogan: »G u t d e u t s c h s e i n h e i ß t s i c h e n t d e u t s c h e n . « (II: 511)

Dem Kontext zufolge war dies 1879 Nietzsches Antwort auf Richard Wagners 1878 aufgeworfene Frage »Was ist deutsch?«, die ihn in der Folge zu weiteren bemerkenswerten ›linken‹ Positionen Anlass gab, etwa in Gestalt des Klagerufs von Ende 1880: »Ich halte es nicht in Deutschland aus, der Geist der Kleinheit und Knechtschaft durchdringt alles […] – nebst einer gedankenarmen Unverschämtheit gegen alle selbständigen Menschen und Völker.« (IX: 375) Jahre später, in Zur Genealogie der Moral (1887), unter Anspielung auf den Antisemitismus, als ›Schwindel-Geisterei‹ gelesen, fährt Nietzsche fort: »[D]ass j e d e Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der unleugbaren und bereits handgreiflichen Ve rö d u n g des deutschen Geistes zusammen, deren Ursache ich in einer allzuausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerischer Musik suche, hinzugerechnet […] die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke, aber enge Princip ›Deutschland, Deutschland über Alles‹.« (V: 408)

Kurz: Dies und das Vorhergehende klingt auf unheimliche Weise zeitgemäß. Zu dieser Hellsicht trug, so vermute ich, bei, dass Nietzsche von Schopenhauer gelernt hatte, dass man Identität auf überzeugende Weise nur als Einzelner bezogen auf seine eigene Lebensgeschichte gewinnen kann, nie als Teil einer Gruppe im Blick auf ein höheres Ganzes. Denn Letztere beruhte immer auf geborgter Autorität, sei es jene des Suffs, sei es jener der ›Zustimmung‹, die die ohnehin Gleichgesinnten gewähren und die für jene Irrationalität steht, die unter den Bedingungen der Gruppendynamik notwendig gedeiht. Außerdem wäre man in der Folge als Teil dieses Ganzen gezwungen, es in Verteidigung des Kollektivs ggfs. schönzureden, ihm also qua

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Nietzsche, als ›authentischer Linker‹ lesbar gemacht

›monumentaler Historie‹ zu dienen – ein Weg, dem Nietzsche spätestens mit Vom Nutzen und Nachtteil für das Leben (1874) abschwor zugunsten der Forderung nach ›kritischer Historie‹, jedenfalls der Theorie respektive seinen Absichten zufolge. Weiter könnte man folgern, Nietzsche sei eigentlich, wie einleitend und in der Überschrift behauptet, ein ›authentischer Linker‹ gewesen, stehe also aktuell als eine Art geistiger Beistand zur Verfügung in Sachen des übermorgen möglicherweise schon als überlebensnotwendig sich erweisenden Kampfes gegen auf nation building und Vaterländerei setzenden Rechtspopulismus weltweit. Ein Kampf, der auch notwendig scheint im Blick auf die eigentliche Spinne im Netz des internationalen Rechtspopulismus-Kartells, Donald Trump. Vertrauen flößen in dieser Frage – um nicht falsch verstanden zu werden: in der Frage, ob Nietzsche ein ›authentischer Linker‹ war – auch die früh anhebenden Glaubenszweifel des Röckener Pastorensohnes ein. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang Nietzsches Vortrag Fatum und Geschichte (1862) für einen mit zwei Jugendfreunden gegründeten privaten Bildungsverein, in welchem der damals Siebzehnjährige u. a. ausführte: »[V]on unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurtheile […], glauben wir es fast als Vergehn betrachten zu müssen, wenn wir einen freieren Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches und der Zeit angemessenes Urtheil über Religion und Christentum fällen zu können. Ein solcher Versuch ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens.« (BAW 2: 54)

Bemerkenswert an dieser Formulierung ist die fast schon hellsichtig zu nennende Vorwegnahme der eigenen Sendung. Wie man hier sehen kann: Vor seiner Begegnung mit dem von ihm rasch als Ersatzvater adaptierten Musikgenie Richard Wagner (im November 1868) war Nietzsche eigentlich auf einem recht guten Weg hin zu seiner ›ersten Natur‹, gegen die ihm von Naumburg her und später von Schulpforta ausgehend anerzogene ›zweite Natur‹ – nicht wirklich also Wasser auf die Mühle Christina Kasts, die in ihrer einleitend bereits beigezogenen Dissertation behauptete, der »Wert der Gebundenheit« (Nietzsches an Wagner) im Frühwerk liege darin, »dass erst aus ihr Freiheit erwachsen kann.« (Kast 2019: 42) Leider übersah Kast bei diesem Argument, was eben angedeutet wurde: Am Anfang, unmittelbar vor der Wagnerära, war bei Nietzsche gar nicht »Gebundenheit«, sondern der unmittelbar bevorstehende Durch397 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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bruch zur »Freiheit« (der durch Wagner behindert und durch neue »Gebundenheit« ersetzt wurde). Die Frage wäre also eher umgekehrt zu stellen: Warum wurde Nietzsche, wie seine unter dem Einfluss Wagners entstandenen Arbeiten zeigen, diesem seinem im Kern linken Programm untreu? Hatte er dafür womöglich Gründe ähnlich jenen von Schopenhauer 1851 fixierten? Oder gibt es zusätzliche, von Schopenhauer nicht berücksichtigte Faktoren, die erklären können, dass Nietzsche vorübergehend zu dem wurde, was Schopenhauer zwecks Abschreckung an die Wand malte: ein ›erbärmlicher Tropf‹ ?

3. Nietzsche, als bloß ›rhetorischer Rechter‹ aufbereitet und ad acta gelegt Der Fakt selbst steht weitgehend außer Frage und darf nach unserer kleinen Werkschau in puncto des ›frühen‹ Nietzsche (vgl. Kap. II) sowie infolge der Analyse der Nazifizierung Nietzsches (vgl. Kap. XIV/ 4) als gesichert gelten: Nietzsches eben angesprochenes und von Christina Kast mit neuen Weihen versehenes ›Frühwerk‹ – beginnend mit Die Geburt der Tragödie (1872) und endend mit Richard Wagner in Bayreuth (1876) – offenbart zwar nicht durchgängig, aber in vielen Details den unheilvollen Einfluss Wagners, erlaubt also die Einordnung Nietzsches als Rechten, terminologisch korrekter geredet: erlaubt Nietzsches Einfügung in den damals sich um Wagner respektive um Wagners Bayreuth sich formierenden Kosmos der völkischen Bewegung. Exemplarisch sind Sätze wie: »Und gerade nur so viel ist ein Volk – und übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag.« (I: 148)

Dies klingt schon sehr nach deutsch-völkischer Programmatik, so wie sie Wagner vier Jahre zuvor angedeutet hatte, als er seine Absicht kund tat, das »Streben der Deutschen nach einer höheren politischen Bedeutung« mittels Rekurses auf »deutsche Kunstbestrebungen« (GSD 8: 30 f.) zu stärken. Wagner hatte diese Überlegung zwei Jahre später seiner erstmals 1850 deutlich hervorgetretenen antisemitischen Grundausrichtung eingefügt, indem er einer durch »Einmischung der Juden« veranlassten »Schwäche und Unfähigkeit der nachbeethovenschen Periode unserer deutschen Musikproduktion« (GSD 8: 250) meinte das Wort reden zu dürfen. Von hier aus er398 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche, als bloß ›rhetorischer Rechter‹ aufbereitet und ad acta gelegt

scheint dann auch die von Wagner popularisierte Figur des ›deutschen Jünglings‹ (GSD 8: 36) in einem fahlen Licht. Nietzsche freilich war auch hiermit zufrieden, wie sein Ausruf belegt: »Wer anders als der deutsche Jüngling wird die Unerschrockenheit des Blicks und den heroischen Zug in’s Ungeheure haben, um allen jenen schwächlichen Bequemlichkeitsdoktrinen des liberalen Optimismus in jeder Form den Rücken zu kehren und im Ganzen und Vollen ›resolut zu leben‹ ?« (VII: 356)

Dieser Passus begegnet einem fast wortgleich in der knapp ein Jahr später vorgelegten Druckfassung von GT – mit einer Ausnahme: Statt vom ›deutschen Jüngling‹ redet Nietzsche nun von einer »heranwachsenden Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks« und vom »kühnen Schritt dieser Drachentödter« (I: 118 f.), die beauftragt seien, für die »W i e d e r g e b u r t d e s d e u t s c h e n M y t h u s « (I: 147) Sorge zu tragen, denn: »Ohne Mythus […] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab.« (I: 145) Es ist dieses von Nietzsche hier erstmals aufgestellte, von den Nazis für ihre Kampagne gegen ›entartete‹ Kunst genutzte Kultureinheitsideal, von dem ausgehend Nietzsche »das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie« (I: 146) fraglich wird und er zwecks Abhilfe, wie bereits gezeigt (vgl. Kap. X), Wagners Siegfried Referenz erweist, nach nur psychologisch aufzuklärenden Wirkmächten wie etwa dem der Vaterübertragung (vgl. NLex: 390 ff.), die ihrerseits Kindheitsfolge ist. Heißt, in Schopenhauers Terminologie und unter der Voraussetzung eines hier (vgl. allerdings Niemeyer 2017: 141 ff.) nicht auszubreitenden Wissens um die Hintergründe: Nietzsche war gleichsam von Haus aus ein ›erbärmlicher Topf‹ im landläufigen Sinne, ein Pechvogel allemal, zutiefst unglücklich und einsam, wie exemplarisch der folgende Auszug aus seinem erschütternd zu lesenden Brief vom November 1887 offenbart, adressiert an seinen Basler Freund und ExKollegen Franz Overbeck: »Weiß eigentlich irgend jemand, was mich krankmachte, was mich jahrelang in der Nähe des Todes und im Verlangen nach dem Tode festhielt? Es scheint mir nicht so […]; ich war schon als Kind allein, ich bin es heute noch, in meinem 44ten Lebensjahre.« (8: 196)

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Einige Wochen zuvor ließ Nietzsche seine Mutter wissen: »Seit meiner Kindheit nie ein tiefes und verständnißvolles Wort gehört zu haben – das gehört zu meinem Loos.« (8: 170) Auf derlei Klagemotive hätte Nietzsche gewiss einen vielstimmigen Refrain anstimmen können. »Liebe Mutter ich wünsche Dir Glück, und mir einen freundlichen Blick« (zit. n. Schmidt 1995: 45), hatte schon der gerade Zweieinvierteljährige zum 21. Geburtstag seiner Mutter auf Vorgabe seiner Tante Rosalie aufsagen sollen, damit zugleich ein eindrückliches Zeugnis hinterlassend für die von der Tante sensibel registrierte Vereinsamung eines Kindes, das nicht ganz einfach war und seitens der Mutter offenbar vor allem mit Liebesentzug bestraft wurde, obwohl, oder besser, weil seine »geistige Lebendigkeit« schon im Alter von fünf Monaten vom Vater als »ganz außerordentlich« (ebd.: 43) verbucht wurde. Denn für die Mutter war diese geistige Lebendigkeit wohl vor allem ein Ärgernis gewesen, was jedenfalls ihr Monitum bezüglich des inzwischen Sechsjährigen offenbart, wonach der Sohn über alle Dinge »seine eigenen Gedanken« habe, »die mit denen andrer Leute garnicht übereinstimmten.« (Förster-Nietzsche 1912: 33) Insoweit ist der Schluss wohl erlaubt, dass Nietzsche gemeint ist, wenn Zarathustra in Also sprach Zarathustra resümiert: »Fast in der Wiege giebt man uns schon schwere Worte und Werthe mit: ›gut‹ und ›böse‹ – so heisst sich diese Mitgift. Um derentwillen vergiebt man uns, dass wir leben. / Und dazu lässt man die Kindlein zu sich kommen, dass man ihnen bei Zeiten wehre, sich selber zu lieben: also schafft es der Geist der Schwere.« (IV: 242)

Die entscheidende Vokabel ist hier: ›sich selber zu lieben‹, sprich: Nietzsche, der von Pastorenwitwen wie –tanten und –müttern umstellte Pastorensohn, entbehrte auf fundamentale Weise der Liebe und Anerkennung und damit einer zureichenden Rückmeldung über seinen Rang und seine Bedeutung, für die nicht zuletzt der Vater verantwortlich hätte sein müssen, der allerdings nach langer und mysteriöser Krankheit am 30. Juli 1849, also kurz vor Nietzsches fünftem Geburtstag, gestorben war. In psychoanalytischer Umschrift geredet: Nietzsche war ein gleichsam idealer Absender für Vaterübertragungen aller Art, also für eine durch Vatersuche angetriebene, auf den ersten Blick rätselhaft intensive gefühlsmäßige Bindung an eine als Ersatzvater auserkorene Bezugsperson. In Betracht kommt dabei sein akademischer Lehrer (und ›Doktorvater‹) Friedrich Wilhelm Ritschl, auch Schopen400 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Nietzsche, als bloß ›rhetorischer Rechter‹ aufbereitet und ad acta gelegt

hauer, Geburtshelfer bei Nietzsches Abwendung von Ritschl, vor allem aber Wagner, dem Nietzsche spätestens mit Menschliches, Allzumenschliches vehement abschwor, gleichsam in einem Akt des diesmal endgültigen Vatermordes, als dessen Siegel der Satz gelten könnte: »Ohne die blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross geworden.« (II: 121)

Das hiermit markierte Problem nahm seinen Ausgang, wie oben angedeutet (vgl. Kap. X), im November 1868, als Nietzsche noch als Student Wagner bei dessen Besuch in Leipzig persönlich vorgestellt wurde. Das Weitere nahm seinen Lauf mit Nietzsches wenig später erfolgter Berufung nach Basel und den nachfolgenden Besuchen in Wagners nur 150 Kilometer entfernten, von Ludwig II. gesponserten Residenz in Tribschen. Doch erst Jahre später ist Nietzsche soweit, jene psychologische Verstrickung beim Namen zu nennen, der er im November 1868 unterlag. Nietzsche spottete nun – wir haben dies oben im Verlauf der kleinen Werkschau bereits angesprochen (vgl. Kap. II), – zumindest im Nachlass und ohne Wagner beim Namen zu nennen, über jene »Genies [lisez: Wagner; d. Verf.], die ihren Anhängern ein Stück Gehirn ausschneiden.« (IX: 159) Als Vorstufen hin zu diesem Nekrolog auf Wagner sind die diesen kritisierenden Passagen in Menschliches, Allzumenschliches I u. II in Betracht zu ziehen. (vgl. Niemeyer 2016: 121 ff.) Nimmt man noch Nietzsches rückblickende Bemerkung hinzu, er habe sich in der Geburt der Tragödie »einer Autorität und eignen Verehrung« (I: 13), sprich: jener Wagners gebeugt, liegt die These nahe, dass dasjenige, was der frühe Nietzsche an Bildungs- und Kulturkritik vorlegte, ebenso wie sein früher Antisemitismus, in weiten Teilen rhetorisch ist, also nur dem Zweck der Einverständniserklärung gegenüber dem dient, der von ihm die Mitwirkung an der Errichtung eines geistigen Überbaus für sein eigenes Streben erwartete und damit Nietzsches Vaterübertragung wegen vorübergehend erfolgreich war (vgl. Niemeyer 2017: 150 ff.). Kurz: Die Ausgangsthese scheint sich zu bestätigen: Nietzsche war kein ›authentischer‹, sondern allenfalls ein ›rhetorischer‹ Rechter – kein Hemmnis mithin, ihn nicht für den aktuell anstehenden Kampf gegen den Rechtspopulismus à la Donald Trump & Co. in Dienst zu stellen. Ob unter dieser Denkfigur des gleichsam ›rhetorischen Rechtspopulismus‹ auch noch andere Figuren, sei es aus der Vergangenheit, sei es aus der Gegenwart, beheimatet werden können, 401 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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ist eine interessante, hier aber nicht mehr zu beantwortende Frage. Klar ist nur eines: Der von Nietzsche als Selbstauftrag beigezogene Satz »Werde, der du bist« wird man im Wesentlichen als einen Programmsatz zu lesen haben, den Nietzsche nicht nur seiner Vaterübertragung auf Wagner wegen unterschritt, sondern auch aufgrund einer höchst persönlichen Krise, von der bisher nicht die Rede war. Gemeint ist Nietzsches Syphilis respektive Syphilisphobie, die ihm letztlich ein Schweigegebot besonderer Art auferlegte, das auch das Schweigen über diesen Hintergrund oder jedenfalls doch ein Reden darüber in Rätseln und Bildern – wie in Also sprach Zarathustra beobachtbar – erforderte, zusammen mit der suggestiven, vor allem in Ecce homo durchbrechenden Pose (vgl. Niemeyer 2017: 298 ff.), alles sei gut mit der Person Nietzsche und mit seinem Gesamtwerk. Das Gegenteil ist richtig: Nichts ist gut und das Wenigste davon nach einhundertfünfundzwanzig Jahren Nietzscherezeption und – forschung noch nicht einmal als Problem erkannt. Aber dies zu erläutern, würde den Platz sprengen (vgl. Niemeyer 2018a), so dass wir uns hier auf den Befund beschränken wollen: Nietzsche ist berühmt wegen seines Freud vorgreifenden Ausrufs aus Morgenröthe (1881): »[D]u w i r s t g e t h a n ! in jedem Augenblicke!« (III: 115) Aber er ist eben auch berüchtigt wegen der Zielsicherheit, mit der er immer wieder dem Auftrag zuwiderhandelte, der diesem Ausruf eingelegt ist – und letztlich zu keiner Zeit sicherstellen konnte, dass »er« tat und nicht »Es«. Dies mag man »tragisch« nennen, entbindet zumal den Nietzscheforscher allerdings nicht von der ihm mit diesem Buch in Erinnerung gerufene Verantwortung, dem ›Centrum‹ Nietzsches und den Gründen für die Abweichung Nietzsches von diesem genauestens nachzugehen, anstatt jenen Nietzsche zu feiern, der einem irgendwie am liebsten ist, sei es nun, wie hier dargetan, den authentisch linken oder den, wie angedeutet, nicht-authentisch rechten.

