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German Pages 174 Year 1992
JOHANN BAPTIST MÜLLER
Die politischen Ideenkreise der Gegenwart
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 64
Die politischen Ideenkreise der Gegenwart
Von Johann Baptist Müller
DUßcker & Humblot . Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Müller, Johann Baptist: Die politischen Ideenkreise der Gegenwart / von Johann Baptist Müller. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 64) ISBN 3-428-07304-5 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-07304-5
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
11. Der Systementwurf des Liberalismus .......................................
14
1. Die Genesis des Liberalismus ..............................................
14
2. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik im Rechts- und Linksliberalismus: Versuch einer Typologie .... .........................................
22
3. Die marktwirtschaftliche Elitendemokratie (Rechtsliberalismus) .........
23
4. Der sozialinterventionistische Demokratismus (Linksliberalismus) ......
32
5. Linksliberalismus, Rechtsliberalismus und Konservatismus
41
111. Der Konservatismus als Ordnungslehre ....................................
45
1. Die Genesis des Konservatismus ...........................................
45
2. Der Konservatismus im Spannungsfeld von Christentum und Atheismus
50
3. Technikvemeinung und Technikbejahung in konservativer Perspektive..
59
4. Liberaler und illiberaler Konservatismus ..................................
67
5. Marktwirtschaftlicher und sozialer Konservatismus.......................
79
6. Konservatismus, Faschismus und Nationalsozialismus .................. ;
86
IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungziel: Der Sozialismus ............
100
1. Die Genesis des Sozialismus ...............................................
100
2. Sozialismus als Orthodoxie: Der Marxismus ..............................
103
3. Die libertäre Linke zwischen Anarchie und Ordnungszwang ............
114
4. Egalitäre Gesellschaft und liberale Politikordnung: Der Demokratische Sozialismus ..................................................................
122
5. Konservative Bestimmungsmomente im sozialistischen Ideenkreis ......
134
V. Die Zukunftsaussichten von Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus ..............................................................................
134
Literaturverzeichnis ................................................................
157
J. Einleitung Überhaupt dürfte es in der Geschichte, wie im Leben, oft ein größeres Lob sein, die rechte Partei erwählt zu haben, als ohne alle Partei, immer neutral und gleichgültig zu bleiben. Friedrich Schlegel Die Beschäftigung mit den politischen Ordnungsvorstellungen gehört ohne Zweifel zum Kernbereich der Politikwissenschaft. Ohne ihre genaue Kenntnis wird der politische Prozeß kaum einsichtig. Wie sehr das politische Handeln des Menschen und seine politischen Ideologien ineinander verschränkt sind und sich gegenseitig in Spannung versetzen, darauf hat der Naturwissenschaftler Robert Musil augenfällig aufmerksam gemacht. "Die Ideologie ist die Seele des Lebens, auch des alltäglichen. Sie zeigt nicht nur seinen Charakter an, sondern sie formt ihn auch, auch heute noch I. Die Ideologie gibt dem Menschen Halt, dient als Orientierungshilfe. "Ideologie ist: gedankliche Ordnung der Gefühle; ein objektiver Zusammenhang zwischen ihnen, der den subjektiven erleichtert 2 ." In einer ähnlichen Weise betont Gaston Bouthol die politische Wegweiserfunktion der Ordnungsvorstellungen. "Elles sont normatives et incitatives. Elles veulent montrer la route a suivre 3 ." Das Bekenntnis zu einer bestimmten politischen Ideologie ist identisch mit dem Votum zu einer spezifischen politischen Denktradition. Jeder, der politische Ordnungsvorstellungen propagiert, steht in der Tradition bestimmter Denkfamilien. Diese ideologisch-politischen Gruppen rekurrieren auf sogenannte ,,Ahnherren", auf Denker also, die in klassischer Weise zur Ausformulierung des jeweiligen Ideenkreises beigetragen haben. So beruft sich beispielsweise der liberalkonservativ eingestellte Bürger auf Edmund Burke und Alexis de Tocqueville, der Sozialliberale auf John Stuart Mill und Lujo von Brentano. Syndikalisten 1
2
3
Robert Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 31.
Ebd.
Gaston Bouthoul, Sociologie de la politique, Paris 1967, S. 97. Der in dieser Abhand-
lung verwendete Ideologiebegriff unterscheidet sich entscheidend von demjenigen, dem etwa Marx Horkheimer das Wort redet. Er reduziert den Begriff der Ideologie auf das falsche, unwahre Bewußtsein. Horkheimer schreibt: "Der Name der Ideologie sollte dem seiner Abhängigkeit nicht bewußten, geschichtlich aber bereits durchschaubaren Wissen, dem vor der fortgeschrittensten Erkenntnis bereits zum Schein herabgesunkenen Meinen, im Gegensatz zur Wahrheit vorbehalten werden." (Ideologie und Wertgebung, in: Soziologische Forschung in unserer Zeit. Ein Sammelwerk. Leopold von Wiese zum 75. Geburtstag, hrsg. von Karl Gustav Specht, Köln / Opladen 1951, S. 227).
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1. Einleitung
und Anarchisten sind William Godwin, Michael Bakunin und Gustav Landauer verpflichtet. Dabei dienen die in Rede stehenden Klassiker auch zum Kampf gegen feindliche Ideologien. Man rüstet sich mit den Argumenten von J. B. Say aus, um die Bastionen des Keynesianismus zu schleifen. Mit Eduard Bernstein und den Denkern der Fabian Society rückt man dem Marxismus zu Leibe. Liberale Katholiken berufen sich auf Lacordaire und Lamennais, um die politischen Ordnungsvorstellungen von de Bonald und de Maistre zu bekämpfen. Religiöse Sozialisten sprechen im Anschluß an Paul Tillich der Versöhnung von Arbeiterschaft und Christentum das Wort und wenden sich damit gegen den atheistischen Marxismus. Diese Besinnung auf die Bedeutung der Ideologien im politischen Leben evoziert auch die Frage, wie alt denn diese Ideenkreise überhaupt sind. An diesem Punkte gibt es zwei Auffassungen. Die eine geht davon aus, daß die modemen politischen Ideenkreise ihre Wurzeln bis ins Altertum ausstrecken 4 • Sowohl der Liberalismus4, als auch der Konservatismus 5 und der Sozialismus 6 wurden bis in die Antike zurückgeführt. Gegen diese Auffassung wird ins Feld geführt, daß man von Ideologien im modemen Sinne recht eigentlich erst seit der Aufklärung sprechen könne. Christopher Dawson zufolge haben die politischen Ideenkreise die Religion abgelöst. "Die Theologie wurde als Urheberin der sozialen Ideale und Lenkerin der öffentlichen Meinung durch die Ideologie ersetzt 7 ." Auch der Verfasser dieser Abhandlung ist der Auffassung, daß die politischen Ideenkreise der Neuzeit in dem Maße ihre Wirkkraft entfalten konnten, in dem der Einfluß der Religion auf Staat und Gesellschaft zurückging. Immer wieder haben sich die Analytiker des politischen Ideenkosmos mit dem Problem auseinandergesetzt, die unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen zu rubrizieren. Mit Hilfe mehr oder weniger ausgeklügelten Klassifikationen wurde versucht, das Pluriversum der politischen Werthaltungen zu ordnen. Dabei kam der Zweiteilung des politisch-ideologischen Kosmos seit altersher eine geradezu archetypische Würde zu 8. Viele Gelehrte weisen darauf hin, daß das dualistische Denken nicht nur die entscheidenden Bereiche des geistigen Lebens, sondern 4 Vgl. dazu Leopold Krug, Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer Zeit, Leipzig 1823, S.9 und S. 30; Emile Mireaux, Philosophie du Liberalisme, Paris 1950, S. 335; Victor Leontovitsch, Geschichte des Liberalismus in Rußland, Frankfurt am Main 1957, S. 1. 5 Vgl. dazu Hans Mühlen/eid, Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unserer Zeit, München 1952, S. 185. 6 Vgl. dazu HaroldJ. Laski, Communism. London 1935, S. 11; MaxBeer, Allgemeine Geschiche des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, 7. Aufl., Berlin 1931, S. 9 ff. 7 Christopher Dawson, Die Revolution der Weltgeschichte. Universalhistorische Betrachtungen, aus dem Englischen, München 1960, S. 87. 8 Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller, Politische Attitüden links und rechts, in: Civitas. Jahrbuch für Sozialwissenschaften 16 (1979), S. 154 ff.
I. Einleitung
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auch den Sektor der Politik bestimmt. So schreibt Ernest Barker: "Life, after all, is largeley a matter of choice between two alternatives: there are generally two rival schools in philosophies, two rival views of painting, two rival opinions about music; and why should there not also be two rival views of politics 9?" Diese Zweiteilung der politischen Einstellungen läßt sich sehr weit zurückverfolgen. Sehr früh schon wurde das politische Leben dem Gegensatz von Fortschritt und Beharrung zugeordnet 10, die politischen Einstellungen entweder als progressiv oder als reaktionär bezeichnet. Schon Lamennais zufolge läßt sich der politische Kampf auf die Auseinandersetzung zwischen den progressiven und den reaktionären Kräften reduzieren. Auf der einen Seite stehen die Kräfte des Fortschritts. ,,L'egalite et la liberte, proclamees aujourd'hui par la raison et la conscience universelle, sont ... les deux bases sur lesquelles reposera, dans un temps peu eloigne de nous, l'edifice social 11 ." Gegen den historischen und politischen Fortschritt habe das alte Europa seinen Kampf angesagt: ,,Le combat dure encore, et grandit chaque jour, et s'etend: c'est le choc de deux mondes, le monde du passe et le monde de l'avenier I2 ." Ähnlich unterschied lohn Stuart Mill zwischen einer "party of order or stability 13" und einer "party of progress or reform 14." Der Gegensatz zwischen der alten und der neuen Ordnung bestimmt auch die Rottecksche Differenz zwischen der Bewegungs- und der Widerstandspartei. Mit dem Begriff der Bewegungspartei bezeichnet man Rotteck zufolge "diejenigen, die nach Fortschritten ... im ... Staat begehren 15." Ihnen stehen die "Männer des Widerstandes oder Stillstandes" 16 gegenüber. Aus der Diskrepanz zwischen zukunfts bestimmter und herkunftsorientierter Politik heraus ist auch der Unterschied zwischen Konservatismus und Liberalismus geboren. Ernst Müsebeck zufolge bildet der ,,Liberalismus die Aktion für die Ideen von 1789"17. Dagegen sei der Konservatismus als "Reaktion gegen die Ideen von 1789" 18 zu verstehen. Dem Antagonismus zwischen den reaktionär9 Ernest Barker, "Reflections on the Party Systems", in: Parliamentary Affairs 5 (1950/51), S. 199 f. 10 Nach F. J. C. Hearnshaw gibt es schon im Paradies fortschrittliche und vergangenheitsorientierte Bürger. "Adam was the person who represented the conservative qualities of contentment and stability. Eve was the innovator, eager for novelty, ready for reckless experiment" (Conservatism in England, London 1933, S. 20). 11 F. Lamennais, Politique a l'usage du peuple, Tome I, 2e edition, Paris 1839, S. 8. 12 Ebd., S. 9. 13 lohn Stuart Mill, On Liberty (1858), London 1971, S. 59. 14 Ebd. 15 earl von Rotteck, Bewegungspartei, in: Staatslexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. von Carl von Rotteck / Carl Welcker, Bd. 11, Altona 1835, S. 558. 16 Ebd. 17 Ernst Müsebeck, Die ursprünglichen Grundlagen des Liberalismus und Konservatismus in Deutschland, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 63 (1915), S. 3. 18 Ebd.
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1. Einleitung
konservativen und den fortschrittlich-liberalen politischen Positionen entspricht weitgehend der Gegensatz zwischen rechten und linken Attitüden. Darauf hat schon Friedrich Julius Stahl hingewiesen. "Auf dem Gegensatze von Revolution und Legitimität beruht die Scheidung der Parteien in eine Linke und eine Rechte I9 ." Der Kontrast zwischen Ordnungsdenken und Emanzipationsstreben bestimmt auch heute noch die Spannung zwischen rechten und linken Einstellungen. Gerd-Klaus Kaltenbrunner schreibt: "Rechts ... ist ein Ethos, das die Ordnung vor die Gerechtigkeit setzt, die Gerechtigkeit vor die Liebe, und die Loyalität zu einem konkreten, geschichtlich gewordenen Gemeinwesen vor die Liebe zur Menschheit. Rechts ist daher immer auch die Bejahung eines gewissen Ausmaßes an "Entfremdung", des Primats der Institution vor dem Bedürfnis nach Emanzipation 20." Dagegen sei die Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ... eine essentiell linke Parole 21 ." Ähnlich argumentiert Armin Mohler: "Der Rechte sucht Bindung und Halt, der Linke will Befreiung und Ungebundenheit; für den Linken sind der Mensch und die Welt im Prinzip vollkommene Gebilde ... der Rechte glaubt nicht an diese Perfektibilität 22 ." Die in Rede stehende dualistische Interpretation und Rubrizierung der politischen Werthaltungen hat berechtigterweise den Einwand evoziert, sie führe zu einer unzulässigen Reduktion der ideologisch-politischen Realität. Nicht zuletzt die Liberalen begehrten dagegen auf, entweder der politischen Rechten oder der Linken zugeschlagen zu werden. Schon Johann Caspar Bluntschli hatte Friedrich Julius Stahl vorgeworfen, die Liberalen als eigenständige politische Kraft zu negieren. "Die Linke, das ist ihm die Revolution, die Rechte die Legitimität, und das Centrum wird in die beiden Seiten verteilet 2J." Auf diese Weise würden die Liberalen "wider ihren Willen entweder zu Revolutionären oder zu Legitimisten gestempelt 24 ." Mit seiner Forderung nach Rechtsgleichheit und Marktwirtschaft setzte sich das liberale Bürgertum in der Tat gleichzeitig vom ständisch bestimmten Konservatismus als auch von der sozialistisch determinierten Arbeiterbewegung ab. Um derartige definitorische Unschärfen zu vermeiden, wurde eine Typologie kreiert, welche die politischen Ideologien dreifach unterteilt. Dabei werden Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus als eindeutig voneinander unterschiedene Ideenkreise aufgefaßt. So heißt es etwa bei Ramsay Muir: "The ideal of 19 Friedrich Julius Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, Berlin 1863, S. 3. 20 Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Der schwierige Konservatismus. Definitionen Theorien - Porträts, Herford / Berlin 1975, S. 55. 21 Ebd., S. 54. 22 Armin Mahler, Die "Konservativen" und die "Rechte" in Frankreich, in: Konservatismus in Europa, hrsg. von G.-K. Kaltenbrunner, Freiburg im Breisgau 1977, S. 276. 23 Jahann Caspar Bluntschli, Charakter und Geist der politischen Parteien, Nördlingen 1869, S. 58 f. 24 Ebd., S. 58.
I. Einleitung
11
Conservatism ist Stability, the ideal of Labourism is Equality, and the ideal of Liberalism ist Liberty 25." Neben der zwei- und dreipoligen Typologie wird auch die vierteilige zur Analyse der politischen Ideologien verwendet. Max Imboden weist zu Recht darauf hin, daß die vierteilige Klassifikation aus der zweiteiligen hervorgeht. "Jeder Dualismus enthält den Kern einer Quaternität in sich 26 ." Die vierteilige Typologie kann vor allem durch die Kreuzung der Gegensatzpaare rechts und links, moderiert und radikal, erreicht werden. So schreibt Maurice Duverger: "A l'interieur de la gauche et de la droite ... on peut distinguer les extremistes et les moderes 27 ." Ähnlich kennt Robert A. Alford neben dem Center Left und dem Center Right eine Radical Left und eine Reactionary Right 28. Der äußersten Rechten und der äußersten Linken werden gemeinhin die faschistisch-nationalsozialistischen und die kommunistischen Ideologien bzw. Bewegungen imputiert. Indem Jeanne Hersch 29 die moderierte Linke in fortschrittliche Demokraten und Sozialdemokraten aufteilt, kommt sie zu einer fünfteiligen Typologie. Sie unterscheidet zwischen der faschistischen, der kommunistischen, der konservativliberalen, der fortschrittlich-demokratischen und der sozialistischen Ideologie 30 • Diese in Rede stehenden Klassifikationen sollten jedoch keineswegs den Blick davor verschließen, daß es manchmal äußerst schwierig ist, eine bestimmte politische Denkhaltung zu rubrizieren. Oft ist es die Komplexität und auch die Widersprüchlichkeit eines bestimmten politischen Denkers, die einen Schnurstracks-Rekurs von vorneherein verbieten. So mußten sich beispielsweise die Nazis einer Scheuklappentaktik bedienen, um den Philosophen Friedrich Nietzsche für sich vereinnahmen zu können. Einerseits paßte der Sozialdarwinismus Nietzsches durchaus in das nationalsozialistische weltanschauliche Konzept; andererseits waren sie gezwungen, Nietzsches Europäertum und seinen Philosemitismus zu verdrängen und zu verleugnen. Es ist vor allem nicht immer mit der wünschenswerten Präzision auszumachen, welcher Autor ohne Zweifel zu den Kräften des Fortschritts und welcher zu den Kräften der Beharrung zu rechnen ist. So macht es beispielsweise die Eigenart des Voltaireschen Denkens aus, daß sich bei dieser Leitfigur der französischen Aufklärung progressive und reaktionäre 25 Ramsay Muir, Politics and Progress, London 1923, S. 6. Diese dreipolige Typologie findet sich auch bei George Lichtheim (Ursprünge des Sozialismus, aus dem Englischen, Gütersloh 1969). Lichtheim spricht vom "Kampf ... zwischen den konservativen, den liberalen und den sozialistischen Ideen" (ebd., S. 14). 26 Max Imboden, Die Staatsformen, in: Staatsformen, Politische Systeme, Basel/ Stuttgart 1974, S. 203. 27 Maurice Duverger, Democratie sans le peuple, Paris 1970, S. 130. 28 Robert R. Alford, Party and Society. The Anglo-American Democracies, Chicago 1963, S. 11 ff. 29 Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit, aus dem Französischen, München 1956. 30 Ebd., S. 43 ff.
12
I. Einleitung
Gedanken zu einer höchst widersprüchlichen Einheit verbinden. Auf der einen Seite gilt Voltaire zu Recht als eine Persönlichkeit, die sich nachdrücklich für die weltanschauliche Toleranz einsetzte. Zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehört aber auch, bei ihm das ausfindig zu machen, was Adorno und Horkheimer als "Dialektik der Aufklärung" bezeichnet haben. Die Zweifel an der durchgängig progressiven Einstellung Voltaires werden vor allem dann unabwendbar, wenn man seine Auslassungen zum Problem der sozialen Schichtung und seine Bewertung der einzelnen Rassen zur Kenntnis nimmt. So vertragen sich Voltaires ansonsten fortschrittliche Ansichten durchaus mit einer Einstellung über den Gesellschaftsaufbau, die extrem antiegalitäre Züge trägt. Sein Gesellschaftsbild ist strukturiert vom uralten Grundmuster des Oben und Unten. Das Motiv für seine elitäre Haltung ist dabei in der Auffassung begründet, daß die Stabilität der sozialen Ordnung ausgeprägte gesellschaftliche Distanzen voraussetzt. Wenn zu den sinnvollsten Kriterien einer fortschrittlichen Haltung die Ablehnung des rassistischen Denkens gehört, dann ist Voltaire auch an diesem Punkte kaum als fortschrittlich zu bezeichnen. Voltaire hat sowohl über die Juden als auch über die Neger so verächtlich gesprochen, daß er ohne Zweifel zu den Ahnherren des Rassismus zu zählen ist 31 . Eine Rubrizierungsschwierigkeit besonderer Art begegnet uns, wenn ein Autor sich zu einer Ordnungsvorstellung bekennt, die sich als Mixturn compositum höchst unterschiedlicher und widersprüchlicher Ideenkreise zusammensetzt. So bezeichnet sich Walter Dirks etwa als "linken Konservativen 32 ." Sein Großvater sei "als großdeutscher Katholik der Kulturkampfzeit antiautoritär, staatskritisch, antimilitaristisch, antinationalistisch"33 eingestellt gewesen. Seine Mutter habe ihren "Kindern eine leidenschaftliche Parteinahme für die Verkannten, die Verfemten und die Schwachen ... also vor allem für die Juden, die ,Pollacken' und die Arbeiter" vorgelebt 34 . Dirks akzeptierte diese linken Attitüden seines Elternhauses. Er bezeichnet sich aber gleichzeitig "in einer tieferen Schicht des Denkens als konservativ 35 ." Linke und rechte politische Werthaltungen fließen auch in der Ideologie des sog. Nationalbolschewismus 36 zusammen. Die Repräsentanten dieser politischen Richtung treten für eine sozialistische Ordnung unter betont nationalistischen Vorzeichen ein. "Es handelt sich um nationalistische Tendenzen des Kommunismus und um sozialistische Bestrebungen im rechtsradikalen Lager 37 ." Karl O. Paetel zufolge war ihr Ausgangspunkt vor allem innnenpolitischer 31 Leon Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, aus dem Französischen, Wien / München / Zürich 1971, S. 196 und passim. 32 Walter Dirks, Aspekte eines linken Konservativen, in: Was ist heute links?, hrsg. von Horst Krüger, München 1963, S. 47.
33 34 35 36
Ebd. Ebd.
Ebd., S. 48. Der Begriff Nationalbolschewismus wurde zum ersten Mal von Kurt Hiller gebraucht. Vgl. dazu Kurt Riller, Linke Leute von rechts, in: Die Weltbühne 28 (1932), S. 153 ff.
I. Einleitung
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Natur. "Revolutionäre Sozialisten bekannten sich zur Idee der Nation, weil nur so der Sozialismus verwirklichbar erschien. Entschiedene Nationalisten entwikkelten sich nach ,links', weil das Schicksal der Nation ihnen nur in den Händen einer neuheraufkommenden proletarischen Führungsschicht garantiert erschien. "Linke" und "Rechte" fanden sich dabei auf der Basis gemeinsamer Feindschaft gegen das, was sie den westlichen Imperialismus nannten 38 ." Eine dem Prinzip der Wahrheit verpflichtete Ideologieanalyse muß sich nicht zuletzt immer darüber bewußt sein, daß in jeder Politie mehrere Ordnungsvorstellungen miteinander konkurrieren. In jedem Gemeinwesen herrscht die offizielle Ideologie neben den politischen und sozialen Ordnungsvorstellungen, die einem anderen System das Wort reden. Dabei ist auch die Ideologie der herrschenden Schicht keineswegs homogen. So hat Nigel Harris recht, wenn er schreibt: "Wenn man einzelne Ideen der Gesellschaft als ganzer zuschreibt, so verdeckt man nicht nur die gewaltigen, innerhalb einer jeden Gesellschaft vorhandenen Unterschiede, das fortgesetzte Wirken von Häresien und Widerspruch, sondern man stellt sich auch selbst hinter die Gruppe, die dieses Glaubenssystem formuliert" 39. Aus diesem Grunde wäre es Nigel Harris zufolge unrichtig, die jeweiligen Orthodoxien ohne ihre jeweiligen Gegenideologien zu berücksichtigen. Der Gedanke, "als sei die Vergangenheit über lange Zeiträume hinweg von großen, einheitlichen und unwandelbaren Orthodoxien beherrscht" 40 worden, sei eindeutig falsch. Es gehöre zu den Bestimmungsmerkmalen jeglicher Orthodoxie, daß sie ihre ideologischen Gegner durch Nichtbeachtung bekämpfe. "Die Orthodoxie ignoriert die Revolten, die ihre Vorherrschaft gefährden. Sie sucht den ständig sich vollziehenden Wandel zu verbergen, der die Orthodoxie in ihr Gegenteil verwandeln kann"41. Jegliche Besinnung auf die Voraussetzungen und Grundlagen der Ideologieanalyse muß sich auch des Umstandes bewußt sein, daß eine wahrhaft freie und wirklichkeitsadäquate Forschung nur in einem politisch liberalen Umfeld gedeihen kann. Sie bedarf einer politischen Lebenswelt, die ihre Antriebsmomente aus dem liberalen Ordnungsgedanken heraus bezieht. Eine politische Ordnung, die im Dienste des Illiberalismus steht, ist der unabhängigen Ideologieforschung an der Wurzel fremd 42 . Diese Auffassung wurde nicht zuletzt auch von Hermann Heller geteilt. Auch andere entscheidende Grundmotive seines Denkens sind in dieser Arbeit aufzufinden. Ihr Verfasser verdankt diesem großen Gelehrten also nicht nur den Titel seiner Abhandlung. 37 Otto-Ernst Schüddekopf, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960, S. 9. 38 Karl O. Paetel, Versuchung oder Chance? Zur Geschichte des deutschen Nationalbolschewismus, Göttingen 1965, S. 12 f. 39 Nigel Harris, Die Ideologien in der Gesellschaft, aus dem Englischen, München 1970, S. 32. 40
Ebd.
41 Ebd. 42 Vgl. dazu Konrad Schön, Politische Denkformen, Essays, Sindelfingen 1986, S. 20.
11. Der Systementwurf des Liberalismus Die Spannung zwischen Freiheit und Autorität ist von der Art, daß sie ohne einander sich selbst verlören; Freiheit würde zum Chaos, Autorität zur Despotie. Karl Jaspers
1. Die Genesis des Liberalismus Die in der Einleitung dieser Abhandlung zum Ausdruck gebrachte Feststellung, daß die Wurzeln der heutigen sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen tief in die vergangenen Zeitalter zUfÜckreichen, gilt nicht zuletzt auch für den Liberalismus. Nicht wenige Gelehrte sind der Auffassung, er wurzele recht eigentlich in der Gedankenwelt Griechenlands. Schon Leopold Krug zufolge verdankt sich dieser Ideenkreis der griechischen Kultur. "Die ersten Spuren liberaler Ideen, mündlich und schriftlich angekündigt, finden wir in der alten oder vorchristlichen Welt bei jenem bewunderungswürdigen Volke, das noch immer in Wissenschaft und Kunst unser Lehrmeister ... ist - bei den Griechen 1." Ähnlich heißt es bei Emile Mireaux: ,,Les racines ideologiques du liberalisme piongent en effet fort loin dans le passe. On peut ... les suivre jusqu'a la critique de la convention sociale chez les grecs 2 ." Christopher Dawson macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß die Griechen als erstes Volk das genuin liberale Ideal der Gesetzesherrschaft akzeptiert und verwirklicht hatten. Die winzigen Stadtstaaten Griechenlands seien die Wiege von "Gesetz und Bürgerrecht"3 gewesen. Insbesondere Herodot habe darauf hingewiesen, in wie starkem Maße die Griechen der Notion der Gesetzesherrschaft verpflichtet gewesen seien 4 • Nicht zuletzt in der militärischen Konfrontation mit den Persern sei es den Griechen bewußt geworden, wie sehr diese Auseinandersetzung den Geist eines grundlegenden ideologischen Streites atmete. Letzten Endes sei es darum gegangen, das Prinzip der Freiheit gegen die Notion der Unfreiheit zu verteidigen. "Der europäische Freiheitsgedanke wurde in jenen schicksalshaften Tagen der 1 Leopold Krug, Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer Zeit. Ein historischer Versuch, S. 8. 2 Emile Mireaux, Philosophie du Liberalisme, Paris 1950, S. 335. 3 Christopher Dawson, Gericht über die Völker, aus dem Englischen, Einsiedeln / Zürich 1945, S. 59. 4 Ebd.
1. Die Genesis des Liberalismus
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Perserkriege geboren, als griechische und asiatische Schiffe in der Bucht von Salamis aufeinandertrafen und die siegreichen Griechen nach der Schlacht von Platää ihrem Zeus, dem Schenker der Freiheit, einen Altar errichteten s." Die personkonzentrierte Idee des Liberalismus bezieht ihre intellektuelle Überzeugungskraft nach der Ansicht vieler Autoren nicht zuletzt auch aus dem Geiste des Christentums. Einer der führenden Repräsentanten des gegenwärtigen Liberalismus hat darauf hingewiesen, in wie starkem Maße sich die liberale Ordnungsvorstellung dem Christentum verdankt. Salvador de Madariaga schreibt: "Der europäische Liberalismus wurde zwar nicht in Golgatha geboren, aber aus Golgatha bezieht er seine Kraft und seine Eingebungen. Jenen Individualisten, die kein Auge haben für die christliche Wurzel ihrer Überzeugung, möchte ich den Ausspruch des Spanier zueignen, der auf die Frage nach seiner Religion antwortete: "Ich bin Atheist, Gott sei Dank 6." Wilhelm Röpke zufolge hat das Christentum mit seiner Betonung des individuellen Heilsschicksals den antiken Staatsmythos erfolgreich zerstört. Es habe sich den etatistischen Denkstrukturen des Altertums erfolgreich widersetzt und dem Schicksal des einzelnen Reverenz erwiesen. "Erst das Christentum hat die revolutionäre Tat vollbracht, die Menschen als Kinder Gottes aus der Umklammerung des Staates zu lösen?" Es bedarf also Röpke zufolge der Rückbesinnung auf das Christentum, um die Grundlagen moderner Liberalität erschließen zu können. Es sei letzten Endes ihm zu verdanken, den Wert der je einzelnen Person ins geschichtliche Bewußtsein gehoben zu haben. Die christliche Lehre habe "im Gegensatz zur Gesellschaftsauffassung der heidnischen Antike den einzelnen Menschen mit seiner unsterblichen und nach ihrem Heil strebenden Seele in den Mittelpunkt"8 gerückt. Erst auf dem Grunde eines solchen Personverständnisses sei es möglich, den Staat in seine Schranken zu verweisen. Die Besinnung auf die Grundlagen des Christentums fördere die Einsicht zutage, daß die Staatsrnacht
5 Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit, aus dem Englischen, Leipzig 1935, S.22. Dagegen ist lohn Plamenalz der Auffassung, daß der staatskritische Liberalismus der Neuzeit seine Wurzeln bis in die Antike zurück verfolgen könne. ,,No one in the ancient world put himself to the trouble of arguing that this is a liberty which rulers may not interfere" (Introduction to Readings from Liberal Writers. English and French, New York 1965, S. 8). In den antiken Schriften suche man vergebens nach Freiheitspostulaten im modemen Sinne. ,,Neither the Greeks nor the Romans claimed liberty of thought and expression against their rulers" (ebd.). 6 Salvador de Madariaga, Eine kulturelle Einheit, Tübingen o. J., S. 10 (EuropaUnion Deutschland). ? Wilhelm Röpke, Das Kulturideal des Liberalismus, Frankfurt am Main 1947, S. 12. Vgl. dazu auch Guglielmo Fererro, "L'Etat antique etait sanguinaire par une espece d'orgueil demoniaque de sa puissance ... Tel etait I'esprit pharaonique ... de l'Etat antiques ... Une liberation, une grande liberation etait necessaire. C'est le christianisme qui l'a faite" (La fin des aventures. Guerre et paix, Paris 1931, S. 258 f.). 8 Wilhelm Röpke, Civitas Humana, Erlenbach-Zürich 1946, S. 197.
16
II. Der Systementwurf des Liberalismus
durch seine Lehre entscheidend eingegrenzt werde. "Vor dem Staate gibt es die Person und über dem Staate den universalen Gott 9 ." Wie Madariaga und Röpke, so ist auch Christopher Dawson der Auffassung, daß der liberale Freiheitsgedanke tief in der christlichen Lehre wurzelt. Zu den großen Kulturleistungen des Christentums gehöre es vor allem, den Freiheitsgedanken der Antike aufgenommen und ihm eine neue, bislang unbekannte Wirkkraft verliehen zu haben. Ohne diese Übernahme des antiken Freiheitsideals wäre die Idee individualistischer Existenzbestimmung in Vergessenheit geraten. "Der Verlust der Freiheit in der antiken Welt wurde ... von der Entdeckung einer neuen geistigen Freiheit aufgewogen, so daß die Menschen den Glauben an das Bestehen einer geistigen Heimat, die ,frei ist und unser aller Mutter', in dem Augenblick erwarben, als die weltliche Heimat versklavt wurde 10." Das lateinische Christentum habe die nördlichen Barbaren einer Zivilisation eingefügt, die in entscheidendem Maße von dem christlichen Freiheitsgedanken geprägt gewesen sei. "Die dynamische Kraft dieses geistigen Ideals erfüllte die sterbende Zivilisation der antiken Welt mit neuem Leben und gab dem lateinischen Christentum die Macht, die nördlichen Barbaren dem neuen Bau der westlichen Zivilisation einzuverleiben 11." Ohne jeglichen Zweifel sei "das Prinzip der Freiheit" Mittelpunkt der neuen kulturellen Entwicklung 12 gewesen. Die vom liberalen Geiste bestimmte Gestaltungskraft dieser neuen Zivilisation schoß vor allem in die Ausgestaltung einer politischen Ordnung, die der illiberalen Staatsallmacht den Kampf angesagt hatte. Die Staatslehre des Mittelalters ging von dem Gedanken aus, daß das Individuum dem Staate gegenüber keineswegs als rechtlos anzusehen sei. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das die mittelalterliche Politiklehre zusammenhält, dann ist es die dezidiert vorgetragene Auffassung, die Staatsrnacht finde ihre Grenze an den Rechten des Einzelnen. Christopher Dawson zufolge "wurzeln westliche Freiheit und westliche Demokratie in dem mittelalterlichen Gedanken, daß die Menschen auch dem Staate gegenüber Rechte besitzen und daß die Gesellschaft nicht eine totalitäre politische Einheit, sondern eine Gemeinschaft ist. Aus einer vielfältigen Verschiedenheit gesellschaftlicher Organismen zusammengefügt, von denen jeder ein autornornes Leben und seine eigenen freien Einrichtungen besitzt 13." Den alten Liberalen seien nie Zweifel darüber gekommen, daß die moderne Freiheit tief im mittelalterlichen Institutionenarrangement wurzelt. Indem sie die Magna Charta und die mittelalterliche kommunale und konstitutionelle Richtung idealisierten 14, hätten sie diesen Tatbestand augenfällig zum Ausdruck gebracht. 9 Ebd. Vgl. dazu auch J. P. Parry, Democracy and Religion. Gladstone and the Liberal Party, 1867 -1875, Cambridge 1989, S. 57 ff. und passim. 10 Christopher Dawson, Gericht über die Völker, S. 60. 11 Ebd. 12
13 14
Ebd., S. 61.
Ebd. Ebd.
1. Die Genesis des Liberalismus
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Ein genuin liberal-individualistisches Moment ist auch in der rationalen Untersuchungs- und Diskussionsmethode der Scholastik zu respektieren. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das die scholastische Gelehrsamkeit bestimmt, dann ist es der in immer neuen Anläufen erprobte Versuch, die Ratio des Individuums sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie zur Anwendung zu bringen. In wie starkem Maße sich der individualistisch-rationale Geist der Neuzeit auf diese Weise in der Scholastik vorbildet, darauf hat Jacques LeGoff hingewiesen. "Mit den Gesetzen der Nachahmung verknüpft die Scholastik die Gesetze der Vernunft, mit den Vorschriften der Autoritäten die Argumente der Wissenschaft. Mehr noch, und dies ist ein entscheidender Fortschritt des Jahrhunderts, die Theologie beruft sich auf die Vernunft, sie wird zur Wissenschaft" IS. Jegliche Besinnung auf die mittelalterlichen Wurzeln der liberalen Ordnungsvorstellung wird notwendigerweise auch zu der Einsicht führen, daß der Nominalismus von genuin liberalen Bestimmungsmomenten determiniert ist. Er läßt unzweideutig Wertungsgrundsätze erkennen, die ihn ohne Zweifel zum Vorläufer des liberalen Politikentwurfes machen. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das die nominalistische Philosophie des Mittelalters zusammenhält, dann ist es der herzhafte Rekurs auf das institutionenunabhängige Individuum. Auf diesen für die abendländische Geistes- und Politikgeschichte so wichtigen Tatbestand aufmerksam gemacht zu haben, ist nicht zuletzt das Verdienst von Karl Pribram. Er schreibt: "Indem er (d. h. der Nominalismus; J. B. M.) mit dem Glauben an die Realität der Begriffe auch den Glauben an die reale Existenz der menschlichen Verbände zerstört, und die Unterordnung der Individuen unter höhere Zwecke der Kollektiva leugnet, schafft er freie Bahn für den zündenden Gedanken einer Freiheit und Gleichheit der Menschen" 16. Die nominalistische Gesellschaftsphilosophie bietet dem emanzipatorisch gesinnten Individuum die Möglichkeit, seine Ansprüche gegen Kirche und Staat durchsetzen zu können. Diese werden von der nominalistischen Sichtweise ihrer Würde beraubt, sozusagen auf das atomistische Reflexionsniveau reduziert. "Aus der überragenden Stellung selbständiger, mit Eigenleben und Sonderbestimmung begabter Gesamtpersönlichkeiten werden sie herabgedrückt zur bescheidenen Rolle von Zweckvereinigungen, die lediglich berufen sind, den Interessen der Individuen zu dienen 17." Das durch den Geist des Nominalismus in seinen FordeIS Jacques LeGojf, Die Intellektuellen im Mittelalter, 2. Aufl., aus dem Französischen, Stuttgart 1987, S. 96. Ausgesprochen modem sei der Satz von Thomas von Aquin: Gratia non tollit naturam sed perficit (ebd., S. 97). 16 Karl Pribram, Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie, Leipzig 1912, S. 15. Vgl. dazu auch Edward Conze, Social Origins of Nominalism, in: Modem Quarterly 1937, S. 115 ff.; Paul Honigsheim, Zur Soziologie der mittelalterlichen Scholastik (Die soziologische Bedeutung der nominalistischen Philosophie), in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, 11. Bd., hrsg. von Melchior Palyi, München/Leipzig 1923, S. 173ff. 17 Ebd., S. 6.
2 J. B. Müller
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rungen legitimierte Individuum erblickt in den Entitäten Staat und Gesellschaft nun Institutionen, die ausschließlich seinen egoistischen Zwecken zu dienen haben. Der Einzelne tritt nun mit dem Anspruch auf, "seine Interessen und Zwecke selbständig zu bestimmen, die Kollektiva, denen es sich bisher schlechthin als dienendes Glied eingeordnet habe, bloß als Mittel zur besseren Erreichung seiner Sonderzwecke zu erfassen 18." Auch für Alfred von Martin ist die "Wendung der scholastischen Philosophie zum Nominalismus ... der Ausdruck der Auflösung von ,Gemeinschafts'- in ,Gesellschafts'-Bewußtsein 19." Diese Auflösung geschieht im Interesse des emanzipationswilligen Individuums, das den Staat dem einzelnen nachordnet. "Der Nominalismus ,bedeutet', daß das Ganze erst durch Zusammentritt von Individuen entstehe 20 ." Die mittelalterliche Theologie hat noch in einem anderen Sinne dem individualistischen Staats- und Gesellschaftsgedanken Sukkurs verliehen. Der individualistische Grundgedanke ist nicht zuletzt in der Mystik dominant geworden. Im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht das Verhältnis des Einzelnen zu Gott. Sie bewegt sich eindeutig innerhalb eines theologischen Denksystems, in dem der Gedanke der kirchlichen Anstalt hinter das religiös geprägte Individuum zurücktritt. In wie starkem Maße in der Mystik genuin individualistische Denkmomente zu berücksichtigen sind, darauf hat Alfred von Martin nachhaltig aufmerksam gemacht. "Immanent verbandsfeindlich ... war auf dem Gebiet des unmittelbaren religiösen Fühlens die Mystik 21 ." Der der Mystik zugrunde liegende Gedanke der "religiösen Autarkie des Individuums 22" beraube vor allem "die Kirche als Sakraments- und Gnadenanstalt ihrer Unentbehrlichkei~23." Die Besinnung darauf, welche protoliberalen Bestimmungsmomente in der mittelalterlichen Denk- und Lebenswelt zu konstatieren sind, muß auch darauf zu sprechen kommen, daß repräsentative Vertreter der Scholastik dem demokratischen Ordnungsgedanken Reverenz erwiesen haben. Insbesondere Thomas von Aquin kann als Denker angesehen werden, der für die Ausgestaltung des demokratischen Politikideals entscheidende Anstöße gegeben hat. Bei ihm findet sich insbesondere der Gedanke der Volkssouveränität. Peter Tischleder hat in einer tiefenscharfen Studie darauf aufmerksam gemacht, daß Thomas von Aquin an diesem Punkte durchaus als Vorläufer der neuzeitlichen Volkssouveränitätslehre 18 Ebd.
19 Alfred von Martin, Geist und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1948, S. 60. 20 Ebd. Alfred von Martin weist darauf hin, daß nicht nur der Staat, sondern auch die Kirche durch den Nominalismus in einem individualistischen Sinne umgedeutet wird. Für den Nominalismus sei auch die "Kirche nur ein Sammelname ... nur eine Zusammenfassung der sämtlichen unter dem Allgemeinbegriff Kirche subsumierten Einzelglieder" (ebd.). 21 Ebd., S. 61. 22 Ebd. 23 Ebd. Vgl. dazu auch lose! de Vries S. l., Die Erkenntnislehre des Franz Suarez und der Nominalismus, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie
19 (1944), S. 321 ff.
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anzusehen ist. Der Aquinate sehe "das die Staatsgemeinschaft bildende Volksganze als natürlichen Träger der Staatsgewalt in seiner Eigenschaft als der natürliche Nutznießer des Gemeinwohls 24" an. Er habe der "tota multitudo als vernunftbegabter Gesamtperson, die sich ja aus lauter vernunftbegabten, wahlfreien Personen zusammensetzt 25", das Recht zugesprochen, sich auch im politischen Bereich selbst zu bestimmen. Damit sei ohne Einschränkung "die Gesamtperson der staatlichen Gemeinschaft nicht nur als Objekt, sondern als das naturrechtliche Subjekt der Staatsgewalt"26 konstituiert worden. Ausgesprochen liberalen Geist atmet auch die Widerstandslehre von Thomas von Aquin. Tischleder schreibt in diesem Zusammenhang: "Mit aller Bestimmtheit und Entschiedenheit erklärt Thomas den aktiven Widerstand des Volkes gegen einen Tyrannen für erlaubt; weil er eben als Invasor kein wahrer Vorgesetzter der Bürger ist, hat er keinerlei Recht auf ihren Gehorsam 27." George H. Sabine macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß sich vor allem die Widerstandslehre von John Locke in entscheidendem Maße der Politiklehre des Thomas von Aquin verdankt 28 . Sabine zufolge vertreten beide Denker eine Naturrechtskonzeption, die notwendigerweise das Recht des Volkes zum Widerstand impliziert. "The underlying moral relations between Natural and Human Law are still for Locke substantially what they were for Thomas 29 ." Die demokratischen Denkansätze, die sich bei Thomas von Aquin finden, wurden im Rahmen der scholastischen Schule weiterentwickelt. George H. Sabine macht darauf aufmerksam, daß insbesondere die spanische Spätscholastik den demokratischen Ordnungsvorstellungen des Aquinaten zutiefst verpflichtet ist 30 . Zu den einflußreichsten und bekanntesten Repräsentanten dieser Schule zählt der Jesuit Francisco Suarez. Heinrich Rommen weist darauf hin, daß es entscheidende Parallelen zwischen der Demokratietheorie des Suarez und der Rousseaus gibt 31 . Ihm zufolge ruht bei Suarez "die Staatsgewalt, die mit dem staatlichen Zusammenschluß der Volksgenossen sofort da war, ... rechtlich im staatlich geeinten Volksganzen, das also naturrechtlicher Träger der Staatsgewalt"32 ist. 24 Peter Tischleder, Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule, M .. -Gladbach 1923, S. 86. 25 Ebd., S. 89.
26 Ebd. 27 Ebd., S. 104.
28 George H. Sabine, A History ofPolitical Theory, 3rd Ed., New York 1961, S. 255. Vgl. dazu: "It speaks volumes for the persistence and the pervasiveness of this moral conception of law and government that John Locke, writing four centuries later, could still find no argument more convincing with which to defend the fundamental right of a people to depose a tyrannous roler" (ebd.).
29 Ebd. 30 Ebd., S. 389. 31 Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez S. J., M .. -Gladbach 1926,
S. 111 ff. 32 Ebd., S. 167. 2*
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II. Der Systementwurf des Liberalismus
In wie starkem Maße die spanische Spätscholastik insgesamt demokratischen Geist atmet, darauf hat schon Leopold von Ranke hingewiesen 33. Die Demokratietheorie der spanischen Spätscholastik beeinflußte auch die Politiklehre der Neuzeit entscheidend. Sie wirkte nicht zuletzt auch auf den englischen Demokratismus des 17. und 18. Jahrhunderts ein 34 . Einen entscheidenden Einfluß auf die Ausgestaltung des liberalen Ideenkreises hat nicht zuletzt auch der Protestantismus ausgeübt. Schon Montesquieu hatte der protestantischen Kirche republikanische Tendenzen imputiert 35 . In der wissenschaftlichen Literatur herrscht Übereinstimmung darüber, daß insbesondere die Forderung nach einer autoritätsunabhängigen Auslegung der Bibel genuin liberale Tendenzen in sich birgt. "Free inquiry ... led straight from theological to political criticism 36." Dieses Prinzip der politischen Kritik führt selbstverständlich zu der Forderung nach Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Auch das protestantische Prinzip der allgemeinen Priesterschaft enthält liberal-demokratische Momente. Ihm wohnt nicht nur die Vorstellung der Gleichheit aller Gläubigen, sondern auch die der Staatsbürger inne. Nicht nur die politischen Ordnungsvorstellungen des Liberalismus weisen eine christliche Wurzel auf, auch sein Fortschrittsdenken gründet in christlichen Geschichtsdeutungen. Jegliche Besinnung darauf, welche Geschichtsinterpretation bei der Ausformung des liberalen Progressismus Pate gestanden hat, führt zu der kaum abweisbaren Einsicht, daß das liberale Fortschrittsdenken sich als eine Uminterpretation der christlichen Geschichtsdeutung darstellt. Kein Geringerer als Karl Löwith spricht von der "christlichen Herkunft unseres fortschrittlichen Denkens und Handelns"37. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das das moderne Fortschrittsdenken durchgehend bestimmt, dann ist es die Absicht, die Theologie der Geschichte zu verweltlichten. Aus Augustins procursus zum Gottesreich wird 33 Leopold von Ranke, Die Idee der Volkssouveränität in den Schriften der Jesuiten, in: Abhandlungen und Versuche, Leipzig 1872, S. 225 ff. (Sämtliche Werke, Bd. 24). 34 Mark Goldie, John Locke and the Anglican Royalism, in: Political Studies 31 (1983), S. 61 ff. 35 Montesquieu, De l'esprit des lois. In: Oeuvres completes. Tome 2e, Paris 1880, S.I04. 36 G. P. Gooch, English Democratic Ideas in the Seventeenth Century, 2nd Ed., Cambridge 1967, S. 8. 37 Karl Löwith, Die Idee des Fortschritts, in: Erich Burck (Hrsg.), Die Idee des Fortschritts. Neun Vorträge über Wege und Grenzen des Fortschrittsglaubens, München 1963, S. 22. lmmanuel Kant hat den liberalen Fortschrittsglauben augenfällig auf den Begriff gebracht, wenn er schreibt: "Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich - und zu diesem Zwecke auch äußerlich - vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann ... Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben" (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Immanuel Kants populäre Schriften. Für die Deutsche Bibliothek hrsg. von E. von Aster, Berlin o. J., S. 102).
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bei Turgot und Condorcet die Hoffnung auf eine stetige Aufwärtsentwicklung aller menschlichen Lebensverhältnisse. Letzten Endes geht es der liberalen Fortschrittsideologie darum, das Reich Gottes auf Erden zu etablieren. Die christliche Geschichtsdeutung schlägt um in eine immanentistische Fortschrittshoffnung. Dabei ist es einer der bedeutendsten Züge des liberalen Fortschrittsoptimismus, daß sein theologisches Erbe immer wieder hervorbricht. Das augenfälligste Beispiel hierfür ist nicht zuletzt die angelsächsische Ausprägung des liberalen Ideenkreises. Zu den wichtigsten und interessantesten Fragen der Liberalismusforschung zählt das Problem, ob diese Ordnungsvorstellung eindeutig dem Bürgertum zuzuordnen ist, oder ob im Kontrapunkt dazu der Liberalismus als eine klassentranszendierende Ideologie aufzufassen ist. Bedeutende Gelehrte sind der Auffassung, daß der Liberalismus ausgesprochen bürgerlich-kapitalistischen Geist atmet. Dagegen vertritt Carlton J. H. Hayes die Meinung, nur eine bestimmte Richtung des liberalen Ideenkreises habe sich dem besitzbügerlichen Credo verschrieben. Während der "sectarian liberalism" ausgesprochen kapitalistischen Geist atme, könne dies vom sogenannten "ecumenicalliberalism"38 kaum behauptet werden. Während jener sich vornehmlich auf die Großindustrie und die Hochfinanz stütze, weise dieser einen ausgesprochen klassenneutralen Charakter auf. "That ,ecumenical liberalism' ... drew support from every social class, from nobility and clergy, from bourgeoisie, peasantry, and proletariat" 39. Der Verfasser dieser Studie nimmt in diesem Disput eher eine vermittelnde Stellung ein. Während kaum abzustreiten ist, daß der Liberalismus seine soziale Verankerung vornehmlich im Bürgertum besitzt, muß um der wissenschaftlichen Redlichkeit willen doch auch darauf hingewiesen werden, in wie starkem Maße sich Angehörige anderer sozialer Schichten für die politischen und sozialen Ideale dieser Ordnungsvorstellungen eingesetzt haben. Denis Richet weist darauf hin, daß sich der Liberalismus auch aristokratischer Ursprünge verdankt. Der sogenannte "liberalisme aristocratique"40 ist kaum aus der Geschichte des Liberalismus wegzudenken. In diesem Zusammenhang macht Heinz Gollwitzer auf liberal gesinnte Persönlichkeiten des deutschen Adels aufmerksam. Er schreibt: "Der typische deutsche Whig aus standesherrlichem Haus war liberalkonservativ 41 ." Die liberale Ordnungsidee wurde allerdings nicht nur von Bürgern und Aristokraten akzeptiert und vertreten, sie hatte und hat ihre Anhänger auch in der Arbeiterschaft. Sowohl die sozialdemokratische als auch die sozialliberale und christlichdemokratische Arbeiterbewegung sind Ordnungsvorstellungen ver38 Car/tonJ. H. Hayes, A Generation ofMaterialism, 1871-1900, New York/London 1941, S. 48.
39 Ebd. 40 Denis Richet, La France Modeme. L'esprit des institutions, Paris 1973. 41 Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918, Stuttgart 1957, S. 204.
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pflichtet, die sich dem freiheitlichen Geiste des Liberalismus verdanken. Indem sich diese Richtungen der Arbeiterbewegung dem illiberalen Marxismus verweigerten, haben sie einen entscheidenden Beitrag zum historischen Erfolg der liberalen Ordnungsidee geleistet. 2. Das Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik im Rechts- und Linksliberalismus: Versuch einer Typologie Die liberale Ordnungsvorstellung stellt sich zunächst als ein ideologisches Arrangement dar, das sowohl von rechtsliberalen als auch von linksliberalen Bestimmungsmomenten determiniert wird. Das gängigste Unterscheidungskriterium zwischen diesen beiden Formen des politischen Liberalismus stellt die demokratische Teilhabe dar. Die Rechtsliberalen plädieren für ein limitiertes Wahlrecht, die Linksliberalen für ein uneingeschränktes. Jene wollen den Einfluß des Volkes auf die Politik in möglichst engen Grenzen halten, diese treten für eine unverfälschte Transmittierung des Volkswillens an die Staatsspitze ein. Die Rechtsliberalen und die Linksliberalen unterscheiden sich deshalb notwendigerweise auch in der Frage, ob man dem Einkammer- oder dem Zweikammersystem den Vorzug geben soll. Erblicken die Rechtsliberalen im Zweikammersystem eine Institution zur Zähmung des Volkswillens, so erscheint den Linksliberalen diese Einrichtung als Ausdruck volksfeindlicher Demokratievorstellungen. Diese Unterscheidung des Liberalismus in einen rechtsliberal-elitären und einen linksliberal-demokratischen Strang läßt sich weiter ausdifferenzieren, wenn ökonomische Kriterien in Anwendung gebracht werden. Im wirtschaftlichen Liberalismus standen und stehen sich bis heute eine interventionsfreundliche und eine eingriffsfeindliche Richtung gegenüber. Dabei dient der liberale Interventionismus dazu, das Verteilungsergebnis der Marktkräfte zu korrigieren. Der ökonomische Linksliberalismus fordert eine egalitärere Distribution des Sozialprodukts als der Rechtsliberalismus. Die Unterscheidung des liberalen Ideenkreises in einen politischen und einen ökonomischen Strang führt unweigerlich zu der Frage, was sich für ein Differenzierungsschema ergibt, wenn die Kategorien des Politischen und Ökonomischen zusammengebracht werden, wenn also gefragt wird, welche Stellung die einzelnen Vertreter des Liberalismus zum Problem der Demokratie einerseits und zur Frage der Staatsintervention andererseits einnehmen. Dabei ergeben sich vier Möglichkeiten der Kombination. Ein Liberaler kann zunächst für die Elitendemokratie eintreten und sich zu einer interventionistischen Wirtschaftsordnung bekennen. Dann besteht die Möglichkeit, daß er sich als Anhänger der radikaldemokratischen Idee ausweist und sich zugleich für die Marktwirtschaft ausspricht. Des weiteren kann ein Parteigänger der Elitendemokratie zugleich auch Vertreter der marktwirtschaftlichen Doktrin sein. Als letzte Möglichkeit ergibt sich die Verbindung von politischem Demokratismus und ökonomischem Interventionismus.
3. Die marktwirtschaftliche Elitendemokratie
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Der liberale Ideenlcreis läßt sich demgemäß in die folgenden vier Teilströmungen aufgliedern: 1. die interventionistische Elitendemokratie, 2. den marktwirtschaftlichen Demokratismus, 3. die marktwirtschaftliche Elitendemokratie und 4. den interventionistischen Demokratismus (Sozialliberalismus). Das in Rede stehende Kompositionsprinzip bedingt, daß nur solche Autoren dieser Typologie zugeordnet werden können, die sowohl in ihrem politischen als auch in ihrem ökonomischen Denken dem liberalen Ideenlcreis angehören. Aus diesem Grunde kann beispielsweise Vilfredo Pareto nicht berücksichtigt werden. Bei der Konstruktion seiner Ordnungsvorstellung haben liberale und illiberal-konservative Faktoren in gleicher Weise zusammengewirkt 42 • Aus dem gleichen Grunde muß auch ein Autor wie Mably unberücksichtigt bleiben. Er hat wohl in seiner politischen Lehre einen wertvollen Beitrag zur Theorie des liberalen Parlamentarismus geliefert, spricht sich aber im ökonomischen Teil seines Oeuvres für eine antiliberale, d. h. sozialistische Eigentumsordnung aus 43 •
3. Die marktwirtschaftliche Elitendemokratie (Rechtsliberalismus) Dieser Ideenlcreis, in dem Konkurrenzwirtschaft und Elitendemokratie zu einer wirkkräftigen Ordnungsvorstellung verbunden werden, kann insbesondere im 20. Jahrhundert bedeutende Repräsentanten aufweisen. Dabei weichen die sogenannten "Neoliberalen"44 kaum von ihren Vorläufern des vergangenen Jahrhunderts ab. Immer noch wendet sich der Rechtsliberalismus gegen einen zu großen Einfluß des Volkes auf die Gestaltung der Politik, immer noch ist es ihm darum zu tun, den Einfluß des Volkswillens institutionell zu begrenzen. Dabei lassen alle Repräsentanten der heutigen marktwirtschaftlichen Elitendemokratie keinen Zweifel darüber aufkommen, daß sie das Prinzip der Volkssouveränität ohne alle Abstriche akzeptieren. Das Prinzip des "Divine Right of Kings" 45 repräsentiert rechtsliberaler Auffassung zufolge eine Politikauffassung, die zu Recht von den emanzipatorischen Ideen und Bewegungen der Gegenwart über42 Vgl. dazu Franz Neumann, "Der ökonomische Liberalismus kann sich mit jeder politischen Theorie verheiraten. Paretos ökonomische Theorie ist sicher liberal, seine Politik nicht nur absolutistisch, sondern sogar autoritär" (Ökonomie und Politik im zwanzigsten Jahrhundert, in: Zeitschrift für Politik 2 (1955), S. 3). 43 Vgl. dazu Iean Touchard, Histoire des idees politiques, Tome 11, 5e edition, Paris 1970, S. 432. 44 Vgl. dazu earl I. Friedrich, The Political Thought of Neoliberalism, in: The American Political Science Review 49 (1955), S. 509 ff.; Henry M. Oliver Ir., German Neoliberalism, in: Quarterly Journal of Economics 74 (1960), S. 117 ff.; Edward N. Megay, Anti-Pluralist Liberalism: The German Neoliberals, in: Political Quarterly 85 (1970), S. 422 ff.; Reinhard Blum, Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik zwischen Neoliberalismus und Ordoliberalismus, Tübingen 1969. 45 Vgl. dazu Northcote Parkinson, The Evolution of Political Thought, New York 1960, S. 28 ff.
