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German Pages 244 Year 2014
Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen
Lettre
Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.)
Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen
Die Herausgeber danken dem Department of German Studies und dem Institute for German Cultural Studies an der Cornell University (Ithaca/NY, USA) für die großzügige Unterstützung des Projekts.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
»Der Text hat seinen Eigensinn«. Interview mit Ulrich Peltzer
Paul Fleming & Uwe Schütte | 7 »ich bin kein guter archivar meiner selbst«. Zu Formen der Autorinszenierung bei Ulrich Peltzer
Christoph Jürgensen | 27 Last exit: aesthetics. Von Die Sünden der Faulheit zu den Frankfurter PoetikVorlesungen
Christian Jäger | 43 »Der Mensch als Fluss seiner Sprache«. Ulrich Peltzer und James Joyce
Maren Jäger | 53 Non-lineare Erzählverfahren und literarische Topographien. Zu Ulrich Peltzers Stefan Martinez
Jeanine Tuschling | 77 »Anfang Punkt Ende Punkt darin öffnet es sich springt auf«. Syntax im Werden in Ulrich Peltzers »Alle oder keiner«
Malte Kleinwort | 95 »Was hat dich bloß so ruiniert?« Ulrich Peltzers »Alle oder keiner«
Elke Siegel | 113 Den kommenden Terror erzählen. Ulrich Peltzers Bryant Park
Jesko Bender | 141 »wie man beim Lesen eine Seite verschlägt«. Ulrich Peltzers Poetik der Unterbrechung in Bryant Park
Peter Gilgen | 157 Die Überwachung der Gefühle. Teil der Lösung und Probleme moderner Affektpoetik
Jörg Metelmann | 179
Entscheide Dich! Oder: Finito la musica!
Kathrin Röggla | 205 Black Box. Notes on Ulrich Peltzer and the Movies
Martin Chalmers | 215 Anhang | 225
Siglen | 225 Primär- und Sekundärbibliografie von Ulrich Peltzers Werk | 226 Zeittafel | 234 Danksagung | 236 Autorinnen und Autoren | 237
»Der Text hat seinen Eigensinn« Interview mit Ulrich Peltzer P AUL F LEMING & U WE S CHÜTTE
Wie entstand Ihr Interesse an der Literatur? Welche Bücher gehören zu den ersten prägenden Leseerfahrungen?
Ich habe früh lesen können und von meinen Eltern Bücher bekommen, geschenkt bekommen, reichlich, und dann auch die ausrangierten Kinderbücher von älteren Cousins, Peter und die Pan American, Pimmer ist ein doller Hecht, Sturm auf den Nanga Parbat, so was, Sachen aus den 50er Jahren. Sonntags bin ich, bis ich elf oder zwölf war, in die Pfarrbibliothek gegangen, das war ein festes Ritual: erst zur Messe, dann in der Pfarrbibliothek ein Buch ausleihen, und danach ins Kino, Kindervorstellung. Das war in der Regel gut getaktet, so dass man um eins zum Mittagessen wieder zuhause war. Und in dieser Pfarrbibliothek hab ich nach Piraten- und Abenteuergeschichten Ausschau gehalten, Der Stern von Kalikut, von dem Roman weiß ich noch Details; und dann gab es eine Serie, von der ich später nie genau wusste, ob ich mir das nur eingebildet habe oder ob die wirklich existierte, die hieß: Bomba, der Dschungelboy. Es war, glaube ich, Roberto Bolaño, der einmal irgendwo gesagt hat, dass das auch seine Lieblingslektüre als Kind war. Und ich hab das dann mal recherchiert, davon gibt es endlos viele Bände, viele davon auf Deutsch. Das spielte irgendwie im südamerikanischen Dschungel, aber ich weiß jetzt nicht mehr genau, wer Bomba war, wahrscheinlich hatte der so ein Tarzan-Schicksal, elternlos, verschollen am Amazonas. Was ich überhaupt nicht ertragen konnte, das fing damals an, populärer zu werden, waren Bücher wie Pippi Langstrumpf, überhaupt fantastische Sachen. Also, am liebsten gelesen habe ich, nachdem ich mit Enid Blyton fertig war, mit diesen Fünf Freunde- und Abenteuer-Bänden, Piratengeschichten, und dann Stevenson, Die Schatzinsel, ah, großartig, Mark Twain, von dem alles, und, das fällt mir jetzt ein, auch Sammelbände, Das Neue Universum, die dann un-
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term Weihnachtsbaum lagen, oder Knaurs Jugendlexikon, das habe ich von vorn bis hinten durchgelesen, vielleicht stammt von daher mein Faible für Fußnoten und lexikalische Sortierungen. Nils Holgersson habe ich nicht geschafft, ein Geburtstagsgeschenk von Nachbarn, und Gerstäcker, Die Regulatoren von Arkansas, fand ich zu trocken, damals, irgendwie, und von Karl May habe ich nur Das Vermächtnis des Inka durchgehalten, das andere kam mir, ich weiß nicht, geschwätzig vor, nach 50 Seiten Winnetou etc. hatte ich genug, obwohl ich den öfter zu lesen versucht habe, Kara Ben Nemsi usw., aber das kam für mich nie auf den Punkt. Haben Sie aus den Kindheitslektüren noch Vorlieben behalten für aktuelle, eher triviale Lektüren? Krimis zum Beispiel?
Ich lese wenig Krimis, auch deshalb, weil mir viele einfach zu schlampig geschrieben sind, diese ganze Dutzendware, mit der man überschwemmt wird. Andererseits habe ich immer wieder anfallsweise solche Phasen, in denen ich an drei Tagen acht Simenons lese, die Maigrets werden ja gerade alle neu ediert, von Nummer eins an. Die habe ich jetzt fast alle durch, auch viele der NonMaigrets. Von den Klassikern kenne ich einige, die sind natürlich fantastisch, von Chandler und Hammett praktisch alles, Chester Himes, diverse LeCarres, obwohl LeCarre ja nicht Krimi ist. Sjöwall/Wahlöö, die europäisch-sozialdemokratische Krimi-Variante hab ich vor 25 Jahren gelesen, gerne, Das Ekel aus Säffle usw., ich glaube, komplett, aber da gibt’s ja eh nur acht oder zehn Bände. Und dann natürlich Jerry Cotton, mit elf oder zwölf, getauscht oder heimlich am Kiosk gekauft, das wurde zu Hause ungern gesehen. Und Comics, en masse, Sigurd und Falk, Tibor, Akim, Michel Vaillant, die habe ich verschlungen, selbstredend auch Prinz Eisenherz, die Bände von damals habe ich heute noch, Aleta, Boltar, der Wikinger, Prinz Arnd. Und welche Filme haben Sie als Kind oder Jugendlicher gesehen?
Wir hatten, wie viele Familien, anfangs kein Fernsehen. Es wurde Radio gehört, Kinderfunk, Kinderhörspiele. Peter Rene Körner und der Kasper, oder wie das hieß, ist mir noch in lebhafter Erinnerung, weil ich das enorm kindisch fand, hab ich aber trotzdem gehört, besser als nix. Das Kino war deswegen meine erste Bildsozialisationsinstanz, weil es sonst keine Bilder, also Filmbilder, gab. Und mit den Nachbarskindern bin ich dann zum ersten Mal sonntags – das war, wie schon gesagt, immer Sonntags vormittags – in einen Märchenfilm gegangen … Hänsel und Gretel oder so. Anfangs Märchenfilme, die haben meist eine Stunde
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gedauert, mit vorher Wochenschau oder einer Kinovorschau, dann Fuzzi, der Unsterbliche, solche B-Western, später bin ich dann allein in die Kindervorstellung gegangen, da liefen, je nach Kino, auch Filme wie El Cid, mit Carlton Heston. Wobei das Problem auftauchte, dass manche Filme Überlänge hatten, man also nicht pünktlich zum Mittagessen wieder zurück sein konnte, außer man ging vor Schluss. Das war mehr als einmal ‘ne harte Abwägung, Film zu Ende gucken und gemaßregelt werden, oder aufs Fahrrad und nach Hause. Damals gab es ja in Krefeld diverse Kinos, Royal Palast, Crystal, Atrium, Odeon, Studio 55, Passage, Neues Theater usw., und nicht nur ein Cinemaxx neben dem Bahnhof wie heute. Um die Zeit, ich schätze, ich war neun, bekamen wir dann auch einen Fernseher. Es war aber so, dass es für Kinder wenig zu schauen gab, einmal im Monat Sport, Spiel, Spannung, so eine Ratesendung. Eine legendäre Serie damals war Ivanhoe, mit Roger Moore als Ivanhoe, und weil es so wenig Fernsehgeräte gab, hat das dazu geführt, dass immer 5, 6, 8 Kinder die jeweilige Folge von Ivanhoe oder Am Fuß der blauen Berge – das war eine Westernserie – zusammen gesehen und dann sofort nachgespielt haben. Sonntag nachmittags gab es relativ oft ältere Hollywood- und UFA-Ware zu gucken, von Operettenfilmen bis Errol Flynn als Freibeuter. Die habe ich, wenn es möglich war, gesehen. Aber natürlich konnte man am Wochenende im Wohnzimmer nicht unbeschränkt Fernsehen schauen, weil das nicht erwünscht war von den Eltern. War das Lesen nicht auch eine Art eskapistische Beschäftigung für einen jugendlichen »misfit«, der sich von vornherein in Traumwelten geflüchtet hat? Gleichsam die Keimzelle für die spätere Entwicklung zum Schriftsteller?
Also, mit 13 oder 14 Jahren, weiß ich gar nicht, ob ich da viel gelesen habe. Ich erinnere mich an Jules Verne, an Robinson Crusoe. Cooper, die LederstrumpfRomane. Sportbücher. Und Erzählungen von Poe. Der Untergang des Hauses Usher und Das Pendel des Todes hab ich auch im Kino gesehen, Roger CormanVerfilmungen, wie ich heute weiß. Ich war damals jedenfalls relativ isoliert, auch in der Schule; zudem war da, wo ich gewohnt habe, keiner auf meinem Gymnasium. In meiner Erinnerung hab ich zu der Zeit relativ wenig gelesen, fällt mir jetzt spontan nichts ein außer den gerade genannten Sachen, obwohl das eigentlich die ideale Zeit gewesen wäre für eskapistische Lektüren. Eher hab ich mich in dem Alter nachmittags ins Kino verkrochen, die Seidenfaden-Lichtspiele waren praktisch ums Eck, Luftschlacht um England, Marco Polo mit Orson Welles als irgendeinem Khan, Der Weg nach Westen, Sandalenfilme. Viel gelesen habe ich bis, sagen wir 12 oder 13, und dann eine Zeitlang weniger, Fiktion, dafür begann ich dann mit so etwa 15, politische Theorie bzw. politische Texte zu
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lesen. Ich denke, ich habe mich mehr mit politischer Theorie beschäftigt zwischen 15 und 18 als mit Literatur. Na ja, Handke habe ich damals schon auch noch gelesen, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Chronik der laufenden Ereignisse, wie das alles zusammengepasst hat, das weiß der liebe Himmel. Wie ist denn Ihre politische Sozialisation in den Jahren von 1968 bis 1977 verlaufen, und wie würden Sie den Prozess Ihrer Politisierung beschreiben?
Ich komme eigentlich aus einem liberalen, politisch eher linken Elternhaus. Ich erinnere mich an eine Szene vor dem Fernseher, wo der damalige Bundeskanzler Kiesinger im Wahlkampf 1969 ausgepfiffen wurde, oder niedergebrüllt wurde von Studenten. Kiesinger hat daraufhin die Studenten zurechtgewiesen. Und ich muss irgendwie einen Kommentar abgegeben haben, der besagte sowas wie: Richtig so, der soll denen den Mund verbieten. Mein Vater hat mich daraufhin scharf zurechtgewiesen und gesagt: Du spinnst wohl! Kiesinger ist ein alter Nazi. Ich weiß jetzt nicht, welche Sympathien mein Vater für die Studentenbewegung hatte, aber er war prinzipiell auf der Seite der Außenseiter, der Exzentriker. Sie waren also nicht der prototypische 68er-Rebell in einem Clinch mit den Eltern?
Nein, überhaupt nicht, auch schon, weil ich für ‘68 zu jung war. Mein Protest, politischer Protest, richtete sich eher gegen andere Autoritäten. Allerdings haben meine Eltern davon auch einiges abgekriegt, denn für meinen Vater war das so: Rebellieren o.k., aber wenigstens gut angezogen, und ein vernünftiger Haarschnitt. Er war Textilkaufmann, und wenn man ordentlich angezogen war, dann ließ er einem viel durchgehen. Nicht aber meine Haare, meine Matte, die mir selber nicht recht gefiel, die ich jedoch, weil es alle machten, oder eben aus Trotz, trug, das gefiel meinen Eltern überhaupt nicht, wie auch mein übriges Aussehen, das dann doch sehr zu wünschen übrig ließ. In den Poetikvorlesungen Angefangen wird mittendrin sprechen Sie davon, aus der Mittelklasse zu stammen, Sie beschrieben sich als einen »Kaufmannssohn«. Können Sie uns dazu etwas mehr verraten?
Mein Vater war zwar Kaufmann, hat aber auch sehr viele andere Sachen gemacht. Er war relativ alt, 1909 geboren, also Ende 40 bei meiner Geburt. Mein Vater hatte das Kaiserreich halbwegs noch miterlebt, dann die Weimarer Republik, die Nazi-Zeit. Daher verfügte er über ein großes Repertoire von Geschichten.
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Zugleich prägte ihn der Versuch, möglichst fern vom Staat zu leben; sich staatlichen Anforderungen, wennʼs ging, zu entziehen, in der Regel mit dem Argument, man habe ihm, dieser Staat habe ihm acht Jahre seines Lebens gestohlen. Dass er sich bei der erstbesten Gelegenheit den Engländern ergeben hat, das war ein wichtiges Erlebnis für ihn, hat er immer wieder erzählt, der Gedanke, der ihm in diesem Moment durch den Kopf schoss: Jetzt hab ich den Krieg gewonnen, das ist der Sieg. Sebastian Haffner hat er geschätzt, und er war ein großer Verehrer von Willy Brandt. In dieser Hinsicht hab ich keine Konflikte mit ihm gehabt. Gleichzeitig hatte er so seine Lebensweisheiten. In der Ruhe liegt die Kraft, oder: Und ist der Handel noch so klein, er bringt stets mehr als Arbeit ein. Also, du musst nicht arbeiten, sondern irgendeinen Handel aufziehen – was er dann auch gemacht hat. Konsequenterweise hat er dann, als es schwierig wurde für so kleine »Qualitätstextilgeschäfte« zwischen Billigboutiquen und den großen Kaufhäusern, den Schuppen zugemacht. Meine Mutter ist ja jünger als mein Vater und sie ist auch Textilkauffrau. Mein Vater war immer ein bisschen kränklich, deswegen war sie diejenige, die mit ihrer Energie alles zusammenhielt. Aber mit der Mutter gab es keine politischen Diskussionen, wohl die klassische Rollenverteilung; sie kommt aus einem sozialdemokratischen Elternhaus. Dieser Großvater, das ist vielleicht ein typisches Phänomen für den Niederrhein, hat Zeit seines Lebens SPD gewählt und ist sonntags ins Hochamt gegangen – das war vollkommen klar, dass das zusammengehört. Der hatte sich hochgearbeitet, vom Zigarrendreher zum Buchhalter. Ich war Ministrant, der Niederrhein ist ja erzkatholisch. Rückblickend wundert mich das nur, weil mein Vater Atheist war und nicht zur Kirche ging, sondern sich vielmehr darüber mokiert hat. Meine Mutter hingegen war schon gläubig, auch heute noch. Damals jedenfalls war es vollkommen selbstverständlich, dass man auf eine konfessionelle Schule ging; man wuchs in so einem katholischen Milieu auf, das war schon etwas seltsam. Aber das wurde ja zuhause aufgefangen. Also mein Vater, auf die Frage, ob er nicht selbst zu Ostern oder zu Weihnachten mal in die Kirche gehen würde, hat gesagt: Einmal den Zigeunerbaron gesehen zu haben, das reicht doch für den Rest des Lebens. Für meine Mutter aber war klar, dass man die Kinder eben zur Kommunion schickte, es gab so Rituale, die man einfach mitmachte.