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Zugabe

Nietzsche & Co., darunter Trump, auf der Couch Ein didaktisch ambitionierter Versuch, das Phänomen Nietzsche vom Amokläufer Robert Steinhäuser aus sozialpädagogisch zu verstehen (mit Seitenblicken auf den aktuellen US-Präsidenten als »blonde Bestie«) 33 Der Fanatismus verdirbt den Charakter, den Geschmack und zuletzt auch die Gesundheit: und wer diesen dreien zugleich wieder von Grund aus aufhelfen will, muss sich auf eine langwierige Kur gefasst machen. (Nietzsche, 1880)

Vorbemerkung: Das Folgende basiert auf der überarbeiteten Variante eines Vortrags, den ich am 7. 2. 2017 im Rahmen der Akademischen Woche am Sächsischen Landesgymnasium Sankt Afra in Meißen auf Einladung von Donatus Thürnau gehalten habe. Das Thema selbst gewann an weiterer Brisanz, als im Oktober 2017 in New York ein von 27 Psychiatern und Medizinexperten verfasster, inzwischen auf Deutsch vorliegender Reader (Lee 2018) erschien, der mit dem spektakulären Versuch aufwartete, eine medizinisch indizierte Amtsenthebung des aktuellen US-Präsidenten in die Wege zu leiten. Die in jenem Band unterbreiteten Diagnosen sind alles andere als harmlos und kulminieren in (witzigen) Überschriften wie Donald Trump Is: A: Bad, B: Mad, C: All of the Above (John D. Gartner) sowie dem (weit weniger witzigen) Krankheitsbild Sociopathy (Lance Dodes), für das Fanatismus, also das »Schlüsselwort des Nazismus« (Klemperer 1947: 47), gelesen als der unbedingte, für Widerspruch nicht empfängliche Glaube an eine für richtig befundene (Wahn-)Idee, als kennzeichnend gelten darf. Gewiss: Man kann die Sache auch anders sehen – und 33 Zuerst erschienen in: Pädagogische Rundschau 72 (2018), S. 445–464. Die hier präsentierte Fassung wurde aktualisiert. Ich danke Verlag und Redaktion für die freundlich erteilte Genehmigung zum Wiederabdruck.

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diesen Reader beispielsweise lesen als die Antwort der freien Gesellschaft auf den sowohl von Claus Leggewie (2016: 80 f.) als auch von Samuel Salzborn (2017: 150 ff.) eindrucksvoll kontextualisierten (verstörenden) Versuch des neurussischen respektive neu-rechten Ideologen Alexander Dugin in einem Spiegel-Gespräch vom 14. Juli 2014, Putin für normal zu erklären (»Putin ist alles, Putin ist unersetzlich«) und ersatzweise Putins Kritiker zu pathologisieren, die, so Dugin, ausnahmslos »psychisch Kranke« seien, dafür aber solche »mit Recht auf Heilung, auf Unterstützung«. Nimmt man nun noch hinzu, dass der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz Sigmar Gabriels Beschimpfung der Heidenauer Demonstranten im Sommer 2015 als ›Pack‹ »praktisch wie eine Anstiftung zur Gewalt« las und zusätzlich nicht etwa die AfDler, sondern die Anti-AfDler auf die Couch bestellte, insofern für diese »typische Bekenntnisse vom Typ weltoffen, bunt, tolerant und friedfertig« ja möglicherweise gar nicht ernst gemeint seien, sondern »eine tiefe seelische Last« verbergen würden (Maaz 2016: 359 u. 362), ahnt man mindestens doch noch um dies: nämlich um das grundsätzlich Bedenkliche einer psychopathologisierenden Argumentation im politischen Meinungsstreit und insoweit um das gute Recht ganz anderer, von psychologischen Lesarten absehenden Zugängen zum Thema. (vgl. etwa Stephan 2017a) Unter diesem Vorbehalt sei im Folgenden der Fall Trump weiterverfolgt, zusätzlich noch, wie in der Überschrift angedeutet, mit Seitenblick auf einen Amokläufer wie Robert Steinhäuser, also getragen von einem sozialpädagogischen Blick, wie ich ihn in meinem Buch Sozialpädagogisches Verstehen verstehen (2015) zu begründen versuchte. Die zweite, in der Überschrift angesprochene Vergleichsebene betrifft – wie im Folgenden gezeigt werden soll – den ›frühen‹ wie ›späten‹ Nietzsche, mit dem Unterschied, dass sich bei Nietzsche passager, wie sein hier als Motto vorangestelltes Zitat belegt, eine diesbezügliche Krankheitseinsicht nachweisen lässt. Die zweite Vorbemerkung betrifft den didaktischen Zugriff, den ich seinerzeit in Sankt Afra gewählt habe, der auch in der folgenden Druckfassung des Vortrags erhalten blieb. Zu den dazu gehörenden Besonderheiten muss man noch wissen, dass ich mit der Bemerkung anhob, dass das Thema viele Fragen aufwerfe, die ich der Reihe nach durchgehen würde, wobei ich so täte, als könne ich die stillen Gedanken der Anwesenden (mehrheitlich Schüler, aber auch einige Lehrer, die teils überrascht reagierten, aber auch, ähnlich wie die Schüler, das ihnen vielleicht nicht passende willig und teils mit schauspielerischer 404 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Ambition vorlasen). Von der zuvor von mir bestimmten und mit dem entsprechenden Zettel versehenden Schülerin wurde nun die folgende, von mir zuvor notierte Frage vorgelesen (so geschah es denn auch in der Folge): Was meinen Sie, Herr Niemeyer, eigentlich mit der Vokabel ›Couch‹ ? Doch wohl nicht nur ein Möbelstück? Nein, nicht ein Möbelstück, in Konkurrenz etwa zu anderen, die sich zum Liegen eignen, ein OP-Tisch beispielsweise, eine Bahre, ein Sarg, eine Hängematte, etwa jene des Donald Duck aus Entenhausen. Ich meine auch nicht das, was auf einer Couch möglich ist, Fernsehgucken etwa, schlafen, der Austausch von Körperflüssigkeiten, reden – stopp: reden meine ich schon, denn die Couch, um die es mir geht, steht in Wien, in der Berggasse 19, in der früheren Praxis des Dr. Sigmund Freud, und auf dieser Couch wurde viel geredet, erzählt, geantwortet, kurz: hier wurde, im Rahmen eines ursprünglich »talking cure« genannten Verfahrens, die Macht der Sprache entdeckt, die heilsame Wirkung des volksmundlichen: ›Lass-uns-mal-darüberreden‹ denn: »Verschwiegene Wahrheiten werden giftig« (IV: 149) – ein schon im Epilog angeführter Spruch, der einen auf die Idee bringen könnte, dass Nietzsche und Freud, in mancherlei Hinsicht jedenfalls, als ›Brüder im Geiste‹ zu gelten haben, denn: Beiden war das Ansprechen des Unausgesprochenen ein wichtiges Therapeutikum, allen Alternativen gegenüber – etwas dem Strafen, dem Verbieten, der chemischen Keule, dem Ritalin – tausendfach überlegen. Insofern, ja: Die Couch ist für mich eine Metapher für das Interesse an aufklärender wechselseitiger Rede, das dort zum Tragen kommen sollte, wo jemand durch sein Verhalten Not signalisiert. Was meinen Sie mit »Not signalisieren«? Und wen mit der »blonden Bestie«? Vor einigen Monaten hätte ich auf die letzte Frage geantwortet: Nietzsche, jedenfalls im Blick auf ein durch ihn bekannt gewordenes Attribut und von seinen Kritikern aus gesehen, darunter, erstaunlich genug, Jochen Schmidt, Chef und Inspirator des ›Heidelberger Nietzsche-Kommentars‹, der in seiner am 8. August 2016 erschienenen und beispielsweise auch von Mike Rottmann (2018: 480) als wissen-

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schaftlich »desolat« bewerteten Anti-Nietzsche-Streitschrift Der Mythos ›Wille zur Macht‹ resümierte: »Immer mehr geriet Nietzsche ins Schwadronieren über Alles und Jedes, auf einen großmäuligen und größenwahnsinnigen […] Ego-Trip, in halluzinatorisch aufgeblähte Repetitionen, Redundanzen und Variationen, mit denen er früher von ihm selbst schon Gesagtes zusammenrührte und verquirlte.« (Schmidt 2016: 130)

Inzwischen bin ich mir gar nicht so sicher, ob dieses Zitat wirklich den Höhepunkt des aktuellen Nietzsche-Bashing markiert. Im Philosophiemagazin beispielsweise, in der im Frühjahr 2017 erschienenen Sonderausgabe zu Nietzsche, noch genauer: im Artikel Nils Markwardts mit dem Titel Nietzsche als Erzieher, konnte man eine ganz neue Variante besichtigen. Denn anstatt seriös zu referieren, was in dieser Frage Forschungsstand ist – ich hätte da die eine oder andere Idee gehabt (vgl. Niemeyer 2016) –, suchte sich dieser Journalist seinen eigenen Reim auf das Ganze zu machen, ganz dem postmodernen Credo verpflichtet: Jeder will heute Originalgenie sein, niemand hingegen Epigone. Fatal nur, dass sich Markwardt als seine Benchmark ausgerechnet das wohl fragwürdigste Motto aus dem Kreis der Lesefaulen herausgriff, nämlich jenes der angeblichen »Deutungsoffenheit« von Nietzsches Werk, dessen profane Variante lauten können: Nietzsche hat alles gesagt und auch das Gegenteil von allem und mit dem Tod Gottes auch den Tod der Wahrheit verkündet – also: Bedien’ Dich! Dies tat Markwardt denn auch kräftig, ausgehend von – schon dies eine tollkühne These – »Nietzsches Satz«, »es sei nötig, dass wir einmal recht böse werden, damit es besser wird.« Dieser Satz, so Markwardt, sei ›deutungsoffen‹ insofern, als man ihn durchaus als »philosophische Lizenz zum School-Shooting (miss-)verstehen [könnte].« Woraus folge, dass Nietzsche als Apologet des Erfurter School-Shooters Robert Steinhäuser (und damit letztlich auch Donald Trumps) gelten könne – nicht müsse, selbstredend. Denn Nietzsches Werk sei ja, wie gesagt, ›deutungsoffen‹, anders und mit Markwardt gesagt (aber sicherlich nicht höflicher): »eine fein abgestimmte Mischung aus Negation und Affirmation.« (Markwardt 2017: 26) Ich schlage an dieser Stelle etwas anderes vor: Überantworten wir Markwardts Artikel, eine ziemlich unfeine Mischung aus Halbgaren und Wiedergekäutem, dem Müllhaufen der Geschichte, zusammen mit der Postmoderne, die zum Fehlschluss beitrug, die coole Geste sei der seriösen Textexegese überlegen, jedenfalls weit witziger als diese. 406 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Versuchen wir nach diesem unglücklich verlaufenen ersten Zugang das in Rede stehende Stichwort ›blonde Bestie‹ ersatzweise einmal von Donald Trump aus anzugehen. Dies liegt auch deswegen nahe, weil der aktuelle US-Präsident inzwischen noch immer so wirkt, als läge ihm keineswegs daran, wie die Leute, zumindest die zurechnungsfähigen, über ihn denken. Eben wie eine »blonde Bestie«, frisch dem Drachenbad entstiegen und sich für unschlagbar haltend, im Gestus des Ecce-homo-Nietzsche (»Warum ich ein Schicksal bin«) daherredend, schon während des Wahlk(r)ampfes mit »Thus Spoke The Donald« verspottet – und sich mit seiner wohl von Stephen Bannon verfassten Inaugurationsrede vom 20. Januar 2017 endgültig als Rüpel vom Typ ›Weltwirtshausschläger‹ demaskierend. Zumal die amerikanischen Grundschüler nicht-mexikanischer Herkunft aus dem white-collar-Milieu finden dies offenbar Klasse. Und zumal die etwas Überproportionierten und Unbeliebten unter ihnen mit leicht pickligem Einschlag, prekärer Herkunft und Alleinerziehendem-Status, zumeist also mehr oder weniger vaterlos aufgewachsen und infolgedessen extrem süchtig nach einem markanten vateranalogen Vorbild. Sie nämlich adoptieren sich in ihrer Fantasie offenbar inzwischen tausendfach als Trump jr. und geben auf dem Schulhof den Sheriff und zu Hause den Tyrannen, angeblich ausgestattet mit einer Standleitung ins Weiße Haus und bei jeder Gelegenheit im Geiste des Präsidenten herumtönend: »Win-Win ist was für Pussies!« Die Folgen dessen sind absehbar fürchterliche. In Zukunft dürfte in diesem Land gefurzt, gerülpst, gefummelt und schließlich auch geschlagen werden, dass es eine wahre Unfreude sei. Da das Trump-Vorbild auch in erwachsenenpädagogischer Hinsicht unheilvoll wirken dürfe, könnten Fälle häuslicher Gewalt mit und ohne sexuellen Missbrauch neuen, bisher nicht erreichten Maßzahlen zustreben. Hoppla! Finden Sie diesen Einstieg jetzt nicht etwas krass! Doch! Und zwecks Erklärungssuche Ihrerseits bitte ich Sie – mehr verrate ich hier nicht, lege mich also nicht auf Ihre Couch –, jeder für sich der Klassenclowns zu gedenken, der Sitzenbleiber, der Störenfriede und Zornigen, der Auffälligen in Ihrer Klasse. Ich bitte Sie, an die Ihrer Eigentümlichkeit wegen Gemobbten zu denken, aber auch an die Mobbenden, darunter übrigens auch Lehrer – selbstredend nicht hier in Sankt Afra, ich dachte jetzt an meine Schulzeit sowie an die Studie Ungerechte Lehrer (Krumm/Weiß 2000). Kurz 407 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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und ich sage es jetzt einmal ganz handgreiflich, im Blick sowohl auf mobbende Schüler wie Lehrer, aber auch mit Seitenblick auf gemobbte Nietzscheforscher: »Think about all the assholes roundabout!« Meinen Sie nicht auch, dass deren Agieren inklusive jenes der mit Springerstiefeln Bewaffneten, mit der Band Die Ärzte geredet, zur Not als »Schrei nach Liebe« gedeutet werden könnte? Woraus folgen würde, dass Knast, Chemie, Strafe, Ausgrenzung, so betrachtet, untaugliche Mittel sind? Moment, Herr Niemeyer: Nehmen Sie die Sache nicht etwas zu locker? Ich meine, manche brauchen doch Ritalin! Und Amok – nun ja: Denken Sie gar nicht an die Opfer? Gute Frage, wobei ich gleich zugestehe: Ja, in Einzelfällen mag Ritalin indiziert sein, auch die Opfer sind natürlich zu beklagen, nur: Raube ich dem Opfer etwa die Würde, indem ich genauer nach dem Täter frage? Sehr viel genauer jedenfalls als die Gießener Kriminologin und Amokforscherin Britta Bannenberg. Die am 12. Oktober 2016 in meiner Lieblingssendung Unmenschen bei Maischberger (der Titel war so ähnlich) des Erfurter Amoklaufs des Robert Steinhäuser von 2002 gedachte, aber in der Hauptsache nur mit pejorativen Vokabeln argumentierend (wie »nicht normal«, »völlig irrational«, »unheimlich egozentrisch« oder »negative Persönlichkeitsstörung«), um im Ergebnis ›die‹ Eltern oder ›die‹ Lehrer von jeder Schuld freizusprechen im Blick auf jene, die sich ja ohnehin nur als »Mobbing-Opfer« stilisieren würden und selbst dafür verantwortlich seien, wenn sich niemand wegen ihres unangepassten und nicht-emphatischen Verhaltens auf sie näher einlassen wolle. Soll heißen: Die Täter sind schuld, deutlicher: das aus ihnen anlasslos herausbrechende Böse! Welcome back im Mittelalter! Und dies wo fast alle neueren Untersuchungen zum Thema Amok auf eine zuvor erlebte Kränkungserfahrung als Tatauslöser verweisen (vgl. Niemeyer 2015: 88 ff.), auch der Fall des Robert Steinhäuser. Auch mit ihm also hätte man vor seiner furchtbaren Tat mit sechzehn Toten reden müssen, im Einzelnen: seine Mitschüler, seine Eltern, die Lehrer. Der Mensch, so schrieb der berühmte Sozialpädagoge Paul Natorp vor über 100 Jahren, werde zum Menschen allein im Rahmen menschlicher Gemeinschaft. (vgl. Niemeyer 32010: 88) Also frage ich Sie hier und heute: Haben Sie hier in Sankt Afra eine hinreichend entwickelte menschliche Klassen- und Schul-

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Zugabe · Nietzsche & Co., darunter Trump, auf der Couch

gemeinschaft, um dem, der mit seinem Sie störenden Verhalten seine Not signalisiert, zu helfen, um mit ihm zu reden? Sorry, das klingt zwar alles ganz interessant, aber Sie wollten doch eigentlich über Nietzsche reden, oder!? Ich rede die ganze Zeit über Nietzsche. Denn Nietzsche ist Robert Steinhäuser, symbolisch geredet. Nietzsche ist derjenige, der von allen gemobbt wird, seit über 150 Jahren. Er ist der mit der Peitsche (»Du gehst zu Frauen? Vergiß’ die Peitsche nicht?«). Er ist der mit dem Willen zur Macht, mit der ›blonden Bestie‹, mit dem »Gelobt sei, was hart macht!« und anderen coolen, aber leider völlig nihilistischen Sprüchen, wie »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!« (vgl. Kap. V/2) Nietzsche ist ein widerlicher Antichrist, hieß es Ende der 1890er Jahren in kirchlichen Kreisen. Er ist ein schlimmer Jugendverführer, verantwortlich für die vielen Schülerselbstmorde, meinte man vor dem Ersten Weltkrieg. (vgl. XIV/1) Nietzsche ist der deutsche Kriegsphilosoph Nr. 1, hieß es nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. »Denker Nietzsche – Täter Hitler« schrieb Rudolf Augstein in den 1980er Jahren im Spiegel. (vgl. Kap. XIV/5) Nietzsche trägt Schuld an der Postmoderne, konnte man wenig später bei Jürgen Habermas lesen. Im Kino seitdem – aber auch schon davor, etwa in Hitchcocks Rope (1948) – ist der Schurke fast immer ein Nietzschefan: ob in Conan the Barbarian (1982), A fish called Wanda (1987), Cape fear (1991), The Fifth Element (1997), Murder by Numbers (2002) oder The Dark Knight (2008). (vgl. Hoffmann 2009) Auch im Rap hat sich das niedergeschlagen, etwa bei Kanye West, dem Kumpel von Donald Trump. Niemand würde sich wohl wundern, wenn er erführe, dass dieser Sexist und Rassist heimlich zu Hause vorm Spiegel mit Wests Stronger den Rapper mimte. D’accord, ein Punkt für Sie! Und Sie wollen diesen ›bösen Nietzsche‹ gerne auf die Couch legen und uns erzählen, Nietzsche signalisiere mit all dem seine Not?! Auch – mein Vater hat neulich so etwas erzählt – mit seinem von den Nazis aufgegriffenen Vorschlag, erblich Belasteten die Zeugung zu verwehren? Im gewissen Sinne: ja – wobei ich das »all dem« gerne etwas kleiner halten würde. Und darum bitten muss, den mich dabei leitenden, von Nietzsche stammenden Grundsatz zu beachten: 409 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!« (III: 529 f.)