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II. Der Systementwurf des Liberalismus
wunden wurde. Aus diesem Grunde verwundert es keineswegs, wenn ein so tonangebender Repräsentant dieses Ideenkreises wie Wilhelm Röpke ohne jegliche Reservatio mentalis im Willen des Volkes die einzige Legitimitätsbasis moderner Politikgestaltung erblickt. Wie der frühere, so würde auch der heutige Liberale "in der Zustimmung des Bürgers die einzige legitime Quelle der Souveränität des Staates"46 sehen. Aus diesem Grunde bejaht der heutige Rechtsliberale auch die Französische Revolution. Ein tief eingewurzeltes Mißtrauen gegen den radikalen Demokratismus schließt also im Rechtsliberalismus die Anerkennung der Leistungen der Französischen Revolution keineswegs aus. Bei ihr handelt es sich Röpke zufolge um "eine Emanzipationsbewegung, deren unvergleichlichem Schwung sich am Anfang nur die hartgesottensten Reaktionäre entziehen konnten"47. Die dauernde Leistung dieses Emanzipationsaktes sei die Befreiung Europas aus den Fesseln der feudalen Unmündigkeit. Alle diejenigen, die diese politische Leistung der Französischen Revolution negieren, erinnert Röpke an die Zeit des Feudalismus und des Absolutismus. "Um so nachdrücklicher muß die Erinnerung an jene vorrevolutionäre Zeit des Machtmißbrauchs, der Willkür, der Unterdrückung, der Ausbeutung und Erniedrigung der von Staat, Adel und Patriziat unterworfenen Menschen wachgerufen werden"48. Die Revolution habe Schluß gemacht mit der "Versklavung des Bauernstandes in weiten Gebieten Europas ... der grausamen Unterdrückung jedes freien und mutigen Gedankens, der Verknechtung des Bürgertums in den deutschen Partikularstaaten, der Klassenjustiz und Klassenbesteuerung, der schamlosesten Bereicherung"49. Die scharfe Ablehnung aller paternalistischen und autoritären Staatsvorstellungen bringt die Repräsentanten des Neoliberalismus notwendigerweise in einen letzten Endes dichotomischen Gegensatz zu konservativen Politikvorstellungen. Aus ihrer Ablehnung der konservativen Staatslehre haben die Neoliberalen nie einen Hehl gemacht. Nicht zuletzt Friedrich August von Hayek hat den Vertretern des Konservatismus angelastet, das Prinzip der Ordnung über das der Freiheit zu stellen. Er schreibt: "Ordnung erscheint dem Konservativen als das Ergebnis 46 Wilhelm Röpke, Maß und Mitte, Erlenbach / Zürich 1950, S. 23. Wie sehr sich Röpke der bürgerlich-antiaristokratischen Ordnung verpflichtet fühlte, geht aus seiner Abhandlung "Goethe und die Industriegesellschaft" hervor (in: Kultur und Wirtschaft. Festschrift zum 70. Geburtstag von Eugen Böhler, hrsg. von der Schweizerischen Gesellschaft für Konjunkturforschung, Zürich 1963, S. 59 ff.). 47 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 5. Aufl., Erlenbach-Zürich 1948, S. 71 f. 48 Ebd., S. 68. 49 Ebd. Röpke verweist allerdings auch auf die Schattenseiten der Französischen Revolution. Im Jakobinismus sind für ihn alle Motive keimhaft angelegt, welche in unserem Jahrhundert zum Totalitarismus führten. Er schreibt: "Wir sollen uns keinen Illusionen darüber hingeben, daß der verhängnisvolle Weg klar überschaubar ist, der vom Jakobinismus der Französischen Revolution zum modemen Totalitarismus führt" (Jenseits von Angebot und Nachfrage, 2. Aufl., Erlenbach-Zürich / Stuttgart 1958, S. 20).
3. Die marktwirtschaftliche Elitendemokratie
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ständiger Pflege durch die Behörde, die zu diesem Zweck die Befugnis haben muß, zu tun, was unter den besonderen Umständen erforderlich ist 50." Die prinzipielle Ablehnung aller konservativen Staatsanschauungen durch den Neoliberalismus läßt nahezu alle führenden Vertreter des Konservatismus in sein kritisches Fadenkreuz geraten. Wilhelm Röpke zufolge gehe es ihnen darum, "das schlechthin Böse der Gewalt und der Herrschaft wieder schmackhaft machen" 51 zu wollen. Er lastet insbesondere de Bonald, de Maistre und Edmund Burke an, die alten Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren. Diese durch und durch reaktionären Autoren gäben "die Notwendigkeit einer funktionellen Hierarchie für die Notwendigkeit einer feudalabsolutistischen Ausbeutungshierarchie" 52 her und versuchten in ihrer reaktionär-antimodernen Verblendung, "im Namen der Soziologie die alten Privilegien" 53 wieder einzuschmuggeln. In wie starkem Maße der zeitgenössische Rechtsliberalismus sich bemüht, sich von allen Gestaltungsprinzipien des Ancien regime zu distanzieren, beweist auch seine intransigente Kritik am Korporatismus 54. Gerade die modern-liberale Lehre von der ungeteilten Staatssouveränität verbiete es, die mühsam errungene Staatseinheit im Sinne des Ancien regime zu dismembrieren. "Wirklicher Korporativismus im demokratischen Staate bedeutet also, daß der Staat seine Souveränität in große Portionen an Wirtschaftsgruppen abtritt"55. Aus diesem Grunde habe der dem liberalen Staatsprinzip verpflichtete Bürger dem Korporatismus den rücksichtslosen Kampf anzusagen. Letzten Endes sei die Organisation des Staates nach dem Berufsverbandsprinzip identisch mit "Gruppenanarchie, Interessenherrschaft, Korruption, Staatszerfall und Privilegienwirtschaft"56. Das uneingeschränkte Bekenntnis des heutigen Rechtsliberalismus zum Prinzip der Volkssouveränität und die grundsätzliche Bejahung der Französischen Revolution bedeutet jedoch keineswegs, daß in diesem Ideenkreis jegliche Ausformung des Demokratiepostulats akzeptiert wird. Die Neoliberalen stehen nicht zuletzt denjenigen Autoren und Bewegungen skeptisch gegenüber, die die unverfälschte Transmittierung des Volks willens an die Staatsspitze fordern. Wilhelm Röpke zufolge begehe man im radikalen Demokratismus den gravierenden politischen Fehler, "die Macht des Volkes mit seiner Freiheit zu verwechseln" 57. Dem genuin 50 Friedrich August von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, aus dem Englischen, Tübingen 1971, S. 485. Hayek kritisiert auch den "antidemokratischen Hang des Konservatismus" (ebd., S.488). 51 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, S. 69. Vgl. dazu auch ders., Zwischen Romantikern und Futuristen, in: Neue Zürcher Zeitung, Femausgabe Nr. 60, 2. März 1965. 52 Ebd., S. 74. 53 Ebd. 54 Vgl. dazu Johann Baptist Müller, Der Korporatismus im Spannungsfeld von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus, in: Zeitschrift für Politik 35 (1988), S. 57 ff. 55 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, S. 153. 56 Wilhelm Röpke, Civitas Humana, Erlenbach-Zürich 1946, S. 96. 57 Wilhelm Röpke, Maß und Mitte, S. 23.
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liberal eingestellten Demokratieanhänger sei es zuvörderst darum zu tun, den Umschlag der Demokratie in die Diktatur zu verhindern. Im Fokus der rechtsliberalen Aufmerksamkeit steht die kaum zu leugnende Gefahr, daß die ungezügelte Volksherrschaft die Freiheitsrechte einzelner Bürger zu gefährden imstande ist. "Gerade das aber fürchtet der Liberale von der Demokratie noch mehr als von jeder anderen Regierungsform, weil der Rausch der Massen und der mystische Glaube, daß das Volk sich selbst nicht knechten könne, leicht Bremsen ausschalten, die sonst wirksam wären, und einem solchen auf der bloßen Masse beruhenden Staat zum hemmungslosen Tyrannen im Innern und zu einem herausfordernden Kriegshaufen nach außen machen können" 58. Um dem gefährlichen Geist des radikalen Demokratismus Einhalt gebieten zu können, bedarf es bestimmter institutioneller Vorsichts- und Abwehrmaßnahmen. An erster Stelle steht dabei der Versuch, den uneingeschränkten Volkswillen durch pluralwahlrechtliche Vorkehrungen zu zügeln. Wilhelm Röpke schlägt in diesem Zusammenhang "eine Differenzierung des Wahlrechts"59 vor. Er ist der Ansicht, daß man "den Familienvätern und den in ihrem Beruf Bewährten mehrere Stimmen geben"60 müsse. Um den Gefahren der radikalen Demokratie besser begegnen zu können, spricht sich auch Friedrich August von Hayek für die Wiedereinführung des Pluralwahlrechtes aus. Dabei ist er der Auffassung, daß eine solche Maßnahme keineswegs gegen den Geist der Demokratie gerichtet ist. "Wenn nur Menschen über vierzig Jahre, oder nur Einkommensbezieher, oder nur Haushaltungsvorstände, oder nur des Schreibens oder Lesens Kundige wahlberechtigt wären, wäre das ebensowenig eine Durchbrechung des Prinzips wie die Beschränkungen, die allgemein üblich sind"61. Hayek schlägt in diesem Zusammenhang auch vor, den Beziehern staatlicher Fürsorgeleistungen das Wahlrecht zu entziehen. "Es kann auch vernünftigerweise argumentiert werden, daß den Idealen der Demokratie besser gedient wäre, wenn etwa alle Staats angestellten oder alle Empfänger von öffentlichen Unterstützungen vom Wahlrecht ausgeschlossen wären"62. Ein an der ökonomischen Leistungskraft orientiertes Pluralwahlrecht schlägt auch Walter Wittmann vor. "Die Stimmabgabe könnte mit den bezahlten Steuern gewichtet werden. Wer keine Steuern bezahlt, geht leer aus, wer am meisten dem Steuerstaat abliefert, erhält die größte Punktezahl"63. Auf diese Weise werde der wirtschaft58 Ebd.
59 Wilhelm Röpke, Civitas Humana, S. 188. 60 Ebd. Schon lmmanuel Kant war der Auffassung, daß Friseure nicht wählen dürfen. Vgl. dazu seine Abhandlung: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Immanuel Kants populäre Schriften. Für die Deutsche Bibliothek hrsg. von E. von Aster, Berlin o. J., S. 69. 61 F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 128. 62 Ebd. 63 Walter Wittmann, Der Steuerstaat. Die Ausbeutung der Fleißigen, München 1986, S.166.
3. Die marktwirtschaftliehe Elitendemokratie
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liehe Erfolg honoriert. Wer politisch etwas zu sagen haben will, müsse zuerst seine Effizienz auf dem ökonomischen Sektor unter Beweis gestellt haben. "Große Steuerzahler verfügen entsprechend über mehr Stimmen als kleine Steuerzahler. Wer politischen Einfluß gewinnen möchte, der muß sich wirtschaftlich so anstrengen, daß er mehr Einkommenssteuer bezahlen darf' 64. Um die schädlichen Auswirkungen des radikaldemokratischen Geistes auf das politische System besser bekämpfen zu können, ist es neoliberaler Ansicht zufolge auch nötig, dem Einkammersystem den Kampf anzusagen. Wilhelm Röpke schlägt deshalb vor, das Zweikammersystem beizubehalten, beziehungsweise dieses wieder zu installieren 65. Einen wirksamen Schutzschild gegen den Radikaldemokratismus stelle auch die "Monarchie oder ein starkes Präsidialsystem"66 dar. Zu den effizientesten Mitteln, die Freiheit der Staatsbürger vor den Übergriffen radikal demokratischer Kräfte zu sichern, gehört neoliberaler Auffassung zufolge auch die föderalistische Verfassung eines politischen Gemeinwesens. Nach Wilhelm Röpke hat der J akobinismus von jeher im "Föderalismus den ärgsten Feind der ,republique une et indivisible' erblickt"67. Aus diesem Grunde gehöre die Forderung nach einem föderalistischen Staatsaufbau "zu den wesentlichen Bedingungen eines gesunden Staates" 68. Der föderalistische Staat erhalte "in der Respektierung der staatsfreien Sphären seine eigene Gesundheit, Kraft und Stabilität"69. Neben einer elitären Ausgestaltung der liberal verfaßten Politie wird im Neoliberalismus auch den Prinzipien der Marktwirtschaft das Wort geredet. Für Wilhelm Röpke ist "das Festhalten am Marktprinzip geradezu die Schicksalsfrage unserer Zivilisation" 70. Aus diesem Grunde werden die Kategorien der Marktwirtschaft und der Planwirtschaft als kontradiktorische Gegensätze begriffen. Es gibt nach Wilhelm Röpke nur die zwei sich ausschließenden Wirtschaftsprinzipien "Autonomie oder Heteronomie"7l. Ein Mittelweg zwischen der auf dem autonomen Prinzip basierenden Marktwirtschaft und der im heteronomen Prinzip gründenden Planwirtschaft ist ausgeschlossen. Nichts könnte die Bedeutung des Gegensatzes zwischen Markt- und Planwirtschaft deutlicher machen als die Tatsache, daß dieser in allen Wirtschaftsperioden zum konstitutiven Prinzip der jeweiligen Wirtschaftsordnung gehörte." Das ist das fundamentale Problem jeder wie immer organisierten Wirtschaft, der Wirtschaft des Pharaonenreiches oder der 64 65
Ebd. Wilhelm Röpke. Maß und Mitte, S. 24.
66 Ebd. 67 68
Wilhelm Röpke. Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 9l. Wilhelm Röpke. Civitas Humana, S. 179.
69 Ebd. 70 Ebd., S. 46. 7l Wilhelm Röpke. Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, S. 166.
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11. Der Systementwurf des Liberalismus
griechischen Polis, der Wirtschaft Robinsons, der Siouxindianer wie der heutigen Industrievölker" 72. Im Gegensatz zur klassischen Nationalökonomie übertragen die Neoliberalen dem Staat jedoch die Aufgabe, Ordnungspolitik zu betreiben. Er hat dafür zu sorgen, daß die Wettbewerbsordnung nicht durch Monopolbildungen außer Kraft gesetzt wird. "Eine echte, gerechte, faire und wohlfunktionierende Wettbewerbsordnung kann ... nicht bestehen ohne einen wohldurchdachtenjuristisch-moralisehen Rahmen und ohne ständige Überwachung der Bedingungen, unter denen sich der Wettbewerb als ein wirklicher Leistungswettbewerb vollziehen muß" 73. Dabei lautet der Hauptvorwurf der Neoliberalen gegenüber dem klassischen Liberalismus, die Notwendigkeit einer derartigen Rahmenordnung sträflicherweise vernachlässigt zu haben. Die Besinnung darauf, wie der Paternalismus des merkantilistischen Wirtschafts systems möglichst schnell und gründlich überwunden werden könne, habe die Repräsentanten der klassischen Nationalökonomie die Gefahren der Oligopol- und Monopolbildung in der liberalen Wirtschaftsordnung übersehen lassen. Ganz auf diesen kritischen Ton gestimmt, schreibt Alexander Rüstow: "Die soziale und wirtschaftliche Katastrophe des wirtschaftlichen Liberalismus war im wesentlichen eine Folge der Absolutheit, mit der er seine Maxime ,laissez faire, laisser passer' ... durchführte. Wir wissen heute, daß der hierbei vorausgesetzte Zusammenfall von Einzelinteresse und Gesamtinteresse nur für einen ganz bestimmten Marktbereich, den der vollständigen Konkurrenz gilt und also nur eintritt, wenn und solange der Staat als Inhaber der Marktpolizei die strenge Einhaltung dieses Bereichs durch die private Wirtschaft sicherstellt. Daß diese Gestaltungsgrenze der Konkurrenzharmonie vom historischen Liberalismus in der Theorie übersehen und in der Praxis überschritten wurde, war die wesentlichste Ursache jenes katastrophalen Scheiterns"74. Die Besinnung darauf, wie eine neoliberale Marktordnung zu gestalten sei, ist dabei keineswegs von einem pragmatischen Geiste beseelt. In ihr tut sich ein Zug dogmatischer Gesinnung kund. Sie weckt und nährt das Vorurteil, daß der Neoliberalismus kaum undogmatischer ausgefallen ist als der sogenannte Paläoli72
Ebd., S. 165.
73 Wilhelm Röpke, Civitas Humana, S. 76. Vgl. dazu auch Walter Eucken, Staatliche
Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv 36 (1932), S. 297 ff. 74 Alexander Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus, 2. Aufl., Bad Godesberg 1950, S. I f. Ähnlich spricht Wilhelm Röpke von einem "fundamentalen Irrtum der altliberalen Harmonielehre" (Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, S. 207). Aus diesem Grunde wendet sich Röpke auch gegen die sogenannten "doktrinären Liberalen" (ebd., S. 184). Diese übersähen, daß "Liberalismus und Kapitalismus ... in der Tat während anderthalb Jahrhunderten mit verhängnisvollen Fehlentwicklungen belastet worden" (ebd.) seien. Von der doktrinären Denkwarte aus gesehen, sei der Liberalismus recht eigentlich am Ende. ,,Aus dem doktrinären Liberalismus ergibt sich schnurstracks der Schluß, daß das Wirtschafts- und Sozialsystem des Abendlandes rettungslos verloren ist - sit ut est aut non sit" (ebd.).
3. Die marktwirtschaftliche Elitendemokratie
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beralismus. So macht sich Wilhelm Röpke anheischig, mit einer geradezu mathematischen Präzision zwischen marktkonformen und marktwidrigen Interventionen in das System der Bedürfnisse unterscheiden zu können. Zwischen dem "liberalen Interventionismus"75, der den Wettbewerb fördert, und dem illegitimsozialistischen, der die Konkurrenzordnung zerstört, verläuft eine genau bestimmbare Grenzlinie. Wilhelm Röpke zitiert ein Beispiel aus der Chemie, um die Möglichkeit einer genauen Grenzbestimmung zwischen den beiden in Rede stehenden Interventionismen unter Beweis stellen zu können. Er schreibt: "Das müssen wir mit derselben Sicherheit wissen, mit der wir, sofern wir Alkohol genießen wollen, Methyl- von Äthylalkohol zu unterscheiden imstande sein müssen"76. Ein wichtiger Topos in der neoliberalen Ordnungskonzeption stellt auch die Ablehnung des modernen Wohlfahrtsstaates dar. Alle neoliberalen Autoren gehen davon aus, daß das heutige System sozialer Für- und Vorsorge dem Geiste der Marktwirtschaft diametral widerspricht. So heißt es bei Wilhelm Röpke: "Der Wohlfahrtsstaat von heute ... ist inzwischen in immer mehr Ländern zu einem Instrument der sozialen Revolution geworden, deren Ziel die möglichst vollkommene Gleichheit der Einkommen und Vermögen ist, und damit ist an die Stelle des Mitgefühls der Neid als das beherrschende Motiv getreten" 77. Zu den besonders negativ zu Buche schlagenden Folgen des modernen Wohlfahrtsstaates gehöre die Lähmung der Eigeninitiative der Bürger. "In der Tat droht die im einzelnen und seiner Selbstverantwortung liegende geheime Triebfeder der Gesellschaft zu erschlaffen, wenn die Ausgleichsmaschine des Wohlfahrtsstaates sowohl die positiven Folgen einer Mehrleistung wie die negativen einer Minderleistung abstumpft" 78. Nicht nur die Eigeninitiative der Bürger wird durch den Wohlfahrtsstaat gelähmt. Er geflihrdet in entscheidendem Maße auch ihre Freiheit. Die "Massenfürsorge" 79 habe letzten Endes eine Entmündigung der Bürger zur Folge. Sie zeitige eine Gesellschaftsordnung, "die die Individualität zugunsten der Kollektivität verdorren läßt und den Menschen schließlich zum Staatssklaven erniedrigt"80. 75
Wilhelm Röpke, Civitas Humana, S. 77.
76 Ebd., S. 78.
Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 216. 78 Ebd., S. 224. Egon Edgar Nawroth hat darauf hingewiesen, daß die prinzipielle Sozialstaatsfeindschaft des Neoliberalismus auf einer nominalistischen Sozialphilosophie basiert. Vgl. dazu seine Abhandlung: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1961, S. 23 ff. Auch F. A. von Hayek zufo1ge ist der liberale Individualismus "ein notwendiges Ergebnis des philosophischen Nominalismus, während die kollektivistischen Theorien ihre Wurzeln in der ,realistischen' ... Tradition haben" (Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, S. 15). 79 WilhelmRöpke, Civitas Humana, S. 255. Vgl. dazu auchF.A. von Hayek: Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: Ordo Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 18 (1967), S. 11 ff. 80 Ebd. 77
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Ins Fadenkreuz der neoliberalen Sozialkritik gerät neben dem Wohlfahrtsstaat auch die keynesianische Wirtschaftspolitik. Wilhelm Röpke zufolge gebührt Keynes der traurige Ruhm, neben Marx und Rousseau als "einer der großen geistigen Ruinierer der Geschichte" 81 agiert zu haben. Die aus seinem Geiste heraus geborene Sozial- und Wirtschaftspolitik habe verheerende Folgen gezeitigt. Ihm sei vor allem die die liberale Gesellschaftsordnung zersetzende Inflation anzulasten. "Es ist in der Tat der Keynesianismus, der entscheidend dazu beigetragen hat, daß die westliche Welt . . . nach dem Kriege mit völlig falscher Frontstellung und unter dem Banner der ,Vollbeschäftigung' in eine Dauerinflation geraten ist"82. Keynes habe mit seiner nationalökonomischen Irrlehre den Reichtum der Nationen eher vermindert als vermehrt. "Wenn es keinen Keynes ... gegeben hätte, so wäre die Wissenschaft der Nationalökonomie gewiß um manches ärmer, aber die Völker wären um so viel reicher, als die Gesundheit ihrer Wirtschaft und Währung weniger durch Inflation gefährdet wäre"83. Keynes wird vom Neoliberalismus nicht zuletzt auch angelastet, den Sinn für das Eigentum verkümmern zu lassen. Mit seiner Auffassung, daß das Sparen in gewissen ökonomischen Perioden eine soziale Untugend sei, habe Keynes der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung den Kampf angesagt. So sei eine ganze Generation "von Nationalökonomen und Wirtschaftspolitikern in der Überzeugung erzogen worden, daß Sparen im besten Falle unnötig sei, schlimmstenfalls aber schädlich" 84. Letzten Endes habe Keynes mit seinen antibürgerlichen Lehren dem Sozialismus in die Hände gearbeitet. "Sind Sparen und Bürgersinn jedoch Feinde des wirtschaftlichen Fortschritts, so kann die Einebnung der Einkommensunterschiede, die die Sozialisten bisher nur unter moralischen Vorwänden gewagt hatten, zugleich als ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft ausgegeben werden"85. Im keynesianisch inspirierten Wohlfahrtsstaat sei es für den Bürger letzten Endes sinnlos geworden, Eigentum für seine Zukunftsvorsorge zu bilden. Zu den effizientesten Vehikeln, auf denen der neoliberale Protest gegen die sozialistische und sozialstaatliche Ordnungsvorstellung vorgetragen wird, gehört ohne Zweifel die Behauptung, zwischen der ökonomischen und politischen Ordnung eines Staatswesens bestünden gesetzmäßige Zusammenhänge. Die sogenannte neoliberale "Interdependenzthese" geht davon aus, daß der liberalen WirtWilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 288. 82 Ebd., S. 259 f. 83 Ebd., S. 259. Es überrascht keineswegs, daß das dem Geiste von Keynes verpflichtete "Gesetz zur Förderung von Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" aus dem Jahre 1967 von den Neoliberalen scharf kritisiert wurde. Vgl. dazu Hans Otto Lenel, Haben wir noch eine soziale Marktwirtschaft?, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 22 (1971), S. 34 ff. und passim. Karl Schiller, neben Franz Josef Strauß einer der Väter dieses Gesetzes, wurde im Laufe der Zeit allerdings zu einem scharfen Kritiker des Keynesianismus der Bundesrepublik. Vgl. dazu Karl Schiller, Der Marsch in den Dirigismus, in: Die Welt Nr. 32,7. Februar 1973. 84 Ebd., S. 258. 85 Ebd. 81
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schaft die Demokratie entspricht und daß die Planwirtschaft im Totalitarismus ihr politisches Pendant hat. Nach Wilhelm Röpke widersprechen sich das freiheitliche Staats system und die sozialistische Planwirtschaft, "da das demokratischliberale Staatsystem seine ökonomische Ergänzung in der Marktwirtschaft, das kollektivistische Wirtschaftssystem ... seine politische Ergänzung im undemokratisch-illiberalen Herrschaftssystem" findet 86 . Die Freiheit ist neoliberaler Ansicht nach unteilbar. Herrscht sie in der Wirtschaft, dann bestimmt sie auch die Politik. Fehlt sie in der Sphäre der Ökonomie, so enträt auch der Staat des liberalen Geistes. "Die ökonomische Diktatur kann auf die Dauer so wenig die politisch-geistige ausschließen wie umgekehrt die politisch-geistige Diktatur die ökonomische. Es ist eine kaum entschuldbare Naivität, zu glauben, daß ein Staat im Bereich der Wirtschaft total sein kann, ohne es zugleich im politischen und geistigen Bereich zu sein und umgekehrt"87. Nur ein irregeleiteter politischer Idealismus könne verkennen, daß diesen Interdependenzen keinerlei Gesetzmäßigkeiten zukomme, übersehen, daß Planwirtschaft und politische Freiheit ihrem tiefsten Wesen nach inkommensurabel sind. Dabei gefährdet nicht nur die Totalplanung, sondern auch die Partialplanung die politische Freiheit. Alle Versuche, einen sogenannten "Demokratischen Sozialismus" verwirklichen zu wollen, werden auf diese Weise in das Reich der politischen Phantasie verwiesen. Demokratischer Sozialismus und Kommunismus unterscheiden sich lediglich darin, "daß der demokratische Sozialismus das kommunistische Programm so weit verdünnt, bis ein solcher gemäßigter Kollektivismus aufhört, ein sofort tödlich wirkendes Gift für den liberal-demokratischen Rechtsstaat zu sein"88. Alexander Rüstow zufolge führt auch der Demokratische Sozialismus "letzten Endes nach Moskau"89. Zu Recht wurde der in Rede stehenden Interdependenzthese angelastet, einer ökonomistischen Politikerklärung zu huldigen. Mit seiner Lehre von der strengen Interdependenz politischer und ökonomischer Ordnung nähert sich der Neoliberalismus einer Doktrin, die er recht eigentlich als seinen Hauptfeind erachtet, dem Marxismus nämlich. Es ist in der Tat wenig überzeugend, dem Marxismus eine panökonomische Politikanlayse anzukreiden und selber in denselben Fehler zu verfallen. Man wird Bruno Seidel kaum widersprechen können, wenn er sowohl im Neoliberalismus als auch im Marxismus eine charakteristische Überschätzung des rein Ökonomischen 90 konstatiert. 86 Wilhelm Röpke, Civitas Humana, S. 67. Die neoliberale These von der Interdependenz ökonomischer und politischer Ordnung findet sich auch bei Milton Friedman. Ihm zufolge "ist die wirtschaftliche Freiheit ein unverzichtbarer Bestandteil bei der Erreichung politischer Freiheit". (Kapitalismus und Freiheit, aus dem Amerikanischen, Stuttgart
1971, S. 27). 87 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, S. 147. 88 Wilhelm Röpke, Maß und Mitte, S. 100. 89 Alexander Rüstow, Rede und Antwort, Ludwigsburg 1963, S. 225. Vgl. dazu auch F. A. von Hayek, Die Ursachen der ständigen Gefahrdung der Freiheit, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 12 (1960/61), S. 103 ff.
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11. Der Systementwurf des Liberalismus
4. Der sozialinterventionistische Demokratismus (Linksliberalismus) Im Gegensatz zum Neoliberalismus 91, der letzten Endes von deutschsprachigen Autoren entscheidend bestimmt wird, gibt sich der Sozialliberalismus der Gegenwart als eine ideologische Familie zu erkennen, die ausgesprochen international zusammengesetzt ist. Neben deutschen und französischen Autoren bestimmen auch angelsächsische Publizisten und Professoren das Gesicht dieser Ordnungsvorstellung. Dabei unterscheidet sich die Ausprägung dieses Liberalismus vom Rechtsliberalismus zunächst dadurch, daß sie ungleich populistischer ausgefallen ist. Das Mißtrauen gegenüber dem Volk ist einem mehr oder weniger uneingeschränkten Vertrauen gewichen. Im Gegensatz zum Rechtsliberalismus votiert der Linksliberalismus für die Volldemokratie. Deshalb entfaltet die Kategorie des Volkswillens in diesem Ideenkreis eine besondere Fruchtbarkeit 92 . So schreibt der Amerikaner Harry K. Girvetz: "The sovereignty ofthe people is inalienable"93. Im Linksliberalismus wird nicht zuletzt Jean-Jacques Rousseau als ein Denker angesehen, dessen Oeuvre wertvolle Theorieimpulse vermittelte. So überrascht es keineswegs, wenn Werner Maihofer den "revolutionären Impuls"94 des Rousseauschen Politikent-
90 Bruno Seidel, Industrialismus und Kapitalismus, Meisenheim am Glan 1955, S. 409. Der Vorwurf des ,Ökonomismus' wird auch von earl Brinkmann erhoben. Vgl. dazu seine Abhandlung: Soziologische Theorie der Revolution, Göttingen 1948, S. 103 und passim. Vgl. dazu auch Friedrich Lenz, Weltwirtschaft und Wirtschaftswissenschaft. Ein Beitrag zur Kritik des Neo-Liberalismus, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, April 1964, S. 193 ff. 91 Führende Vertreter des Neoliberalismus haben keinen Zweifel daran gelassen, daß sie den Sozialliberalismus als ein illegitimes Kind ihrer liberalen Denkfamilie ansehen. Erhard zufolge sei es keineswegs liberal, "mit den Stimmen der FDP einen Sozialisten zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu wählen, der in seiner Partei wesentlich für ihr Langzeitprogramm mitverantwortlich ist." (Ich meine einen anderen Liberalismus, in: Münchner Merkur Nr. 228, 1. Oktober 1976). Erhard wirft dem Sozialliberalismus der Bundesrepublik sogar vor, die neoliberale Denktradition zu verleugnen. "Die ,Liberalen' der heutigen FDP haben trotz ihrer ,Freiburger Parteitagsreden' von einer ,Freiburger Schule' offenbar noch nichts gehört, obwohl in deren Zeichen die angesehensten Denker und Gelehrten eine Gesellschaftsordnung ersannen, die weder sozialistisch noch liberalistisch oder kapitalistisch ist. So stellt sich die FDP als eine Partei dar, die ihre Vergangeneit verleugnet, aber trotzdem keine Zukunft hat" (ebd.). Die FDP übersehe, "daß die Freiheitsbegriffe der Sozialisten und der Liberalen von ihren geschichtlichen Wurzeln her einen unüberbrückbaren Gegensatz in sich tragen" (Die Welt Nr. 218, 18. September 1976). Karl-Hermann Flach hat seinerseits die Rolle Erhards analysiert, die dieser in der CDU gespielt hat (Karl-Hermann Flach, Erhards schwerer Weg, 2. Aufl., Stuttgart 1964). 92 Das ungebrochene Vertrauen in die politische Urteilskraft des Volkes findet sich schon bei Thomas Paine, einem der wichtigsten Vorläufer des sozialinterventionistischen Demokratismus. Vgl. dazu Thomas Paine, Common Sense and other Political Writings, ed. by Nelson F. Adkins, New York 1953. 93 Harry K. Girvetz, The Evolution of Liberalism, London 1963, S. 129.
4. Der sozialinterventionistische Demokratismus
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wurfs nachhaltig lobt. Maihofer zufolge ist überhaupt das Wesenssignum jeder wahrhaft demokratischen Politik die uneingeschränkte Zuversicht in die politische Urteilskraft des Volkes. "Für den Liberalen gilt ... das Prinzip: Vertrauen in das Volk gepaart mit Vernunft"9S. Der politischen Tradition Friedrich Naumanns verpflichtet, weiß sich Werner Maihofer einem Demokratiebegriff verbunden, der die uneingeschränkte Teilnahme aller Bürger an den politischen Angelegenheiten des Staates fordert. Maihofer zufolge zielt der "Demokratische Liberalismus ... auf die Demokratisierung des Staates durch größtmögliche und gleichberechtigte Teilhabe und Mitbestimmung aller Staatsbürger an der Herrschaft im Staate"96. Dabei ist es Pierre Mendes France zufolge vonnöten, daß sich das mündige Volk dauernd um die Angelegenheiten seines Staatswesens kümmert. Politischer Absentismus ist dem Credo des Sozialliberalismus an der Wurzel fremd. "Um eine wirkliche Demokratie aufzubauen, bedarf es der Mitwirkung aller. Es wird keine Demokratie geben, wenn das Volk nicht aus wirklichen Staatsbürgern besteht, die ständig als solche handeln"97. Dieser permanente Aktivismus hat sich allen demokratischen Einrichtungen mitzuteilen; keine politische Institution sollte dem radikalen demokratischen Einfluß entzogen werden. "Der Volks wille kann nur dann triumphieren, wenn das Volk seinen Einfluß direkt innerhalb der ungezählten nationalen und lokalen Organisationen zur Geltung bringt, in denen alle Fragen behandelt werden, die für das öffentliche Leben folgenreich sind" 98. Die radikaldemokratische Grundhaltung des Sozialliberalismus führt bei den Repräsentanten des linksliberalen Ideenkreises nicht zuletzt auch zu einer geharnischten Kritik am Mehrheitswahlrecht. Dabei wird vor allem das englische Wahlsystem getadelt. Es überrascht deshalb keineswegs, wenn insbesondere die englischen Linksliberalen im Rekurs auf so illustre Denker wie John Stuart Mill, L. T. Hobhouse und J. A. Hobson 99 sich für eine Änderung des britischen Wahlrechts aussprechen. So schreibt William Beveridge: "If you really believe in democracy you will think it more important that the Government should represent the views of a majority ofthe people than it should have an unrepresentative large majority in Parliament" 100. 94 Werner Maihofer, Liberale Gesellschaftspolitik, in: Karl-Hermann Flach / Werner Maihofer / Walter Scheel, Die Freiburger Thesen der Liberalen, Reinbek bei Hamburg
1972, S. 27.
9S Interview Werner Maihofers mit der Deutschen Zeitung, DZ 1. März 1974, S. 4. 96 Werner Maihofer, Liberale Gesellschaftspolitik, in: Karl-Hermann Flach / Werner Maihofer / Walter Scheel, Die Freiburger Thesen der Liberalen, S.43. 97 Pierre Mendes France, Frankreich morgen, aus dem Französischen, Neuwied am Rhein/Berlin 1963, S. 47. 98 Ebd. 99 Vgl. dazu Johann Baptist Müller, Liberalismus und Demokratie, S. 188 ff. und passim. 100 William Beveridge, Why lama Liberal, London 1949, s. 13. 3 J. B. Müller
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Führende Repräsentanten des englischen Sozialliberalismus fordern auch eine Reform des englischen Oberhauses. Ihre radikaldemokratische Einstellung führt insbesondere zu einer Mißbilligung der Zusammensetzung dieses Gremiums. Ins Fadenkreuz der Kritik von Jo Grimond geraten nicht zuletzt die erblichen Sitze des Oberhauses. "There is no place for a hereditary second Chamber. The inheritence of a title should give the holder no more right than anyone else to sit in Parliament" 101. Grimond lehnt auch das von konservativer Seite vorgetragene Argument ab, die zweite Kammer sei notwendig, um allzu populistische Beschlüsse des Unterhauses zu konterkarieren. Das Oberhaus stelle vielmehr ein entscheidendes Hemmnis für notwendige soziale und politische Reformen dar. Aus diesem Grunde sei eher eine Machtreduktion dieser Kammer zu befürworten. ,,At present at least, the last thing this country needs is protection against too much change" 102. Das liberal-demokratische Prinzip der Selbstverwirklichung sollte nach sozialliberaler Auffassung nicht nur im Bereiche des Staates realisiert werden. Werner Maihofer zufolge geht es dem Sozialliberalismus auch um "gesellschaftlich erfüllte Freiheit" 103. Hauptaufgabe eines sozial ausgerichteten Liberalismus sei die "Verwirklichung der Freiheit im Alltag der Gesellschaft, in Arbeit und Beruf, in Ehe und Familie" 104. Dabei ist es dem Sozialliberalismus nicht zuletzt um die Demokratisierung der Wirtschaft zu tun. Im Anschluß an Friedrich Naumann erblickt Werner Maihofer in der Schaffung einer demokratischen Betriebsstruktur eines der Hauptanliegen des sozialen Liberalismus. "So wie der klassische Demokratische Liberalismus die Staatsuntertanen des Obrigkeitsstaates von gestern in die Staatsbürger des freiheitlichen Rechtsstaates von heute verwandelt hat, so stellt Friedrich Naumann nunmehr als die ,Gegenwartsaufgabe' eines modernen sozialen Liberalismus den ,obersten Leitsatz' auf: Industrieuntertanen müssen in Industriebürger verwandelt werden" 105. In einer ähnlichen Weise fordert auch Jean-Jacques Servan-Schreiber, den Arbeitern "einen direkten Einfluß auf die Auswahl der Führungskräfte" 106 zu gewähren. Dabei warnen die Sozialliberalen davor, einem Modell das Wort zu reden, das über der Mitbestimmung der Gewerkschaften das Mitspracherecht des einzelnen Arbeiters vergißt. So schreibt KarlHermann Flach: "Der Liberale mag darauf achten, daß diese Mitbestimmung nicht von Großorganisationen usurpiert wird, lediglich zu einer Verlagerung elitärer Macht führt und der Lohnabhängige auf diese Weise entmündigt wird" 107. 101
102 103
Joseph Grimond, The Liberal Challenge, London 1963, S. 110. Ebd., S. 109. Werner Maihojer, Reform des Kapitalismus bleibt Zukunftsthema. Interview mit
der Stuttgarter Zeitung, 29. Mai 1976. 104 105 106
Ebd. Werner Maihojer, Liberale Gesellschaftspolitik, S. 44. Jean-Jacques Servan-Schreiber, Die befreite Gesellschaft. Eine Charte für Europa,
aus dem Französischen, Hamburg 1970, S. 73. 107 Karl-Hermann Flach, Noch eine Chance für die Liberalen. Oder: Die Zukunft der Freiheit. Eine Streitschrift, Frankfurt am Main 1977, S. 35.
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Wie seine ideologischen Vorläufer lO8 , so spricht sich auch der Sozialliberalismus der Gegenwart für eine stetige und effiziente Intervention in das System der Bedürfnisse aus. Wie die Neoliberalen, so kritisieren auch die Sozialliberalen die klassische Nationalökonomie. Im Gegensatz zu jenen ist es aber diesen kaum darum zu tun, dem unverfälschten Marktmechanismus zu seinem Recht zu verhelfen. Ihnen geht es vielmehr darum, Marktwirtschaft und Planwirtschaft in ein vernünftiges, sozial erträgliches Verhältnis zu bringen. Aus diesem Grunde werfen sie der klassischen Nationalökonomie vor allem vor, allzu starr dem Gedanken der Konkurrenzwirtschaft verpflichtet gewesen zu sein. Insbesondere ihre ideologische Abhängigkeit von der klassischen Mechanik habe dazu beigetragen, einem dogmatischen und unsozialen Gesetzesdenken zum Opfer zu fallen. "Orthodox economics was driven by its hedonistic preconceptions into a slavish imitation of the Newtonian science of the seventeenth century, concerned with fixed universallaws and their implications" 109. Die Aufstellung angeblich unveränderbarer Wirtschaftsgesetze diente in erster Linie dazu, Sozialreformen als widernatürlich zu brandmarken und den gesellschaftlichen Status quo aufrechtzuerhalten. "The result of these psychological preconceptions in c1assical economics is that the existing system of property rights and pecuniary incentives is taken for granted" 110. Die Vertreter des heutigen Sozialliberalismus nehmen nicht nur die klassische Nationalökonomie, sondern auch all diejenigen in ihr kritisches Visier, die sich in der Gegenwart zu ihren Postulaten bekennen. Was Wunder, wenn insbesondere Friedrich August von Hayek zur Zielscheibe ihrer Kritik wird. So wirft ihm John Kenneth Galbraith vor, sich in einer dogmatischen, alle sozialen Rücksichten über Bord werfenden Weise dem unverfälschten Konkurrenzprinzip das Wort zu reden. Galbraith schreibt: "Professor Friedrich Hayek emerged as the messiah of a modern and comprehensive rejection of the state" 111. Sozialliberaler Auffassung zufolge vertreten die dogmatisch dem marktwirtschaftlichen Prinzip verschriebenen Nationalökonomen nicht zuletzt einen Freiheitsbegriff, der die Lebensbedürfnisse der Bürger in der modernen Industriegesellschaft sträflich vernachlässigt. In ihrer ideologischen Blindheit übersähen sie, daß ein humaner Freiheitsbegriff recht eigentlich auch die Möglichkeit einschließen müsse, frei von sozialer Not leben zu können. William Beveridge, einer der führenden Vertreter des englischen Sozialliberalismus, schreibt deshalb: ,,Liberty means more than freedom from the arbitrary power of governments. It means freedom from economic servitude to Want and Squalor and other social evils lOS Hier sind vor allem John Stuart Mill und Friedrich Naumann zu nennen. Vgl. dazu lohann Baptist Müller, Liberalismus und Demokratie, S. 185 ff. und 206 ff. 109 Harry K. Girvetz, The Evolution of Liberalism, S. 176.
Ebd. lohn Kenneth Galbraith, The Conservative Onslaught, in: Thought LV (1981), S. 141. 110
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11. Der Systementwurf des Liberalismus
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... A starving man is not free, because till he is fed he cannot have a thought for anything but how to meet the urgent physical needs; he is reduced from a man to an animai" 112. William Beveridge wirft vor allem Adam Smith und David Ricardo vor, diese Variante des Freiheitsbegriffes geflissentlich übersehen zu haben. Die Klassiker des ökonomischen Liberalismus und ihre heutigen Gesinnungsfreunde versperrten sich auch der Einsicht, daß ein von seinem Arbeitgeber total abhängiger Angestellter sich keineswegs derjenigen persönlichen Freiheit erfreue, die der Liberalismus allen Bürgern eines politischen Gemeinwesens verspreche. "A man who dare not resent what he feels to be injustice from an employer or a foreman, lest this condemn hirn to chronic unemployment, is not free" 113. In Übereinstimmung mit dem Engländer William Beveridge ist auch der Deutsche Karl-Hermann Flach der Auffassung, daß ein effizientes Sozialvorsorgesystem die persönliche Freiheit der Bürger entscheidend erweitert. Er schreibt: "Nicht der ist wahrhaft frei, der alle Lebensrisiken selber trägt (und am Ende der Gemeinschaft häufig ziemlich rechtlos zur Last fällt), sondern derjenige, dem die Angst vor unverschuldeter Not, unberechenbaren Risiken und vor dem Alter genommen wird. Die Befreiung von der Existenzangst, soweit menschenmöglich, gehört zu den entscheidenden liberalen Aufgaben in der Massengesellschaft" 114. Karl-Hermann Flach spricht sich in diesem Zusammenhang sogar für die "staatliche Volksrente für alle als Grundsicherung" 115 aus. Diese in Rede stehende Kritik am Marktdogmatismus der klassischen Nationalökonomie führt jedoch keineswegs dazu, daß der Sozialliberalismus dem Wettbewerbsprinzip prinzipiell den Kampf ansagt. Typisches Kennzeichen des Sozialliberalismus ist vielmehr die Verbindung von Markt und Plan. Dieses sozialliberale Mixturn compositum aus unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien unterscheidet sich allerdings entscheidend von der neo liberalen Forderung, die Marktwirtschaft in eine Rahmenordnung einzufügen, die für den Ablauf des Wettbewerbs verantwortlich ist. Konstituens der sozialliberalen Verbindung von sozialstaatlichem Prinzip und marktwirtschaftlichem Bekenntnis ist ein latentes Mißtrauen gegenüber einer Ordnung, in der der Markt zum alleinigen Maßstab einer gerechten Sozialordnung avanciert. Im Gegensatz zum Neoliberalismus glaubt der Sozialliberalismus entscheidend weniger an die Ordnungskraft des Wettbewerbsmechanismus. Der Sozialliberalismus ist grundSätzlich davor gefeit, die Marktgesetze zu deifizieren. Joseph Grimond hat die typisch sozialliberale Verbindung von Marktbekenntnis und Interventionsbejahung auf die folgende einprägsame Formel gebracht. "Liberals favour private enterprise ... But we regard it as a servant" Jl6. 112
William Beveridge, Why lama Liberal?, S. 64.
Jl3
Ebd.
114
Karl-Hermann Flach, Noch eine Chance für die Liberalen, S. 33.
Jl5
Ebd.
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Der Sozialliberalismus der Gegenwart ist in besonderem Maße auch den Ideen von John Maynard Keynes verpflichtet. Er tritt dezidiert für die Globalsteuerung der Wirschaft mit Hilfe des keynesianischen Instrumentariums an. So schreibt Leon H. Keyserling: "We should all admit that to achieve fairly continuous full employment we shall need much more knowledge, experience, effort and cooperation than we have thus far marshaled" 117. Die Repräsentanten des Sozialliberalismus warnen allerdings davor, den sozialreformatorischen Blick nur auf die Globalsteuerung der Wirtschaft zu werfen. Über der Konjunkursteuerung sollte die Gesellschaftspolitik im eigentlichen Sinne des Wortes nicht vernachlässigt werden. Die kollektiven Bedürfnisse der Gesellschaft seien zu unbefriedigt, als daß allen schon eine Konjunktursteuerung im Sinne von Keynes zur Lösung der sozialen Probleme ausreiche. So schreibt Harry G. Girvetz: "Many grossly neglected purposes for which public funds are desperately needed are too important to be regarded as ,residual'. Adequate schools and hospital facilities, urban renewal, ... are too essential to our welfare to be treated as incidental to a program of stabilizing the economy. They should be undertaken because they are needed on their own account, and not beeause or until they give a lift to the economy" 118. Auch Galbraith ruft die Sozialliberalen dazu auf, sich neben der Erhaltung der Vollbeschäftigung um den Ausbau eines effizienten Sozialstaates zu kümmern. "Eeonomic growth does not provide the new and improved public services that are required by a higher level of private consumption or which mark our progress toward a more civilized existence. Nor does economic growth solve the problems of environment and especially of urban environment ... Economic growth does not help those who, for reasons of race, educational deprivation, early unemployment, location, health, age, family situation, mental retardation are unable to participate in the economy and its gains" 119. Aus diesem Grunde sei die Ausweitung der öffentlichen Dienstleistungsbetriebe als die Verwirklichung einer zentralen sozialliberalen Forderung zu betrachten. Das sozialliberale Politikverständnis gewährt sogar der Forderung Raum, die Staatsgewalt erheblich zu verstärken, um auf diese Weise gegen die gesellschaftlichen Partialinteressen erfolgreich Sozialpolitik betreiben zu können. Insbesondere im amerikanischen Linksliberalismus wird die Meinung vertreten, allein ein starker Staat könne ein erfolgreicher Sozialinterventionist sein. So weist Arthur 116 loseph Grimond, The Liberal Challenge, S. 412. Ähnlieh heißt es bei lohn Kenneth Galbraith: "Man muß das System suchen, das marktorientiertes und sozial orientiertes Handeln am besten miteinander verbindet" (Ein Rezept namens Kapitalismus, in: Die Zeit Nr. 44,26. Oktober 1990, S.35). 117 Leon H. Keyserling, A Poliey of Full Employment, in: The New Republie, Oetober 24, 1949, S. 13. 118 Harry K. Girvetz, The Evolution of Liberalism, S. 370. 119 lohn Kenneth Galbraith, Agenda for Ameriean Liberals, in: Commentary 41
(1966), S. 29.
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II. Der Systementwurf des Liberalismus
M. Schlesinger darauf hin, daß die Machtsteigerung des amerikanischen politischen Gemeinwesens dieses instand setze, den Unterprivilegierten wirksam helfen zu können. "Das Wachstum der Zentralgewalt in diesem Jahrhundert hat nicht etwa die Bedeutung des einzelnen Bürgers verringert, sondern im Gegenteil einer Mehrheit von Individuen - Arbeitern - Negern - Angehörigen anderer ethnischer Minderheiten, sogar Intellektuellen - weit mehr Bedeutung verliehen, als sie sonst gewonnen hätten" 120. Eine starke Bundesregierung habe es vor allem vermocht, gegen die Konzentration privater Macht 121 vorzugehen und die Freiheitsrechte der durch den Akkumulations- und Konzentrationsprozeß des Kapital bedrohten Bürgers sicherzustellen beziehungsweise zu gewährleisten. Die moderne Wohlfahrtsbürokratie darf sozialliberaler Auffassung zufolge allerdings nur dazu verwendet werden, sozialreformerische Politik zu betreiben. Die Transformation der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische wird strikt verworfen. An diesem Punkte unterscheiden sich die Sozialliberalen kaum von neoliberalen Autoren wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow 122. Wie die Neoliberalen, so fürchten auch die Sozialliberalen ein allumfassendes bürokratisches System, dem das gesamte Wirtschaftsleben unterstellt und ausgeliefert ist. So schreibt Irwin Ross: "Thoroughgoing planning ... carries the danger of such a sizable growth of bureaucracy as to constitute a drag on freedom. Bureaucrats in every country, under every economic order and every dispensation, have always betrayed an uncontrollable urge to multiply both their numbers and bewildering complexity of rules which order their officials lives Planning inevitably means the proliferation of bureaucracy" 123. Auf dem Grunde einer derartig bürokratisierten Gesellschaft erwachsen totalitäre Staats strukturen. Daß die Totalplanung zum Totalitarismus führe, dafür liefere die Sowjetgesellschaft den schlüssigsten Beleg. "The dangers of bureaucracy, the loss of economic freedom inherent in full socialism, have their corollaries in an invasion of the political freedoms. The process is easy to understand. In an economy that is closely blueprinted from the top down, little flexibility or independence can be allowed to any of the parts I24 ." Auf diese Weise sei der Staat auch in der Lage, die politischen 120 Arthur M. Schlesinger jr., Das erschütterte Vertrauen, aus dem Amerikanischen, BernjMÜllchenjWien 1969, S. 225. 121 Ebd. Schlesinger wendet sich in einem ausgesprochen polemischen Ton gegen alle diejenigen, die von der Ausweitung der Staatsgewalt eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit befürchten. "Die individuellen Freiheiten, die in unserem Jahrhundert durch den Machtzuwachs der Zentralgewalt beeinträchtigt wurden, sind im wesentlichen die Freiheit, unsere natürlichen Hilfsquellen zu plündern und zu vergeuden, die Freiheit, einem Zehntel der Nation seine Bürgerrechte zu verweigern, die Freiheit, kleine Kinder in Fabriken und Einwanderer unter urnenschlichen Bedingungen zu beschäftigen, die Freiheit, Hungerlöhne zu zahlen und barbarische Arbeitszeiten zu verlangen, die Freiheit, in der Werbung und beim Verkauf von Wertpapieren zu betrügen - alles Freiheiten, so möchte man annehmen, die ein anständiges Land entbehren kann" (ebd.). 122 Vgl. dazu S. 27. 123 lrwin Ross, Strategy for Liberals, New York 1949, S. 45 f. 124 Ebd., S. 46 f.
4. Der sozialinterventionistische Demokratismus
39
Einstellungen seiner Bürger zu kontrollieren und zu bestimmen. "The state is ... in possession of all the opinion industries of the country - the newspapers and magazines, radio networks, the cinema, theatre - and every cultural hangover of the ancien regime. With state control of all the channels of communications, it is absurdly to deny their use to persons whose views are suspect\25." Sozialliberalismus und Neoliberalismus stimmen also darin überein, daß Totalplanung zu totalitären politischen Strukturen führt. Weniger Übereinstimmung ist allerdings über die Frage zu erzielen, welche politischen Auswirkungen die Teilplanung zeitigt. Ganz im Gegensatz zu den Neoliberalen halten die Sozialliberalen dafür, daß diese eine wichtige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung überhaupt darstellt. So schreibt Girvetz: ,,For von Mises as for Hayek all interference with the free market, limited or total, interventionist or socialist, is evil. The purpose of intervention, whether for private advantage or public good, whether secretly solicited or openly planned, whether secured through consent or imposed through coercion, is of no matter. The result is the same: brutal dictatorship" 126. Girvetz wirft Mises und Hayek mißbräuchliche Verwendung historischer Fakten, eine zum äußersten getriebene selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit vor. "The truth is that, like Procustes, von Mises and Hayek have been committing mayhem on their victim in order to fit hirn to the size of their bed ... History has been distorted before: the concern is that thus distortion not leave us vulnerable to the real causes of totalitarianism" 127. So sei der Nationalsozialismus ganz im Gegensatz zu der Annahme der in Rede stehenden neoliberalen Theoretiker keineswegs das Ergebnis von sozialpolitischer Planung, sondern das eindeutige Resultat von Planungsfeindschaft und Interventionsabstinenz. "German Nazism ... was bred primarily of the widespread insecurity produced by mass employment and mass deprivation" 128. Sobald man die Demokratie aus ihren ökonomischen Grundlagen heraus verstehe, werde man notwendigerweise zu der Ansicht gelangen, daß stabile ökonomische und soziale Verhältnisse die beste Grundlage für ein florierendes demokratisches Gemeinwesen sind. Nicht zuletzt die planerische Aktivität des Staates trage das ihrige dazu bei, die Demokratie auf eine stabile ökonomische Basis zu stellen. Planung sichere die Demokratie, zerstöre sie nicht. "Totalitarianism is much more likely to result from a policy of nonintervention and inaction, of stubborn reliance on a market which fails to perform the functions imputed to it in the dreams of the devout and orthodox. In the final analysis, modem totalitarian govemment is the desperate political recourse of a social order, which, by failing to fully exploit its productive potentialities, is not justifying itself economically" 129. Während die Totalplanung die politische Freiheit im Keime ersticke, sei die Teilplanung als 125
126 127 128 129
Ebd., S. 47.
Harry K. Girvetz, The Evolution of Liberalism, S. 284.
Ebd., S. 285. Ebd. Ebd., S. 287.
11. Der Systementwurf des Liberalismus
40
unabdingbare Voraussetzung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung anzusehen. "That is the logic of the Mixed Economy approach. It provides the economic underpinnings for political freedom in the modem state. By stressing economic multiplicity, it prornotes political flexibility. By diffusing economic power, it safeguards freedom in every hamlet" 130. Das uneingeschränkte Bekenntnis des Sozialliberalismus zur sozialen Interventionsaktivität des Staates führt notwendigerweise auch zu der Frage, in welchem Verhältnis diese Ideologie zur Sozialdemokratie steht. Viele Sozialliberale haben nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sich ihre Ordnungsdoktrin kaum vom Demokratischen Sozialismus unterscheidet. Kein Geringerer als John Kenneth Galbraith hat auf seine ideologische Verwandtschaft mit dem Demokratischen Sozialismus europäischer Provenienz hingewiesen. Der "amerikanische Liberalismus" 131 habe "durch eine Berücksichtigung der Kritik am Kapitalismus zu einem großen Teil das Anliegen der europäischen Sozialdemokraten einbezogen" 132. Aus diesem Grunde gerate er in den USA in Gefahr, zu den Sozialisten gerechnet zu werden. "Es macht mich immer nervös, wenn ich in den Vereinigten Staaten als Sozialist bezeichnet werde" 133. Dagegen habe er kaum etwas einzuwenden, wenn er in Europa dem sozialistischen Ideenkreis zugerechnet wird. ,,Nennt man mich hingegen in Europa einen Sozialisten, bringt mich dies viel weniger aus dem Konzept, weil eben der amerikanische Liberalismus tatsächlich viele Züge mit der europäischen Sozialdemokratie gemeinsam hat" 134. Ganz im Gegensatz zu John Kenneth Galbraith haben sich andere führende Repräsentanten des Sozialliberalismus jedoch verwahrt, in die Nähe des Sozialismus gerückt zu werden. Nicht nur zwischen dem Marxismus und dem Linksliberalismus, sondern auch zwischen dem Demokratischen Sozialismus und dem Linksliberalismus bestünden unüberbrückbare politisch-ideologische Gegensätze. Im Kontrapunkt zu John Kenneth Galbraith lehnte es etwa John Maynard Keynes ab, mit den Sozialisten der Labour Party gemeinsam politische Sache zu machen. Als Mitglied der bürgerlichen Klasse könne er kaum einer politischen Partei beitreten, die die Interessen des Klassenfeindes vertritt. ,,sollte ich mich dann der Labour Party anschließen? Oberflächlich gesehen ist es verlockender. Bei näherem Hinsehen zeigen sich aber große Schwierigkeiten. Zunächst ist es eine Klassenpartei, und die Klasse ist nicht meine Klasse. Wenn ich überhaupt Sonderinteressen verfolgen will, so werde ich meine eigenen verfolgen" I35. Im Falle
131
bwin Ross, A Strategy for Liberals, S. 50. lohn Kenneth Galbraith, Geschichte und Krise des Liberalismus, in: Was heißt
132
Ebd.