12 | P AUL F LEMING & UWE S CHÜTTE Und in diese Phase fiel dann auch Ihre Lektüre der politischen Texte?
Ja, es war eine hochpolitisierte Zeit. Das Kommunistische Manifest habe ich als einen der ersten theoretischen, wenn wir das mal theoretisch nennen, Texte gelesen, mit 15. Und in der Schule gab es politische Gruppen, es gab Basisgruppen, morgens vor der Schule wurden häufig Flugblätter verteilt von Leuten, die in den politischen Organisationen waren, das heißt man war zwangsläufig in eine permanente Diskussion verwickelt. Es war dabei nicht eine besondere Verstiegenheit von mir, dass ich das Kommunistische Manifest gelesen habe, sondern das waren einfach Texte, die sozusagen in der Luft lagen, über die gesprochen wurde. Den Band, ein Reclamheftchen, besitze ich noch, voll mit meinen Bleistiftanmerkungen, da habe ich während der Schulzeit noch länger bei den allfälligen Diskussionen von gezehrt. Und dann hab ich natürlich Texte gelesen über antiautoritäre Erziehung, etwa Alexander Sutherland Neills Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Ein wichtiger Baustein waren außerdem die Schriften der englischen Soziolinguisten um Basil Bernstein über den elaborierten und den restringierten Code, was zu lesen mich wirklich sehr viel Mühe gekostet hat, wo aber klargemacht wurde, wie der Weltzugang eingeschränkt wird durch bestimmte Sprachformen, die man beherrscht oder eben nicht beherrscht. 1975 gingen Sie nach West-Berlin. Wie sehen Sie die Jahre des Studiums im Rückblick?
Vielleicht sollte man trennen zwischen einer persönlichen Entwicklung oder Nicht-Entwicklung, die da stattgefunden hat, und der Auseinandersetzung mit psychologischer Theorie, Gesellschaftstheorie, und dem damaligen Versuch, zu einer Begrifflichkeit zu finden, die soziologische Analyse kurzschloss mit individualpsychologischen Erkenntnissen oder Erfordernissen. Zugleich war es bis 1977 nach wie vor eine extrem politisierte Zeit, wo ich an der Uni in Basisgruppen war. Für uns, die undogmatische Linke, handelte es sich damals u. a. darum, mal ganz kursorisch gesprochen, an der Universität die Macht der Hochschulgruppen der marxistisch-leninistisch-stalinistischen Parteien, also etwa KBW oder KPD, zu brechen, und darüber hinaus andere, nichthierarchische Formen politischer Praxis zu entwickeln. Zugleich fanden ja gesellschaftlich große Auseinandersetzungen statt, vom Kampf gegen die Atomkraftwerke angefangen, die Anti-AKW-Bewegung, die damals allerdings in weiten Teilen durchaus weniger eine ökologische Bewegung war als eine, der daran lag, die Machtfrage zu stellen. Dann die Antipsychiatrie-Bewegung, um nur noch eine andere, für mich wichtige zu nennen. Es gab es zahlreiche linke bis linksradikale Fraktionen oder
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Strömungen, daneben dann noch die RAF und die Bewegung 2. Juni, mit denen man sich zwangsläufig auseinanderzusetzen hatte. Und sei es, dass man in Manier der Indiani Metropolitani sagte, die stehen uns mit ihren Fantasmen vom bewaffneten Kampf so fern wie die Institutionen des Staates. Und zugleich war da eben mein, und nicht nur mein, theoretisches Interesse, Gesellschaft über und durch das Subjekt, über Subjektivität zu verstehen, in welcher Relation beides steht. Aber das war natürlich höchst schwierig, weil man das Große und das Kleine nicht wirklich zusammenbrachte. Es gab den Freudomarxismus als einen wichtigen Versuch der Synthese, und wir haben uns wirklich sehr daran abgearbeitet, doch zugleich merkte man, dass man theoretisch in eine Sackgasse geraten war. Texte wie die von Stuart Hall aus dem Kontext des Birmingham Centre for Cultural Studies, dessen Arbeit an einer EntOntologisierung des Marxismus, waren hier überhaupt nicht präsent. Vorrangig drehte es sich darum, aus dem Verschlag einer bestimmten, als absolut unzulänglich erkannten Orthodoxie auszubrechen. Und dann tauchten so um 1977 urplötzlich – ich beschreibe das jetzt etwas sprunghaft – tauchten diese MerveBändchen auf, also Foucault und Deleuze und Guattari, aber auch Lyotard und Virilio, die neuen französischen Theoretiker. Ganz klar ereignete sich hier ein Bruch. Es war ein totaler, das Wort total ist vielleicht zu stark, aber ein Bruch mit der Theorie, die man vorher sich versucht hat anzueignen als Welterkenntnisinstrument, und das geschah schon, bevor man dann die Originale las: Die Ordnung der Dinge von Foucault, auch sein Überwachen und Strafen. Ich weiß nicht auswendig, wann das erschienen ist, etwa 1975-76. Die Geburt der Klinik und auch anderes lag ja schon auf Deutsch vor, aber wir hatten das nicht wahrgenommen, zumal diese Art des Denkens akademisch überhaupt noch nicht stattfand, sondern die Rezeption lief eher über die Merve-Bändchen, bevor wir dann angefangen haben, oder ich angefangen habe, die Hauptwerke selber zu lesen. Der erste Band von Foucaults Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, war für mich ein überragender Leseeindruck, vergleichbar nur mit dem des AntiÖdipus von Deleuze/Guattari, danach, das muss man so emphatisch formulieren, war die Welt nicht mehr die gleiche. Später kam dann noch Norbert Elias dazu, als wichtiger Einfluss, Der Prozess der Zivilisation, Huizinga, Aries, zur Lippes Naturbeherrschung am Menschen, allerlei. Und zugleich: Mein bester Freund damals hörte von heute auf morgen mit dem Studieren auf und fing an, für eine Konzertagentur zu arbeiten. Ein anderer, zweiter Bruch, andere Musiken tauchten auf, ganz neue Distinktionen begannen, eine Rolle zu spielen, eine neue Alltags- und Lebenspraxis, die immer bedeutsamer wurde. Das hatte eben auch mit einem modifizierten Verständnis von Theorie zu tun, dass nämlich das, was man bis dahin leichthin als Überbauphä-
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nomene fast schon denunziert hatte, ein eigenes Recht besaß. Zu erkennen, dass das eben nicht nur Phänomene der Ideologie waren, falsches Bewusstsein, sondern auch etwas anderes, zugespitzt und leicht verblasen formuliert: dass ein Song der Young Marble Giants emanzipatorisches Potential in vielerlei Hinsicht besaß und nicht allein ‘ne Sache von Peer-Group-Distinktionsgewinn war, und da waren bestimmte Sachen einfach nicht mehr möglich. Ich hab mir dann 1978 die Haare kurz geschoren, Lederjacke, Turnschuhe von Converse, die es nur in einem bestimmten Geschäft, bei Blue Moon gab, von heute aus betrachtet schon ein bisschen albern; mein Freund trug plötzlich Kunstlederhosen und ärmellose T-Shirts, er sah aus wie ein sehr hagerer, abgemagerter David Bowie, hatte auch so einen ähnlichen Haarschnitt. Davon habe ich auch noch Fotos. Damals habe ich sehr viele Gedichte geschrieben, Songtexte und so weiter – es war eben ein gewichtiger Bruch, die Jahre 1977, 1978, 1979. Sie haben anschaulich das Studium beschrieben, im besten humanistischen Sinne, als eine »Bildungsarbeit« an sich selber. Dann kommt der Bruch. Wäre es allzu klischeehaft, zu vermuten, dass für Sie die Beschäftigung mit der Schriftstellerei eine Fortsetzung des Studiums mit anderen Mitteln war? Sozusagen die Applikation dessen, was im Studium theoretisch gelernt und praktisch erfahren wurde in der Kreation fiktionaler Figuren mit lebensnaher, zeitgenössischer Psychologie?
Vielleicht. Wahrscheinlich. Ich hab zur selben Zeit wieder angefangen, viel Literatur zu lesen. Also da war etwa Brinkmanns Rom, Blicke, das kam 1979 raus, Westwärts 1 & 2, oder Keiner weiß mehr. Ich begann Gedichte zu schreiben, im Stil von Brinkmann. Durch Zufall entdeckte ich dann Pavese, die Bücher hatte ich mir aus Ost-Berlin mitgebracht, die drei Turiner Romane, Teufel auf den Hügeln, Der Schöne Sommer und Einsame Frauen. Camus hab ich damals viel gelesen, vor allem die Tagebücher haben mich beeindruckt. Gedichte von Dylan Thomas, die ich auf einer Englandreise gekauft hatte. Aber auch Jünger und Schmitt, Texte, die irgendwie »verboten« gewesen waren. Daneben Theweleit, klar. Kreuz und quer, die Erzählungen von Benn, die Rönne-Geschichten, Burroughs, Hilsenrath, Der Nazi und der Friseur, Bronskys Geständnis, Hubert Fichte, Palette, Versuch über die Pubertät, Xango, o Gott, ja, Hemingway, viele Stücke von Shakespeare, vollkommen unsortiert alles, Kafka, die ersten Texte von Heiner Müller, die es bei Rotbuch gab, Germania Tod in Berlin, Die Tartarenwüste von Buzzati, Pasolinis Freibeuterschriften, Gramscis Asche, Ragazzi di vita, genau, sehr wichtig mal gewesen Das Handwerk des Lebens von Pavese, Manhattan Transfer von Dos Passos, wie schon gesagt, querbeet, Handkes Stun-
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de der wahren Empfindung, an die Bücher muss ich jetzt völlig ungeordnet denken. Geschrieben hatte ich zwar immer, aber ab da, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wollte ich dann mehr oder weniger auch ein Buch schreiben, ich wollte ein Buch haben. Mit Ihrem Debüt, dem Roman Die Sünden der Faulheit, sind Sie 1987 beim Schweizer Ammann-Verlag gelandet, dem Sie bis zu dessen Einstellung im Jahr 2010 treu geblieben sind. Wie ergab sich der Kontakt zu dem Verlag?
Ich hab ein Manuskript hingeschickt, und daraufhin hat der Verleger Egon Ammann sich gemeldet. Allerdings war Sünden der Faulheit nicht mein erster Roman, mein allererstes Buch ist nicht veröffentlicht worden, das hat den – finde ich – tollen Titel, zumindest das: Nachts im Amerikanischen Sektor. Das liegt noch irgendwo in einer Kiste rum. Da hab ich bei der Mainzer Poetik-Vorlesung mal aus einer Erzählung was vorgelesen. In meiner Selbstüberschätzung, und aus Verehrung für Brinkmann, hatte ich das Manuskript nur dem Herausgeber der damals im Rowohlt Verlag erscheinenden Reihe das neue buch geschickt, der es aber abgelehnt hat. Das war bestimmt auch gut so. Irgendwo anders hatte ich das gar nicht erst angeboten. Mit Ammann, der Kontakt vier, fünf Jahre später, das ist eine ganz lustige Geschichte: Ich war damals in Italien unterwegs und Egon Ammann hat mich dort auf Umwegen irgendwie erreicht, war ja in der VorHandy-Zeit. Auf meiner Rückreise machte ich Station in Offenburg, wo wir uns im Bahnhofsrestaurant trafen; Ammann war mit dem Auto nach Frankfurt unterwegs und so haben wir uns dort getroffen und lange geredet, und dann sagte er, es würde ihm gefallen, wenn wir ein Buch zusammen machen könnten. Das war so um 1985 oder 1986. So sind dann Die Sünden der Faulheit bei ihm erscheinen, wobei ich eigentlich ein anderes Buch schreiben wollte, Stefan Martinez, doch damit kam ich überhaupt nicht zurande, weil ich überhaupt nicht wusste, wie man das Material, soviel Material, bewältigt. Die Sünden der Faulheit war also gar nicht Ihr erster Roman?
Stefan Martinez hab ich, das weiß ich noch, im November ‘83 angefangen, da bin ich nach Italien gefahren; ich wollte dort Freunde besuchen und auf der Reise den ganzen Stoff sortieren. Diese Sachen besitze ich immer noch, da habe ich Notizen gemacht und Episoden notiert, Gliederungen entworfen. Das sollte eine zeitgenössische éducation sentimentale werden, eine Art von, wenn man so will, Entwicklungsroman. Aber eben ganz anders. Ich war vollkommen beeindruckt von Flauberts Lehrjahre des Gefühls, das hatte ich im Sommer zuvor auf Strom-
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boli gelesen, in so einer Ruine, die wohl noch ein Dach hatte, aber keinen Strom, buchstäblich bei Kerzenlicht. Und dann hab ich eben viele Skizzen gemacht, zwei, drei Jahre lang, und ich kam damit überhaupt nicht zurande. Vielleicht wusste ich auch zu wenig über Literatur. Ich hab damals exzessiv gelesen und dann irgendwann, 1986 etwa, auch den Ulysses nach vielen gescheiterten Anläufen endlich verstanden. Da erst habe ich gemerkt, was in ein Buch reingeht. Und obwohl Stefan Martinez nun wirklich kein konventionelles Buch ist, hatte ich zugleich eine totale Trotzhaltung gegen diese Suhrkamp-Kultur, gegen diese Form sensibler Kurzprosa damals, die heute kein Mensch mehr kennt. So was entsprach nicht meiner Lebensmöglichkeit und aus so einer Trotzhaltung heraus habe ich dann ziemlich schnell Die Sünden der Faulheit geschrieben. Ich dachte mir: Okay, du musst jetzt mal ein Buch schreiben, und du schreibst jetzt einen Krimi, oder lehnst dich an ein Krimi-Schema an – obwohl ich zugleich was ganz anders machte und was ganz anderes wollte. Und das Manuskript habe ich dann an Ammann geschickt, der es haben wollte. Und der zugleich, was Stefan Martinez betraf, eine unglaubliche Geduld hatte, die ganzen Jahre, mich hat machen lassen. Letztlich war es mir dann immer ein bisschen peinlich, dass Die Sünden mein erstes Buch war. Wieso peinlich?
Weil ich doch andere Ambitionen eigentlich hatte. Das war ja auch so verquer… Heute kann das alles nebeneinander stehen ... ich habe eben so lange gebraucht, bis ich dieses Material von Stefan Martinez in den Griff kriegte. Und da ich nie ein Stipendium bekam, musste ich immer nebenbei für den Unterhalt arbeiten. Was für Jobs waren das denn?