Dieser Satz, letztlich ein unbedingtes sozialpädagogisches Verstehensgebot, steht quer zu Angela Merkel – zu loben für ihre mutige Haltung beim ungarischen Flüchtlingsdrama 2015, aber zu tadeln wegen ihres Verstehensverbots 2002, noch als Ministerin, in der Causa Robert Steinhäuser im Bundestag zu Protokoll gab: »Bei einer solchen Tat, die jenseits unserer Vorstellungskraft und außerhalb jedes nachvollziehbaren Denkens und Handelns liegt, ist es nicht richtig, Kausalketten herzuleiten […]. Wer das Unverständliche verstehbar und das Unerklärbare erklärbar machen möchte, der muss aufpassen, dass er sich nicht – zumindest unterschwellig – auf die Seite des Täters stellt und versucht, das Unentschuldbare mit irgendwelchen Umständen zu erklären.« (zit. n. Böckler / Seeger 2010: 11)

Hätte ich nur diese beiden Zitate, würde ich jetzt gegen Merkel und für Nietzsche plädieren und für dessen Verstehensgebot. Das übrigens für alle gilt, also sowohl für Putin als auch für Trump. Dies macht die Sache zugegebenermaßen etwas schwierig. Aber zurück zu Ihrer Frage! Ja, Ihr Herr Vater hat Recht, jedenfalls im Prinzip und mit zwei wichtigen Einschränkungen: Es war Nietzsches Schwester, die 1935, in ihrem letzten, Hitler dedizierten Nietzschebuch den von Ihr verehrten Führer wissen ließ, ihr Bruder, der ja schon seit 1900 tot war, hätte die Nürnberger Gesetze sicherlich gut gefunden, jedenfalls in Der Wille zur Macht ähnlich gedacht, Zeugungsverbote und Ehegesundheitszeugnisse gefordert. (vgl. FörsterNietzsche 1935: 169) Aber, erstens: Diese Edition – ich komme noch darauf zurück – war nicht von Nietzsche autorisiert. Und, zweitens und wichtiger: Nietzsches Schwester verlor kein Wort darüber, was Nietzsche auf diese Ideen gebracht hatte. Apropos: Haben Sie vielleicht im Deutschkurs Thomas Manns Roman Doktor Faustus gelesen? Nein, haben wir nicht! Also, machen Sie es nicht so spannend, erzählen Sie schon! (Plan B: Falls »Ja, haben wir!« weiter mit: »Aber das ist schon so lange her! (a) Ich kann mich nicht mehr erinnern! (b)« Dann weiter mit: »Also …«) Nun, kein Problem: »Zahllose Einzelheiten sind, zeitlich um ein, zwei Generationen versetzt, nach Nietzsches Leben modelliert«, merkt zu 410 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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diesem Roman sehr richtig der bedeutende Nietzscheforscher Andreas Urs Sommer (2017: 178) an, um sehr falsch oder jedenfalls doch auffällig, von der wichtigsten ›Einzelheit‹ zu schweigen: nämlich vom nach einem Bericht von Nietzsches Freund Paul Deussen (1901) modellierten und von Eckhard Heftrich (1977: 16 ff.) in seinem exzellenten Überblick gezeigten, auf die Syphiliserkrankung Nietzsches anspielende Bordellszene des Musikers Adrian Leverkühn (dieser Name gebildet nach Nietzsches Imperativ »gefährlich leben!«). Wichtig dabei: Thomas Mann hat die Syphilisansteckung Nietzsches, vermutlich resultierend aus einem einmaligen Bordellbesuch in studentischer Zeit, ernst genommen, anders als die Nietzscheszene (s. Sommer), anders auch als der renommierte Thomas-Mann-Forscher Helmut Koopmann (2012), anders schließlich als Nietzsches Schwester, die Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um derlei dem Ansehen ihres Bruders abträgliche Gerüchte zu entsorgen. (vgl. Niemeyer 2017: 151 ff.) Spannend wird es nun, wenn man zusätzlich und über Thomas Mann hinausgehend die These einbezieht, auch Nietzsches früh verstorbener Vater habe an Syphilis gelitten – und diese seinem Sohn vererbt. Ins Auge fällt dann nämlich die erstaunliche Intensität, mit der Nietzsche seinen Blick auf die möglichen Parallelen zwischen seiner Krankheit und der seines Vaters heftete. Immer wieder gab er seiner erstmals 1875 brieflich geäußerten Angst Ausdruck, an einem »ernsthaften Gehirnleiden« erkrankt zu sein, anfügend: »Mein Vater starb 36 Jahr an Gehirnentzündung, es ist möglich, dass es bei mir noch schneller geht.« (5: 132)

Diese Sorge quälte ihn natürlich vor allem in seinem 36. Lebensjahr, aber auch danach, etwa in Gestalt des Nachdenkens über eine teils erworbene, teils vom Vater ererbte »nervöse Erschöpfung« (8: 348) sowie der mehr ins Generelle weisenden Ahnung um die »Vorbestimmung zu einem frühen Tode«, und zwar diesmal 1888 unter Anspielung auf eine »s c h l i m m e Erbschaft von Seiten meines Vaters.« (VI: 326) Entscheidend ist der durch Sperrung herausgehobene Ausdruck, der die Anschlussfrage erzwingt, worin die ›Erbschaft‹ des Vaters, Nietzsches nunmehriger Auffassung zufolge, genau besteht und worauf die Sperrung hinweisen soll. Lässt man dabei die damals bevorzugt als Erbkrankheit gelesene Epilepsie als eher unwahrscheinlich außer Betracht, kommt eigentlich nur die Syphilis in Frage. Sie war damals, vor Entdeckung des Penicillin, so gut wie unbehandelbar und so verbreitet, dass Nietzsches frühes Idol, der mutmaßliche Syphiliti411 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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ker Arthur Schopenhauer, schon 1851 klagte, die »venerische Krankheit« habe »in das Verhältniß der Geschlechter zueinander ein fremdartiges, feindsäliges, ja teuflisches Element gebracht; in Folge wovon ein finsteres und furchtsames Mißtrauen es durchzieht.« (SW IV: 386) Sechzig Jahre später destillierte Alfred Adler (1911) aus dieser sowie eigener klinischer Beobachtung ein einschlägiges Krankheitsbild (›Syphilidophobie‹). Noch einmal über zwanzig Jahre darauf wird dieser Terminus von Adlers vormaligem Idol Sigmund Freud (1932: 95) benutzt, der in seiner Praxis ähnliches beobachtete und beispielsweise noch 1905 über einen (weiblichen) Fall von Erbsyphilis berichtet hatte. Das im Fall Nietzsche in Richtung zu stellende – inzwischen als wissenschaftlich haltlos erwiesene (vgl. Bäumler 1989: 119) – Szenario einer Erbsyphilis entspricht am ehesten wohl jenem in Henrik Ibsens Familiendrama Gespenster (1881), abgesehen von einem Detail: Ibsens früh erkrankter Held (Oswald), der von seinem Pariser Arzt aufgeschreckt wird (»Die Sünden der Väter werden an den Kindern heimgesucht«), ist sich zwar (übrigens zu Unrecht) sicher, dass die väterliche Spur als ›sauber‹ gelten darf, muss damit aber eigenes Verschulden anerkennen und klagt darob: »Wenn es wenigstens ererbt gewesen wäre …« (Ibsen 1881: 54 f.) In der Logik dieser Szene gedacht, könnte Nietzsche seinen Vater als einen Krankheitsüberträger in diesem Sinn in Betracht gezogen haben. Auf diese Weise – so die weitergehende Annahme – konnte er das Wissen um jene Verantwortung betäuben, derer sich Ibsens Oswald auszusetzen hat. Von dieser Annahme ausgehend erschiene Nietzsches Radikalisierung einer entsprechenden Überlegung des Neurologen Charles Féré im neuen Licht. Féré hatte gefragt – so Nietzsches Paraphrase im Nachlass vom Frühjahr 1888 –, unter welchen Umständen die Zeugung eines Kindes »ein Verbrechen« sei. Und Nietzsche antwortete: »Ein Kind in die Welt setzen, in der man selbst kein Recht zu sein hat, ist schlimmer als ein Leben nehmen. Der Syphilitiker, der ein Kind macht, giebt die Ursache zu einer ganzen Kette verfehlter Leben ab.« (XIII: 402)

Setzt man hier statt ›der Syphilitiker‹ ›mein Vater‹ und statt ›ein Kind‹ ›Nietzsche‹, scheint klar, wovon Nietzsche hier spricht. Die Konsequenz aus dem Vorgetragenen ist erheblich und lautet, dass Nietzsches Auffassungen zu Züchtung, Vererbung und Zeugungsverbot im Zusammenhang seiner Krankengeschichte sowie der seines Vaters gelesen werden müssen. Dass dieses Argument allein explanatorischen, nicht aber exkulpatorischen Charakter hat, ist 412 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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sicherheitshalber noch hinzuzufügen, ebenso wie: dass diese Zusammenhänge nur dem evident werden, der Näheres weiß über Nietzsches Leben und Werk und dabei Abstand nimmt von den Legenden der Schwester. Und von Ihrer Absicht, Hitler in seiner Absicht zu stärken, Nietzsche als Gesinnungsgenossen anzuerkennen. Soweit also meine Antwort auf Ihre Frage, die ich Sie bitte, Ihrem Herrn Vater zu übermitteln. Okay, dies klingt schlüssig. Müssen aber dann nicht auch alle anderen Philosophen auf die Couch? Im Prinzip: Ja! Nur: Lohnt sich das? Kant beispielsweise! Okay: Wenn ich die Zähne fest zusammenbeiße, also ein Afraner bin, kann ich nach ein paar Wochen vielleicht eine Inhaltsangabe zur Kritik der reinen Vernunft erstellen. Die Kenntnis seiner Biographie brauche ich dazu nicht, muss also nicht wissen, dass er an Auffälligkeiten kaum mehr zu bieten hat, als dass er jeden Morgen auf die Minute seinen Morgenspaziergang aufnahm. Eben deswegen schrieb Nietzsche über den späteren (1919) Nobelpreisträger Carl Spitteler, dieser habe sich in seiner Sammelrezension wichtiger Werke Nietzsches »fast ganz auf das Formale« beschränkt und »die eigentliche Geschichte hinter den Gedanken, die Leidenschaft, die Katastrophe, die Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Ve r h ä n g n i ß hin einfach bei Seite« (8: 244) gelassen. Was, so der Subtext, vielleicht bei Kant (oder auch Schopenhauer) erlaubt sei, nicht aber bei ihm, Nietzsche. Okay, das mit Kant klingt jetzt wirklich nicht sonderlich spannend. Aber was war denn bei Nietzsche ›die eigentliche Geschichte hinter den Gedanken‹ ? Was lief denn bei Nietzsche eigentlich, abgesehen von der Syphilis, sonst noch alles so falsch? Eigentlich alles! Sie werden jetzt vielleicht verstehen, dass ich Ihnen jetzt nicht Nietzsches ganzes Leben und den Inhalt seiner Werke noch dazu erzählen kann. Lassen Sie mich aber vielleicht so antworten: Wenn man mit Wilhelm Schmid unter Lebenskunst das »Können« versteht, »sein Leben zu führen« (Schmid 1992: 50), wird sich wohl kaum in Abrede stellen lassen, dass es Nietzsche, dem weitgehend vaterlos aufgewachsenen Pastorensohn aus Röcken b. Leipzig, an eben dieser Kompetenz und damit auch den ihr zuzurechnenden pri413 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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vaten Glückserfahrungen fundamental gebrach und dies im gleichsam schreienden Kontrast zu seiner Lehre von der ›ewigen Wiederkunft‹ und des ihr zugehörenden »Hauptgedankens«: »Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat!« (IX: 505)

Verglichen mit diesem Programmsatz nimmt sich Nietzsches Leben wahrlich ärmlich aus: Nichts ließ er aus, nicht die ergreifendste Liebestragödie, nicht die tiefste Vereinsamung und die sich in ihr als Symptom zur Anzeige bringende Missachtung seines Schaffens, nicht die schlimmste Krankheit, nicht den frühen Tod nach elfjährigem Siechtum, mit einem Wort: nichts also, was nach Wiederholung drängt (sie aber möglicherweise, als kontrafaktisches Ideal und aus eigentherapeutischen Gründen, immer wieder zu beschwören ratsam sein lässt). Dass ein derart verfehltes Leben, ein Leben – um nur dies noch zu ergänzen – praktisch (ab 1879) aus dem Koffer und ohne festen Wohnsitz, kein beiläufiger Einwand gegen einen Philosophen respektive dessen Philosophie ist, war Nietzsche, dem Altphilologen und Griechenkenner, selbstredend nicht unbekannt. Vielleicht konzipierte er sich eben deswegen, von der in der Antike noch gängigen engen Verknüpfung von Lebenskunst und Philosophie ausgehend, spätestens seit jenem – seiner »Privat-Moral« (6: 247) zugehörigen – Imperativ »g e f ä h r l i c h l e b e n ! « (III: 526) aus Die fröhliche Wissenschaft (1882) und den dadurch angeregten Übersetzungsversuchen in Richtung seiner eigenen Lebensführung als Testfall seiner Philosophie, als könne auf diese Weise seinem unsteten Dasein ein höherer Sinn abgewonnen werden. Der Höhepunkt dessen ist erreicht mit dem stolzen, unter dem Titel Woran ich meines gleichen erkenne dargebotenen, als § 1041 von Elisabeth Förster-Nietzsches Edition Der Wille zur Macht – hier unter dem Titel Mein neuer Weg zum ›Ja‹ – bekannt gewordenen Wort aus dem Nachlass: »Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch den verwünschten und verruchten Seiten des Daseins.« (XIII: 492)

Dies klingt stolz, leicht verwegen, wie eine erste Gebrauchsanweisung für einen wie Nietzsche aus der Manufaktur ›neue Philosophen‹, denen, so darf man Michael Storch (2018: 448) verstehen, einer wie Ernst Jünger sich freudig zuzurechen suchte. Nur: Der Satz, 414 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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einer Nachlasspassage entnommen, die für § 1041 auf wüste Art und Weise ausgeplündert wurde (vgl. Fuchs 1997: 122 f.), ohne dass Storch auch nur ein Wort darüber verliert, ist völlig absurd angesichts dessen, was sich Nietzsche bei seinem eigenen Gang in jene ›verwünschten und verruchten Seiten des Daseins‹ mutmaßlich eingefangen hat, nämlich die Syphilis. Sie meinen also: Nietzsche trommele nur auf den Busch mit seinen deftigen Slogans, sei aber eigentlich ein ganz armes Würstchen gewesen!? So, wie möglicherweise alle Störenfriede à la Robert Steinhäuser?! So ungefähr, ja. Wenngleich: »Auf den Busch trommeln«, »armes Würstchen«: Dies ist nicht meine Sprache, also die Sprache der Couch, mit Verlaub! Die Sprache der Couch ist viel leiser, nuancenreicher, vorsichtiger. Vor allem achtet sie die Selbstdeutungen des zu Analysierenden, die kleinen Momente, die in Richtung Selbstzweifel gehen, die eine Ahnung darum verraten, dass etwas nicht stimmt. Ein Beispiel ist Nietzsches psychologisch hellsichtige Bemerkung: »[J]edes romantische Ideal [ist] eine Selbstflucht, eine Selbst-Verachtung und Selbst-Verurtheilung dessen […], der es erfindet.« (XII: 111)

Nietzsche schreibt sich dies 1885/86 gleichsam in aller Unschuld auf – hätte aber an sich zu diesem Zeitpunkt längst schon erkennen müssen, dass auch seine eigene, für den Zeitraum 1868 bis 1874 dominante Idealisierung Wagners für eine Art ›Selbstflucht‹ steht und mithin für ein Ausweichen vor dem Selbstauftrag von 1862 und somit vor seinem eigenen ›einen einzigen‹ Gedanken. In diesem Zusammenhang muss auffallen, dass Nietzsche vor derlei eigentlich logisch gebotener Selbstanwendung seiner ›Psychologie der Philosophen‹ zunehmend zurückschreckte. Womit wir es ersatzweise zu tun haben, ist das kluge Schweigen dessen, der seinen Zarathustra noch voller Stolz und Aufklärungsdrang hatte ausrufen lassen (wir hatten den 2. Teil des Zitats bereits einleitend angeführt): »Schweigen ist schlimmer; verschwiegene Wahrheiten werden giftig.« (IV: 149)

Ein Beispiel: Über die ihn 1882/83 völlig aus der Bahn werfende, an den Rand des Selbstmords drängende Lovestory mit Lou von Salomé, die sog. ›Lou-Affäre‹, klagte Nietzsche fast in jedem seiner Briefe 415 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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dieses Zeitraums sowie, in verklausulierter Form, insbesondere im zweiten Teil des Zarathustra (1883) – nicht jedoch dort, wo diese Klage der Sachen nach hingehört hätte: in seine sog. Autobiographie Ecce homo (1888). Den Namen Lou von Salomé sucht man hier jedenfalls vergebens, nur die in letzter Minute nachgereichten und von Nietzsches Schwester dann unterschlagenen und noch nicht einmal zwanzig Jahre später von ihr in Druck gegebenen sog. ›Wahnsinnszettel‹ mit ihrer heftigen Klage über Mutter und Schwester – »giftiges Gewürm« (VI: 268) – wegen deren Agieren in der Lou-Affäre, geben einigen Aufschluss über diese tiefe Krise Nietzsches, sind insoweit problemlos zu erkennen als Reminiszenzen an jene Zeit. Die Gründe für diese Zurückhaltung Nietzsches sind nicht schwer zu erraten: ›Wahrheiten‹ wie diese sind offenbar störend im Blick auf das in Ecce homo der Hauptsache nach dominierende Projekt einer den Stil monumentaler Historie kopierenden Autohagiographie. (vgl. Niemeyer 2013: 88 ff.) Sie meinen also: Nietzsche habe sich zum Ende hin, aus Enttäuschung über seine ganzen Misserfolge, wie King Kong gebärdet – und infolgedessen, im Zuge einer grandiosen Selbstinszenierung, Dinge verschwiegen, die ihm wichtig waren? Beispielsweise auch seine Selbstzweifel? So, wie möglicherweise alle Störenfriede à la Robert Steinhäuser?! So ungefähr, ja! Ein Beispiel, wobei ich jetzt voraussetze, dass Sie wissen, dass Nietzsche sein über fünf Jahren hinweg erarbeitetes angebliches Hauptwerk Der Wille zur Macht nie fertig gestellt hat. Es war erst die Schwester, die aus dem Nachlass dieses Werk konfigurierte, weil sie das damalige – wir reden jetzt von der Zeit um 1900 – Nietzschebild mit ihren libertären Zügen störte. Und Sie wissen vielleicht, dass man dieses Werk bis auf den heutigen Tag überall in der Welt kaufen kann, mit desaströsen Folgen für das Nietzschebild weltweit. Eigentlich wenig erstaunlich. Denn wer dieses Buch gut findet, gehört entweder in die Psychiatrie oder ins Zuchthaus. Es sei denn, er liest zur Korrektur, was Nietzsches Schwester unterschlagen hat, beispielsweise Nietzsches Satz: »Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem R e c h t auf ›Philosophie‹. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Muth zu sich selbst zu erhalten.« (XII: 559 f.)