130
"liberal"? Eine Frage - sieben Antworten, hrsg. von Alfred Blatter, Basel 1969, S. 17. 133
134 135
Ebd.
Ebd., S. 17 f. lohn Maynard Keynes, Bin ich ein Liberaler?, in: Politik und Wirtschaft. Männer
und Profile. Ausgewählte Abhandlungen von John Maynard Keynes, aus dem Englischen, Tübingen / Zürich 1956, S. 246.
5. Linksliberalismus, Rechtsliberalismus und Konservatismus
41
einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem Bürgertum und dem Proletariat würde er sich eindeutig und bedenkenlos auf die Seite der Besitzenden schlagen. "Ein Klassenkrieg würde mich auf der Seite der gebildeten Bourgeoisie finden" 136.
5. Linksliberalismus, Rechtsliberalismus und Konservatismus Das liberale Denken, das einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft das Wort redet, stand von Anfang an in einem besonderen Spannungsverhältnis zur konservativen Ordnungsvorstellung. Auch die heutigen Repräsentanten des Liberalismus stehen einer Ideologie eher skeptisch gegenüber, die sich den Werten der Tradition und der Autorität in besonderem Maße verpflichtet fühlt. Nicht zuletzt die Vertreter des Sozialliberalismus haben augenfällig auf die Differenzen hingewiesen, die sie von der konservativen Ordnungsvorstellung trennen. Insbesondere John Maynard Keynes entwickelt und entwirft ein Konservatismusbild, das einen überzeugten Linksliberalen notwendigerweise zur Zurückweisung aller konservativen Sozial- und Politikprinzipien zwingt. Sein sozialliberales Credo widerspreche nicht nur dem Kollektivismus der Labour Party, sondern auch demjenigen der Tories. "Wie könnte ich mich dazu bringen, ein Konservativer zu sein? Sie bieten mir weder Speise und Trank, weder geistige noch seelische Tröstung. Ich würde weder erheitert, erregt noch erbaut werden. Das, was ihrer Atmosphäre gemeinsam ist, ihre geistige Haltung ... fördern weder mein Selbstinteresse noch das öffentliche Wohl. Es führt nirgends hin; es befriedigt kein Ideal; es entspricht keinerlei geistigem Maßstab; es ist nicht einmal sicher oder darauf berechnet, daß es gegen Verderben den Grad von Gesittung bewahren wird, den wir schon erreicht haben" 137. Dabei gibt es durchaus auch Repräsentanten des Sozialliberalismus, die dem Konservatismus weitaus freundlicher gegenüberstehen, als dies bei John Kenneth Galbraith der Fall ist. So weist Harry Girvetz darauf hin, daß es die historische Leistung der Konservativen gewesen sei, die Menschen auf die Bedeutung der Tradition aufmerksam gemacht zu haben. Die konservative Bewegung und ihre Ordnungsvorstellung stelle ein wichtiges Korrektiv des oft allzu traditionsfeindlich einherkommenden Liberalismus dar. "Conservatism is a useful and important counterpart to liberalism. We need conservatives to alert us to the continuity of history and the role of tradition in human affairs 138. " Der Konservatismus sei nicht nur als eine legitime Ideologie und politische Bewegung anzusehen, weil er die Menschen an die Bedeutung der Tradition für das gesellschaftliche und politische Leben erinnert. Er beziehe seine Legitimation auch durch seinen Kampf gegen eine allzu rationale Ausgestaltung der Politie. 136 137 138
Ebd. Ebd.
Harry K. Girvetz, The Evolution of Liberalism, S. 380.
42
11. Der Systementwurf des Liberalismus
Girvetz zufolge steht nicht zuletzt der Linksliberalismus in der Gefahr, einer zerebralisierten Ausgestaltung der Lebenswelt das Wort zu reden und die Werte des Irrationalen zu gering zu veranschlagen. Aus diesem Grunde könne kaum auf den Konservatismus als notwendiges Korrektiv verzichtet werden. Allein seine Parteigänger böten die Gewähr, daß der Rationalismus nicht vollständig siege. "We need them to remind us of what the liberal and oldstyle radical often ignore: that man is not a completely rational animal and that we must address ourselves to his heart as weIl as his head, and reckon with his feelings as weIl as his cool, calm calculation of consequences. We need conservatives to warn us, also, that in human affairs the consequences are not easily calculated" 139. Dem Konservativismus gereiche es nicht zuletzt zum Verdienst, die Menschen auf die Defizienzen des Marktmechanismus aufmerksam gemacht zu haben. Auf diese Weise habe dieser Ideenkreis entscheidend dazu beigetragen, dem modernen Sozialinterventionismus vorzuarbeiten 140. Es sei die historische Leistung vieler europäischer Konservativer, sich als Anwalt des Wohlfahrtsstaates geriert zu haben. "In Great Britain and West Germany conservatives have avoided preaching anarchic individualism and an abdication of responsibility by government" 141. In Deutschland hatte nicht zuletzt Friedrich Naumann darauf hingewiesen, daß er der Kapitalismuskritik einiger konservativer Persönlichkeiten keineswegs verständnislos gegenübersteht. Insbesondere der Antikapitalismus des sogenannten ,,konservativen Sozialismus" 142 stieß auf sein Wohlwollen. Mit den Kapitalismuskritikern innerhalb des konservativen Lagers verband Friedrich Naumann das Ziel, "staatserhaltende Politik und religiöse Gesinnung mit Arbeiterfreundlichkeit zu verbinden" 143. Wie im Sozialliberalismus, so ist auch im Neoliberalismus das Verhältnis zum konservativen Ideenkreis weit davon entfernt, präzise bestimmt zu sein. Neben scharfen Zurückweisungen konservativer Denktopoi fehlen auch Hinweise auf ideologische Übereinstimmungen zwischen den beiden in Rede stehenden Ideenkreisen keineswegs. Was die Betonung der scharfen Trennungslinien zwischen Liberalismus und Konservatismus anlangt, so war es nicht zuletzt Wilhelm Röpke darum zu tun, auf die unterschiedlichen Gesellschafts- und Staatsauffassungen beider Ordnungsvorstellungen hinzuweisen. Röpkes scharfe Kritik an den Politikvorstellungen von de Bonald, de Maistre und Burke 144 deuten darauf hin, daß es ihm darum zu tun ist, sich vom konservativen Ordnungsdenken scharf abzugrenzen. Sein Antikonservatismus kommt nicht zuletzt auch in seiner rigorosen Ebd. Erwähnt werden in diesem Zusammenhang Bismarck und Disraeli, S. 38l. 141 Ebd. 142 Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum. Berlin-Schöneberg 1900, S. 107. 143 Ebd. Vgl. dazu auch Friedrich Naumann, Was heißt Christlich-Sozial?, 2. Heft, Leipzig 1896, S. 30 ff. 144 Vgl. dazu S. 67 ff. 139
140
5. Linksliberalismus, Rechtsliberalismus und Konservatismus
43
Zurückweisung der Gesellschafts- und Politiklehre von Othmar Spann zum Ausdruck. Der Wiener Soziologe habe in seiner ideologischen Verblendung "einen großen Teil der deutschen akademischen Jugend zu einem romantischen Totalitarismus und Nationalismus" 145 verführt. Seine genuin liberale Grundhaltung stellt Wilhelm Röpke auch in seiner geharnischten Kritik an der sogenannten "Konservativen Revolution" Deutschlands unter Beweis. Insbesondere der sogenannte Tat-Kreis gerät in sein kritisches Visier. In einer ausgesprochen aggressiven Sprache läßt er sich folgendermaßen über diesen Kreis aus: "Das Muster eines ... parfümierten Nationalsozialismus wurde von einem Kreise hysterischer Literaten geliefert, die allmonatlich in der Zeitschrift ,Tat' einen gierig aufgenommenen Gedankenbrei verabreichten, in dem sich Nietzsche, Spengler, Sombart und anderes gleicher Art mit dem Stil der Jugendbewegung mischten" 146. Die genuin konservativen Denktopoi dieses Intellektuellenverbandes summierten sich Röpke zufolge zu "einem Irrationalismus schlimmster Art" 147. In seinen Ordnungsvorstellungen kristalliere sich das Negativbild einer liberalen Gesellschaft, seine Mitglieder hätten allen freiheitlichen Politikvorstellungen rigoros den Kampf angesagt. ,,Er predigte den Kniefall vor den Mythen der Nation, des Staates, der Masse und der Macht und die Verachtung der wirtschaftlichen Wohlfahrt und der Prinzipien, die sie verbürgen" 148. Die führenden Repräsentanten des konservativen Ideenkreises werden auch bei Röpkes Gesinnungsfreund Alexander Rüstow einer schonungslosen Kritik unterzogen. Auch für den Heidelberger Kultursoziologen und -philosophen ist die Frage nach dem Wesensgehalt dieser Ideologie untrennbar mit der Einsicht verknüpft, daß es dem Konservatismus letzten Endes um die Perpetuierung geschichtlich überholter Herrschaftsverhältnisse gehe. Der Konservatismus führe ein nostalgisch-historisches Exerzitium hohen Ranges vor, in dem den Freiheitsbestrebungen der Menschen rigoros der Kampf angesagt werde. Selbst bei Edmund Burke findet sich Rüstow zufolge ,jene naive Selbstgerechtigkeit in der Verteidigung feudaler und großbürgerlicher vested interests, deren hohltönendes Pathos und deren schielender Augenaufschlag uns den Konservatismus so schwer erträglich macht" 149. Letzten Endes handele es sich bei jeder Form konservativer Ideologie um eine politische Ordnungsvorstellung, die von "prälogisch-emotionalen Denkgesetzen" 150 entscheidend bestimmt sei. Ihre Ablehnung des rationalen Liberalismus gehe notwendigerweise einher mit einer radikalen Verurteilung aller demokratischen Ordnungsvorstellungen. Insbesondere in der sogenannten 145
146 147 148
Wilhelm Röpke, Die deutsche Frage, Erlenbach-Zürich 1945, S. 167.
Ebd., S. 71. Ebd., S. 72. Ebd.
Alexander Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kritik, 3. Bd.: Herrschaft oder Freiheit?, Erlenbach-Zürich / Stuttgart 1957, S. 201 f. 150 Ebd., S. 205. 149
II. Der Systementwurf des Liberalismus
44
Konservativen Revolution würden "die modernen demokratischen Verhältnisse in Bausch und Bogen" verdammtl 51 • Diese in Rede stehende rigorose Zurückweisung genuin konservativer Topoi, die radikale Kritik an den führenden Vertretern der konservativen Ordnungsvorstellung sollte allerdings keineswegs die Augen vor dem Tatbestand verschließen, daß im Neoliberalismus durchaus auch als konservativ zu bezeichnende Strukturmomente auszumachen sind. So findet sich nicht zuletzt bei Wilhelm Röpke bei allem grundsätzlichen Nominalismus 152 eine Sichtweise von Staat und Gesellschaft, der realistisch-gemeinschaftsbetonte Bestimmungsmomente keineswegs fremd sind. Röpke fordert unmißverständlich und unnachgiebig in einer ganz und gar unliberalen Weise dazu auf, von "bestimmten Prinzipien sozialphilosophischer Art" 153 abzurücken. Dazu zählt er Utilitarismus, Progressismus, Säkularismus, Rationalismus und Optimismus 154. Letzten Endes könne die Gesellschaft ganz im Gegensatz zu den Annahmen der liberalen Klassiker "als Ganzes ... nicht auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage aufgebaut werden, weil es ja auch seit Burke immer beste konservative Überzeugung gewesen ist, daß der Mensch mehr ist als eine Aktiengesellschaft" 155. Zu den Hauptfehlern des Liberalismus gehöre es überhaupt, eine gemeinschaftsfeindliche Sozialkonzeption in die Wirklichkeit umgesetzt zu haben. Röpke wirft dem Liberalismus vor, in einer kaum zu radikalisierenden philosophischen Blindheit das "freischwebende atomistische Individuum zur Grundlage der Wirtschaft" 156 gemacht und dabei die "unentbehrlichen Bindungskräfte der Familie und der natürlichen Gemeinschaften ... als lästige Fesseln" aufgefaßt zu haben 157. Der rationalistisch ausgerichtete Liberalismus sei auch gänzlich unfähig, "den lebendigen Wert der Nation aus jenen Untergründen zu erkennen, deren Entdeckung wir der Romantik und ihren Vorläufern ... verdanken" 158. Ebd., S. 208. Vgl. dazu Egon Edgar Nawroth O. P., Die Sozial- und Wirschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1961. 153 Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 16. 151
152
154
Ebd.
Ebd., S. 131. Aus einer eher konservativen Grundhaltung heraus ist auch Röpkes Kulturkritik geboren. "Aber ist es ,Romantik', zum Widerstand gegen bestimmte Tendenzen unserer Zeit aufzurufen, gegen die Krebswucherung unserer Millionenstädte, gegen die immer eindeutigere Neigung, dem entfesselten Automobilismus ... Dinge zu opfern, die in einer vernünftigen Wertskala vor ihm rangieren sollten?" (Zwischen Romantikern und Futuristen, in: Neue Zürcher Zeitung Fernausgabe Nr. 60,2. März 1965). Konservativ ist auch seine Behauptung, "daß es natürliche und weniger natürliche Daseins- und Berufsweisen gibt und daß Landwirtschaft und Handwerk darin einen Vorsprung haben könnten" (ebd.). 156 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, S. 88. 157 Ebd. 158 Ebd., S. 86. Röpke zufolge sei heute das Etikett "Konservatismus nahezu unverwendbar geworden" (Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 311). Jeder, der sich zu dieser Ordnungsvorstellung bekenne, müsse "auf ärgerliche Mißverständnisse gefaßt sein" (ebd.). In den meisten Ländern sei der Begriff Konservatismus ,,mit unerwünschten Assoziationen belastet" (ebd., S. 308). 155
111. Der Konservatismus als Ordnungslehre Hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir heute noch in Höhlen leben. Würde die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell, befänden wir uns wieder in den Höhlen. Leszek Kolakowski Der Staat beginnt zu kränkeln, wenn sich die Könige wie Besitzer und die Besitzer sich wie Könige aufführen. Antoine de Rivarol
1. Die Genesis des Konservatismus Jede Besinnung darauf, seit wann es überhaupt konservatives Gedankengut gibt, muß sich der Tatsache vergewissern, daß es in jeder Geschichtsepoche Menschen gegeben hat, die sich den Werten der Tradition und der Autorität verpflichtet fühlten. Karl Mannheirn zufolge existiert "eine allgemein menschliche seelische Veranlagung, die sich darin äußert, daß wir am Althergebrachten zäh festhalten und nur ungern auf Neuerungen eingehen" 1. Dieser gleichsam ursprüngliche Konservatismus des Menschen wird von Karl Mannheim als "Traditionalismus" 2 bezeichnet. Der eigentliche Konservatismus dagegen erblicke das Licht der Welt in dem Augenblick, in dem der traditionsbewußt eingestellte Mensch gezwungen ist, sich mit der modemen Gesellschafts- und Politikordnung auseinanderzusetzen. Er entwickle sich also mit dem Übergang von der Statuszur Vertragsgesellschaft. Die Erschütterung des "Ancien Regime" führt also zur Formulierung eines Ideengebäudes, das aus dem Gegensatz zwischen der alten und der neuen Welt deszendiert. Aus diesem Grunde ist der Konservatismus Karl Mannheim zufolge als "modernes Phänomen"3 zu qualifizieren. Seine Modernität besteht in dem Versuch, "gegen das progressive System ein Gegensystem aufzustellen" 4. 1 Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. von David Kettler / Volker Meja / Nico Stehr, Frankfurt am Main 1984, S. 93. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 112. Es gibt durchaus auch Werke, die den Konservatismus nicht für erwähnenswert finden. So kennt William Ebenstein nur den Kommunismus, den Faschismus, den Kapitalismus und den Sozialismus. (Today's isms. Englewood Cliffs N. J. 1970). Auch Hermann Heller ließ in seiner Abhandlung "Die politischen Ideenkreise
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
46
Ob man mit Karl Mannheim der Auffassung ist, daß es die konservative Ordnungsvorstellung erst seit dem Beginn der Neuzeit gibt, oder ob man dagegen die Meinung Klaus Epsteins teilt, es gebe "Konservative . . . seit Beginn der überlieferten Geschichte"5, fest steht, daß von einer konservativen politischen Bewegung erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts gesprochen werden kann 6. Diese richtet sich zuvörderst gegen diejenigen ideologischen und politischen Kräfte, die dem Geiste der Neuzeit verpflichtet waren und dementsprechend der politischen und sozialen Umgestaltung von Staat und Gesellschaft das Wort redeten. Klaus Epstein schreibt in diesem Zusammenhang: "Der Konservatismus als eine zielgerichtete Bewegung hat seine raison d'etre in einer bewußten Opposition gegen die erklärte Absicht der Bewegungspartei, die Gesellschaft in Richtung auf eine säkulare, egalitäre, sich selbst regierende Gesellschaft zu verändern"7. Ganz gegen den Geist des Liberalismus gerichtet, weist das "Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei" darauf hin, daß "der Konservative ... nicht von vornherein alles, was die Vorfahren geleistet haben, als schlecht und unbrauchbar"8 ansieht. Auch wenn der Konservative keineswegs alles zu erhalten bestrebt sei, so werde er "von überstürzten, übereilten Experimenten ... stets Abstand nehmen"9. Eine politische und gesellschaftliche Neuerung werde von den Konservativen grundsätzlich nur dann akzeptiert und legitimiert, "wenn der Nachweis der Notwendigkeit erbracht ist" 10. Wie alle anderen Ideologien und ihre Bewegungen, so kennen auch die konservativen Höhen und Tiefen. Sie wechseln sich bis heute mit den progressiven Kräften in der Vorherrschaft in Staat und Gesellschaft ab. Der Konservatismus schien insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit an Überzeugungskraft eingebüßt zu haben. Für viele kündigte sich ein fortschrittliches Zeitalter an. Dabei waren auch genuiv konservativ eingestellte Autoren der Auffassung, daß den progressiv gesinnten politischen Kräften die Zukunft gehört. Dem Konservatismus trauten sie nur noch eine Korrekturfunktion zu. Ihm sei das Schicksal beschieden, die erfolg- und siegreichen linken Kräfte kritisieren zu dürfen. So schrieb Thomas Molnar im Jahre 1970: ,,zur Zeit müssen wir die Möglichkeit ins Auge fassen, daß die Vereinigten Staaten von Amerika zur Heimat der permanenten Revolution ... werden" 11. Dabei mache es die Gefährlichkeit der der Gegenwart" den Konservatismus unerwähnt. Heller unterscheidet zwischen dem monarchischen, dem demokratischen, dem liberalen, dem nationalen und dem sozialistischen Ideenkreis, Breslau 1926, S. 21 und passim. 5 Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservatismus in Deutschland, aus dem Englischen, Frankfurt am Main/Berlin 1973, S. 14. 6 7
Ebd., S. 16. Ebd.
8 Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei, 4. Aufl., bearb. und hrsg. vom Hauptverein der Deutsch-Konservativen, abgeschlossen am 22. November 1911, Berlin 1911, S.77. 9 Ebd. 10
Ebd.
1. Die Genesis des Konservatismus
47
amerikanischen Linken aus, daß ihre revolutionären Vorstellungen sich aus den Ideen von Hegel und Jefferson 12 speisen. Molnar zufolge sind nicht nur die USA vom Geiste der Gegenkultur bedroht. Auch die europäischen Länder seien in Gefahr, vom revolutionären Geiste des Gauchismus infiziert zu werden 13. Er werde sich über kurz oder lang der gesamten westlichen Welt bemächtigen. "Die Industriegesellschaft erweist sich als geeigneter für die Revolution als die im wesentlichen statischen Gesellschaften Rußlands und Chinas und der Dritten Welt" 14. Daß die politische Zukunft des Westens den progressiven Kräften gehört, dieser Ansicht waren nicht nur konservative Autoren. Auch einige Repräsentanten des linken bzw. linksliberalen politischen Spektrums waren der Auffassung, der Westen falle über kurz oder lang den progressiven Kräften anheim. In Übereinstimmung mit dem Konservativen Thomas Molnar ist der Linksliberale JeanFran~ois Revel der Ansicht, daß die Vereinigten Staaten sich vor einer revolutionären Wende befmden. Er schreibt: "Und nun bricht heute in diesem Amerika, der Tochter unseres Imperialismus, die echte Revolution aus, die Revolution unserer Zeit, und als einzige bringt sie den ersten radikalen, moralischen und praktischen Protest gegen den Nationalismus in Einklang mit der Kultur, der wirtschaftlichen und technologischen Macht und der endlich totalen Zusicherung der Freiheit für alle" 15. Diejenigen Prognostiker, die dem Konservatismus eine düstere Zukunft voraussagten und ihn schon zu den historisch überholten Ideologien gerechnet haben, hatten sich gründlich getäuscht. Schon in den Fünfziger Jahren gab es Stimmen, die eine Renaissance des konservativen Ordnungsgedankens prognostizierten. So sprach Amold Lunn im Jahre 1948 von einer "Gegenbewegung in Religion und Politik" 16. Dabei sei diese von der "trahison des clercs" 17 ausgelöst worden. Die politische Prognose von Amold Lunn sollte sich bewahrheiten. Wenn auch der ideologische und politische Aufstieg des Konservatismus erst dreißig Jahre später einsetzte, so war auf die Dauer an einer ,,konservativen Gegenbewegung" nicht mehr zu zweifeln. Was die Vereinigten Staaten betrifft, so hat der Konservatismus eine besonders beeindruckende Renaissance erfahren. Einer der intellektuellen Wortführer des amerikanischen Neokonservatismus 18 konnte im Jahre 11 Thomas Molnar, Die Linke beim Wort genommen, aus dem Amerikanischen, Stuttgart 1972, S. 116. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Jean-Fram;ois Revel, Uns hilft kein Jesus und kein Marx, aus dem Französischen, München / Zürich 1973, S. 182. 16 Amold Lunn, Die konservative Gegenbewegung in Religion und Politik, in: Schweizer Rundschau. Monatsschrift für Geistesleben und Kultur 48 (1948/49), S. 275. 17 Angespielt wird auf das Buch von Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen, aus dem Französischen, München 1978. 18 Die amerikanischen Neokonservativen unterscheiden sich von den Altkonservativen durch ihre linke Vergangenheit. So schreibt Norman Podhoretz, eines ihrer führenden
48
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
1979 siegessicher feststellen: "I think that American politics has basically been moving to the right since 1970" 19. Der Siegeszug des amerikanischen Neokonservatismus wurde nicht nur von den Repräsentanten des konservativen politischen Lagers festgestellt. Auch Vertreter des liberalen 20 bzw. sozialistischen Amerika gaben ohne Umschweife zu, daß der amerikanische Neokonservatismus einen beeindruckenden politischen Sieg errungen habe. In der führenden linken Zeitschrift "Dissent" schrieb Walter Dean Burnham: "The United States is clearly in the midst of a ,conservative revival'" 21. Die Renaissance des konservativen Denkens und seiner politischen Bewegungen hat sich auch auf dem europäischen Kontinent vollzogen. Was die Bundesrepublik Deutschland anlangt, so haben führende politische Publizisten und Politikwissenschaftler diese Trendwende konstatiert. Ganz gegen den Neokonservatismus eingestellt, schrieb Peter Glotz im Jahre 1984: "Langsam dämmert es auch dem Letzten von uns: Deutschland wird jetzt von rechts regiert; auch Deutschland. Die Linken ... sind verdutzt, sprachlos und verzweifelt"22. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Frankreich 23 sei der Neokonservatismus auf dem Vormarsch. "Die großen Industrieländer des Westens stehen unter neokonservativem Einfluß - das ist die Lage"24. Die Besinnung darauf, welche Gründe zu dieser unerwarteten Renaissance des Konservatismus geführt haben, läßt einige Autoren zu dem Schluß kommen, daß die Abkehr vom Individualismus den Aufstieg des Konservatismus evoziert. Wenn es eine primäre Ursache für den Siegeszug des Neokonservatismus gebe, dann liegt sie nach Daniel Bell in einer tief eingewurzelten Enttäuschung über den Individualismus der Modeme beschlossen. Das kategoriale System der heutigen Ideologielandschaft beginne sich grundlegend zu verschieben; die liberale Modeme habe ihrem ideologischen Gegner zu weichen. In diesem Sinne schreibt Bell: "Ich glaube überhaupt, wir stehen vor einer Wende. Die Erschöpfung des Modernismus, die Dürre des kommunistischen Daseins, die Langeweile des entfesselten Individuums, die Wesenlosigkeit der monolithischen Politparolen
Mitglieder: "All the Neo-Conservatives ... are former Liberals, or Radicals. That is, they, we, are all people who began our political lives somewhere on the Left" (What is Neo-Conservatism?, in: Ideen unserer Zeit, hrsg. von Daniel Frei, Zürich 1987, S. 95). 19 lrving Kristol, Is America Moving to the Right?, in: Dialogue 12 (1979), S. 45. 20 Liberal heißt in diesem Falle linksliberal. 21 Walter Dean Burnham, American Politics in the 1980s, in: Dissent. Spring 1980, S.149. 22 Peter Glotz, "Keine Angst vor Wünschen", in: Der Spiegel Nr. 12, 19. März 1984, S.122. 23 Vgl. dazu auch Thomas Molnar, Frankreichs Geist steht nicht mehr links, in: Zeitbühne 8 (1979), S. 35 ff. 24 Peter Glotz, "Keine Angst vor Wünschen", S. 122.
1. Die Genesis des Konservatismus
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- alles deutet darauf hin, daß eine lange Ära allmählich zu Ende geht"25. Der als unaufhaltsam interpretierte Siegeszug des ,,radikalen Individuums"26 habe seinen Zenit erreicht. Zu den Besonderheiten auch der konservativen Ordnungsvorstellung gehört es, daß sie seit ihrem Beginn verschiedene Strömungen aufweist. Aus diesem Grunde ist es vonnöten, auch diesen Ideenkreis zu unterteilen. Schon für das Jahr 1770 kennt Klaus Epstein drei Hauptströmungen des Konservatismus. Neben dem "Status-quo-Konservativen" kennt Epstein den Reforrnkonservativen und den Reaktionär 27 . Zur Klassifizierung des konservativen Ideenkreises wird auch heute noch eine dreipolige Typologie verwendet. In einer wenig überzeugenden Weise unterscheidet Helmut Schelsky zwischen Altkonservativen, sozialistischen Konservativen und liberalen Konservativen 28 . Der Verfasser dieser Abhandlung ist der Auffassung, daß die systematische Berücksichtigung aller Aspekte des konservativen Ideenkreises eine Typologie erfordert, die zwischen einem atheistischen und christlichen, einem technikbejahenden und einem technikfeindlichen, einem liberalen und einem illiberalen und last but not least zwischen einem marktwirtschaftlichen und sozialen Konservatismus unterscheidet. In diesem Zusammenhang ergibt sich auch die Frage, ob scharf zwischen der konservativen und der rechten Ordnungsvorstellung getrennt werden kann? Dabei ist davon auszugehen, daß eine genaue Grenzlinie zwischen diesen beiden Politikhaltungen wohl kaum auszumachen ist 29. Sehr oft wird diese Linie in einer äußerst willkürlichen Weise bestimmt 30, sehr oft wird in der wissenschaftlichen Literatur aber auch darauf hingewiesen, wie schwierig eine genaue Abgrenzung zwischen den beiden Ordnungsvorstellungen iSP1.
25 Daniel Bell, Kapitalismus und Kultur. Vom Ende des Modernismus, in: Darf der Kapitalismus pleite gehen?, aus dem Amerikanischen, Weinheim 1983, S. 171. 26 Ebd. 27 Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservatismus in Deutschland, S. 19. Vgl. dazu: "Der erste Typus ist der des Verteidigers des status quo. Er ist mit der Welt zutiefst zufrieden, während der Reformkonservative beunruhigt und der Reaktionär verbittert ist" (ebd.). 28 Helmut Schelsky, Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979, S. 21 f. 29 Vgl. dazu Erik von Kuehnelt-Leddihn, Katholischer Glaube - rechts oder links?, in: Critic6n Nr. 14, November / Dezember 1972, S. 265 f. 30 Vgl. dazu Johann Baptist Müller, Liberaler und autoritärer Konservatismus, in: Archiv für Begriffsgeschichte 29 (1985), S. 125 f. 31 Vgl. dazu Johann Baptist Müller, Neue Rechte und Neokonservatismus, in: Evangelische Kommentare 14 (1981), S. 395 ff.
4 J. B. Müller
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
2. Der Konservatismus im Spannungsfeld von Christentum und Atheismus Es ist ein charakteristisches SpezifIkum des neuzeitlichen Geistes, daß er die Lehre des Christentums weitgehend ablehnte, ihr wenig freundlich gesinnt war. Im allgemeinen Bewußtsein verbinden sich bis heute Aufklärung und Religionsfeindlichkeit. Nicht zuletzt die Französische Revolution gab sich dezidiert christentumsfeindlich 32 • Aus diesem Grunde verwundert es keineswegs, wenn antimodem und gegenrevolutionär eingestellte Konservative als Anwalt des Christentums auftraten. In dieser Parteinahme verbirgt sich das Problem, ob die konservative Politikauffassung dem Christentum apriori näher steht als dem Atheismus. Einer der geistreichsten Vertreter des heutigen Konservatismus, Erik von Kuehnelt-Leddihn, hat dieses Problem in der folgenden Frage artikuliert: "Ist der ,rechte' Standpunkt, ist der Konservatismus, eine dem Christentum entgegengesetzte Weltschau, oder ist er mit dem Christentum nicht nur vereinbar, sondern möglicherweise sogar von einer christlichen (spezifIscher gesagt: katholisehen) oder zumindest theistischen Position her logisch (nicht nur emotionell) zwingend, moralisch verpflichtend" 33? Eine Vielzahl von Autoren behauptet in der Tat, daß Christentum und Konservatismus in einem Verhältnis engster weltanschaulicher Ähnlichkeit und Übereinstimmung stehen. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, daß führende Konservative zugleich überzeugte Verfechter des Christentums waren. So geht Alfred von Martin von einer tiefen Wesensverwandtschaft zwischen Katholizismus und Konservatismus aus. Von vielen Vertretern dieser politischen und sozialen Ordnungsvorstellung sei die katholische Kirche zu Recht als die Wahrerin und Vermittlerin genuin konservativer Werte betrachtet worden. Alfred von Martin schreibt: "In der Tat erlangte bald das Schlagwort Werbekraft, daß Reformation und Revolution zusammengehörten, daß nur der Katholizismus ein Hort der Autorität sei" 34. Die ersten bedeutenden Konservativen deutscher Zunge seien Konvertiten gewesen. Alfred von Martin führt in diesem Zusammenhang vor allem Adam Heinrich Müller und Karl Ludwig von Haller 35 an. Dabei habe auch ein führender Vertreter des preußischen Hochkonservatismus, Ludwig von Gerlach nämlich, dem Katholizismus gegenüber großen Respekt gezollt36• Diese in Rede stehende Geistesverwandtschaft zwischen Katholizismus und Konservatismus ist auch in England aufzuspüren. So schreibt Erik von Kuehnelt-Leddihn: 32 Vgl. dazu Hippolyte Taine, Die Entstehung des modemen Frankreich, 2. Bd., aus dem Französischen, Meersburg am Bodensee o. J., S. 307 ff. 33 Erik von Kuehnelt-Leddihn, Katholischer Glaube - rechts oder links?, S. 266. 34 Alfred von Martin, Weltanschauliche Motive im altkonservativen Denken, abgedruckt in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Konservatismus in Europa, Freiburg im Breisgau 1972, S. 143. 35 Ebd. 36 Ebd.
2. Konservatismus im Spannungsfeld von Christentum und Atheismus
51
"Es ist bezeichnend, daß bis vor kurzer Zeit konservatives und antikonservatives Denken in England Hand in Hand mit der religiös-konfessionellen Grundhaltung ging: je ,katholischer' (römisch-katholischer, anglo-katholischer, hochkirchlicher) der politische Denker, desto konservativer, je mehr er in die Richtung des Low Church oder des Dissentertums tendierte, desto antikonservativer und linksdralliger war seine Position 37. Was Frankreich anlangt, so ist ebenfalls eine enge Symbiose zwischen Katholizismus und Konservatismus zu konstatieren. Namen wie de Bonald, de Maistre und Chateaubriand zeigen augenfällig, wie sehr das Bekenntnis zu konservativen Ordnungsprinzipien Hand in Hand gehen kann mit der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Peter Richard Rohden zufolge bemühten sich "de Maistre und Bonald ... die naturrechtlichen Arbeiten des Mittelalters über das Verhältnis der weltlichen und der geistlichen Gewalt den veränderten realpolitischen Verhältnisen ihrer Zeit anzupassen" 38. Diese politische Denkanstrengung habe die "Parallelisierung der politischen und der religiösen Phänomene erleichtert und befördert" 39. Nicht nur Christen des katholischen, sondern auch des protestantischen Bekenntnisses haben sich als Wortführer der konservativen Ordnungsvorstellung einen Namen gemacht. Alfred von Martin zufolge "spielten ... von Anfang an ,Pietisten' und Lutherisch-Orthodoxe in der konservativen Bewegung eine bekannte Rolle"4O. In diesem Zusammenhang darf auch der Beitrag jüdischer Persönlichkeiten zur Ausgestaltung des konservativen Ordnungsbildes nicht unerwähnt bleiben 41 . Erik von Kuehnelt-Leddihn weist daraufhin, daß es stets "auch große Konservative jüdischer Abstammung und jüdischen Glaubens ... gegeben" 42 habe. In dieser Hinsicht muß vor allem Benjamin Disraeli erwähnt werden. Erik von KuehneltLeddihn zufolge läßt sich "aus seinen Reden und Aufsätzen ... eine konservative Schau, ja fast eine konservative Programmatik herausdestillieren"43.
37 Erik von Kuehnelt-Leddihn, Konservative Intellektuelle in der englischsprechenden Welt, in: Konservatismus international, hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Stuttgart
1973, s. 138. 38 Peter Richard Rohden: Deutscher und französischer Konservatismus, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, hrsg. von Walter Strich, 3. Bd., München 1924, S. 114. 39 Ebd. 40 Alfred von Martin, Weltanschauliche Motive im altkonservativen Denken, S. 143. 41 Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller, Determinanten politischer Entscheidung, Berlin 1985, S. 93 ff. 42 Erik von Kuehnelt-Leddihn, Katholischer Glaube rechts oder links?, S. 268. 43 Erik von Kuehnelt-Leddihn, Konservative Intellektuelle in der englischsprechenden Welt, S. 138. Vgl. dazu auch Robert Blake, Disraeli. Eine Biographie aus viktorianischer Zeit, aus dem Englischen, Frankfurt am Main 1980, S. 212 ff. und passim. 4*
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
Als zeitgenössisches Beispiel für die enge Verbindung von Christentum und Konservatismus kann vor allem diejenige politische Gruppierung gelten, die als sogenannte "Abendländische Aktion" sich für eine Erneuerung des Konservatismus aus christlichem Geiste einsetzte. Dabei arbeiteten Katholiken und Protestanten in dieser konservativen Gesinnungsgemeinschaft eng zusammen. Insbesondere das "Manifest der abendländischen Aktion" hat sich dafür ausgesprochen, sich der christlichen Werte der Vergangenheit zu versichern, um auf diese Weise zu einer konservativen Erneuerung der Gesellschaft zu gelangen. Auf der Suche nach ideologischen Ordnungskoordinaten gibt sich die "Abendländische Aktion" als eine Gruppe zu erkennen, deren Blick ausgesprochen rückwärtsgewandt ist. Zu ihren Erwartungshaltungen gehört die Hoffnung, daß die richtungs- und ziellos gewordene Modeme ihren weltanschaulichen Fixpunkt in der vorrevolutionären Zeit finden möge. "Ohne einen Rückgriff auf die Geschichte, ohne eine Besinnung auf den Geist längst vergangener Jahrhunderte bleibt unser heutiges Dasein unverständlich, aber ohne eine solche Besinnung ist es auch dem fortschrittlichsten Denken unmöglich, Maßstäbe zu gewinnen, die der Verteidigung der freien Welt inneren Halt und ein klares Ziel geben"44. Für die Repräsentanten des "Neuen Abendland" ist mit der Abkehr vom christlichen Mittelalter die Proklamation einer illegitimen Emanzipation des Menschen vom ewigen Sittengesetz unmittelbar gegeben. Die Modeme steht bei ihnen im Zeichen einer Autonomieforderung, die der Welt des christlichen Mittelalters unnachsichtig den Kampf ansagt. "Entscheidend fühlt sich der modeme Mensch auf dieser Welt allein, und gerade dieses Alleinsein macht seine Autonomie aus, seine Selbstherrlichkeit und seine Entschlossenheit, diese Welt zu gestalten und ein Leben voll Genuß aus ihr zu schöpfen. Geburt und Tod sind rein diesseitige Vorgänge, die mit einem Schöpfergott nichts mehr zu tun haben"45. Der in Rede stehende Abfall von der gottgegebenen mittelalterlichen Ordnung habe letzten Endes die Errichtung derjenigen politischen Regime der Neuzeit zur Folge gehabt, die dem menschlichen Freiheitsbedürfnis diametral widersprächen. Wenn es eine primäre Ursache für die menschenfeindlichen Repressionssysteme gebe, dann liege sie beschlossen in der Abkehr von der christlichen mittelalterlichen Ordnung. In diesen Regimen komme eine ausgesprochen modeme Sichtweise zu Wort, der Anspruch nämlich, sich von der göttlichen Schöpfungsordnung emanzipieren zu wollen. Gerhard Kroll fragt: "Stehen die Konzentrationslager der Nazis mit ihrer Massenvernichtung der Menschen, stehen die sibirischen Zwangsarbeitslager ... nicht nur historisch, sondern auch logisch am Ende der Neuzeit, sind sie unabweisbare Konsequenzen der modemen, mensch44 Gerhard Kroll, Grundlagen abendländischer Erneuerung. Das Manifest der abendländischen Aktion. Sonderheft Neues Abendland, August 1951, S. 9 f. Von einer ausgesprochen kritischen Warte aus beurteilt Paul Noack diese konservative politische Gruppe (Sämänner, umschwirrt von Fragezeichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Juni 1956). 45 Ebd., S. 11.
2. Konservatismus im Spannungsfeld von Christentum und Atheismus
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lichen Autonomie 46?" Nationalsozialismus und Bolschewismus seien letztlich als das Produkt einer Entwicklung anzusehen, die mit dem Nominalismus des ausgehenden Mittelalters beginne 47 . Der moderne Mensch übersehe geflissentlich, daß diese Schreckensregime recht eigentlich neuzeitlichen Geist atmen. Es wäre Gerhard Kroll zufolge ein gravierender Fehler, über den durchaus vorhandenen positiven Seiten der Neuzeit ihre tragisch-kriminelle Seite zu vergessen. Der heutigen Menschheit ,,konnte es ... verborgen bleiben, daß Nationalsozialismus und Bolschewismus nicht fremde exotische Gewächse im Garten des modernen Menschen sind, sondern vielmehr Früchte, zu denen er selbst den Samen gelegt hat" 48. Auch die kulturpolitische Perspektive von Lord Hailsham ist auf die Behauptung gerichtet, daß allein das Bekenntnis zum Christentum jene Humanität gewährleistet, die das Leben in der modernen Zivilisation vor dem Abgrund in die Inhumanität bewahrt. Die Negierung des Christentums, die die Neuzeit entscheidend bestimme, habe letzten Endes zur modernen Barbarei geführt. Alle diese Greueltaten seien die logische und notwendige Konsequenz des Abfalls vom Christentum. Lord Hailsham schreibt in diesem Zusammenhang: "Für mich jedenfalls besteht ein enger Zusammenhang zwischen ... der bewußten Aufgabe von Religion und Gottesidee und der Rückentwicklung von der Humanität und dem zivilisierten Verhalten des 19. Jahrhunderts. Sie stehen in einem Verhältnis von Ursache und Folge, glaube ich, und sie sind die Wurzel nahe aller Übel, mit denen die Weltordnung gegenwärtig konfrontiert ist"49. Die Moderne gewinne ihre Unmenschlichkeit aus dem Umstand, daß sie die Lehren des Christentums über Bord geworfen habe. Dabei ist Lord Hailsham zufolge insbesondere der politisch motivierte Massenmord unserer Zeit untrennbar mit der Aufgabe der christlichen Religion verknüpft. Will man die Ursachen für diese Greueltaten beschreiben, habe man unweigerlich auf das moderne Neuheidentum zu kommen. "Dieser Trend des menschlichen Denkens, der sich überall in der Welt in Richtung auf eine materialistische oder positivistische Weltanschauung und hinweg von einer religiösen oder sogar idealistischen Philosophie bewegt, fällt zeitlich zusammen mit einem realen, sehr offensichtlichen Rückschritt vom im erasmischen Sinn verstandenen Humanismus des 19. Jahrhunderts - zu den Greueln von Belsen und Buchenwald, den Schrecken von Hiroshima und Nagasaki, der Untat von Budapest und all den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten unseres heutigen Zeitalters" 50.
46 Ebd., S. 10. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 15 f.
49 Lord Hailsham, Wissenschaft und Politik, aus dem Englischen, Düsseldorf / Wien 1961, S. 131.
50
Ebd.
54
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
Wie der Engländer Lord Hailsham, so kritisiert auch der Amerikaner Irving Kristol die modeme Gesellschaft aus einer traditionell-religiös geprägten Denkhaltung heraus. Dabei nimmt er nicht zuletzt die hedonistisch geprägte modeme Konsumgesellschaft in sein kritisches Visier. Christlich geprägte Konservative hätten sich immer schon als hell- und weitsichtige Kritiker dieser Sozietät erwiesen. Gerade eine fundierte konservative Ablehnung der Auswüchse der modemen Konsumgesellschaft erheische, daß man sich der vormodernen Gesellschaftsund Staatsphilosophie versichere. Jeder, der an der Ratio der heutigen Produktions- und Konsumordnung zweifle, stelle damit "auch die politische Philosophie der Modeme in Frage" 51. Damit sei er aber unausweichlich gezwungen, den "langen Weg zurück zu den vormodernen politischen Philosophen"52 zu gehen. Neben Plato und Aristoteles habe er sich dabei nicht zuletzt auch der Christen Thomas von Aquin, Hooker und Calvin zu versichern. Irving Kristol ist dezidiert der Auffassung, daß allen der Rückgriff auf die Denksysteme der vormodernen Sozietät und ihrer Politie jenen Halt vermittelt, dessen wir so dringend bedürfen. Nur auf diese Weise fänden "wir den Grund unter den Füßen, den wir in unserer geistig verarmten Gesellschaft verloren haben, weil wir darauf gebaut haben, daß die bürgerlichen Fundamente unerschütterlich seien" 53. In einer ähnlichen Weise ist auch Michael Novak der Meinung, daß die christliche Religion das Unterpfand einer humanen Gesellschafts- und Staatsordnung ist. Als überzeugter Katholik plädiert Novak dafür, die neokonservative Ordnungsvorstellung mit der christlichen Religion zu verbinden. Gerade ein aus einem konservativen Geiste heraus konzipiertes Gemeinschaftsleben benötige die Religion als "Hauptkraftquelle"54. Im Gegensatz zu den Amerikanern hätten die Europäer diese grundlegende Weisheit weitgehend in den Wind geschlagen. Diese ideologische Selbstverblendung des europäischen Geistes sei allerdings teuer erkauft worden. Die Kultur Europas sieht Novak zufolge so sehr im Zeichen der Christentumsfeindschaft, daß an eine schnelle Umkehr des negativen Trends kaum zu denken ist. Zu den am negativsten zu bewertenden Begleiterscheinungen dieses Verfallsprozesses gehöre ein hypertropher Individualismus. In der antichristlichen Kultur Europas komme "der Mensch nicht mehr über sich selbst hinaus"55 und kreise nur noch um sein eigenes Ich. 5\ lrving Kristol, "Wo alle Tugend nicht mehr zählt" - Betrachtungen über Kapitalismus und "freie Gesellschaft", in: Daniel Bell / Irving Kristol (Hrsg.), Kapitalismus heute, aus dem Amerikanischen, Frankfurt am Main/New York 1974, S. 36. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Michael Novak, Die politische Rolle der Kirchen und die nationale Sicherheit, in: Der Neokonservatismus in den Vereinigten Staaten und seine Auswirkungen auf die Atlantische Allianz, hrsg. von Hans Rühle / Hans-Joachim Veen / Walter F. Hahn, Meile / St. Augustin 1982, S. 302. 55 Ebd., S. 308. Vgl. dazu auch Michael Novak, Religion: Alive and Weil, in: National Review, December 31, 1980, S. 1586 ff.
2. Konservatismus im Spannungsfeld von Christentum und Atheismus
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Die christliche Religion kann allerdings nur dann zum Zeichen einer zivilisationsverändernden Hoffnung werden, wenn sich politische Kräfte finden, die ihre Wirkkraft gewährleisten. In dieser Auffassung wird der Auftrag an die konservativen Parteien der Gegenwart postuliert, die Erneuerung der Gesellschaft aus dem Geiste des Christentums zu betreiben. Gerade die Konservativen haben sich aus diesem Grunde nachhaltig der christlichen Denkweise zu versichern und in ihrem Sinne zu wirken. In diesem Zusammenhang schreibt Lord Hugh Cecil: "Probably no function of Conservatism is more important at the present time than to watch over the religious life of the people in the sphere of politics ... The championship of religion is therefore the most important of the functions of Conservatism. It is the keystone of the arch upon which the whole fabric rests"56. Der Konservatismus kann sowohl in einer christentumsbejahenden Perspektive gesehen werden wie im Blick darauf, daß die christliche Religion eine antikonservative Kraft sui generis darstellt. Damit ist der Anschluß an eine Denkweise gefunden, die dem Christentum vor allem staatsfeindliche und egalisierende Potenzen imputiert. Schon Georges Sorel war der Auffassung, daß der egalisierende Geist des Judentums das Christentum völlig beherrsche. Letzten Endes ziehe auch der modeme Sozialismus seine staats- und gesellschaftszerstörende Kraft aus dieser religiösen Quelle. Sorel schreibt: "La pensee juive, conservee par le christianisme, donne une force irresistible au grand mouvement de protestation que le socialisme conduit contre la societe moderne"57. Die egalisierende Lehre des jüdisch inspizierten Christentums habe nicht zuletzt die englische Arbeiterbewegung nachhaltig beeinflußt. "Les idees juives ont encore une grande importance aujourd'hui; c'est la Bible qui inspire a la grande masse des ouvriers anglais la conception d'une vie conforme a la justice et qui leur fait regarder comme un devoir de travailler a amener la realisation de cet ideal"58. Daß der Geist des Christentums gesellschafts- und staatszerstörende Wirkungen zeitigt, davon war auch Sorels konservativer Landsmann Charles Maurras 56 Lord Hugh Cecil, Conservatism, London / New York o. J., S. 116. Es gibt allerdings auch Konservative, die eine enge Verbindung von Konservatismus und Christentum ablehnen. Nicht zuletzt wenden sie sich gegen die Auffassung, daß das konservative Credo notwendigerweise eine christliche Denkbasis voraussetze. Ohne überzeugte Atheisten zu sein, halten sie dafür, daß die konservative Ordnungsvorstellung einer religiösen Grundierung durchaus entbehren könne. Zu ihnen gehört der Engländer Michael Oakeshot!. Er schreibt: "Konservatives Verhalten ist nicht durch den Bezug auf das Naturrecht, auf von der Vorsehung bestimmte Ordnung, auf Sittlichkeit und Religion zu erklären" (Rationalismus in der Politik, aus dem Englischen, Neuwied / Berlin 1966, S. GerdKlaus Kaltenbrunner ist der Auffassung, "daß in letzter Konsequenz weder die extreme These, das Christentum sei essentiell rechts, noch die ebenso extreme Gegenthese, ein echter Christ könne nicht konservativ sein, haltbar ist". (Wie konservativ ist eigentlich das Christentum?, in: Antichristliehe Konservative. Religionskritik von rechts. Herderbücherei Initiative, Heft 49, hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner, München 1982, S. 91). 57 Georges Sorel, La ruine du monde antique. 3e edition, Paris 1933, S. 289 (Etudes sur le devenir social, Tome XIX). 58 Ebd., S. 288.
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
überzeugt. Dabei gehört es Maurras zufolge zu den Leistungen der katholischen Kirche, dem jüdisch-egalitären Geist zunächst widerstanden zu haben. Ihre am griechischen und römischen Geist ausgerichtete Staatsauffassung habe lange Zeit alle Versuche erfolgreich abgewehrt, das Christentum in den Dienst emanzipatorischer und egalisierender Ideen zu stellen. "La vieille France professait ce catholicisme traditionnel qui, soumettant les visions juives et le sentiment chretien a la discipline re~ue du monde hellenique et romain, porte avec soi I' ordre naturel de l'humanite"59. Dagegen habe das protestantische Christentum dem Geist der Auflösung und der Gleichheit Tribut gezollt. Ganz im Gegensatz zur katholischen Kirche sei die protestantische zum Hort aufrührerischer Ordnungsvorstellungen geworden. Nicht zuletzt der Geist der Revolution sei eindeutig protestantisch inspiriert gewesen. ,,La Revolution est venue d'un tout autre cöte: la Bible de la Reforme, les statuts de la Republique de Geneve, les theologiens calvinistes ... voila les humbles causes des idees qui naquirent dans l'esprit de Rousseau"6O. In Deutschland war es nicht zuletzt Friedrich Nietzsche, der dem Christentum vorwarf, dem Geist des Egalitarismus Vorschub geleistet zu haben. Bar jeglichen Sinnes für Rangunterschiede, habe es all denjenigen sozialen und politischen Kräfte zum Siege verholfen, die eine egalitäre Gesellschaftsordnung anstrebten und verwirklichten. Es sei letztlich auf den nivellierenden Geist des Christentums zurückzuführen, wenn der heutige Bewohner Europas dem Prozeß der Vermassung hilflos ausgeliefert sei. "Menschen, nicht vornehm genug, um die abgründIich verschiedne Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehen - solche Menschen haben, mit ihrem ,Gleich vor Gott', bisher über dem Schicksal Europas gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Herdentier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges herangezüchtet ist, der heutige Europäer"61. Die christliche Sklavenmoral habe nicht zuletzt die politischen Institutionen mit ihrem Ungeist infiziert. Die christlich-egalitäre Lehre entfalte vor allem im modemen Demokratismus eine erstaunliche Fruchtbarkeit. "Die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen"62. Dabei war die Kirche von Anfang darauf aus, der Herrenmoral entgegenzutreten, der Ideologie der Schwachen und Zukurzgekommenen Reverenz zu erweisen. "Und die Starken zerbrechen, die großen Hoffnungen ankränkeln, das Glück in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, Erobernde, Herrschsüchtige ... das stellte sich die Kirche zur Aufgabe"63. Wie Nietzsche, so hält 59 Charles Maurras, Trois idees politiques. Chateaubriand, Michelet, Sainte-Beuve. 6e edition, Paris 1912, S. 10. 60 Ebd., S. 54. Vgl. dazu auch Julius Evola, Erhebung wider die modeme Welt, aus dem Italienischen, Stuttgart / Berlin 1935, S. 270 ff. 61 Friedrich Nietzsehe, Jenseits von Gut und Böse, in: Werke in drei Bänden, 2. Bd., hrsg. von Karl Schlechta, 2. Aufl., München 1960, S. 624. 62 Ebd., S. 660. 63 Ebd., S. 624. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller, Herrenmoral, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd.3: G.-H., Basel / Stuttgart 1974, S. 1078 f.
2. Konservatismus im Spannungsfeld von Christentum und Atheismus
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auch Oswald Spengler dafür, daß dem Christentum ausgesprochen egalitäre Bestimmungsmomente innewohnen. Dabei ist er im Unterschied zu Nietzsehe der Auffassung, daß in den christlichen Kirchen konservativ-staatserhaltende und revolutionäre Kräfte um die Vorherrschaft ringen. Vor allem in politischen Umbruchszeiten seien die Kirchen geneigt, den Kräften des Verfalls und der Dekadenz Vorschub zu leisten. "Die Politik altgewordener Kirchen, so konservativ sie in bezug auf sich selbst sind, ist immer in Versuchung, in bezug auf den Staat und die Gesellschaft liberal, demokratisch, sozialistisch, also einebnend und zerstörend zu werden, sobald der Kampf zwischen Tradition und Mob beginnt"64. Die Bereitschaft, sich an die staatsfeindlichen Kräfte anzupassen, sei besonders bei den Geistlichen zu spüren. Sie ließen oft Wertungs grundsätze erkennen, bei denen die Klassiker des Liberalismus und Sozialismus Pate gestanden haben. "Es gibt in allen derartigen Zeiten einen Priesterpöbel, der die Würde und den Glauben der Kirche durch den Schmutz parteipolitischer Interessen schleift, sich mit den Mächten des Umsturzes verbündet und mit den sentimentalen Phrasen von Nächstenliebe und Schutz der Armen die Unterwelt zur Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung entfesseln hilft"65. Die Auffassung, daß sich Konservatismus und Christentum weitgehend ausschließen, wird auch im heutigen deutschen Konservatismus vertreten. Auf dieser Linie wagt sich Armin Mohler zu der These vor, "daß ein konsequenter Christ links stehen müsse". Die konservativen Einwände gegen das letzten Endes egalitär ausgerichtete Christentum summierten sich für den Konservativen zu der Bilanz, daß "Christsein und Konservativsein sich ausschlössen"66. Die in Rede stehende konservative Christentumskritik hat nicht zuletzt in der französischen Nouvelle Droite eine entschiedene Verfechterin. Sie sieht vor allem Friedrich Nietzsehe als einen ihrer bedeutendsten Ahnherren an. Alain de Benoist zufolge ist der Kampf zwischen dem heroisch-elitären und dem brüderlichegalitären Menschentypus identisch mit der Auseinandersetzung zwischen Nietzsehe und Marx. Diesem gehe es vor allem um die Reduktion der Unterschiede zwischen den Menschen, jenem um die Herrschaft der Starken und Lebenstüchtigen. "Le duel du siecle ... c'est Nietzsche contre Marx. Vivant a la meme epoque, les deux hommes porterent sur leur temps le regard le plus radicalement oppose. Tandis que Marx annonce la fin de ,l'exploitation de l'homme par l'homme', l'instauration de la ,societe sans classes', le retour au ,communisme 64 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1. Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 90. 65 Ebd. Dabei ist Spengler der Auffassung, daß der linke Katholizismus besonders in Deutschland einen unheilvollen Ausfluß ausübe. "Es gibt in Deutschland einen katholischen Bolschewismus, der gefährlicher ist als der antichristliche, weil er sich hinter der Maske einer Religion versteckt" (ebd., S. 92). In Frankreich habe es eine ,,katholische Gewerkschaftsbewegung mit sozialistisch-syndikalistischen Tendenzen ... schon unter Napoleon III." gegeben (ebd., S. 91). 66 Armin Mohler, Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978, S. 184.