Ich hab bei Albatros-Concerts gearbeitet, also etwa Karten verkauft. Es war im legendären Kant Kino, da hab ich dann bei Konzerten auch hinter der Bar gearbeitet. Das war super, weil man alles umsonst sehen konnte, von Human League über Siouxsie and the Banshees bis Joy Division. Wie man auch ins Metropol umsonst reinkam, von Herman Brood, Dope sucks, über Iggy Pop, Abwärts, Clash, Cramps, Fehlfarben, DAF bis Bronski Beat, ein bisschen wahllos ein Konzert nach dem anderen. Während man zu anderen Sachen natürlich ganz gezielt hingegangen ist, Suicide im SO 36, fast vergleichbar in der Wirkung mit der Foucault-Lektüre, und da auch Throbbing Gristle, die ich jetzt nicht so aufregend fand, damals, ehrlich gesagt, ein irrer Krach. Aber wir waren ja beim Geldverdienen, ja, nach dem Studium hab ich eine Zeitlang beim Institut für forensische
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Psychiatrie gearbeitet, aber das ging auf Dauer nicht mit meiner, sagen wir, zu der Zeit eher nächtlichen Lebensweise zusammen, würde ich heute nicht mehr so schnell stecken, aber ... später hab ich dann als Filmvorführer gearbeitet, ziemlich lange, das hab ich zwischendurch noch richtig gelernt, die Rollen zusammenkleben, Maschinen warten, Blenden. Wie viele Nächte ich mir da um die Ohren geschlagen hab, am besten nicht dran denken. Stefan Martinez ist mit knapp 600 Seiten unverändert Ihr bisher umfangreichstes Buch. Sie haben rund acht Jahre an dem Text geschrieben. Es ist ein »Berlin-Roman« – ein Berlin freilich, das so nicht mehr existiert. Da fast alle Ihre Romane Berlin eine zentrale Rolle zuweisen, stellt sich mithin die Frage, welche Funktion die Metropole für Ihr Schreiben spielt, zumal hinsichtlich des Zusammenspiels von Erzählsubjekt und Stadt?
Na ja, zum flachen Land fällt mir nicht viel ein. Und als ich Stefan Martinez geschrieben habe, das war um 1989, fiel die Mauer, und da stellte sich die Frage, wie gehe ich jetzt damit um. Also, das war dezidiert ein Buch, bzw. wurde dann zu einem Buch, das nochmal eine bestimmte Westberliner Atmosphäre hervorrufen sollte. Mir war ganz klar, dass es das Westberliner Soziotop, in dem diese Figuren angesiedelt sind, bald nicht mehr geben würde, dass das verschwinden würde. Und dann war da die Entscheidung nach einiger Zeit, das Buch wirklich an zwei Tagen in den 1980er Jahren spielen zu lassen und eine bestimmte Atmosphäre aufzuheben in dem Buch, also tatsächlich im doppelten Sinne aufheben, um es zu bewahren und mich zugleich davon zu befreien, auch von einem bestimmten Lebensstil. Ich habe das Buch dreimal angefangen zu schreiben, bis ich kapiert habe, wie wirklich ein innerer Monolog funktioniert. Die erste Fassung des ersten Kapitels war zunächst 120 Seiten lang, dann 150 Seiten, dann so ungefähr 220 Seiten, die mit der ursprünglichen Fassung nur noch den Handlungsrahmen gemein hatten. Erst bei der dritten Fassung war ich mir dann wirklich meines Werkzeuges sicher. Danach habe ich das Buch sozusagen innerhalb von drei Jahren von vorne nach hinten durchgeschrieben. In einem Sitz. Ich war damals schon beim dritten Kapitel, als ich plötzlich gemerkt habe, ich muss das erste Kapitel neu schreiben, ich muss ganz neu anfangen. Das war, verständlicherweise, oder?, eine ziemlich schwere Entscheidung, weil ich da schon vier oder fünf Jahre an diesem Ding rumprobiert hatte, aber es ging nicht anders. Und dann habe ich das nochmal von vorne angefangen. Übrigens, wirklich verstanden, wie ein innerer Monolog oder auch erlebte Rede funktioniert, habe ich in einem Zug in Finnland. Mir ging auf, fast schon physisch, dass das ja zwei verschiedene Sachen sind, ob man etwas Erzähltes ra-
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tional versteht, ob man das also theoretisch versteht, und ob man das auch praktisch umsetzen kann, und wie. Dass es nicht darum geht, schlicht formuliert, ein Subjekt im Satz wegzulassen, also etwa statt »Ich bin gelaufen« zu schreiben »Bin gelaufen« – das ist weder eine erlebte Rede noch ein innerer Monolog. Plötzlich verstand ich, dass der innere Monolog elliptisch funktioniert, subjektlos, sprunghaft, dass das Selbstverständliche nicht ausgesprochen, sondern vorausgesetzt wird – das ist mir wirklich in einer Art Epiphanie in einem Zug einbzw. aufgefallen, und da war klar, ich muss das Buch nochmal von vorne anfangen. Warum war der Erzählmodus erlebter Rede so wichtig für Sie?
Er schafft eine große Unmittelbarkeit. Und einen großen inneren Raum. Zumal, wenn man – was ich bei allen Büchern versucht habe, außer vielleicht beim ersten – ohne eine auktoriale Erzählerinstanz auszukommen versucht. Das war wichtig. Wie kann ich ohne einen den Leser leitenden Erzähler die Figuren schildern? Wie kann ich sozusagen neben den Figuren hergehen, denen über die Schulter sehen, auf Augenhöhe mit den Figuren sein? Und dazu war eben dieser innere Monolog so wichtig. Und heute arbeite ich sehr viel mit erlebter Rede, das ist durchaus auktorialer. Und der innere Monolog scheint mir grade auch nicht so produktiv zu sein für mich. Diese Resonanzbeziehung zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und Text scheint mir nicht mehr abbildbar zu sein in einem inneren Monolog. Deswegen verwende ich erlebte Rede, und größere Momente von Auktorialität, obwohl es bei mir nach wie vor natürlich keinen auktorialen Erzähler gibt, der Informationen liefern kann. Das muss alles aus den Figuren, aus dem Text selber kommen. Und deswegen dauert das Schreiben eben oft auch so lange, weil ich einfach bestimmte Informationen, die notwendig sind, oder mir notwendig erscheinen, nicht einfach in den Text injizieren kann, indem ein Erzähler sagt, so und so war das. Ich muss vielmehr auf den Augenblick warten, wo die Informationen gewissermaßen natürlich einfließen können, und das ist eine immense Kompositionsarbeit, bzw. erzwingt immer wieder eine Veränderung des kompositorischen Arrangements. Auf Stefan Martinez folgten zwei Romane – »Alle oder keiner« und Bryant Park –, in denen auf jeweils andersartige Art und Weise erzählt wird: Die Präsenz einer Erzählstimme, die sich in Gedankenfetzen wie Gefühlsbekundungen sich ausdrückt. Es sind oft Erinnerungen an politische Ereignisse, die man in diesen erlebten Reden findet. Der Plot ist nicht immer leicht nachzukonstruieren. Was ist das Verhältnis zwischen der gewählten
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Erzählweise und den literarischen Möglichkeiten zur Darstellung von Ereignissen allgemeiner wie weltpolitisch bedeutender Art, beispielsweise dem 11. September 2001 in Bryant Park?
Ja, bei »Alle oder keiner« war es die Frage, was passiert an der Stelle, wo Bilder in Worte überführt werden? Also, es gibt da einen kleinen Abschnitt ganz am Anfang, in dem die Figur darüber nachdenkt, in welchem Verhältnis eine bestimmte Welterfahrung, wie auch Erinnerungen, die ja bildhaft sind, zu ihrer Versprachlichung, oder zu ihrer Verwortlichung stehen. Dass es Erfahrungen und Bilder und Welterfahrungen natürlich nicht ohne Worte gibt, diese Erfahrungen zugleich aber eine Intensität haben können, die wortlos ist. Also fast schon etwas Tranceartiges. Und an dieser Grenze bewegt sich das Buch, und bewegt sich der Erzähler entlang. Bei Bryant Park war es dann so, da war einfach ein Erzähler, oder ein den Roman konstituierendes Subjekt, das in einer bestimmten problematischen Phase seines Lebens ist und wie ein Filter wirkt. Das geht alles durch ihn durch, ein jüngerer Mann, die ganze Stadterfahrung von New York fließt durch ihn durch, und er ist mehr oder weniger so ein Aufzeichnungsgerät, ein Seismograph. Die Grenze, die Sie gerade beschrieben haben, ist also die Grenze zwischen Wort und Nichtwort.
Machen wir überhaupt Erfahrungen, die nicht zugleich von Worten begleitet sind? Zwar scheint es, oder es ist auch so, dass unsere Wahrnehmung, Erfahrungen, die wir machen, Erlebnisse, die wir haben, einen Intensitätswert besitzen, von so lala bis überwältigend, der etwas Wortloses hat. Aber in dem Augenblick, wo wir drüber nachdenken oder sie erzählen, also im nächsten praktisch schon, sind sie wieder unmittelbar an Worte angeschlossen – alles ist an Worte geknüpft, alle unsere Denk- und Gefühls- und Wahrnehmungsvorgänge sind von worthaftem Charakter. Und die richtigen Worte dafür zu finden und zugleich sich zu fragen, ob man diesen Intensitätsmoment, der ja real da war, ob man den mit den Worten transportieren kann, das spielte eine Rolle bei der Arbeit an diesen beiden Büchern, insbesondere bei »Alle oder keiner«. Und bei Bryant Park war wichtig, dass da jemand einfach driftet, eigentlich wie ein Medium durch die Stadt geht und dabei sowohl die Wahrnehmung der Stadt als auch bestimmte Erinnerungen, bestimmte Geschichten, die er in sich birgt, durch sein Bewusstsein driften. Obwohl man ganz genau weiß, das ist aus der Position des Wahrnehmenden oder Denkenden heraus geschrieben, steht nie »ich« da, sondern nur in den erinnerten Geschichten. Und das sollte dann irgendwann umkippen, als Pro-
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zess der Genesung, erneuerten Selbstkonstitution, dass der wieder »ich« sagen kann. Das war das ursprüngliche Konzept, eben bis die Anschläge dann kamen, die dieser Erzählung von Stadt den Boden unter den Füßen weggezogen haben. In Ihrem zuletzt erschienenen Roman Teil der Lösung begegnet man einer gelungenen Mischung von Schilderungen des Berliner Alltags um 2000, radikaler Politik, freiem, »linken« Journalismus und dem neuartigen Phänomen des elektronischen Überwachungsstaats. Im Gegensatz zu den zwei vorherigen Romanen wird alles in einem konsequent eingehaltenen Realismus erzählt, auch was die wichtigen Liebesszenen betrifft. Wie verhält sich das Erzählen und das Beschreiben in Ihren Texten, besonders in Bezug auf »realistisches« Erzählen oder den Zugang zum »Realen«? Kurz gesagt: Wie stehen bei Ihnen Realismus und Politik zueinander?
Das hängt natürlich jetzt vom Begriff des Realismus ab, der immer so ein Moment des Pejorativen an sich hat. Eigentlich geht es darum, ein Subjekt als Medium zu setzen, um gesellschaftliche Wirklichkeit durch dieses Subjekt hindurch darzustellen, sozusagen subjektiviert durch dieses Subjekt. Insofern sind alle meine Bücher realistische Bücher, also Bücher des Realismus. Ich meine dabei »realistisch« nicht im Sinne einer literaturtheoretischen oder wissenschaftlichen oder geschichtlichen Gattung. Ich verstehe Realismus als den Versuch, gesellschaftliche Wirklichkeit nicht abzubilden, sondern in den Personen eines Buches einen Resonanzraum dafür zu schaffen. Natürlich ist das nie die Totalität von Gesellschaft, aller Möglichkeiten der Erfahrung, aber das, was notwendigerweise ausgespart bleibt und bleiben muss, ist denkbar. Es ist zu ergänzen und bildet so etwas wie ein kosmisches Hintergrundrauschen. Und insofern würde ich grundsätzlich sagen, sind alle meine Bücher bis jetzt immer realistische Bücher, wenn vielleicht auch nicht im Sinne der literaturgeschichtlichen Kategorie des Realismus. Sie legen, wie erläutert, viel Wert darauf, auktoriale Erzähler zu vermeiden. Man darf heute nicht mehr wie im 19. Jahrhundert erzählen. Warum nicht?
Nun, um sich in einem Text nicht einfach nur einzurichten. Was Adorno die kontemplative Geborgenheit vorm Gelesenen nennt. Um auf eine bestimmte Art und Weise so orientierungslos wie die Figuren zu sein. Und zum Teil gilt das auch für den Autor, der natürlich so was wie einen Plot im Kopf hat, sich aber dennoch Szene für Szene und Seite für Seite den Eigenbewegungen des Textes ausliefert. Ich weiß zwar, wo etwas Bestimmtes in einem Absatz stehen soll, aber
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wenn das Schreiben sich dagegen sperrt, das, was ich eigentlich in diesen Absatz hineinschreiben wollte, in diesen Absatz hineinzunehmen, dann lasse ich das auch draußen. Der Text hat stets einen gewissen Eigensinn. Diesem Eigensinn folge ich, bis zu einem gewissen Grad, und das verändert den Text dann. Selbst bei Büchern wie Teil der Lösung, das einen total straffen Plot hatte - ich hatte mir auf 50 Zetteln die einzelnen Szenen aufgeschrieben, und ein Großteil dieser Szenen samt dem, was da geschehen soll, findet sich zwar im Buch wieder, aber eben nicht alles, bei weitem nicht. Das Buch bewegt sich beim Schreiben, gewinnt eine gewisse Eigendynamik. So dass ich dann bis zum Schluss auch nicht wusste, wie es ausgeht. Ich wusste wohl, die beiden Liebenden werden in Paris landen, aber ob die sich wiedertreffen, ob es die Chance auf ein happy ending gibt oder nicht, war mir buchstäblich bis zur letzten Zeile nicht klar. Und das ist bei dem Buch, an dem ich gerade schreibe, auch so. Trotz eines Plotrahmens, der aber weniger ausgearbeitet ist als bei Teil der Lösung, oder, besser gesagt, anders ausgearbeitet, gibt es diese Freiheitsgrade, die etwas mit der Schwierigkeit der Figuren und des Autors und des Textes selber zu tun haben, eine Richtung einzuhalten, sich zu orientieren, einen festen moralischen, politischen, gesellschaftlichen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus das Soziale, das Politische, im Text, in den Köpfen der Figuren widerhallen kann. Einerseits versuche ich, die Romanfiguren vorher genau zu situieren, mich zu fragen: Wovon leben die, welche Ausbildung haben die, was nehmen die überhaupt wahr, was denken die, und was nicht? Was andererseits dann aber zu der Konsequenz führt, dass, wenn die etwas nicht denken können, wenn etwas jenseits ihres Horizonts liegt, ich mir das verkneifen muss. So gelungen oder interessant ich manche Formulierungen oder Sätze finde, die muss ich dann eben rausstreichen, weil sie nicht adäquat sind für diese Figur. In der Hoffnung, andere zu finden. Aber ich muss mich immer wieder von mir selber, und dem, was ich für, ich sage jetzt mal, schön halte, verabschieden, weil es nicht zu den Figuren passt. Reden wir nun über Popmusik. Sie haben mal die Musik von Bob Dylan als eine Art Initiationserlebnis beschrieben. In Ihrem Werk kommen oft bestimmte Lieder und Bands vor, mit denen Sie Ihre Figuren im Sinne einer »Beschreibung« von deren Musikvorliebe charakterisieren. Liegen wir da richtig?
Ja. Manchmal hätte man natürlich, ähnlich wie im Film, gerne einen Soundtrack zu einer Szene. Da man Musik nicht gut beschreiben kann, dienen Musiken dann eher dazu, Atmosphären zu verdeutlichen und die Personen zu charakterisieren. Indem ich jetzt beispielsweise eine Fotografin beschreibe und die in einer ganz
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kurzen Szene nachts ein bestimmtes Stück von Low hören lasse. Die dreht das Stück ganz laut auf, was sie auf bestimmte Weise markiert, während derjenige, der Low kennt oder der sich das vielleicht daraufhin anhört, dann eine bestimmte Atmosphäre mit der Musik verbindet, die zu dieser Szene passt, auf der einen Seite. Und auf der anderen schreibe ich ganz privat dieser Figur einen bestimmten Gefühlswert zu, weil ich diese Musik eben sehr gerne mag. Natürlich ist es so, dass die meisten dann vielleicht darüber hinweglesen, weil sie die Musik nicht kennen, das ist mir aber auch vollkommen egal. Wenn ich sage, der Christian aus Teil der Lösung sitzt nachts da und versucht, seinen Roman zu schreiben, und hört dabei Andrea Parker, dann wissen diejenigen, die das kennen, was das für eine Bedeutung hat, die können das kulturell kontextualisieren, während die anderen das halt so überlesen, wie wir alle eben viele Sachen überlesen, die eine bestimmte Intention haben. Sie haben sich in den letzten Jahren wiederholt poetologisch geäußert. So erfolgte 2008 die Berufung auf die Heiner Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der FU Berlin, 2010/11 hielten Sie die Frankfurter Poetikvorlesungen, 2012 folgte dann die Mainzer Poetik-Dozentur. Hatte der mit allen diesen Verpflichtungen verbundene Zwang, über die Grundlagen und Voraussetzungen der eigenen Poetologie nachzudenken, Auswirkungen auf Ihr Schreiben?