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Das, so werden Sie mir sicherlich zugestehen, klingt nicht mehr nach Nietzsche – aber doch nur, weil und insofern unsere Ohren durch Nietzsches Schwester zurechtgemacht wurden. Und insofern kein Platz mehr bleibt für die leisen Töne – und die Selbstzweifel. Meinen Sie damit auch, Nietzsches Schwester habe bewusst ignoriert, dass Nietzsche Der Wille zur Macht nicht veröffentlichte, weil ihm das Ganze inzwischen obskur vorkam – und nicht mehr seiner wirklichen Meinung entsprach? So ungefähr, ja! Wobei wichtig ist zu fragen, was ihn am Anfang überhaupt zu Aufzeichnungen dieser Härte animierte. Die Datenlage ist hier ziemlich klar, jedenfalls nach Beseitigung der Nebelkerzen Förster-Nietzsches: Ihr Bruder hat mit diesen – bleiben wir einmal bei diesem Wort – ›King-Kong‹-Aufzeichnungen kurze Zeit nach seiner tiefsten Liebesenttäuschung begonnen. An der übrigens auch sie, seine Schwester, ihre Aktien hatte. Mit Liebesenttäuschung meinen Sie die Lovestory mit Lou von Salomé, die Sie eben schon angesprochen haben, richtig?! Schon da hatte ich Sie eigentlich fragen wollen, was da so genau abging, weil … Okay, für diese Zwischenfrage habe ich natürlich das vollste Verständnis, ich war ja auch mal jung. Also: Zur Vorgeschichte dieser für Nietzsche wichtigen Affäre (vgl. Prolog) gehört (vgl. Niemeyer 2017: 122 ff.), dass Nietzsche Anfang 1882 mit seinem damals besten Freund Paul Rée eine Art Urlaub an der Riviera verbracht hatte, über den er einem Anhänger schrieb: »Lieber Freund, es lebe die Freiheit, Heiterkeit und Unverantwortlichkeit! Leben wir über uns, um mit uns leben zu können!« (6: 177)

Wenig später erreichte Nietzsche die Nachricht des schon nach Rom vorgereisten Rée, wonach er ein unglaublich kluges Kind mit den mädchenhaftesten Eigenschaften kennen gelernt: Lou von Salomé. Nietzsches Reaktion auf weitere – wohl von der Schwester vernichtete – Mitteilungen dieser Art war fast schon auf weltmännische Wirkung angelegt, in dieser demonstrativen Lässigkeit allerdings nicht von langer Dauer: »Geist? Was ist mir Geist! Was ist mir Erkenntniß! Ich schätze nichts als A n t r i e b e – und ich möchte darauf schwören, 417 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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daß wir darin etwas Gemeinsames haben« (6: 282), ließ er Lou beispielsweise am 24. 11. 1882, in einem seiner kühnsten Briefe, wissen. Kurz: Nietzsche hatte sich verliebt! Lou freilich – und damit begann das Drama – hatte keineswegs vor, sich für Nietzsche oder Rée (der sich gleichfalls in sie verliebt hatte) zu entscheiden, sondern sie wurde umgetrieben von der Vision einer Art freigeistiges Triumvirat, mit der Universität Wien als Zielort für – so Nietzsche Mitte Juli 1882 an einen alten Studienfreund – »neue Studentenjahre« (6: 226). Nietzsche, unerfahren in diesem Gewerbe wie wohl nur wenige, glaubte gleichwohl, Lou für sich gewinnen zu können, wozu zwei von Lou abgelehnte Heiratsanträge sowie ein dreiwöchiger Aufenthalt mit Lou im August 1882 im Tautenburger Wald gehörten, der sich, wenn auch unter Kontrolle seiner gleichsam als Anstandsdame fungierenden Schwester, nicht freihalten ließ von Spekulationen aller Art. Und dies, obgleich die Affäre damit ihr Ende erreicht und Lou endgültig erkannt hatte, dass die Sache mit Nietzsche nicht gutgehen könne. Nietzsches Schwester genoss ihren Triumph und bilanzierte, bezogen übrigens auf die Philosophie Nietzsches im Ganzen, die in Tautenburg ins Leben getreten sei und ihr jedenfalls deutlich mache: Ihr Bruder liebe das Böse bzw. die Böse – sie hingegen »das Gute.« (6: 256). Was Nietzsche allerdings zutiefst empörte, war der Tadel seiner Mutter, seine Affäre mit Lou sei »eine Schande für das Grab« des Vaters (6: 326). Moment: Das hat die Mutter wirklich gesagt über den Sohn? Das wäre ja echt krass?! Das hat die Mutter wirklich gesagt über den Sohn! Sie haben vollkommen recht – das war voll krass! Bis in die Phase der Erstellung von Also sprach Zarathustra III, also volle zwei Jahre lang, blieb diese Affäre übrigens in der Schwebe, angestachelt durch immer neue Intrigen der Schwester und mit dem Ergebnis der schließlich irreparablen Entfremdung Nietzsches von ihr und seiner Mutter. Wie beharrlich, ja geradezu fanatisch Nietzsches Schwester dabei agierte, zeigt der Umstand, dass sie Lous in ihrer Nietzsche-Biographie lediglich unter pejorativen Vokabel wie »Sandkorn« gedachte, das in »das feine Räderwerk seiner [ihres Bruders; d. Verf.] Seele und seines Geistes kam« – wohlwissend, dass das in diesem Kontext auch genutzte Bild vom »bösen Willen, der sonst seinem Leben fern geblieben war« (Förster-Nietzsche 1904: 402), zwar nicht auf Lous, wohl aber auf ihr 418 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Verhalten in der leidigen Affäre passte. Mehr als dies: Noch kurz vor Ihrem Tod, fünfzig Jahre nach dem Geschehen in Tautenburg, zitierte sie (ebd.: 110) aus einem von ihr gefälschten Brief ihres Bruders in der Absicht, dem Leser einzureden, Nietzsche habe seine Visite in Rom 1882 schon sehr rasch als Irrtum bereut, Lou als unschön erlebt und an ihr keinen eigenen Gedanken entdecken können. Dass das Gegenteil der Fall war, bezeugt fast jeder der tatsächlich von Nietzsche stammenden Briefe aus jenem Jahr – zumindest jene, die erhalten blieben und, etwa weil sie an Overbeck gerichtet waren und von diesem treu verwahrt wurden, dem Vernichtungswillen der Schwester entgingen. Eine echte Fanatikerin, die Schwester! Aber können Sie jetzt mal genauer sagen, wieso man um all das wissen muss, um Nietzsche zu verstehen? Gerne. Vor allem geht es dabei um Nietzsches Hauptwerk, die unmittelbar nach dieser Affäre erstellte Dichtung Also sprach Zarathustra (1883–1885). Evident ist, dass Zarathustra mit einzelnen Äußerungen zu Themen wie Liebe, Ehe und Sexualität auf diese Affäre Bezug nimmt, etwa mit seinem Ratschlag: »Und hüte dich auch vor den Anfällen deiner Liebe! Zu schnell streckt der Einsame Dem die Hand entgegen, der ihm begegnet.« (IV: 82)

Wichtiger als dies ist, dass Nietzsche seine Schwester unmittelbar nach Abschluss der Fahnenkorrektur von Za II dringend (und erfolglos) ermahnt hat, ihn in Zukunft »mit keinem Wort, w e d e r m ü n d l i c h n o c h s c h r i f t l i c h «, an diese Affäre zu erinnern, und dies in einem Brief, den er mit dem Hinweis einleitete: »[F]ast hinter jedem Wort [meines Zarathustra] steht ein persönliches Erlebniß.« (6: 439). Noch deutlicher ist die zeitgleiche Bemerkung Nietzsches aus einem Brief: »Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persönlich Erlebte und Erlittene darin, das nur mir verständlich ist – manche Seiten kamen mir fast b l u t r ü n s t i g vor.« (6: 443)

An welche Passagen (vor allem von Za II) dabei zu denken ist, hat Nietzsche allerdings nicht verraten. Es muss erschlossen werden – ein Auftrag an biografieorientierte Forschung, wobei hier nur knapp (vgl. allerdings Niemeyer 2007: 43) hingewiesen werden kann auf das 419 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Nachtlied, bei dem vor allem der Anfang zu bedenken ist, der andeutet, was Nietzsche später (VI: 340 f.) explizit macht: dass es im »Frühling« (1883) in Rom geschrieben worden sei (dort also, wo sich Nietzsche ein Jahr zuvor in Lou verliebt hatte) – eine Stilisierung, wie es scheinen will, die suggerieren soll, Nietzsche rufe nun, in Za II, dem 1882er Erlebnis nach: »Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. / Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.« (IV: 136)

Sprechend ist auch die Selbstauslegung des Autors, Thema sei die »Klage, durch die Überfülle von Licht und Macht, durch seine [Zarathustras] S o n n e n -Natur, verurtheilt zu sein, nicht zu lieben.« (VI: 345) Denn die Druckvorlage macht deutlich, dass die erste Intention des Autors offenbar dahin ging, zu enden mit: »[…] nicht geliebt zu werden.« (Kjaer 1995: 147) Dies erst erlaubt den Schluss, hier sei gar nicht von Zarathustra, sondern von Nietzsche die Rede und von seinem Versuch, das Ausbleiben von Lous Gegenliebe rational zu erklären. Unter dem Strich steht die Wichtigkeit der »Lou-Affäre« wohl außer Frage: einerseits wegen der an ihrem Exempel zu verdeutlichenden fatalen Rolle, die die Schwester in Nietzsches Leben spielte; andererseits, weil der im Vorhergehenden diskutierte Deutungshinweis Nietzsches im Blick auf ein von vielen (zeitgenössischen) Lesern als kaum verständlich abgelehntes Werk zumindest in Sachen Za II als relevant und weiterführend eingeordnet werden kann. Insoweit gibt es gute Gründe, Nietzsche, auch gegen den Mainstream der Forschung, auf die Couch zu legen. Nicht schlecht, diese Ableitung. Trotzdem: Schweifen Sie damit nicht zu sehr ab von Ihrem Thema? Sie haben Recht, mich vorm Abschweifen zu warnen. Zurück also zu jenem ›King-Kong‹-Gehabe Nietzsches, etwa auch im Nachlass aus der Zarathustra-Zeit. So schreibt Nietzsche beispielsweise im Frühjahr 1884: »Ich erlaube nur den Menschen, die wohlgerathen sind, über das Leben zu philosophiren. Aber es giebt mißrathene Menschen und Völker: denen muß man das Maul stopfen. Man muß ein Ende machen mit dem Christenthum

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– es ist die größte Lästerung auf Erde und Erdenleben, die es bisher gegeben hat – man muß mißrathenen Menschen und Völkern das Maul stopfen.« (XI: 112)

Denken Sie bitte zurück an unseren Amokläufer Robert Steinhäuser: Wie kommt Nietzsche eigentlich zu dieser Wortwahl? Und wie erklärt sich diese plötzliche Aggressivität? Die genau besehen ja keine Ausnahme bleibt, sondern sich im Werk fortsetzt, etwa drei Jahre später in Zur Genealogie der Moral, wo wir lesen: »[W]ozu gab mir die Natur den Fuss? … Zum Treten, beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen: zum Zusammentreten der morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchenthums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz!« (V: 407)

Eine Antwort könnte lauten: Nietzsche kopiert hier wie dort jene Härte gegenüber den Nächsten, für die er im Juli 1883, sprich: bei seinen Arbeiten für Za II, eine erste Probe gegeben hatte. Zu denken ist etwa an den Abschnitt Vom Gesindel, wo deutlich mit der Phantasie gespielt wird, den »Fuss dem Gesindel in den Rachen [zu] setzen und also seinen Schlund [zu] stopfen.« (IV: 124) Der durchgängig pejorative Gebrauch der Vokabel ›Gesindel‹ wird zwar im gewissen Sinne nachvollziehbar im Kontext von Nietzsches Kritik an den Deutschen etwa in Ecce homo (VI: 362 ff.), auch im Blick auf »Antisemiten und anderes in dem Grunde verlogenes Gesindel, das die großen Worte nöthig hat, vor sich selbst mehr noch als vor aller Welt.« (IX: 500) Auch ist daran zu erinnern, dass Nietzsche in einem späten Zusatz zu Ecce homo Mutter wie Schwester zur »canaille« gerät, zum »tiefsten Einwand gegen die ›ewige Wiederkunft‹.« (VI: 268) Und doch: Erklärt dies hinreichend jene Aggressivität Nietzsches, die, wie wir nun sehen, nicht erst im Nachlass des Jahres 1884, sondern auch schon im Sommer 1883 zu beobachten ist? Und: Tut es dies? Ich meine, ich bin jetzt wirklich ziemlich gespannt auf Ihre Antwort! Offenbar schon, wenn man ausschließlich an die Lou-Affäre vom Sommer 1882 und deren Niederschlag, etwa im Zarathustra, denkt; auch an die Spätfolgen in Gestalt jener eben erwähnten Nachträge zu Ecce homo. Nietzsches Schwester ist dieser Zusammenhang jedenfalls nicht entgangen, und auch nicht jener: Nicht umsonst – wohl, 421 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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weil sie ihn auf sich bezog – unterschlug sie den folgenden, in diesen Kontext gehörenden Textpassus vom Frühjahr 1884: »Wenn ein inferiorer Mensch s e i n e alberne Existenz, sein viehisch-dummes Glück als Z i e l fasst, so indignirt er den Betrachter; und wenn er gar andere Menschen zum Zwecke s e i n e s Wohlbefindens unterdrückt und aussaugt, so sollte man so eine giftige Fliege todtschlagen.« (XI: 101)

Erneut gilt, und dies könnte pro Nietzsche geltend gemacht werden: Was hier fortgeführt wird, ist eine Überlegung aus Zarathustra, diesmal aus dem Abschnitt Von den Fliegen des Marktes des ersten Teils: Vom Menschen als »Giftwurm« ist da, wiederum durchgehend pejorativ, die Rede, vom »Schmeichler«, vom »Winsler«, vom »Feigen«, vom »Kleinen« und dies mit dem Ergebnis des warnenden Hinweises, das sich hinter Lob nichts weiter verberge als »Zudringlichkeit« und Liebenswürdigkeit für nicht mehr Zeugnis gäbe als für die »Klugheit der Feigen.« Zarathustras Pointe: »Also hüte dich vor den Kleinen!« – denn, so könnte man zur Erläuterung nachtragen, »ihre enge Seele denkt: ›Schuld ist alles grosse Dasein.‹« (IV: 67) An wen bei dieser Ressentimentanalyse in erster Linie zu denken ist, verrät eine der letzten Bemerkungen: »Ja, mein Freund, das böse Gewissen bist du deinen Nächsten: denn sie sind deiner unwerth. Also hassen sie dich und möchten gerne an deinem Blute saugen.« (IV: 68)

Die ›Nächsten‹ Nietzsches waren seine Mutter wie Schwester – und wie er über diese dachte, haben wir bereits angesprochen, ebenso wie seinen Brief an Franz Overbeck vom 6. März 1883, in welchem er klagt, er sei »immer k r a n k geworden« (6: 339), wenn er mit seiner Mutter wie Schwester zusammen war. Fünf Jahre später, in einem für Ecce homo bestimmten Manuskriptblatt, das 1892 von Nietzsches Schwester und/oder Mutter verbrannt wurde und das nur erhalten blieb, weil sich Heinrich Köselitz eine Abschrift angefertigt hatte, wird dieses Klagelied erneut aufgegriffen: »Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein: hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit über den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann – …« (VI: 268)