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m. Der Konservatismus als Ordnungslehre
primitif' de l'ante-histoire, Nietzsche annonce le depassement de l'homme par I'hornrne, I' avenement d 'une nouvelle aristocratie" 67. Von dieser Warte des Nietzscheschen Aristokratismus aus gesehen erscheint neben dem Sozialismus auch das Christentum als natürlicher Gegner. Benoist zufolge trifft es zu, "daß die große Mehrheit der Mitarbeiter von ,Nouvelle Ecole' und ich mit ihnen wenig Sympathien für die christliche Lehre haben. Wir wenden uns lieber Geistern wie Nietzsche, Arnold Gehlen und Heidegger oder auch Bertrand Russell zu ... als der Summa von Thomas von Aquin"68. Dabei wird der Hinweis darauf, daß in das Egalitätsdenken des Sozialismus auch genuin christliche Bestimmungsmomente eingeflossen sind, in einem ausgesprochen aggressiven und pejorativen Ton vorgetragen. So schreibt Pierre Gripari: "Molse, Jesus, Mahomet, Karl Marx, Unine et Mao-tse-tung ne sont pas seulement des cretiniseurs de peuples: ce sont aussi des consolateurs"69. Sowohl Jesus als auch Marx führten die Menschheit durch ihre egalitären und deshalb lebensfeindlichen Zielvorstellungen in die Irre. ,,Le gros Marx et la maigre Jesus sont bien de la meme race d'imposteurs chaleureux"70. Da im Christentum viele egalitäre Momente versammelt sind, die dem späteren Sozialismus sein Gepräge geben, setzt die Überwindung des abendländischen Egalitarismus auch die Abkehr von der christlichen Religon voraus. Zu den vornehmsten Aufgaben der Europäer gehöre es, die christliche "Schuldkultur" zu bekämpfen, ihre Sklavenmoral durch Nietzsches Herrenmoral zu ersetzen. Aus diesem Grunde haben für Benoist die vorchristlichen Kulturen Vorbildcharakter. Wir sollten uns an ihnen deswegen ausrichten, "weil dort der alte Grundsatz naturgegebener Ungleichheit Gültigkeit hatte und die hierarchische Gesellschaft mit ihrer elitären Ordnung eine natürliche Rechtfertigung besaß"7!. Aus diesem Grunde ist es mehr als folgerichtig, wenn die Nouvelle Droite die Wirtschafts lehren der Patristik und Scholastik verwirft. Michel Norey zufolge wurzelt nicht zuletzt der Marxsche Egalitarismus tief in dieser illegitimen, egalitären Moral und Ökonomie in unzulässiger Weise vermengenden Denktradition. Marxens Mehrwertlehre sei die logische Konsequenz eines vom Christentum beeinflußten Wirtschaftsdenkens, das an die Stelle der wissenschaftlichen Analyse des Systems der Bedürfnisse eine neidgesteuerte und egalitätsbestimmte Sozialpolitik setzt. Norey schreibt: "Les classiques, comme les physiocrates sont encore proches du Moyen-Age ... Ils hesitent a remettre en cause la vieille idee 67 Alain de Benoist, Une revolution sans equivalent, in: Figaro Magazine, 9.-15. Oktober 1975, S. 90. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller, Neue Rechte und Neokonservatismus, in: Evangelische Kommentare 14 (1981), S. 395 ff. 68 "Tradition ohne Christentum". Eine Stellungnahme von Alain de Benoist, in: Zeitbühne 4 (1979), S. 49. Vgl. dazu auch Armin Mohler, Wir feinen Konservativen. Was lehrt uns die französische ,,Neue Rechte"?, in: Critic6n 54, Juli-August 1979, S. 171 ff. 69 Pierre Gripari, Mose, Jesus, Marx and Co., in: elements. Nr. 16. 1976, S. 44. 70 Ebd. 7! Spiegel Gespräch: "Den alten Volksgeist erwecken". Alain de Benoist über die "Verwurzelungs"-Ideologie der Neuen Rechten, in: Der Spiegel Nr.34, 1979, S. 159.
3. Technikvemeinung und Technikbejahung
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de la valeur-travail, Mritee d'Aristote et saint-Thomas d'Aquin .. Ainsi, de Platon jusqu'a Marx la pensee economique reste impregnee de moralisme"72. Wie sehr sich die Nouvelle Droite gegen jegliche Gleichheitsforderung wendet, zeigt sich vor allem in ihrer Kritik an der amerikanischen politischen Kultur. Insbesondere dem Puritanismus und dem Konservatismus der USA wird vorgeworfen, diesem Land von Anfang an falsche politische und gesellschaftliche Leitvorstellungen vermittelt zu haben. Nicht zuletzt ihr tief eingewurzeltes Egalitätsdenken habe die amerikanische Kultur auf einen ideologischen Irrweg geführt. "Der amerikanische Konservatismus ist ... im Puritanismus verwurzelt. Seine Vertreter ... wären die ersten, die erklären würden, daß Politik einen Zweig der Moral darstellt, die sich gegen den Staat wenden und die natürliche Gleichheit propagieren würden" 73. Ihr puritanisches Erbe mache die Vereinigten Staaten bis heute zu einer Weltgefahr des lebensbedrohenden Egalitarismus. "Die Bedrohung, die von den USA für die Welt ausgeht, ist die Drohung einer besonders gefährlichen Art von Universalismus und Gleichmacherei"74. Das rigoros antiegalitäre Sozialkonzept der Nouvelle Droite wurde nicht zuletzt von denjenigen Anhängern des Konservatismus kritisiert, die ihre Ordnungsvorstellung im Christentum verankert sehen. Christoph von Thienen zufolge ist die Gesellschaftslehre der Nouvelle Droite von einem Geiste bestimmt, in dem das aristokratisch-egalitäre Moment in unzulässiger Weise über das christliche Ideal der Solidarität und Bruderliebe dominiert. Die atheistische Rechte Frankreichs spreche einer Moral das Wort, "die sich grundsätzlich keinem höheren Gesetz unterwirft als dem Gesetz des Kampfes der Arten und der Zuchtwahl" 75. Rigoros und dogmatisch habe man in diesem Ideenkreis die christliche Ethik über Bord geworfen, um sie durch eine am Sozialdarwinismus ausgerichtete Moral zu ersetzen. "An Stelle der alten Kardinaltugenden tritt die virtu Machiavellis, in welcher nicht einmal mehr eine aus Klugheit geübte Barmherzigkeit Platz hätte"76.
3. Technikverneinung und Technikbejahung in konservativer Perspektive Die Repräsentanten des konservativen Ideenkreises sind auch im Hinblick auf die Bewertung der technischen Zivilisation verschiedener Auffassung. Dabei können zwei Denkhaltungen ausgemacht werden. Während die eine Gruppe der 72 Michel Norey, Histoire des doctrines economiques, in: Nouvelle ecole Nr. 19, Juillet - aofit 1972, S. 13 f. 73 Robert de Herte I Hans Jürgen Nigra, Die USA, Europas mißratenes Kind, aus dem Französischen, München / Berlin 1979, S. 85. 74 Ebd., S. 196. 75 Christoph von Thienen, Tradition ohne Christentum? Die Ideologie der Nouvelle Ecole, in: Zeitbühne 5 (1979), S. 6. 76 Ebd.
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111. Der Konservatismus als Ordnungslehre
Technik feindselig und ablehnend gegenübersteht, bejaht die andere den technischen Fortschritt ohne Einschränkung. Was die Gegner der Technik anlangt, so können sie sich auf Denker berufen, die schon im 19. Jahrhundert von einer konservativen Warte aus auf die negativen Folgen des technischen Fortschritts hingewiesen haben. Nicht zuletzt die Romantik stand einer technisch geprägten Lebensordnung äußerst skeptisch und feindlich gegenüber. Schon Adam Müller zog alle Register seines analytischen Verstandes, um gegen eine Zivilisation zu Felde zu ziehen, deren maschinenbestimmter Charakter kaum mehr zu übersehen war. Zur Physiognomie der von der Maschine bestimmten Zivilisation gehört Adam Müller zufolge vor allem die Gefährdung der menschlichen Persönlichkeit, die Fragmentarisierung seiner vom Schöpfer gewollten persönlichen Ganzheit. Was sich in der modernen Zivilisation ausdrükke, verweise eindeutig auf eine gesellschaftliche Entwicklungstendenz, die die Persönlichkeit des Menschen zerstückele. Der romantische Sozialphilosoph schreibt: "Wenn aber die Teilung der Arbeit in großen Städten oder Manufakturen- oder Bergwerksprovinzen den Menschen, den vollständigen freien Menschen in Räder, Trillinge, Walzen, Speichen, Wellen uff. zerschneidet, ihm eine völlig einseitige Sphäre ... der Versorgung eines einzelnen Bedürfnisses aufdringt, wie kann man begehren, daß dies Fragment übereinstimmen solle mit dem ganzen vollständigen Leben und mit seinem Gesetze oder mit dem Rechte"77. Die moderne Maschinenwelt sei derart stringent an die Imperative einer ganzheitszersWrenden Entwicklungsrichtung gebunden, daß das Ideal einer in sich ruhenden, alle ihre Anlagen auslebenden Persönlichkeit weitgehend der Vergangenheit angehört. "Wie sollen die Rhomben, Dreiecke und Figuren aller Art, die man aus der Kugel herausgeschnitten, abgesondert für sich übereinstimmen mit der großen Kugel des politischen Lebens und ihrem Gesetze?"78. Adam Müller wendet sich nicht zuletzt deswegen gegen die von der Maschine bestimmte technische Zivilisation, weil sie seiner Ansicht zu einer illegitimen Vereinzelung und Individualisierung des Menschen beitrage. Im modemen System der Bedürfnisse, das sich durch eine stetige Arbeitsteilung auszeichne, habe das unmittelbare Zusammenleben der Menschen, ihre zweckfreie Verbindung, keinen Platz mehr. "Zugleich mit der Not, welche die Menschen zusammenbindet, wird auch die Liebe künstlich abgeleitet und abgewehrt; denn es ist besser, daß ein jeder für sich auf seine eigene Hand lebe und fertig werde"79. Der gesellschaftliche Prozeß steht bei Müller so sehr im Zeichen der Individualisierung, daß er die solipsistische Abkapselung des Einzelnen von der Gesellschaft als politische und soziale Gefahr ansieht. ,,Ja, sie bringen es endlich noch dahin, daß der einzelne in seinem Neste wirklich allein sitzt" 80. 77 Adam Heinrich Müller, Teilung der Arbeit (1812), in: Ausgewählte Abhandlungen, mit erklärenden Anmerkungen hrsg. von Jakob Baxa, 2. Aufl., Jena 1931, S. 95 f. 78 Ebd., S. 96. 79 Adam Heinrich Müller, Streit zwischen Glück und Industrie (1809), in: Ausgewählte Abhandlungen, S. 90.
3. Technikvemeinung und Technikbejahung
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Die technikkritische Haltung Adam Müllers wird auch im deutschen Konservatismus des 20. Jahrhunderts vertreten. Nicht zuletzt die Analyse der technischen Zivilisation durch Ludwig Klages ist auf eine Perspektive gerichtet, in der auf ihre negativen Folgen hingewiesen wird. In der vom technischen Geist geprägten modemen Gesellschaft werde der Zenit einer organisations wütigen Einstellung erreicht, die alle herkömmlichen Wertvorstellungen unter sich begrabe. Klages schreibt: "Wir täuschten uns nicht, als wir den ,Fortschritt' leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ,Nutzen', ,wirtschaftlicher Entwicklung', ,Kultur' geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus ... In seinem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft 8l ." Eines ähnlichen technikkritischen Tons befleißigte sich nicht zuletzt Friedrich Georg Jünger. Der technische Fortschritt steht bei ihm im Zeichen einer wachsenden Entfremdung von der Nährmutter Erde. Der Gedanke der Effizienz sei so sehr zur Richtschnur allen HandeIns geworden, daß der Mensch wie Antäus in Gefahr sei, seiner natürlichen Lebensgrundlagen verlustig zu gehen. "Der Mensch, der vergessen und verlernt hat, die Erde wie eine Mutter zu behandeln, ist kein Sohn der Erde mehr. Er befindet sich auf dem cartesianischen Globus, der tot ist und als tote Kugel rücksichtslos vernutzt werden kann 82". Unter den zeitgenössischen konservativen Autoren, die der technischen Zivilisation den Kampf angesagt haben, ragt nicht zuletzt Hans Freyer hervor 83 • Die modeme technische Zivilisation stellt für Hans Freyer ein Arrangement dar, in dem der Sinn für eine menschengerechte Daseinsweise völlig abhanden gekommen ist. Er bezeichnet sie als sogenanntes "sekundäres System" 84. Diese antitraditionalistische Ordnung ist bar aller Bestimmungsmomente, die vortechnische Gesellschaften ausgezeichnet haben. "Man nehme also an, eine soziale Struktur 80 Ebd., S. 90. Einen technikkritischen Konservatismus gibt es auch in den USA. Vgl. dazu Henry Adams, The Education ofHenry Adams. An Autobiography, popular edition, Boston/ New York 1927. Für Adams repräsentiert der Dynamo die modeme Welt. Ihm stellte er als humanes Gegensymbol die Jungfrau Maria gegenüber. Nostalgisch blickt der Amerikaner Adams auf eine Welt zurück, in der dem Geist der modemen Zivilisation kaum Raum gewährt wurde. "Symbol or energy, the Virgin had acted as the greatest force the Western world ever feIt, and had drawn man' s activities to herself more strongly than any other power, natural or supernatural, had ever done" (S. 388 f.). 8l Ludwig Klages, Mensch und Erde, in: Sämtliche Werke, Bd. III, Philosophische Schriften III, mit einem Kommentar von Hans Eggert Schröder, Bonn 1974, S. 621 f. 82 Friedrich Georg Jünger, Maschine und Eigentum, Frankfurt am Main 1949, S. 190. 83 Freyer hat früher allerdings technikbejahend argumentiert. Vgl. dazu Hans Freyer, Herrschaft und Planung, Hamburg 1933, S. 18 ff. und passim. 84 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 79 ff. Daß der rationalistische Geist der Neuzeit dem konservativen recht eigentlich widerspricht, ist die Ansicht Michael Oakeshotts. Vgl. dazu sein Buch "Rationalismus in der Politik", aus dem Englischen, Neuwied / Berlin 1966. Über Oakeshott vgl. Konrad Schön, Konservative und ,rationalistische' Politik, in: Politische Denkformen. Essays, Sindelfingen 1986, S. 20 ff.
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
sei so gebaut, ... daß sie kein eingebrachtes Eigenrecht anerkennt, auf keine vorausliegende Gültigkeit vertraut und mit keiner gerechnet wird; vielmehr soll alles, was in diese Struktur eingeht, in ihrem Bauplan vorgesehen und von ihren Antrieben in Bewegung gesetzt sein, und nur intendierte Elemente sollen in ihr mitspielen" 85. Das hohe Maß an Anpassungsdisziplin, das die industrielle Gesellschaft fordert, lasse den Menschen zu einem Anhängsel der Maschine schrumpfen. Dieses sekundäre System durchziehe die Notwendigkeit, alles Dysfunktionale auszuschalten, ihm auch den Menschen einzufügen. "Hier wird nicht mit Menschen gerechnet, die aus einem Fonds, der ihnen bereitliegt und den sie in die höhere Ordnung einbringen, spontan auf deren Forderungen ansprechen. . .. Hier wird vielmehr mit einem Menschen gerechnet, der gar nicht anders kann als auf das System ansprechen ... Der Mensch wird auf das Minimum, das von ihm erwartet wird, wirklich reduziert" 86. In diesem System gerate der Mensch in Gefahr, antiquiert zu werden. Es gehört zu den wichtigsten Bestimmungsmerkmalen des sekundären Systems, daß der Mensch zum unangepaßten Außenseiter wird. Freyer zufolge gibt es drei Möglichkeiten, diese Gefahr abzuwehren. Man kann zunächst versuchen, den Menschen an die Perfektibilität des Maschinenwesens anzupassen. Dabei unterwirft man "den Menschen einer raffmierten Konditionierung, um ihn zu Leistungen hochzupeitschen, die schlechterdings nicht in der menschlichen Natur angelegt sind" 87. In diesem Falle paßt man ihn an Lebensbedingungen an, " ... die ihrerseits unnatürlich, nämlich erst durch technische Mittel produziert sind"88. Hans Freyer zufolge liefert nicht nur die Kosmonautik hierfür abschreckende Beispiele 89. Eine weitere Möglichkeit, den Mensch an das industrielle System anzupassen, besteht in der Eliminierung des Menschen aus dem Prozeß der Güterherstellung. Ein "Systemteil", der sich in zunehmendem Maße als dysfunktional erweist, wird ganz einfach ausgeschieden. In diesem Falle setzt man alles daran, "den Menschen, sofern er noch tätig im Produktionsprozeß mitwirkt, überhaupt auszuschalten und dadurch die Fehlerquelle loszuwerden, die er ... darstellt" 90. Die vollauto85 Ebd., S. 83. 86 Ebd., S. 88. Vgl. dazu die Schilderung einer Daseinsweise, die noch nicht durch das sekundäre System bestimmt ist: ,,Auf der gewundenen Fahrstraße, die von Orvieto hinabführt, begegnete uns ein Ochsenwagen, vollgeladen mit Weintrauben. Der Bauer ließ die Tiere vor dem Anstieg rasten und gab jedem eine Weintraube von der flachen Hand, wie man einem Pferd ein Stück Brot füttert. Die Stiele knirschten zwischen den mahlenden Kiefern, der Traubensaft troff aus den Mäulern . . . Vom Dom herab, an dessen Fassade das ganze Alte und Neue Testament dargestellt ist, läuteten die christlichen Glocken ... Es bedarf gar nicht dieses Blickes über die ganze Erde hinweg, um die Gleichzeitigkeit des Nichtgleichzeitigen zu gewahren" (ebd., S. 7). 87 Hans Freyer, Schwelle der Zeiten, Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart 1965, S. 240.
88 Ebd. 89 Ebd. 90 Ebd.
3. Technikvemeinung und Technikbejahung
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matische Fabrik, das Bergwerk ohne Menschen, das Büro ohne Menschen seien augenfällige Beispiele, das im Vergleich mit der Maschine höchst unpräzise arbeitende Lebewesen Mensch ganz einfach auszuschalten 91. Des weiteren kann man den Versuch unternehmen, die Maschine dem Menschen anzupassen. In diesem Fall werde mit dem "Faktor Mensch" gerechnet 92 . Dazu gehört auch, "die durch den Betrieb ge stifteten Sachbeziehungen zwischen den Menschen ... in human relations umzuformen oder mit solchen zu identifizieren"93. Freyer zufolge handelt es sich bei diesen Bemühungen um den Versuch, "den Menschen in den Produktionsprozeß hineinzuintegrieren"94. Nicht nur der Sektor der Produktion werde im Industriesystem entmenschlicht, auch dem Konsumbereich drohe die Gefahr, enthumanisiert zu werden. Im Haushalt des industriellen Systems würden in zunehmendem Maße Güter verbraucht, die aus der industriellen Massenproduktion stammen. Der Anteil der Hausfrau bei der Zubereitung der Speisen schrumpfe auf ein Minimum zusammen. "Ein immer größerer Teil des Normalbedarfs an Konsumgütern und Gebrauchsgegenständen wird auf die industriell hergestellte Massenware umgewöhnt, und ein immer geringerer Teil davon bedarf überhaupt noch einer eigenen Zubereitung; auch in diesem Sinne wird die Eigenbestimmtheit des Haushalts ausgehöhlt"95. Dem unmenschlichen Geiste der Industriegesellschaft ist nach Freyer auch der Freizeitbereich unterworfen. Die Freizeit des vorsekundären Systems verliere ihren humanen Charakter, Brauch und Sitte schwinden dahin 96. "Unter dem Gesichtspunkt der industriellen Produktion liegt der Wert der neuen Freiheit darin, daß sie an sich leer ist, unerfüllt und konsumbereit, ein wundervolles Feld für den Absatz immer neuer Produkte"97. Der von der Industrieproduktion gesteuerte Konsumbereich ist dem Konservativen Hans Freyer nicht zuletzt auch deshalb zuwider, weil er ungemein egalitär gestaltet ist. In einem System, in dem genormte Einheitsprodukte produziert und konsumiert werden, stelle sich der Gedanke eines schichtspezifischen Verbrauchs leider als überholt und unzeitgemäß dar. Aus diesem Grunde hat Freyer keineswegs unrecht, wenn er verbittert feststellt: "Der Gedanke eines gebührenden Bedarfs ist heute ebenso reaktionär geworden wie der Gedanke einer möglichen Zufriedenheit mit dem Seinen"98. Diese von Hans Freyer artikulierte konservative Kritik an den Konsumgewohnheiten der industriellen Zivilisation findet sich auch bei den Repräsentanten der 91 92 93 94 95 96 97 98
Ebd. Vgl. dazu S. 62. Ebd. Ebd. Ebd., S. 244. Ebd., S. 246. Ebd.
Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 91.
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
64
sogenannten "Konservativen Revolution" der Weimarer Republik. So klagt Edgar Julius Jung vehement darüber, daß die "Bedarfsreizungswirtschaft"99 des modernen Industriesystems den Menschen in einen entwürdigenden, "sinnlosen Bedürfnistaumel" 100 stürze. Der Mensch sei nur so lange Herr der Wirtschaft, "solange er ... den Rahmen seiner Bedürfnisse, von der Natur und einer gesunden Kultur geleitet, selbst bestimmt" 101. Ähnlich befürchtete Leopold Ziegler, daß die "Überzüchtung des Bedarfs" 102 durch das moderne Reklamewesen den Konsumenten in einen ,,zustand der Überwachheit" 103 versetze. Sie habe zur Folge, daß die Vitalität der Menschen auf die Dauer erschöpft werde 104. Die in Rede stehende konservative Kritik an der Industriegesellschaft findet sich auch bei Autoren, die man p'rima facie kaum dem konservativen Ideenkreis zuordnet, die aber genuin konservative Topoi vertreten. Die Rede ist von denjenigen Repräsentanten der Ökologiebewegung, die die moderne Gesellschaft mit der vorindustriellen Sozietät konfrontieren. Zu ihnen zählt ohne Zweifel Joseph Huber. In weitgehender Übereinstimmung mit vielen konservativen Autoren behauptet Huber, daß "das Industriesystem ... das Leistungsprinzip, die berufliche Vereinzelung und die Mobilisierung immer mehr verstärkt" habe 105. Insbesondere die Sozialarbeit sei in den Sog des modernen industriellen Geistes geraten. Auf diese Weise entstand eine "Sozialindustrie" 106, "die für alle da ist - und die auch vor keinem haltmacht" 107. Begriffen und akzeptiert werde von dieser aus dem Geiste des Industriesystems heraus konzipierten Sozialbetreuung nur das, was auf ein effizientes und administrativ reibungsloses Modell zu bringen ist. Formelle Systeme hätten die informellen langsam aber sicher verdrängt. "Fürsorgeorganisationen, Altenhilfe, Jugendheime psychosoziale Dienste, kurz der Sozialstaat und seine Sozialberufe, längst alle mit wissenschaftlichen Methoden der Menschenbeglückung gewappnet und mehr oder weniger gut bezahlt"108. Dagegen sei die Zeit vor der "Industrialisierung des Gemeinschaftslebens" 109 durch eine soziale Hilfspraxis gekennzeichnet gewesen, in der der Helfende in engster persönlicher Beziehung zum Hilfsbedürftigen gestanden habe. Während heute die anonyme, industrieähnliche Hilfe vorherrsche, sei früher "in quasi 99 Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, 2. Aufl., Berlin 1927, S.437.
100 Ebd. 101 Ebd., S. 435. 102
Leopold Ziegler, Zwischen Mensch und Wirtschaft, Darmstadt 1927, S. 325.
103 Ebd., S. 327. 104 Ebd.
105 Joseph Huber, Die verlorene Unschuld der Ökologie, Frankfurt am Main 1982, S.126. 106 Ebd., S. 127.
107 Ebd. 108 Ebd., S. 126 f. 109 Ebd., S. 127.
3. Technikvemeinung und Technikbejahung
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handwerklicher Zusammenarbeit zwischen Familie, Schule, Hausarzt, Pfarrer und Gemeindeschwester" 110 geholfen worden. Die in Rede stehende Kritik an der technischen Zivilisation wird allerdings keineswegs von allen Konservativen geteilt. Die Besinnung darauf, wie die Industriegesellschaft mit der konservativen Ordnungsvorstellung zu versöhnen ist, führt eine Gruppe konservativer Denker zur Bejahung der modemen, technisch geprägten Sozietät. Ihrer Ansicht nach gibt sich die romantisch-traditionale Sozialkritik als eine Denkfigur zu erkennen, die historisch restlos der Vergangenheit angehört und der deshalb in einem der Modeme zugewandten Konservatismus keine Bedeutung mehr zukommt. Heute gewinnen insbesondere die Schriften Armin Mohlers ihre modem-konservativen Bedeutungsmaßstäbe aus dem Bewußtsein heraus, daß der der herkömmlichen Tradition verhaftete Konservatismus recht eigentlich als unzeitgemäß zu betrachten ist, der Vergangenheit angehört. Dabei beklagt Mohler die ablehnende Haltung vieler konservativ eingestellter Autoren gegenüber der industriell-technischen Zivilisation. Die überwiegende Mehrzahl der heutigen Konservativen bleibe einer Blickrichtung verpflichtet, in der die industrielle Gesellschaft zur konservativen Gegenordnung avanciere. In nahtloser Übereinstimmung mit dem frühen Ernst Jünger ll1 beklagt er ihr fehlendes Verständnis für eine Gesellschaftsordnung, in der der Geist von Rene Descartes denjenigen der politischen Romantik endgültig besiegt hat. Die einer überlebten Tradition verpflichteten Konservativen gefielen sich darin, das Schreckbild einer technisch geprägten Ordnung zu zeichnen, der eindeutig die Zukunft gehöre. Mohler schreibt: "Wie stellt sich der durchschnittliche Konservative zur technischen Zivilisation? Auf eine abkürzende Formel gebracht: sie ist ihm eine ,seelenlose' Apparatur, in der alle ,echten' Werte zermahlen werden. Nach dieser Meinung produziert die technische Zivilisation stumpfe ,Massenmenschen' , die wie Automaten reagieren - damit sei diese Zivilisation ,naturwidrig', denn die natürliche Ungleichheit des Menschen erfordere einen gestuften und gegliederten ,hierarchischen' Aufbau der Gesellschaft" 112. Bei Lichte besehen erweise sich eine derartig nostalgisch verklärte technikfeindliche Haltung als im tiefsten Sinne unkonservativ. Schließlich habe sich der Konservative gegenüber dem Liberalen und dem Sozialisten seit jeher durch eine Ebd. Vgl. dazu Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. 3. Aufl., Hamburg 1932. Jünger zufolge haben wir "auf geraume Zeit hinaus mit einem Zustande zu rechnen, in dem die Nationalstaaten und die Nationalimperien alten Stiles damit beschäftigt sind, sich in jene neue Verfassung zu bringen, die in der organischen Konstruktion der Planlandschaft zum Ausdruck kommt" (ebd., S. 290). Eine technikbejahende, antitraditionale Haltung nimmt auch Ernst Niekisch ein. Vgl. dazu seine Abhandlung: Die dritte imperiale Figur, Berlin 1935, S. 5 und passim. 112 Armin Mohler, Von rechts gesehen, Stuttgart 1974, S. 27. Vgl. dazu auch Friedrich Jonas, Technik als Ideologie, in: Technik im technischen Zeitalter, S. 119 ff. 110 111
5 J. B. Müller
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
nüchterne, wirklichkeitsbejahende Haltung ausgezeichnet. Seit jeher habe sich der Repräsentant des konservativen Ideenkreises zu Recht damit brüsten können, im Gegensatz zu seinen ideologischen Kontrahenten ideologiefrei und unverkrampft der Wirklichkeit gegenüberzutreten. Diese realitätsadäquate Sichtweise sei bei den heutigen Vertretern des Konservatismus leider außer Kurs geraten. Dabei eigneten dieser konservativen Flucht vor der Wirklichkeit durchaus auch utopische Züge. Mohler schreibt: "Der durchschnittliche Konservative macht es sich ... bei der Bewältigung dieser Probleme meist zu leicht. Er sucht sich mit Utopismen über sie hinwegzuschwindeln und vergißt, daß Konservativsein ein Bestehen der Wirklichkeit ohne Flucht in Abstraktionen ist" 113. Mohler warnt seine konservativen Gesinnungsfreunde davor, sich weiterhin einem romantischen Konservatismus anheimzugeben und die technische Zivilisation zu verteufeln. "Für den Konservativen, der sich nicht in Romantizismen verlieren will, gibt es nur einen Weg, sich mit den Problemen seiner Zeit zu befassen: durch die industrielle Gesellschaft mitten durch" 114. In Mohlers technikbejahendem Ordnungsentwurf behauptet sich auch die Auffassung, die Industriegesellschaft sei keineswegs allen konservativen Wertvorstellungen abhold. Die allein auf die traditional-konservative Gesellschaft eingeengte Perspektive vieler nostalgisch gesinnter Zeitanalytiker verhindere die Einsicht, daß gerade die moderne Leistungsgesellschaft ausgesprochen konservativen Geist atme. Zu ihrer Signatur gehöre vor allem eine ausgeprägte Hierarchie. Ihre konservative Rechtfertigung liege also nicht zuletzt in dem Umstand, daß sie dem Geist des Egalitarismus an der Wurzel fremd ist. "Die Industriegesellschaft beruht auf Produktion - und die ist ohne bürokratische Organisation und eine technische Hierarchie nicht möglich. Egalitäre Ideologie und ,efficiency' stoßen sich" 115. Dabei macht Mohler darauf aufmerksam, daß die technische Elite der Gegenwart keineswegs identisch sein muß mit der aus dem vorindustriellen Staat überkommenen Hierarchie. Mohter warnt sogar davor, die Notwendigkeit einer elitär ausgerichteten Industriegesellschaft dazu zu benützen, die Legitimität der alten Eliten zu stützen. So nütze die Einsicht, "daß auch die Industriegesellschaft, der Natur des Menschen gemäß, von hierarchischer Struktur ist, recht wenig, wenn sie bloß zur Rechtfertigung überständiger Hierarchien benutzt wird" 116. Ein Konservatismus, der seinen Frieden mit der modernen Industriegesellschaft und ihren Leistungseliten gemacht hat, kommt Mohler zufolge auch kaum umhin, sich von bestimmten ideologischen Traditionen zu trennen. Wer bislang zu den Ebd. Ebd., S. 28. Eine grundSätzliche Technikfeindschaft bleibe heute in der Koketterie stecken: "Man kann wohl auf das Fernsehen und vielleicht sogar auf das Telefon verzichten, niemals aber auf den Anschluß an die Wasserleitung. Vor allem aber kann man einfach nicht hinter die technische Zivilisation zurück . . . Ohne sie sind die heutigen Menschenrnassen gar nicht zu ernähren" (ebd., S. 27 f.) 115 Ebd., S. 32. 116 Ebd., S. 35. 113
114
4. Liberaler und illiberaler Konservatismus
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Ahnherren des konservativen Ideenkreises zählte, hat kaum Aussicht, zur konservativen Begründung der modemen Leistungsgesellschaft herangezogen zu werden. ,,Es wirkt peinlich, wenn man auf ,Konservative' stößt, die heute noch mit Mösers Vokabular oder dem des Herrenklubs, dem von Rerum novarum um sich werfen. Selbst die Worte eines Burke, so richtig sie damals waren, werden in der heutigen, so veränderten Situation zum Geschwätz"ll7. Für Mohler ist die Bejahung der Industriegesellschaft für den Konservatismus eine schicksalshafte Notwendigkeit. Halten die Konservativen länger an den alten, überkommenen technikfeindlichen Idealen fest, geraten sie in die Gefahr, von der Geschichte überholt zu werden und der Konventikelhaftigkeit zu verfallen. Eine aus genuin konservativem Geist bestimmte Analyse des Mohlerschen Konservatismuskonzeptes muß allerdings zu der Überzeugung gelangen, daß er sich in zu starkem Maße der Denktradition seines Ideenkreises zu entledigen trachtet. Seine Behauptung, daß den überkommenen konservativen Topoi keinerlei Wirklichkeitsadäquanz und Zukunftsrelevanz mehr innewohne, mutet gerade in einer Zeit höchst seltsam an, in der die Gefahren der technischen Zivilisation für das überkommene Menschenbild immer deutlicher zutage treten. So wenig sich der Liberale von den Schriften von Locke, Smith und Kant zu distanzieren in der Lage ist und der Sozialist seinen Klassikern des 18. und 19. Jahrhunderts abschwören kann, so wenig sollte sich der Konservative gänzlich von der durchaus respekterheischenden Denktradition seiner Ordnungsvorstellung verabschieden. Ihre genuin konservative Synthese aus Traditionsbejahung und Aktualitätsrekurs entfaltet auch in unserer Zeit immer noch jene Überzeugungskraft, die diesem Ideenkreis von Anfang an innewohnte.
4. Liberaler und illiberaler Konservatismus Eine tiefenscharfe Analyse der politischen Ordnungsvorstellungen des Konservatismus wird unweigerlich auch zu der Einsicht gelangen, daß sich dieser Ideenkreis in einen liberalen und einen illiberalen Strang aufteilen läßt. Nicht zuletzt in Deutschland begehen viele Autoren allzuschnell den Fehler, nur den illiberalen Konservatismus in den Blick zu nehmen. Dabei ist mit Nachdruck zu betonen, daß der liberale Konservatismus das Gesicht dieser Ideologie mindestens so stark geprägt hat wie der illiberale. Das gilt nicht zuletzt auch für den Konservatismus der Gegenwart. Beide Ausprägungen des Konservatismus können auf eine stolze Ahnemeihe zurückblicken. Was den illiberalen Konservatismus anlangt, so haben insbesondere die beiden Franzosen de Bonald und de Maistre nie einen Hehl daraus gemacht, 117 Ebd., S. 35. Mohlers radikale Ablehnung des herkömmlichen Konservatismus geht keineswegs zufaIlig einher mit einem Bekenntnis zum philosophischen Nominalismus. Mohler zufolge gibt die "nominalistische Wende ... dem Menschen seine Würde zurück" (Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978, S. 201).
5*
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
daß sie überzeugte Parteigänger dieser Ausprägung des konservativen Ideenkreises sind. Scharf wendet sich de Bonald gegen das urliberale Ideal der Gewaltenteilung. "Les gouvernements a plusiers pouvoirs et aassemblees deliberantes et legislatives menacent un Etat" 118. Ähnlich heißt es bei de Maistre: "Une assemblee quelconque d'hommes ne peut constituer une nation" 119. Der antiliberale Konservatismus wird in Frankreich auch von Charles Maurras vertreten. Auch er spricht sich gegen jegliche Form der parlamentarischen Mitsprache an den Regierungsgeschäften aus. "La monarchie doit etre antiparlementaire: le parti nationaliste, presque tout entier, se prononce contre le parlementarisme en faveur d 'un gouvernement nominatif, personnel, responsable" 120. Dabei soll das System der Bedürfnisse nach korporativen Prinzipien organisiert werden. In Deutschland waren es nicht zuletzt die Repräsentanten der sog. "Konservativen Revolution", die gegen den Liberalismus und seine Verfassungsideale polemisierten. Wie die soeben zitierten Franzosen, so lehnen auch die Vertreter dieser Strömung des deutschen Konservatismus jeglichen Gedanken an eine Berücksichtigung des Parlaments an den Willensentscheidungen des Staates ab. Ausgesprochen polemisch stellt Moeller van den Bruck fest: "Der Parlamentarismus, in dem die Teilung der Nation in Parteien zum System erhoben wurde, und namentlich der deutsche Reichstag ... wurde zu einer Einrichtung für öffentliche Verbreitung von politischen Gemeinplätzen" 121. Wilhelm Stapel zufolge steckt "in der Majoritätsentscheidung einer launischen Masse '" nur die menschliche Dummheit" 122. Was Wunder, wenn die Anhänger der Konservativen Revolution im Liberalismus ihren politischen Todfeind erblicken. Oswald Spengler zufolge sei "der Liberalismus ... eine Sache für Tröpfe" 123. Und Moeller van den Bruck dekretiert: "Am Liberalismus gehen die Völker zu Grunde" 124. Auch in der Bundesrepublik gab, beziehungsweise gibt es Vertreter des konservativen Ideenkreises, die sich nicht mit den liberalen Politikvorstel!ungen anzufreunden vermögen. Letzten Endes wird man kaum umhin können, der sog. "Abendländischen Aktion" antiliberale Verfassungsideale zu imputieren. Zunächst ist es die ablehnende Haltung gegenüber dem Parteienstaat, die die genuin antiliberale Haltung der Abendländischen Aktion unter Beweis stellt. Im "Ord118 Louis Gabriel de Bonald, Du gouvernement repn!sentatif, in: Bonald. Ed. par le Comte Leon de Montesquiou, Paris 1907, S. 148. 119 Joseph de Maistre, Essai sur le principe generateur des constitutions politiques et des autres institutions humaines, preface du Comte Bernard de Vesins, Paris 1907, S. 227. 120 Charles Maurras, Enquete sur la Monarchie, Paris 1909, S. 182. 121 Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, hrsg. von Hans Schwarz, Hamburg 1931,
S.114. 122 Wilhelm Stapel, Die Fiktionen der Weimarer Verfassung, Hamburg / Berlin / Leip-
zig 1928, S. 35.
123 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, in: Politische Schriften. Volksausgabe, München / Berlin 1934, S. 35. 124 Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, S. 69.
4. Liberaler und illiberaler Konservatismus
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nungsbild der Abendländischen Aktion" heißt es unmißverständlich: "Die Abendländische Aktion lehnt den modemen Vielparteienstaat und die durch ihn herbeigeführte Vergiftung des öffentlichen Lebens ab. Sie fordert eine Reform der Verfassungen" 125. Ihre Gegnerschaft gegenüber dem liberalen Politiksystem kommt auch in ihrer Forderung zum Ausdruck, dem Parlament nur noch Kontrollaufgaben zu überlassen. "Die Volkskammer wird vom Volk in mittelbarer oder unmittelbarer echter Personenwahl auf die Dauer von mindestens fünf Jahren gewählt. Ihr obliegt die allgemeine Regierungs- und Verwaltungs- einschließlich der Haushaltskontrolle. Die Volkskammer hat wesentlich die Aufgabe, Verwaltungsmißstände aufzudecken" 126. Darüber hinaus besitzt die Administration allerdings auch das "Privileg", "der Regierung den Volkswillen kundzutun"127. Daß die Volkskammer an der Regierungsbildung beteiligt wird, darüber ist im "Ordnungsbild der Abendländischen Aktion" nichts zu finden. Dasselbe gilt auch für die zweite Kammer, den sogenannten Senat. Diesem ständisch zusammengesetzten 128 Verfassungsorgan obliegt hauptsächlich die Aufgabe, die Regierung zu beraten 129. Dem Senat bleibt allerdings der Trost, daß die Regierung ihm "alle Gesetzesvorlagen einschließlich des Etats ... zur Beratung und Verabschiedung darzulegen hat" 130. Bei einem Dissens zwischen der Regierung und dem Senat hat die Regierung sogar das Recht, "Gesetze, die nach ihrer Meinung mit der Verfassung im Einklang stehen, auch ohne Zustimmung des Senats in Kraft zu setzen" 131. Zu den konservativen Persönlichkeiten, die in der Bundesrepublik sich für antiliberale Verfassungsvorstellungen aussprachen, gehört nicht zuletzt auch der Publizist Winfried Martini. Ihm geht es darum, das Primat der Politik vor der Wirtschaft zu sichern. Dies ist seiner Auffassung nach weder in einem totalitären noch in einem demokratischen System möglich. Martini ist der Auffassung, daß insbesondere die politische Ordnung Salazars Vorbildscharakter aufweist 132. Diesem korporativen Staat, in der die Ständekammer auf eine beratende Funktion eingeschränkt ist 133, sei es gelungen, die Superiorität der Politik über den ökono125 Das Ordnungsbild der Abendländischen Aktion, hrsg. vom Deutschen Landesvorstand der Abendländischen Aktion. München 1952, S. 19. 126 Ebd., S. 20. 127 Ebd. 128 Vgl. dazu: "Der Senat setzt sich zu einem Drittel aus durch die Volkskammer gewählten Abgeordneten, zur Hälfte aus den Vertretern der Berufsstände zusammen, wobei im Rahmen des Wirtschaftsstandes Unternehmer und Arbeiter in gleicher Weise vertreten sein sollen. Zu einem Sechstel werden als Senatoren vom Staatsoberhaupt angesehene Männer des öffentlichen Lebens auf Lebenszeit berufen" (ebd.). 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 21. 132 Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens, Stuttgart 1954, S. 326 ff. und passim.
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
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mischen Lebensbereich herzustellen. "Durch das korporative System hat die Regierung ... starke Möglichkeiten, das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft zu sichern" 134. Das korporative System Salazars habe auch zu einer begrüßenswerten Entpolitisierung der Öffentlichkeit geführt. "Und indem das Prinzip der Volkssouveränität aufgehoben ist, indem der Herrschaft ihr Eigenrecht zurückgegeben wurde, konnte damit auch jene Entpolitisierung des Lebens herbeigeführt werden, nach der sich alle einsichtigen Demokraten sehnen, die aber innerhalb der Demokratie ebensowenig wie im totalitären Staat möglich ist" \35. Für den illiberal denkenden Konservativen Winfried Martini ist es durchaus begrüßenswert, daß im Salazarschen Politiksystem die politischen Freiheitsrechte mißachtet werden. Während er einerseits gegen die Freiheitsberaubung im totalitären System protestiert, ist er andererseits der Auffassung, daß im autoritären Regime Salazarseher Provenienz die Versagung der politischen Freiheit keineswegs als Erzübel und Sünde wider den politischen Geist zu gelten habe. Schließlich würden die Freiheitsbedürfnisse der Menschen nicht in toto unterdrückt. Martini schreibt: "Freilich kommt es immer darauf an, wo jene Art der politischen Freiheit fehlt: es macht einen großen Unterschied aus, ob Salazar oder ein Hitler oder der Kreml sie versagen. Der Unterschied ... liegt darin, daß in Portugal die individuelle, unpolitische Freiheit gegeben ist, während diese in den totalitären Diktaturen durch die totale Politisierung ausgelöscht wird" 136. Auch wenn Winfried Martini sich weigert, zur Nachahmung des Salazarismus aufzurufen, verhehlt er keineswegs, daß er im Politiksystem des damaligen Portugal eine vorbildliche Ordnung erblickt. Für ihn ist "der Salazarismus für vieles beispielhaft" 137. Dem portugiesischen Staatsmann gebühre das Verdienst, einen vernünftigen Dritten Weg zwischen Totalitarismus und Demokratie beschritten zu haben. ,,Er hat auf dem Wege der Praxis ... nachgewiesen ... daß die Alternative Demokratie-Totalitarismus, welche angesichts der Unzulänglichkeit der einen und der wüsten Brutalität der anderen Staatsform den Alpdruck unserer Zeit bildet, eben keine echte Alternative ist" 138. Salazar sei es gelungen, zwischen der Szylla des Totalitarismus und der Charybdis der Demokratie eine Ordnung aufzubauen, die die negativen Begleiterscheinungen beider Systeme vermeidet. Er habe vor allem den Nachweis geliefert, daß der Antidemokrat keineswegs auf die totalitären Regime angewiesen ist, sondern im Autoritarismus eine durchaus attraktive Alternative vorfindet. "Der Salazarismus hat experimentell nachgewiesen, daß das berühmte Wort Churchills, die Demokratie sei die schlechteste \33 V gl. dazu: "In der auf gutachtliche und beratende Funktionen beschränkten Ständekammer sind die Selbstverwaltungskörper und die Berufsorganisationen vertreten" (ebd.,
S.332). 134
135 136 137
138
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 332. S. 328. S. 330. S. 334. S. 334.
4. Liberaler und illiberaler Konservatismus
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Staatsfonn - außer allen anderen, mit denen man es versucht habe - , eben doch nur ein geistreiches Bonmot ist" 139. Die Analyse des gegenwärtigen antiliberalen und antidemokratischen Konservatismus wäre unvollständig, wollte man die französische Nouvelle Droite als quantite negligeable behandeln. Gerade diese ideologische Familie hat sich ausgesprochen pointiert gegen alle politischen Ordnungsvorstellungen ausgesprochen, die sich der Freiheit des Staatsbürgers verschrieben haben. Den Antidemokratismus und Antiliberalismus der Nouvelle Droite haben sowohl Autoren bestätigt, die dieser Denkschule gegenüber eine feindselige Einstellung hegen als auch solche, die ihr nahestehen, beziehungsweise als ihre Repräsentanten zu gelten haben. Was die liberalen Kritiker der Nouvelle Droite anlangt, so war es nicht zuletzt die dem freiheitlichen Politikgedanken zutiefst verpflichtete "Neue Zürcher Zeitung", die der in Rede stehenden französischen Denkschule anlastet, dem Individualismus den Kampf angesagt zu haben. Das bedeutende Blatt schreibt in diesem Zusammenhang: "Tatsächlich sind die Positionen der ,Nouvelle Droite', die dem biologisch bestimmten Individuum in der Hierarchie der Gesellschaft letztlich schicksalshaft feststehende Plätze zuweisen . . . für den Liberalen unannehmbar"I40. In einer ähnlichen Weise argumentiert Christoph von Thienen, wenn er behauptet: "Unter Berufung auf die Identität der indoeuropäischen Kulturseele sollen allen Ernstes 1500 Jahre christlicher Tradition aus dem "bewahrenswerten Erbe" der europäischen Zivilisation ausgeschieden und die rechtsstaatlichen Schranken niedergerissen werden, die das Christentum wie der Humanismus zum Schutze der unantastbaren Würde der Person aufgerichtet haben" 141. Wie die ,,Neue Zürcher Zeitung", so wirft auch der ebenfalls auf einen liberalen Ton gestimmte Pariser "Figaro" der Nouvelle Droite vor, den freiheitlichen Politikgedanken abzulehnen. Annie Kriegel zufolge zeichne sich die in ihr organisierte Intellektuellengruppe durch eine "horreur sacree de la democratie liberale" 142 aus. Auch die Autoren der Nouvelle Droite selbst haben aus ihrer Abneigung gegenüber dem politischen Liberalismus keinen Hehl gemacht. Den Repräsentanten dieser rechten Denkschule zufolge trage der Liberalismus alle Züge einer Doktrin, die die nationalen und ethnischen Gemeinschaften zugunsten eines doktrinären Individualismus zu opfern bereit sei. So schreibt Alain 'de Benoist, der führende Kopf der Nouvelle Droite: "Dans le systeme liberal, seule compte la dimension individuelle-assortie de son antithese, l'humanite; toutes les dimen139
Ebd.
140 Diskussion um Frankreichs ,,Neue Rechte". Politische Gefahr oder Produkt der Medien?, in: Neue Zürcher Zeitung, Femausgabe Nr. 173, 29./30. Juli 1979. 141 Christoph von Thienen, Tradition ohne Christentum? Die Ideologie der ,,Nouvelle Ecole", in: Zeitbühne, Heft 5 (1979), S. 9. 142 Annie Kriegel, Essai sur un ete nerveux, in: Le Figaro, 10. 7. 1979.
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
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sions intermediaires, nations, peuples, cultures, ethnies, etc., tendent a etre niees, disqualifiees ... ou considerees comme insignificantes" 143. Darüber hinaus sei der Liberalismus unfähig, den Staat als eine organologische Ganzheit zu begreifen. "A la conception organique de la societe, derivee de l'observation du monde vivant, se substitue une conception mecanique, inspiree d'une physique sociale" 144. Dem Liberalismus gehe jegliches Verständnis für eine Sozialkonzeption ab, die das gesellschaftliche Ganze mit dem menschlichen Körper vergleicht. "On nie que la societe soit un corps" 145. Zum Grundmerkmal einer derart mechanistischen Sozialkonzeption des Liberalismus gehöre auch die lebensfremde Annahme, alle Menschen seien letzten Endes gleich. Dabei weist Robert de Herte ausdrücklich darauf hin, daß diese konstruktivistische Egalitätsdoktrin des Liberalismus letzten Endes christlichen Ursprunges sei. "De fait, on en vint a poser que, si les hommes sont egaux devant la Loi (de Dieu), il s'ensuit qu'ils doivent etre aussi en quelque fayon egaux devant la loi (des hommes), qui en est la contrepartie terrestre. Cela se passa en 1789" 146. Auf der Suche nach den Ursprüngen dieses angeblich so lebensfremden und egalitären Liberalismus geraten die Repräsentanten der Nouvelle Droite zu der keineswegs falschen Feststellung, daß sich die modeme Freiheitsbewegung auch scholastischer Quellen verdankt. Alain de Benoist wirft in diesem Zusammenhang Thomas von Aquin vor, durch sein Votum für das Mehrheitsprinzip dem Liberalismus Schrittmacherdienste geleistet zu haben. Statt einen rigiden Elitismus zu vertreten, unterwerfe der Aquinate das Schicksal der Politik dem launischen Willen der Staatsbürger. "Thomas fut en effet un ,chaud partisan de la loi du nombre'" 147. Trotz ihres monarchischen Grundcharakters gewähre seine Politik dem demokratischen Prinzip einen zu breiten Raum. Der Zenit der demokratischen Irrlehre werde beim Kirchenlehrer Thomas da erreicht, wo der Wille Gottes mit dem Willen des Volkes gleichgesetzt werde. "Vox populi, vox dei: la volonte de Dieu s' exprime dans celle de la majorite" 148. Anders als im illiberalen Konservatismus wird in der liberalen Ausprägung dieses Ideenkreises die freiheitliche Politik- und Sozialdoktrin keineswegs in Bausch und Bogen verdammt. Liberale Konservative gehen dezidiert davon aus, daß sich die beiden Ordnungsvorstellungen Konservatismus und Liberalismus durchaus zu einer sinnvollen und überzeugenden Synthese verbinden lassen 149. Alain de Benoist, Les idees a l'endroit, Paris 1979, S. 87. Ebd., S. 88. 145 Ebd. 146 Robert de Herte, Entretien avec elements, Nr. 17 -18, 1976, S. 11. 147 Alain de Benoist, Vu de droite, Paris 1976, S. 214, 148 Ebd. 149 Viele Autoren gehen im Gegensatz zu dieser Auffassung jedoch davon aus, daß Liberalismus und Konservatismus dichotomisch voneinander geschieden sind und des143
144
4. Liberaler und illiberaler Konservatismus
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Die Vereinigung von liberalen und konservativen Politikprinzipien läßt sich zunächst besonders augenfällig im Werke des großen englischen Konservativen Edmund Burke aufspüren. R. R. Palmer spricht zu Recht von "Burkes konservative(n) wie liberale(n) Gesinnungen" 150. Burkes politisches Denken hat nicht zuletzt auch das Denken und Handeln von Benjamin Disraeli beeinflußt. Die Verbindung von Liberalismus und Konservatismus manifestiert sich nicht zuletzt auch im Werke von Lord Acton. Acton schreibt: "Progress depends not only on the victory, the uncertain and intermittent victory, of Liberals over Conservatives, but on the permeation of Conservatism with Liberal ideas" 151. Russell Kirk zufolge war es auch Alexis de Tocqueville darum zu tun, liberale Ideen mit konservativen zu verschmelzen. Aus diesem Grunde bezeichnet er den großen Franzosen als "liberalen Konservativen" 152. Der liberale Konservatismus strahlte nicht zuletzt auch auf die USA und Deutschland aus. Einer Verbindung von Liberalismus und Konservatismus wird nicht zuletzt im zeitgenössischen amerikanischen Konservatismus das Wort geredet. So schreibt Peter Viereck: "Both are equally needed half-truths; both are equally inherent in the human condition, liberalism on a more rational level and conservatism on a perhaps deeper level" 153. Dieses Zitat zeigt unmißverständlich, in wie starkem Maße gerade auch der amerikanische liberale Konservatismus darauf halb kaum miteinander verbunden werden können. Ernst Müsebeck zufolge läßt sich der Liberalismus als die ,,Aktion für die Ideen von 1789" und der Konservatismus als "Reaktion gegen die Ideen von 1789" interpretieren. (Die ursprünglichen Grundlagen des Liberalismus und Konservatismus in Deutschland, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 63 (1915), S. 3). Im Politischen Handwörterbuch der DNVP heißt es: "Im Gegensatz zur konservativen Idee, in der die Erhaltung des Altbewährten erschien, propagiert der Liberalismus aller Schattierungen den Fortschritt auf allen Gebieten und die mehr oder weniger schrankenlose Freiheit des Individuums" (Politisches Handwörterbuch (Führer-ABC), hrsg. von M. Weiß, Berlin 1928, S. 478). Als Vertreter des zeitgenössischen Konservatismus betont Hans-Joachim Schoeps, daß sich der konservative und der liberale Menschentypus durch ein deutlich unterschiedliches "Lebensgefühl ... und Wirklichkeits bewußtsein" voneinander abheben (Hans-Joachim Schoeps, Kommt die Monarchie?, Ulm 1953, S.46). Nicht nur die Konservativen, auch die Repräsentanten des Liberalismus betonen die grundlegenden Unterschiede zwischen Liberalismus und Konservatismus. F. A. von Hayek zufolge zeichne den Konservativen ein Votum für autoritäre Strukturen aus. Dagegen wolle der Liberale "mit einem Minimum an Gewalt eine friedliche Gesellschaft aufbauen" (F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 484). Auch Wolfram Engels hebt das gemeinschaftszentrierte Denken des Konservatismus dichotomisch vom liberalen ab. "In der Frage von Gemeinschaft und Individuum sind Konservatismus und Sozialismus einander näher als beide dem Liberalismus. Im Liberalismus rangiert das Individuum vor der Gemeinschaft" (Mehr Markt, Stuttgart-Degerloch 1976, S. 50). 150 R. R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution, aus dem Amerikanischen, Frankfurt am Main 1970, S. 337. 151 Letters of Lord Acton to Mary, Daughter of the Right Hon. W. E. Gladstone, ed. by Herbert Paul, London 1913, S. 159. 152 Russell Kirk, Lebendiges politisches Erbe, aus dem Amerikanischen, ErlenbachZürich und Stuttgart 1959, S. 198. 153 Peter Viereck, Conservatism revisited, revised edition, New York 1962, S. 143.
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
aus ist, liberale und konservative Strukturprinzipien in einen widerspruchsfreien Zusammenhang zu bringen. Aus diesem Grunde weist auch der Konservatismus der USA Bestimmungsmerkmale auf, die auch in der europäischen Ausprägung dieses Ideenkreises zu finden sind. So kennt auch die amerikanische Konservatismusvariante ein herzhaftes Bekenntnis zu einer ganzheitlich-universalistischen Betrachtungsweise von Staat und Gesellschaft. In der Vehemenz, in der sie sich gegen alle nominalistischen Interpretationsmodi wendet, dokumentiert sich ihr zutiefst konservatives Credo 154. Wie sehr eine auf die nominalistische Perspektive eingeengte Sozialkonzeption zutiefst antikonservativen Geist atmet, hat vor allem Robert Nisbet betont. Eine minuziöse Untersuchung insbesondere der Klassiker des Konservatismus zeige augenfällig, in wie starkem Maße das Bekenntnis zu einem realistischen Gesellschaftsbild zu den grundlegendsten Prämissen dieses Ideenkreises gehöre. Völlig zu Recht schreibt er: "Conservatives, from Burke on, have tended to see the population much in the manner medieval legists and philosophical realists (in contrast to nominalists) saw it: as composed of, not individuals directly, but the natural groups within which individuals invariably live: family, locality, church, region, social dass, nation, and so on. Individuals ex ist, of course, but they cannot be seen or comprehended save in terms of social identities which are inseparable from groups or associations" 155. Dagegen sei die libertäre Sozialphilosophie der Auffassung, daß allein die Wünsche und die Forderungen des Individuums legitim seien. "I believe astate of mind is developing among libertarians in which the coercions of family, church, local community, and school will seem almost as inimical to freedom as those of political government" 156. Ihr ausgeprägtes Bekenntnis zu einer gemeinschaftlich zentrierten Sozialordnung verbinden die Repräsentanten des amerikanischen Konservatismus mit der Warnung vor den unabsehbaren Folgen der libertären Gesellschaftskonzeption. Sie münde letzten Endes in die Zerstörung aller sozialen Bindungen, in einen alle natürlichen Bande zersetzenden Darwinismus. Vor allem Daniel Bell 157 hat sich diese Auffassung zu eigen gemacht. Er schreibt: "Ohne ihrem Kern nach nicht-rationale Loyalität, ohne freiwillig entgegengebrachtes oder bekräftigtes Vertrauen, verwandelt sich das Interessenspiel in einen Krieg jeder gegen jeden, 154 Selbstverständlich gilt dies nicht für die libertäre Variante des amerikanischen Konservatismus. 155 Robert Nisbet, Conservatives and Libertarians: Uneasy Cousins, in: Modem Age, Winter 1980, S. 5. 156 Ebd., S. 6. Robert Nisbet geht davon aus, daß der Gemeinschaftsgedanke im Westen auf dem Siegeszug ist. Viele Kommunen der USA seien auf einen genuin konservativen Ton gestimmt. "What else is the commune, rural or urban, but a contemporary manifestation of the same motivations we found in the life of Saint Benedict, in the writings of Sir Thomas More?" (The Social Philosophers. Community and Conflict in Western Thought, London 1974, S. 448). 157 Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt, aus dem Amerikanischen, Frankfurt am Main 1979, S. 294.