Jede Form der Verschriftlichung erzwingt natürlich eine bestimmte Konzentration, und eine bestimmte Verdichtung, und bringt einen dazu, Sachen auszuformulieren, die zuvor eher nur Empfindungsweisen gewesen sind. Es ist uns aufgefallen, dass die meisten literarischen Texte, die Sie in Ihren poetologischen Ausführungen erwähnen, nicht von deutschsprachigen Autoren stammen (etwa Twain, Defoe, Pynchon, Gaddis, Flaubert, Joyce). Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur deutschen literarischen Tradition beschreiben? Und wie sehen Sie die deutsche Gegenwartsliteratur und Ihren Platz darin?
Ich habe zunächst die Bücher gewählt, die mich nicht nur als Heranwachsender stark beeindruckt haben. Ich habe ja nicht Germanistik oder Literaturwissenschaft studiert, sondern viele Sachen erst im Nachhinein gelesen, weil es mich interessiert hat, also vom Simplicissimus über Laukhard und Fielding und Seume bis in die Gegenwart, dies aber unsystematisch und nicht mit irgendeinem akademischen Hintergedanken. Natürlich gibt es deutsche Autoren, die für mich
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wichtige Referenzen sind, in unterschiedlicher Ausprägung: Sei es Brinkmann, sei es Uwe Johnson, sei es Hubert Fichte zum Teil, die für mich eine Bedeutung hatten, die ich wichtig fand, die ich als starkes Leseerlebnis in Erinnerung habe. Mit 16, 17 Jahren hab ich die Ansichten eines Clowns gelesen, seitdem aber nie mehr da reingeguckt. Oder später von Grass die Hundejahre, das war für mich ein ganz starker Eindruck, ein außergewöhnlich gutes Buch, was ich für sein bestes halte, ehrlich gesagt. Aber für das, was ich dann wollte, für mein poetologisches Programm waren Gaddis und Pynchon und DeLillo einfach wichtiger. Weil ich im deutschsprachigen Raum keine Entsprechung dafür gefunden habe. Aber warum waren sie wichtig? Was ist das literarische Programm, das diese amerikanischen Autoren für Sie so wichtig macht?
Bei Gaddis – auch wenn die Größe dieses Autors sich nicht darauf reduzieren lässt – war es natürlich die Art und Weise, wie er Dialoge schreibt. Die Elliptik der Dialoge, das Selbstverständliche nicht zu sagen, sozusagen sich in Sprüngen vorwärts zu bewegen, ähnlich wie bei DeLillo. Ich glaube, von denen habe ich einiges gelernt für die Art und Weise, wie ich Dialoge schreibe. Weil ich eben seit Teil der Lösung wieder Dialoge schreibe, wenn auch jetzt etwas weniger für das neue Buch, aber das war wichtig. Und dann die Gesellschaftspanoramen von Pynchon, der natürlich immer einen auktorialen Erzähler hat, dessen Position aber unterläuft, instabil macht, indem er den Text explodieren lässt, indem der Text mäandert, keine Grenzen kennt, ausufert. Das ist wichtig. Und dann beispielsweise bei DeLillo, wie man historische Ereignisse erzählt. Oder Doctorows Book of Daniel, was mich sehr beeindruckt hat, was ich gottseidank erst relativ spät gelesen habe, sonst hätte ich meinen aktuellen Roman nicht so schreiben können, wie ich ihn gerade schreibe. Alle diese Autoren scheinen mir näher zu sein bei dem, was ich mache: von Gesellschaft zu erzählen, Individuen zu umreißen, ohne eindeutig zu werden. Das hat etwas sehr Gebrochenes, und das gefällt mir sehr gut. Das Kino spielt eine bedeutende Rolle in Ihrem Leben seit langem, und das nicht nur in Bezug auf Ihre bildhafte Schreibweise oder die jüngste Zusammenarbeit mit Christoph Hochhäusler als Drehbuchautor. 2010 erschien Unter dir die Stadt. Werden Sie die Kooperation fortsetzen?
Ja, das haben wir sogar in zwei weiteren Fällen. Christoph schneidet derzeit den neuen Film, den wir zusammen geschrieben haben. Zurzeit überlegen wir, ob der
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Schwarz auf Schwarz heißen soll, wir haben noch keinen richtigen Titel gefunden, leider [Der offizielle Titel lautet Die Lügen der Sieger, PF&US]. Wie ist das Verhältnis dieser Form des Schreibens zur literarischen Arbeit? Betrachten Sie die Drehbücher als Teil Ihres Werks, auch wenn Sie zwangsläufig das Resultat von Zusammenarbeit und Zwängen sind, die sich aus Produktionsbedingungen im Medium Film ergeben?
Ja, die Drehbücher betrachte ich als Teil meines Werks; und natürlich wissen wir um die Zwänge, die sich ergeben – das heißt, wir versuchen natürlich den Zwängen auszuweichen, der Produzentin oder dem Budget abzuringen, was möglich ist. Und sowohl Christoph als auch ich würden es wollen, die Drehbücher zu veröffentlichen. Doch das ist im Augenblick schwierig; früher gab es bei Hanser eine Filmreihe, bei Fischer gab es Filmreihen, das existiert jetzt alles nicht mehr. Also entweder müsste ich jetzt mal einen Riesenerfolg haben, oder Christoph müsste einen Riesenerfolg haben, kommerziell, dann würde das sicher gehen, denn wir würden beide gerne diese drei Drehbücher, die wir bisher gemacht haben, veröffentlichen. Können Sie uns etwas genauer erläutern, was für Drehbücher Sie nach Unter dir die Stadt gemacht haben?
Zunächst, wenn man so will, handelt es sich um eine Art Politthriller, der im Milieu des Berliner Hauptstadtjournalismus spielt und gerade fertig geworden ist. Dann noch eine Geschichte, die Christophs Idee war: Ein Film für Isabelle Huppert, die ihn angesprochen hatte nach Unter dir die Stadt, weil sie einen Film mit ihm machen wollte. Deswegen hat er dann ein sehr schönes Treatment geschrieben, die Handlung spielt im Frankreich der 1940er Jahre, und ich bin da eingestiegen irgendwann, und dann haben wir zusammen ein Drehbuch geschrieben. Bevor es gedreht wird, muss das aber wegen der Dialoge vielleicht noch von einem französischen Autor überarbeitet werden, weil wir beide nicht wissen, wie Franzosen 1942 gesprochen haben, Tonfälle, bestimmte Redeweisen. Und dann haben wir eben noch vor, als nächstes, einen Krimi schreiben, eine richtige Gangstergeschichte, dazu hätten wir beide Lust. Ein Treatment haben wir jedenfalls schon.
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Wie unterscheidet sich die Verwendung von Bildern in der Literatur und im Film? »Denkt« ein Roman anders als ein Film?
Ein Roman denkt eigentlich nicht anders als ein Film. Der Unterschied ist nur, aber vielleicht ist das dann der Unterschied ums Ganze, dass ich in einem Roman das, was ich auf der Leinwand sehen kann, beschreiben muss. In einem Drehbuch hingegen geht es im Grunde um eine narrative Struktur, um bestimmte dramaturgische Abläufe, um eine Spannung und gegebenenfalls um Dialog. Und man muss sich genau überlegen, was zu sehen sein wird: Was ist zu sehen, wenn ich nicht die Möglichkeit habe, die Figuren denken zu lassen? Das heißt, wie kriege ich über das, was ich sehe, über Bilder, nicht nur einen Plot zustande, sondern auch Psychologie? Die Arbeit, die ich mit Christoph mache, dreht sich darum, dass wir uns überlegen, was passiert, wenn man diese und jene Bilder sieht. Also, wie lässt sich die Geschichte über Bilder erzählen, ohne dass wir die Bilder detailliert beschreiben, weil das ja seine Arbeit ist, sein Handwerk, seine Vision des Stoffes, Kadrierung, Montage, die Schauspieler führen. Lassen Sie uns zuletzt eine Frage gleichsam als Ausblick stellen: In der Verlagsbranche findet seit längerem eine Konsolidierungsphase statt – viele unabhängige Verlage geben auf oder werden geschluckt, das gedruckte Buch wird zunehmend digitalisiert. Wie sehen Sie aus Ihrer Warte als Romanautor die Zukunft des Buches und der Literatur insgesamt?
Also, ich glaube, dass der e-book-Markt seine Grenzen hat und bestimmte Bücher eben als gedruckte Bücher nach wie vor auf den Markt kommen und rezipiert werden – ich glaube, in die Kategorie falle ich auch rein. Dann ist die Frage, welche Aussichten eine bestimmte Form von avancierter Literatur hat, genau wie von avanciertem Film. Die Aussichten, sagen wir mal so, die verändern sich, weil sich Seh- und Lesegewohnheiten verändern. Und auf der einen Seite ist das nicht zu kritisieren, also unsere Seh-, Lese- und Wahrnehmungsgewohnheiten sind auch andere als die aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Andererseits muss man sich fragen – das ist jetzt unrein formuliert – was wegfällt. Also mir geht es darum, beim Lesen sozusagen Widerstände zu schaffen, sprachliche Widerstände. Was jetzt nicht heißt, dass der Text unlesbar wird oder dass die Rezeption dadurch enorm erschwert wird. Aber ich ziele auf Brüche, Torsionen, damit ein Text auf eine bestimmte Art und Weise aufgeladen wird. Und da nun weiß ich nicht, inwieweit die Bereitschaft abnimmt, sich dem auszusetzen. Wenn man sozusagen in den letzten 20 Jahren mit dem Privatfernsehen sozialisiert worden ist, beziehungsweise wenn man nur noch einem redu-
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zierten literarischen Kanon in der Schule begegnet. Das heißt jetzt nicht, dass ich vor 30 Jahren oder vor 40 Jahren sui generis anders vorbereitet worden wäre für eine bestimmte Art der Literatur oder des Films. Dennoch frage ich mich, inwiefern es komplexere Erzählformen heute nicht doch schwieriger haben als vor 30 Jahren, weil eine bestimmte Bereitschaft fehlt, sich dem auszusetzen. Also sich dem auszusetzen, was nicht so ohne weiteres kommensurabel ist, und darum geht es mir, Inkommensurabilitäten zu schaffen. Worum es mir geht, ist etwas zu erschaffen, das nicht beim ersten Lesen oder beim ersten Sehen zu inkorporieren ist in meine Erfahrung, sondern das vielmehr meine Erfahrung oder mein Wissen auf eine bestimmte Art und Weise stört oder irritiert. Ohne dabei das Genre, ohne bestimmte Konventionen unbedingt zu verlassen. Grundsätzlich kann man sich schon fragen, ob die Bereitschaft – einfach weil man das auch nicht mehr lernt – ob also die Bereitschaft abgenommen hat, bestimmten Sachen zu begegnen. Meine Generation hat etwa einen Großteil der Fassbinder-Filme, der frühen, um mal auf diesem Gebiet zu bleiben, im Fernsehen abends gesehen um neun oder um zehn. Ich habe viele Filmklassiker im Fernsehen gesehen, ich bin konfrontiert worden mit Erzählweisen, die mit dem, was ich kannte, nicht kompatibel waren. Weil das so war, hat es meine Neugier geweckt und ich habe mich gefragt: Was passiert da eigentlich? Und das fällt natürlich weg. Man kann das heute ganz schamlos sagen mit 18, ach, ich lese Fantasy, oder ich lese die Schmonzetten von Stephenie Meyer, vor 30 Jahren hat man sich dafür geschämt. Aber das ist natürlich vielleicht auch falsch.
»ich bin kein guter archivar meiner selbst« Zu Formen der Autorinszenierung bei Ulrich Peltzer C HRISTOPH J ÜRGENSEN »Und?« »Basisinformationen.« ULRICH PELTZER: TEIL DER LÖSUNG
I. ›Inszenierung‹ – das klingt nach Täuschung, klingt wie ein kulturkritischer, pejorativer Gegenbegriff zu diversen ›Authentizitätsvorstellungen‹ und danach, als wollte man nun mit dem triumphierenden Gestus der Entlarvung die ›Wahrheit‹ hinter dem verfälschenden Rollenspiel aufdecken. Auch mag sich die Sorge aufdrängen, dass im Zuge einer solchen Fokussierung auf den Autor ein naiver Biographismus fröhliche Urständ feiert. Diese Sorge hat der russische Literaturwissenschaftler und Linguist Boris Tomaševskij mit Nachdruck schon in seinem 1923 erschienenen Text Literatur und Biographie ausgesprochen und dazu resignativ bemerkt: »Und man kann noch froh sein, wenn es um den Autor geht und nicht um seine Brüder und Tanten.«1 Schließlich könnte der Gedanke naheliegen, dass die Auseinandersetzung mit Formen der Selbstdarstellung beispielsweise im Fall von Günter Grass als lohnend erscheint, der in enervierender Selbstgefälligkeit als bürgerlicher Großschriftsteller in direkter Nachfolge von Goethe und Thomas Mann auftritt, natürlich auch im Fall des inszenierungspraxeologischen Virtuosen Rainald Goetz oder in demjenigen von Christian Kracht, der ja gerne die Sphinx der deutschen Gegenwartsliteratur gibt – aber nicht im Fall des eher verhaltensunauffälligen Ulrich Peltzer.
1
Boris Tomaševskij: »Literatur und Biographie«, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2003, S. 49-61, hier S. 49.
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Die ersten beiden Sorgen lassen sich leicht zerstreuen. Inszenierung meint nicht Täuschung, und meint auch nicht, wie man frankfurterisch pointieren könnte, ein völlig den einzelnen Akteur festlegendes Rollenspiel innerhalb eines umfassenden Verblendungszusammenhangs. Unter Inszenierungspraktiken verstehe ich vielmehr – im Rückgriff auf Überlegungen Gérard Genettes und Pierre Bourdieus – jene paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten von Schriftstellern, mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen (wollen).2 Dementsprechend ist es mir auch nicht generell um Biographisches zu tun, d.h. um die »reale, amtliche Biographie«3 eines Autors im Allgemeinen und seine Brüder und Tanten im Besonderen. Sehr wohl geht es aber um das, was Tomaševskij als die »biographische Legenden«4 über einen Autor bestimmt. Auf Letztere hat nach Tomaševskij die Literaturwissenschaft ihr Augenmerk nämlich durchaus zu richten, stellen sie ihm zufolge doch »die literarische Konzeption des Lebens des Dichters dar, eine Konzeption, die notwendig ist als wahrnehmbarer Hintergrund des literarischen Werks, als die Voraussetzung, die der Autor selbst einkalkulierte, als er seine Werke schuf.«5 Mit der dritten Sorge verhält es sich etwas komplizierter. Denn sicher ist Ulrich Peltzer kein Autor, der einem bei der Rede von Inszenierungspraktiken sofort als einschlägiger Kandidat in den Sinn kommt: Weder hat er sich je die Stirn aufgeschlitzt noch steht zu erwarten, dass er je auf seinen neuen Roman hinweisen wird, indem er Pressevertreter zu einer Art ›Audienz‹ lädt, sich dann hektisch mit dem Buch an den Hinterkopf schlägt und zappelnd wie ein Nachfahre von Louis de Funès ein Loblied auf die »Objektizität dieses Objekts« anstimmt – so geschehen anlässlich des Erscheinens von Goetz’ neuem Roman Johann
2
Vgl. hierzu Gerhard Kaiser: »Inszenierungen des Authentischen. Martin Kessel und die Epochale Substanz der Dichtung«, in: Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.): Martin Kessel (1901-1990) – ein Dichter der Klassischen Moderne; Bielefeld 2004, S. 109-142, bes. 115-120; Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser: »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: dies. (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg 2011, S. 9-30.