Man sieht: Wieder bricht sich die nämliche Aggressivität Bahn wie schon Jahre zuvor in Zarathustra I und im Nachlass vom Frühjahr 1884 – und auch der Umgang der Schwester zumindest mit den noch 422 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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nicht im Druck erschienen Passagen gleicht sich: Sie unterschlägt diesen Ecce-homo-Passus selbst noch in der 1908 präsentierten Erstausgabe dieses Werkes, und sie unterschlägt die angeführte 1884er Nachlasspassage, nun, wie man hier erkennen kann, weil sie die Stellen persönlich nahm und allen Grund dafür hatte. So betrachtet bleibt der Fakt selbst und ist hier festzuhalten: Im Nachlass des Jahres 1884 ist ein Bruch zu konstatieren. Vieles, was den Leser hier so irritiert, erklärt sich offenbar biographisch und ist im Nachgang zur großen Liebesenttäuschung vom Sommer 1882 zu sehen. Anderes erklärt sich mit der damaliger Lektüre von Francis Galton. Die Folgen bleiben nicht aus: Gut dreißig Paragraphen von Förster-Nietzsches Machwerk – die §§ 57, 108, 132, 133, 364, 595, 619, 750, 860, 861, 862, 870, 872, 874, 916, 940, 942, 943, 955, 957, 958, 964, 980, 995, 999, 1001, 1053, 1056, 1060, 1067 – entstammen jenen 1884er Nachlasspassagen und entfalteten unter den von Nietzsches Schwester zu verantwortenden Überschriften, insonderheit unter dem Titel Viertes Buch. Zucht und Züchtung (ab § 854), eine zumal im Dritten Reich verheerende Wirkung. (vgl. Niemeyer 2013: 85 ff.) Wollen Sie damit sagen, die Nazifizierung Nietzsches nach 1933 sei durch Textmanipulationen der Schwester erleichtert worden? Ja! Und zwar gegen Kerstin Decker (2016), die unlängst die Geschichte der Schwester auf skandalös bagatellisierende Art nacherzählte und gleichwohl vom Feuilleton, auch von Christian Möller in der Sendung Sein und Streit vom 6. November 2016 auf Deutschlandradio Kultur, unkritisch gefeiert wurde. (vgl. Niemeyer 2018a) Dieser Doppel-Skandal wird erst recht auffällig im Spiegel der neuen, vornehmerweise von beiden Skandalen schweigenden Studie zu Nietzsches Schwester von Nils Fiebig (2018). Wichtig dabei: Elisabeth Förster-Nietzsche ist nicht die Alleinverantwortliche für Unsinn aller Art. Vielmehr hat Nietzsche seinerseits bei klarstem Verstand in den besten seiner noch von ihm selbst in Druck gegebenen Werke hin und wieder verantwortungslos dahergeredet. Ein Beispiel: In Jenseits von Gut und Böse spottet Nietzsche über den »parlamentarischen Blödsinn« (V: 139). Ich denke, wir alle werden in diesen Tagen nicht nur am Exempel Trump Zeugen des Blödsinns jenseits der Parlamente. Und wir erinnern uns der NS-Zeit, des ›Blödsinns‹ der auch im deut423 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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schen Volk immer wieder einmal und eben leider auch von Nietzsche – eben in JGB, wenige Seiten später – herbeigesehnten »cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Cultur«. (V: 136) Eine Sehnsucht, die bei Hitler, auch in der ›Alten Rechten‹, nachwirkt, etwa, wie eben gezeigt, bei Carl Schmitt. Und, wie können wir dann trennen zwischen Ihrem ›guten‹ Nietzsche und jenem ›bösen‹ Nietzsche der ›Alten‹ und ›Neuen‹ Rechten? Etwa mittels der Couch? Ja, so ungefähr. Wobei noch eine Frage der Klärung harrt: Gab es nicht jenseits der im Vorhergehenden ausreichend dargelegten Verbitterung über Mutter wie Schwester weitere Anlässe, die das Maßlose bei Nietzsche erklären können? Ich denke, ja! Eine Spur weist in diesem Zusammenhang der Brief Nietzsches an Franz Overbeck vom 20. Juli 1888 zum Misserfolg des Zarathustra. Nietzsche schreibt: »Dies Buch steht so abseits, ich möchte sagen j e n s e i t s aller Bücher, daß es eine vollkommene Qual ist, es geschaffen zu haben – es stellt seinen Schöpfer ebenso abseits, ebenso jenseits. Ich wehre mich gegen eine Art Schlinge, die mich erwürgen will – das ist die Vereinsamung – ich verstehe es andererseits aus aller Tiefe, warum mir Niemand ein Wort sagen kann, das mich noch e r r e i c h t … Die Moral ist: man kann daran zu Grunde gehen etwas Unsterbliches gemacht zu haben: man b ü ß t es hinterdrein in jedem Augenblick ab. Es verdirbt den Charakter, es verdirbt den Geschmack, es verdirbt die Gesundheit.« (8: 363)

Wortwahl und -folge im letzten Satz sind verräterisch, gemahnen sie doch an den acht Jahre älteren, diesem Kapitel als Motto vorangestellten Satz Nietzsches: »Der Fanatismus verdirbt den Charakter, den Geschmack und zuletzt auch die Gesundheit.« (IX: 47)

Damit liegt die Folgerung auf der Hand: Nietzsche klärt im Juli 1888 einen seiner letzten ihm noch verbliebenen Freunde – ob ihn dieser nur als Entwurf erhaltene Brief erreichte, ist eher unwahrscheinlich – in kaum verhüllter Form darüber auf, dass sein neuerlicher Fanatismus Folge der durch Missachtung des Zarathustra eingetretenen ›Verwundung‹ und ›Vereinsamung‹ ist. Ein Hilfeschrei ist damit verbunden, wie das Wort ›Buße‹ deutlich macht. Gleiches gilt für einen Brief vom 4. Februar 1888 in dem es heißt: 424 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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»Ich habe Accente des Zorns, des Hasses darin [in meinen Schriften; d. Verf.], die mir unfaßbar sind.« (8: 245)

Erneut also ist hier ein Entfremdungsgefühl Nietzsches zu konstatieren, deutlicher geredet: Nietzsche ist durchaus nicht glücklich mit der zumindest für ihn nicht in Abrede zu stellenden Wiederkehr des ihm aus seiner Zeit der Wagnerverehrung wohl vertrauten Fanatismus in anderer Gestalt, und man kann hier nun getrost ergänzen: in Gestalt des Publikationsprojekts unter dem Titel Der Wille zur Macht, das Nietzsche denn letztlich auch, in der Logik dieser beiden Briefe bzw. Briefentwürfe vom Februar bzw. Juli 1888 folgerichtig, ad acta legte; als, wie man noch ergänzen darf: charakterlos, geschmacklos und gesundheitsgefährdend. Wie – die Zeit ist weit fortgeschritten – lautet ihr Resümee? Mein Resümee könnte seinen Ausgang nehmen von dem folgenden Satz Nietzsches: »[I]ch selber als Ganzes komme mir so oft wie der Krikelkrakel vor, den eine unbekannte Macht über’s Papier zieht.« (6: 122)

So schrieb dereinst Nietzsche (in einem Brief an Heinrich Köselitz von Ende August 1881), erkennbar noch ganz erfüllt von seinem kurz zuvor entdeckten Grundsatz: »[D]u w i r s t g e t h a n ! in jedem Augenblicke!« (III: 115)

Nietzsche arbeitet hier Freud vor, konkret: dessen – in erster Linie auf Georg Groddeck und in zweiter auf Nietzsche verweisender – Einsicht, »daß wir nach seinem [Groddecks; d. Verf.] Ausdruck ›gelebt‹ werden von unbekannten, unbeherrschbaren Mächten.« (Freud 1923: 251) An Freud erinnert auch Nietzsches Überlegung, dass »das b e w u s s t werdende Denken« nur der »kleinste«, »oberflächlichste« und »schlechteste« Teil des Denkens sei, der Teil also, der in »Mittheilungszeichen« (III: 592) geschähe. In der Umkehrung gesprochen: Dass der insoweit wichtigere Teil des Denkens sich unbewusst vollzieht und sich im Nachgang möglicherweise nur unter Zuhilfenahme Dritter mit jenen ›Mitteilungszeichen‹ versehen lasse, die ihn kommunikabel machen. Daraus wiederum könnte man ableiten, Nietzsche hätte seine Leser autorisiert, ihn, wie in diesem Kapitel geschehen, auf die Couch zu legen, verbunden mit dem Auftrag, herauszubekommen, ob Nietzsche spricht oder etwas in ihm, weil ja, 425 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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wie Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse einräumt, »ein Gedanke kommt, wenn ›er‹ will, und nicht wenn ›ich‹ will.« (V: 31) Damit ist übrigens die Folgefrage unabweisbar: Wer steht uns dafür ein, dass Nietzsche nicht auch hin und wieder beim Schreiben ›getan‹ wurde? Sowie: Was folgt daraus für die Nietzscheinterpretation? Dass man den insoweit ›unbewussten Nietzsche‹ nicht weiter ernst nehmen muss bzw. nicht verantwortlich sprechen kann für dasjenige, was da geschrieben steht? Wo aber endet der ›bewusste‹ und wo beginnt der ›unbewusste‹ Nietzsche? Welche Werke oder Werkpassagen sind von jener von Nietzsche gegenüber Köselitz geltend gemachten »unbekannten Macht« betroffen? Und wie ist mit diesen Textsorten – Texte mit letztlich unbekanntem Urheber – zu verfahren? Dies sind in etwa die Fragen, auf die ich im Vorhergehenden exemplarisch eine Antwort versucht habe – gleichsam als Kostprobe aus meinem Buch Nietzsche auf der Couch: Psychologische Lektüren und Relektüren (2017). Ob man ein derartiges Buch dereinst auch über Donald Trump schreiben muss, scheint mir nicht ausgeschlossen – wohl aber: dass ich es verfassen werde. Dazu ist mir dieser Mensch einfach nicht wichtig genug, was auch für Björn Höcke (AfD) gilt, der im Februar 2017 in einem Spiegel-Interview auf die ihm vorgehaltenen skandalösen Äußerungen aus letzter Zeit fast entschuldigend meinte: »Eigentlich war ich immer ein introvertierter und auf Ausgleich bedachter Mensch. Zu diesem Menschen will ich wieder zurückfinden.« (Der Spiegel Nr. 8/2017: 21)

Mit Sätzen wie diesen bewirbt man sich in der Regel um einen Platz auf der Couch – muss dann aber leben mit dem Spott anderer, noch nicht so einsichtsfähiger, die auf derlei vermutlich reagieren mit Bashing à la Donald Trump, des Schutzgottes aller Fanatiker. Deswegen, lieber Herr Höcke: Tapfer bleiben – und immer an Nietzsche denken, den Schutzheiligen aller Ex-Fanatiker, der darum wusste, dass, wer den Fanatismus in sich bekämpfen will, sich »auf eine langwierige Kur gefasst machen [muss].« (IX: 47) Und immer daran denken, lieber Herr Höcke, und dies bitte nachrichtlich an Donald Trump: Nietzsche hat seine Kur zu früh abgebrochen – und wurde am Ende wirklich verrückt!

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Epilog

Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen! (Nietzsche, 1882) Willst Du fliegen, willst du in Höhen heimisch sein: wirf dein Schwerstes in das Meer! Hier ist das Meer, wirf dich ins Meer! Göttlich ist des Vergessens Kunst! (Nietzsche, 1888)

Am Ende soll man ja auf den Anfang schauen, jedenfalls bei einer Tragödie – und was war das Vorstehende denn schon anderes als der Bericht über eine Tragödie, auch eine, wie zuletzt deutlich wurde, des Menschen Nietzsche? Nicht vergessen dabei die Tragödie, die im zweiten Motto, insbesondere mit den Zeilen »Hier ist das Meer, wirf dich ins Meer! Göttlich ist des Vergessens Kunst!« (XIII: 557), aufgerufen wird. Dieses Motto verhält sich zum hier noch einmal wiederholten Motto des Prologs beinahe wie Alptraum zu Traum. Was also ist passiert zwischen 1882 und 1888? Was erklärt die 1888er Resignation? Denn anders als mit einer Vokabel wie dieser wird man sie ja wohl kaum belegen können – die Einsicht, wie gefahrvoll die Erkundungsfahrt auf einem Schiff à la Nietzsche ist, gesetzt, das je zu befahrende Meer sei unter der Oberfläche mit Hindernissen aller Art ausgestattet, stammend von Mitreisenden, die, um »in Höhen heimisch sein« zu können, das ihnen »Schwerste« einfach ins Meer geworfen haben. Sicherlich: Diese Bild klemmt ein wenig, und doch: Wenn man, wie Hubert Thüring (2018) vorschlug, diese Zeilen als Vorfassung liest zum sechsten Dionysos-Dithyrambus (1888), also jenem mit dem Titel Die Sonne sinkt, gewinnt das ganze Argument an Struktur. Dann nämlich will es scheinen, als habe Nietzsche kurz vor seinem 427 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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geistigen Zusammenbruch auf eine ihm eigene unüberschreitbare Grenze seines Entdeckerwillens hinweisen wollen, zugunsten des neuen Mottos, dessen etwas handfestere Variante er schon in Jenseits von Gut und Böse (1886) vorgetragen hatte: »Selig sind die Vergesslichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten ›fertig‹.« (V: 153)

Welche ›Dummheiten‹ eigentlich genau? Eine Antwort auf diese Frage könnte sich herleiten lassen aus den folgenden Zeilen (aus der 3. Strophe von Die Sonne sinkt): »Rings nur Welle und Spiel. Was je schwer war, sank in blaue Vergessenheit, müssig steht nun mein Kahn. Sturm und Fahrt – wie verlernt er das! Wunsch und Hoffen ertrank, glatt liegt Seele und Meer.« (VI: 396)

Entscheidend ist hier die vorletzte Zeile, insofern das in ihr dominierende Vokabular (»Wunsch und Hoffen ertrank«) vom zweiten der Dionysos-Dithyramben mit dem Titel Unter Töchtern der Wüste her bekannt ist, insonderheit von den Zeilen: »ohne Zukunft, ohne Erinnerung, so sitze ich hier« (VI: 385). Jene Zeilen können, wie andernorts (vgl. Niemeyer 2018e) gezeigt, so gelesen werden, als beklage Nietzsche hier mit einiger Hellsicht bezogen auf seinen sich wenig später ereignenden geistigen Zusammenbruch seine Krankheit zum Tode, die Syphilis, deutlicher: als beklage er, vergessen zu haben, dass der Liebende in Zeiten der Syphilis immer den Tod als unerwünschte Nebenfolge mitzubedenken hat, gemäß des ergreifenden, oben schon (vgl. Kap. VI/1) beigezogen Schlusswortes: »Ve r g i s s n i c h t , M e n s c h , d e n Wo l l u s t a u s g e l o h t : d u – b i s t d e r S t e i n , d i e W ü s t e , b i s t d e r To d … « (VI: 387)

Insoweit wiederum könnte die Forderung erlaubt sein, dass diese private Tragödie mitzubedenken hat, wer Nietzsche in Sachen Aufklärung und Selbstaufklärung als unzulänglich zu geißeln gewillt ist. Um zur Pointe zu kommen: Allein schon aus den bisher benannten wenigen Aspekten folgt, was in der Nietzscheforschung im Moment nicht jeder und jede (vgl. Niemeyer 2017b) gerne hört: Wer Nietzsche und sein Werk verstehen will, bedarf für bestimmte Fälle – diesen hier in Rede stehenden etwa – des biographischen Zugangs, 428 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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der Aufklärung verspricht über die Abgründe dieses Geistes. Davon bleibt aber der Auftrag unberührt, im weitgehend stillschweigenden Wissen um diesen Hintergrund Nietzsches Philosophie ihres eigentlichen, von allen biographisch herzuleitenden Maskenspielen befreiten Ertrags nach zur Geltung zu bringen. Um hierzu eine griffige Formel zu erproben: Wer mich jetzt, am Ende dieses Buches und nach einem Vierteljahrhundert des Nachdenkens über Nietzsche, fragte, wer oder was mit der Vokabel ›Nietzsche‹ bezeichnet werde, bekäme wohl zur Antwort, es handele sich hierbei um einen Pastorensohn und genialen Philosophen, der die cartesianische Aufklärung im Zeichen des »Ich denke« zu ersetzen suchte durch eine neue, nietzscheanische Aufklärung im Zeichen des »Es denkt«. Und da es Nietzsche dabei nicht nur, wie nach ihm Freud, um die aktuell vielbeschworene Software ging, in Übersetzung geredet: um neue Wege zur nachträglichen Durchleuchtung eines als problematisch erkannten Geschehens, sondern um die Hardware, also um die grundlegende Vermeidung aller nur denkbaren Probleme mit dem Ergebnis eines fürderhin »richtigen Lebens« (Adorno), also einer so etwas wie Auschwitz grundlegend unmöglich machenden Lebensführung, wandelte sich Nietzsche angesichts der Vermessenheit dieser Zielsetzung zunehmend nicht nur in einen Gottes-, sondern auch in einen Menschenfeind und verlor am Ende darüber – nicht deswegen, wohlgemerkt – den Verstand, und zwar ganz in der Logik von Nietzsches nur mit Erschütterung zu lesenden legendären ›Wahnsinnszettels‹ an seinen Basler Kollegen Jacob Burckhardt vom 6. Januar 1889 aus Turin: »Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt.« (8: 578 f.)