4. Liberaler und illiberaler Konservatismus
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in einen mitunter gewalttätigen, mitunter gewaltlosen Kampf' 158. Die Besinnung auf die desaströsen Konsequenzen der libertären Gesellschaftskonzeption führt bei Irving Kristol zu einem unnachsichtigen Angriff auf die führenden Vertreter der libertären Sozialphilosophie. Dabei geraten vor allem F. A. von Hayek und Milton Friedman in sein kritisch-konservatives Visier. Kristol zufolge seien die beiden Anwälte eines ungezügelten Individualismus gänzlich außerstande, eine hannonische Gesellschaftsordnung zu gewährleisten. Sie seien vor allem der Frage ausgewichen, wie das allein seinen eigenen Interessen verantwortliche Individuum daran gehindert werden könne, gesellschafts würdige Handlungen zu unterlassen. Irving Kristol stellt unmißverständlich fest, daß die beiden Nobelpreisträger kaum in der Lage seien, eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Er schreibt: ,,And what if the ,self' ... uses its liberty to subvert and abolish a free society? To this question, Hayek - like Friedman - has no answer" 159. Eine Sozialdoktrin, deren konstitutives Prinzip der ungezügelte Egoismus der einzelnen Bürger sei, könne sich der aus ihr deszendierenden destruktiven Tendenzen kaum erwehren. Sie sei nicht zuletzt gegenüber denjenigen Doktrinen völlig wehrlos, die sich dem sozialphilosophischen Erbe Friedrich Nietzsches und de Sades verpflichtet fühlen 160. So konservativ die Sozialphilosophie des amerikanischen Konservatismus der Gegenwart auch anmutet, so bekenntnisfreudig liberal ist seine Politikdoktrin. Dabei dienen als Orientierungskoordinaten die Schriften Lockes, Montesquieus, Lord Actons, Tocquevilles und die sogenannten "Federalist Papers". Ohne Zweifel sind die politischen Ideale des Liberalismus auch diejenigen der Neokonservativen der USA. In wie starkem Maße sich der amerikanische Neokonservatismus den politischen und gesellschaftlichen Idealen der in Rede stehenden Klassiker verpflichtet fühlt, beweist nicht zuletzt sein Versuch, die Ideale der Gleichheit und der Freiheit in ein vernünftiges und praktikables Verhältnis zu bringen. Seiner Auffassung nach gefährdet ein Zuviel an Gleichheit die Freiheit. Ein Übennaß an Freiheit gehe umgekehrt zu Lasten der Gleichheit. Daniel Bell schreibt in diesem Zusammenhang: "Jeder einzelne Wert, sei es nun Freiheit oder Gerechtigkeit, wenn absolut gesetzt und alles andere überschattend" 161 kann "zum Exzeß führen" 162. Ganz in Übereinstimmung mit dieser moderierten PolitikEbd. lrving Kristol, Two Cheers for Capitalism, Chicago 1955, S. 68. 160 Ebd. Eine besonders extrem formulierte Version des libertären Sozialkonzeptes findet sich bei Murray N. Rothbard. Er votiert sogar für die völlige Freigabe der Pornographie. Thre Unterdrückung sei als ein Verstoß gegen die Freiheitsrechte des Menschen aufzufassen. "It should be clear ... that prohibition of pornography is an invasion of property right, of the right to produce, seIl, buy, and own" (For a New Liberty. The Libertarian Manifesto, revised edition, New Y ork / London 1973, S. 104). Daß ein Verbot der Pornogaphie die Grundrechte des Menschen verletze, werde vor allem von den Konservativen übersehen. "Conservatives who call for the outlawing of pornography do not seem to realize that they are thereby violating the very concept of property rights they profess to champion" (ebd.). 161 Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt, S. 298. 158
159
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
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konzeption vertreten die amerikanischen Konservativen ein Demokratiekonzept, das alle Extreme meidet. Sie lehnen sowohl alle antidemokratisch-elitären Ordnungsvorstellungen wie auch alle radikal-egalitären auf das Entschiedenste ab. Was die autoritären Systeme anlangt, so schreibt Irving Kristol: "Modern versions of superior government by a tiny elite ... are always fighting against the economic and social tendencies inherent in their own societies" 163. Hand in Hand mit dieser vehementen Ablehnung antidemokratischer Politikkonzeptionen geht die ebenso enragierte Zurückweisung radikaldemokratischer Demokratieauffassungen. Der plebiszitären Variante der Demokratie wohne zweifellos die Gefahr der Selbstzerstörung inne. So schreibt Samuel Huntington: "Democracy, as a result, can very easily become a threat to itself' 164. Insbesondere der in allen Demokratien der westlichen Welt vorhandene Populismus stehe im Gegensatz zu all den Anforderungen, die an eine funktionierende liberale Demokratie gerichtet werden müssen. "Populism ... easily degenerates into political paranoia, with ,enemies ofthe people', being constantly discovered and exercised and convulsively purged" 165. Die exzessiven Forderungen radikaler Demokraten gefahrdeten die Institutionen der liberalen Demokratie, unterminierten ihre Legitimität. So schreibt Irving Kristol: "Populist paranoia is always busy subverting the very institutions and authorities that the democratic republic laboriously creates for the purpose of orderly self-government" 166. Vor allem der "demokratische Aufbruch" der sechziger Jahre habe dazu beigetragen, die Autorität der liberal-demokratischen Institutionen, insbesondere diejenigen der USA, abzubauen. "The essence of the democratic surge of the 1960's was a general challenge to existing systems of authority, public and private"167. Zur Signatur dieses Autoritätsverfalls gehöre auch der Verlust des Selbstbewußtseins der politischen Eliten. Viele Politiker zögen es vor, mit den Wölfen der veröffentlichten Meinung zu heulen. Die Repräsentanten des amerikanischen Neokonservatismus nehmen auch die stetige Ausweitung der Staatstätigkeit in ihren kritischen Blick. Als geschworene Feinde der Planwirtschaft lehnen sie diese Entwicklung rundheraus ab. Sie betrachten es als eine Fehlentwicklung, wenn soziale Forderungen in einer zunehmenden Staatsaktivität resultieren. Diese Ablehnung resultiert auch aus der Befürchtung heraus, daß der sozial- und wirtschaftsinterventionistische Staat jeglicher Autorität entrate. Huntington schreibt in diesem Zusammenhang: "Americans were progressively demanding and receiving more benefits from their 162 Ebd.
lrving Kristol, Two Cheers for Capitalism, S. 184 f. Samuel Huntington, The Democratic Distemper, in: Nathan Glazer and Irving Kristol: The American Commonwealth, New York 1976, S. 37. 165 lrving Kristol, On Corporate Capitalism in America, in: Nathan Glazer / Irving Kristol: The American Commonwealth, S. 127. 163
164
166 Ebd. 167
Samuel P. Huntington, The Democratic Distemper, S. 15.
4. Liberaler und illiberaler Konservatismus
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government and yet having less confidence in their government than they had a decade earlier" 168. Diese illegitime Erhöhung des Demokratisierungs- und Interventionsgrades des Wohlfahrtsstaates verleihe dem amerikanischen Gemeinwesen eine Fragilität, die früheren Generationen weitgehend unbekannt gewesen sei. Letzten Endes stehe die "Governability" der Vereinigten Staaten auf dem Spiel. Diesem "Overloading" des amerikanischen Systems müsse durch den Rekurs auf frühere Politikpraxen begegnet werden. Dazu gehöre vor allem das Zurückschrauben von illegitimen Gruppenansprüchen, die die Intervention des Staates in das System der Bedürfnisse beschleunigen und zugleich seine Autorität in bedenklichem und stetig zunehmendem Maße gefährden. "Less marginality on the part of some groups thus needs to be replaced by more-self restraint on the part of all groups" 169. Mit den Repräsentanten des Neoliberalismus sind die Vertreter des amerikanischen Konservatismus auch der Auffassung, daß es ein strammes KorrelationsverhäHnis zwischen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung eines Landes gibt, daß die Demokratie der Marktwirtschaft und der Totalitarismus der Planwirtschaft entspreche. So heißt es bei Irving Kristol: "Never in human history has one seen a society of political liberty that was not based on a free economic system i. e., a system based on private property" 170. Mit dem Neoliberalismus ist Irving Kristol der Auffassung, daß auch schon die Teilplanung freiheitsgefährdend wirken kann. Insbesondere der amerikanische Linksliberalismus öffne durch seine Planungseuphorie der Illiberalität Tür und Tor. "This species of liberalism can only end up in the same place that more candidly socialist movements end up: a society where liberty is the property of the state" 171. Auch der zeitgenössische deutsche Konservatismus weist eine Vielzahl von Persönlichkeiten auf, die sich um eine Verbindung von freiheitlichen und konservativen Politikprinzipien bemühen. Dabei ist es ihnen nicht zuletzt darum zu tun, der Verteidigung liberaler Errungenschaften einen genuin konservativen Akzent zu verleihen. Sie erblicken in der Stellungnahme für den Rechtsstaat eine genuin konservative Aufgabe. So schreibt Dolf Sternberger: "In gewissen Hinsichten muß man ... konservativ sein: insofern und soweit es um Grundsätze, Einrichtungen und Verfahrensweisen geht, die zu bewahren nötig und geboten ist" l72. Aus diesem Grunde sei es heute das Gebot der Stunde, "verfassungskonservativ , rechtskonservativ , freiheitskonservativ , sogar staatskonservativ" 173 zu sein. Wie Dolf Sternberger, so hält auch Gerd-Klaus Kaltenbrunner dafür, daß das 168
Ebd., S. 11.
Ebd., S. 37. lrving Kristol, Socialism as Politieal Magie, in: Dialogue 12 (1979), S. 18. m Ebd., S. 19. l72 Dolf Sternberger, Darf man heute konservativ sein?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 232,7. Oktober 1970. 173 Ebd. 169
170
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
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heutige liberale Institutionengefüge nur aus einem konservativen Geiste heraus auf Dauer gestellt werden kann. "Es ist meine feste Überzeugung, daß die liberalen Prinzipien und Institutionen, die die gesamte westliche Kultur geprägt haben, nur dann gesichert und auf eine den Erfordernissen der Zeit angemessene Weise entwickelt werden können, wenn man sich gegen einen zur puren Wut gewordenen Liberalismus der "Emanzipation" verteidigt und wenn man aus der Tatsache, daß die Prämissen der liberalen Ideologie obsolet geworden sind, die flilligen, nicht immer populären Schlüsse zieht. Und diese Schlüsse weisen in eine Richtung, die man mangels eines besseren Wortes als konservativ bezeichnen mag" 174. Für einen vorurteilslosen Politikanalytiker werde es immer deutlicher, daß das aufklärerische Ideal der Freiheit heute von politischen Kräften verteidigt werde, "die meist in einem abschätzigen Sinne als konservativ, rechts oder reaktionär gelten"175. Ihnen gebühre das Verdienst, die "gelebte Erfahrung individueller Freiheit und Vielfalt" 176 vor dem doppelten Sieg technokratischer und sozialutopischer Ansprüche zu retten. Aus diesem Grunde versteht sich Gerd-Klaus Kaltenbrunner zufolge der zeitgenössische Konservatismus als "Erbe der institutionellen Errungenschaften des Liberalismus" 177. Dabei weiß sich Kaltenbrunner mit seinem Bekenntnis zum liberalen Konservatismus in der geistigen Tradition Alexis de Tocquevilles. Gerade seine Schriften seien als authentisches Zeugnis eines Konservativen zu betrachten, "der zugleich ein großer Liberaler war" 178. In Übereinstimmung mit Sternberger und Kaltenbrunner weist auch Hermann Lübbe darauf hin, in wie starkem Maße das Freiheitsideal heute der konservativen Abstützung bedarf. Auch für ihn gewährleistet allein eine Verbindung von liberalen und konservativen Politikprinzipien diejenige Freiheit, für die Locke, Kant und die Verfasser der Federalist Papers eingetreten sind. Aus diesem Grunde wird Lübbe zufolge "unter bestimmten Progressivitätsbedingungen die Position der Vernunft eben zur konservativen Position" 179. Das herzhafte und uneingeschränkte Bekenntnis neokonservativer Autoren zur liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung wird allerdings auch in Zweifel gezogen. So behauptet Helmut Dubiel allen Ernstes, daß sich "viele der jüngeren bundesdeutschen Neokonservativen, so besonders Hermann Lübbe und die RitterSchule" 180 kaum von der spezifisch deutschen "Tradition eines spezifisch antiliberalen Konservatismus" 181 gelöst haben. Im Gegensatz zu den Repräsentanten des 174 Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Der schwierige Konservatismus, Herford / Berlin 1975, S. 112.
175 Ebd. 176 Ebd., S. 113. 177 Ebd., S. 123. 178 Ebd., S. 124.
179 Hermann Lübbe, Fortschritt als Orientierungsrahmen. Aufklärung in der Gegenwart, Freiburg 1975, S. 68. 180 Helmut Dubiel, Was ist Neokonservatismus?, Frankfurt am Main 1986, S. 27. 181 Ebd.
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amerikanischen Konservatismus hätten viele deutsche Neokonservative zur liberalen politischen Tradition kein eindeutiges, fest definiertes Verhältnis. Zu unbestimmt seien die Grenzen zum illiberalen Konservatismus gezogen, zu sehr die Nähe zur sogenannten "Konservativen Revolution" der Weimarer Republik zu spüren. "So entstand jene spezifisch deutsche geistespolitische Konstellation, in der ... jene Topoi wiederbelebt wurden, mit denen bereits Rechtsintellektuelle der Weimarer Republik zeitgenössische linksliberale und radikalliberale Positionen kritisiert hatten 182." Dubiel zufolge geht es Hermann Lübbe und seinen konservativen Gesinnungsfreunden darum, die technokratische Modernisierung der heutigen Gesellschaft mit einer "vordemokratischen Sollgeltung" 183 zu versehen.
5. Marktwirtschaftlicher und sozialer Konservatismus Zum Beschluß des Kapitels über den Konservatismus soll auch die Frage in den Blick gerückt werden, welche Stellung der Konservatismus der Gegenwart im Hinblick auf die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung einnimmt. Was den Konservatismus früherer Zeiten betrifft, so stellt dieser ein Arrangement dar, in dem karitative mit sozialinterventionistischen Bestimmungsmomenten wirkungsvoll korrespondieren. Die Repräsentanten des konservativen Ideenkreises fühlten sich dem Prinzip des "Noblesse oblige" verpflichtet. Aus diesem leiteten sie die Obligationen ab, für die ökonomisch und sozial Benachteiligten zu sorgen. Deshalb verwundert es kaum, wenn eine Vielzahl von klassischen Vertretern des Konservatismus sich für die soziale Intervention des Staates in das System der Bedürfnisse aussprachen. Kaum ein führender Konservativer des 19. Jahrhunderts widersprach den Auffassungen, die etwa Franz von Baader zu diesem Problemkomplex geäußert hatte. Wenn der Münchner Gesellschaftskritiker behauptete, daß der modeme Kapitalismus sich dem "alten, unmenschlichen Sklaven- und Helotenstaat . . . wieder genähert hat" 184, so entsprach das der Auffassung vieler seiner konservativen Gesinnungsfreunde. Den sozialpolitischen Pragmatismus des frühen Konservatismus stellt nicht zuletzt Alexis de Tocqueville mit seiner Forderung unter Beweis, an den sozialpolitischen Interventionismus der Französischen Revolution anzuknüpfen. Er schreibt: "Schließlich hat die Französische Revolution den Wunsch gehabt ... die Wohltätigkeit in die Politik Ebd., S. 28. Ebd. Vgl. dazu auch Richard Saage, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik, in: Neokonservative und "Neue Rechte". Der Angriff gegen Sozialstaat und liberale Demokratie in den Vereinigten Staaten, Westeuropa und der Bundesrepublik, hrsg. von Iring Fetscher, München 1983, S. 68 ff. 184 Franz von Baader, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller als in intellektueller Hinsicht, aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet, in: Franz von Baader, Gesellschaftslehre. Ausgewählt, eingeleitet und mit Texthinweisen versehen von Hans Grassi, München 1957, S. 238. 182 183
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einzuführen; sie hat von den Pflichten des Staates gegenüber den Armen, gegenüber den leidenden Bürgern eine weitere, allgemeinere, höhere Auffassung gehabt, als man sie von ihr hatte. Diese Auffassung müssen wir uns wieder zu eigen machen, nicht, wiederhole ich, indem wir die Vorsorge und Einsicht des Staates an die Stelle der persönlichen Vorsorge und Einsicht setzen, sondern indem wir tatsächlich wirken mit den Mitteln, über die der Staat verfügt. Den Leidenden zu Hilfe kommen, allen denen zu Hilfe kommen, die, nachdem alle ihre Mittel erschöpft sind, zum Elend verurteilt wären, wenn der Staat ihnen nicht die Hand entgegenstreckte" 185. Konsequenterweise fordert Tocqueville den Staat auf, zugmisten der Armen und Schwachen zu intervenieren. "Die materielle und geistige Lage dieser Klassen zur Hauptsorge des Gesetzgebers zu machen, ... wird jetzt zur Notwendigkeit und Klugheit" 186. Zur sozialpolitischen Aktivität des Staates rief auch Benjamin Disraeli auf. "Another great object of the Tory party ... is the elevation of the condition of the people" 187. In einer ähnlichen Weise hat sich auch der amerikanische Konservative Orestes Brownson zur sozialpolitischen Aktivität des Staates bekannt 188. Eine stolze Ahnenreihe hat nicht zuletzt auch der deutsche Sozialkonservatismus des 19. Jahrhunderts aufzuweisen 189. Während sich im 19. Jahrhundert nahezu alle Repräsentanten des konservativen Ideenkreises zur sozialpolitischen Intervention des Staates in das sogenannte "System der Bedürfnisse" bekannt hatten, ist der Konservatismus der Gegenwart in diesem Zusammenhang eher gespalten. Die konservative Denkfamilie aller westlichen Länder kennt eine marktwirtschaftliche und eine sozialinterventionalistische Ordnungsrichtung. Was die Vereinigten Staaten anlangt, so unterscheidet George H. Nash völlig zu Recht zwischen einem libertär-marktwirtschaftlichen und einem traditionalen Flügel 19O• Während jener den heutigen Sozialstaat in Bausch und Bogen verdammt, bejaht ihn dieser eher. 185 Alexis de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1954, S. 265. Tocqueville hat auch erstaunlich detailbetonte Vorschläge über die Eigentumsbildung in Arbeiterhand unterbreitet. Vgl. dazu seine Abhandlung: Second memoire sur le pauperisme, in: Oeuvres completes, Tome XVI: Melanges, Paris 1989, S. 140 ff. 186 Ebd., S. 252. 187 Benjamin Disraeli, Speech at the Banquet of the National Union of Conservative and Constitutional Associations at the Crystal Palace, on June 24, 1872. Wiesbaden 1968, S. 6. 188 Orestes Brownson, The Democratic Principle, in: Selected Essays. Introduction by Russell Kirk, Chicago 1955, S. 216. 189 Zum Unterschied zwischen Sozialkonservatismus und Sozialliberalismus vgl. Heinrich Herkner, Die Arbeiterfrage, 2. Bd., Soziale Theorien und Parteien, 7. Aufl., Berlin/Leipzig 1921, S. 178 ff. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller, Der deutsche Sozialkonservatismus, in: Konservatismus, hrsg. von H.-G. Schumann, 2. erw. Aufl., Frankfurt am Main 1984, S. 199 ff. 190 George H. Nash, The Conservative Intellectual Movement in America Since 1945, Ney York 1976, S. XIII f. und passim.
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Die in Rede stehende Unterscheidung in einen marktwirtschaftlichen und einen traditionalen Flügel des amerikanischen Neokonservatismus läßt allerdings auch die Frage aufkommen, ob ein dogmatisches Bekenntnis zur Marktwirtschaft sich überhaupt mit dem konservativen Credo verträgt. Nicht zuletzt Erik von KuehneltLeddihn ist in dieser Beziehung äußerst skeptisch. Vor allem auf dem Ursprungskontinent des Konservatismus werde dieser Verbindung eher ablehnend begegnet. "Uns Europäern ist ein kommerziell-kapitalistisch ausgerichteter Konservatismus etwas Fremdes" 191. Sozial gesinnte Konservative haben sich in der jüngsten Zeit immer wieder gegen solche Regierungen gewandt, die im Namen der konservativen Ordnungsvorstellung eine in ihren Augen zu marktwirtschaftlich geratene Ökonomiepolitik implementierten 192. Insbesondere in England fühlte sich der sozialkonservative Flügel der konservativen Partei bemüßigt, die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Thatcher-Kabinetts zu kritisieren. Nicht zuletzt Ian Gilmour wirft Frau Thatcher und ihren Anhängern vor, das sozialkonservative Erbe der englischen Tories in den Wind geschlagen zu haben. Gilmour läßt in seiner Kritik an den libertär eingestellten Konservativen Englands Wertungsgrundsätze erkennen, bei denen eindeutig Benjamin Disrae1i Pate gestanden hat 193. Gilmour macht seine konservativen Parteifreunde darauf aufmerksam, daß der englische Konservatismus von Anfang an dem Laissez-faire-Gedanken den Kampf angesagt hatte und für eine effiziente Sozialpolitik votierte. Gilmour weist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Wirtschafts- und Gesellschaftslehre von F. A. von Hayek zurück. In seinem Werk werde der Zenit eines dogmatisch-marktwirtschaftlichen Denkens erreicht. Er sehe den Wettbewerbsmechanismus als alleinigen Maßstab für die Bewältigung sozialer Probleme an. "For Dr. Hayek, the free market is the magic cure of nearly all ills, and almost any govemrnental interference with it will do political and economic damage" 194. 191 Erik von Kuehnelt-Leddihn, Konservative Intellektuelle in der englisch-sprechenden Welt, S. 146. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, daß es Friedrich August von Hayek weit von sich gewiesen hat, mit dem konservativen Ideenkreis in Verbindung gebracht zu werden. Für den Liberalen Hayek ist der Konservatismus zu ordnungsorientiert, zu wenig an den Interessen des Individuums ausgerichtet. Vgl. dazu seine Abhandlung: Die Verfassung der Freiheit, S. 494 ff. Hayek beklagt sich darüber, daß insbesondere die Konservativen Europas "schon einen großen Teil der kollektivistischen Ideen" übernommen hätten (ebd., S. 495). Aus diesem Grunde könne "der Verteidiger der Freiheit nicht umhin, mit den Konservativen in Streit zu geraten und eine wesentlich radikale Position einzunehmen (ebd., S.496). Auch fan Gilmour lehnt es ab, Hayek zu den Konservativen zu rechnen. "Hayek's great book contains much that is congenial to Conservatives; yet it clearly reveals the great gulf between Conservatism and Liberalism. Reading the book, one almost feels that Liberalism is Conservatism dogmatized, and therefore distorted" (Inside Right, London 1977, S. 114). 192 Vgl. dazu Johann Baptist Müller, Konservative Flügelkämpfe. Marktwirtschaft oder Sozialintervention, in: Evangelische Kommentare 20 (1987), S. 27 ff. 193 Vgl. dazu Benjamin Disraeli, Whigs and Whiggism. Political Writings, Port Washington N. Y. / London 1971.
6 J. B. Müller
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
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Gilmours sozial eingefarbter Konservatismus läßt auch einen Eingriff in die Eigentumsverteilung zu. Im Gegensatz zu Hayek, der derartige Maßnahmen als Todsünden wider den Geist der Marktwirtschaft perhorresziert, plädiert Gilmour unmißverständlich für eine Korrektur der Einkommensdistribution. Dabei ist er weit davon entfernt, dem ökonomischen Egalitarismus das Wort zu reden. Er schreibt: "Conservatives do not favour the imposition of economic equality, but they can easily imagine a distribution of income that would be intolerable and would require adjustment" 195. Gilmour tritt keineswegs zufällig auch als Anwalt der progressiven Einkommensteuer auf. Scharf wendet er sich gegen alle Autoren der "Chicago School", die dieser Steuer den Kampf angesagt haben 196. Bei Staats- und Gesellschaftstheoretikem, die so wesentlich Dogmatiker seien wie Hayek, entstehe bestenfalls eine in sich stimmige Lehre, keinesfalls aber jene pragmatische Einheit von Theorie und Praxis, auf die gerade die konservative politische Bewegung existentiell angewiesen sei. Hayeks Ordnungsvorstellung wird von Gilmour als Ableger einer Einstellung begriffen, die im Stile des More geometrico-Denkens die äußerst komplexe Beziehungsvielfalt des Systems der Bedürfnisse aus einem Punkte heraus erklären und kurieren will 197. Dagegen schwöre der Konservative jeder dogmatischen Wirklichkeitsbewältigung ab und akzeptiere die Polyvalenz der Realität. Gilmour schreibt: "Conservatives see the facts change, and they believe that theories and policies should change with them. Theyare therefore opposed to the rigid rules of economic Liberalism" 198. 194 fan Gi/mour, Inside Right, London 1977, S. 117. Hayek zufolge läßt sich die Forderung nach dem sozialen Ausgleich und der sozialen Gerechtigkeit in keiner Weise mit den Postulaten der Markwirtschaft in Übereinstimmung bringen. Er ist dezidiert der Auffassung, daß "der Begriff der sozialen Gerechtigkeit in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit freier Berufswahl völlig sinnlos" sei (Friedrich August von Hayek, "Ungleichheit ist nötig", Gespräch mit der Wirtschaftswoche 35 (1981), S.38 (6. März 1981». Soziale Ungleichheit sei keineswegs als ein bedauerlicher Umstand, sondern im Gegenteil als ein sozial höchst begrüßenswertes und erfreuliches Faktum anzusehen (ebd., S.36). All diejenigen, die die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf ihre politischen Fahnen geschrieben haben, sind Hayek zufolge einem bedauernswerten Atavismus erlegen. Aus diesem Grunde sei es am sinnvollsten, "wenn wir die Bestimmungen der Preise der verschiedenen Leistungen und damit der in der Wirtschaft erworbenen Einkommen dem Markte überlassen mit all den Ungleichheiten und Zufälligkeiten, die der Preisbestimmung anhaften" (Friedrich August von Hayek, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, in: Schicksal? Grenzen der Machbarkeit. Ein Symposium, München 1977,
S.99).
Ebd., S. 114. Ebd., S. 115. Gi/mour weist auch die Ansicht Hayeks zurück, daß allein die unverfälschte Marktwirtschaft als Basis einer demokratischen Ordnung anzusehen ist. Er schreibt: "Complete economic freedom is not therefore an insurance of political freedom; indeed it can undermine political freedom. Economic Liberalism, because of its starkness and its failure to create a sense of cummunity, is liable to repel people from the rest of Liberalism. This is perhaps the fundamental point of difference between Liberalism and Conservatism." (ebd., S. 118). 197 Ebd., S. 117. 198 Ebd. 195
196
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Dabei weiß Gilmour das marktwirtschaftliche und das planwirtschaftliche Ordnungselement in einer durchaus überzeugenden pragmatisch-konservativen Weise zu verbinden. So sehr der Wettbewerb als eine Grundvoraussetzung einer vernünftigen Gesellschaftspolitik anzusehen sei, so notwendig sei auch der auf Dauer gestellte sozialpolitische Interventionismus des Staates. "Conservatives agree that competition is indispensable to a free society. But they do not make a god of it, and even if they did they would not agree that it was the one and only god. In economics, Conservatives are not monotheists" 199. Ganz im Gegensatz zu Hayek und seinen Gesinnungsfreunden, die jeglicher Sozialintervention äußerst skeptisch gegenüberstehen und den heutigen Wohlfahrtsstaat rundweg ablehnen, plädiert der sozialkonservativ eingestellte Tory Gilmour für die sozialpolitische Aktivität des politischen Gemeinwesens. "The Conservative calls the legitimate use of the power of the state to promote the welfare of the people"2°O. Nicht nur in England, auch in den USA haben sich konservativ gesinnte Autoren dafür eingesetzt, die soziale Dimension im konservativen Ordnungsdenken nicht zu vernachlässigen. Die Sicherheit, mit der im amerikanischen Sozialkonservatismus die Distanz zum libertären Ideenkreis eingehalten wird, bringt jenen unweigerlich in die Nähe zum modemen Sozialliberalismus 201. Dabei treffen sich der amerikanische Linksliberalismus und der Sozialkonservatismus in ihrer Bejahung der New Deal-Reformen. Peter Viereck spricht in diesem Zusammenhang sogar vom "conservatized New Deal liberalism"202. Viereck ist der Auffassung, daß gerade der traditional eingestellte, dem Erbe Burkes verpflichtete Konservative allen Grund hat, die in Rede stehende Rooseveltsche Sozialreform zu begrüßen. "The Burkean conservative today cheriches New Deal reform in economics and Lockean parliamentary liberalism in politics, as traditions here to stay" 203. Mit diesem Bekenntnis zum New Deal verbindet sich im Sozialkonservatismus der USA eine erstaunlich vorurteilsfreie Bewertung desjenigen Nationalökonomen, der zu den Ahnherren des modemen Linksliberalismus zählt: zu John Maynard Keynes nämlich. Ganz im Gegensatz zu Wilhelm Röpke, der neben Rousseau und Marx in Keynes einen Hauptfeind der abendländischen Zivilisation erblickt 204 , hält Russell Kirk dafür, daß das Ideensystem von Keynes einem sozial ausgerichteten Konservatismus keineswegs widerspricht. So schreibt Russell Kirk: "No man was less of an ideologue than Lord Keynes. This economist was fertile in ideas, not all of them internally consistent. As for his plan to moderate fluctuations of the business-cycle by inflationary and deflationary policies of government, he seems to have reckoned without the pressure that the masses in the modem democratic state, constantly exert upon government always 199
Ebd.
Ebd., S. 116. 201 Vgl. dazu Kenneth R. Minogue, The Liberal Mind, New York 1968, S. 182. 202 Peter Viereck, The Unadjusted Man. New York 1956, S. 99. 203 Peter Viereck, Conservatism revisited, New York/London 1962, S. 142. 204 Vgl. dazu S. 30. 200
6"
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
to pursue inflation and never deflation. But all this certainly is a legitimate realm of speculation. If professors may not talk about the ideas of Keynes, whose ideas may they discuss? What economist ever arrived at complete and unalterable truth about every aspect of economic being 205?" Sozialkonservative Ordnungsvorstellungen wurden und werden nicht zuletzt auch in Deutschland vertreten. Auch in diesem Land kann dieser Ideenkreis auf eine stolze Tradition zurückblicken. Zu seinen führenden Repräsentanten zählen Persönlichkeiten wie Franz Hitze, Victor Aime Huber, Jakob Kaiser, Theodor Lohmann, Wichard von Moellendorff, Lorenz von Stein, Dietrich von Trotha und Hermann Wagener 206 . Die Stimme des Sozialkonservatismus ist auch im ideologischen Konzert der Bundesrepublik unüberhörbar zu vernehmen. Unter den führenden Persönlichkeiten der konservativen Politikfamilie hat sich nicht zuletzt Klaus Hornung als ein engagierter Anwalt dieses Ideenstranges 207 zu erkennen gegeben. Ihm zufolge bleibt auch die Perspektive des heutigen Sozialkonservatismus auf die Einsicht gerichtet, daß allein ein sozial ausgewogener Staat ein stabiles politisches Gebilde darstellt. Der rhetorisch nur notdürftig verdeckte Hauptmangel des klassischen Liberalismus bestehe darin, diesen grundlegenden Tatbestand geflissentlich übersehen zu haben. Hornung schreibt: ,,Für konservatives Denken ist der Sozialstaat zunächst einmal ... eine Ausgestaltung und Form des politischen Gemeinwesens schlechthin. Wie der Rechtsstaat leistet auch der Sozialstaat unter den modemen Lebensumständen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft einen wichtigen Beitrag zur Stabilität des Gemeinwesens"208. Dem Sozialstaat komme in diesem Zusammenhang auch die Aufgabe zu, die selbstisch agierenden Mitglieder der Staatsgesellschaft zur egoismusüberwindenden Staatsgemeinschaft zu verbinden. "Er soll soziale Konflikte entschärfen ... als Element der sozialen Integration wirken und ... Freiheit und Bindung dialektisch zusammenfügen"209. Dabei 205 Russell Kirk, Academic Freedom. An Essay in Definition, Chicago 1955, S. 125. Vgl. dazu auch ders., Ideology and Political Economy, in: America, January 5, 1957, S. 390. In der Literatur wird oft übersehen, daß die amerikanischen Neokonservativen den Wohlfahrtsstaat keineswegs unisono in Grund und Boden verdammen. So schreibt Irving Kristol, ,,Neo-conservatism is not at all hostile to the idea of a welfare state" (What is a ,Neo-Conservative'?, in: Newsweek, January 19, 1976, S. 17). 206 Vgl. dazu Klaus Hornung, Der Sozialkonservatismus im deutschen Staats- und Gesellschaftsdenken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 23. Februar 1990, S. 3 ff.; ders., Konservative Sozialpolitik im Zeitalter Bismarcks, in: Critic6n 113, Mai !Juni 1989, S. 135 ff. 207 Über die Notwendigkeit sozialpolitischer Maßnahmen in der modernen Industriegesellschaft schreibt Hornung: "Seit dem Beginn der Industriellen Revolution mit ihren umwälzenden gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen hat sozialkonservative Reformpolitik stets die Notwendigkeit und Berechtigung des modernen Staates, sozial gestaltender Staat zu sein, für gesellschaftliche Gerechtigkeit zu sorgen und benachteiligte Bevölkerungsgruppen Zu schützen, bejaht und gefordert" (Der Sozialkonservatismus im deutschen Staats- und Gesellschaftsdenken, S. 11). 208 Ebd., S. 12. 209 Ebd.
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venneide es der Sozialkonservatismus sorgfältig, das politische Gemeinweisen vom System der Bedürfnisse her zu bestimmen. In Übereinstimmung mit Edmund Burke definiert Klaus Hornung die utilitaristisch-ökonomistisch ausgerichtete Staatsdoktrin als authentisches Zeugnis einer gemeinschaftswidrigen Denkweise, die notwendigerweise zum Scheitern verurteilt sei. Während die gegnerischen Ideologen des Sozialkonservatismus in einem hennetisch abgeschlossenen System staatszerstörender Topoi steckenblieben, sei allein er in der Lage, zu einem wirklichkeitsadäquaten und humanitätsstiftenden Staatsbegriff vorzudringen. Hornung zufolge impliziert die Ablehnung des egoistisch ausgerichteten Staatsund Gesellschaftsmodells die Anerkennung einer Staatsphilosophie, in der dem Machtstreben der einzelnen Bürger deutlich Einhalt geboten wird. Allein ein dieser Prämisse verpflichteter Staat sei imstande, die "Solidarität der Menschen"210 zu stärken. Die Gemeinschaftsverpflichtung des Menschen bestimmt die Staats- und Gesellschaftsphilosophie des Sozialkonservatismus bis in seine letzten Detailstrukturen hinein. Dabei wird auch die Bedeutung der individuellen Moral betont. "Das Ethos des Sozial staatsbürgers ... ist ein Ethos sowohl individueller Tugenden wie Fleiß, Anstrengung, Beharrlichkeit wie auch der politischen Tugenden des bürgerlichen Mutes, der Solidarität, des Denkens in Generationen und an das Ganze"2I1. Das Bekenntnis zum Sozialstaat schließt jedoch keineswegs aus, daß an seinen gegenwärtigen Strukturen und Funktionen auch Kritik geübt wird. Der moderne Sozialkonservatismus entdeckt an dem imposanten Bauwerk des heutigen Wohlfahrtsstaates durchauch auch Risse. Hornungs Einwände summieren sich zu einer Bilanz, in der die Warnung vor einer hypertrophen Versorgung der Staatsbürger im Mittelpunkt steht. Ihm zufolge ist es beim Ausbau des an sich legitimen Sozialstaates "zu Wucherungen und nicht selten auch zum Mißbrauch des Sozialstaatsprinzips gekommen"212. Auf dieser Argumentationslinie wagt sich Hornung zu der These vor, daß heute sehr oft nicht mehr die Hilfe für die wirklich Bedürftigen im Mittelpunkt stehe, "sondern die Realisierung prinzipiell grenzenloser Ansprüche der vielen, wenn nicht aller" 213 • Die Repräsentanten des modernen Sozialkonservatismus halten auch dafür, daß ihre Kritik am ausufernden Sozialstaat sie in die ideologische Nähe des Neoliberalismus bringt. Bis in scheinbar nebensächlichste Details hinein fonnuliere der Sozialkonservatismus Ordnungsprinzipien, die auch die sogenannte Freiburger Schule als die ihrigen anerkennt. So schreibt Klaus Hornung: "Sozialkonservative Ansätze treffen sich ... mit der ordoliberalen Kritik an einem ungehemmten, tendenziell monopolistischen Kapitalismus, wie an den letztlich 210 Ebd., S. 12. 211 Ebd., S. 13. 212 Ebd., S. 11. 213 Ebd. Hornung weist in diesem Zusammenhang auch auf weitgehende ideologische Übereinstimmungen zwischen dem Sozialkonservatismus und dem Neoliberalismus hin (ebd., S. 12).
III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
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freiheitsgefahrdenden Regelungen eines zur Wohlfahrtsdemokratie ausufernden Sozialstaates 2l4." Beide Ordnungskonzeptionen wiesen auf die sittlichen und kulturellen Voraussetzungen einer sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung hin, die "nur jenseits von Angebot und Nachfrage" gefunden werden können. Diese ideologische Nähe zum Neoliberalismus sollte allerdings nicht vergessen machen, daß der Sozialkonservatismus ungleich pragmatischer über den Problemkomplex Planwirtschaft und Marktwirtschaft denkt, als dies bei Röpke, Eucken und Rüstow der Fall ist. Der Sozialkonservatismus ist weit davon entfernt, den Markt zu deffizieren, ihn aus einer nominalistischen Perspektive heraus zu glorifizieren 215.
6. Konservatismus, Faschismus und Nationalsozialismus Jegliche Besinnung auf die Konstitutionsprinzipien des konservativen Ideenkreises der Gegenwart muß auch der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis er zu den rechts von ihm angesiedelten ideologischen Familien Faschismus und Nationalsozialismus 216 steht. Dabei ist zunächst davon auszugehen, daß sich keineswegs alle Repräsentanten des konservativen Ideenkreises als mustergültige Kämpfer gegen die rechtstotalitären Regime unserer Zeit geriert haben. Trotzdem wäre es wissenschaftlich höchst insuffizient, den Konservatismus mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus in einen ideologischen Topf zu werfen. Trotz aller bestehenden Konvergenzen und Interferenzen zwischen dem Konservatismus einerseits und den in Rede stehenden Doktrinen des Faschismus und des Nationalsozialismus andererseits dürfen die tiefgreifenden Differenzen keineswegs aus dem Auge gelassen werden. Der Wahrheitsgehalt dieser Auffassung ruht zunächst in der Gewißheit, daß sich Faschismus und Nationalsozialismus als ungleich modernere Ideologien zu verstehen geben als der Konservatismus. Was das Verhältnis des Konservatismus zur Vergangenheit anlangt, so sind nahezu alle seine Repräsentanten von der Auffassung bestimmt, daß ihre Lehren auf keinen Fall vernachlässigt werden dürfen. Im Gegensatz dazu wird im Faschismus und im Nationalsozialismus der alten Zeit kaum nachgetrauert. In beiden Ideologien findet sich ein herzhaftes Bekenntnis zur Jetztzeit. Ihre Vertreter öffnen sich ohne Vorbehalte der Modeme und perhorreszieren die traditionale Wertewelt. Während der konservativen Denkanstrengung ein antimoderner Zug eingeprägt ist, geben sich die rechts von ihnen angesiedelten Ideologie214 215
216
Ebd., S. 12.
Ebd. Karl Dietrich Bracher hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Faschismus
und Nationalsozialismus kaum über einen ideologischen Kamm zu scheren sind. Vgl. dazu seine Abhandlung Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus und Demokratie, 3. Aufl., München 1979, S. 13 ff.
6. Konservatismus, Faschismus und Nationalsozialismus
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gruppen als panegyrische Repräsentanten der modernen Zivilisation zu erkennen. Diese Ansicht wird beispielsweise von Hugh Seton-Watson geteilt. Ihm zufolge ist es weder dem Faschismus noch dem Nationalsozialismus darum gegangen, "die Vergangenheit wieder aufzurichten" 217. Die Vertreter beider Ideenkreise seien keineswegs bereit gewesen, "das wieder einzusetzen, was durch eine frühere Revolution beseitigt worden war"218. Aus diesem Grunde sei es auch unangebracht, sie als konterrevolutionär zu bezeichnen. In wie starkem Maße der Faschismus sich letzten Endes dem Geist der Moderne verschrieben hatte, darauf verweist auch J. S. Barnes. Als Repräsentant des faschistischen Indeenkreises bekennt sich dieser englische Autor unmißverständlich und ohne jeglichen Vorbehalt zum Geist der Jetztzeit. "Fascism indeed would reject nothing apriori of the result of modern ,progress' "219. Wie unübersehbar der Abschied des Faschismus beispielsweise des Nationalsozialismus von der Tradition in Wirklichkeit ist, wird vor allem dann augenfällig, wenn man sowohl die deutsche als auch die französische und italienische Ideologieszene Revue passieren läßt. Was das Verhältnis zwischen Natonalsozialismus und Konservatismus anlangt, so war es allen Repräsentanten der Hitlerschen Ideologie darum zu tun, sich vom überkommenen Konservatismus deutlich und unüberhörbar zu distanzieren. Nicht nur im Horst Wessel-Lied wurde der sogenannten Reaktion der Kampf angesagt, auch namhafte Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie hatten aus ihrer engagierten Ablehnung des Konservatismus keinerlei Hehl gemacht. Insbesondere Alfred Rosenberg war es darum zu tun, sich vom Konservatismus abzusetzen. Ins Fadenkreuz seiner antikonservativen Einstellung geriet nicht zuletzt der Wiener Soziologe und Gesellschaftsphilosoph Othmar Spann. Das Konstruktionsmuster, das der Spannschen Soziallehre zugrunde liege, sei hoffnungslos dem historisch überholten Geist des Christentums verpflichtet. Seine Gesellschaftstheorie entrate jeglichen Verständnisses gegenüber dem völkischen Geist der Jetztzeit. "Damit enthüllt die universalistische Schule, daß sie ihren Namen nicht aus rein fachphilosophischen Gründen, sondern aus theokratischen Überzeugungen trägt. Damit entschleiert sie aber auch, was eigentlich unter dem Begriff ,Ausgliederungsfülle' zu begreifen ist: Letzten Endes doch die Ausgießung des in der ,Menschheit' oder in der ,geformten Religion' enthaltenen Gehaltes, denn woher sollte diese ,Ausgliederung' sonst stammen, wenn Volkstum eine drittrangige Größe ohne organische Ahnen ist 220?" Statt der blutsbedingten Politikkonzeption 217 Hugh Seton-Watson, Faschismus - rechts und links, in: Internationaler Faschismus 1920-1945, hrsg. von Walter Laqueur / George L. Mosse, München 1966, S. 264. 218 Ebd.
Major J. S. Barnes, Fascism, London 1931, S. 49 f. Wertvolle Hinweise zu diesem Problemkomplex finden sich auch bei Eberhard Straub, Die Götterdämmerung der Modeme. Von Wagner bis Orwell, Heidelberg 1977. 220 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 49.-50. Aufl., München 1935, S.696. Dabei 219
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III. Der Konservatismus als Ordnungslehre
Reverenz zu erweisen, begehe Othmar Spann den kaum verzeihlichen Fehler, sein soziales Gliederungsprinzip auf eine rein geistige Grundlage zu stellen. In seinem universalistischen Denksystem werde "rein abstrakt ... eine Stufenleiter des Geistigen errichtet, schematisch wird eine Neukonstruktion des Weltbildes begonnen, um auf Grund der alten platonischen Einsicht, daß Gattung vor Art komme, folgenden ,geistigen Stufenbau der geschichtlichen Menschheitsgesellschaft' aufzustellen: Menschheit-Kulturkreis- Völkerkreis-Volkstum-Stammestum-Heimatkreis-Volksglied"221. Neben Othmar Spann geriet auch Ludwig Klages in das Fadenkreuz der Rosenbergsehen Kritik. Dabei nimmt er besonders die Kulturkritik von Klages aufs Korn. Der Blick für das Spezifische des Nationalsozialismus werde verstellt, wenn man wie er an der modernen Welt nur Negatives entdecke und konstatiere. Eine auf seinen kulturkritischen Prämissen basierende Gesellschaftsphilosophie sei außerstande, zu einer genuin nationalsozialistischen Seinsanalyse vorzudringen. Das Denken von Klages stehe so sehr im Zeichen einer "Flucht aus Gegenwart und Geschichte" 222, daß es nur als ideologischer Widerpart zur nationalsozialistischen Weltanschauung gedeutet werden könne. Die Repräsentanten des Nationalsozialismus haben nicht zuletzt auch die ständestaatlichen Ordnungsvorstellungen 223 des Konservatismus vehement zurückgewiesen. Dabei wird den konservativen Ständetheoretikern zum Vorwurf gemacht, einem genuin nationalsozialismusfeindlichen Denken verpflichtet zu sein. Nicht der nationalsozialistische Ordnungs gedanke beherrsche ihre Überlegungen, sondern Politikhaltungen, die zu Recht von Adolf Hitlers Revolution ins illegitime Abseits gedrängt worden seien. "Es fand sich im ständischen Schrifttum in der Systemzeit kein wesentlicher ständischer Entwurf, der nicht von einer politischweltanschaulichen Richtung der damaligen Zeit bestimmt war. Der maßgebliche Einfluß konservativen und korporativen, romantischen und bündischen, protestantischen, katholischen und universalistischen Denkens trat bei allen ständischen Theorien der Systemzeit in Erscheinung 224". Die korporativistischen Ordnungsvorstellungen vor 1933 hätten nicht zuletzt der nationalsozialistischen Führerkonzeption zu wenig Sukkurs geleistet. "Fast durchweg trat bei den Ständeideologien die liberale Abneigung gegen den Einfluß der politischen Führung auf die einzelnen Lebensgebiete sowie der utopische Glauben an eine natürliche Harmonie der sich selbständig entfaltenden Kräfte in Erscheinung" 225. soll keineswegs geleugnet werden, daß es im Nationalsozialismus nicht vergangenheitsorientierte Bestimmungsmomente gegeben hat. Vgl. dazu lost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1988. 221 Ebd., S. 221. 222 Alfred Rosenberg, Gestalt und Leben, Halle / Saale 1938, S. 10. 223 Vgl. dazu lohann Baptist Müller, Der Korporatismus im Spannungsfeld von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus, S. 57 ff. 224 lustus Beyer, Die Ständeideologien der Systemzeit und ihre Überwindung, Darmstadt 1941, S. 304.
6. Konservatismus, Faschismus und Nationalsozialismus
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Wegen der ideologischen Insuffizienz der konservativen Ständestaatskonzeptionen seien die Nationalsozialisten gezwungen gewesen, ihre eigene Korporatismusdoktrin zu entwickeln. Sie bewege sich innerhalb eines Vorstellungssystems, das bar aller petrifizierten Bestimmungsmomente des überwundenen Konservatismus sei. "Damit wuchs in den späteren Jahren nach der Machtübernahme auch die Erkenntnis, daß die ständepolitischen Richtungen der Nachkriegszeit trotz ihrer gemeinsamen antiliberalen Basis doch in entscheidenden Fragen auf anderen Voraussetzungen ruhten und die Bewegung ihnen gegenüber ein eigenes ständisches Programm entwickelt und verteidigt hatte"226. Das nationalsozialistische Korporatismuskonzept weicht in der Tat entscheidend von der konservativen Ständestaatsidee ab. Darauf hat Justus Beyer mit aller Deutlichkeit hingewiesen. "In den fachlichen Gliederungen der Partei, in Arbeitsfront, in KdF., im Reichsnährstand, der Reichskulturkammer und anderen Neugründungen sind Organisationen geschaffen, die sich von den Vorschlägen der ständischen Literatur der Systemzeit durchweg unterscheiden"227. Dem Nationalsozialismus sei es auch in dieser Beziehung gelungen, "gegen die geschichtlich überholten Gedankengänge der Reaktion" erfolgreich zu Felde zu ziehen 228. Der überaus enge Zusammenhang zwischen der nationalsozialistischen Politikkonzeption und dem Geist der Moderne bekundet sich nicht zuletzt auch dann, wenn der Stellenwert der Technik im Nationalsozialismus untersucht wird. In der nationalsozialistischen Technikinterpretation avanciert die naturwissenschaftlieh geprägte moderne Zivilisation zu einer Ordnung, in der ein heroischer Lebenswandel zur systemadäquaten Verhaltensweise wird. Ein Repräsentant des Nationalsozialismus schrieb im Jahre 1930: "Der Nationalsozialismus wird ... die hohen Persönlichkeitswerte, welche die erzieherische Einwirkung des technischen Berufs bei den Ingenieuren zwangsläufig schafft ... durch starke Heranziehung der Ingenieure zur Staatsverwaltung für die Allgemeinheit nutzbar machen"229. Zu diesen vom Nationalsozialismus postulierten und gefeierten Werten der technischen Lebenswelt gehören "Dienstwillen, Altruismus, optimistisch-heroische Weltanschauung"230. Der in Rede stehende nationalsozialistische Autor kündigt auch an, daß seine Bewegung nach der Machtergreifung alles daran setzen werde, die Verwaltung im Sinne einer effizienten und technikorientierten Politik zu reorganisieren. Die nationalsozialistische Revolution werde "technischer Denkweise und technischer Arbeitsmethodik ... den Weg in das Allgemeindenken und die Staatsverwaltung bahnen"231. 225 226 227 228
Ebd. Ebd., S. 305. Ebd., S. 307 Ebd.
229 PeterSchwerber, Nationalsozialismus und Technik, München 1930, S. 5 (Nationalsozialistische Bibliothek, Heft 21, hrsg. von Gottfried Feder M. d. R.). 230 Ebd. 231 Ebd.
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In der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis stellte die Technik in der Tat einen entscheidenden Bestimmungsfaktor dar. Die Parteiführung bediente sich ausgesprochen moderner technischer Mittel. Rüdiger Altmann zufolge rekurrierte nicht zulezt die SS auf moderne Herrschaftspraxen. "Wie man auch immer Kult und Symbolik der SS werten mag, ausschlaggebender war neben der Skrupellosigkeit ihrer Machtausübung die ausgesprochene Modernität ihrer Organisation und ihrer Leidenschaft für die Mittel der Technik"232. Nicht zuletzt Hitler selber hat sich ausgesprochen technikbejahend gegeben 233 . Die Bejahung der modernen Technik verträgt sich in der nationalsozialistischen Ideologie durchaus auch mit dem Rekurs auf einen vitalistisch eingefärbten Irrationalismus. Nur vordergründig steht Ernst Krieck 234 zufolge die moderne Technik im Gegensatz zur lebensphilosophischen Weltanschauung des Nationalsozialismus. In Wirklichkeit seien in ihr die beiden Prinzipienbereiche zu einer widerspruchslosen Synthese gelangt. Ernst Krieck schreibt: ,,Einen Gegensatz zum Leben stellt die Maschine nur dar, wenn man sie als ruhendes, abgelöstes Ding faßt, nicht hinsehend auf ihren Ursprung, ihren Zweck, ihre Funktion"235. Dabei seien es nicht zuletzt aufklärerische Autoren gewesen, die die beiden zusammengehörenden Lebensbereiche falschlicherweise voneinander trennten 236. Die Modernität des Nationalsozialismus wurde nicht nur von seinen Propagandisten, sondern auch von seinen konservativen Gegnern unter Beweis gestellt. Sie haben nie auch den geringsten Zweifel daran gelassen, daß der dem Geiste der Neuzeit verpflichtete Nationalsozialismus ihren traditionsbestimmten Ordnungsprinzipien weitgehend widerspricht. Vor allem Edgar Julius Jungs Opposition gegenüber der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung war aus einer antimodernen Haltung heraus bestimmt. Dabei ist es nicht zuletzt die dem modernen Geist verpflichtete nationalsozialistische Parteiorganisation, die Jungs Unwillen erregt. Letzten Endes sei sie angetreten, der herkömmlichen Ständeordnung den Garaus zu machen. Indem der Nationalsozialismus der parteilichen Ordnungsdoktrin huldige, habe er in seinem Kampfe gegen den Konservatismus auch den Liberalismus zu seinem Kriegsgenossen gemacht. Aus diesem Grunde stehe der dem traditional-ständischen Gedanken verpflichtete Konservative sowohl dem Liberalismus als auch dem Nationalsozialismus feindlich gegenüber. Beide seien in gleicher Weise als gefährliche Gegner einzustufen. "Es hieße in der liberalen Vorstellungs welt steckenbleiben, wolle man aus der Niederlage der bürgerlichen Parteien die Schlußfolgerung ziehen, daß es in Zukunft kein politisches Leben mehr geben werde oder daß Rüdiger Altmann, Der wilde Frieden, Stuttgart 1987, S. 84. Ebd., S. 82. Vgl. dazu auch Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-2, Bonn 1951, S. 142 und passim. 234 Ernst Krieck, Mythologie des bürgerlichen Zeitalters, Leipzig 1939. 235 Ebd., S. 54 f. 236 Ebd. 232
233
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gar das politische Lebensrecht verwirkt habe, wer sich nicht von vornherein zur NSDAP bekannt habe" 237. Gerade ein den konservativen Ordnungsprinzipien verpflichteter Zeitgenosse habe zu erkennen, in wie starkem Maße der liberale Geist des Rationalismus auch die nationalsozialistischen Herrschaftsstrukturen beherrsche. "Wer für die sogenannte organische Demokratie eintritt, darf den mechanistischen Zug der Gleichschaltung nicht übersehen"238. Jung läßt keinerlei Zweifel darüber aufkommen, daß dem modern-totalitären Staat des Nationalsozialismus ein konservativ-korporatives System entgegengesetzt werden muß. Allein auf diese Weise sei es möglich, den staatsdeifizierenden Ungeist des Nationalsozialismus erfolgreich abzuwehren. In diesem Sinne schreibt Jung: "Das Endziel der deutschen Revolution soll nicht der totale Staat sein, sondern der Hoheitsstaat, der die sozialen Lebensbereiche überwacht, miteinander ausgleicht und im Sinne völkischer Entfaltung lenkt, sie aber in ihrer Autonomie ungekränkt läßt und ihre Eigengesetzlichkeit schont. Dies ist der Grundgedanke des ständischen und die Konzeption des christlichen Staates. Nur er bietet die Möglichkeit, das Individuum wieder zur Person zu machen, ein glückliches Spannungsverhältnis zwischen Persönlichkeit und sozialem Bereich wiederherzustellen" 239. Dabei gehe es im konservativen Kampf gegen den totalitären Staat des Nationalsozialismus darum, dem abendländischen Gerechtigkeitsideal zu neuem Leben zu verhelfen. Das könne allerdings keineswegs bedeuten, dem liberalen Staatsprinzip das Wort zu reden. Sowohl das liberale Rechtsideal als auch die nationalsozialistische Willkürherrschaft seien durch eine Ordnung zu ersetzen, in der ein den genuin konservativen Ordnungsprinzipien verpflichteter Geist waltet. "Der Rechtsstaat im Sinne der Gesetzesherrschaft gehört der Vergangenheit an, die Zeit der französischen Menschenrechte ist vorüber. Wer daraus schlußfolgert, eine Epoche der Willkür und der Gewalt löse die ewige Sehnsucht des Abendlandes nach Gerechtigkeit ab, stellt sich außerhalb der europäischen Geschichte" 240. Neben Edgar Julius Jung haben auch andere konservative Persönlichkeiten dem aus dem Geist der Moderne heraus geborenen Herrschaftssystem des Nationalsozialismus den Kampf angesagt. Nicht zuletzt der ostpreußische Adlige Friedrich Percyval Reck-Malleczewen hat keinen Hehl daraus gemacht, in wie starkem Maße er den Nationalsozialismus ablehnte. Wenn es seiner Ansicht nach ein Leitmotiv gibt, das den Geist des Nationalsozialismus bestimme, dann sei es der tief eingewurzelte Wille, aller herkömmlichen Gesittung radikal den Kampf 237 Edgar J. Jung, Sinndeutung der deutschen Revolution, Oldenburg i. O. 1933, S. 63. Vgl. dazu auch Peter Viereck, Metapolitics. From the Romantics to Hitler, New York 1941, S. 58 und 300. 238 Ebd., S. 85. Über den Widerstandskampf Jungs gegen den Nationalsozialismus informiert Karlheinz Weißmann, Edgar J. Jung, in: Critic6n 104, November / Dezember 1987, S. 245 ff. 239 Ebd., S. 54 f.