3
Tomaševskij: »Literatur und Biographie«, S. 57.
4
Ebd.
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Holtrop im Jahr 2012.6 Aber gegen diesen Einwand lässt sich erwidern, dass der alte Gassenhauer der Kommunikationstheorie, man könne nicht nicht kommunizieren, auf das Inszenierungsproblem übertragbar ist. Ein Autor kann sich nicht nicht inszenieren, oder andersherum gesagt: Selbst oder sogar gerade die radikale Verweigerung von Öffentlichkeit ist ein öffentlichkeitswirksamer Akt, freilich nur, wenn diese Verweigerung auch wahrgenommen wird. Man denke hier etwa an Martin Kessel, Arno Schmidt oder, in jüngerer Zeit, Patrick Süskind. Von Verweigerung von Öffentlichkeit kann bei Peltzer allerdings so wenig die Rede sein wie vom Gegenteil, sprich: von der ubiquitären Anwesenheit an allen Ständen, die auf dem ›Marktplatz Literatur‹ aufgebaut sind. Man könnte ihn also auf einer gesunden Position der Mitte zwischen beiden Extrempositionen verorten – aber das wäre noch reichlich allgemein und nichtssagend. Im Folgenden möchte ich daher versuchen, diese Position genauer zu bestimmen, d.h. zu rekonstruieren, mittels welcher werkbegleitenden Praktiken Peltzer sich und seine Texte sichtbar zu machen bzw. im literarischen Feld zu positionieren versucht, welches Schreibprogramm er dabei propagiert und welches damit verbundene Autorschaftskonzept er modelliert. Und nichtssagend, dies vorausgeschickt, scheint mir weder seine Form der Autorinszenierung noch seine Stellung in der literarischen Öffentlichkeit zu sein. II. Gelegentlich wurde behauptet, dass die Frankfurter Poetikvorlesungen für Peltzer der Anlass gewesen seien, »zum ersten Mal dezidiert poetologische Überlegungen zu Papier zu bringen.«7 Und sicher sind diese Vorlesungen das bislang sowohl umfangreichste als auch resonanzträchtigste Teilstück der Peltzer’schen Selbstinszenierung, auch deshalb, weil er sie nicht nur dem Frankfurter Publikum präsentierte, sondern sie überdies (und sogar zuvor schon) als Buch vorgelegt wurden. Doch für ›dezidiert poetologische Überlegungen‹ gab es zuvor schon einige Gelegenheiten, die für unseren Zusammenhang aufschlussreich sind. Will man die Formen und Funktionen seiner Selbstkanonisierung vollständig darstellen, so sind etwa seine Dankesreden für Literaturpreise in den Blick zu
6
http://www.youtube.com/watch?v=gS96txHrUXc, letzter Zugriff: 26.12.2013; auf der eigens für den Roman eingerichteten Homepage (www.johannholtrop.de) hingegen findet sich der Clip nicht mehr.
7
Helmut Böttiger: »›Huckleberry Finn‹ als Gründungstext der Moderne«. http:// www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1436010/ (letzter Zugriff am 26.12.2103).
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nehmen, wie diejenige, die Peltzer zur Verleihung des Bremer Literaturpreises 2003 für Bryant Park gehalten hat. Dort bedankt er sich zunächst dafür, durch diese Auszeichnung »in eine Spur von Namen« gesetzt zu sein, »deren Träger mir einiges bedeuten, als Vordenker und Mentoren, als Schöpfer ästhetischen Widerstands, wie als Chronisten eigensinniger Gefühle«8 – explizit nennt Peltzer die Namen dieser Träger zwar nicht, aber der mit Preis- oder Literaturgeschichte vertraute Hörer wird leicht entschlüsseln, dass hier Peter Weiss, im Jahr 1982 mit dem Bremer Literaturpreis bedacht, und Alexander Kluge, nur zwei Jahre vor Peltzer ausgezeichnet, gemeint sind. Damit unternimmt er augenscheinlich eine Genealogisierung der eigenen Tätigkeit, und die Rede ergänzt noch weitere Vorbild-Autoren, vor allem William Gaddis, Uwe Johnson und Rolf Dieter Brinkmann sowie Gilles Deleuze als theoretischen Bezugspunkt seiner Poetik. Magister- oder Doktorarbeiten werden diese Hinweise auf sein Traditionsverhalten kaum übersehen können bzw. dürfen, und Peltzer wendet sich überdies mehr oder minder direkt an uns Protagonisten des Sekundär-Diskurses über Literatur, indem er davor warnt, eine »unwiderstehliche Folgerichtigkeit« in seinen Arbeitsprozess hineinzulesen, »wie sie Germanisten oder Biografen leichthin zu konstruieren pflegen«.9 Wir sind also gewarnt. Neben solchen Dankesreden ist ferner die Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2008 zu beachten, gehalten im Rahmen einer 1999 im Saarland gestarteten Reihe von ›Abiturreden‹ und unter dem Titel Vom Verschwinden der Illusionen – und den wiedergefundenen Dingen kurz darauf als Büchlein veröffentlicht. Vor Peltzer waren unter anderem Wilhelm Genazino, Dieter Wellershoff und Feridun Zaimoglu als Redner verpflichtet worden, um, wie der Redakteur Ralph Schock vom Saarländischen Rundfunk im Nachwort zu Peltzers Rede erläutert, »auf jeweils eigene Art und Weise aktuelle gesellschaftliche Probleme und Themen [zu] erörtern; Reden, an denen vielleicht aber auch – wie bei einem Seismografen – so etwas wie die Gesinnungslage einer Zeit abzulesen ist.«10 Diese Funktion als ›Seismograf‹ erfüllt Peltzer in seiner Rede, indem er die Werte seiner Abiturzeit mit denjenigen der Schulabgänger von 2008 kontrastiert und dabei gegen die alles bestimmende Zukunftsangst und für die Gegenwart plädiert, für den Mut zur Lücke im Lebenslauf, um sich Wünsche und Träume zu erfüllen.
8
Ulrich Peltzer: »Dankesrede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises 2003«. Zit.
9
Ebd.
nach http://www.rudolf-alexander-schroeder-stiftung.de/pdf/2003_dank_1.pdf. 10 Ralph Schock: »Nachwort«, in: VI 53-55, hier S. 55.
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»Die Zukunft ist immer jetzt. Lassen sie sich von niemandem vertrösten. Haben sie keine Angst, ich versuche, auch keine zu haben.« (VI 50) Ein Bildnis des Autors als Seismograf bietet sich uns auch in einem Artikel, der kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist: Unter der Überschrift Können Sie das Kapital verstehen? widmet sich Peltzer dort dem Kapitalismus gestern und heute sowie der Bedeutung des gegenwärtigen Finanzsystems für das Erzählen – und eine kleine biografische Notiz am Ende des Beitrags nobilitiert die Geltung seiner Diagnose durch den Hinweis darauf, dass Peltzer »einer der genauesten Beobachter gesellschaftlicher Veränderungen in Deutschland«11 sei. Und natürlich ist im Rahmen dieser Inszenierungsgeschichte eine umfassende Würdigung der bereits erwähnten Poetikvorlesungen zu leisten. Zentral für die Vermittlung von Peltzers Rollenverständnis als Autor in Bezug auf seine Tätigkeit des Schreibens einerseits und sein Verhältnis zur Gesellschaft andererseits sind diese Vorlesungen nicht nur aufgrund ihres Umfangs, sondern auch deshalb, weil Peltzer mit ihnen eine größere Menge der raren Ressource Aufmerksamkeit erreichen konnte. Alles in allem war die Resonanz der Literaturkritik auf Peltzers Ausführungen über Ursprung, Grundlagen, Anspruch und Absicht seiner literarischen Tätigkeit dabei positiv: Der Deutschlandfunk beispielsweise freute sich über eine der »wichtigsten Quellen, wenn man über die Möglichkeiten der Gegenwartsliteratur nachdenkt«,12 und die FAZ verstand sie als Versprechen auf einen spannenden neuen Roman eines »engagierten Erzähler[s]«, von dem man »Einlassungen zum Beispiel zum Internet, zur Weltpolitik oder [...] Kapitalismus als Daseinsform«13 erwarten darf und will. Auf wenig Verständnis stieß lediglich sein ausführlich referierender Rekurs auf französische Theoretiker wie Deleuze, Foucault oder Blanchot, auf deren Subjekt- wie Gesellschaftsbild und auf ihre Terminologie. Die Neue Zürcher Zeitung fühlte sich an ein literaturwissenschaftliches Seminar erinnert und fand den »reizvollen Teil seiner Vorlesungen« erst dort, »wo sich Peltzer vom bloßen Referat dieser Gedanken abwendet und sie anwendet«.14
11 Ulrich Peltzer: »Können Sie das Kapital verstehen?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.6.2013. 12 Vgl. Böttiger: »Huckleberry Finn als Gründungstext«. 13 Daniel Haas: »Was macht er denn für Geschichten! Von wegen simple Storys: Ulrich Peltzer nutzt seine Poetik-Dozentur für eine Feier der sprachverspielten Hochmoderne«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.2.2011. 14 Nico Bleutge: »Brüchige Korrespondenzen. Ulrich Peltzer nimmt in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen die Leser in die Mitte des Schreibens hinein«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30.7.2011.
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In eine ähnliche Richtung zielte die Kritik der SZ, der es vorkommen wollte, als habe Peltzer, »der prosaische Praktiker, sich selbst die Vorlesungsbühne nicht zugetraut und sich deshalb sicherheitshalber an seiner eigenen Uni-Lektüre entlanggetastet, um der universitären Konstellation Genüge zu tun.«15 Diese Erklärung erscheint mir allerdings unzureichend, ja die Kritik am Ziel vorbeigeschossen. In der Tat ist es zwar so, dass Peltzer sich den genannten Theoretikern umfänglich widmet, ganz zu schweigen davon, dass er überdies instruktive Lektüren vom Ulysses und Finnegans Wake anbietet, von Robinson Crusoe und vor allem von Huckleberry Finn, der hier als Gründungstext der literarischen Moderne gefeiert wird – und dass er erst im letzten Teil der fünfaktigen Vorlesungsreihe explizit zum eigenen Werk überschwenkt. Aber sozusagen Feigheit vor dem Feind scheint mir nicht der Grund für diese Ausweichbewegung zu sein, wenn es denn überhaupt ein Ausweichen ist. Plausibler ist wohl, hier zunächst eine Aktualisierung des traditionsreichen Topos vom Autor als leidenschaftlichem Leser zu sehen, der ›naturgemäß‹ selbst Schriftsteller werden musste. Dazu passte, dass Peltzer die Zeiten ›kontemplativer Geborgenheit vorm Gelesenen‹ für den modernen Roman für beendet erklärt und die »aktive Mitarbeit des Lesers einfordert, eine – in den Worten des verehrten William Gaddis – ›collaboration between the reader and what is on the pages‹, also einen Übersetzungsvorgang anstelle des sofortigen Versinkens in der Fabel«. (AM 31f.) Ein solcher ›kollaborierender‹ Leser ist Peltzer in seinen Vorlesungen gewissermaßen selbst. Doch freilich ist er nicht ›nur‹ Leser, sondern auch und vor allem Autor, und sein Konzept von Autorschaft wird gerade über die skizzierten Lektüren vermittelt, über die weltanschaulichen, epistemologischen und produktionsästhetischen Bezüge, die mit ihnen hergestellt sind. Thesenhaft behaupten möchte ich, dass sich in diesem Autorschaftsmodell zwei ›klassische‹ Varianten kreuzen, in genuin ›moderner‹ Ausprägung natürlich. Auf der einen Seite lässt sich nämlich eine säkularisierte Form des poeta vates-Konzeptes16 erkennen: Sicher, Peltzer inszeniert sich nicht als inspiriertes Sprachrohr der Götter, aber, wenn man so will, gleichsam als Sprachrohr der Welt. In diesem Sinne heißt es gleich in der ersten Vorlesung über die Heraus-
15 Felix Stephan: »Frei ist der Mensch nur zwischen zwei Buchdeckeln. Ulrich Peltzer entwirft in seinen Poetikvorlesungen eine emphatische Vision der Literatur als Gegenwelt«, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.4.2011. 16 Zu diesem Konzept siehe Torsten Hoffmann/Daniela Langer: »Autor«, in: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 131-170, hier S. 139-142.
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forderung an eine zeitgenössische, den Veränderungen der letzten dreißig Jahre Rechnung tragende Poetik: »Alles gleich, alles anders, wäre vielleicht die Losung, von der man auszugehen hätte bei einem erneuten Versuch (Versuch in Theorie und Praxis), der Wirklichkeit ›habhaft‹ zu werden, um sie in ihrer Unabweisbarkeit schildern zu können, was heißt: sie sich erzählen zu lassen.« (AM 33) Um ein repräsentatives Abbild der Welt, um Totalität geht es bei diesem ›Habhaftwerden‹ allerdings nicht, nicht um eine »unnütze Reanimation einer in der Moderne schlussendlich über Bord gegangenen Prächtigkeit«, sondern darum, wie Peltzer die poetologische Grundidee wiederholt und präzisiert, »eine absurd vorläufig bleibende, immer vom Verschwinden bedrohte Wirklichkeit, sich (wieder) anzueignen, theoretisch und praktisch anzueignen, indem man sie erzählend von sich selber berichten lässt.« (AM 33f.) Die Welt soll sich also durch das Medium des Autors quasi selbst erzählen. Dieses ›Medium Peltzer‹ ist aber notwendig diejenige Instanz, die die in den Text ›einströmende‹ Welt bzw., mit Foucault gesprochen, die ›einströmenden‹ Diskurse »kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert«17 und reflektiert – und wie diese Reflexion sich vollzieht, auf Grundlage welcher erkenntnistheoretischen Einsichten und an welche geistesgeschichtlichen Traditionen anknüpfend, erläutern die Vorlesungen. Auf der anderen Seite mag man hier daher zugleich eine Spielart des poeta doctus-Konzepts18 erkennen, für das ja Traditionsbezug und Wahrung der literarischen Tradition konstitutiv sind, ergänzt um die Gelehrsamkeit in vielen Wissensgebieten, um Handwerklichkeit und Arbeitsethos wie das Gebundensein an Reflexion und Theorie. Alle diese Dimensionen spielen in Angefangen wird mittendrin zusammen. Zu diesen Vorlesungen wäre noch viel mehr zu sagen, und überhaupt wäre die Peltzer’sche Inszenierungsgeschichte selbst mit einer ausführlichen Schilderung der angedeuteten Episoden dieser Geschichte nicht vollständig. Zu ergänzen wäre mindestens, dass er kürzlich als Juror im 21. Open Mike-Wettbewerb und damit als veritable Konsekrationsinstanz für ›junge Literatur‹ fungierte, oder seine Präsenz auf der Tagung im Dezember 2013, die dem vorliegenden Band voranging, als sehr lebendiger Gegenbeweis zum vermeintlichen ›Tod des Autors‹. Statt all diesen Geschichten weiter nachzuspüren, werde ich mich im Folgenden etwas genauer mit Peltzers Teilhabe an einer Gattung beschäftigen, die von der Literaturwissenschaft gerne marginalisiert oder gar vollständig ignoriert wird: dem Interview.
17 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1997, S. 7. 18 Hoffmann/Langer: »Autor«, S. 142f.