Zweck des vorliegenden Buches war es, unter Ausklammerung von Dokumenten dieser Art die zentrale Intention von Nietzsches Werk und die Wirkung desselben nachzuerzählen. Jener andere, in diesem Brief an Burckhardt sich offenbarende Abgrund des Geistes, der Nietzsche eigen war, inklusive der Frage, woher er rühren mag, macht ein weiteres, womöglich den Untertitel zum Haupttitel erklärendes Buch erforderlich. Über dieses sei hier nur so viel verraten: Es wird der im Verlauf dieses Buches mich gelegentlich umtreibenden selbstkritischen Frage 429 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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gewidmet sein, ob ich als Autor dieses Buches womöglich im Vorhergehenden, im Bemühen, als »Freund« Nietzsches in dem im Prolog erläuterten Sinne Nietzsche vor »grober Verkennung« (XII: 169) zu bewahren, insbesondere vor Nazi- und Neonazi-Missbrauch, hin und wieder des Guten etwas zu viel getan zu haben. Anders gefragt: Folgt aus dem eben nur ganz unzulänglich angerissenen Menschlich-Allzumenschlichen bei Nietzsche womöglich, dass und warum bis auf den heutigen Tag nur wenige Philosophen auf seinem Schiff anheuern wollten, darum ahnend, dass sie dabei allererst als Therapeuten Nietzsches in Betracht kommen, in zweiter Linie als Psychologen und erst ganz am Schluss als Philosophen? Zu dieser Frage motiviert mich die erstaunliche positive Resonanz, mit der Lutger Lütkehaus (2014) in der NZZ sowie Katharina Grätz (2016) im Jahrbuch Nietzscheforschung das von Andreas Urs Sommer in die renommierte Reihe Beiträge zu Friedrich Nietzsche (Schwabe Verlag Basel) aufgenommene Studie Friedrich Nietzsche, der erste tragische Philosoph. Eine Entdeckung (2014) von Reto Winteler reagierten – als seien sie dankbar, dass ihnen Winteler, dem auch Werner Stegmaiers Nietzsche-Studien immer wieder gerne ihre Pforten öffneten, dem Psychologen Nietzsche (und damit den Psychologen Nietzsches) vom Hals hielte und wieder den Philosophen Nietzsches ins Zentrum rückte. Diese Dankbarkeit in allen Ehren – nur: Für welchen Preis wird uns Nietzsche, der Philosoph, hier eigentlich offeriert? Winteler jedenfalls ist sich sicher: Die »akademische Philosophie« möge Nietzsche endlich als einen »Philosophen e i g e n e r A r t « (Winteler 2014: 9) ernst nehmen, eben als »tragischen Philosophen«, lesen wir da. Dumm nur, dass Winteler, der nebenbei und im Vertrauen auf Richard Schain (2001) geradezu Sturm läuft gegen die Diagnose Syphilis, zur Rechtfertigung dieser seiner Rubrizierung ausgerechnet eine Stelle aus Ecce homo beizieht, die ohne diese Diagnose kaum sinnvoll zu deuten ist, sondern allenfalls, nach Art Jochen Schmidts, als NS-analoges »Giftgebräu eines rassistischen Biologismus« (Schmidt 2016: 129) ad acta gelegt werden kann, wie exemplarisch die Zeilen verdeutlichen, die wir ausschnitthaft bereits in der kleinen Werkschau (vgl. Kap. IV) angesprochen haben: »Werfen wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall, dass mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung gelingt. Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die

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Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Z u v i e l v o n L e b e n auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muss. Ich verspreche ein t r a g i s c h e s Zeitalter: die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, o h n e d a r a n z u l e i d e n …« (VI: 313)

Wem bis hin zu dieser Stelle unklar war, warum Nietzsche EH mit dem Satz eröffnete: »In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich zu sagen, w e r i c h b i n « (VI: 257) – hier, mit dieser Stelle, dürfte es ihm klar sein, und er dürfte nun auch ahnen, wieso Nietzsche, wie Heinrich Detering durch subtile Textanalyse zeigen konnte, den Einleitungssatz als »triumphale Überbietungsgeste« anlegt, »die sich gegenüber der christlichen Tradition als übermütig blasphemische Verspottung inszeniert.« (Detering 2009: 91) Nicht zu vergessen: Warum sich Nietzsche im Umfeld der eben beigezogenen Passage als »Moral-Ungeheuer« und »Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat«, darlegt, gar als »Jünger des Philosophen Dionysos.« (VI: 257 f.) Denn so muss man wohl reden, wenn man sich wie Nietzsche spätestens mit jenem Abschnitt aus EH, den Nietzsches Schwester 1897 aus einem Zugleich von Naivität und Zustimmung voller Stolz erstmals vollumfänglich zugänglich machte (vgl. Förster-Nietzsche 1897: 105), als gottgleicher Entscheider über Tod und Leben erprobt. In Übersetzung geredet, einer zugegebenermaßen recht rasanten, andernorts (vgl. Niemeyer 2018d,e) näher erläuterten: Nietzsche redet hier ziemlich unverhohlen seiner Syphilis oder jedenfalls doch Syphilophobie wegen einem hundert Jahre währenden Programm vom Typ ›Erbgesundheitslehre‹ respektive ›Euthanasie light‹ das Wort, gleichsam im Nachgang zu Der Wahrsager aus Za II, Das andere Tanzlied aus Za III sowie Das Nachtwandler-Lied aus Za IV. Auf die beiden zuletzt genannten Textstücke machte unlängst auch Werner Stegmaier aufmerksam, selbstredend ohne Anspielung auf Nietzsches Syphilis und ›nur‹ unter Hinweis auf die »Aufgabe der Erdregierung, die Nietzsche schon in Menschliches, Allzumenschliches ins Auge gefasst hatte.« (Stegmaier 2016: 425) Dies ist, wie mir scheinen will, gut gesehen, wird auch in der Folge recht gut begründet, leider aber einem Tusch folgend, der irritiert und schon drei 431 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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Jahre zuvor (vgl. Stegmaier 2013a: 91) seine Uraufführung erlebte. »Das ist so befremdlich, dass man bisher nicht einmal versucht hat, es zu verstehen« (Stegmaier 2016: 425), lesen wir da 2016 beispielsweise, und dies verbunden mit dem Zusatz, er, Stegmaier, »kenne keinen ausgearbeiteten Versuch« zu diesem Thema, »die NietzscheForschung« habe sich mit der »philosophischen Auslegung« von Das andere Tanzlied aus Za III »durch Zarathustra im IV. Teil [nicht] befasst.« (Stegmaier 2016: 426) Als Beispiel für diese Kritik gilt ihm Reto Winteler (2014: 73 ff.), der nur »das erzählte Geschehen« (Stegmaier 2016: 426) referiere, sowie Claus Zittel, der das Ganze für eine »Parodie« (zit. n. Stegmaier 2016: 437) halte, dem Genre der »Phantastik« (Zittel 2015: 148) zurechenbar. Beide Kritikpunkte scheinen mir nachvollziehbar – wenngleich man mir nachsehen möge, dass ich Einwand erhebe bezüglich der auf ›die‹ Nietzscheforschung insgesamt zielenden Mängelrüge Stegmaiers, und zwar unter Verweis auf ein zugegebenermaßen etwas in die Jahre gekommenes Buch (Niemeyer 2007), von dem Stegmaier nun 2016 gänzlich schweigt, weil er es offenbar in der hier im Zentrum stehenden Frage für hinreichend erledigt hält durch seine ihm zugedachten zwei Halbsätze von 2013 (vgl. Stegmaier 2013a: 92), die allerdings beide pejorativ waren und erkennbar auf systematische Desorientierung. Details dieser Gegenkritik möchte ich dem Leser hier ersparen (vgl. allerdings Niemeyer 2019b), nicht aber den Befund in der Hauptsache: Anders als von Stegmaier insinuiert, bringt jener Zarathustra-Kommentar durchaus einen ausführlichen, nicht nur biographisch interessierten Kommentar zu Das andere Tanzlied. (vgl. Niemeyer 2007: 84 ff.) Und, wichtiger: Das Ganze war natürlich vorbereitend gemeint bezogen auf den nachfolgenden Kommentar zu Das Nachtwandler-Lied aus Za IV, der mit dem Hinweis aufwartet, dass hier die zentralen Zeilen »Oh Mensch! Gieb Acht!« (IV: 285) aus dem dritten Teil jenes Liedes aus Za III wieder aufgenommen und erläutert werden. Das Leitmotiv dabei: »Wer soll der Erde Herr sein?« (IV: 299), das seine düsterste Ausprägung erfährt in Gestalt der Zeilen: »Es quillt heimlich ein Geruch herauf, – / – ein Duft und Geruch der Ewigkeit […] / – von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke, welches singt: die Welt ist tief u n d t i e f e r a l s d e r Ta g g e d a c h t ! « (IV: 400)

»[B]eglaubigt«, so heißt es in jenem Buch von 2007 weiter, »wird hiermit ein durchaus beklemmender Denkansatz, der charakterisiert 432 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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ist durch ein Zugleich von nach-christlichem Wiederauferstehungsphantasma und Neuschöpfungsmythos in einer Ordnung der Dinge ohne Gott und mithin ohne das fünfte der Zehn Gebote, das ›Tötungsverbot‹ – und in der folgender Satz durchaus als Drohung verstanden werden kann: ›Die Reinsten sollen der Erde Herrn sein, die Unerkanntesten, Stärksten, die Mitternachts-Seelen, die heller und tiefer sind als jeder Tag.‹ (IV: 400)

Denn ›Tag‹ ist hier – als ›dummer, tölpischer, dumpfer Tag‹ – eine Metapher für ›Welt‹, besser wohl für Weltlichkeit und insoweit für das Bemühen, die Sinnentleertheit weltlichen Schaffens auszugleichen durch den Griff ›nach irgendeinem Gotte‹, auch: ›nach mir‹, eine Gefahr, der Zarathustra auszuweichen sucht mittels seiner Versicherung: ›doch bin ich kein Gott, keine Gottes-Hölle: t i e f i s t i h r We h .‹ (IV: 400) So endet der siebte Teil, ohne dass klar wäre, wofür dieses Siegel steht, geschweige denn: worauf sich die Vokabel ›ihr‹ bezieht: auf ›Gottes-Hölle‹ ? Oder auf ›Welt‹ ? Und selbst wenn Letzteres gemeint sein sollte, bleibt der Umstand, dass die Vorstellung, das ›Weh‹ der ›Welt‹ könne durch jene – sich als Gott-Ersatz darbietenden – ›Reinsten‹, die zukünftigen ›Herren der Erde‹, kompensiert werden, durchaus beklemmend. Das gilt zumindest für jene, die sich nicht den ›Mitternachts-Seelen‹ zurechnen dürfen.« (Niemeyer 2007: 123) So, noch einmal sei es herausgestellt, wortwörtlich in einem Buch, welches das von Stegmaier (2013a; 2016) entfaltete Argument der Substanz nach vorwegnahm. Dies sei hier nicht weiter vertieft, zumal angesichts der friedlichen Pointe, die sich gleichfalls aus Nietzsche, diesmal seine Klugheit in Sachen amor fati betreffend, herleiten lässt und die wie folgt lauten könnte: Auch Stegmaier verbucht offenbar den Durchbruch der Thematik einer zukünftig zu sichernden »Erdregierung« (Stegmaier 2016: 442) insbesondere in Za IV als auffällig und erklärungsbedürftig. Der Unterschied liegt ›lediglich‹ darin, dass ich, anders als Stegmaier, diese Themenakzentuierung im Biographischen meine verorten zu können, deutlicher: im Zusammenhang der von Reto Winteler als a-thematisch behaupteten Syphilisfrage. Es kann nun nicht mehr überraschen, dass Reto Winteler auch keinen rechten Zugang fand zu Das Nachtwandler-Lied aus Za IV und ihm des Weiteren die nicht zuletzt rezeptionsgeschichtlich brisante Dimension der eben beigezogenen, »Schauder erregenden« (Stegmaier 2018: 49) Passage aus Ecce homo, »die schonungslose Ver433 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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nichtung alles Entartenden und Parasitischen« betreffend, nicht auffiel. Winteler steht indes nicht allein da. Fraglich scheint mir auch die von Rüdiger Görner (2017: 79) gänzlich unbeanstandet referierte Selbstauslegung Nietzsches als ›tragischer Philosoph‹, erst recht aber Jutta Georgs Auslegung in Sachen EH, GT 3, hier werde transparent, »dass sich der Kreis von der ersten bis zu einer seiner [Nietzsches; d. Verf.] letzten Schriften schließt; seinen Glauben an die Kraft der Tragödie und an ihre Renaissance, ausgehend vom antiken Vorbild, hat er sich zeit seines Schaffens erhalten.« (Georg 2018: 90) Dem mag schon so sein, nur: Hat die Autorin eigentlich verstanden, von welcher Art Tragödie Nietzsche nun, 1888 redet, wenn er die ›schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen‹ preist? Fragen wie diese sind auch zu richten an Birgit Recki, insofern sie, ähnlich wie vor ihr Enrico Müller (2015: 15) sowie Annamaria Lossi (2015: 104), geradezu angestrengt herumliest um den Satzteil »Bejahung des Vergehens u n d Ve r n i c h t e n s « (VI: 313) aus EH, GT 4, den sie im Übrigen ohne Hervorhebung zitiert (vgl. Recki 2016: 272). Vermutlich – andere, bessere Erklärungen vorbehalten – möchte Recki eines strengeren Urteils über Nietzsche enthoben sein und der von Volker Gerhardt entlehnten These, Nietzsche »grundlegender Gedanke« laute: »Die Kultur, die Kunst hält uns am Leben« (ebd.: 267), keine Probleme bereiten, will sagen: Sie will sie nicht ersetzen müssen durch die Variante: »… die Gnade des Arztes erhält Erbkranke am Leben!« Analoges scheint mir für Nicola Nicodemo zu gelten. Dessen Versuch zum Thema beginnt exakt mit dem Satz nach jenem von Recki umschifften Abschnitt, nun aber nicht etwa mit der eigentlich anstehenden Frage, was dieser Satz (»Ein Psychologe würde noch hinzufügen, dass …«; VI: 313) eigentlich mit jenem vorangehenden, mit den Worten »… o h n e d a r a n z u l e i d e n …« endenden zu tun hat. Dass diese Frage nicht ganz unwichtig gewesen wäre, zeigt die hier gegebene knappe Antwort: »Nichts!« – was notwendig die Vermutung bestärkt hätte, Nietzsche werfe hier lediglich eine Nebelkerze zwecks Verdeckung eines tatsächlichen ungeheuren Satzes. Nicht so bei Nicodemo: Er nimmt Nietzsches nun folgende Anschlussüberlegung (»Ein Psychologe würde noch hinzufügen, dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts überhaupt mit Wagner zu thun hat«; VI: 313) zum offenbar hochwillkommen Anlass, den »Prozess der Selbstgestaltung« (Nicodemo 2016: 206) à la Nietzsche zu erläutern – erneut übrigens eine Denkfigur von Volker Gerhardt. Kaum überraschend insofern, dass Nico434 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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demos Pointe jener Reckis sehr nahe kommt: »Lediglich durch die Kunst kann der Mensch […] sich im Leben erhalten, die Kräfte steigern und ein gelingendes Leben führen.« (ebd.) Und kaum überraschend auch der mir hier naheliegende Anschlusskommentar: »… sofern er denn überhaupt am Leben bleibt!« Wieder etwas ernster gesprochen und um auf die Pointe dieses kleinen Lehrstücks in Sachen ›interessegeleitete Textexegese‹ zu kommen: Tatsächlich war wohl kein Passus derart desaströs für Nietzsches Image (vgl. etwa Russell 1934: 147; Ackermann 1989: 123) wie der eben angeführte, von Recki wie Nicodemo jeweils kunstvoll ignorierte Abschnitt aus EH, GT 3. In der Umkehrung geredet: Kaum ein Satz Nietzsches aus den von ihm zum Druck bestimmten Werken lässt selbst seine größten Fans so sprachlos zurück wie dieser. Und hier hilft es wenig, derartige Passagen zu verschweigen oder sich, wie bei Rüdiger Safranski beobachtbar, damit zu trösten, dass Nietzsche, »solange er noch geistig wach war, immer noch seine Vision des ironisierenden Spiels bei der Hand [hatte]« (Safranski 1997: 44), erläuternd anfügend, mit einem wenige Seiten später platzierten Wort aus EH: »Ich will kein Heiliger sein, lieber ein Hanswurst.« (VI: 365) Wenig Trost bietet auch Andreas Urs Sommers Heidelberger EHKommentar von 2013, insofern zumal der auf den Satzteil »schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen« (VI: 313) bezügliche Nachsatz, es dürfte nicht einfach sein, derlei »Verlautbarungen als bloß metaphorische Herzensergießungen eines Geisteskriegers ruhigzustellen, wie dies in der N.-Forschungsliteratur gelegentlich geschieht« (Sommer 2013: 490), für nichts weiter steht als für die Beschreibung des Problems (das nach wie vor einer Lösung harrt). Analoges gilt für Maria Cristina Fornaris Argument, »um mit der Idee aufzuräumen, der von Nietzsche erhoffte ›neue Mensch‹ sei das Ergebnis einer Art Eugenik« (Fornari 2014: 326), reiche die Erinnerung an Nietzsches Verwahrung in EH gegen »gelehrtes Hornvieh«, das ihn des Wortes ›Übermensch‹ wegen »des Darwinismus verdächtigt« habe. (VI: 300) Nein, dieses eine Wort reicht leider nicht aus, und dies zumal nicht im Blick auf die ohne jeden Zweifel Euthanasie-nahe Themenexposition in EH, GT 1–4. Was ersatzweise Not tut, ist Textexegese, allerdings eine dem Text im Ganzen (und nicht nur je erwünschten Zitatbrocken) zugewandte, nicht von eigenen Erkenntnisinteressen diktierte, wie sie in der Nietzscheforschung immer wieder – zuletzt von Mike Rottmann

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(2017: 209) – eingeklagt wird, offenbar vergeblich, wie das Vorhergehende zeigen sollte. Das Erste, was man dabei pro GT – immerhin geht es ja, wenn wir über dieses Teilstück von EH reden, um Erläuterungen Nietzsches zu diesem seinem Erstling – geltend machen kann, ist, dass diesem Werk alles vorzuwerfen ist, aber nicht, Nietzsche habe hier bereits, und sei es so verhüllt wie nur möglich, einer ›Höherzüchtung der Menschheit‹ inklusive der ›Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen‹ das Wort geredet. Dies vielmehr ist O-Ton Nietzsche 1888, angetrieben vermutlich von seiner Selbstauslegung als Antichrist in jener Zeit und mithin im gleichnamigen Werk. Und tatsächlich: Nur ein Kapitel zuvor, überschrieben mit dem so harmlos klingenden Titel Warum ich so gute Bücher schreibe, bringt Nietzsche unter dem kaum weniger um demonstrative Harmlosigkeit bemühten Rubrum »ein Satz aus meinem Moral-Codex gegen das L a s t e r « (VI: 307) den vierten Satz seines am 30. September 1888, dem »ersten Tage des Jahres Eins« gegebenen Gesetz wider das Christenthum aus AC zur Kenntnis: »Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.« (VI: 254)