240 Ebd., S. 81.
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anzusagen. Der Nationalsozialismus sei aus einem Ungeist heraus geboren, der im Namen der modernen Weltanschauung allen traditionalen Werten radikal widerspreche. Aus diesem Grunde lehne er es ab, sich "den unabänderlichen Gesetzen der alten Erde"241 zu verpflichten. Nicht zuletzt die vom Nationalsozialismus praktizierte Herrschaftspraxis, die im Namen der völkischen Egalität verfügte Bekämpfung des abendländischen Persönlichkeitsideals, seien als Kontrapunkt zu einer genuin konservativen Politikdoktrin aufzufassen. "Im Bestreben, auch die kümmerlichen Reste der deutschen Intelligenz in jene so bequeme amorphe Masse willfähriger Gemüsekrämer herabzudrücken, verlangt man aus "nationalen Gründen" von mir die "Gleichschaltung". Die nämliche Vergottung dieses Staates und des möblierten Zimmerherrn, der sich zu seinem Tyrannen gemacht hat. Die nämliche Anbetung von Betrug, Mord und Vertragsbruch also, das nämliche Geschrei, das nämliche Gejohl über niedergekämpfte Feinde, die als brennende Fackeln aus explodierenden Flugzeugen fallen"242. Reck zufolge bedarf es nicht zuletzt der Besinnung auf die Staatsform der Monarchie, um den kontradiktorischen Gegensatz zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus unter Beweis zu stellen 243 . Zur Signatur des genuin konervatismusfeindlichen Nationalsozialismus gehöre dessen radikale Ablehnung aller monarchischen Institutionen. Bei dem deutschen Monarchieanhänger Reck-Malleczewen ist damit eine wichtige Ursache für dessen Nationalsozialismusfeindschaft bezeichnet. Reck schreibt: "Ich denke in den Bahnen eines in Deutschland freilich verschollenen Konservatismus, ich bin monarchisch gezeugt, monarchisch erzogen, die Existenz des Königtums gehört zu meinem physischen Wohlbefinden. Und nicht trotzdem, sondern eben deswegen hasse ich Euch! Kokotten jeder Euch just passenden politischen Konjunktur, Renegaten Eurer Vergangenheit, traurige Beischläfer dieser industriellen Oligarchie" 244. Recks kompromißlose Ablehnung richtet sich nicht zuletzt gegen diejenigen Adligen, die sich Hitler zur Verfügung stellten 245. Der konservativ gesinnte Reck lehnt den Nationalsozialismus nicht zuletzt auch wegen seines pöbel- und massenhaften Charakters ab. Der Hitlerstaat partizipiere durchgängig an den Gesetzen und Normen des Massenzeitalters. Der Abschied vom überkommenen Persönlichkeitsideal sei unübersehbar; schon der Begriff Nationalsozialismus verweise auf die radikale Absage an alle gegen die Massenherrschaft gerichteten Ideale. Damit sei auch eine Abkehr von der Lehre 241 Friedrich Percyval Reck-Malleczewen, Tagebuch eines Verzweifelten, Lorch (Württ.) / Stuttgart 1947, S. 105. Reck-Malleczewen wurde am 16. Februar 1945 im Konzentrationslager Dachau ermordet. 242 Ebd., S. 106. 243 Ebd., S. 188. 244 Ebd. 245 Ebd., S. 100. Reck fragt: "Wie wäre es wohl, wenn man, was nicht minder not tut, alle Adelsnamen, deren Träger durch Dienste in der SS, in der Gestapo, in der SA ihren Schild beschmutzt haben, für ewige Zeiten aus den Matrikeln tilgte?" (ebd.).
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des Christentums gegeben. Reck schreibt: ,,Jenseits einer durch so viele Jahre angestauten ... Ironie glaube ich, daß dies alles hinauskommt auf einen großen Selbstbetrug, hinter dem all die trüben Wünsche der entfesselten Masse ... Habgier und soziales Ressentiment, Zuchtlosigkeit und Brunst und sexuelle Libertinage und eine komplette Abnabelung nicht nur von Gott, sondern auch von den Göttern zu finden sind. Man erfindet, während man längst bei dem Zustand des spätrömischen Großstadtmobs angelangt ist, diesen Anspruch, als ,junges' Volk zu gelten, man erhebt ein caracallisches Gebrüll"246. Ideologische Spannungen und Gegensätze zwischen konservativen und rechtsradikalen Denkern und Bewegungen herrschen nicht nur in Deutschland. Sie bestimmten und bestimmen nicht zuletzt auch die politische Ideologieszene Frankreichs. Dabei weist Robert J. Soucy darauf hin, daß die "Trennungslinien zwischen Faschismus und Konservatismus"247 ausgesprochen "verwischt und ungeordnet" 248 seien. Zunächst gibt sich der Faschismus im Gegensatz zum Konservatismus ungleich biologistischer. Die Welt geht für diesen Ideenkreis nicht in den Prämissen eines angeblich überholten Rationalismus auf. Für den Faschismus wird mit der Aufklärung der Zenit einer lebensfeindlichen Einstellung erreicht. Komplementär dazu pflegt der Faschismus einen Körperkult, der dem Konservatismus weitgehend fremd ist. Die Sportbegeisterung des Faschismus sucht man im konservativen Ideenkreis in der Tat vergebens. Nicht zuletzt bei Drieu la Rochelle wird dem Körperkult gefrönt, erscheint die rationalistische Lebensweise als Entfremdung vom vitalistischen Ursprung. Drieu läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß der körperbetonte Faschismus endgültig den Sieg über die vernunftorientierte Aufklärung davon getragen habe. "Le nouvel homme restitue au premier chef les valeurs du corps. 11 part des exigences et des donnes du corps" 249. Das bio logistisch geprägte Politikuniversum weist auch Akteure auf, die seinem vitalistischen Leitbild entsprechen. In ihm mußte der Händler endgültig dem Helden weichen, der Ökonom dem Soldaten Platz machen. Im faschistischen Staat avanciere der Krieger zur politischen Leitfigur. Drieu schreibt: "L'homme nouveau areuni les vertus qui etaient depuis longternps gravement dissociees et souvent opposees les unes aux autres: les proprietes de l'athlete et du moine, du soldat et du militant"250. 246 Ebd., S. 91. Dabei wird auch Hitler radikal abgelehnt. Er ist für den ostpreußischen Adligen "dieser armselige aus einer Strindbergschen Kothölle entlassene Dämon" (ebd., S. 27), ein "aus Kehricht und Jauche gefertigter Mißgeborener" (ebd., S. 26). 247 Robert J. Soucy, Das Wesen des Faschismus in Frankreich, in: Internationaler Faschismus, S. 58. Vgl. dazu auch Klaus-Jürgen Müller, Die französische Rechte und der Faschismus in Frankreich 1924-1932, in: Industrielle Gesellschaft und politisches System. Festschrift für Fritz Fischer zum siebzigsten Geburtstag, Bonn 1978, S. 413 ff. 248 Ebd. 249 Drieu la Rochelle, Notes pour comprendre le siecIe, Paris 1941, S. 153. 250 Ebd., S. 166.
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Wie auf dem Kasernenhof und auf dem Schlachtfeld, so muß auch im Bereich der Politik den Weisungen des Vorgesetzten unter allen Umständen Gehorsam geleistet werden. Die Verherrlichung des Soldaten schlägt sich auf diese Weise in einer politischen Haltung nieder, der genuin autoritäre Züge eignen. So schreibt Robert Brasillach: "L'Etat modeme a a sa tete un chef ... La revolution du XXe siede est la revolution autour d'un chef, elle a retrouve aisement cet aspect monarchique ... qui est naturel aI'hornrne. Mais cette mon-archie a pour contrepartie l'absolu devouement du chef a son peuple"251. Das vom soldatischen Leitbild geprägte Gemeinschaftsideal des französischen Faschismus weist auch eine Herrschaftsintensität auf, die konservativen Ordnungsvorstellungen weitgehend widerspricht. Dieser Unterschied wird vor allem im Vergleich mit der konservativen Action fran~aise deutlich. Während der französische Faschismus einer homogenen, führerzentrierten politischen Ordnung das Wort redet, geriert sich der Konservatismus der Action fran~aise als Anwalt einer genuin antitotalitären, die regionalen und beruflichen Zwischenglieder des Staates betonenden Ordnung. Rene Remond hat nachdrücklich auf diesen wichtigen Unterschied zwischen den beiden in Rede stehenden Ordnungsvorstellungen aufmerksam gemacht. Er schreibt über die Staatstopoi von Charles Maurras: "Ils sont ... equilibres et comme neutralises par tout I 'heritage de la pensee contrerevolutionnaire, le respect des hierarchies, naturelles et traditionnelles, la denonciation du pouvoir populaire, la defiance des masses, la decentralisation" 252. Nicht zuletzt das organologische Denken der konservativ geprägten Action fran~aise dokumentiere augenfällig ihre ausgeprägte ideologische Distanz zum Faschismus. "L'organicisme est le plus puissant des antidotes contre les poisons que secrete le fascisme"253. Die vitalistisch und bellizistisch geprägte Staatsvorstellung des französischen Faschismus prägt auch seinen politischen Stil. Ausgesprochen konsequent wird die einem rationalen Weltbild verpflichtete Parlamentsdebatte zurückgewiesen und der gewalttätigen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner der Vorzug gegeben. Aus diesen Grunde ist mit Soucy davon auszugehen, daß die Faschisten ,,revolutionäre, mit direkten Aktionen verbundene Taktiken mehr ... verherrlichen, als die Konservativen es taten"254. Die faschistische Vorliebe für die politische Gewalt gründet nicht zuletzt in einem Gesellschaftsbild, das im Gegensatz zum Konservatismus kaum Wert auf 251 Robert Brasil/ach, Morceaux choisis. Presentes par Marie-Madelaine Martin, Geneve / Paris 1949, S. 124. Ohne jegliche Einschränkung wird im französischen Faschismus auch die Politik Hitlers bewundert. Vgl. dazu Alphonse de Chateaubriant, La Gerbe des Forces (Nouvelle Allemagne), Paris 1937. 252 Rene Remond, Les Droites en France, Paris 1982, S. 203. 253 Ebd. Remond zufolge zeichnet sich der Faschismus durch einen "culte du chef', durch eine "idolätrie de l'Etat" aus (ebd., S. 200). 254 Robert J. Soucy, Das Wesen des Faschismus in Frankreich, S. 56.
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ausgeprägte und soziale Distanzen legt. An die Stelle des petrifizierten Gesellschaftsbildes des Konservatismus wird eine ausgesprochen egalitäre Sozialdoktrin gesetzt. Die Frage nach der Ursache dieser revolutionär-egalitären Grundeinstelung kann mit der linken Herkunft vieler faschistischer Führer beantwortet werden 255. Die sozialistische Vergangenheit vieler führender Repräsentanten des französischen Faschismus erklärt auch, warum sie mit Nachdruck einer Versöhnung der Arbeiterschaft mit dem Staat das Wort redeten. Doriot schreibt: "La reussite, c' etait la preuve par neuf qu' on pouvait unir le national et le social, qu' on pouvait reconcilier les classes, qu' on pouvait ramener les ouvriers vers l'idee de nation" 256. Dabei sind die französischen Faschisten zutiefst davon überzeugt, daß der Konservatismus auf Grund seiner elitären Politiküberzeugungen niemals in der Lage sein wird, die Arbeiterschaft mit dem Staat zu versöhnen. Insbesondere Robert Brasillach hat sich zum Anwalt dieser Auffassung gemacht: "C'est ne pas, naturellement, dans nos conservateurs que j' ai quelque espoire pour comprendre la dignite du travail et le charme des fetes populaires" 257. Mit der rigorosen Ablehnung des auf ausgeprägte soziale Distanz Wert legenden Konservatismus durch den Faschismus ist auch der Anschluß an eine Denkweise gefunden, die im ständisch strukturierten Mittelalter nur negative Bestimmungsmomente erblickt. Ganz im Gegensatz zum Konservatismus wird im Faschismus das "Ancien regime" keineswegs nostalgisch verklärt. Unmißverständlich schreibt Drieu La Rochelle: ,,Retour au Moyen Age? Il n'y a jamais de retour des hommes vers le passe ... L'humanite a connu deja des tas de Moyens Ages"258. Diese radikal gegen das Mittelalter und seine Wertordnung eingestellte Haltung des französischen Faschismus hat natürlicherweise diejenigen konservativen Denker auf den Plan gerufen, die sich der Scholastik verpflichtet fühlen. Der bedeutendste unter ihnen ist zweifelsfrei Jacques Maritain. Der Antifaschismus dieses Neothomisten fließt aus der Überzeugung, daß der Faschismus vor allem den Denktraditionen des Abendlandes rigoros den Kampf angesagt hat. Dabei ist Maritains Konservatismus sowohl von einem tief eingewurzelten Antifaschismus als auch von einer Haltung geprägt, die den Liberalismus rigoros ablehnt. Beide 255 Vgl. dazu Zeev Sternhell, La droite revolutionnaire 1885 - 1914. Les origines Frandu Fascisme, Paris 1978, S. 406. 256 Jacques Doriot, La France avec nous. Paris 1937, S. 119 f. Robert J. Soucy weist daraufhin, daß Doriot im Jahre 1942 die Repräsentanten des Vichy-Regimes beschuldigte, "vor 1940 Frankreich zu Dekadenz und Niederlage geführt zu haben, indem sie sich innenpolitisch allen sozialen Veränderungen ... widersetzten" (Das Wesen des Faschismus in Frankreich, S. 53). 257 Robert Brasillach, Morceaux choisies, S. 113. Vgl. dazu auch Eugen Weber, Action Fran~aise. Royalism and Reaction in Twentieth-Century France, Stanford Cal. 1962, S. 403 ff. 258 Drieu La Rochelle, Notes pour comprendre le siede, S. 170. ~aises
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Ordnungsvorstellungen seien illegitime Bausteine im ebenso illegitimen ideologisch-politischen Gebäude der Gegenwart. Für Maritain begann der ideologische Verfall Europas mit dem Sieg der liberalen Weltanschauung. Nun sei ganz im Gegensatz zum Ordo-Denken des Mittelalters das Invididuum aus allen Bindungen entlassen worden, die ihm das natürliche und das göttliche Gesetz auferlegen. Aus diesem Grunde sei der "individualistische Liberalismus"259 als ausgesprochen "negative Kraft"260 zu bewerten. Auf den Trümmern der vom Liberalismus so nachhaltig und erfolgreich zerstörten mittelalterlichen Ordnung wurden allerdings auch Denkgebäude errichtet, die nicht zuletzt dem Liberalismus den Kampf ansagten. Der Liberalismus sei seiner Legitimität verlustig gegangen und habe auf diese Weise dem Kommunismus und dem Faschismus das ideologische Terrain freigegeben. Dabei ziehe der Faschismus seine Antriebe aus dem Zerstörungswerk des Kommunismus. Auf diese Weise deszendiere aus einer illegitimen Politikdoktrin eine andere, ebenso gegen die Ordnung der Natur und Gottes verstoßende. Maritain schreibt: "Kraft eines bewußten Automatismus, der nicht menschlich, sondern mechanisch ist, löst der Kommunismus Abwehrreaktionen aus - und fördert sie - , die zu einer Verteidigung tpyisch faschistischer oder ,rassististischer' Art führen" 261. Kommunismus und Faschismus, aus derselben Wurzel stammend, bekämpfen und bedingen sich. Die kommunistische Bewegung hat den Klassenkampf auf ihre Fahnen geschrieben, die faschistische den Kampf der Völker untereinander. Die Forderung nach der Diktatur des Proletariats stehe dem "götzendienerischen Humanismus Cäsars oder dem zoologischen Humanismus von Blut und Rasse" gegenüber 262 . Der in Rede stehende Gegensatz zwischen faschistischer und konservativer Politikhaltung ist nicht nur in Frankreich, sondern auch in Italien auszumachen. Dabei gibt sich auch die italienische Ausprägung des faschistischen Ideenkreises als eine Ordnungsvorstellung zu verstehen, in der ein betont modernitätsbejahender Sinn waltet. Dieser teilt sich der Ideologie des italienischen Faschismus schon in seinen Anfangen mit. Walter L. Adamson schreibt in diesem Zusammenhang: "Although drawing on many sourcees, the early fascist movement contains little in the way of cultural ideas and ideals that cannot be found in the modernism" 263. Anhängern einer modernistischen Welt und Gesellschaftsansicht ist es in kurzer Zeit gelungen, ihre Vorstellungen dem faschistischen Ideenkreis aufzuprägen. "The modernists, a minority whithin the fascist movement, were disproportionately influential in legitimating it" 264. 259 Jacques Maritain, Christlicher Humanismus, aus dem Französischen, Heidelberg 1950, S. 124.
260 Ebd. 261 Ebd., S. 217. 262 Ebd.
263 Walter L. Adamson, Modemism and Fascism: The Politics of Culture in Italy, 1903 - 922, in: The American Historical Review 95 (1990), S. 362.
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Die modernitätsbejahende Haltung der faschistischen Ideologie und ihrer Bewegung führt notwendigerweise zu einer rigiden Zurückweisung all derjenigen Ordnungsvorstellungen, die auf einen genuin konservativen Ton gestimmt waren. Dabei gab sich nicht zuletzt Benito Mussolini als ein Ideologe zu erkennen, der den konservativen Ordnungs gedanken von Anfang an konsequent zurückwies. Daran ändere auch die Zurückweisung der liberalen Politik- und Gesellschaftslehre durch den Faschismus nicht das mindeste. Mussolini schreibt in diesem Zusammenhang: "Die faschistische Ablehnung des Sozialismus der Demokratie und des Liberalismus darf nicht Glauben machen, daß der Faschismus die Welt in den Zustand vor 1789 zurückversetzen möchte ... Es gibt kein Rückwärts. Die faschistische Doktrin hat nicht de Maistre zu ihrem Propheten erwählt; der monarchische Absolutismus gehört ebenso wie die Kirchendienerei, wie die feudalen Vorrechte und die Trennung in unzugängliche und unüberwindliche Kasten der Vergangenheit an" 265. Dabei ist es Mussolini zufolge nicht zuletzt die äußerst herrschaftsintensive Regierungspraxis des Faschismus, die diesen entscheidend vom Konservatismus unterscheidet. Mussolini schreibt: "Der Begriff der faschistischen Autorität hat nichts zu tun mit dem Polizeistaat. Eine Partei, die eine Nation totalitär beherrscht, ist ein neues Faktum in der Geschichte"266. Der italienische Faschismus unterscheidet sich von der konservativen Ordnungsvorstellung nicht zuletzt durch eine Technikbegeisterung, die einer genuin traditionsbewußten Haltung diametral entgegengesetzt ist. So schreibt ein italienischer Faschist: "In einer ununterbrochenen Folge technischer Schöpfungen, in den sich die fascistische Nation objektiviert hat, offenbart sich ein Gestaltungswille, wie ihn die vorfascistische Politik nicht gekannt hat"267. Derselbe Autor ist der Ansicht, daß gerade ein modem ausgerichteter Zeitgenosse die technischen Errungenschaften des Duce anerkennen müsse. "Wenn man mit den Augen eines Technikers, eines Industriellen oder Geschäftsmannes das Italien von heute mit dem Italien von vor zehn Jahren vergleicht, so wird man beeindruckt sein von der tiefen, auch äußerlich unverkennbaren Wandlung dieses Landes"268. Die stetige Steigerung des Sozialproduktes sei eine der Ruhmesleistungen des Faschismus. Daß allein die auf eine konservative Interpretationsperspektive eingeengte Fragestellung das eigentliche Wesen des Faschismus verfehlt und daß die Bejahung der Technik in diesem Ideenkreis eine entscheidende Rolle spielt, wird 264 Ebd.
265 Benito Mussolini. Der Geist des Faschismus. Ein Quellenwerk, aus dem Italienischen, hrsg. von Horst Wagenführ, München 1943, S. 19. 266 Ebd. Vgl. dazu auch Renzo De Felice, Die Deutungen des Faschismus, hrsg. von Josef Schröder, Göttingen / Zürich 1980, S. 74 ff. 267 Edmondo dei Bufalo. Fascismus und öffentliche Arbeiten, in: Europäische Revue
8 (1932), S. 725.
268 Ebd.
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auch von der modemen Ideologieforschung bestätigt. Walter L. Adamson zufolge ist die Denkanstrengung des faschistischen Ideenkreises von Anfang an auf den Willen gerichtet, die Welt der Technik ohne Abstriche zu bejahen. Dabei ist der italienische Faschismus der Ansicht, die positivistische Weltanschauung habe das Wesen der technischen Lebensordnung falsch interpretiert. "Most fascist leaders believed that industrialism and technology should be embraced but that the culture of positivism with which industrialism and technology were presently bound up was sterile and alienating" 269. Adamson zufolge hat der Faschismus jedoch keineswegs überkommene Wertmaßstäbe vollständig über Bord geworfen. Letzten Endes sei es ihm um eine organische Verbindung zwischen traditionalen Werten und den Ordnungsprinzipien der modemen Technik gegangen. "Cultural practices retrieved from preindustrial society needed to be infused into modem industrial and political settings"270. Wie der Nationalsozialismus und der französische Faschismus, so geriet auch die Politikdoktrin Mussolinis und seiner Anhänger in das kritische Fadenkreuz konservativer Autoren. In Deutschland war es nicht zuletzt Oswald Spengler, der dem italienischen Faschismus eine genuin antikonservative Haltung zum Vorwurf machte. Ihm zufolge handelt es sich bei Mussolinis Staat um ein politisches Gemeinwesen, das in zu starkem Maße dem Geist der Modeme verfallen ist. Es sei nicht zuletzt auf einen Ton gestimmt, der vom modemen Herdeninstinkt bestimmt werde. Der italienische Faschismus verdanke sich der illegitimen Anstrengung, den Staat von der städtischen Masse her zu konstruieren. Aus diesem Grunde könne er kaum für sich in Anspruch nehmem, eine auf Dauer und Stabilität gegründete Ordnung zu sein. "Der Faschismus ist ein Übergang. Er hat sich von der städtischen Masse her entwickelt, als Massenpartei mit lärmender Agitation und Massenreden"271. Vor allem der Versuch des italienischen Faschismus, sich der Loyalität des Arbeiters zu versichern, macht ihn in den Augen Oswald Spenglers zutiefst unglaubwürdig. "Aber solange eine Diktatur ,sozialen' Ehrgeiz hat, um des ,Arbeiters' willen da zu sein behauptet, auf den Gassen wirbt und populär ist, so lange ist sie Zwischenform"272. Der Faschismus gerät nicht zuletzt auch deshalb in das Fadenkreuz der Spenglerschen Kritik, weil er in seiner politischen Ordnung der Einheitspartei entscheidenden Wert beimißt. Spengler zufolge stellt die Partei die typische Organisationsform der zum Untergang verurteilten Massengesellschaft dar. Jegliche Parteibildung atme den Ungeist des Liberalismus und gehöre deswegen unweigerlich der Vergangenheit an. "Eine Partei ist nicht nur eine veraltete Form, sie ruht 269 Walt~r L. Adamson, Modernism and Fascism, S. 362. 270 Ebd.
271 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1. Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, S. 134. Mit diesen negativen Ausführungen über den italienischen Faschismus nahm Spengler auch den Nationalsozialismus in sein kritisches Visier. 272 Ebd.
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auch auf der schon veralteten Massenideologie, sie sieht die Dinge von unten, sie läuft dem Denken der meisten nach"273. Wie in anderen Ländern, so hat auch in Italien der Faschismus die Kritik konservativ-katholischer Staatsethiker herausgefordert. Nicht zuletzt seine Bereitschaft, sich gänzlich der Moderne zu öffnen, stieß auf die lebhafe Ablehnung derjenigen, die sich aus einem christlichen Geiste heraus der Tradition des Abendlandes verpflichtet fühlten. Augusto DeI Noce zufolge war es insbesondere sein Charakter als "säkulare Religion"274, die den erbitterten Widerstand des konservativ-katholischen Lagers hervorrief 275 .
273 274 Jahre 275 7*
Ebd., S. 133. Augusto Dei Noce, Ideen zur Interpretation des Faschismus, in: Ernst Nolte, Vierzig Theorien über den Faschismus, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1984, S.424. Ebd.
IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus Wenn eine Gesellschaft von Freien von ihrem Führer auf das Gemeinwohl der Gesellschaft hingelenkt wird, so wird diese Regierung recht und gerecht sein. Wenn aber die Führung sich nicht an das Gemeinwohl der Gesellschaft, sondern den persönlichen Vorteil des Führers zum Ziel setzt, so wird die Herrschaft ungerecht und wider die Natur sein. Thomas von Aquin
1. Die Genesis des Sozialismus Die Frage, was denn die Quintessenz des Sozialismus ausmache, was diesen gesellschaftlichen und politischen Ideenkreis entscheidend von den anderen unterscheidet, kann mit dem Hinweis beantwortet werden, daß es ihm von Anfang an zuvörderst um die Schaffung einer egalitären Gesellschaft geht. Valentin Gitermann hat die raison d' etre des Sozialismus zu Recht folgendermaßen bestimmt: "Als Ziel hat der Sozialismus die Schaffung einer gesellschaftlichen Organisation erstrebt, die den Menschen befreien sollte ... von Versachlichung und Verkümmerung seiner Persönlichkeit" 1. Dieses Postulat könne nur in einer Gesellschaft Verwirklichung finden, die entscheidend von der Idee der sozialen und wirtschaftlichen Gleichheit bestimmt sei. G. D. H. eole weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß alle Sozialisten sich diesem ethischen Ideal verpflichtet fühlen. "They mean, above everything else, that they want to live in a world organised on a system not of competition of man with man, or of group with group, but of universal human fellowship; and they are quite sure such human societies cannot exist as long as men are devided into social classes with antagonistic interests" 2. Dabei kann der sozialistische Ideenkreis auf ein respekterheischendes Alter zurückblicken. Einige Autoren erblicken seinen Ursprung sogar in der antiken 1 Valentin Gitermann, Die historische Tragik der sozialistischen Idee, Zürich / New York 1939, S. 361. 2 G. D. H. eole, Socialism in Evolution, Harrnondsworth 1938, S. 234. Das Bekenntnis zum Humanismus schließt bei einigen Sozialisten den Rekurs auf ethnozentrische Topoi jedoch keineswegs aus. So haben sich nicht nur Konservative und Liberale, sondern auch Sozialisten zum Antisemitismus bekannt. Vgl. dazu Edmund Silberner: Sozialisten zur Judenfrage, aus dem Englischen, Berlin 1962.
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Welt. Max Beer zufolge kann kein Zweifel daran bestehen, daß wir die ersten sozialistischen Ordnungs vorstellungen schon im Alten Testament ausfindig machen können. Nicht zuletzt die jüdischen Propheten, allen voran Amos3, haben sich seiner Auffassung zufolge unmißverständlich für eine egalitäre Wirtschaftsund Gesellschaftsverfassung ausgesprochen 4 • Dabei seien auch in der griechischen und in der römischen Antike sozialistische Ordnungsvorstellungen auszumachen. Sowohl bei Hesiod S als auch bei Platon 6 finden sich in der Tat Stellen, in denen auf die nachteiligen Folgen großer Eigentumsdifferenzen aufmerksam gemacht wird. Beer weist in diesem Zusammenhang auch auf die Schriften der Stoiker hin. Die Repräsentanten dieser philosophischen Richtung seien "anarchische Kommunisten"7 gewesen. Was die römische Antike anlangt, so wurden sozialistische Gleichheitsideale nicht zuletzt von Spartakus vertreten 8 • Viele Autoren stimmen darüber überein, daß auch das Christentum egalitäre Sozialvorstellungen vertreten habe. Nicht zuletzt die christlichen Urgemeinden haben das egalitäre Liebesideal praktiziert 9. Egalitäre Eigentumsvorstellungen finden sich auch in der Patristik und in der Scholastik 10. Harold J. Laski schreibt in diesem Zusammenhang: "The early Fathers and the mediaeval Schoolmen all found it difficult to defend an economic system in which some men could suffer from privation, while others prospered" 11. Sozialistische Denkansätze können nicht zuletzt auch in der Aufklärung und im Liberalismus aufgespürt werden. Hubert Bourgin zufolge haben vor allem die Enzyklopädisten dem Sozialismus den Weg geebnet l2 • Bourgin schreibt in 3 Vgl. dazu Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, 7. Aufl., Berlin 1931, S. 24 ff. 4 Auch die Essäer haben ausgesprochen sozialistische Egalitätsvorstellungen vertreten. Vgl. dazu Max Beer, loc. cit. 33. S Ebd., S. 38 f. 6 Ebd., S. 57 f. 7 Ebd., S. 17. 8 Ebd., S. 105 ff. 9 Vgl. dazu Arm und Reich in der Urkirche, hrsg. von Adalbert Hamman OFM/ Stephan Richter OFM, Paderborn 1964; August M. KnolI, Der soziale Gedanke im modernen Katholizismus, Wien / Leipzig 1932, S. 19 ff. 10 Die Mehrwerttheorie von Karl Marx wurde sogar von dem katholischen Geistlichen Wilhelm Hohojfvertreten. Vgl. dazu seine Abhandlung: Die Bedeutung der Marxschen Kapitalkritik. Eine Apologie des Christentums vom Standpunkte der Volkswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft, Paderborn 1908. 11 Harold J. Laski, Communism, London 1935, S. 12. In diesem Zusammenhang muß auch darauf hingewiesen werden, daß der Sozialismus keineswegs per se atheistisch ist. So macht David Caute darauf aufmerksam, in wie starkem Maße die englische Arbeiterbewegung mit dem religiösen Nonkonformismus verbunden war (Die Linke in Europa, aus dem Französischen, München 1966, S. 19). Allerdings darf auch die genuin antichristliche Einstellung vieler Sozialisten nicht übersehen werden. Ein besonders prägnantes Beispiel lieferte Adolph H offmann mit seinem Werk: Die zehn Gebote und die besitzende Klasse (7. Aufl., Zeitz 1892). 12 Hubert Bourgin, Les systemes socialistes, Paris 1923, S. 13 f.
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
diesem Zusammenhang: "L 'Encyclopedie ... prepare l' esprit socialiste"13 . Dasselbe läßt sich Werner Hofmann zufolge auch von einigen liberalen Denkern sagen. Insbesondere bei Montesquieu dämmere "der Gegensatz von Eigentumsherrschaft und VoIksherrschaft"14 auf. In der Französischen Revolution hätten nicht zuletzt die Jakobiner Auffassungen vertreten, die ausgesprochen sozialistischen Geist atmen 15. So habe sich die Arbeiterbewegung völlig zu Recht "an die jakobinische Auffassung vom Eigentum" 16 angeschlossen. Das Ziel, eine egalitäre Gesellschaftsordnung zu erkämpfen, beflügelt den sozialistischen Ideenkreis bis in die Gegenwart hinein. In wie starkem Maße zeitgenössische sozialistische Autoren sich immer noch von diesem Ideal beflügeln lassen, dafür ist der amerikanische Sozialist Michael Harrington ein beredtes Beispiel. Die von diesem Katholiken angestrebte egalitäre Zukunfts gesellschaft wird mit folgenden Worten beschrieben: "Das Leben wird nicht mehr durch die Notwendigkeit eines Kampfes um knappe Ressourcen von neidvoller Konkurrenz geprägt sein; Zusammenarbeit, Brüderlichkeit und Gleichheit werden selbstverständlich. In einer solchen Welt wird die gesellschaftliche Produktivität des Menschen derartige Gipfelhöhen erreichen, daß ein Zwang zu arbeiten nicht mehr nötig sein wird"I? Dabei ist sich Harrington durchaus darüber klar, daß dieser Idealzustand in vollem Umfange nur unter allergrößten Schwierigkeiten in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Das sollte allerdings kein Hinderungsgrund dafür sein, ihn trotzdem anzustreben. ,,Auch wenn er in idealer Gestalt niemals Wirklichkeit werden wird, ist es doch wichtig, daß wir uns den traumhaften Endzustand genau ausmalen, denn nur so werden wir imstande sein, Entwürfe zu machen, die ihm zumindest nahekommen" 18. Daß alle Sozialisten dem Ziel einer egalitären Gesellschaft verpflichtet sind, sollte allerdings keineswegs vergessen machen, in wie starkem Maße sie im Hinblick auf die Ausgestaltung ihrer Zukunftsordnung voneinander abweichen. So besteht keinerlei Einigkeit über die im Sozialismus praktizierte Eigentumsordnung. Auch bei der Frage der Planungsintensität des Staates gehen die Meinungen weit auseinander. Ebenso weichen im Hinblick auf die politische Ordnung der sozialistischen Zukunftsgesellschaft die Auffassungen voneinander ab. Im Kontrapunkt zur liberalen Doktrin zeichnet sich der Sozialismus durch die Absenz einer eigenständigen Politiklehre aus. Im Laufe der Entwicklung des sozialistischen Ideenkreises haben sich seine Repräsentanten für alle erdenklichen politischen Strukturprinzipien ausgesprochen. Neben anarchistischen Sozialisten gibt 13
Ebd., S. 13.
14 Werner Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1962, S. 15. 15 Ebd. 16 Ebd. Vgl. dazu auch Paul Louis, Geschichte des Sozialismus in Frankreich, aus dem Französischen, Stuttgart 1908, S. 10. I? Michael Harrington, aus dem Amerikanischen, Stuttgart / Zürich 1975, S. 443. 18 Ebd.
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es engagierte Vertreter der liberal-demokratischen Politikordnung. Die Repräsentanten des sozialistischen Ideenkreises haben sich auch für autoritäre und totalitäre Politieverfassungen entschieden. Die nächsten Kapitel werden augenfallig unter Beweis stellen, daß dies auch noch für den zeitgenössischen sozialistischen Ideenkreis zutrifft. Auch er kennt Sozialisten, bei denen nicht nur William Godwin und John Locke, sondern auch Thomas Hobbes Pate gestanden haben.
2. Sozialismus als Orthodoxie: Der Marxismus Von allen Strömungen des Sozialismus kann und muß der Marxismus ohne Zweifel zu den einflußreichsten gerechnet werden. Keine andere kann es mit ihm an Gestaltungswillen und historischer Wirkkraft 19 aufnehmen. Milovan Djilas hat keineswegs Unrecht, wenn er schreibt: "Es läßt sich immerhin die Tatsache nicht leugnen, daß hinsichtlich der Auswirkung auf das menschliche Geschlecht kein einziger Denker und keine soziale Lehre der letzten hundert Jahre sich mit Marx und mit dem Marxismus vergleichen läßt"20. Dieser Auffassung stimmt auch George Lichtheim zu. "Es gibt wohl heute nur wenige, die Marx die Stellung des bedeutendsten Denkers des Sozialismus absprechen, des einzig wirklich großen Geistes, der mit dieser komplexen Bewegung verbunden ist"21. Wie Milovan Djilas und George Lichtheim, so weist auch Raymond Aron auf die überragende Bedeutung von Karl Marx für die Ausgestaltung des sozialistischen Ideenkreises hin. Marx habe seine bedeutende Gegenstimme zum Kapitalismus nicht zum Sprachrohr irrealer Auffassungen gemacht, sondern versucht, der sozialistischen Idee einen überzeugungskräftigen wissenschaftlichen Anspruch zu verleihen. Aron schreibt: "Marx ist nicht der Erfinder der Leitmotive der sozialistischen Anklage, er hat sie aber orchestriert, er hat sie in eine strenge, wenn nicht wissenschaftliche Form gebracht, er hat ihnen eine unvergleichliche Durchschlagskraft verliehen, indem er die moralische Empörung mit der theoretischen Argumentation verknüpfte, den so~ialen Forderungen das Prestige der Wissenschaft hinzufügte und den unabwendbaren Sieg jener prophezeite, denen die spontane Sympathie aller herzensguten Menschen zuströmen mußte" 22. Diese 19 Vgl. dazu Nikolaus Lobkowicz , Warum fasziniert der Marxismus?, in: Ideen unserer Zeit, Zürich 1987, S. 143 ff. 20 Milovan Djilas, Idee und System. Politische Essays, aus dem Serbokroatischen, Wien / München / Zürich / New York 1982, S. 71. Für Djilas ist der Marxismus eine der ,,heroischsten Inspirationen des Menschen" (Ebd., S. 78). 21 George Lichtheim, Ursprünge des Sozialismus, aus dem Englischen, Gütersloh 1969, S. 195. Dabei darf natürlich auch Friedrich Engels nicht unerwähnt bleiben. Seine Geschichtsauffassung weicht allerdings erheblich von Marx ab. Vgl. dazu Hermann Bollnow, Engels Auffassung von Revolution und Entwicklung in seinen "Grundsätzen des Kommunismus" (1847), in: Marxismusstudien, Tübingen 1954, S. 77 ff. 22 Raymond Aron, Betrachtungen zur Entwicklung der sozialistischen Idee, Berlin 1963, S. 10. Valentin Gitermann macht allerdings darauf aufmerksam, daß es mit der Wissenschaftlichkeit des Werkes von Karl Marx nicht weit her ist. Es gebe in seinem
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in Rede stehende Verbindung von ethisch fundierter Sozialkritik und wissenschaftlicher Denkweise erklärt Milovan Djilas zufolge die Wirkkraft des Marxismus. Der historische Siegeszug des Marxismus offenbart sich Djilas zufolge als der attraktive Versuch, den Geist der wissenschaftlich geprägten modemen Zivilisation mit den uralten Postulaten eines freien und fratemalistischen Lebens zu versöhnen. Im Marxismus sei ein Gedankenkosmos kreiert worden, der den humanitären Geist des Abendlandes mit dem modemen Szientismus verbindet. "Diese Lehre hat sich deshalb so verbreiten können, weil sie ihren ... Glauben an die menschliche Brüderlichkeit und an den freien Menschen, mit jenem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, der unwiderstehlich die Welt erobert hat, verbinden und somit auch einen Anschein von Wissenschaftlichkeit erlangen könnte"23. Die Perspektive von Karl Marx war nicht zuletzt auf die wissenschaftliche Analyse der historischen Entwicklung gerichtet 24. Im Fokus seiner gelehrten Aufmerksamkeit stand die Absicht, die Verlaufsgesetze der Geschichte aufzudekken. Dabei standen die Bewegungs- und Strukturgesetze des Kapitalismus im Vordergrund seines Interesses. Von der Warte seiner dialektischen Geschichtsteleologie aus ordnet er die Fakten dieses seiner Meinung nach ausbeuterischen Systems einer historischen Konzeption zu, die sich als ein Mixturn compositum aus voluntaristischen und deterministischen Bestimmungsmerkmalen präsentiert. Marx zufolge bewahrt das Übergewicht des deterministischen Faktors seines Geschichtsentwurfes die historischen Akteure vor der Gefahr teloswidriger Entscheidungen. Auch wenn voluntaristische Bestimmungsmomente von Marx keineswegs geleugnet werden, so vollzieht sich der zielorientierte Geschichtsverlauf letzten Endes doch über die Köpfe der Menschen hinweg. Unmißverständlich hat Marx darauf hingewiesen, daß das Telos der Geschichte den Menschen vorgegeben ist. "Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun Werk neben rationalen auch ausgesprochen irrationale Bestimmungsmomente. "Dieses typische Schicksal so vieler rationalistischer Systeme, der Unauflösbarkeit des Irrationalen innewerden zu müssen, ist auch dem Marxismus nicht erspart geblieben" (Die historische Tragik der sozialistischen Idee, S. 12). 23 Milovan Djilas, Idee und System, S.70. Selbst sowjetische Dissidenten weigern sich, die Wissenschaftlichkeit des Marxismus zu bezweifeln. Dies ist besonders bei Arnost Kolman der Fall. Er schreibt: "Daran, daß der Marxismus eine Wissenschaft ist, kann die Tatsache . . . daß in der Sowjetunion. kein intelligenter Mensch daran glaubt, genausowenig ändern wie die Tatsache, daß es keine Hexen gibt, etwas ändern kann, daß im Mittelalter die meisten Menschen daran glauben. Und weshalb bleiben die Meteorologie und die Seismologie Wissenschaften, obwohl ihre Prognosen oft fehlgehen?" (Die verirrte Generation. So hätten wir nicht leben sollen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 1982, S. 286). 24 Vgl. dazu Bert F. Hoselitz, Karl Marx on Secular and Social Development: A Study in the Sociology of Nineteenth Century Social Change, in: Comparative Studies in Society and History 1964, S. 142 ff.
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gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist ... unwiderruflich vorgezeichnet" 25. In der Publizistik und in der wissenschaftlichen Literatur wird bis heute heftig über die Frage diskutiert, ob die Weiterentwicklung des Marxismus durch Lenin als Abkehr von den Grundgedanken von Marx zu interpretieren ist. Dabei haben sowohl Marxisten als auch Antimarxisten dezidiert die Auffassung vertreten, daß der Leninismus recht eigentlich als eine konsequente Weiterentwicklung der Grundgedanken des Trierer Sozialtheoretikers aufgefaßt werden kann. Diese Denkposition wird beispielsweise von Golo Mann vertreten. Dieser intransigente Gegner des Marxismus schreibt: "Seinerseits war Lenin ein konsequenter Marxist, nur eben zwei Generationen später; er hatte die unveränderte Lehre auf veränderte Zustände in einem anderen Land anzuwenden. Darum sind wir berechtigt, auch heute noch von dem Marxismus zu sprechen und die Frage, welchen Marxismus wir denn meinen, als eine Fang- und Scheinfrage abzulehnen"26. Die deterministische Geschichtsauffassung, die sich bei Marx und Lenin findet, bestimmt auch die historischen Überlegungen der heutigen Repräsentanten des Marxismus. Trotz aller gegenläufigen voluntaristischen Ansätze sind auch sie der Meinung, daß die Entwicklung des geschichtlichen Prozesses letzten Endes ein für alle mal vorgegeben ist. Die von Marx entdeckten historischen Gesetze hätten nichts an ihrer Validität verloren. Ernst Fischer zufolge weisen im Kapitalismus "die Produktivkräfte ... den Charakter von entfesselten Elementen"27 auf, die "blindlings, gewaltsam, zerstörend die Absichten der Menschen durchkreuzen und sich in vernichtenden Wirtschaftskrisen gewitterhaft entladen"28. 25 Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, in: Karl Marx Friedrich Engels Werke, Bd.lI, Berlin 1959, S.38. Vgl. dazu auch I. M. Bochenski, Der sowjetrussische Dialektische Materialismus (Diamat), 2. Aufl., München 1956,
S. 102 ff. 26 Golo Mann, Das Opium der Intellektuellen. Warum der Marxismus immer wieder
viele Menschen in seinen Bann schlägt, in: Die Welt Nr. 281,2. Dezember 1978. Ähnlich urteilt Heinz Abosch über das Verhältnis zwischen Marx und Lenin: "Lenin realisierte, was Marx nur gewünscht hatte: er schuf wirklich eine Partei und errang wirklich die Macht. Die Wahrheitsprätention der Doktrin begünstigte die Errichtung einer totalen Diktatur, die absolute Unterwerfung verlangte. Hatte Marx seine Opponenten nur mit Worten verfolgt, so konnte sie Lenin auf radikalere Weise mundtot machen; er war imstande, die ,Allmacht' der Doktrin mit unbezwingbarer Gewalt zu bekunden. Es ist durchaus möglich, daß Marx sich vor diesem Schüler und dessen Praxis gegraut hätte. Aber ebenso unbestreitbar ist es, daß Lenin bei Marx seine wichtigste gedankliche Inspiration fand" (Marx und Lenin. Kontinuität oder Zäsur?, in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 181, S. 8/9, August 1982). 27 Ernst Fischer, Was ist Sozialismus, Stuttgart o. J., S. 8. Der offizielle DDR-Marxismus hatte den Österreicher Ernst Fischer allerdings zur persona non grata erklärt. Vgl. dazu Alfred Kosing, Ernst Fischer - ein moderner Marxist?, Berlin 1969 (VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften). 28 Ebd. Ganz anderer Ansicht ist jedoch Max Horkheimer. Ihm zufolge basiert die Geschichtslehre Marxens auf völlig falschen Prämissen. "Geschichte ist anders gelaufen, als Marx sich dachte. Im Kapitalismus, den er analysierte, ist die Verelendung des
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In nahtloser Übereinstimmung mit den Klassikern des Marxismus sind die zeitgenössischen Vertreter dieses Ideenkreises auch der Auffassung, daß das Proletariat am meisten am Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen zu leiden habe. So schreibt Ernst Fischer: "Die Arbeiterklasse ist der verkörperte Widerspruch zur Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Sie wird am unmittelbarsten unterdrückt und ausgebeutet. Ihre einfachsten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Forderungen bringen sie täglich aufs neue in Gegensatz zum Kapitalismus. Sie leidet wie keine andere Klasse unter der Anarchie der kapitalistischen Warenerzeugung. Jede Krise schlägt zuerst den Arbeiter. Sie drückt auf seinen Arbeitslohn. Sie schleudert ihn in das Elend der Arbeitslosigkeit"29. Das Leid der Arbeiterschaft erscheische, daß dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ein Ende gemacht wird. Seine historische Zeit sei abgelaufen, seine Legitimität erschöpft. "Der Kampf gegen den sterbenden Kapitalismus, der den Fortschritt hemmt und alles mit seinem Leichentuch infiziert, ist ein Gebot geschichtlicher Notwendigkeit 30". In einer ähnlichen Weise sind die Verfasser des sowjetischen Lehrbuches "Wissenschaftlicher Kommunismus" der Auffassung, daß es das Schicksal des Kapitalismus ausmacht, vom Sozialismus überwunden zu werden. "Die allgemeine Krise des Kapitalismus bedeutet, daß die Epoche seines weltweiten Zusammenbruchs, seiner revolutionären Ablösung durch den Sozialismus angebrochen ist"31. Nicht zuletzt Lenin gebühre das Verdienst, in Rußland die erste sozialistische Revolution inauguriert zu haben. In diesem Sinne schreibt Ernst Fischer: "Die siegreiche sozialistische Oktoberrevolution hat den sechsten Teil der Erde aus diesem furchtbaren Kreislauf herausgerissen und eine breite Bresche in das imperialistische Weltsystem geschlagen. In der Gestalt der sozialistischen Sowjetunion tritt der Welt der kapitalistischen Anarchie, Zügellosigkeit und Willkür eine Welt der Planwirtschaft, der Leitung der Produktion durch die gesamte Gesellschaft, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung, die Welt des Sozialismus gegenüber. Was Marx und Engels voraussagten, ist in einem großen Lande zur Wirklichkeit geworden"32. Das dem Kapitalismus weit überlegene sozialistische System weise eine Attraktionskraft auf, die immer mehr Menschen in seinen Bann ziehe. Die Zahl der Proletariats wahrlich nicht fortgeschritten, noch die von ihm erwartete Revolution ausgebrochen. Dort, wo vor fünfzig Jahren Lenins kommunistische Losungen die Massen ergriffen und im Osten dem Ersten Weltkrieg ein Ende setzten, läßt das Reich der Freiheit zumindest auf sich warten." (War Marx ein schlechter Prophet?, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 108,4./5. Mai 1968). 29 Ebd., S. 1l. 30 Ebd. 31 Wissenschaftlicher Kommunismus, aus dem Russischen, Berlin 1975, S. 124. 32 Ernst Fischer, Was ist Sozialismus?, S.7. Was die Oktoberrevolution für die Wissenschaft bedeutete, ist bei Shores A. Medwedjew nachzulesen (Der Fall Lyssenko. Eine Wissenschaft kapituliert, unter Verwendung des russischen Originaltextes aus dem Amerikanischen, München 1974).
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Menschen nehme stetig zu, die die Verwirklichung sozialistischer Produktionsverhältnisse auf der ganzen Erde nachhaltig forderten. Kurt Hager zufolge sind "in der ganzen Welt Millionen und aber Millionen werktätige Menschen zum bewußten Handeln erwacht" 33. Die Ideen des zukunftsträchtigen MarxismusLeninismus hätten "die Herzen und Hirne von Millionen Werktätigen in aller Welt erobert"34. Auf diese Weise seien "die Ideen des Marxismus-Leninismus ... zu einer großen materiellen Gewalt geworden, zu einer mächtigen Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung" 35. Die von keinerlei kapitalistischen Eigentumsverhältnissen gebremsten Produktivkräfte setzten das sozialistische Lager imstande, von einem ökonomischen Sieg zum anderen zu eilen. Der Sozialismus werde deshalb über kurz oder lang die dem Untergang geweihte Welt des Kapitalismus notwendigerweise überholen. "Die Zeit ist nicht mehr fern, da die sozialistische Welt die kapitalistischen Länder auch in der materiellen Produktion weit hinter sich lassen wird. Die Zukunft gehört dem Sozialismus und Kommunismus" 36. Jegliche ideologiegeschichtliche Besinnung auf die sowohl unterschwellig wirksamen als auch manifest zutage tretenden Antriebskräfte des Marxismus wird sich auch auf die eschatologische Wurzel dieser Ideologie zu besinnen haben. Obgleich sie sich in ihrer Propaganda als Sachwalterin einer dezidiert atheistischen Welterklärung zu erkennen gibt, bewegt sie sich in einer eschatologischen, d. h. zutiefst theologisch geprägten Geschichtsdimension. In der Hoffnung auf eine ausbeutungsfreie Gesellschaft gelangt der Chiliasmus des Marxismus zu seiner schärfsten Ausprägung 37. Die erstaunliche Wirkung des Marxismus deszendiert recht eigentlich aus der Überlagerung eines wissenschaftlichen Erklärungsmusters durch uralte chiliastische Menschheitssehnsüchte. In diesem Zusammenhang hat Eric Voegelin völlig zu Recht von einer "immanentischen Eschatologie" gesprochen 38. Voegelin zufolge zeichnet sich die Gesellschaftslehre von Karl Marx auf diese Weise durch den Versuch aus, "den Geist Gottes in den Menschen" 39 hineinzuziehen. In diesem Zusammenhang macht Jules Monne33 Kurt Hager, Zur geistigen Situation der Gegenwart. Vier Vorträge, Berlin 1961, S. 9. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 9 f. 36 Ebd., S. 13. 37 Vgl. dazu Norman Cohn, Das Ringen um das tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, aus dem Englischen, Bern / München 1961. Dabei ist der Konservatismus als diejenige Ordnungsvorstellung anzusehen, die sich der eschatologischen Geschichts- und Politikanalyse niemals geöffnet hat. Dagegen weist der Liberalismus durchaus auch chiliastische Momente auf. Vgl. dazu Kurt R. Spillmann, Amerikas Ideologie des Friedens. Ursprünge, Formwandlungen und geschichtliche Auswirkungen des amerikanischen Glaubens an den Mythos von einer friedlichen Weltordnung, Bern / Frankfurt am Main / New York 1984. 38 Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, aus dem Amerikanischen, München 1959, S. 176.
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
rot darauf aufmerksam, daß die von Marx so vehement vorgetragene Kritik der Religion auch auf seine eigene Lehre bezogen werden kann. "Wenn man den Marxismus auf die Marxisten anwendet und sie ihrem eigenen Gesetz gemäß behandelt, kann man feststellen, daß die Revolutionäre einem Wahnsinn jener Art verfallen, den Marx als ,religiösen Wahnsinn' beschrieben hat"40. Der sich einem krankhaften Atheismus verpflichtete Marx war sich allerdings nie darüber bewußt, in wie starkem Maße seine religionskritische Lehre selber einen durch und durch religiösen Charakter aufwies. Dabei teilt sich diese chiliastische Prägung nicht nur der Lehre von Karl Marx mit, auch die sowjetische Ausdeutung dieses Ideenkreises ist auf einen zutiefst eschatologischen Ton gestimmt. Daß der Sowjetmarxismus nicht allein dem Diktat einer szientifischen Gesellschafts- und Politiklehre gehorcht, darauf hat nicht zuletzt Nikolai Berdiajew aufmerksam gemacht. Der berühmte russische Religionsphilosoph schreibt: "Wenn man sich in die gegenwärtige philosophische und antireligiöse Sowjet-Literatur vertieft, kann man sich des bitteren Gefühls nicht erwehren, daß eine atheistische Sekte zum erstenmal in der Geschichte die Macht über unendlich weite Gebiete und unzählige Menschen ergriffen hat. Die Weltanschauung dieser Sekte ist einem negativen religiösen Ziel unterworfen" 41. Berdiajew zufolge durchdringe die "messianische Idee"42 das gesamte Denkgebäude des Sowjetmarxismus. Kein einziges Bestimmungsmoment bleibe ausgespart. Die uneingestandene Hoffnung auf das Millenium hat den sowjetischen Marxismus schon von Anfang an bestimmt. Nicht zuletzt Lenin dachte in den Kategorien eines chiliastischen Welterlösungsmodells. Dabei rekurrierte er bei der Ausformulierung seiner pseudotheologischen Soteriologie bewußt auf das Erbe der russischen Geistesgeschichte. Auf diesen kaum zu leugnenden Tatbestand machte vor allem Iwan von Kologriwof aufmerksam. Er schreibt über Lenin: "Einzig und allein er vermochte den proletarischen Messianismus in Verbindung zu bringen und auf diese Weise das unklare russische Sehnen in eine explosive Kraft zu verwandeln, fähig, jahrhundertealte Festungen in die Luft zu sprengen" 43. 39 Ebd., S. 177. Vgl. dazu auch Eric Voegelin, Wissenschaft. Politik und Gnosis, München 1959. 40 lules Monnerot, Soziologie des Kommunismus, aus dem Französischen, Köln / Berlin 1952, S. 11. Auf den prinzipiell atheistischen Charakter des Marxismus hat Angelika Senge hingewiesen. Vgl. dazu ihre Abhandlung "Marxismus als atheistische Weltanschauung", Paderbom / München / Wien / Zürich 1983. Der protestantische Theologe Emil Fuchs versuchte, Christentum und Marxismus miteinander zu versöhnen (Marxismus und Christentum, Leipzig 1952). 41 Nikolai Berdiajew, Wahrheit und Lüge des Kommunismus, aus dem Russischen, Darmstadt / Genf 1953, S. 88. 42 Ebd., S. 26. 43 Iwan von Kologriwoj, Die Metaphysik des Bolschewismus. Salzburg 1934, S. 56. Vgl. dazu auch lulius Braunthal, Auf der Suche nach dem Millenium, 2 Bände, aus dem Englischen, Nümberg 1948.
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Die eschatologische Geschichtshoffnung des Marxismus wird zu Recht auch mit der exzessiven Herrschaftsintensität des sowjetischen Systems in Verbindung gebracht 44 • Da die Hauptperspektive des Sowjetmarxismus auf die Errichtung einer historisch neuartigen, egalitären und ausbeutungsfreien Ordnung gerichtet ist, müssen alle Widerstände, die sich der Erreichung des Idealzustandes entgegenstellten, aus dem Wege geräumt werden. Das gilt selbstverständlich auch für diejenigen Bürger, die als politische Gegner der neuen Ordnung gelten. Da sie die Gebote der historischen Notwendigkeit gröblich mißachten, sind sie unnachsichtig zu verfolgen. Diese innige Verschränkung von chiliastischer Heilslehre und totalitärer Herrschaftspraxis ist Franz Borkenau zufolge schon im Werke von Karl Marx aufzuspüren. Borkenau behauptet: "Marx strebt nur und spricht von der Wiederherstellung menschlicher Solidarität, doch was er praktisch bei seiner Umschlagstheorie erhält, ist nur die Kollektivisierung der Entmenschlichung: der Glaube an den Terror, in utopischem Fanatismus von der Erwartung des Verschwindens aller konkreten gesellschaftlichen Ordnungen düster entflammt; die Wiederkehr also des Glaubens der Wiedertäufer von Münster, des revolutionären Schwärmertums" 45. Die enge Verbindung von pseudoreligiöser Heilsgewißheit und exzessiver Machtanwendung im Sowjetmarxismus erinnert Jules Monnerot zufolge an den Islam. Sowohl der Sowjetkommunismus als auch Mohammed und seine Anhänger lehnten die Trennung von Staat und Ideologie ab. Auf diese Weise könne von einer Islamierung der Politik im Herrschaftsbereich des Sowjetmarxismus gesprochen werden. "Genau wie der siegreiche Islam ignoriert der Kommunismus die Unterscheidung zwischen Politik und Religion, und wenn er gleichzeitig den Anspruch auf die Doppelrolle von Universalstaat und Universaldoktrin erhebt, so geschieht dies jetzt nicht innerhalb einer bestimmten Zivilisation oder einer Welt, die neben anderen besteht, sondern auf der ganzen Erde" 46. Der seiner innerweltlichen Heilsreligion ergebene Kommunist entpuppt sich dabei "als ein religiöser Fanatiker im Dienste einer imperialistischen Expansion, die nach der Weltherrschaft strebt" 47. 44 Vgl. dazu Klaus Hornung, Der faszinierende Irrtum. Karl Marx und die Folgen, Freiburg im Breisgau 1978, S. 134 ff.; ders., Emanzipation ist nicht Freiheit. Bemerkungen zum Umschlag der Emanzipation in den Despotismus bei Marx, in: Konrad Löw (Hrsg.), Karl Marx-Bilanz nach 100 Jahren, Köln 1984, S. 148 ff. 45 Franz Borkenau, Praxis und Utopie. Einleitung zu Karl Marx, hrsg. von Franz Borkenau, Frankfurt am Main 1974, S. 37. Ganz anderer Auffassung dagegen ist Michael Harrington. Für ihn sind Marx und der Marxismus auf einen genuin demokratischen Ton gestimmt. Marx habe die "Demokratie als den Wesenskern des Sozialismus" betrachtet (Sozialismus, S. 49). Im Gegensatz zu ihren Gegnern seien Marx und Engels immer dem "demokratischen Charakter des Sozialismus" (ebd.) verpflichtet gewesen. 46 lules Monnerot, Soziologie des Kommunismus, S. 21. 47 Ebd., S. 22. Über die Binnenverhältnisse des totalitären Parteikommunismus informiert Carl-lacob Danziger, "Die Partei hat immer recht". Autobiographischer Roman, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1980, vgl. dazu auch Margarete Buber-Neumann, Die erloschene Flamme. Schicksale meiner Zeit, Frankfurt am Main 1978.