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III. Interviews gehören zum Alltag des Schriftstellerberufs, die mit großer Selbstverständlichkeit die Lektüre von Neuerscheinungen begleiten, und keineswegs dienen sie dabei »in erster Linie zur Informationsbeschaffung«19, wie im Handbuch der literarischen Gattungen behauptet wird. Vielmehr sind sie ein fester, äußerst resonanzträchtiger und deshalb nachhaltig wirkender Bestandteil der performativen, weltanschaulichen und ästhetischen Inszenierungspraktiken von Schriftstellern. Grundsätzlich lassen sich Interviews (oder Gesprächen, eine Unterscheidung zwischen beiden Formen der Kommunikation würde den Praxistest nicht bestehen) drei Funktionen zuschreiben: Sie erfüllen erstens insofern eine werkpolitische Funktion, als sie nicht-professionelle Leser ebenso wie literaturkritische und -wissenschaftliche Interpretationen beeinflussen. Zweitens haben sie eine kanonisierende Funktion, da heutzutage ein Großteil des literarischen Diskurses in Interviewform produziert wird und in ihnen demgemäß geradezu eine Art der Literaturgeschichtsschreibung stattfindet. Drittens schließlich können sie – mehr oder minder stark ausgeprägt – eine ästhetische Funktion haben, da in Interviews nicht nur über Texte gesprochen wird, sondern zugleich ein neuer Text entsteht, der über eine eigene Ästhetik verfügt, so wie es bei Tagebüchern und Briefen etwa auch der Fall sein kann.20 Während sich zu Ego-Dokumenten wie Tagebüchern und Briefen längst eine eigenständige Forschungstradition herausgebildet hat, steht eine Auseinandersetzung mit Autoren-Interviews noch am Anfang. Eine Teilschuld an diesem erstaunlichen Versäumnis mag man Genette zusprechen, der Interviews in seiner Studie zur Paratextualität als zu vernachlässigendes Beiwerk des Buches begreift, in denen sich Autoren »eher passiv und anscheinend ohne große intellektuelle Motivation«21 präsentieren. Diese Geringschätzung wirkt angesichts der skizzierten Multifunktionalität irritierend und mag sich mit der immer noch notorischen anti-ökonomischen illusio erklären lassen, die für das literarische Feld bezeichnend ist: mit der Idee einer autonomen Dichtung und eines gleichsam interesselosen Dichtertums, das nicht nach weltlicher Anerkennung und erst recht
19 Sascha Seiler: »Interview«, in: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 403-407, hier S. 403. 20 Siehe hierzu Torsten Hoffmann/Gerhard Kaiser: »Echt inszeniert. SchriftstellerInterviews als Forschungsgegenstand«, in: dies. (Hg.): Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. München 2014 (im Druck). 21 Gérard Genette: Paratexte. Das Buch zum Beiwerk des Buches. Frankfurt/Main, New York 1989, S. 343.
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nicht nach ökonomischem Profit strebt. Und zweifellos sind Interviews Werbemaßnahmen und verfolgen ökonomische Interessen, aber zum einen ist das nicht ehrenrührig, sondern lebensnotwendig, und zum anderen geht es um mehr. Beides wusste schon Eckermann, dessen Gespräche mit Goethe gewissermaßen der Urtext der Gattung sind. 1826, zehn Jahre also vor der Erstveröffentlichung der Gespräche, schreibt Eckermann an den Weimarer Olympier, um ihn von der Publikation zu überzeugen: Um nämlich das hohe Interesse was jetzt ganz Europa an Eure[r] Excellenz nimmt, zu Gunsten der neuen Ausgabe ihrer Werke auf den höchsten Punkt zu steigern, wäre es vielleicht ganz an der Zeit, wenn man ein Bändchen ihrer trefflichsten Conversationen voranschickte. Ich könnte bis auf den nächsten Herbst eine gute Abteilung von etwa 250. Seiten zusammenbringen; und zwar lauter bedeutende wichtige Sachen die Alles aufregen sollten, und die, da die höchsten Maximen darunter vorkommen, gewiß die heilsamste Wirkung auf die Welt haben würden. Jetzt, meine ich, wäre dazu der allerschönste Zeitpunkt.22
Bei dem von der eigenen Bedeutung überzeugten Goethe verfingen diese Schmeicheleien bekanntlich, bei Peltzer würden sie dies vermutlich nicht. Und ich habe es auch gar nicht erst versucht, aber doch im Zuge der Konzeption des vorliegenden Textes bei ihm angefragt, ob er für meine Zwecke aussagekräftige Interviews wüsste – und eine bezeichnende Antwort erhalten: »ich bin kein guter archivar meiner selbst, [...] hab dateien durchgeguckt und […] drei mal etwas interviewartiges gefunden.«23 Ein übergroßes Interesse an Formen der Selbsthistorisierung bzw. an einer frühzeitigen, auf die Nachwelt schielenden VorlassOrganisation hat Peltzer offenkundig nicht, im Kontrast zu vielen seiner Kollegen im Feld – über Grass oder Kempowski, um nur zwei Namen zu nennen, ließen sich in dieser Hinsicht einige Geschichten erzählen. Trotz des selbst-archivarischen Desinteresses von Peltzer kann ich aber über seine Interviews schreiben, ging es mir also nicht wie als Leser seines Romans Teil der Lösung, der auf Christians lang ersehntes Interview mit einem Mitglied der Roten Brigaden zuläuft, vom Inhalt des Interviews dann aber nichts verrät, es bleibt gleichsam eine Leerstelle. Der Rückbezug auf die politische Vergangenheit, lässt sich diese Leerstelle im Sinnzusammenhang des Romans auffüllen,
22 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von Christopher Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Berlin 2011, S. 927f. (Brief von Eckermann an Goethe vom 30. Mai 1826). 23 Ulrich Peltzer: Aw: Interview(s), E-Mail an den Verfasser vom 23.11.2013.
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hilft nicht, die Vergangenheit zu verstehen. Eine vergleichbare Leerstelle muss ich in Sicht auf die realen Interviews glücklicherweise nicht präsentieren, weil sich über Peltzers ›drei mal interviewartiges‹ hinaus eine Reihe von Gesprächen finden ließ, die durchaus die Vergangenheit wie die Gegenwart des Autors erklären helfen, genauer: die ebenso über seinen Literaturbegriff Auskunft geben wie über die Position im literarischen Feld, auf der er sich angesiedelt sehen will. Solche Auskünfte gibt es zu allen Werken bzw. Werkphasen Peltzers, allerdings sind sie nicht gleichmäßig über die Zeit verteilt, sondern lassen sich einzelnen Anlässen oder konjunkturellen Phasen zuordnen. So reflektierte Peltzer etwa am 27. Januar 2003 in der vorhin angeführten Rede zum Bremer Literaturpreis darüber, dass sich seine Arbeit nicht auf »für spätere Befragungen nützliches Schlagwort (das man der Öffentlichkeit dann gerne expliziert)«,24 bringen lassen wolle, und schon am 28. Januar ließ sich eine derartige durchgeführte ›Befragung‹ in der tageszeitung aus Anlass des Preises nachlesen. Das »kleine taz-Gespräch«, wie es Peltzer mailweise genannt hat,25 bietet dem Autor dann immerhin die Gelegenheit, eine bündige Interpretation von Bryant Park zu lancieren – um der weit verbreiteten Kritikersicht zu widersprechen, der Roman kreise um die Frage der Identität: »Nein, da hat niemand seine Identität verloren und sucht eine neue. Es ist die Geschichte von jemandem, der in einer krisenhaften Phase seines Lebens ist und wieder zu sich findet. Mit dem Wort ›Identität‹ kann ich nichts anfangen. Wenn man mit sich selbst identisch ist, dann liegt man normalerweise drei Meter unter der Erde.«26 Zudem kann er durch den Rückgriff auf Deleuze sein Kunst- bzw. Literaturkonzept als ›das Widerständige‹, das Schmach und Niedertracht widersteht, auf den Begriff bringen, und schließlich seine diesem Konzept entsprechende Position im gegenwärtigen Literaturbetrieb angeben, die er prinzipiell am Rand angesiedelt sieht: Ich versuche, nicht repräsentativ für eine Generation zu sein. Meine Referenzen sind ganz andere. Natürlich komme ich nicht ohne mediale Referenz aus, aber es gibt Sachen, die ich nicht machen würde. Ich würde mich nie in eine Talk-Show setzen. Wobei ich natür-
24 Peltzer: »Dankesrede« [Fußnote 8]. 25 Und zwar in der oben zitierten Mail vom 23.11.2013, verbunden mit dem lakonischen Hinweis: »aber auch das finde ich nicht mehr, tja, so ist das.« 26 Klaus Irler: »Der Dinge habhaft werden. Ulrich Peltzer, Träger des Bremer Literaturpreises, über Identität, scheiternde Kunst und Talk-Shows«, in: tageszeitung vom 28.1.2003.
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lich nichts dagegen hätte, 100.000 Exemplare zu verkaufen. Aber es gibt Sachen, die haben was mit Würde zu tun.27
Werkpolitisch effizienter lässt sich der knappe Raum kaum ausfüllen, als es Peltzer hier gelingt. Wollte man eine typologische Rubrizierung dieser Art der Interview-Führung vornehmen, die prinzipiell charakteristisch für Peltzer ist, dann ließe er sich als ›Traditionalist‹28 bezeichnen: Er antwortet hier wie anderswo sachlich auf die Fragen des Gesprächspartners und legt keinen Wert auf eine besondere Art der Performance, verzichtet also sowohl auf einen spielerischen Umgang mit der eigenen Biographie als auch darauf, die Gattung als Kunstform zu nutzen. Mit einer minimalen Dialogsequenz aus Teil der Lösung auf ein Prinzip gebracht: »Und?« »Basisinformationen.« (TL 21) Besonders viele ›Basisinformationen‹ musste Peltzer dann rund um die Veröffentlichung und Rezeption von Teil der Lösung liefern. Mit diesem Roman hatte er nämlich nicht ›einfach nur‹ einen Roman vorgelegt, sondern war vielmehr unversehens in einen hochkonjunkturellen Diskurs geraten, in den sich sein Text geradezu idealtypisch einzupassen schien. Knapp gesagt: Seit dem Ende der 90er Jahre hatte sich unter Formeln wie ›irony is over‹ eine Tendenz weg von Popliteratur und Spaßgesellschaft und hin zu sozialkritischer Ernsthaftigkeit angedeutet, eine Tendenz, die durch die Anschläge vom 11. September 2001 noch einmal enorm verstärkt wurde. Matthias Politycki beispielsweise formulierte als poetologisches Credo: »Schreiben [ist] kein Vergnügen, sondern ein mit ästhetischen Mitteln camouflierter moralischer Akt«,29 und veröffentlichte mit einigen Kollegen ein Positionspapier, das sich unter dem zugkräftigen Titel Relevanter Realismus gegen »solipsistische Selbsterkundungen« wendete und eine »relevante Narration« forderte.30 Als eine solche Form des ›relevanten Realismus‹ wurde nun auch Teil der Lösung von der Literaturkritik verstanden und demge-
27 Ebd. 28 Mit John Rodden, einem der ›Pioniere‹ der Interview-Forschung, lassen sich drei Typen von Schriftstellern in Interviews unterscheiden: erstens den Traditionalisten, der Fragen sachlich beantwortet, zweitens den ›raconteur‹, der seine eigene Biographie wie diejenige einer literarischen Figur ›erzählt‹, und drittens den ›advertiser‹, der wesentlich als »self-promoter« agiert. Vgl. John Rodden: Performing the literary interview. How writers craft their public selves. Lincoln 2001, S. VI-XVII. 29 Matthias Politycki: »Simplifizierer und Schubladianer«, in: tageszeitung vom 27/28.10.2001. 30 Matthias Politycki: »Relevanter Realismus«, in: ders.: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Hamburg 2007, S. 102-106, hier S. 105.
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mäß vorrangig für seinen Gegenwartsbezug und seine Aktualität gelobt. Martin Halter etwa sprach im Tages-Anzeiger von einem »großen Zeitroman«31, und Volker Weidermann verstand ihn in der FAZ gar als »Warnschuss«32 vor dem allgegenwärtigen Terror in der Nachbarschaft. Einerseits waren die Resonanzbedingungen für Teil der Lösung also günstig, und zwar deutlich günstiger als für Peltzers vorherige Romane, andererseits bestand die Gefahr, allgemein dem ›relevanten Realismus‹ zugeschlagen zu werden und dadurch in der öffentlichen Wahrnehmung an eigenständigem Profil zu verlieren. In diesem Sinne lassen sich die Teil der Lösung flankierenden Interviews als Versuch lesen, gegen eine diskursive Vereinnahmung die Individualität der eigenen Poetik zu behaupten bzw. die spezifische Position innerhalb des Diskurses sichtbar zu halten. Auf den schriftlich eingereichten Fragenkatalog eines Literaturwissenschaftlers antwortete Peltzer noch zurückhaltend bis unwirsch, als wollte er die ›collaboration between the reader and what is on the pages‹ heraus- oder einfordern, von der oben die Rede war. Auf die Frage nach den »ästhetischen und poetischen Überlegungen«, die »beim Schreiben« eine Rolle gespielt haben, antwortete er nur knapp: »Das müssten Sie ja nun herausfinden«; »Keine«, lautet die bündige Antwort auf die Frage nach den moralischen Problemstellungen, mit denen er sich in Sicht auf den Terrorismus konfrontiert sah, und auf die (zugegeben so dreiste wie naive) Frage, ob Peltzer bei der Aufschlüsselung der intertextuellen Verweise helfen könne, kommt nur der Bescheid: »Nein« – gefolgt von der Empfehlung, Mathieu Carrières Abschlussarbeit über Kleist zu lesen.33 Diese Gelegenheit zur rezeptionslenkenden Selbstinterpretation wollte Peltzer offenkundig nicht wahrnehmen, die öffentlichen Interviews verfahren allerdings deutlich auskunftsfreudiger, akzentuiert je nach Publikationskontext. Drei Beispiele sollen diese verschiedenen Akzentsetzungen illustrieren: Ein ausführliches Interview mit der tageszeitung etwa widmet sich unter dem Titel Groteske Rückkehr des Bürgerlichen34 umfänglich der politischen und sozialen Dimension
31 Martin Halter: »Ist die Revolution nur noch ein Werbeslogan?«, in: Tages-Anzeiger vom 18.10. 2007. 32 Volker Weidermann: »Paare, Paranoia«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 9.9. 2007. 33 »Interviewfragen an den Autor Ulrich Peltzer«, vorliegend als gleichnamige WordDatei (E-Mail-Anhang vom 23.11.2013). 34 Ulrich Gutmair: »›Groteske Rückkehr des Bürgerlichen‹. Mit seinem Roman ›Teil der Lösung‹ erforscht Ulrich Peltzer die gesellschaftlichen Verhältnisse Berlins«, in: tageszeitung vom 16.9.2007.