Damit wird klar: Mit dieser Anrufung dessen, was Nietzsche wenige Seiten später »mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung« nennen wird, entfällt die Chance, Nietzsche als Bruder im Kampf gegen die zu jener Zeit allfällig registrierte Dekadenz und Entartung – Syphilis ist hier nur ein besonders drastisches Zeichen – gewinnen zu wollen, indem man zusammen mit ihm Sex zu einer ›unreinen‹ Sache erklärt oder, wie Henrik Ibsen, diese, so Nietzsches Spott, »typische alte Jungfrau«, als Ziel hat, »das gute Gewissen, die Natur in der Geschlechtsliebe zu v e r g i f t e n .« (VI: 307) So, mit dieser Tollkühnheit dessen, der genau weiß, welchem Hintersinn die Vokabel ›Gift‹ in diesem Zusammenhang zukommt, redet hier Nietzsche, der zusätzlich noch den Mut findet für den frivolen Witz: »Darf ich anbei die Vermuthung wagen, dass ich die Weiblein k e n n e ? Das gehört zu meiner dionysischen Mitgift.« (VI: 305)

Nein, dieser Nietzsche, womöglich weniger der ›Tatsache‹ zufolge denn speziell dieser ›Interpretation‹, war auch kein Fall für die ersatz436 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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weise in Betracht zu ziehende Syphilis-Prophylaxe, die Keuschheit. Darüber geben schon Auskunft die zeitgleich (im Oktober 1888) erstellten Aufzeichnungen für GD – wie schon angesprochen: von Nietzsche zurückgezogen, gleichwohl von seiner Schwester eingefügt in WM (§ 734) –, namentlich: »Es gibt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu thun?«

Nietzsche nämlich bricht Erwägungen in Richtung Keuschheitserziehung (»etwa mit Hülfe von Parsifal-Musik«) oder chemische Kastration (»in die Apotheke schicken«) ab mit einem brüsken: »Die Gesellschaft s o l l in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen; sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maaßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen in Bereitschaft halten.« (XIII: 599)

Jene ›Partei des Lebens‹, von dem Nietzsche in EH, GT 4 redet, wird von hier aus etwas genauer bestimmbar: Es ist eine Partei sexualbejahender, lebens- wie liebesfroher antichristlicher Freigeister, denen tatsächlich – Kondome außer Betracht gelassen und Penicillin als kausal ansetzendes Therapeutikum noch nicht auf dem Schirm –, Nietzsches Kalkül zufolge (bis) 1988 nur ein Mittel in Sachen der Bekämpfung der Syphilis als Erbkrankheit bleibe: eben jene im Nachlass vom Oktober 1888 genannten »härtesten Zwangs-Maaßregeln, FreiheitsEntziehungen, unter Umständen Castrationen«. Hans-Erich Lampl las Aufzeichnungen wie diese parallel zu Nietzsches damaliger Lieblingslektüre, Charles Férés Dégénérescence et criminalité (1888), und er fügte noch hinzu, »daß die Interpretation der ›gesetzgeberischen‹ Aussage von einer autobiographischen Brechung auszugehen hat.« (Lampl 1986: 102) Dem korrespondierend wird hier angenommen, dass Nietzsche beim Schreiben seiner Erläuterungen zu GT in EH im Zuge des Nachdenkens über sein Leben von der Sorge übermannt wurde in Sachen seines vom Vater her sich erklärenden defekten Erbstrangs. Diese Sorge hat sich in die Vision eines zukünftig besseren Lebens entladen, welche die von Wagner entlehnte ›Hoffnung auf eine dionysische Zukunft der Musik‹ weiterführte und in ein prächtiges Gewand verpackte, ›tragische‹ respektive ›dionysische‹ Philosophie geheißen. Dieses Gewand freilich muss als solches, also in seiner Funktion als Drapierung eines in der Tat ungeheuren Gedankens, erkannt werden, 437 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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wenn man nicht, wie nicht selten beobachtbar, dem Irrglauben anhängen will, Nietzsche habe GT in EH mit neuer Wertigkeit ausgestattet, ebenso wie die Dionysos-Figur. Von beidem nämlich ist, genau betrachtet, in den Abschnitten GT 1–4 aus EH gar nicht die Rede. Ersatzweise verkündet Nietzsche hier den letztgültigen Stand seiner angeblich ›tragischen‹ Philosophie, und zwar nicht ganz frei von pathologischen Zügen und, dies vor allem, umgetrieben von der düsteren Ahnung, seinerseits den vererbungstechnisch Entarteten und also zu Vernichtenden zurechenbar zu sein. Dass man diese Sorge ernst zu nehmen hat, ernster jedenfalls als die aus dieser Notlage resultierenden und hin und wieder in der Nietzscheforschung ins Zentrum gerückten Attribute für Nietzsches angeblich ›tragische‹ respektive ›dionysische‹ Philosophie, steht für mich außer Frage. Hinzuzufügen ist noch, dass dieses Argument im Blick auf den Euthanasieaspekt von Nietzsches im Vorgehenden besichtigter Position in EH und anderswo allein explanatorischen, nicht aber exkulpatorischen Charakter hat. Und: Nur eine Textexegese nach Art der im Vorhergehenden angestellten verhindert ein sprachloses Zurückweichen vor Nietzsches Ungeheuerlichkeiten (à la Safranski), ebenso wie das letztlich begriffsfreie Anhäufen von aufs Ganze gehenden Attributen bezogen auf Nietzsche, den angeblich ›tragischen Philosophen‹, wie beispielsweise – um auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen – bei Reto Winteler beobachtbar. Die hier verfochtene Lesart bringt gegen Winteler vor, dass Nietzsche, als ›tragischer Philosoph‹ ernstgenommen und der modernen Philosophie gleichsam als Gesprächspartner auf Augenhöhe anempfohlen, für kaum mehr steht als für ein trojanisches Pferd, das dazu noch lahmt und Symptome der Syphilis offenbart, die Winteler gerade deswegen als nicht vorhanden ad acta legt. Kurz: Wintelers nicht durch spezifische Argumente untersetzter Verkaufstrick in Sachen Nietzsche als des ersten tragischen Philosophen, der es als seine Aufgabe verstanden habe, »den modernen Menschen vor eine Entscheidung zu stellen, ihm einen Ausweg aus dem Nihilismus zu zeigen und selbst als Beispiel voranzugehen« (Winteler 2014: 10 f.), ist bestenfalls ungenau und erfüllt im schlimmeren Fall, um im Sprachspiel zu bleiben, den Tatbestand der Rosstäuscherei im Blick auf ein Beispiel, das durch Verschweigen seiner dunklen Seite gezielt konstruiert wird. Damit sind wir übrigens unvermutet wieder beim Anfang angenommen, auch bei den Anfängen des bedeutenden Nietzscheforschers Volker Gerhardt. Denn dieser focht zwar in den späten 438 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

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1970er Jahren mutig für den obskuren Versuch seines (psychologischen) Lehrers Suitbert Ertel, das auf Milton Rokeach zurückgehende Dogmatismus-Konstrukt auf Stilmerkmale von Texten anzuwenden – ein Projekt vom, wie man vielleicht sagen darf, Typ ›empirisch gesicherte Linksideologie-Bekämpfung‹, das zumal im Lager der damals aufkommenden Kritischen Psychologie um Klaus Holzkamp für Aufruhr sorgte. (vgl. Keiler / Stadler 1978) Irritierend war indes der auf »einer persönlichen Mitteilung Ertels« beruhende Bericht Gerhardts über eine (noch nicht veröffentlichte) Längsschnittstudie Ertels zu Nietzsche (sowie Hölderlin, van Gogh und Strindberg), derzufolge »[b]is zum jeweiligen Ausbruch der ›akuten Psychose‹ […] ein starker Anstieg des D+-Wertes 34 zu verzeichnen« (Gerhardt 1978: 61) sei. Denn dieser Befund ist, was Nietzsche angeht, nicht überraschend, scheint vielmehr, mit Seitenblick auf die Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht sowie Ecce homo und Nachlasspassagen und Briefe jener Zeit geredet (vgl. Niemeyer 2017: 286 ff.), nicht nur durch Zählen, sondern, viel einfacher, durch Lesen und Zusammenhangsanalyse evident (eine Überlegung, die zugleich die oben verwendete Vokabel ›obskur‹ zu erläutern vermag, die man übrigens gerne auf beides beziehen mag: auf Ertel, aber auch auf seinen damaligen Verteidiger). Spannender als dies, und damit kommen wir auf den uns hier interessierenden springenden Punkt: Gleich zu Beginn seines Artikels wählt Gerhardt zwecks Erläuterung der Notwendigkeit von Ertels anti-dogmatischer Intervention, »den Überzeugungen durch Wissen den jeweiligen Nährboden [zu] entziehen«, ausgerechnet die Syphilis, deutlicher: Gerhardt erwähnt, als Gegenspieler der (diesbezüglichen) Aufklärung und bemerkenswert sachkundig bezüglich des Ursprungs dieser Geschlechtskrankheit, den Teufel als potentiellen Gegenspieler, dem es an Geschick nicht mangeln werde, schließlich sei er »seit fast fünfhundert Jahren mit jenem französischen Infekt vertraut, der ihm eine vergleichbare, wenn auch erlesenere Klientel zuführte.« Dem folgt nahtlos: »Der Fortschritt ist allerdings, daß man die Syphilis nur hinter vorgehaltener Hand ansprechen konnte, von der Überzeugung aber darf man offen reden.« (Gerhardt 1978: 52) Gemeint ist hier durch Auszählung gemessene hohe Ladung mit – von Ertel – des Dogmatismus verdächtigten Vokabeln wie »muss« oder »kann nur« in untersuchten Texten.

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Meine Variante hierzu, unter Absehung vom Teufel bzw. diesen nur in Menschengestalt zulassend: Schaffen wir doch in Zukunft als Nietzscheforscher der Überzeugung Platz, endlich auch über die Syphilis Nietzsches offen zu reden – zumal sie es ja offenbar ist, die den von Ertel gemessenen Dogmatismus, besser vielleicht: den Fanatismus des späten Nietzsche befriedigend erklärt. Dies indes – ich habe es bereits oben gesagt – erfordert ein eigenes Buch. Mit dem vorliegenden indes ist jetzt Schluss.

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Danksagung

Für Geduld, Fürsorge und Liebe danke ich meiner Familie, auch dem vierbeinigen Anhang derselben. Für kritische Hinweise zu diversen und immer wieder anderen Erstfassungen dieses Buches danke ich Petra Franke, Anja Puderbach und Marie Bergmann, für kollegiale Rückmeldungen Berno Hoffmann, Micha Brumlik, Sigmar Stopinski, Alex Assmann, Paul Stephan und Benjamin Kaiser sowie, zeitlich zuletzt, Clemens Heni, Roland Kaschube und Fabien Jégoudez. Für das sorgsame Lektorat geht mein Dank an Steffen Bonhoff vom Verlag Karl Alber. Vor allem aber bin ich dem Verleger Lukas Trabert zu Dank verpflichtet. Ohne seine beharrliche, ebenso kluge wie fürsorgliche Kritik hätte dieses Buch in dieser Form nicht realisiert werden können.

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Register

Acampora, Christa Davis 226 Achelis, Thomas 80 Ackermann, Josef 355, 435 Adler, Alfred 412 Adorno, Theodor W. 32, 233, 238, 362, 366–368, 429 Albert, Johannes 319, 332 Algermissen, Konrad 244, 356 Andreas-Salomé, Lou 50, 86, 160 f., 172, 207, 241, 243, 294, 415–421 Arp, Wilhelm 349 Aschheim, Steven 288, 310, 312, 327, 340, 351 Assel, Hans-Günther 206 Augstein, Rudolf 16, 285, 362 f., 392, 409 Aurenque, Diana 385 Avenarius, Ferdinand 274 f. Ayck, Thomas 202 Baeumler, Alfred 16, 279 f., 284, 314, 327, 334, 337 f., 345, 347, 356 f., 389, 395 Bäumler, Ernst 412 Balke, Friedrich 208 Bannenberg, Britta 408 Bannon, Stephen 386, 408 Bap, Julius 309 Barbera, Sandro 242 Bartels, Adolf 242, 258, 260, 262, 277–282, 335–337 Barthel, Ernst 356 Bataille, Georges 241, 244 Baudelaire, Charles 105 Baumeister, Adolf 296 Bäumer, Gertrud 294

Beck, Friedrich Albert 341 Becker, Oskar 351 Becker, W. C. 300 Beethoven, Ludwig van 195 Behler, Ernst 81, 110, Behn, Siegfried 306, 348 Benjamin, Walter 293 Benn, Gottfried 342 Benner, Dietrich 239 Benoist, Alain de 388 Bense, Max 346 Berbig, Roland 338 Bernfeld, Siegfried 294 Berger, Otto 324 Bernoulli, Carl Albrecht 267 f., 273 f., 300 Berg, Leo 295 Bertram, Ernst 205, 340 Blau, Paul 300 Bloch, Ernst 366–368 Blüher, Hans 297 Borchmeyer, Dieter 240, 257, 373 Borgia, Cesare 207 Born, Marcus Andreas 52 Bönisch, Michael 252 Brahn, Max 204 f., 316 Brand, Guido K. 323 Brandes, Georg 21, 47, 272, 274, 276, 281 Brandt, Reinhard 68, 174 Bräutigam, Bernd 93 Braun, Heinrich 302 Braun, Lily 302 Braun, Otto 301 f. Brecht, Bertolt 363 f. Brennecke, Detlef 206

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Register Breuer, Stefan 259 f., 328, 351, 385 Brezinka, Wolfgang 129 f. Brinton, Crane 240 Brock, Eike 116 Brömsel, Sven 268, 346 Brumlik, Micha 40 Brusotti, Marco 35 Buber, Martin 13, 291 Bühler, Patrick 133 Burckhardt, Jacob 210, 429 Butterwegge, Christoph 374 f. Campioni, Giuliano 346 Camus, Albert 13, 249–252, 286 Cancik, Hubert 257, 293 Carlyle, Thomas 204 Carrière, Ludwig 170 Catel, Werner 348 Chamberlain, Houston Stewart 257, 268, 343 f., 346 Cohn-Bendit, Daniel 387 Colli, Giorgio 88 Conrad, Michael Georg 291 f., Dahlkvist, Tobias 105–107 Danto, Arthur 91, 362 Darwin, Charles 56, 75 Decker, Gunnar 342 Decker, Kerstin 235, 237 f., 240, 247, 250, 252, 295, 340, 352, 423 Delf, Hanna 292 Dellinger, Jakob 53, 78 Derrida, Jacques 146 Descartes, René 34, 175, 179 Detering, Heinrich 217, 224, 431 Deussen, Paul 69, 191 f., 237, 411 Diederichs, Eugen 267 f. Dienelt, Karl 130 Diethe, Carol 242, 294, 302, 354 Dietzsch, Steffen 203, 283 Dilthey, Wilhelm 70, 290 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 167–169, 234 Drewermann, Eugen 58 Drews, Arthur 268 f., 281, 333 Duboc, Julius 80 Dühring, Eugen 89, 103, 283,

Düringer, Adelbert 299 f., 341 Dugin, Alexander 405 Dutschke, Rudi 366 Eckart, Dietrich 252, 343 Eisner, Kurt 289, 292, 295 Elias, Norbert 229 Ellenberger, Henri F. 81 Emerson, Ralph Waldo 171 Emge, Carl August 337, 357 f. Endres, Hans 75, 341, 349 Ernst, Otto 309, 318 Ertel, Suitbert 439 Eulenberg, H. 358 Eulenburg, Albert 307 Fallada, Hans 308 Falkenberg, Hans-Joachim 341 Fambrini, Alessandro 276 Federn, Paul 170 Fendler, Lynn 200 Féré, Charles 240, 412, 437 Ferrari Zumbini, Massimo 196, 346 Ferraris, Maurizio 238 Feyerabend, Paul 71 Fichte, Gottlieb 309, 332 Fiebig, Nils 26, 241, 262, 268, 300, 311, 423 Figl, Johann 257 Fink, Eugen 214, 359 Fischer, Aloys 323 Fischer, Ernst 307 Fischer, Jens Malte 257 Fischer, Wilhelm 25 Flake, Otto 356 Flaubert, Gustave 105 Fleischer, Margot 81, 89, 111 Flex, Walter 318 Förster, Bernhard 237, 242, 246, 252– 254, 262–264, 273, 346 Foerster, Friedrich Wilhelm 322 Förster, Paul 205, 262 Förster-Nietzsche, Elisabeth 14 f., 17, 23, 26, 31, 66, 138–140, 204 f., 207, 209, 213 f., 236–249, 251–289, 299 f., 305, 309, 312–315, 321 f., 325, 327, 329, 331, 338–340, 356–

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Register 349, 352, 391, 400, 410, 414, 417– 423, 431, 437 Fornari, Maria Cristina 435 Foucault, Michel 111, 125, 147 Frank, Hans 16, 205 Freud, Sigmund 21, 45, 53, 124, 127, 170, 336, 358, 404, 406, 412, 425 Freyer, Hans 370 Friedländer, Saul 257 Frischmann, Barbara 87 Fritsch, Theodor 17, 85, 238, 247, 248–286, 289, 307, 309, 316, 331, 339, 384, 386 Fuchs, Carl 390 Fuchs, Dieter 415 Gadamer, Hans Georg 215 Galton, Francis 210, 423 Gamm, Hans-Jochen 313 Gansberg, Fritz 293 Georg, Jutta 106, 203, 434 Gerhardt, Volker 68 f., 101, 114, 116, 120, 125, 135 f., 148, 234–236, 434 f., 439 f. Gersdorff, Carl von 15, 193, 198, 280 f. Gessenharter, Wolfgang 388 Giese, Fritz 344 Gillespie, Michael 200, 205 Gilman, Sander 209 Glenn, Paul 205 f. Gobineau, Arthur de 261 f., 347 f. Goch, Klaus 170, 345 Goebbels, Joseph 72, 282, 343, 345, 355 Goebel, Hans 346 Gödde, Günter 116 f., 185 Goedert, Georges 120 Goethe, Johann Wolfgang von 297, 318, 333, 337, 349 Goldmann, Stefan 44 Golomb, Jacob 301, 335 Görner, Rüdiger 434 Grätz, Katharina 83 f., 86, 89 f., 279, 430 Gramzow, Otto 306 Grimm, Hans 387