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
Das soteriologisch eingefärbte Denken des Marxismus teilt sich nicht zuletzt auch denjenigen Analysen seiner Anhänger mit, die sich mit der Frage beschäftigen, ob das kommunistische Herrschaftssystem genuin demokratische Bestimmungsmomente aufweist. Die ausgesprochen selektive Wahrnehmung, mit der dieses Problem in den Blick gerückt wird, ist eindeutig aus der Absicht heraus zu erklären, die marxistische Heilslehre zu rechtfertigen. Wirklichkeitstatbestände, die die kommunistische Heilsgewißheit erschüttern könnten, werden einfach nicht wahrgenommen. Aus diesem Grunde verwundert es kaum, wenn die marxistischen Herrschaftssysteme als genuin demokratisch strukturiert aufgefaßt werden. In ihnen herrsche ein Höchstmaß an demokratischer Willensbildung. Nicht zuletzt dem sowjetischen Philosophen N. K. Iwanow war es darum zu tun, seinen Staat vom Makel des Antidemokratismus zu befreien. Im Gegensatz zum kapitalistischen Gesellschaftssystem, in dem das Volk von den Massenmedien manipuliert werde, besäßen die Sowjetbürger die Möglichkeit, ihren Willen unverfälscht an die Staatsspitze zu transmittieren ...Der Sowjetstaat ist der demokratischste Staat der Welt. In der Sowjetunion ist zum ersten Mal in der Geschichte die wahre Demokratie des ganzen Volkes verwirklicht worden. Die Volksrnassen des Sowjetvolkes spielen die entscheidende Rolle in der Verwaltung des Staates, sind seine unumschränkten Herren"48. Während im Kapitalismus der Arbeiter entmündigt sei, kontrolliere er in der Sowjetunion den Staat. Der Wille des sowjetischen Arbeiters sei im kommunistischen Politiksystem oberstes Gebot. ..Die staatliche Führung der Gesellschaft befindet sich im Sowjetlande in den Händen der Arbeiterklasse"49. Während die Bürger der Sowjetunion sich mit ihrem Gemeinwesen identifizieren können, stehe der Staatsapparat des Kapitalismus ..den Werktätigen fremd und feindlich gegenüber"50. So sehr das sowjetische Staatswesen dem Geiste der Demokratie verpflichtet sei, so sehr seien die liberal-kapitalistischen Gemeinwesen bar aller demokratischen Bestimmungsmomente. Sie gaukelten eine Liberalität vor, der keinerlei Realitätsgehalt zukomme. Dabei seien alle ihre politischen Institutionen vom Geiste des Antidemokratismus infiziert. In diesem Sinne heißt es in einem in der UdSSR konzipierten Lehrbuch: ..Die traditionellen Institutionen der bürgerlichen Demokratie werden zu einer bloßen Formalität. Die Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative, die abnehmende Rolle des Parlaments in der Politik, die Verfolgung und die Einschränkung der Tätigkeit der revolutionären und demokratischen Organisationen, die Begünstigung faschistischer Gruppierungen und die Erweiterung der arbeiterfreundlichen Gesetzgebung sind Entwicklungstendenzen der imperialistischen Staaten in der gegenwärtigen Etappe"51. 48 N. K. Iwanow, Der Sowjetstaat - ein Staat von neuem Typus, aus dem Russischen, Berlin 1947, S. 51. 49 Ebd., S. 23. 50 Ebd., S. 63. 51 Wissenschaftlicher Kommunismus, S. 129.
2. Sozialismus als Orthodoxie: Der Marxismus
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Dabei gehe die zunehmende Entliberalisierung der kapitalistischen Staaten einher mit einer stetig steigenden Militarisierung des öffentlichen Lebens. "Die Verstärkung der Reaktion äußert sich auch in der ... Militarisierung des inneren Lebens der bürgerlichen Staaten. Der militärische und der polizeiliche Unterdrükkungsapparat ist gigantisch angewachsen. Die militärischen Kreise spielen bei politischen Entscheidungen eine immer größere Rolle"52. Allerdings sei die gegenwärtige bürgerliche Demokratie weit davon entfernt, zur uneingeschränkten Despotie zu verkommen. Schon der Druck der emanzipatorisch gesinnten Massen wisse dies zu verhindern. Auf diese Weise seien die herrschenden Kreise zu politischen Konzessionen gezwungen. "Obwohl die Monopolbourgeoisie offensichtlich die vollständige totalitäre Diktatur anstrebt, ist sie unter dem Druck der Volksrnassen gezwungen, einige demokratische Freiheiten einzuräumen" 53. Diese auf die demokratisch gesinnte Volksbasis zurückgehenden Freiheitsrechte würden allerdings von den Propagandisten des bürgerlichen Systems dazu benützt, um gegen das sozialistische Weltsystem Propaganda zu machen. "Diesen Umstand nutzen die bürgerlichen Propagandisten in jeder Hinsicht, um Reklame für die ,freie Welt' zu betreiben"54. Wie die westlichen Staaten insgesamt, so ist auch die Bundesrepublik Deutschland ins Fadenkreuz der orthodoxmarxistischen Ablehnung geraten. Zu ihren pointiertesten Kritikern zählt ohne Zweifel Wolfgang Abendroth. Trotz aller gegenläufigen Ansätze sei es nach 1945 nicht gelungen, eine wahrhaft demokratische Ordnung in der Bundesrepublik zu etablieren. Abendroth zufolge stellte man nach dem Zweiten Weltkrieg "die gleichen wirtschaftlichen Machtverhältnisse im Prinzip wieder her, wie sie vor 1945 bestanden hatten" 55. In diesem antiemanzipatorisch ausgerichteten Staatswesen seien die Unternehmer im Gegensatz zu den Gewerkschaften viel zu einflußreich. "Die Machtpositionen der Kreise, die sich - wie in der Periode der Weimarer Republik - die ,Wirtschaft' nennen, sind ständig angewachsen"56. Insbesondere der Einflußbereich des Bun52 Ebd. 53 Ebd. Der Marxismus hatte sich allerdings immer schon über die revolutionäre Grundeinstellung der Arbeiterschaft getäuscht. Letzten Endes war es gerade das Proletariat, das Marx die Gefolgschaft versagte. Vgl. dazu Frank Patkin, Working-class Conservatives: a theory of political deviance, in: British Journal of Sociology 18 (1967), S. 278 ff. Ralph Samuel, The Deference Voter. A Study of the Working-class Tory, in: New Left Review, Jan / Febr. 1960, S. 9 ff. 54 Ebd. Die Insuffizienz des Marxismus ist nicht zuletzt aus den Schriften derjenigen zu entnehmen, die von ihm abgefallen sind. Vgl. dazu: Ein Gott, der keiner war, mit einem Vorwort von Richard Crossman und einem Nachwort von Franz Borkenau, aus dem Englischen, Zürich 1952; EI Campesino, Die große Illusion. Von Madrid nach Moskau, aus dem Spanischen, Köln/Berlin 1951; Czeslaw Milosz, Verführtes Denken, aus dem Serbokratischen, Frankfurt am Main 1974. 55 Wolfgang Abendroth, Aufgaben einer deutschen Linken, in: Horst Krüger, Was ist heute links?, München 1963, S. 143. 56 Wolfgang Abendroth, Die soziale Struktur der Bundesrepublik und ihre politischen Entwicklungstendenzen, in: ders., Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie, 2. Aufl., Neuwied / Berlin 1972, S. 57.
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desverbandes der Deutschen Industrie habe sich über Gebühr ausgedehnt 57 . Der gegen die demokratischen Freiheitsrechte der Bürger gerichtete Einfluß der Unternehmer auf den Staatsapparat mache sich nicht zuletzt im lustizbereich bemerkbar. Den Unternehmern sei es gelungen, die Rechtslehre vor den Karren ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen zu spannen. "Die Umdeutung der liberalen Freiheitsrechte des Grundgesetzes zu Verteidungsnormen für wirtschaftliche Privilegien durch die Rechtswissenschaft ist in vollem Gange"58. Diese Abendroth zufolge durch und durch illiberale und undemokratische Ordnung muß nachhaltig verändert werden. Dabei sei es insbesondere die Pflicht der linken Politikkräfte, auf eine Umgestaltung der moribunden spätkapitalistischen Bundesrepublik hinzuarbeiten. Als ihr strategisches Hauptziel haben sie die "Überführung der kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft in eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus"59 ins Auge zu fassen. Abendroth ist als überzeugter Marxist der Auffassung, daß die Eigentumsverhältnisse des Kapitalismus eine unüberwindbare Schranke für den wirtschaftlich-technologischen Fortschritt darstellen. Allein, die Überwindung des Kapitalismus garantiere den sozialen und ökonomischen Fortschritt 6O • Abendroth zufolge werden in der zukünftigen sozialistischen Ordnung die heute noch vom kapitalistischen System inhibierten Produktivkräfte "dem produzierenden Menschen und dem Ziel der freien und allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit eines jeden Gliedes der Gesellschaft unterworfen werden"61. Auf diese Weise avancieren die Widersprüche des Kapitalismus zum Unterpfand für eine humanere, liberalere Gesellschaft. Sie drängen notwendigerweise zur Errichtung einer sozialistischen Ordnung. "Der alte Traum der Linken, die freie Entfaltung eines jeden in einer Gesellschaft demokratischer Selbstbestimmung, ist daher zur realen, weil objektiv realisierbaren Utopie geworden"62. Wenn man im Sinne des Marxismus-Leninismus im Besitze der historischen Wahrheit ist, die Geschichtsgesetze genau zu interpretieren weiß, erscheint jegliche andere Auffassung vom Verlauf des historischen Prozesses höchst verwerflich und illegitim. Das gilt nicht zuletzt für diejenigen Geschichtsinterpreten, die sich im Lager des Marxismus das Recht herausnehmen, eine von der Orthodoxie abweichende Lesart anzubieten. Derartige ideologische Abweichungen und Verirrungen werden unnachsichtig gebrandmarkt, mit dem Vorwurf des Renegatenturns bedacht. Davon wissen nicht zuletzt die chinesischen Kommunisten ein Lied zu singen. Die Sinisierung des Marxismus durch Mao wurde von der marxistischen Orthodoxie ohne Umschweife verworfen, als ideologische Verirrung rubriziert. Mao 57 Ebd., S. 57 f. 58 Ebd., S. 58 f. 59 Abendroth, Aufgaben einer deutschen Linken, S. 156 f. 60 Ebd., S. 150. 61 Ebd., S. 149. 62 Ebd., S. 156.
2. Sozialismus als Orthodoxie: Der Marxismus
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Tse-Tung hat sich in den Augen des Sowjetmarxismus nicht zuletzt einer "falschen Interpretation des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen"63 schuldig gemacht. Sein ideologischer Hauptfehler bestehe darin, die Rolle der historischen Persönlichkeit über Gebühr zu betonen 64. Auf diese Weise sei es zu einer "Fetischisierung der Rolle des Menschen"65 gekommen. Ganz im Gegensatz zu den Annahmen der chinesischen Kommunisten habe ein Marxist davon auszugehen, daß "die entscheidende Rolle in der revolutionären Umgestaltung die gesellschaftlichen Klassen spielen"66. Die Auffassung, derzufolge "Helden nach eigenem Gutdünken und eigener Phantasie Geschichte machen"67, sei deshalb auf das Entschiedenste zu verwerfen. "Kein Politiker kann sich Marxist nennen, wenn er sich in seiner Tätigkeit nicht von der These leiten läßt, daß die Geschichte von den Volksrnassen, von den Millionen in der materiellen Produktion Tätigen, gemacht wird"68. Abweichlerischen, d. h. illegitimen Charakter weist der orthodox-marxistischen Lehre zufolge auch Maos Widerspruchs lehre auf. Auch an diesem Punkte verstoße sie diametral gegen den Geist des Marxismus-Leninismus. "Die These, daß der Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse und der nationalen Bourgeoisie ... in China nicht antagonistisch sei ... trägt rechtsopportunistisch, revisionistischen Charakter"69. Die Sinisierung des Marxismus durch Mao gehe überhaupt einher mit einer völlig falschen Intepretation des sozialen Unterbaus. "Obwohl man in seinen Arbeiten der These vom Primat des Seins im Verhältnis zum Bewußtsein und der Auffassung, daß die objektive Quelle Wirklichkeit die Quelle der Empfindungen ist, begegnen kann, faßt er die ganze Kompliziertheit der Beziehungen zwischen Materie und Bewußtsein und den gesamten widersprüchlichen Prozeß der Abbildung der objektiven Dinge und Erscheinungen im Bewußtsein des Menschen im Grunde genommen metaphysisch und idealistisch auf'7O. Maos Hauptirrtum bestehe darin, dem Primat der Ideen das Wort zu reden. Aus diesem Grunde sei für ihn faIschlicherweise in der sozialistischen Gesellschaft nicht die Ökonomie, sondern die Politik die führende Kraft 71 • Mao zufolge komme es beim Aufbau des Sozialismus zuvörderst auf moralische Stimuli an; auf die "materielle Interessiertheit" glaube er in seiner ideologischen Verblendung verzichten zu können 72. 63 Kritik der theoretischen Auffassungen Mao Tsetungs, aus dem Russischen, Frankfurt am Main 1973, S. 66 f. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 66. 66 Ebd., S. 72. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 48. 70 Ebd., S. 59. 71 Ebd. 72
Ebd., S. 60.
g J. B. Müller
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
3. Die libertäre Linke zwischen Anarchie und Ordnungszwang Die libertäre Linke 73 kann als diejenige Ideologie und Bewegung des Sozialismus bestimmt werden, die den Kampf gegen jegliche Form von Repression im Namen einer radikal antiautoritären Politik- und Gesellschaftsauffassung auf ihre Fahnen geschrieben hat. Der genuin antietatistische Gestus ihrer Schriften läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, wie kompromißlos diese Form des Sozialismus gegen jegliche Freiheitsbeschränkung des Individuums zu kämpfen bereit ist. Wenn sie auch nicht unbedingt mit der anarchistischen Ordnungsvorstellung identifiziert werden kann, so steht sie mit ihrem libertär ausgerichteten Politikverständnis dieser ins Radikale getriebenen Doktrin doch nicht allzu ferne. Man kann nicht zuletzt die Marxismuskritik der libertären Linken in einem anarchistischen Sinnhorizont interpretieren. Dabei ist es vor allem die Geschichtslehre dieser Doktrin, die der antiautoritären Linken zu freiheitsnegierend ausgefallen ist. Sie widerspreche zutiefst dem tief eingewurzelten Streben des Menschen nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Um den Autoritarismus der marxistischen Lehre nachhaltig bekämpfen zu können, rekurrieren die heutigen Repräsentanten der libertären Linken auf Autoren, die schon in früheren Zeiten nicht müde wurden, der dialektisch- materialistischen Geschichtsinterpretation den Kampf anzusagen. Zu ihnen gehört in besonderem Maße Gustav Landauer. Seine rigorose Kritik am Marxismus gipfelte in dem Vorwurf, dieser lasse dem menschlichen Freiheitsstreben keinerlei Entfaltungsspielraum. Landauer schreibt: ,,Alles, was die Marxisten tun oder fordern ... ist gerade in dem Augenblick ein notwendiges Glied der Entwicklung, ist von der Vorsehung bestimmt, ist nur das Zutagetreten des Naturgesetzes; alles, was die andern tun, ist nutzloses Aufhaltenwollen des Müssens, der von Karl Marx entdeckten und sichergestellten Geschichtstendenzen" 74. In ihrem autoritären Hochmut maßten sich die Marxisten an, die Geschäftsführer des Weltgeistes zu sein, objektiv gegebene Geschichtsgesetze zu exekutieren. Sie seien in dem Wahn befangen, "die ausführenden Organe des Entwicklungsgesetzes"75 zu sein, als "Legislative und Exekutive der Natur- und Gesellschaftsregierung"76 fungieren zu müssen. Für den im tiefsten Grunde seines Herzens genuin antiautoritär denkenden und fühlenden Gustav Landauer handelt es sich bei dieser mechanistisch-deterministischen Geschichtslehre um den "törichtesten Hochmut, der je in der Menschengeschichte zur . . . Schau getragen wurde"77. Ganz im Gegensatz zum Marxismus ist Landauer der Auffassung, daß 73 Vgl. dazu Nikolaus J. Ryschkowsky, Die linke Linke, München / Wien 1968. Dialektik der Befreiung, hrsg. von David Cooper, aus dem Englischen, Reinbek bei Hamburg 1969; Gabriel und Daniel Cohn-Bendit, Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, aus dem Französischen, Reinbek 1968. 74 Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, 4. Aufl., Köln 1923, S. 26. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd.
3. Die libertäre Linke zwischen Anarchie und Ordnungszwang
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historische Entwicklungstendenzen kaum jemals eindeutig fixiert werden können. Dazu sei der Geschichtsprozeß zu multikausal angelegt, zu widersprüchlich und zu vielfaltig konstituiert. "Die in der Geschichte wirkenden Kräfte können nicht wissenschaftlich formuliert werden; ihre Beurteilung wird immer eine Schätzung sein, die man je nach der Menschennatur, die sie in sich hat, oder von sich gibt ... von unserm Wesen, unserm Charakter, unserm Leben, unsern Interessen abhängt" 78. Mit seiner deterministischen Geschichtsvision stelle der Marxist einen Rattenfänger dar, "der die unmündigen Kinder mit der Wissenschaftspfeife in den Berg des Unsinns und des Schwindels führt"79. Die Übertragung naturwissenschaftlicher Denkweisen auf die Geschichtswissenschaft hat auch die Kritik Jean-Paul Sartres herausgefordert. Obgleich er in seinem Leben sehr wohl auch die politischen Positionen der französischen Kommunisten vertreten hat, wird man kaum umhin können, seine Analyse der Entwicklungsgesetze des Marxismus als scharfen Angriff auf diese Doktrin aufzufassen. Wenn es im Marxismus ein Leitmotiv gebe, dann sei es der kaum verhüllte Wunsch, den gesamten historischen Prozeß auf das Prokrustesbett einer dogmatischen Parteilehre zu legen. Diese Geschichslehre werde von einer Auffassung bestimmt, die die historische Rolle des einzelnen höchst gering einschätze und die angeblich über den Köpfen der einzelnen Individuen wirkenden Entwicklungen und Ereignisse über Gebühr betone. Es handle sich beim Marxismus um eine Lehre, die sowohl formal als auch inhaltlich von einem "stupiden Determinismus" 80 beherrscht werde. Dieser resultiere unweigerlich in einer" Wissenschaftlerei" 81, die illegitimerweise den "Geschichtsverlauf durch Nebeneinanderstellungen von Kausal- und Linear-Reihen" 82 deute. Einige kommunistische Intellektuelle seien sogar bereit, ihre deterministische Geschichtsdoktrin durch den Rekurs auf bürgerliche Theorien zu legimieren. Oft borge sich der einem stupiden Dogmatismus sich verschreibende ,,kommunistische Intellektuelle ... von der bürgerlichen Ideologie eine deterministische Psychologie, die sich auf das Gesetz des Vorteils und auf den Mechanismus stützt" 83. Der in die engen Grenzen seines deterministischen Denksystems eingefugte kommunistische Intellektuelle habe trotz aller verbalen Freiheitsbeteuerungen auch kein Interesse an der Etablierung einer wahrhaft freien Politikordnung. 78
Ebd., S. 29 f.
79 Ebd., S. 31. Der Landauerschen Kritik an der marxistischen Geschichtslehre schließt
sich auch Erich Mühsam an. Vgl. dazu: Zwischen den Zeitaltern, in: Befreiung der Gesellschaft vom Staat, Berlin 1975, S. 126 f. 80 Jean-Paul Sartre. Was ist Literatur. Ein Essay, aus dem Französischen, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 154. Auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Jean Paul Sartre und dem Marxismus geht auch Raymond Aron in seinem Buch "Die heiligen Familien des Marxismus" minuziös ein, (aus dem Französischen, Hamburg 1970, S. 19 ff.). 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Ebd. 8*
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
Letzten Endes lasse seine ideologische Verbohrtheit die Forderung nach einem freiheitlich strukturierten politischen Gemeinwesen auch gar nicht zu. Das Konstruktionsmuster, das der marxistischen Doktrin zugrundeliege, erweise sich bei näherem Hinsehen als das sicherste Antidoton gegen alle individualistisch eingefärbten Politikpostulate. Der freiheitsskeptische Kommunist sei nicht zuletzt auch darauf aus, den Marxismus als Abwehrmittel gegen die libertär-antiautoritäre Linke zu gebrauchen. Was er von seiner Doktrin erhoffe, sei "nicht die Befreiung, vielmehr eine Verstärkung der Disziplin"84. Der revolutionäre Gestus der marxistisch gesinnten Kommunisten gipfele letzten Endes in einem Quietismus, der einer antikapitalistisch ausgerichteten linken Haltung recht eigentlich unwürdig sei. ,,Nichts fürchten sie so sehr wie die Freiheit ... Keine Risiken, keine Unruhe, alles ist sicher, die Ergebnisse sind verbürgt"85. Dabei will Sartre seine kritische Stimme keineswegs zum Sprachrohr einer radikal voluntaristischen Geschichtsbetrachtung machen. Ihm geht es vielmehr darum, bei aller Beachtung der Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft ein höheres Maß an Spontanäität einzufordern, als dies die orthodoxen Marxisten zu gewähren bereit sind. "Will der Revolutionär handeln, so darf er die geschichtlichen Begebenheiten nicht als das Ergebnis von gesetzlosen Zufalligkeiten betrachten"86. Allerdings weist Sartre im selben Atemzug darauf hin, daß bei aller geschichtlichen Gebundenheit des Menschen auch der eigenen Gestaltungsfreiheit des Menschen das Wort geredet werden müsse. Es führen sozusagen viele Wege zur sozialistischen Revolution und die Zukunftsgesellschaft sollte nicht über einen dogmatischen Leisten geschlagen werden. Der revolutionär gesinnte politische Akteur verlange keineswegs, "daß sein Weg schon bereitet sei: er will ihn im Gegenteil selbst bahnen"87. Daß eine so vehement auf die Freiheit des Einzelnen rekurrierende Sozialismusversion auch den sowjetischen Marxismus in Bausch und Bogen verdammt, verwundert keineswegs. Herbert Marcuse zufolge läßt dieser jenes Ausmaß an voluntaristischen Bestimmungsmomenten vergessen, das für einen Kampf gegen alle autoritär-illiberalen Tendenzen innerhalb des Sozialismus unerläßlich ist. Herbert Marcuse wirft dem Sowjetrnarxismus vor, alles Spontane zugunsten des Gesetzmäßigen rigoros auszuscheiden. Aus diesem Grunde hafte ihm der Charakter von dogmatischen Leerformeln an. Das Lehrgebäude dieser Ideologie gebe sich bei Lichte als eine ,,kleine Anzahl ständig wiederkehrender und streng kanonisierter Behauptungen" 88 zu erkennen. Vor allem ihre Geschichtsinterpreta84 Jean-Paul Sartre, Materialismus und Revolution, in: Drei Essays, aus dem Französischen, Frankfurt am Main/Berlin 1968, S. 101. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, aus dem Amerikanischen, Neuwied / Berlin 1964, S. 94.
3. Die libertäre Linke zwischen Anarchie und Ordnungszwang
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tion atme den Geist des Zwangshaften. "Die sowjetmarxistische Interpretation der Beziehung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Faktor verwandelt den dialektischen Prozeß in einen mechanistischen"89. Statt den Freiheitsspielraum des Menschen zu erweitern, enge eine derartige Geschichtslehre ihn recht eigentlich ein. "Der Sowjetmarxismus ... gleicht die Freiheit der Notwendigkeit an" 90. Mit seiner rigiden und autoritären Geschichts- und Politikinterpretation widerspreche der Sowjetmarxismus nicht zuletzt den freiheitsbetonten Schriften des jungen Marx. Marcuse zufolge macht in der Sowjetphilosophie "der philosophische Humanismus der Frühschriften, in denen der Sozialismus im Sinne menschlicher Sehnsüchte und Potentialitäten definiert wird"91, einem wissenschaftlichen Sozialismus Platz, der von unerbittlichen objektiven Gesetzen beherrscht werde und letzten Endes der menschlichen Freiheit den Kampf angesagt habe 92. Die Rigidität der sowjetmarxistischen Ideologie findet der Ansicht der libertären Sozialisten zufolge ihre notwendige Entsprechung in einem Herrschaftssystem, das fast aller liberalen Momente entrate. Die kommunistischen Staaten der Gegenwart stellen für Marcuse und seine Gesinnungsfreunde ein Amalgam dar, in dem die autoritär-repressiven Aspekte die freiheitlichen bei weitem überwiegen. Sie ließen Wertungsgrundsätze erkennen, bei denen die Vertreter der autoritären Staatsdoktrin Pate gestanden haben könnten. Dabei werde mit allen Mitteln versucht, jeglichen Versuch einer Liberalisierung und Demokratisierung des sowjetischen Systems zu unterbinden. Marcuse zufolge hätten die Herrschenden in den sowjetmarxistischen Staaten der Gegenwart an der "Kontrolle der Produktion und Verteilung ,von unten'" 93 keinerlei Interesse. Was Wunder, wenn der Marxismus in der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Staaten zu einem reinen Mittel der Machterhaltung denaturierte. Es gehöre zu den charakteristischen Ausdrucksformen der sowjetischen Ideologie, daß sie sich niemals als Vehikel der gesellschaftlichen Veränderung und des politischen Protestes begriff. In dem Maße, in dem die Widersprüche in der sowjetischen Gesellschaft und Politik wachsen, werde der Marxismus in den Dienst der Systemerhaltung gestellt. "Indem sich der Gegensatz zwischen Ideologie und Realität mit dem wachsenden Gegensatz zwischen dem produktiven Potential der Gesellschaft und seiner repressiven Anwendung verschärft, werden die vorher freien Elemente der Ideologie administrativer Kontrolle und Steuerung unterworfen"94. Auf diese Weise verkomme der Sowjetmarxismus zur reinen Rechtferti89 Ebd., Ebd. 91 Ebd., 92 Ebd. 93 Ebd., 94 Ebd., 90
S. 149. S. 145. S. 180. S. 97 f.
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gungslehre. Mit ihrer Hilfe werde auch der unmenschlichsten Herrschaftsausübung die Aura historischer Notwendigkeit verliehen." Die sowjetischen Entwicklungen erhalten dadurch die Würde objektiver Naturgesetze, von denen sie angeblich beherrscht werden und die, richtig verstanden und ins Bewußtsein gehoben, schließlich alle Übel wiedergutmachen und zum endgültigen Sieg über die gegnerischen Kräfte führen werden"9s. Der libertäre Sozialismus nimmt allerdings nicht nur das sowjetische System in sein kritisches Visier. Er übt auch Kritik an den Staaten des liberal-kapitalistischen Westens. Dabei gehen die Repräsentanten des antiautoritären Sozialismus zunächst davon aus, daß es in diesen politischen Gemeinwesen einen kaum zu leugnenden Widerspruch zwischen ihrem demokratischen Anspruch und seiner alltäglichen Verwirklichung gebe. Wolle man den ganzen Abstand ermessen, der die Ideen der liberalen Klassiker von der heutigen kapitalistischen Wirklichkeit trenne, so genüge ein unparteiischer Blick auf die unzureichende Vertretung des Volkswillens in den politischen Repräsentationsorganen der westlichen Staaten. Nur vordergründig entsprächen sie den Anforderungen der liberalen Politiklehre; in Wirklichkeit fügen sich ihre Teile zwanglos zu einem politischen System zusammen, in denen ein dem emanzipatorischen Demokratiegedanken widersprechender Geist herrsche. Andre Gorz zufolge erhebt sich "aus den Ruinen des Parlamentarismus"96 eine "neue autoritäre Macht" 97. In diesem von einem genuin antidemokratischen Geiste bestimmten System sei die Volksvertretung entmachtet. Mächtige Interessenc1ans bestimmten die Geschicke der westlichen Nationen, ohne von den Volksvertretungen auch nur ansatzweise kontrolliert zu werden. "Ein modemes autoritäres System ist . . . durch die faktische Zentralisation der Entscheidungsmacht in den Händen einer im allgemeinen mit den ökonomisch herrschenden Gruppen liierten Oligarchie gekennzeichnet . .. Die gewählten Versammlungen werden auf diese Weise kaltgestellt"98. Die antidemokratischen Systeme des Westens verdanken sich der Anstrengung, die Volksrnassen in Unmündigkeit zu halten, ihren legitimen Emanzipationskampf zu inhibieren. An die Stelle der Bestimmung von unten trete die Manipulation von oben. "Überall zeigt sich dieselbe Tendenz, die Macht der Staatsbürger, sich zu Gruppen zusammenzuschließen und ihren kollektiven Willen zu artikulieren und durchzusetzen, durch die Manipulation und Konditionierung der atomisierten Massen zu ersetzen"99. Andre Gorz zufolge haben diese Entmündigung der Volksrnassen sowohl die konservativen als auch die sozialdemokratischen Parteien und Regierungen zu verantworten. Der in Rede stehende demokratische Ebd., S. 143 f. Andre Gorz, Der schwierige Sozialismus, aus dem Französischen, Frankfurt am Main 1967, S. 8. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 8 f. 99 Ebd., S. 10. 95
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Sündenfall gehe sowohl auf das Konto der ,,rechten" als auch der "linken" Politikkräfte. "Ob dieser Verfall der Vertretungskörperschaften die Form des Gaullismus, des Wilsonismus, der italienischen Koalition der linken Mitte, der sogenannten Great Society oder skandinavischen Sozialdemokratie annimmt, ist nicht von Bedeutung: alle diese Regimes haben die gleichen Merkmale: die Zentralisierung der Macht in den Händen der Bürokratie und des Staates, das Fehlen demokratischer Kontrollen in dem Funktionsmechanismus der herrschenden Parteien und bei der Vorbereitung politischer Entscheidungen" 100. Wie für Andre Gorz, so ist auch für Herbert Marcuse in der westlichen Staatenwelt das Undemokratische dominant geworden, der Sinn für die Exekution des Volkswillens weitgehend entschwunden. Auch Marcuse analysiert die angeblich antidemokratische Wirklichkeit von heute auf dem Hintergrund der emanzipatorischen Hoffnungen des frühen Liberalismus. "Die Rechte und Freiheiten, die zu Beginn und auf früheren Stufen der Industriegesellschaft einmal lebenswichtige Faktoren waren, weichen einer höheren Stufe der Gesellschaft: sie sind dabei, ihre traditionelle Vernunftbasis und ihren Inhalt zu verlieren. Denk-, Rede- und Gewissensfreiheit waren - ganz wie die freie Wirtschaft, deren Förderung und Schutz sie dienten - wesentlich kritische Ideen, bestimmt, eine veraltete materielle und geistige Kultur durch eine produktivere und rationalere zu ersetzen" 101. Die politischen Freiheiten, die auf einer niederen Stufe der Produktivität sich ungehindert entfalten konnten, verlieren in der modernen Überflußgesellschaft ihre Wirkkraft. "Unabhängigkeit des Denkens, Autonomie, das Recht auf politische Opposition werden gegenwärtig ihrer grundlegenden kritischen Funktion beraubt in einer Gesellschaft, die immer mehr imstande scheint, die Bedürfnisse der Individuen vermittels der Weise zu befriedigen, in der sie organisiert ist" 102. In einer derart autoritär strukturierten Ordnung ist es nicht zuletzt auch möglich, alle revolutionären Bewegungen erfolgreich zu unterdrücken. Marcuse zufolge kann sie "die Opposition auf die Diskussion und Förderung alternativer politischer Praktiken innerhalb des Status quo einschränken" 103. In diesem autoritären Herrschaftssystem gelinge es in zunehmendem Maße, alle revolutionären Ideen ihrer Wirksamkeit zu berauben. Nicht zuletzt im Bereich der Massenkommunikation weigerten sich die Verantwortlichen erfolgreich, antikapitalistischen Ordnungsvorstellungen Raum zu gewähren. Nach ihrem Politikverständnis seien Presse, Rundfunk und Fernsehen gehalten, dem sozialen und politischen Status quo Reverenz zu erweisen. "Mit der Konzentration ökonomischer und politischer Macht und der Integration gegensätzlicher Standpunkte Ebd. Herber! Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, aus dem Amerikanischen, 6. Aufl., Neuwied / Berlin 1968, S. 21. 102 Ebd., S. 21 f. 103 Ebd., S. 22. 100 101
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einer Gesellschaft, welche die Technik als Herrschaftsinstrument benutzt, wird effektive Abweichung dort gehemmt, wo sie unbehindert aufkommen konnte: in der Meinungsbildung, im Bereich von Information und Kommunikation, in der Rede und Versammlung. Unter der Herrschaft der monopolistischen Medien ... wird eine Mentalität erzeugt, für die Recht und Unrecht, Wahr und Falsch vorherbestimmt sind, wo immer sie die Lebensinteressen der Gesellschaft berühren" 104. In das Sprachuniversum der westlichen Staaten können Marcuse zufolge nur solche Wörter und Begriffe eindringen, die mit dem liberal-kapitalistischen System übereinstimmen. "Der Zugang zur Sprache wird denjenigen Wörtern und Ideen versperrt, die anderen Sinnes sind als der etablierte" 105. Marcuse verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der "repressiven Toleranz" 106. Er besagt, daß sich der Westen nur vordergründig zu den freiheitlichen Idealen der Aufklärung bekenne; in Wirklichkeit gehe es ihm unter Vorspiegelung einer liberalen Haltung darum, alle systemtranszendierenden Ideen nachhaltig zu unterdrücken. Die in den westlichen Staaten praktizierte Toleranz entpuppe sich bei näherem Hinsehen als eine raffinierte Methode, revolutionären Gedanken und Aktionen wirksam zu begegnen. In ihrem Politikbereich ,,herrsche wohl Diskussion im Überfluß" 107, jedoch werde diese Toleranz keineswegs gegenüber solchen Ideen praktiziert, die das kapitalistische System grundsätzlich in Frage stellen. Bei allem Bekenntnis zur liberalen Gedankenwelt enthält die Toleranzlehre Marcuses jedoch auch genuin illiberale Bedeutungsgehalte. Sie läßt durchaus auch Intoleranz gegenüber den Gegnern seiner Emanzipationsdoktrin zu. Dezidiert ist Marcuse der Ansicht, "daß die Verwirklichung der Toleranz Intoleranz gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen" 108 erheischt. Dabei richtet sich die von ihm propagierte Intoleranz vor allem gegen konservative Ordnungsvorstellungen. Akzeptiert wird in seinem PolitikmodelI offensichtlich nur das, was auf ein genuin progressives Modell zu bringen ist. "Befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links" 109. Marcuse plädiert also ganz unverhüllt dafür, Gewalt gegen den politischen Gegner anzuwenden. Nur derjenige, der an der Fortexistenz des gegenwärtigen Systems interessiert sei, könne ihr prinzipiell eine Absage erteilen. Um der eigenen Glaubwürdigkeit willen müsse jeder Repräsentant einer sozialistischen 104 Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff / Barrington Moore / Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, aus dem Amerikanischen, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1967, S. 106. 105 Ebd., S. 107. 106 Ebd., S. 105. 107 Ebd., S. 93. 108 Ebd., S. 93. 109 Ebd., S. 120.
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Gegenordnung ihre Anwendung befürworten. Nur auf diese Weise sei es möglich, das kapitalistische System zu überwinden und ein humaneres an dessen Stelle zu setzen. "Daher erscheint der Gewaltkonflikt als Zusammenstß der allgemeinen mit der partikularen Gewalt und in diesem Zusammenstoß wird die partikulare Gewalt geschlagen werden, bis sie selbst eine neue Allgemeinheit der bestehenden gegenüberstellen kann" HO. Was die von Marcuse konzipierte und erhoffte egalitäre Gesellschaft der Zukunft anlangt, so wird sie im Gegensatz zu den Annahmen von Karl Marx keineswegs das Produkt der Arbeiterklasse sein. Auf diese soziale Schicht setzt Marcuse keinerlei revolutionäre Hoffnungen mehr. Ihm zufolge sind allein die Außenseiter der Gesellschaft in der Lage, den Kapitalismus zu überwinden und diesen durch eine gerechtere und herrschafts freie Ordnung zu ersetzen. Dabei ist es das täglich erfahrene Leid der revolutionär gesinnten marginalisierten Volksschichten, die diese zu einer revolutionären Aktion befahigen. Marcuse schreibt: "Unter der konservativen Volksbasis befindet sich das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfahigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unterträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewßtsein" lll. Während im klassischen Marxismus diese von Marcuse so emphatisch analysierten Außenseiter als Lumpenproletariat beschimpft werden, avancieren sie in seiner Perspektive zu den Hoffnungsträgern einer besseren Zukunft. "Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslager, selbst dem Tod gegenüberstehen ... Die Tatsache, daß sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert" 112.
110 Herbert Marcuse, Psychoanalyse und Politik, Frankfurt am Main/Wien 1968, S. 63. Diese Verherrlichung der Gewalt stieß natürlich auch auf Ablehnung. Vgl. dazu Helmuth Kuhn, Schößling der Diktatur. Dimension und Folgen des totalen Politikbegriffs, in: Die Welt Nr. 236, 10. Oktober 1970. 111 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 267. 112 Ebd. Vgl. dazu auch Andre Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, aus dem Französischen, Reinbek bei Hamburg 1983. Robert Havemann zufolge hat jedoch die Pariser Mai-Revolution von 1968 die These widerlegt, daß die Arbeiter keinerlei revolutionären Elan mehr aufwiesen. "Die große revolutionäre Streikbewegung in Frankreich im Mai 1968, bei der Studenten und Arbeiter gemeinsam kämpften und der französischen Bougeoisie einen tödlichen Schrecken einjagten, widerlegte diese Theorie (Der Sozialismus von morgen, in: Rückantworten an die Hauptverwaltung ,,Ewige Wahrheiten", München 1971, S. 109).
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
4. Egalitäre Gesellschaft und liberale Politikordnung: Der Demokratische Sozialismus Die Analyse des sozialistischen Ideenkreises wäre unvollständig, wollte man neben der marxistischen und der libertären Richtung diejenige unerwähnt lassen, die man als die demokratische bezeichnet. Wenn es ein ideologisches Leitmotiv gibt, das diese Sozialismusausprägung von Anfang an bestimmte, dann ist es der Versuch, die egalitären Ideale des Sozialismus mit dem Ordnungsgedanken der liberalen Demokratie zu verbinden. Die Politikfamilie des Demokratischen Sozialismus bestimmt nicht zuletzt das Staatsleben vieler westlicher Gemeinwesen. Die sozialdemokratischen Parteien sind sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene 113 zu einem kaum zu übersehenden Machtfaktor geworden. Die Besinnung darauf, wie eine derartige Theorie und die ihr entsprechende Praxis zu gestalten seien, hat den Vertretern des Demokratischen Sozialismus deutlich gemacht, in wie starkem Maße sie bei allen ideologischen Gemeinsamkeiten von den Marxisten und den libertären Sozialisten differieren. Was die Geschichtslehre des Demokratischen Sozialismus anlangt, so ist sein Gegensatz zu derjenigen des Marxismus unmittelbar und auffallig gegeben. Wie die Repräsentanten des libertären Sozialismus, so ziehen auch die Vertreter des demokratischen das voluntaristische Bestimmungsmoment dem deterministischen eindeutig vor. Sie lehnen es nachhaltig ab, ihre politischen Überzeugungen einer historischen Konzeption zu opfern, in der das Handeln der Staatsbürger dem Demiurgen des historischen Prozesses angepaßt werden muß. Hermann Heller schreibt in diesem Zusammenhang: "Die Verwirklichung des sozialistischen Gemeinschaftsgedankens darf von keinem Wunder erwartet werden, am allerwenigsten von dem Wunder der sich selbst vollziehenden Dialektik der Geschichte. Wir sind heute vor persönliche und gesellschaftliche Wirklichkeiten gestellt und haben diese mit Geist und Tat zu durchdringen. Vor keiner dieser Wirklichkeiten dürfen wir in eine unfruchtbare Negation ausbiegen, alle wollen gewogen und positiv oder negativ zum Aufbau verwertet sein" 114. 113 In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, daß die NATO einen sozialdemokratischen Generalsekretär hatte. Der Belgier Paul-Henry Spaak schrieb über dieses Verteidigungsbündnis: "Das Atlantische Bündnis ist aus der Notwendigkeit der Verteidigung entstanden; aber es handelt sich nicht nur darum, eine Gruppe von Ländern gegen die Drohung einer politischen und militärischen Vorherrschaft zu schützen. Diese Drohung ... richtet sich gegen die Grundsätze der Zivilisation selbst. Der Kommunismus will der Welt angeblich im Namen des Fortschritts und der Menschheitsbeglückung ein System aufzwingen, das auf der Unterdrückung der Einzelpersönlichkeit beruht" (Warum Nato?, aus dem Englischen, Berlin 1959, S. 50). 114 Hermann Heller, Sozialismus und Nation, Berlin 1925, S. 11. Die skeptische Geschichtsanalyse Hellers mündet selbstverständlich auch in eine rigorosen Zurückweisung jeglicher chiliastischer Zukunftshoffnungen. Er schreibt: "Die endgültige Überwindung aller gesellschaftlichen Gegensätze, die Lösung der aufgezeigten Widersprüche ist nur möglich im Religiösen, wo die Lösung als Erlösung erlebt wird . .. die letzte
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In den kritischen Fokus der demokratisch gesinnten Sozialisten gerät nicht zuletzt auch die marxistische Lehre vom Verhältnis zwischen Unterbau und Überbau. Hermann Heller zufolge atmet diese ausgesprochen unwissenschaftlichen Geist. Er betrachtet sie als authentisches Zeugnis eines ideologischen, der gesellschaftlichen Wirklichkeit diametral widersprechenden Bewußtseins. "Sieht jemand das Ideelle nur als das ,im Menschenkopf umgesetzte Materielle' an, also lediglich als ein allerdings notwendiges Zubehör der Wirtschaft, als ein technisches Mittel der Bedürfnisbefriedigung und befindet er sich bei dieser Art von Religion wohl, so wollen wir sein unentwickeltes religiöses Bedürfnis nicht schmähen, sondern nur feststellen"ll5. Heller zufolge können die außerwirtschaftlichen Seins sphären keineswegs als bloßes ,,zubehör der Wirschaft" 116 betrachtet werden. Es widerspreche jeder Alltagserfahrung, wolle man die menschliche Existenz ausschließlich auf das Ökonomische reduzieren. Ohne jeglichen Zweifel seien die Menschen "in jedem Augenblick erotisch, religiös usw. bestimmt"lI7. Die dogmatisch auf den ökonomischen Unterbau fixierten Marxisten übersähen, in wie starkem Maße die "Wirtschaft ... nur eine neben anderen Kulturbetätigungen der Menschen"118 darstelle. Ihre selektive Wahrnehmungspraxis erblicke in völlig unzureichender Weise im historischen Prozeß nicht mehr als eine ,,mechanistisch-naturgesetzliche Selbstentwicklung der ,ökonomischen Verhältnisse "'119. Dabei werde die freie Entscheidung des geschichtlich agierenden Menschen völlig aus dem Blick genommen, letztendlich aber auch mit Verachtung bestraft. Auf diese Weise mache sich der Marxismus einer illegitimen "Ausschaltung des wollenden ... Menschen" 120 schuldig. Hermann Heller zufolge verdeckt die ökonomistische Geschichtslehre des Marxismus auch einen anderen gravierenden Mangel nur notdürftig. Sie widerspreche nicht zuletzt dem grundlegenden Tatbestand, daß der Bereich des Staatlichen letzten Endes von den Imperativen der Ökonomie unabhängig sei. Hermann Heller spricht sich deshalb dezidiert für den Primat der Politik aus, redet der Hannonie als unmittelbare Zielsetzung einer sozialistischen Gesellschaftsgestaltung ist lediglich das Zeugnis eines unklaren Denkens und eines sentimentalen Fühlens, im Ganzen der Ausdruck eines unheroischen Charakters, der, unfähig, den uns als Menschen aufgegebenen ewigen Widerstreit innerlich zu ertragen, diesseitige Erlösungen erwartete" (ebd., S. 68). 115 Hermann Heller, Sozialismus und Nation, S. 32. Peter Glotz macht in diesem Zusammenhang völlig zu Recht darauf aufmerksam, daß Konflikte sich auch einstellten, "wenn es möglich wäre, die ökonomischen Interessen vollständig zu hannonisieren" (Konflikte und Kompromisse in der Demokratie, in: Jugend Demokratie Nation, Bonn 1967, S. 55 (Schriftenreihe der Jungsozialisten 3/67». Auf den wissenschaftlich unhaltbaren Ökonomismus hat schon Leopold von Wiese hingewiesen (Staatssozialismus, Berlin 1916, S. 60 und passim). 116 Ebd., S. 32. 117 Ebd., S. 54. 118 Ebd., S. 29. 119 Ebd., S. 29. 120 Ebd.
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"Eigengesetzlichkeit des Staates" 121 das Wort. Damit ist seine Absage an die marxistische Politikinterpretation unmittelbar gegeben. Er schreibt: "Wer nur mittels des ökonomischen Bewegungsgesetzes die gesellschaftliche Wirklichkeit erkennen will, kann die Eigengesetzlichkeit der politischen Wirklichkeit genau so wenig erkennen, wie man durch eine rote Brille blau sehen kann" 122. Die von Hermann Heller so überzeugungskräftig vorgetragene Kritik an der ökonomistischen Interpretation des Staates kann innerhalb der Sozialdemokratie auf eine stolze Tradition zurückblicken. Letzten Endes war es schon Ferdinand Lassalle 123 darum gegangen, einer den Bereich der Wirtschaft transzendierenden Staatsinterpretation das Wort zu reden. Lassalle hat sich einer Politikanalyse befleißigt, die der von Karl Marx vertretenen diametral entgegengesetzt war. Willi Eichler ist deshalb vollinhaltlich zuzustimmen, wenn er schreibt: "Lassalle unterschied sich von Marx wesentlich vor allem in der Rolle, die er historisch und politisch dem Staat zuwies ... Für Lassalle ist der Staat der mögliche und notwendige Helfer. Die ,sittliche Idee' des Staates ist es, dem einzelnen Bildung, gerechten Anteil am Sozialprodukt und im öffentlichen Leben zu sichern" 124. Ein Sozialismus, der sich dem ökonomistischen Geschichtsschema von Karl Marx anheimgibt, gerät der Auffassung demokratischer Sozialisten zufolge auch in Gefahr, seine ureigensten ethischen Grundsätze leichtfertig über Bord zu werfen. Namhafte Vertreter dieser Ideologiefamilie haben darauf hingewiesen, daß die panökonomische Geschichtserklärung Marxens jegliche Ethik als schieres Epiphänomen des wirtschaftlichen Unterbaus denunziere l25 • Dabei wurde auch auf die Widersprüche aufmerksam gemacht, die in der marxistischen Lehre enthalten sind. Schon der Philosoph Vorländer hat darauf verwiesen, daß man das Kommunistische Manifest kaum ökonomistisch interpretieren könne. Wenn Hermann Heller, Staatslehre, 2. Aufl., Leiden 1961, S. 21l. Hermann Heller, Sozialismus und Nation, S. 58. Heller ist der Auffassung, daß auch die Nation so wenig wie der Staat aus dem Ökonomischen abgeleitet werden könne. "Die Nation ist eine endgültige Lebensform, die durch den Sozialismus weder beseitigt werden kann noch beseitigt werden soll. Sozialismus bedeutet keineswegs das Ende, sondern die Vollendung der nationalen Gemeinschaft" (ebd., S. 35). 123 Vgl. dazu Lassalles Arbeiter-Programm, in: Ferdinand Lassalle's Reden und Schriften, hrsg. von Eduard Bernstein, 2. Bd., Berlin 1893, S. 44 ff. 124 Willi Eichler, Individuum und Gesellschaft im Verständnis demokratischer Sozialisten, Hannover 1970, S. 48. Dabei halten die Repräsentanten des Demokratischen Sozialismus durchaus am Klassenkampfkonzept fest. So schreibt Eduard Heimann: "Karl Marx, den viele Gegner für den Klassenkampf verantwortlich machen wollen, hat ihn in Wahrheit vorgefunden und gewiß auch umgedeutet und durch die Gewalt dieser Deutung geformt; er hat ihm eine Theorie gegeben und durch diese Theorie auf die Gestaltung der Praxis zurückgewirkt - aber erdacht hat er ihn so wenig, wie man Leidenschaften und Ausbrüche der Not erdenken und schaffen kann" (Die sittliche Idee des Klassenkampfes, Berlin 1926, S. 8). 125 Vgl. dazu Hans J örg Sandkühler , Kant, neukantianischer Sozialismus, Revisionismus. Zur Entstehung der Ideologie des demokratischen Sozialismus, in: Marxismus und Ethik. Texte zum neukantianischen Sozialismus, hrsg. von Rafael de la Vega / Hans Jörg Sandkühler, Frankfurt am Main 1970, S. 7 ff. 121
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dieses Religion und Moral wirtschaftlich interpretiere, dann stelle es die Nichtigkeit derartiger Behauptungen selber unter Beweis. In diesem Zusammenhang fordert Vorländer die Sozialisten seiner Zeit auf, sich von der ethikwidrigen Geschichtslehre von Marx zu lösen und die Morallehre Kants zu übernehmen. "In Wahrheit ist die Ethik, genauer gesagt die ethische Methode, längst vorhanden ... geschaffen vor nahezu anderthalb Jahrhunderten von dem großen und doch eine so einfache Wahrheit verkündenden Philosophen von Königsberg" 126. Vorländer zufolge läßt sich nur auf der Grundlage des Kategorischen Imperativs von Kant der Kapitalismus sinnvoll und nachhaltig kritisieren. Von einerpanökonomischen Geschichtsschreibung aus sei es kaum möglich, dieses Wirtschafts- und Sozialsystem nachhaltig in Frage zu stellen 127. Neben Karl Vorländer war es nicht zuletzt Max Adler, der einer Verbindung der Kantschen Sittenlehre mit der Gesellschaftsdoktrin des Sozialismus das Wort redete. Er schrieb: "Die Bedeutung der Ethik Kants für den Sozialismus besteht ... darin, daß sie ... ermöglicht, ein allgemeingültiges Richtmaß für die ethische Wertung aufzustellen und dadurch uns instand setzt, die Kausalität menschlichen Wollens nicht mehr als einen unbestimmten und unbestimmbaren, sondern vielmehr als einen richtungsbestimmten Faktor in die Berechnung geschichtlicher Notwendigkeit einzustellen" 128. Kant biete dem Sozialisten die Möglichkeit, sein ethisches Wollen in ein gesellschaftstheoretisches Bezugssystem einzubetten, das seine Zukunftsvision in einen logisch nachvollziehbaren Zusammenhang bringe. Der dem humanitär-sozialistischen Ideal verpflichtete Mensch verdanke dem Königsberger Philosophen, seine politischen Handlungen "als sittliche Tat der frei gewordenen Menschlichkeit begreifen zu können" 129. Die Repräsentanten des zeitgenössischen Demokratischen Sozialismus nehmen nicht nur die marxistische Geschichtslehre und ihre daraus deszendierenden politischen Ordnungsvorstellungen in ihr kritisches Visier, sie richten ihren abweisenden Blick auch auf die Herrschaftspraxis derjenigen politischen Gemeinwesen, die sich auf Karl Marx und Lenin berufen. Im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht dabei zunächst die aus dem Marxismus heraus legitimierte Einparteienherrschaft. Dabei gehen sie davon aus, daß dieses Parteiensystem sozialdemokratischen Politikprinzipien radikal widerspricht. Im Namen einer denaturierten Sozialismuskonzeption habe man sich einer Parteistruktur verschrieben, die dem freiheitlich ausgerichteten Sozialismus diametral entgegengesetzt sei. Harold J. Laski hat seiner Abneigung gegenüber dem marxistischen Einparteienstaat besonders beredten Ausdruck verliehen, wenn er Karl Vorländer, Kant und Marx, 2. Aufl., Tübingen 1926, S. 286. Ebd. 128 Max Adler, Kant und der Sozialismus. Gesammelte Aufsätze zur Erkenntniskritik und Theorie des Sozialen, Neudruck der Ausgabe Berlin 1925, mit einer Einleitung von Norbert Leser, Aalen 1975 (Scientia Verlag), S. 113. 129 Ebd., S. 112. 126
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schreibt: "Seit auf die Oktoberrevolution in Rußland die Bildung der Kommunistischen Internationale folgte, hat die tiefe Spaltung innerhalb der internationalen sozialistischen Bewegung nicht aufgehört zu bestehen. Die kommunistischen Parteien der ganzen Welt haben Moskaus Theorie und Praxis als die einzig gültige Philosophie des Sozialismus angenommen . .. Sie bestanden auf der Notwendigkeit, eine hochzentralisierte Partei zu haben, mit eiserner Disziplin und geführt von Berufsrevolutionären, sich unter die werktätigen Massen zu mischen, diese zu erziehen, zu organisieren und sie zu führen 130". Die Kritik der demokratischen Sozialisten entzündet sich nicht zuletzt auch an der übersteigerten Herrschaftsintensität, durch die sich der sowjetische Einparteienstaat von Anfang an auszeichnete. Sie werfen den Machthabern der sowjetischen Regime vor, allen menschlichen Freiheitsregungen mit brutaler Gewalt zu begegnen, sich einer durch und durch illiberalen Politikordnung verschrieben zu haben. Harold J. Laski schreibt über die Regierung der Sowjetunion: "Sie bestreitet das Recht auf Opposition, auf Gesetzgebung, das Recht auf Redefreiheit oder Vereinsfreiheit, die Pflicht des einzelnen Bürgers, sein eigenes Gewissen höher zu stellen als die Befehle seiner Partei" 131. Dabei habe das Sowjetsystem schon an seinem Anfang den Makel der antifreiheitlichen Politikgestaltung aufgewiesen. Schon Lenin und seinen Anhängern sei es darum gegangen, die Revolution unter allen erdenklichen Umständen zu verteidigen. Auf diese Weise sei die Herrschaftsintensität des zaristischen Systems sogar gesteigert worden. Eine Bewegung, die im Namen des Freiheitsideals angetreten sei, habe einen totalitären Staat in ihren Dienst gestellt, um jeglichen politischen Widerstand im Keime ersticken zu können. Arnold Künzli schreibt in diesem Zusammenhang: "Die Notwendigkeit, sich des Staatsapparats und eines zusätzlich geschaffenen Parteiapparats zu bedienen, und zwar höchst energisch zu bedienen, um die Revolution retten zu können, war die Brücke, über die das despotische System des Zarismus in den neuen Sowjetstaat gelangte" 132. Angesichts der ins höchste Extrem gesteigerten Herrschaftsintensität des sowjetischen Systems wurde auch geltend gemacht, daß es innerhalb der marxistischen Weltbewegung Strömungen gab und gibt, die einer derartigen Repression keineswegs das Wort reden. In diesem Zusammenhang wird dem Argument das Wort geredet, ihre Herrschaftsübernahme hätte ein weitaus unterdrückungsärme130 Harold J. Laski, Das geheime Bataillon. Eine Untersuchung über das kommunistische Verhalten zur Labour-Party, aus dem Englischen, Hamburg 1947, S. 9. 131 Ebd., S. 42. Vgl. dazu auch WilU Eichler, ,,Als reale, berufene Hüter dieses ausgedachten Prozesses verstehen sich die kommunistischen Parteien. Wer die Notwendigkeit, sich ihnen, als den geschulten Erben der Geschichte, zu fügen, nicht einsieht, der wird als Verräter am Sozialismus behandelt, der seine Freiheit (der Einsicht) mißbraucht; denn er ist faktisch wirklich nur frei zu gehorchen" (Individuum und Gesellschaft im Verständnis demokratischer Sozialisten, Hannover 1970, S. 63). 132 Arnold KünzU, Marx - ein Dissident?, in: Marx heute. Pro und Contra, hrsg. von Ossip K. Flechtheim, Hamburg 1973, S. 87.