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des Romans, kreist um die gegenwärtigen Formen der Urbanität, die Migrationsproblematik sowie Schichten- und Klassenphänomene, um die titelgebende neue Bürgerlichkeit und schließlich um zeitgemäße Perspektiven politischen Handelns. So konfrontiert der Interviewer Peltzer unter anderem mit der Frage, warum er die Probleme »von Migration und Armut« nicht in Berlin, sondern in Paris erscheinen lasse, obwohl doch in Berlin 40 Prozent der Schulkinder von Hartz IV lebten. Peltzer kontert die mehr als nur vage mitschwingende Forderung nach einer sozialrealistischen Wiedererkennbarkeit der Wirklichkeit im Roman zwar zunächst mit dem Hinweis darauf, dass Teil der Lösung »keine Elendsreportage« sei. Dann muss er sich aber doch in der Bahn bewegen, die die Frage vorgegeben hat, äußert sich zum »Umschwung in die Gentrifizierung«, der sich an Belleville »in besonders verdichteter Form« beobachten lasse, und prognostiziert dem Berliner Wrangelkiez für die nahe Zukunft einen vergleichbaren Umschwung. Fast vollständig ausgespart werden hingegen ästhetische Fragen, weder wird nach literarischen Traditionen, Vorbildern oder poetologischen Prinzipien gefragt. Der Autor tritt hier gewissermaßen als Soziologe auf, der, wie der Untertitel des Gesprächs durch die Verwendung eines wissenschaftlichen Verbs sekundiert, die gesellschaftlichen Verhältnisse »erforscht«. ›Vollendet‹ wird dieses Rollenbild durch ein dem Interview vorangestelltes Foto des Autors, das ganz auf das Gesicht bzw. den kritischen Blick konzentriert und mit der authentizitätsbehauptenden Bildunterschrift versehen ist: »Selbst Teil des akademischlinken Milieus, das er beschreibt.« Ein Interview, daran erinnert uns dieses Bild, ist mir einer doppelten Autorschaft versehen, auf unser Korpus bezogen: Nicht verantwortlich ist Peltzer für den Rahmen, in den Interviews mit ihm eingebettet werden, und natürlich kann er (cum grano salis) nur auf diejenigen Fragen antworten, die ihm gestellt werden. Stärker auf Distinktion läuft hingegen ein Gespräch mit dem Börsenblatt35 anlässlich des Bücherherbstes hinaus, dem Vorspann gemäß geführt mit »einem der deutschen Autoren, die sich in ihren neuen Büchern Gesellschaftsthemen zuwenden.« Der das gesamte Interview prägende Gestus der Abgrenzung gegen diese diskursive Eingemeindung deutet sich bereits durch das Titel-Zitat an: »Ich will weg von all diesem Ost-West-Blödsinn.« Weg von diesem ›Blödsinn‹ will er, erfährt der Leser dann durch das Gespräch, weil diese Binär-Opposition nicht mehr zeitgenössisch sei, weil sie der Lebenswirklichkeit nicht mehr entspreche. Und genau auf diese gegenwärtige Lebenswirklichkeit ziele der Roman ab, und
35 Jörg Magenau: Gespräch mit Ulrich Peltzer: »Ich will weg von all diesem Ost-WestBlödsinn«, in: http://www.boersenblatt.net/148716/.
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nicht auf die Rekonstruktion und Bewältigung der Geschichte: »Ich will nicht Geschichten nacherzählen oder etwas ›aufarbeiten‹. Ich will die reine Gegenwart.« Und folgerichtig antwortet er auf die Nachfrage, ob sein Roman dementsprechend nicht zu den zahlreichen Büchern gehöre, die sich zum 30jährigen ›Jubiläum‹ mit dem ›Deutschen Herbst‹ beschäftigen: »Der sogenannte bewaffnete Kampf interessiert mich nicht derart.« Diese distinktionsstrategisch notwendige Profilierung des eigenen Standpunkts gegenüber der allgemeinen Tendenz kann sich dann in einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung noch deutlicher artikulieren: Denn unter dem Titel Über die Gegenwart nachdenken36 bringt die Zeitung mit Peltzer und Michael Kumpfmüller gleich zwei Autoren zusammen, die »in ihren jüngsten Romanen explizit politische Themen aufgegriffen haben« und lässt sie »Stellung« zur »Bedeutung des Politischen in der Literatur« nehmen – so die im Vorspann formulierte Zielvorgabe für das Gespräch. Durchaus angemessen ist dabei die militärische Rede vom ›Stellung beziehen‹, denn genau dazu dient das Gespräch, und genau dazu wird es von beiden Autoren auch genutzt. Einig sind sich Kumpfmüller und Peltzer immerhin in der Einschätzung, dass die angebliche Hochkonjunktur des Politischen in der Literatur »das übliche Buchmessengeschwurbel« sei. Nicht einig sind sie sich hingegen über die Form der politischen Literatur bzw. der »Gesellschaftsanalyse«, die ihre jeweiligen Romane verfolgen wollen. Um mich auf Peltzer zu konzentrieren: Zunächst wehrt er sich gegen die Aktualitäts-Anmutung durch den Hinweis auf die Kontinuität seines Werks: »Was jedoch mich betrifft, glaube ich, dass ich auch in meinen früheren Büchern schon immer Räume entworfen habe, in denen das Politische widerhallt.« Wichtiger noch ist, dass er seinen eigenen Literaturbegriff gegen das feuilletongängige Schlagwort von der ›politischen Literatur‹ hält und dabei das Ästhetische gegenüber dem Politischen aufblendet: »Ich bin mehr an dem interessiert, was Literatur politisch macht, nicht an ›politischer Literatur‹, und das ist eher eine ästhetische Frage als eine des Inhalts.« Und auf die verwunderte Nachfrage der Zürcher Zeitung, sein Roman sei doch in »bester amerikanischer Manier erzählt« sei, d.h. plotorientiert, kann Peltzer die literarhistorischen Referenzpunkte seines Erzählprogramms benennen: Freilich würde sein Roman einen Plot bieten, konzediert er dem Fragensteller, aber nicht aus Sicht eines auktorialen Erzählers, sondern gleichsam standpunktlos: »Als ästhetisches Verfahren ist diese im Übrigen genuin moderne Art des Schreibens für mich Ausdruck einer politi-
36 Thomas David: »Über die Gegenwart nachdenken. Michael Kumpfmüller und Ulrich Peltzer im Gespräch über die Aktualität des Politischen in der Literatur«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 26.4.2008.
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schen Haltung.« Mit dieser Haltung bezieht er sich überdies, wie er auf ein Stichwort des Interviewers gleich darauf als zweiten Bezugspunkt bestätigen kann, auf Peter Weiss und dessen Einsicht, dass ästhetische Fragen immer politische Fragen sind. In diesem Sinne gehe es darum, sich vor Beginn des Schreibens »einen Begriff von der Gesellschaft zu verschaffen, in der der Roman situiert sein soll. Das ist natürlich eine analytische und begriffliche Arbeit, die auch künstlerische Folgen hat, aber nicht dazu führen darf, dass ich die Ergebnisse meiner Gesellschaftsanalyse hinterher leitartikelmäßig in meinem Buch wiedergebe.« Damit scheint sich mir insgesamt, wenn das nicht zu dramatisch klingt, ein im vollen Wortsinne schillerndes Porträt ›unseres‹ Autors abzuzeichnen. Anders formuliert: Auf paradoxe Weise steht er zugleich im Zentrum des Diskurses und an dessen Rand, bietet sich einerseits stofflich zur Integration in ›modische‹ Diskurse an und praktiziert andererseits ein ›unmodisches‹ Traditionsverhalten. In dieser Hinsicht mag Peltzer exemplarisch für eine politische Literatur 2.0 sein, die im Gegensatz zur früheren Nonkonformisten weiß, dass es kein absolutes Außen, keinen Standunkt außerhalb des Systems gibt – die aber gleichwohl nicht im System aufgehen wollen. Oder noch einmal anders: Der neue Günter Grass kann und will Peltzer sicher nicht werden. Aber das Zusammenspiel aus ›eigentlichem‹ Werk und werkpolitischen Aktivitäten hat ihn doch mittlerweile in die Position eines anerkannten Seismografen für das gebracht, was er selbst wohl als ›Gegenwärtigkeit‹ bezeichnen würde. Vielleicht lässt sich diese Position am deutlichsten einem Gespräch ablesen, das Peltzer im März 2013 mit der FAZ geführt hat – bzw. dem Vortext zu diesem Gespräch, das unter den Titel Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer? gestellt ist. Denn bevor Peltzer zur Zielrichtung seiner Poetik im Besonderen sowie der »Aufgabe von Literatur« im Allgemeinen befragt wird, betont dieser Vortext unmissverständlich, dass keine Scherze zu erwarten sind, keine leichte Unterhaltung, sondern ernsthafte Konzentration auf das Wesentliche: »Die Schokoladenplätzchen auf dem Tisch des tristen Universitätsbüros, in dem wir uns treffen, rührt Ulrich Peltzer nicht an. Der Romanautor ist auch nicht zum Kaffeekränzchen gekommen, sondern um über die Veränderung der Verhältnisse durch Literatur zu sprechen.«37
37 Jesko Bender: »Im Gespräch: Ulrich Peltzer. Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.3.2011.
Last exit: aesthetics Von Die Sünden der Faulheit zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen C HRISTIAN J ÄGER
Im Frühjahr 1988, fast zwei Jahre vor dem Fall der Mauer und damit dem Ende der Insellage West-Berlins erscheint Ulrich Peltzers Debüt-Roman Die Sünden der Faulheit. Ein eigenartiger Titel mit einem Protagonisten, der den mindestens ebenso eigenartigen Namen Bernhard Lacan trägt. Damit sind wir sofort ins Herz der Finsternis verwiesen: In die katholische Sündenlehre und die nicht minder katholische Reformulierung der Psychoanalyse durch Jacques Lacan, für den das Nein (le non) des Vaters fast ebenso wichtig ist wie andernorts der Name (le nom). Doch zumindest der Titel täuscht auf eigenartige Weise, denn erwartete man in Bezug auf die Faulheit und ihre Sünden auch ein etwas behäbiges Erzähltempo, so sieht man sich hier in den geweckten Erwartungen genarrt: Die Sätze, die die Geschichte fassen, sind kurz und vermeiden die Hypotaxe. Rasche Wechsel von Rede und Widerrede charakterisieren die recht häufig eingestreuten Dialoge. So strömt das Erzählen rasch dahin, mit knappen Anmerkungen werden die Szenarien angerissen, ein paar signifikante Indices hervorgehoben, die für den Eindruck, für eine atmosphärische Skizze reichen müssen: Das Kabel des Telefons schlängelte sich um seine Füße und verschwand im Kühlschrank. Staunend holte er den Apparat, auf dessen Gehäuse mit rotem Filzstift Nummern notiert waren, aus der Kälte. Eine Dose marinierter Heringe stand verloren auf dem oberen Rost. (SF 6)
Ähnlich beschleunigt wie die Schilderung der Örtlichkeiten und ihres Zustandes verläuft die Entwicklung des Plots. Kaum hat man Lacan als prekäre Existenz
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avant la lettre begriffen, als einen freien Mitarbeiter einer Berliner Radiostation mit einem Arbeitsschwerpunkt in populärer Musik, der seiner geschiedenen Frau den Unterhalt nicht zahlt und stattdessen die prospektiven Alimente im Berliner Nachtleben durchbringt, kaum hat man dies erfasst, setzt ein neuer Erzählstrang ein, in dessen Mittelpunkt Florence Blumenfeldt steht, die relativ wohlhabend und der etablierten Galeristenszene der Mauerstadt verbunden ist – hier findet sich denn auch eine explizite Referenz auf die Neoexpressionisten oder die Neuen Wilden, deren lebhafter Malgestus Peltzers Stil inspiriert haben mag – jedenfalls sind beide Ausdruck eines bestimmten 1980er-Jahre-Zeitgeistes. Die dritte Figur, die eingeführt wird, weilt gerade in Amsterdam und wirkt mindestens demi-mondän: Mertens, seines Zeichens halbseidener Händler, der im Rotlichtmilieu verkehrt und in obskure Geschäfte mit den Eltern der Florence Blumenfeldt verstrickt ist. Diese Geschäfte wie auch einige andere Beziehungen zwischen den eingeführten Figuren bleiben klassische Andeutungen, dienen der Etablierung des Geheimnisvollen , bauen suspense im Sinn des Krimiplots auf. Es handelt sich allerdings im Weiteren mehr um ein Spiel mit den Elementen des Genres Kriminalroman als um einen solchen. Dies ist überdeutlich ablesbar am Fehlen eines private eye, eines Detektivs – sei er nun viktorianischer oder amerikanischer Abkunft. An dessen Stelle erscheinen zwei Berliner Streifenpolizisten, die sich beide zur Nachtschicht einteilen lassen, um nicht neben ihren Frauen liegen zu müssen. Immer mehr Schicksale kommen ins Spiel: der Jugendfreund Hartmann, der Kunstsammler und Kriminelle Steenbergen samt seinem Adlatus Belasc, einem ehemaligen österreichischen Preisboxer, der nun kultiviert, als Butler und Leibwächter und Fast-Freund in einer Person, Steenbergen begleitet; Leschek, der Musikredakteur; Irene Rabbia, die liebens- und begehrenswerte Kollegin und alleinerziehende Mutter; die ehemalige Frau Lacans, die immer wieder vergeblich Unterhalt verlangt und von einem kiffenden alt-68er Anwalt vertreten wird; der türkische Imbissbesitzer, ein Raki trinkender Juwelier aus dem Umfeld der Potse (Potsdamer Straße – ein in Berlin bekannter Straßenstrich); asylsuchende Tamilen; drogenaffine Hippies aus dem Osten; ein amerikanisch-italienisches Lebenskünstlerpaar; ein russischer Oberst, der auf alles keine Lust mehr hat, abgesehen von der Übersetzung japanischer Gedichte; Versicherungsagenten, Kriminalbeamte, Kleinganoven, die Prostituierte Ilona, ein Gemischtwarenhändler, Bardamen und Kellner etc. pp. Diese Schicksale sind nur teilweise miteinander verknüpft, und auch nur bedingt mit dem Plot in Verbindung zu bringen. Sie stehen für das, was neben der Geschichte und mit ihr erzählt werden soll: das WestBerlin der 1980er Jahre.
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Geradezu seminaristisch wird dabei Erzählmaterial aus allen Bevölkerungsschichten an die Oberfläche der Buchseite gehoben, wird zumindest anekdotisch verzeichnet als damals schon prekäres Dasein, in dem zwei Sachverhalte, die gemeinhin als zentral gelten, nicht stattfinden: Arbeit im Sinne der industriellen Produktion sowie Politik als Gestaltung eines lebensweltlichen Ordnungsrahmens. Diese Abwesenheit lässt dann den Bereich der kleinen und der kriminellen Geschäfte sowie die kulturelle Produktion übrig: die Orte sind Bars, Cafés und Clubs, sehr gelegentlich Wohnungen, bzw. Interieurs wie das der Akademie der Künste oder des SFB und die Straße – Straße aus dem Auto, aus dem Fenster, aus Passantenperspektive, Berlin als Ort des Passageren, Vorübergehenden. Mühselig sind die Bekanntschaften festzuhalten, eher sind sie zufällig, mit unter geradezu gewalttätig in ihrer Kontingenz und letztlich auch ihrer Konsistenz. Harmonie ist etwas, das ganz weit weg ist, allenfalls buchstäblich in den Soundsplits, den Referenzen an Popsongs auftaucht, die zeilenmäßig in den Text einfallen. Ekliptisch blitzt mal eine Zuneigung auf in Umarmung oder Erinnerung, in Gesten. Zwar ist es zu früh hier eine Zusammenfassung zu geben, doch als vorläufige Hypothese sei formuliert: Peltzer arbeitet hier in der Tradition der klassischen Moderne am Bild der Welt als Bild der Stadt als Erzählung ihrer Geschichten. Die klassische Moderne stellt sich hier nicht als semantische Arbeit dar, die Sprache ist schlicht und schnell, eher ist es die Konstruktion der diversen, sich kreuzenden oder nicht-tangierenden, parallel verlaufenden Erzählstränge, die auf die Moderne verweist. Es sind nicht die Worte, die Polyvozität stiften, sondern es ist die Assemblage der Erzählelemente. Die Tradition der Moderne führt den Anspruch der Totalität von Weltschau und Wiedergabe noch mit sich, weiß aber um die Unmöglichkeit, sie ungebrochen zu erzählen. So auch Peltzer, der am Ende des Textes nochmal so etwas wie eine Bilanz anbietet, buchhalterisch die Summe zieht: Der Gemüsehändler Siebert verschloß seinen Laden, ging in die ›Kant-Quelle‹ an der nächsten Ecke und bestellte Bier und Klaren. Mahmut, der Syrer, räumte Ladenhüter aus, mit denen er sich morgen früh auf den Flohmarkt stellen würde. Der Juwelier des An- und Verkaufs auf der Potsdamer Straße trank, wie jeden Abend, Raki in dem türkischen Imbiß. [...] Oberst Nikolai Koljatow lag auf seinem Bett und träumte. Umberto und May lagen auch auf ihrem Bett und träumten und froren.