Groddeck, Georg 425 Groddeck, Wolfram 51, 200 Grupp, G. 289 Günther, Friederike Felicitas 219 Gurlitt, Ludwig 296 f., 308, 324 Gurski, Viktor 349 Haase, Marie-Luise 210 Habermas, Jürgen 16, 114, 172, 185 f., 362 f., 365–367, 409 Hamann, Brigitte 257, 344, 346 Hammer, Walter 252, 293, 315 Harich, Wolfgang 234, 259, 355 Hart, Julius 229 Hartmann, Eduard von 103 Härtle, Heinrich 327–332, 336, 339– 342, 344 f., 346 f., 350, 360 Hauff, Walter von 205, 340 Havenstein, Martin 296, 317, 325 f. Heftrich, Eckhard 411 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 33, 70 Heidegger, Martin 101 f., 107–111, 143 f., 146, 148, 154, 213 Hein 247, 257, 275 Heine Heinrich 104 Heinze, Max 304 f., Heit, Helmut 104 Heller, Peter 41 Heller, Lisa 104 Helmer, Karl 140 Heni, Clemens 384 Hentschel, Willibald 258 f., 262 Herbart, Johann Friedrich 134 f., Hermand, Jost 257, 343, 348 Hesse, Hermann 293 f., 303 f. Hessen, Johannes 358 f. Higgins, Kathleen Marie 381 Hillebrand, Bruno 167 Himmler, Heinrich 259 Hirschberger, Johannes 347 Hitler, Adolf 13, 78, 83, 200, 243, 252, 255, 282, 285, 326, 336–338, 340, 342–346, 358, 360 f., 387 f., 413, 424 Hobbes, Thomas 370–373, 375 f., 388 Höcke, Bernd 394, 426 Hofbauer, Jürgen 72, 100

479 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Register Hofer, Walter 359 Hoffmann, David M. 244, 267, 278, 409 Hoffmann, Gerhard 282 Hoffmann, Heinrich 335 Holub, Robert C. 251 f., 265 Holz, Hans-Heinz 363 Honneth, Axel 363 Horneffer, August 295 f. Hösel, Adolf 343 Hösle, Vittorio 285 f. Hoyer, Timo 256 Hudek, Franz-Peter 196 Ibsen, Henrik 294, 412, 436 Ilgenstein, H. 308 Itschner, Hermann 312, 316 Janz, Curt Paul 194 Jaspers, Karl 82 Jesinghaus, Walter 300, 303 Jodl, Ferdinand 290 Johannes, Martin Otto 282 Johst, Hans 388 Jongen, Marc 392 f. Jonkoff, Thodor 306 Jünger, Ernst 204, 209 Jünger, Friedrich Georg 358 Kaatz, Hugo 305 Kaiser, Benjamin 219 Kalthoff, Albert 297 f., Kant, Immanuel 21, 35 f., 48, 51, 101, 122 f., 152, 165 f., 176, 180, 294, 413 Kappstein, Theodor 331 Kaßler, Kurt 341, 349 Kast, Christina 28, 31, 67, 390, 398 Kaufmann, Sebastian 108 Kaufmann, Walter 206 f., 229, 244, 246, 327, 351 Kellershohn, Helmut 387 Kesselring, Martin 356 Kessler 341 Kessler, Harry Graf 242, 260, 293 Key, Ellen 133, 324, 348, 385 Kiefl, Franz Xaver 205, 300 f. Kim, Jyung-Hyun 79

Kindt, Karl 332, 347 Kindt, Werner 237 Kircher, Werner 205 Kirchhoff, Jochen 344 Kitcher, Philip 197 Kjaer, Jorgen 170, 420 Klages, Ludwig 79, 87 Klee, Ernst 337, 348 Klemperer, Victor 403 Klönne, Arno 392 Klossowski, Pierre 147 Knoll, Manuel 251 Knust, Hermann 325 Koch, Konrad 324 Köhler, Joachim 84, 193, 195, 255 Kofman, Sarah 73 f. Koopmann, Helmut 411 Korfkamp, Jens 392 Kostka, Alexander 242, 262 Köselitz, Heinrich 210, 267, 422, 426 Köster, Peter 297 Kötzschke, Richard 319 Krieck, Ernst 334 Krische, Paul 349 Krummel, Richard Frank 23, 210, 288 Kubitschek, Götz 392 Kubizek, August F. 57 Kühn, Leonore 319 Kuhn, Elisabeth 83, 85 Künneth, Walter 355 Kuenzli, Rudolf E. 327 Lagarde, Paul de 254, 272, 275, 277, 333, 345 Lampl, Hans-Erich 240, 437 Landauer, Gustav 291 f. Landmann, Michael 35 Landsberg, Hans 295 Lange, Friedrich 277, 294 Langbehn, Julius 260, 276 Langreder, H. 345 Laqueur, Walter Z. 252 Lautenbach, Otto 333 Leggewie, Claus 404 Lehmann, Günther 167 Lehmann, Rudolf 306 Leisegang, Hans 337

480 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Register Lemm, Vanessa 209 Lenz, Fritz 385 Levy, Oscar 240, 326 f. Lichtenberger, Henri 243, 325 Lichtmesz, Martin 386 Liebmann, K. 341 f., 378 Lienhard, Friedrich 260 Liessmann, Konrad Paul 130 Lietz, Hermann 324 Lilienbach, Karl Lill von 348 Linde, Ernst 317 Lindemann, H. 317, 322 Linse, Ulrich 259 Linsmayer, Gottfried 245, 335 Lisson, Frank 389 f. Litt, Theodor 320 f. Loeb, Paul S. 217, 222 Löcht, Joana van de 209 Löpelmann, Martin 244 Löwith, Karl 88 f., 155, 235 Loewy, Ernst 387 London, Jack 202 Longerich, Peter 345 Lossi, Annemaria 434 Losurdo, Domenico 206, 252, 358 Ludwig II., König von Bayern 176, 188–190, 400 Lukács, Georg 205, 209, 259, 285, 313, 330, 354, 360 f., Luther, Martin 63 f. Lütkehaus, Ludger 70, 430 Lyon, Otto 205 Lypp, Bernhard 82 Maaz, Hans-Joachim 393, 404 Machiavelli, Niccoló di Bernardó dei 328 Macintyre, Ben 246 Malorny, Heinz 355 Mann, Heinrich 293 f. Mann, Thomas 359, 410 f. Margreiter, Reinhard 82 Markwardt, Nils 406 Marti, Urs 206 Martin, Alfred von 207, 355 f., 359 Martin, Nicholas 342 Marx, Karl 334, 353

Maser, Werner 255 Matthias, Adolf 303 Matussek, Matthias 386 f. Maupassant, Guy de 105 Maurer, Reinhart 216 May, Simon 222 Mayrhofer, Johannes 301 Mchledlidze, Gocha 364 f., 369 Mehring, Franz 81 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 256 Merseburger, Peter 260 Merkel, Angela 410 Messer, August 315 f. Meuthen, Erich 144 Meyer, Richard M. 300, 305, 311, 335 f. Meyerbeer, Giacomo 195, 256 Meysenbug, Malwida von 287 Miller, Charles Anthony 167 Mittmann, Thomas 242, 247, 334, 385 Möbius, Paul Julius 300, 341 Möller, Christian 423 Moeller van den Bruck, Arthur 315 f., 340, 392 Montaigne, Michel Eyquem de 106, 132 Montinari, Mazzimo 38, 240, 267, 270, 314, 330, 338, 355 Müller, Enrico 434 Müller, Thomas 23 Müller-Freienfels, Richard 316 Müller-Lauter, Wolfgang 109 Murger, Henry 105 Musial, Lukasz 200 Musil, Robert 294 Mussolini, Benito 243 f. Naake, Erhard 242 Naegele, Verena 189 f. Natorp, Paul 78, 178, 290, 321 f., 376 f., 408 Naumann, Otto 298 Nehamas, Alexander 215, 340 Neumann, J. K. 307 Neymeyr, Barbara 72 Nicodemo, Nicola 434 f.

481 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Register Niekisch, Ernst 296 Nietzsche, Carl Ludwig 351, 400, 411, 437 Nietzsche, Elisabeth s. unter FörsterNietzsche, Elisabeth Nietzsche, Franziska 14, 65, 243, 245, 360, 400, 417, 419, 426 Nitzschke, Bernd 44 Nohl, Herman 100, 132, 134, 143 f., 228, 291, 319 f., 325, 358, 375 Nohl, Ludwig 190 Noll, Balduin 358 Nolte, Ernst 205 f., 315, 357 f., 359 f. Nussbaum, Martha 363–365 Obenauer, Karl Justus 341, 344, 346, 348 Oduev, Stepan 355 Oehler, Adalbert 245, 276, 311 Oehler, Max 325, 355 Oehler, Richard 211, 244 f., 272–274, 276, 317, 335, 338, 340 f., 348 Oelkers, Jürgen 126–133, 239 Ottmann, Henning 185, 314, 330, 347, 351, 359 Otto, Berthold 324 Otto, Walter 346 Overbeck, Franz 50, 266–268, 272– 274, 276 f., 284 f., 400, 422, 424 Paneth, Josef 210 Pascal, Blaise 75 Patoussis, Stavros 31, 116 Patzelt, Werner 393 Paul, Ina Ulrike 275, 277 Paulsen, Friedrich 140, 290, 303 f., 320 Paulsen, Rudolf 341 Pautrat, Bernard 25 Pechota Vuilleumier, Cornelia 295 Penzo, Giorgio 202 Pestalozzi, Johann Heinrich 99, 135 Pestlin, Klaus 284 Peters, Heinz Frederick 243, 338 Petersen, Peter 319 f., 353 Pfeil, Hans 356 f. Pfenningsdorf, Emil 304 f.. Phelps, Reginald H. 252

Pichler, Axel 52, 143 f., Picht, Georg 89 Picker, Henry 344 Piecha, Detlev 279, 334, 338 Pieper, Annemarie 209, 217 Platon 59, 101, 132 Ploetz, Alfred 201 f., 374 f., 385 Podach, Erich F. 253, 274 f., 278, 287 f., Poenitsch, Andreas 97 Poggenburg, André 388 Prideaux, Sue 13 Priem, Karin 200 Ptak, Ralf 375, 377 Pütz, Peter 255 Puschner, Uwe 260, 281–283 Raabe, Wilhelm 276 Raffael (Raffaello Santi) 349 Rand, Ayn 369 Radt 132 Rand, Ayn 13 Raspail, Jean 386–389 Rauschning, Hermann 344 Recki, Birgit 75, 434 f. Recknagel, Rolf 202 Rée, Paul 40, 241, 417 f. Reibnitz 380 Reichel 202 Reijen, Willem van 131 Reifenrath, Bruno H. 81 Rein, Wilhelm 290, 304 Renz-Polster, Herbert 394 Reschke, Renate 117, 147 Reuter, Denis 335, 337 Reventlow, Franziska Gräfin zu 294 f. Richter, Ludwig 276 Richter, Raoul 64, 202, 256, 261 Riedel, Manfred 239, 244, 312, 315, 344, 355, 358 Rieger-Ladich, Markus 126 Riefenstahl, Leni 344 Ries, Wiebrecht 79, 114 f., Ritschl, Friedrich Wilhelm 30, 34, 102, 192, 401 Robespierre, Maximilien de 63

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Register Robin, Corey 43, 201, 369–383 Robling 223 Rohde, Erwin 160, 191, 194 Rohkrämer, Thomas 385 Rohrmoser, Günter 361 Rölli, Marc 104 Römer, H. 341, 349 Rose, Paul L. 255, 257 Rosenberg, Alfred 16, 244, 337, 339, 345, 355 Rösner, Thomas 337 Rorty, Richard 76, 111 f., 132, 146 f. Rott, J. 303 Rottmann, Mike 405, 436 Rousseau, Jean-Jacques 63, 77, 127, 132, 166, 177–186, 222, 364, 370 f., 376 Russell, Bertrand 138 f., 435 Ryback, Timothy W. 344 Safranski, Rüdiger 200, 315, 339, 393, 435, 438 Sakmann, Paul 178 Salaquarda, Jörg 157, 373 Salehi, 242 Salomé, Lou von s. unter Andreas Salomé Lou Salomon, Alice 290 Salzborn, Samuel 404 Sandvoss, Eugen 81 f. Santaniello, Weaver 85 Sarrazin, Thilo 386 f., 394 Schaberg, William H. 38 Schädel, Emil 296, 306 Schäfer, Alfred 131 Schain, Richard 105, 430 Schallmayer, Wilhelm 385 Schank, Gerd 206 Scheibenberger, Sarah 73–76 Scheiner, Eitelfritz 340, 344 Schemann, Ludwig 347 Schiffter, Roland 105, 235 Schiller, Friedrich 337 Schirnhofer, Resa von 214 Schlaffer, Heinz 78, 342 f., 356 Schlechta, Karl 38, 244, 247, 270, 275, 284, 363

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 70, 320 Schmeitzner, Ernst 252, 291 Schmid, Wilhelm 413 Schmidt, Hermann-Josef 400 Schmidt, Jochen 28, 46, 73–78, 200, 227, 234, 311, 315, 405 f., 430 Schmidt-Barlen, 317 Schmidt(-Grépály), Rüdiger (W.) 138, 259 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 353 Schmitt, Carl 388 f., 392, 424 Schnitzler, Michael Hubert 317 f., 322 f. Schönherr, Felix 72 f. Schönherr-Mann, Hans-Martin 26, 201 Scholz, Heinrich 239 Schopenhauer, Arthur 35 f., 42, 88, 102, 112 f., 122–125, 130, 165, 167, 180, 197, 307 f., 393 f., 396, 398, 400 f., 411–413 Schüler, Winfried 252, 346 Schuhmann, Maurice 137 Schulz, Paul 334 Schulze-Berghof, Paul 325 Schwaner, Wilhelm 324 f. Schweppenhäuser, Gerhard 79, 146 Servaes, Franz 295 Seydlitz, Reinhart von 280 Shirer, William Lawrence 351 Sieg, Ulrich 138, 235–237, 250 f., Siewert, E. 358 Simmel, Georg 299 Simon, Josef 76, 111 Simonic, Anton 322 Simonsen, Konrad 276 f., 281 Skowron, Michael 61 Sloterdijk, Peter 106, 168 f., 230, 375– 377, 389 Smoltczyk, Alexander 386 f. Sokrates 30, 175 Sombart, Werner 312 f. Sommer, Andreas Urs 78, 103, 132, 136 f., 197, 293, 411, 430, 435 Sorgner, Stefan Lorenz 200

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Register Spengler, Oswald 326 Spethmann, W. 357 Spiekermann, Klaus 145 Spinoza, Baruch de 170 Spitteler, Carl 26, 181 Spranger, Eduard 100, 134, 141, 322, 335, 353 Steding, Christoph 318, 334 Stegmaier, Werner 13, 27, 55, 67, 430–434 Steiger, A. 298 f. Steilberg, Hays Alan 311 Stein, Arthur 306, 312 Stein, Heinrich von 280 Stein, Ludwig 295 Steinhaus, Hubert 326 Steinhäuser, Robert 404, 406, 408, 418, 421 Stendhal (eigentl. Henri Beyle) 167, 318 Stephan, Paul 143, 404 Stern, Fritz 249 f. Stoecker, Adolf 258, 281, 331 Stoeckert, Hedwig 318 Storch, Michael 204, 209, 414 f. Strauß, David Friedrich 14 f., 32 f., 117 Strecker, Karl 316 Strich, Fritz 356 Taureck, Bernhard 206, 239 f., 256, 259, 328, 340 Tebartz-van Elst, Anne 93 Teichmann, Gustav 143 f. Tellkamp, Uwe 393 Tenorth, Heinz-Elmar 127 f., 132– 141 Tews, Johannes 293 Thüring, Hubert 427 Tille, Alexander 348, 374 f. Tongeren, Paul van 160, 173 Tönnies, Ferdinand 290, 295 Treiber, Hubert 208 Treitschke, Heinrich von 260 Trump, Donald 17, 71 f., 248, 369, 374 f., 381, 392, 402, 403 f., 407, 410 f., 423, 426

Tucholsky, Kurt 287 f., 326, 332, 336, 391 Türck, Hermann 295 Türcke, Christoph 82, 131, 156 f., 170, 225 Uhle, Reinhard 303 Ulbricht, Justus H. 252 Ullrich, Heiner 130 Ulrich, Friedrich 322 Vaihinger, Hans 71 Verweyen, Johannes Maria 313 Visser, Gerard 213 Vivarelli, Vivetta 79 f., 106 Völkerling, Hedwig 276 Voltaire 166, 174, 176 f., Wachler, Ernst 260–262, 277 f., 280– 284 Wagner, Cosima 43 f., 75, 105, 177, 190, 193, 258, 268, 346, 379 Wagner, Ernst 290 Wagner, Gottfried 257, 346 Wagner, Richard 14, 27–38, 40–43, 66 f., 75 f., 84 f., 98, 105, 113, 116, 119, 130, 165, 176 f., 181 f., 187– 199, 211, 229, 240, 253 f., 256 f., 275 f., 290, 305, 333, 344–348, 358, 361, 367, 378 f., 384, 396–402, 435, 437 Wagner, Winifred 345 Weber, Ernst 304–306 Weber 388 Wedekind, Frank 292 f. Wehler, Hans-Ulrich 360 Weigand, W. 83 Weiner, Marc A. 188, 240. 257 Weißmann, Karlheinz 370 f., 389 Welsch, Wolfgang 114 f., Weniger, Erich 325, 352 Westernhagen, Curt von 346 Wichern, Johann Hinrich 376 Wilde, Oscar 308 Willmann, Otto 290 Wilcox, John T. 96

484 https://doi.org/10.5771/9783495820827 .

Register Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich 233, 303 Willers, Ulrich 23 f., Wilhelm II., König von Preußen und deutscher Kaiser 65, 261 f., 314, 330 Wilhelm, Johannes 334 Wimmer, Michael 129 Winteler, Reto 201, 430, 432–434, 438 Wistrich, Robert 335 Wollenberg, Albert 299 Wolzogen, Hans von 346

Wulf, Joseph 337 Würzbach, F. 334 Wyneken, Gustav 293, 302, 324 Zapata Galindo, Martha 243, 311, 348, 358 Zelinsky, Hartmut 257 Ziegler, Theobald 295 Zimmer, F. A. 318 Zirfas, Jörg 112, 116 Zittel, Claus 432 Zwerenz, Gerhard 366 Zweig, Stefan 293, 297

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