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res politisches Gemeinwesen zur Folge gehabt. Es war nicht zuletzt Brigitte Seebacher-Brandt, die derlei Vorstellungen ins Reich der politischen Utopie verwies. So habe sich das Bild einer angeblich "liberalen" Rosa Luxemburg so übermächtig in das Bewußtsein vieler Zeitgenossen geschoben, daß ihre gegenteiligen Denkansätze darüber völlig vergessen werden. Brigitte Seebacher-Brandt weist in diesem Zusammenhang auf die illiberale politische Sprache von Rosa Luxemburg hin. "Manche ihrer Vokabeln könnten dem Wörterbuch des Stalinismus entnommen worden sein" 133. Auch wenn man die politischen Ordnungsvorstellungen der sogenannten ,,Linken Opposition" innerhalb der KPD bis in ihre Detailstrukturen hinein ausleuchtet, stößt man kaum auf freiheitlich-politisches Gedankengut. Auch hier ist der Abschied vom politischen Liberalismus unübersehbar, auch bei Ruth Fischer und Arkadij Maslow findet sich das uneingeschränkte Bekenntnis zur politischen Repression. Die Begeisterung für das Ideal der sozialistischen Gesellschaft wälzt alle freiheitlich inspirierten Bedenken gnadenlos nieder. Brigitte SeebacherBrandt schreibt: "Unter den ,Ultralinken' wäre es kaum besser gegangen, als es unter den Stalinisten gegangen ist" 134. Angesichts des sowjetischen Repressionsapparates und seines Mißbrauchs des Demokratiebegriffes rufen die Anhänger des Demokratischen Sozialismus die freiheitlichen Traditionen ihrer Bewegung in Erinnerung. Dabei verhehlen sie nicht, in wie starkem Maße sich diese den Klassikern der liberalen Politiklehre verdankt. Mit voller Berechtigung weisen sie darauf hin, daß ihre politischen Ordnungsvorstellungen den Grundsätzen von Immanuel Kant und John Locke entsprechen. Dem Liberalismus gebühre das unbestreitbare Verdienst, das Problem der staatlichen Macht in einem freiheitlichen Sinne gelöst zu haben. Aus diesem Grunde müsse jeder freiheitlich gesinnte Sozialist diesen liberalen Ahnherren gegenüber ein Gefühl der Dankbarkeit empfinden. Scharf und unmißverständlich wendet sich Arnold Künzli zu Recht dagegen, den ,,Liberalismus wegwerfend als bloße Ideologie zur Legitimierung und Konsolidierung des Kapitalismus und die bürgerliche politische Demokratie als eine bloß formale zu denunzieren" 135. Im übrigen sei der Sozialismus in seinem ureigensten Überlebensinteresse gezwungen, sich der Freiheitspostulate des Liberalismus zu versichern. Allein auf diese Weise habe er eine Chance, überhaupt zu überleben. "Wenn der Sozialismus des 20. Jahrhunderts nicht endgültig am Problem der Macht scheitern soll, muß er Nachhilfestunden bei den klassischen Liberalen nehmen" 136. 133 Brigitte Seebacher-Brandt, Die vergebliche Liebe. Über Rosa Luxemburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 288, 11. Dezember 1990. 134 Brigitte Seebacher-Brandt, Unter "Ultralinken". Eine Edition des Nachlasses von Ruth Fischer und Arkadij Maslow, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256, 2. November 1990. 135 Arnold Künzli, Tradition und Revolution. Zur Theorie des nachmarxistischen Sozialismus, Basel 1976, S. 18 f.
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In wie starkem Maße die demokratischen Sozialisten dem liberalen Politikideal verpflichtet sind, darauf hat schon Eduard Bernstein nachhaltig und augenfallig aufmerksam gemacht. Er schrieb: "Kein Mensch denkt daran, der bürgerlichen Gesellschaft als einem zivilistisch geordneten Gemeinwesen an den Leib zu wollen. Im Gegenteil. Die Sozialdemokratie will nicht diese Gesellschaft auflösen und ihre Mitglieder allesamt proletarisieren, sie arbeitet vielmehr unablässig daran, den Arbeiter aus der sozialen Stellung eines Proletariers zu der eines Bürgers zu erheben und so das Bürgertum oder Bürgersein zu verallgemeinern" 137. Ähnlich stellte Werner Sombart fest, daß es sich bei der Sozialdemokratie um eine "gesetzlich-parlamentarische Partei" 138 handele. Sie sei weit davon entfernt, "die bestehende Gesellschaftsordnung durch eine grundsätzlich andere" zu ersetzen 139. Da sie jeden gewaltsamen Umsturz zurückweise, sei sie "in ihrem Wesen antirevolutionär im vulgären Sinne" 140. Die durch und durch liberale Einstellung der liberal gesinnten demokratischen Sozialisten teilt sich auch denjenigen ihrer Analysen mit, die sich mit der Politikund Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland beschäftigen. In diesem Zusammenhang sind nicht zuletzt die theoretischen Schriften von Johano Strasser 141 von besonderem Interesse. Dieser eher dem linken Spektrum seiner Politikfamilie zuzurechnende Autor steht der Ordnung dieses Gemeinwesens grundsätzlich zustimmend gegenüber. Er lehnt es nicht zuletzt ab, diese als durchgehend von Kapitalinteressen bestimmt zu interpretieren und damit gleichzeiig zu denunzieren. Johano Strasser schreibt in diesem Zusammenhang: ,,Für demokratische Sozialisten ist der Staat der Bundesrepublik nicht einfach ein Instrument des Kapitals oder der Monopole" 142. Die Behauptung des orthodoxen Marxismus, die Politikordnung der Bundesrepublik sei von den Interessen der Kapitalbesitzer determiniert, wird von Strasser als unwissenschaftlich zurückgewiesen 143. Ihm zufolge "schlagen sich in der staatlichen Tätigkeit widerstreitende Interessen nieder" 144. Allerdings dürfe der Gestaltungswille und der daraus resultierende politische Einfluß der Industrie keineswegs gänzlich außer acht gelassen werden. Nicht zuletzt ein Vergleich mit den autoritären und totalitären Regimen sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart zeige überdeutlich, welche politische Errungenschaft die Ordnung der Bundesrepublik darstellt. Strasser wendet sich Ebd., S. 21. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1909, S. 128. 138 Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, Jena 1908, S. 253. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Johano Strasser, Was ist demokratischer Sozialismus?, in: forum DS 1 (1976), S. 26 ff. 142 Ebd., S. 26. 143 Ebd. 144 Ebd. 136
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aus diesem Grunde dagegen, sie als rein formale Demokratie zu bewerten. Diese grundsätzliche Bejahung der Bundesrepublik Deutschland könne allerdings keineswegs bedeuten, daß dieses Staatswesen keinerlei Reformen bedürfe. Vor allem seine Demokratisierung müsse zügig vorangetrieben werden. Dies könne hauptsächlich dadurch erreicht werden, daß staatliche Partizipationsmechanismen "durch Formen unmittelbarer Selbstorganisation" 145 ergänzt werden. Was die sozial- und wirtschaftspolitischen Auffassungen des Demokratischen Sozialismus überhaupt anlangt, so sind diese mit dem Ziel zu umschreiben, die Demokratisierung des Systems der Bedürfnisse anzustreben. Schon der Fabianist Sidney Webb hat sich für die "wirtschaftliche Demokratie" 146 ausgesprochen. Er plädiert für das "Fortschreiten des demokratischen Prinzips auch auf wirtschaftlichem Gebiet" 147. Im deutschen Sprachbereich hat sich für diese Zielvorstellung die Forderung nach Mitbestimmung eingebürgert. Sie findet nicht zuletzt in den Reihen der deutschen Sozialdemokraten ihre unnachgiebigsten Befürworter l48 • Was das Problem der Eigentumsordnung anlangt, so erwarten die demokratischen Sozialisten im Gegensatz zu den Marxisten das gesellschaftliche Heil kaum von einer radikalen Umgestaltung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Das schließt jedoch keineswegs aus, daß die Forderung nach der Sozialisierung der Produktionsmittel ebenfalls zu den Postulaten des Demokratischen Sozialismus gehört. Letzten Endes wird diese Frage ausgesprochen pragmatisch in den postulativen Blick genommen. Iring Fetscher zufolge werden "Vergesellschaftungen ... als Mittel in Betracht gezogen, aber nicht als Zweck verabsolutiert" 149. Dabei ist es dem Demokratischen Sozialismus auch darum zu tun, ein vernünftiges Verhältnis von Plan- und Marktwirtschaft zu implementieren. Im Horizonte dieser Zielvorstellung rückt nicht zuletzt der Liberale John Maynard Keynes in den Mittelpunkt sozialdemokratischer Wirtschaftspostulate. Karl Schiller schreibt in diesem Zusammenhang: "Die Kombination von Globalsteuerung (gestützt auf Rahmenplanung) und Marktwirtschaft ist nicht nur Voraussetzung einer Aktion zur Herbeiführung der Stabilität, sie ist auch unter den gegebenen Verhältnissen der Weg zur Rettung der Marktwirtschaft. Mit der globalen Planung und Steuerung erhöhen wir die "Schwelle", von der ab das Verlangen nach verwaltungswirt145
Ebd., S. 27.
Sidney Webb, Die Schwächen des ökonomischen Individualismus, mit einer Einleitung über die Gesellschaft der Fabier, aus dem Englischen, München 1913, S. 40. 147 Ebd. Vgl. dazu auch A. M. McBriar, Fabian Socialism and English Politics 18841918, Cambridge 1966. 148 Vgl. dazu Fritz Naphtali, Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel, 3. Auf1., Berlin 1928. 149 Ebd., S. 22. Scharf gegen die sozialreformatorischen Vorstellungen der deutschen Sozialdemokratie wendet sich Wilhelm Hennis. Vgl. dazu seine Abhandlung: Organisierter Sozialismus. Zum ,strategischen' Staats- und Politikverständnis der Sozialdemokratie, Stuttgart 1977. 146
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schaftlichen Maßnahmen virulent wird" 150. Letzten Endes bestehe die "optimale Zuordnung der Lenkungsmittel ... in der kombinierten Anwendung des Prinzips der Selbststeuerung für die Mikrorelationen und der Globalsteuerung für die Makrorelationen" 151. Im Zentrum der Reformvorstellungen des Demokratischen Sozialismus steht auch eine effiziente Sozialpolitik. Sie hat zum Ziel, die Lebensschicksale der ökonomisch schwachen Bevölkerungsteile abzusichern, die Bürger überhaupt vor den Wechselfällen des Lebens zu schützen. Wie für den sozialen Konservatismus und den sozialen Liberalismus, so gehört auch für den demokratischen Sozialisten Iring Fetscher die "Gewährleistung einer ausreichenden Sicherheit vor Arbeitslosigkeit, Invalidität und Alter" 152 zu den selbstverständlichsten politischen Forderungen. Im Gegensatz zum Rechtsliberalismus sind die demokratischen Sozialisten jedoch keineswegs bereit, dem modemen Wohlfahrtsstaat totalitäre Bestimmungsmerkmale zu imputieren. Ein soziales Sicherheitssystem, das den Freiheitsspielraum des Menschen entscheidend erweitere, könne kaum als totalitär bezeichnet werden. Iring Fetscher zufolge stecke hinter dieser Denunzierung des modemen Wohlfahrtsstaats der illegitime Versuch, die wahren Probleme der Gesellschaft zu verschleiern. "Die Kritik am ,Kollektivismus' des ,Wohlfahrtsstaates' und am ,allmächtigen Gewerkschaftsstaat' ist ein apologetisches Abwehrmittel, durch das von wirklichen Gefahren und sozialen Privilegien abgelenkt werden soll" 153. In der Politkonzeption des Demokratischen Sozialismus wird eine effiziente Wirtschaftssteuerung überhaupt als eine wesentliche Voraussetzung für eine stabile liberale Ordnung angesehen. Ganz im Gegensatz zu den Behauptungen des Rechtsliberalismus festige sie die freiheitliche Demokratie eher als daß sie sie destabilisiere. Ganz auf dieser argumentativen Linie schreibt der englische Sozialist Aneurin Bevan: "Der Versuch des demokratischen Sozialismus, das Beste, was die Gesellschaft bieten kann, allen Menschen zugänglich zu machen, stößt auf den Widerstand aller, deren Wertempfindung durch die tägliche Parade unverdienten Reichtums verbildet worden ist. Wenn der Reichtum auf viele Millionen von Heimstätten verteilt wird, so ist das Ergebnis nicht so augenfällig. Die soziale Landschaft bietet weniger dramatische Konstraste. Aber es besteht kein Zweifel darüber, welcher Gesellschaftstyp mehr ruhige Zufriedenheit und politische Stabilität hervorbringt 154". 150 Karl Schiller, Preisstabilität durch globale Steuerung der Marktwirtschaft, Tübingen 1966, S. 20. 151 Ebd., S. 21. Vgl. dazu auch Karl Schiller, Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und die Globalsteuerung, in: Georg Kurlbaum / Uwe Jens (Hrsg.), Beiträge zur sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik, Bonn 1983, S. 79 ff. 152 [ring Fetscher, Vom Wohlfahrtsstaat zur neuen Lebensqualität. Die Herausforderungen des demokratischen Sozialismus, Köln 1982, S. 153 Ebd., S. 30. 154 Aneurin Bevan, Besser als Furcht, aus dem Englischen, Frankfurt am Main 1953, S. 245. Vgl. dazu auch Barbara Wooton, Freiheit in der Planwirtschaft, aus dem Englischen, Hamburg 1947.
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Der Demokratische Sozialismus, der sich sowohl als Apologet und als Reformator der westlichen Demokratien zu erkennen gibt, wendet sich nicht zuletzt auch gegen all diejenigen, die von einer libertär-sozialistischen Position aus die liberal-kapitalistischen Staaten unnachsichtig kritisieren. Dabei wird nicht zuletzt Herbert Marcuse vorgeworfen, ein völlig verHUschtes Bild von den liberalen Staaten des Westens gezeichnet zu haben. Der liberale Rechtsstaat der Gegenwart zeichne sich keineswegs durch jene repressiven Strukturen aus, die ihm Marcuse anlaste. Bei einern so umfänglich gebildeten Mann könne man recht eigentlich ein differenzierteres Urteil erwarten. Dieser Ansicht ist vor allem Arnold Künzli. Er schreibt: "Der Begriff ,Repression' ist heute, wesentlich dank Marcuse, zu einern Modewort geworden, das kaum mehr auf seine konkrete Gültigkeit befragt wird und das allzuoft dazu dient, die bestehenden liberalen Freiheiten pauschal eines in Wirklichkeit repressiven Charakters zu verdächtigen" 155. Überhaupt leide Marcuse an einern ausgesprochen gestörten Verhältnis zur liberalen Politikordnung. Er gewinne den freiheitlichen Staaten der Gegenwart eine repressive Dimension ab, die recht eigentlich nur in der Phantasie Marcuses existiere 156. Neben Arnold Künzli hat auch Richard Löwenthai Herbert Marcuse vorgeworfen, die freiheitliche Lebensform des Westens über Gebühr kritisiert zu haben. Seine Kritik folge aus der mangelnden Bereitschaft, sich mit den tatsächlichen Fakten abzugeben. An die Stelle einer nüchternen Realitätserkenntnis werde eine anarchistisch geprägte Endzeitvision gesetzt. Es sei Herbert Marcuse vorbehalten gewesen, "die antikonformistische Revolte gegen die bürgerliche Lebensform des Westens bis zu ihren letzten, neobakunistischen Konsequenzen" 157 entwickelt zu haben. Scharf geißelt Löwenthai auch das "gegenwärtige Bedürfnis nach diesseitigen Heilsverheißungen"158, das er bei den Anhängern der Neuen Linken ausmachen zu können glaubt. Dieser eschatologischen Blickverengung könne man das Prädikat wirklichkeitsfremd kaum ersparen. Die Forderung der Neuen Linken nach der ,,Aufhebung der spezialisierten Arbeitsteilung"159, der "Überwindung aller Herrschaft und ,Fremdbestimmung' durch universelle Mitbestimmung"160 stamme aus dem politischen Arsenal von utopischen Weltverbesserern. Der Wahrheitsgehalt seiner Kritik ruht für Löwenthai in der Gewißheit, daß es sich bei den Zukunftssehnsüchten der Neuen Linken "um diesseitige Erlösungshoffnungen" handelt 161. 155 Arnold Künzli, Aufklärung und Dialektik. Politische Philosophie von Hobbes bis Adorno, Freiburg 1971, S. 35. 156 Ebd. Schonungslose Kritik an Herbert Marcuse und seinen Anhängern übt auch Brigitte Seebacher-Brandt. Vgl. dazu ihren Artikel ,,Abschied von den Eltern. Zur Abwahl einer Generation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 289, 12. Dezember
1990.
157 Richard LöwenthaI, Gesellschaftswandel und Kulturkrise, Frankfurt am Main 1979, S. 270.
158 Ebd. 159 Ebd., S. 44. 160 Ebd.
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
Zu den Hauptcharakteristika des libertären Sozialismus zähle überhaupt ein völlig ungeklärtes Verhältnis zum Gewaltbegriff. Recht eigentlich oszilliere die antiautoritäre Ordnungsvorstellung zwischen den Polen Antietatismus und Gewaltverherrlichung. Im Fokus ihres politischen Kampfzieles stehe eine Gesellschaftsordnung, die bar aller repressiven Bestimmungsmomente sei. Löwenthai zufolge sucht die libertäre Linke "in ihrem antiautoritären Aufstand gegen die tradierte Form des Verhältnisses von Freiheit und Bindung ... nach einer extremen Bindungslosigkeit, die sich an einem vagen Rätegedanken orientiert, Kommunen und Gruppenehe experimentiert und die absolute Freiheit im Giftrausch zu erleben sucht" 162. Dabei bewegen sich die Anhänger der antiautoritären Bewegungen Löwenthai zufolge in einem politischen Vorstellungsfeld, aus dem heraus sie auch dezidiert autoritäre Züge entwickeln. Wenn es gelte, die Gegner ihrer utopischen Gesellschafts- und Politikentwürfe zu bekämpfen, verschmähten sie auch den Rekurs auf ausgesprochen gewaltsame Mittel nicht. Ganz in Übereinstimmung mit ihrem ideologischen Vorbild Herbert Marcuse legten sie eine illiberale Haltung an den Tag, die man als autoritär zu bezeichnen sich keineswegs zu scheuen brauche l63 • Nicht nur die Repräsentanten des europäischen Demokratischen Sozialismus haben die Theorien und Aktionen der kulturrevolutionären Neuen Linken in ihr kritisches Visier genommen. Auch Vertreter der amerikanischen Ausprägung dieses Ideenkreises haben sich gegen jene libertären Sozialisten gewandt, die der bürgerlichen Kultur und ihrer politischen und sozialen Ordnung den Kampf angesagt haben 164. Dabei lastet Michael Harrington den Anwälten eines antibürgerlichen Amerika an, keinerlei Sensorium für die Not und die Sorgen derjenigen Bevölkerungsschicht zu besitzen, die schon immer im Zentrum des sozialistischen Reformdenkens stand. Die Probleme der amerikanischen Arbeiter würden von den libertären Sozialisten der USA recht eigentlich ignoriert. Harrington schreibt in diesem Zusammenhang: "Roszak 165 und diejenigen, die er anspricht, möchten ... sofort zum Reich der Freiheit übergehen, auch wenn sie damit jene überwältigende Mehrheit der Menschen im Stich lassen, die noch immer gezwungen sind, im Reich der Notwendigkeit zu leben" 166. Während bisher immer wieder auf die Unterschiede zwischen dem Rechtsliberalismus und dem Demokratischen Sozialismus hingewiesen wurde 167, müssen Ebd. Ebd., S. 33. 163 Ebd. Während Jürgen Habermas die Politikpraxis linker Studenten als "linksfaschistisch" bezeichnet hat, lehnt Peter von Oertzen diesen Sprachgebrauch strikt ab. Vgl. dazu Peter von Oertzen, Was ist eigentlich Linksfaschismus? Analyse seines Begriffes, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 12, 13./ 14. Januar 1968. 164 Vgl. dazu auch earl Landauer, Die linksradikale Romantik, aus dem Amerikanischen, Heusenstarnm 1975, S. 68 ff. 165 Vgl. dazu Theodore Roszak, The Making of a Counter Culture, Garden City N. Y. 1969. 166 Michael Harrington, Sozialismus, S. 472. 161
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4. Egalitäre Gesellschaft und liberale Politikordnung
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auch die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem Linksliberalismus und der in Rede stehenden Sozialismusversion zur Sprache kommen. Dabei soll nicht zuletzt eine politische Persönlichkeit Berücksichtigung finden, die ihren parteipolitischen Standort wechselte und von der FDP zur SPD übertrat. Die Rede ist von Günter Verheugen 168. Dieser politische Konvertit spricht von einer tiefgehenden ideologischen Verwandtschaft zwischen dem Linksliberalismus und dem Demokratischen Sozialismus 169. Beide Ideologiekonstrukte würden von der Überlegung bestimmt, einem sozial temperierten Kapitalismus den Weg zu weisen 170. Insbesondere ein Vergleich zwischen den Ordnungsvorstellungen von Friedrich Naumann und denjenigen der Sozialdemokratie stellten augennmig unter Beweis, in wie starkem Maße von einer tief eingewurzelten ideologischen Gemeinschaft zwischen den beiden Ideologien gesprochen werden könne 171. Was die Sozialdemokratie anlange, so habe sie sich in ihrem Godesberger Programm zu genuin linksliberalen Topoi bekannt. Verheugen schreibt: "Die starken Parallelen zwischen dem sozialen Liberalismus Naumanns und den grundsätzlichen Positionen der Sozialdemokratie treten am deutlichsten im Godesberger Programm der SPD von 1959 hervor. Mit diesem Programm befreite sich die SPD endgültig von dem alten Marxismusvorwurf' 172. Wie Verheugen, so ist auch Erhard Eppler der Auffassung, daß es tiefgehende ideologische Wesensverwandtschaften zwischen der Sozialdemokratie und dem Sozialliberalismus gibt. Eppler schreibt: "Wenn der Liberalismus seinen eigenen Ansatz zu Ende denkt und nicht aufhört, wo er mit den Sonderinteressen der Arbeitgeber in Konflikt kommt, gelangt er zu dem gleichen Punkt, den die Sozialdemokratie erreicht, wenn sie utopische Hoffnungen aufgibt" 173. Dabei sei es den Verfassern des Godesberger Programmes hoch anzurechnen, daß sie sich dem Ordnungsgedanken des sozialen Liberalismus geöffnet haben. Eppler schreibt: "Das Godesberger Programm ist nicht einfach ein neues Programm der Vgl. dazu S. 3l. Vgl. dazu Günter Verheugen, Kein Monopol für den Liberalismus. Gedanken zum Parteienwechsel, in: Wie tot ist der Liberalismus?, Weinheim 1983, S. 57 ff. 169 Günter Verheugen, Der Ausverkauf. Macht und Verfall der FDP, Hamburg 1984, S.182. 170 Ebd. 171 Günter Verheugen, Liberalismus und Sozialdemokratie vom Godesberger Programm zu den Freiburger Thesen, in: Die Neue Gesellschaft 30 (1983), S. 604. Leider würden aber nicht nur die Repräsentanten des rechten Flügels der FDP die demokratischen Sozialisten denunzieren. ,,Es sind auch die ,Linken', die wenig miteinander anfangen können. Selbst in der linksliberalen Abspaltung von der FDP, in der Partei der Liberalen Demokraten, lebt die Angst vor der ,Massenpartei' SPD weiter, und es wird auch ein Überlegenheitsdünkel gegenüber dem angeblich kleinbürgerlichen Zuschnitt der SPD gepflegt" (ebd., S. 604). Umgekehrt vermißten "die SPD-Linken ... an den fortschrittlichen Liberalen oft die letzte Konsequenz und sahen auf diesem Flügel eigentlich mehr Mode als politische Substanz" (ebd.). 172 Ebd. 173 Erhard Eppler, Liberale und soziale Demokratie. Zum politischen Erbe Friedrich Naumanns (1961), in: Die neue Gesellschaft 30 (1983), S. 632. 167
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
Sozialdemokratie, es ist das Programm der freiheitlichen Linken schlechthin. Und deshalb vollstreckt dieses Programm auch einiges vom Testament Friedrich Naumanns. Die Partei des Godesberger Programms hat vieles - und wohl das Wesentliche - vom geistigen Gut Naumanns mit übernommen" 174. Auch nach der Auffassung rechtsliberaler Autoren zufolge werden sowohl der Linksliberalismus als auch die Sozialdemokratie von der Überlegung bestimmt, das Ideal des sozialen Interventionsstaates mit den Prinzipien des politischen Liberalismus zu versöhnen. Willy Linder schreibt in diesem Zusammenhang: "Was die sozialdemokratischen Parteien in den kapitalistischen Ländern ordnungspolitisch anbieten, unterscheidet sich ... vom Forderungskatalog bürgerlicher Parteien ordnungspolitisch in keiner Weise grundsätzlich, sondern ,lediglich' in einem graduellen Sinne" 175.
5. Konservative Bestimmungsmomente im sozialistischen Ideenkreis Die Besinnung darauf, was die Quintessenz des Sozialismus ausmacht, muß auch die Frage einschließen, in welchem Verhältnis dieser Ideenkreis zum Konservatismus steht. Dabei kann zunächst davon ausgegangen werden, daß die schon des öfteren angeführten Gemeinsamkeiten zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus die Differenz zwischen dem Konservatismus und dem sozialistischen Ideenkreis konstituiert. Während der Liberalismus und der Sozialismus beispielsweise an den progressiven Fortgang der Geschichte glauben, gibt sich der Konservatismus als ausgesprochen zukunftsskeptisch zu erkennen. Auch wenn man die Frage nach der gesellschaftlichen und der politischen Gleichheit in den Blick nimmt, scheinen der Liberalismus und der Sozialismus mehr Übereinstimmungen aufzuweisen als der Liberalismus und der Konservatismus. Seine Egalitätspostulate rücken den Liberalismus eher an die sozialistische als an die konservative Ordnungsvorstellung heran 176. Angesichts der von keinem ernsthaften Ideologieanalytiker geleugneten ideologischen Verwandtschaft zwischen Liberalismus und Sozialismus scheint die Frage nach den Gemeinsamkeiten zwischen Sozialismus und Konservatismus geradezu obsolet zu sein. Es wäre jedoch fahrlässig und illegitim, die Erörterung der konservativen Bestimmungsmerkmale des Sozialismus im vorhinein in den Wind zu schlagen. Schließlich weisen alle drei Ausprägungen des sozialistischen Ideenkreises ausgesprochen konservative Strukturmuster auf. Ebd., S. 637. Willy Linder, Ist der Sozialismus am Ende?, in: Schweizer Monatshefte 70 (1990), S.411. 176 Darauf hat nicht zuletzt Friedrich Julius Stahl hingewiesen. Vgl. dazu seine Ab174
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handlung: Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, S. 208 ff. und passim. Stahl schreibt: ,,Aus eben dem Menschenrecht, aus welchem man die Rechtsgleichheit ableitet, folgt auch die Vermögensgleichheit" (ebd., S. 208).
5. Konservative Bestimmungsmomente im sozialistischen Ideenkreis
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Schon der Tenor, den Konservatismus und Sozialismus bei ihrer Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft anschlagen, weist bei allen grundsätzlichen Unterschieden ausgesprochen verblüffende Ähnlichkeiten auf. Im Fokus der kritischen Aufmerksamkeit beider Ideologien steht eine Gesellschaftsordnung, die dem do ut des-Prinzip huldigt, in der das altruistische Gestaltungsprinzip dem egoistischen unterlag. Sowohl der Sozialismus als auch der Konservatismus fassen die soziale Relation im Gegensatz zum Liberalismus als eine Liebesbeziehung auf. Die Repräsentanten beider ideologischen Richtungen wenden sich gegen eine Gesellschaftsordnung, in der die Bedürfnisbeziehungen entemotionalisiert sind. Sie verwerfen ein Gemeinwesen, in dem alle sozialen Bindungen zu Tauschrelationen schrumpften. Die sozialen Beziehungen sollen den Geist der Liebe atmen und nicht vom kühlen Tauschgeist bestimmt sein. Der ungebrochene menschliche Akkord und nicht die utilitaristische Vertragsbeziehung soll den Geist des Staates und der Gesellschaft bestimmen. Hatten Adam Smith und seine ideologischen Freunde die Selbstsucht als das dominierende Moment der bürgerlichen Tauschgesellschaft erkannt und gutgeheißen, so fordern sowohl die romantisch-konservativen als auch die sozialistischen Autoren, die gesellschaftliche Beziehung zu einer Liebesbeziehung zu gestalten. Diese ideologische Übereinstimmung zwischen den beiden ansonsten verfeindeten weltanschaulichen Lagern läßt sich nicht zuletzt am Beispiel der Verwendung des Bedürfnisbegriffes exemplifizieren 177. Allerdings ist die Bedürfnisbeziehung in der sozialistischen Idealgesellschaft im Gegensatz zum Konservatismus eine Beziehung zwischen Gleichen. Die Behauptung, zwischen dem Sozialismus und dem Konservatismus bestünden tiefgreifende ideologische Gemeinsamkeiten, kann nicht zuletzt dann auch unter Beweis gestellt werden, wenn die einzelnen Strömungen des Sozialismus näher in den Blick genommen werden. Was den Marxismus anlangt, so wurde von namhaften Gelehrten immer wieder darauf hingewiesen, in wie starkem Maße Konservatismus und Marxismus verwandtschaftliche Ähnlichkeiten aufweisen. Es war nicht zuletzt Ernst Nolte, der diesen höchst aufschlußreichen Tatbestand in den Blick gerückt hat. Wenn man sich hüte, den Marxismus ausschließlich als eine modeme Ideologie zu interpretieren, träten ausgesprochen konservative Topoi zutage. "Die konservativen Züge im Marxismus sind zwar zerstreut, aber nicht zufallig. Sie gehören in jeweils spezifischer Weise zu den Grundcharakteren der Doktrin und sind ihrerseits geeignet, auf diese Grundcharaktere Licht zu werfen" 178. Nolte zufolge atmet nicht zuletzt die Gesellschafts- und Kulturkritik von Karl Marx genuin konservativen Geist. "Wenn Marx die Zerstörung des mittelalter177 Vgl. dazu J ohann Baptist Müller, Bedürfnis und Gesellschaft. Bedürfnis als Grundkategorie im Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus, Stuttgart 1971, S. 81 ff. und S. 93 ff. 178 Ernst Nolte, Die konservativen Züge im Marxismus, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 60. Geburtstag, hrsg. von Kurt Kluxen/Wolfgang J. Mommsen, München/Wien 1968, S. 198.
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
lichen Volksreichtums schildert ... gebraucht er nicht selten Wendungen, die dem katholisch-kirchlichen Konservatismus geläufig waren. Er spricht nie anders als vom ,Raub' oder ,Diebstahl' der Kirchengüter und übersieht nicht die enge Verbindung von Kirche und Volk: die Unterdrückung der Klöster habe deren Einwohner ins Proletariat geschleudert, im 16. Jahrhundert sei die englische Arbeiterklasse ohne Zwischenübergänge aus ihrem goldenen Zeitalter in das eiserne gestürzt" 179. Auf die kaum zu übersehende ideologische Verwandtschaft zwischen der marxistischen und der konservativen Sozialkritik hat auch Ernst Kux aufmerksam gemacht. Ihm geht es vor allem um den Nachweis, in wie starkem Maße das soziale Pathos von Karl Marx der deutschen Romantik verpflichtet ist. Schon sein intellektueller Werdegang stelle augenfällig den Einfluß der Romantik auf die Genesis seiner Gedankenwelt unter Beweis. Kux zufolge habe sich Marx keineswegs den "zeitgenössischen Nachwirkungen der ,Romantischen Schule' entziehen" 180 können. Insbesondere von seinem zukünftigen Schwiegervater sei er auf die romantische Gesellschaftskritik aufmerksam gemacht worden 181. Der romantische Einfluß auf die Gesellschaftskritik von Karl Marx sei vor allem "durch die ästhetische Relevanz seiner Lehre von der ,Sinnlichkeit' und durch seine Übertragung ästhetischer Kategorien und Anschauungen auf den Gesamtbereich menschlichen Tuns" 182 unter augenfälligen Beweis gestellt worden. Ein Blick in das "Kommunistische Manifest" zeigt in der Tat überdeutlich, in wie starkem Maße Marxens Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft sich konservativer Denkmodelle verdankt. So könnte beispielsweise der folgende Satz auch bei Adam Heinrich Müller oder bei Novalis stehen: "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose "bare Zahlung". Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt" 183. 179
Ebd., S. 193.
Die revolutionäre Konfession, Erlenbach-Zürich / Stuttgart 1967, S. 12. 181 Ebd. Bei Franz Mehring ist nachzulesen, daß Karl Marx sowohl die deutsche als auch die französische konservative Literatur genau kannte. Mehring schreibt: "Marx hatte während seiner Bonner und Berliner Zeit den Adam Müller und Herrn von Hallers Restauration kennengelernt" (Die Lessing-Legende. Eine Rettung, Stuttgart 1893, S. 440). Der deutsche Konservatismus sei ihm "als phrasenhaft aufgebauschter Abklatsch" des französischen erschienen (ebd.). 182 Ebd., S. 71. 183 Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx und Friedrich Engels. Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1951, 180
S.26.
Ernst Kux, Karl Marx -
5. Konservative Bestimmungsmomente im sozialistischen Ideenkreis
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Auf der Suche nach den genuin konservativen Bestimmungsmerkmalen im Werk von Karl Marx ist Ernst Kux auch zu der Überzeugung gelangt, daß die dialektische Denkweise des Trierers stark an die Romantik erinnere. "Die Marxsche Dialektik ist ihrer Form nach romantische Ironie" 184. Was Marxens Freund Friedrich Engels anlangt, so hat man auch in seinem Werk romantisch-konservative Topoi auszumachen versucht. Diese wissenschaftliche Anstrengung ist keineswegs ohne Erfolg geblieben. Insbesondere in seiner Rezension der Carlyleschen Abhandlung "Past and Present" geriert sich Engels als ein Zeitkritiker, der sich nachhaltig in den Dienst der romantischen Gesellschaftsanalyse gestellt hat. Romantisch mutet auf jeden Fall seine Kritik an der kapitalistischen Tauschgesellschaft an. In Übereinstimmung mit Carlyle ist es ihm darum zu tun, "die Haltlosigkeit, die innere Leere, den geistigen Tod, die Unwahrhaftigkeit des Zeitalters zu bekämpfen" 185. Daß sich im Marxismus ein genuin konservativer Grundzug kundtut, das ist nicht zuletzt auch die Ansicht vieler zeitgenössischer Repräsentanten des sozialistischen Ideenkreises. So ist der zur "Neuen Linken" zu zählende Fritz Vilmar der Auffassung, daß sich wichtige Bestandteile der Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels mühelos dem konservativen Ideenkreis zuordnen lassen. Vilmar spricht unumwunden von den ,,konservativen Grundstrukturen des Marxismus" 186. Vilmar zufolge atmet vor allem Marxens Determinismus genuin konservativen Geist. Ein für alle Bürger verbindliches gesellschaftliches Verlaufs gesetz lasse die gegen seine Geschichsteleologie gerichteten Handlungen der einzelnen Bürger als dysfunktional erscheinen. Letzten Endes hemmten sie den notwendigen Gang der historischen Entwicklung, seien also bei Licht besehen konterrevolutionär. Einem derartigen Geschichtsentwurfkönne man den Vorwurf des Konservatismus kaum ersparen. Vilmar schreibt: "Die ... objektiv konservativen Strukturen des Marxismus bestehen ... in dessen spezieller Sachzwangsideologie: seiner Auffassung, daß gesellschaftliche Prozesse sich mit der ,Notwendigkeit eines Naturprozesses' 187 vollziehen und daß für autonomes politisches Handeln angesichts dieser Zwangsläufigkeit ... keine Chance besteht" 188. Der konservative Charakter des Marxismus zeige sich darüber hinaus in dessen Weigerung, seine rigide Geschichtslehre zu revidieren. "Der marxistische Konservatismus besteht ... in seinem Dogmatismus, d. h. der seiner Theorie immanenten Lernunfähig-
184 185
Ernst Kux, Karl Marx. - Die romantische Konfession, S. 51. Friedrich Engels, Die Lage Englands. "Past and Present" by Thomas Carlyle, in:
Karl Marx., Friedrich Engels: Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 544. 186 Fritz Vilmar, Konservative Grundstrukturen und Wirkungen des Marxismus, in: Marx heute. Pro und contra, hrsg. von Ossip K. Flechtheim, Hamburg 1983, S. 303. 187 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, I. Bd., Berlin 1957, S.803. 188 Fritz Vilmar, Konservative Grundstrukturen und Wirkungen des Marxismus, S.303.
IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
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keit" 189. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das die zutiefst konservativen Geist atmende Geschichtslehre des Marxismus zusammenhält, dann sei es die stupide Behauptung, "ein für allemal zu wissen, daß und wie der revolutionäre Prozeß sich vollzieht" 190. Auch andere Repräsentanten der antiautoritären Linken sind der Auffassung, daß das marxistische Denksystem genuin konservativen Wertvorstellungen huldigt. So ist Jean-Paul Sartre zufolge die marxistische Bewegung in "ihrer Doktrin und in ihren eingestandenen Zielen ... konservativ geworden" 191. Zwischen Roger Garaudy, dem Chefideologen der französischen Kommunisten und dem konservativen Denker Joseph de Maistre sei kaum ein Unterschied auszumachen. Sartres Ansicht nach atmet die gesamte kommunistische Literatur genuin konserativen Geist. "Es genügt, eine kommunistische Schrift durchzublättern, um auf gut Glück hunderte konservative Züge herauszupicken" 192. In einer geradezu haßerfüllten Diktion wirft Sartre den französischen Kommunisten sogar vor, den politischen Vorstellungen des französischen Faschismus Reverenz zu erweisen. Die kommunistische Partei scheue sich keineswegs, die Prinzipien des Petainschen Etat fran~ais zu akzeptieren. "Arbeit, Familie, Vaterland müssen besungen werden"193. Diese in Rede stehende Anbiederung an die Wertewelt des reaktionärsten Teils des französischen Bürgertums zeige augenfällig, in wie starkem Maße die Kommunisten dem Geist der konservativen Prinzipienlosigkeit anheimgefallen seien. "Der Konservatismus der Kommunistischen Partei wird heute von einem widersprechenden Opportunismus geleitet" 194. Man biedere sich beim französischen Bürgertum an, um auf diese Weise politische Erfolge erzielen zu können. Dabei würden im Denksystem der französischen Kommunisten "zwei einander widersprechende Konservatismen übereinander" 195 gestülpt. Die materialistische Scholastik überlagere die christliche Moral 196. Konservative Bestimmungsmomente werden nicht nur der marxistischen Theorie und ihrer Bewegung imputiert, sondern auch dem sowjetischen Herrschaftssystem. So geht der Historiker Kann davon aus, daß der Sowjetstaat Traditionen entwickelt habe, die durchaus konservativen Vorstellungen entsprechen. "Soweit wir die Entwicklung Rußlands seit 1917 durch mehr als ein halbes Jahrhundert erblicken können, wird klar, daß sich hier eine Traditionspflege linker Art entwikkelt hat"197. Auch ein Repräsentant der konservativen Politikauffassung habe zuzugeben, daß diese in Rede stehende Traditionspflege letzten Endes seinen 189 Ebd. 190 Ebd. 191
192 193 194 195 196
Jean-Paul SarIre, Was ist Literatur?, S. 151.
Ebd. Ebd., S. 155. Ebd. Ebd., S. 154. Ebd.
197 Robert A. Kann, Konservatismus, Reaktion und Restauration, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Konservatismus in Europa, Freiburg im Breisgau 1972, S. 60.
5. Konservative Bestimmungsmomente im sozialistischen Ideenkreis
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Ordnungsvorstellungen entspreche. Konservative Politikstrukturen gebe es also auch in Systemen, die sich als sozialistisch auffassen und bezeichnen 198. Die Repräsentanten des konservativen Ideenkreises seien gezwungen, auch dem sich einer revolutionären Erhebung verdankenden sozialistischen Regime konservative Züge zu imputieren. "Der Konservatismus muß sich jedenfalls im allgemeinen Sinne der unaufhaltsam schrittweisen Veränderung auch mit der Revolution als abgeschlossenen Vorgang abfinden"I99. Aus diesem Grunde sei es tunliehst zu vermeiden, die konservative Ideologie mit einer im vorhinein definierten sozialen und politischen Ordnungsvorstellung in Verbindung zu bringen. "In diesem Sinne ist der Schluß berechtigt, daß Tradition, ebenso wie Konservatismus, Revolution und Gegenrevolution, nicht, oder vielleicht richtiger nicht mehr, a limine einem bestimmten politischen Wertesystem zuzuordnen sind"2°O. Während Robert A. Kann die konservativen Bestimmungsmomente des sowjetischen Herrschaftssystems eher wohlwollend und zustimmend analysiert, kann davon bei Isaiah Berlin keine Rede sein. Er wirft dem Sowjetstaat vor, sich ausgesprochen konservativer Herrschaftstechniken zu bedienen und die Tradition der liberalen Staatspraxis in den Wind geschlagen zu haben. Bei der Konzipierung und Implementierung dieses politischen Gemeinwesens seien ausgesprochen rechte Denker Pate gestanden. Die sowjetischen Kampagnen gegen ,,kritische Intellekuelle und wurzellose Kosmopoliten"201 erinnerten ihn an die "grelle Rhetorik der extremen Rechten"202. Eine genaue Analyse der Innen- und Außenpolitik fördere die Einsicht zutage, daß diese eher den Prinzipien von Thomas Carlyle und Joseph de Maistre als den ideologischen Leitsätzen des Marxismus verpflichtet sei. Nicht nur im Marxismus wurden konservative Bestimmungsmomente ausgemacht. Auch in den Schriften der libertären Linken finden sich Auffassungen, deren Nähe zu romantischen beziehungsweise konservativen Ordnungsvorstellungen kaum zu leugnen ist. Nicht zuletzt in den Werken von Gustav Landauer gibt es Passagen, die einen von der Romantik beeinflußten antitechnischen Geist atmen. So wendet sich Landauer entschieden gegen die fortschrittsgläubige Auffassung, der zufolge die technische Zivilisation als das Unterpfand jeglichen Fortschrittes anzusehen ist. "Fortschritt, was ihr Fortschritt nennt, dieses unaufhörliche Gewackel und Gefackel, dieses Schnellmüdewerden und neurasthenische, kurzatmige Jagen nach dem Neuen, wenn es nur mal wieder neu ist, Fortschritt und die damit in Zusammenhang stehenden verrückten Ideen der Entwicklungspraktiker und die maniakalische Gewohnheit, bei der Ankunft schon 198 Ebd., S. 62. 199 Ebd., S. 70. 200 Ebd.
201 Isaiah Berlin, Georges Sorel, in: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, aus dem Englischen, Frankfurt am Main 1981, S.446. 202 Ebd.
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IV. Die egalitäre Gesellschaft als Ordnungsziel: Der Sozialismus
wieder Adieu zu sagen, Fortschritt, diese unstete Ruhelosigkeit und Hetze, dieses Nichtstillhaltenkönnen und dieses Reisefieber, dieser sogenannte Fortschritt ist nur ein Symptom unserer abnormen Zustände, unserer Unkultur; und ganz etwas anderes als solche Symptome unsrer Verdorbenheit brauchen wir, um aus unserer Verdorbenheit herauszukommen - es waren und sind, sage ich, Zeiten und Völker des gedeihlichen Lebens, Zeiten der Tradition, des Epos, des Ackerbaus und des ländlichen Handwerks, ohne viel herausragende Kunst, ohne geschriebene Wissenschaft" 203. Landauers genuin konservative Einstellung kommt auch in denjenigen Passagen seines Buches ,,Aufruf zum Sozialismus" zum Ausdruck, in denen er sich für eine Renaissance der mittelalterlichen Ständeordnung ausspricht. Kritisch geht er mit der Industriegesellschaft ins Gericht, in der "die wirtschaftlichen Bünde und die sprossende Mannigfaltigkeit kleiner gesellschaftlicher Organismen verschwunden"204 sind. Nostalgisch blickt er auf eine Sozialordnung zurück, die vom korporativistischen Sozialprinzip durchgehend geprägt war. "Früher einmal gab es Gemeinden, Stammesbünde, Gilden, Brüderschaften, Korporationen, Gesellschaften, und sie alle schichteten sich zur Gesellschaft. Heute gibt es Zwang, Buchstaben und Staat" 205. Ausgesprochen romantisch-konservativ mutet auch sein Vorschlag an, gegenüber dem städtischen Proletariat ein "neues und erneuertes Bauerntum"206 zu schaffen. Auf Landauers gesellschaftspolitischer Agenda steht eine Gemeinschaft, "wo die kleinen Bauern gedeihen, wo ein kunstreiches Handwerk blüht" 207. Landauers zivilisationskritische, an die Romantik gemahnende Sozialismusversion hat auf die libertäre Linke der Gegenwart einen kaum zu überschätzenden Einfluß ausgeübt. Was Wunder, wenn auch sie im Spannungsfeld von sozialistischer Gesellschaftskritik und romantischer Technikfeindlichkeit ihre unverwechselbaren Konturen gewinnt. Kein Geringerer als Richard Löwenthai vertritt die Auffassung, daß die romantische Zivilisationsphobie auf diese Weise eine wirkkräftige Renaissance erlebt. Er spricht in diesem Zusammenhang vom "Wiederaufleben ... der romantischen ideologischen Tradition in der irrationalen Revolte der ,Neuen Linken' im Westen"208. In diesem Zusammenhang macht Hermann Lübbe darauf aufmerksam, daß die radikale Technikfeindlichkeit der libertären Linken von Anfang an auf einen konservativ-romantischen Ton gestimmt gewesen sei. Ihre Besinnung darauf, wie eine techniknegierende Gesellschaft zu gestalten sei, bringe sie nowendiger203
204 205 206 207
Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 10. Ebd., S. 56. Ebd., S. 20.
Ebd., S. XIII. Ebd., S. 43.
208 Richard LöwenthaI, Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, 2. Aufl., Stuttgart 1970, S. 72.
5. Konservative Bestimmungsmomente im sozialistischen Ideenkreis
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weise in die Nähe der konservativen Kulturkritik. Lübbe schreibt: "Wie man weiß, hat die traditionelle Technik- und Zivilisationskritik romantischen Ursprungs ihre Wirkungen bisher primär in rechts verorteten Ideologien entfaltet ... Demgegenüber ist es die neue Qualität aktuell dominanter Zivilisationskritik, daß sie jetzt ihren Auftritt politisch überwiegend links hat"209. Dabei habe diese Toposverlagerung der libertären Linken erstaunliche Erfolge gezeitigt. Ihre Bereitschaft, ehemals auf der rechten Seite vertretene zivilisationskritische Postulate in ihr Programm aufzunehmen, sei politisch durchaus zu Buche geschlagen. "Im ganzen bedeutet diese Linkswanderung der Zivilisationskritik, daß die politische Ernte der elementaren zivilisationskritischen Affekte heute nicht mehr auf der rechten, sondern auf der linken Seite eingefahren wird"21O. Konservative Denkinhalte wurden nicht nur im marxistischen und im libertärantiautoritären Sozialismus ausfindig gemacht. Konservative Bestimmungsmomente sind ohne allzu intensive Sucharbeit auch im Demokratischen Sozialismus aufzuspüren. Dabei ist es ohne Zweifel die Sozialphilosophie des Demokratischen Sozialismus, die genuin konservativen Geist atmet. Wie der Konservatismus, so geht auch die in Rede stehende Version des Sozialismus von einer Gesellschaftsidee aus, die in einem entscheidenden Maße von konservativem Gemeinschaftsdenken beeinflußt ist. Schon bei Lassalle findet sich der Hinweis, daß die Staatsidee des Sozialismus direkt der individualistisch- utilitaristischen Staatsanschauung des liberalen Bürgertums widerspricht. "Der vierte Stand hat ... eine ganz andre, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck des Staates als die Bourgeoisie"211. Im Gegensatz zum Bürgertum verfolge die Arbeiterbewegung das Ziel, "die ungehinderte Selbstbetätigung seiner Kräfte jedem Einzelnen zu garantieren"212. Es bedarf Lassalle zufolge eines ganzheitlichen Superadditums, um die wahre Natur einer humanen Gesellschaftsordnung erschließen zu können. "Der Zweck des Staates ist also nicht der, dem Einzelnen nur die persönliche Freiheit und das Eigentum zu schützen, mit welchen er nach der Idee der Bourgeoisie angeblich schon in den Staat eintritt; der Zweck des Staates ist vielmehr gerade der, durch diese Vereinigung die Einzelnen in den Stand zu setzen, solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie als Einzelne nie erreichen können, sie zu befahigen, eine Summe von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als Einzelnen schlechthin unersteiglich wäre" 213. Diese antiindividualistische, gemeinschaftszentrierte Staatsdefinition findet sich nicht zuletzt bei Kurt Schumacher. Ganz im Gegensatz zu den individualistischen Staatserklärungen weist er auf die individuumtranszendierende Qualität 209 Hermann Lübbe, Unsere stille Kulturrevolution, Zürich 1976, S. 60. 210 Ebd. 211 Ferdinand Lassalle, Arbeiter-Programm, S. 44. 212 Ebd. 213 Ebd., S. 46.
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des politischen Gemeinwesens hin. Schumacher wehrt sich vor allem gegen den Gedanken, demzufolge der Staat nur ein Ausschuß zur Regelung der gesellschaftlichen Kräfte darstellt. Er betont, "daß Staat und Gesellschaft weder bloße Gegensätze sind, noch sich miteinander decken, oder daß der Staat eine bloße ,Form der Vergesellschaftung' in dem Sinne wäre, daß er lediglich den politischen Ausdruck der Gesellschaft darstellt"214. Im Gegensatz zur liberalen Staatslehre geht der Lassalle zutiefst verpflichtete Kurt Schumacher davon aus, daß der Staat keineswegs "auf die Verfolgung bloß gesellschaftlicher Zwecke"215 begrenzt werden kann. Der Staat stehe eindeutig über den Individuen und der Gesellschaft, er sei es, der über ihr Schicksal letzten Endes bestimme. "Kraft seiner Macht über die Menschen, seiner Erhöhung über die Einzelwesen" 216 sei der Staat imstande, die Gesellschaft und ihre Mitglieder in ihre Schranken zu verweisen. Nicht zuletzt obliege es dem Staat, für ein funktionierendes Rechtswesen Sorge zu tragen. "Mit aus dieser Macht erwachsender Souveränität setzt er das Recht, schützt es und wehrt Störungen von den Gewaltunterworfenen ab"217.
214 Kurt Schumacher. Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie, hrsg. von Friedrich Holtmeier, mit einem Geleitwort von Herbert Wehner, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1973, S. 19 f. 215 Ebd., S. 20. 216 Ebd. 217 Ebd.
V. Die Zukunftsaussichten von Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus Jede Beschäftigung mit den drei klassischen politischen und sozialen Ordnungsvorstellungen hat auch die Tatsache in den Blick zu nehmen, daß ihre Wirk- und Attraktionskraft gravierenden Schwankungen unterworfen ist. Sie kennen sowohl Hoch- als auch Niedergangszeiten. Als der Faschismus das politische Gesicht Europas prägte, war der Liberalismus zu einem Schattendasein verdammt. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems hat der Marxismus entscheidend an Wirkkraft eingebüßt. In diesem Zusammenhang ergibt sich die keineswegs unwichtige Frage, wie denn die Zukunftsaussichten der drei klassischen politischen Ideenkreise überhaupt zu bewerten sind. Dabei wird oft die Ansicht vertreten, daß sich der politische Prozeß der kommenden Dezennien dem herkömmlichen ideologischen Zugriff überhaupt verweigere und ein anderes weltanschauliches Interpretationsmuster als das herkömmliche vonnöten sei. Diese Auffassung schließt notwendigerweise auch die Feststellung ein, den drei klassischen politischen Ideologien kämen in der Zukunft keinerlei Wirkkraft mehr zu. Nicht zuletzt Rüdiger Altmann hat sich zum Sprecher dieser Auffassung gemacht. "Die ,klassischen Ideologien', die die industrielle Gesellschaft auf ihrem Weg ins 20. Jahrhundert begleitet und auch gefördert haben, können zu ihrer Weiterentwicklung nur noch einen beschränkten Beitrag leisten" 1. Die ideologische Landschaft der Zukunft unterscheide sich von der vergangenen in entscheidendem Maße. In ihr entfalteten sich Ordnungsvorstellungen, die mit den herkömmlichen wenig Ähnlichkeit aufwiesen. Altmann spricht vom "Wuchern eines alternativen ideologischen Wachstums" 2. Dabei gäben sich die künftigen ideologischen Konzeptionen als äußerst konturenarm und unbestimmt zu erkennen. Der Abschied von einer konzisen Definition der politischen Ziele sei unübersehbar, der Anschluß an eine synkretistische Denkweise unmittelbar gegeben 3, Wie Rüdiger Altmann, so ist auch Hennig Ritter der Auffassung, daß sich die ideologische Landschaft der Zukunft entscheidend von der heutigen unterscheiden wird. Ausgangspunkt seiner Prognose ist die Überzeugung, die alten Ideologien würden an Attraktionskraft einbüßen und auf diese Weise neuen, bislang 1
Rüdiger Altmann, Der wilde Frieden. Notizen zu einer politischen Theorie des
Scheiterns, S. 344. 2
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Ebd., S. 345. Ebd.
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V. Zukunfts aussichten von Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus
kaum bekannten Ordnungsvorstellungen Platz machen. So unausgemacht es bleiben müsse, wie die Zukunftsideologien im einzelnen zu bestimmen sind, so ausgemacht sei es, daß die Wirkkraft der alten entscheidend zurückgehen werde. Auf diese Weise wagt Henning Ritter die Behauptung, daß wir am "Anfang neuer, noch unbekannter Ideologien"4 stehen. Der Verfasser dieser Abhandlung geht dagegen von der ungebrochenen Lebenskraft der herkömmlichen Ideologien auch in der Zukunft aus. Auch die zukünftigen gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen werden ihre entscheidende Prägung von den drei klassischen Ideenkreisen erhalten. Mit einiger Berechtigung wird man also die Prognose wagen können, daß das Ende der drei klassischen Ideenkreise Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus keineswegs gekommen ist. Auch morgen noch werden sich die entscheidenden politischen Bewegungen um diese in Rede stehenden ideologischen Leitvorstellungen herum gruppieren. Die Meinungen gehen nicht nur über die Zukunfts aussichten der drei klassischen politischen Ideenkreise insgesamt auseinander. Sie differieren auch im Hinblick auf das zukünftige Schicksal der einzelnen Ordnungsvorstellungen. Für jeden der drei in Rede stehenden Ideenkreise gibt es sowohl optimistische als auch pessimistische Prognosen. Was den Liberalismus anlangt, so geht eine Vielzahl von Autoren davon aus, daß seine Tage recht eigentlich gezählt sind. Die zukünftige politische Auseinandersetzung werde auf diese klassische Ordnungsvorstellung zu verzichten haben. Oskar Negt bezeichnet den Liberalismus unverblümt als "Gesellschaftskonzeption auf Abruf' 5. Für diesen dem linken Ideologiespektrum angehörenden Wissenschaftler ist das "Ende des Liberalismus"6 unmittelbar gegeben. Dabei sind es Negt zufolge nicht zuletzt die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungstendenzen unserer Zeit, die der auf Locke, Kant und Smith basierenden Ideologiekonzeption den Todesstoß versetzt haben. ,,Fortschreitende Konzentration und Zentralisation der ökonomischen Kräfte, die Ausbildung von Monopolen und Oligopolen sowie die ständige Erweiterung des Bereichs staatsinterventionistischer Planungen haben nicht nur das marktwirtschaftliche System der Konkurrenz ausgehöhlt, sondern auch die politischen Institutionen, die immer mehr der Absicherung durch notstandsbestimmte Gesetze bedürfen"7. Der Liberalismus stelle sich im Lichte der historischen Erfahrung als ein zu äußerster Evidenz gebrachtes Symbol des endgültig Überholten und Überlebten dar 8 • 4 Henning Ritter, Sind die Ideologien am Ende?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 94,22. April 1989. 50skar Negt, Das Ende des Liberalismus, in: Was heißt "liberal"? Eine Frage sieben Antworten, hrsg. von Alfred Blatter, S. 61. 6 Ebd., S. 45 ff. 7 Ebd., S. 65. 8 Ebd.
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Was sich heute noch als Überbleibsel einer schon längst veralteten Ideologie zu erkennen gibt, inhibiere die notwendige Emanzipation des Menschen, stelle ein Hindernis auf dem Wege zu einer repressionsfreien Gesellschaft dar. Negt zufolge lebt der Liberalismus "in ideologischen Restbeständen fort, die eher dazu dienen, bestehende Herrschaftsverhältnisse zu rechtfertigen als die Notwendigkeit ihrer Beseitigung zu begründen"9. Nicht nur im Lager des Sozialismus, auch in demjenigen des Liberalismus selber gibt es gewichtige Stimmen, die die Zukunftsaussichten der dem freiheitlichen Politikgedanken verpflichteten Ordnungsvorstellung eher pessimistisch beurteilen. Kein Geringerer als Ralf Dahrendorf ist der Auffassung, daß die sozialen und politischen Strukturen der Zukunft kaum der liberalen Politikidee entsprechen werden. Unsere Nachfahren seien gezwungen, in ihrer politischen Lebenswelt dem Illiberalismus Heimatrecht zu gewähren. Dabei sei der liberal-optimistische Zukunftsblick insbesondere dann fehl am Platze, wenn man die moderne Gesellschaft und ihren Staat aus ihren bürokratischen Zwängen heraus verstehe. Der Liberalismus der Zukunft liquidiere die Voraussetzungen seiner Existenz in dem Maße, in dem das Wachstum der Bürokratie in den heutigen Dimensionen anhalte. Seine pessimistischen Prognosen gründet Dahrendorf auf Einsichten, die schon Max Webers Blick in die Zukunft bestimmten. Er schreibt: "Max Webers säkularer Pessimismus hatte schon seinen Grund. Vielleicht stehen wir nicht am Anfang der Wiedergeburt des Liberalismus, sondern am Anfang eines neuen Mittelalters der Sklaverei in wirtschaftlichem Überfluß. Das System einer planrationalbürokratischen Gesellschaft ist