46 | C HRISTIAN JÄGER Und wer war da noch: Ilona, Leschek, die beiden Polizisten, Eddie und Assidertürke, dessen Nase in der Ambulanz am Kleistpark geschient worden war, Jan und Keitel und und und. So viele Menschen, so viele Geschichten. (SF 293f.)
Nun ja, so viele Menschen, so viele Geschichten, das ist fraglos eine Rechnung, die aufgeht, die bei damals annähernd zwei Millionen West-Berlinern, schon einiges an Papier und Text mehr erfordert hätte, doch der Roman bricht kurz darauf in der Abflughalle Tegels ab, wenn Lacan sich ohne Gepäck gen Italien aufmacht. Zwischendrin frag man sich immer wieder: Was mag der Titel bedeuten, diese katholische Todsünde, und wieso steht da der Plural? Die Sünde der Faulheit – klare Sache: Faulheit ist eine Sünde. Die Sünden der Faulheit? Aus der Todsünde entstehen weitere? Sündigt denn die Sünde? Hier helfen die kulturwissenschaftlichen Übungen im analogischen Denken weiter oder eben auch gute alte assoziative Philologie; das was mal Hermeneutik hieß und von Schleiermacher bis Gadamer immer auch theologische Mucken hatte. Die Todsünden waren Dämonen zugeordnet; Dämonen, die sie hervorriefen, die die Menschen zur Sünde hinrissen, sie verführten. Der Dämon, der der Faulheit zugeordnet war, trägt den Namen Belphegor. Als einem Literaturliebhaber fällt einem hier natürlich der wunderbare Johann Carl Wezel und sein gleichnamiger Roman aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Das einzig würdige Pendant deutscher Sprache zu Voltaires Candide, wie Arno Schmidt einst kommentierte, eines der ganz großen Bücher des gerechten Welt- und Menschenhasses, unbedingt zu lesen –, aber – Ende der Werbeeinlage – was bedeutet nun diese Figur des Belphegor? In der Theologie der Neuzeit ist der Dämon gleichzusetzen mit Baal, und Baal – das ist seit Georg Heym und Bertolt Brecht der Gott der Stadt und die Stadt war Berlin. Sind die Sünden der Faulheit also die Sünden Berlins?! Stimmt die These, dass Berlin die Chiffre der Welt sei, dann sind es auch die Sünden der Welt. Welche Sünden aber? Die Sünde der acedia, der Faulheit, wird auch mit Trägheit des Herzens übersetzt. Es ist eine Sünde, sich dieser Trägheit zu überlassen, denn der christliche Gott verlangt den aktiven Glauben, die Hinwendung zum Nächsten und die praktische caritas. Und in der Tat macht eine solche Lesart Sinn, denn das Berlin oder die Welt, die in den »Sünden der Faulheit« aufscheint, ist genau von eben diesen gekennzeichnet. Nur wenige der Figuren haben ein von Sympathie getragenes Interesse aneinander, man trinkt, feiert und verkehrt sexuell miteinander, aber darüber hinaus gibt es mehr Gewalt und Abneigung in den Beziehungen, die sich bisweilen körperlich äußern, aber auch strukturell vorhanden sind. Das vorkommende
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Wirtschaftsleben erscheint insgesamt als kriminell und mehr eine Frage der Größenverhältnisse als eine der Moral. Aber wie einst Ernst Reuter formulierte ›Völker der Welt schaut auf diese Stadt‹: »In Berlin trank jeder oder nahm Drogen. Wer es nicht tat, war schon tot oder lebte nicht mehr hier. Kadaverstadt. Man mußte sich rechtzeitig entscheiden.« (SF 183) Diese Sätze wurden Peltzer in einer zeitgenössischen Kritik als Klischee angekreidet, doch für eine bestimmte Szene, oder eben die Szene, stimmte das durchaus. Kaum ein Klischee, das nicht auf einer Praxis ruht; mag sogar sein, dass die Praxis ihrerseits auf klischeehaften Vorstellungen gründet. Doch für die Szene der 1980er stellte sich die Frage nach Authentizität oder Originalität ja auch nicht, viel eher verbot sie sich. Angesagt war die Kunst des Zitats und wenn Hymnen angestimmt wurden, dann solche der Artifizialität. Zumindest zwei der Orte, an denen die Selbstinszenierung in hoher Blüte stand, lassen sich auch in Peltzers Roman recht problemlos identifizieren: Der Dschungel, ein Tanzclub in der Nürnberger Straße, und das alte Café Einstein, im Text nur oberflächlich verschlüsselt als Amazonas und Oppenheimer. Neben diesen Leuchttürmen der West-Berliner Boheme gibt es noch einige andere hotspots, an denen sich die Szenegänger immer wieder einstellten. Die Berliner Szeneexistenz zwischen Kultur und Akademie nahm Drogen einerseits aus antibürgerlicher Haltung, andererseits als Kompensation der Perspektivlosigkeit in ihrer politischen Apathie; man war in der Ironie angekommen und im Zynismus steckengeblieben. Erträglich war Berlin, weil man dabei nicht allein war, wie in irgendwelchen anderen vermeintlichen Großstädten, sondern jeden Abend irgendwo bis zu Besinnungslosigkeit gefeiert werden konnte. Und jede der fünf Nächte, die Peltzer erzählt, endet für irgendjemanden, wenn nicht den Protagonisten, im Rausch. Und die Party stand nicht für Belohnung oder die Feier des Gegebenen oder dergleichen, sondern für Abkehr. Die damalige ClubKultur stand klar für die Absage an die Realität, die auch so war wie ein Klischee: Der Bahnhof Zoologischer Garten war der häßlichste und trostloseste Bahnhof Westeuropas. Schäbige verdreckte weißlichgelbe Kacheln pflasterten seinen Boden und seine Wände, und auf allen Pfeilern, Fenstern, Tafeln und Schildern klebte fester Staub, der nach dem Willen der Reichsbahnverwaltung dort bleiben sollte bis ans Ende aller Tage. Die Wirklichkeit war brutaler, als die Kritik der Semantik an Klischees ahnt: Frierende bleiche Fixer warteten in den Ecken und Nischen der Halle auf Freier, Asylanten aus Afrika lagerten auf ihren Kisten und Koffern, Kleinkriminelle mit falschen Goldkettchen und protzigen Ringen lungerten in der Stehbierkneipe, Stadtstreicher trieben verschorft und stinkend
48 | C HRISTIAN JÄGER zwischen den Reisenden, die so schnell wie möglich zu ihrem Bahnsteig eine Etage höher eilten. […] Ein Mann kreuzte die Fahrbahn und pirschte sich an den Müllkorb, der an einem Lichtmast hing. Lacan wollte seinen Augen nicht trauen, als er die von Lappen umwickelten Schuhe sah, die wie zwei Klumpen an der Hose hingen. Der Mann, der vielleicht in Lacans Alter war, stocherte in den Abfällen. Er öffnete eine Styroporschachtel mit den Resten eines Hamburgers, roch an dem Sesambrötchen und dem Hackfleisch, und dann aß er das Zeug aus der Verpackung wie ein Hund aus der Schüssel. Lacan wurde übel. (SF 255-257)
Eine panoramatische Szene und eine Detailszene, die beide genug Signifikanz besitzen, das West-Berlin jener Jahre in seiner Schäbigkeit zu charakterisieren. Heute kann man immerhin sagen, dass der Bahnhof Zoo schicker geworden ist. Hier ist die angesprochene strukturelle Gewalt konkret wahrnehmbar. Und Peltzer scheut sich auch nicht, an anderer Stelle auszusprechen, worauf diese Gewalt beruht: »Auf dem Europacenter drehte sich träge der Mercedesstern. Wenn er nachts blau über die Stadt strahlte, waren alle Zweifel ausgeräumt, wem die Welt gehörte.« (SF 82) Auch hier noch die Kunst des Zitats oder der Allusion, die Referenz auf Brecht, auf den Untertitel von Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? Und was sich bei Brecht als anklagende und aufrührerische Frage formulieren ließ; ist nun schon beantwortet. Mit dem Berlin der 1980er hat sich zugleich der Autor von den Kategorien des Marxismus verabschiedet, nur noch Rudimente tauchen auf, doch lässt sich die Stadt offenbar nicht anders beschreiben als durch einen seinem Wesen nach kriminellen Kapitalismus bestimmt. Die Gewalt zwischen den Menschen entspringt der Gewalttätigkeit ihrer Verhältnisse; dass es dagegen keine Widerstände (mehr) gibt, gehört nach Lektüre des Textes fraglos zu den Sünden der Faulheit, zur Trägheit des Herzens, was aber, um nun diese Beobachtungen zu schließen, ein Argument katholischer Theologie ist. Mit dem Verlust oder der Preisgabe der Kategorien des Marxismus bleibt dann nur noch dieser vage, moralisch-appellative Grund. Wobei klar zu sagen ist, dass er als vergleichsweise Rettendes und zugleich Zu-Rettendes erscheint, eine seltene Preziose in jener Zeit, in der dem Gedanken der subversiven Affirmation das Subversive abhanden kam. Die moralische Haltung verbindet sich dabei mit einer emphatischen Haltung zur Literatur, die an Stelle der Theorie den möglichen Bodensatz einer umfassenden Weltschau zu artikulieren vermag. Versprach die Literatur zum Ende der 1980er, fast zehn Jahre nach dem von Lyotard ausgerufenen Absterben der grands recits, der Meistererzählungen der Ideologien, die dadurch entstandene Leerstelle zu füllen, so macht sich fast ein Vierteljahrhundert später Ulrich Peltzer daran, nun die Theorie zur Literatur zu
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liefern. Allerdings verrät schon der Titel seiner Frankfurter Poetik-Vorlesungen das Unbehagen am System: Angefangen wird mittendrin. Dem Germanisten wird bei Lektüre dieser Vorlesungen erst einmal unbehaglich: Da ist keine Rede von den kanonischen Größen der deutschsprachigen Literatur, sagen wir mal Schiller, Goethe, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Elfriede Jelinek, und auch die weniger kanonischen, sagen wir mal Wieland, Gutzkow, Ludwig Winder, Albert Thelen und Irmtraud Morgner kommen nicht vor. Stattdessen aber die big names des anglophonen Raums: prominent als Einstieg Joyce und vor allem Finnegans Wake, des Weiteren Daniel Defoe, Mark Twain, William Gaddis, vom Rande her gern eingespielt Poe und Melville. Verwunderlich ist allemal, dass wir mit diesen Autoren mindestens drei Klassiker des Jugendbuchs versammelt haben: Robinson Crusoe, Huckleberry Finn und Tom Sawyer sowie Moby Dick. Was macht ein Autor, der zu dem Zeitpunkt schon fast alle möglichen Literaturpreise, die den ästhetischen Wert von Texten honorieren, erhalten hat, mit diesem eigenartigen Sammelsurium aus UltraKunst wie dem Grenzstein Finnegans Wake, weiter kann Sprache nicht ineinander geschrieben werden , und Kindererbauungstexten wie dem Robinson? Nun ist Robinson aber nicht zufällig ein solcher als pädagogisch wertvoll erachteter Text geworden, schon wenige Jahrzehnte nach seinem Entstehen gilt Robinsons Schicksal als Modell der Subjektivierung und wird noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als solches von Theoretikern diskutiert. Moby Dick war das Buch, das die RAF wahrscheinlich mehr prägte als Marxens Manifest. Doch Huckleberry Finn? Was sagen die Vorlesungen selbst dazu? Huckleberry Finn heißt der Junge, der nicht dazugehören will, der wieder aufbricht in dem Moment, als sich in seiner Fabel die Dinge scheinbar zum besten gewendet haben und ihm noch einmal die Chance geboten wird, die Peripherie der Gesellschaft, seinen Status als Außenseiter, zu verlassen. Doch was tut er? Er pfeift drauf, und wir, wir pfeifen fröhlich mit ihm mit, beglückt von so viel Mut zum Leben, zur Bewegung, zum Sein als freier Mensch. (AM 68f.)
Mit Mark Twain geht es also um Freiheit und Fluchtlinien, die diese Jugendlichen ziehen. Bei Deleuze gibt es mehrfach lange Abschnitte zur Konstruktivität von Fluchtlinien, von der Flucht nicht als Eskapismus oder Defätismus, vielmehr Flucht als Entwurf von etwas anderem, Aufreißen einer scheinbar ausweglosen Konstellation, als qualitativer Sprung einer nicht-deterministischen Dialektik. In diesen Horizont gehört das Stromern der beiden Jungs vom Mississippi, darin steckt die Flucht vor dem Familialen, vor der Religion und vor dem Rassismus. Und damit sind wir schon bei einem Kern der Poetik-Vorlesungen ange-
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kommen: Es geht nicht so sehr darum, wie man schreibt, sondern zuallererst warum. Peltzer schlägt zwei Kernbegriffe vor: das Reale und die Peripherie, die Begriffe verstanden als Ränder eines anderen Begriffspaares, nämlich Code und Territorium. Man ahnt, dass sich darin Macht und Herrschaftsbeziehungen aussprechen, dass das Reale nicht als das Unfassbare des Lacanschen Realen, sondern eher als ein Blickpunkt, der die Wirklichkeit in bestimmter Weise erscheinen lässt, zu fassen ist. Die Peripherie wäre dabei der Raum, der als ein Ort der Differenz zur majoritären Segmentierung den Freiraum bietet, das Reale erscheinen zu lassen, es ist der Ort des Anderen oder Utopischen im Wirklichen, dort wo der Bloch’ sche Vor-Schein konkret vorscheint. Es wird zusehends deutlicher, dass es mit der Peltzer’schen Poetik doch eher um Politik geht: Obwohl große Romane nichts beweisen wollen und ihre Autoren sie nicht schreiben als Beweis für irgendwas, führen uns die Adventures of Huckleberry Finn geradezu exemplarisch vor Augen, wie die traurigen Affekte und die despotische Ordnung sich verschränken und bedingen, um nicht zu sagen, aufeinander angewiesen sind, das Mikro- und das Makropolitische, mit dem seltsamen, aber allzu häufig zu beobachtenden Resultat ›dass sie (die Beherrschten) für ihr Knechtschaft kämpfen, als handele es sich um ihr Heil‹. (Spinoza) Als ob die Niedertracht der Tyrannen, ›die Verdunklung der Welt‹, sich fortsetzen und verstärken würde, in der Schäbigkeit des Umgangs der sogenannten kleinen Leute mit sich selbst und denen, die noch schwächer sind, gefügige Vollstrecker der Macht bis ins letzte Glied. (AM 119f.)
Große Romane wollen vielleicht nichts beweisen, und ihre Autoren schreiben sie möglicherweise auch nicht aus diesem Grunde, die Quintessenz aber ist: sie tun es. Große Romane belegen in jedem Fall etwas, sie markieren, wo etwas fehlt, entweder im Vorgriff auf Künftiges oder als Ausweis dessen, woran es mangelt, und beides geht in der Regel Hand in Hand. Nicht immer ist das Theorem zur Hand; nicht immer liegt das theoretische Hilfsarsenal bereit, mit dem auf den Begriff zu bringen wäre, was in literarischer Konkretion der Abstraktion harrt, bisweilen – und dafür wäre Literaturwissenschaft dann tatsächlich gut – muss noch theoretisch-kategorial erarbeitet werden, was in der Literatur drängt, was sie überhaupt in den Text gedrängt hat. Beispiel wäre Deleuze/Guattaris Buch zu Kafka: eine theoretische Maschinerie, ein Diagramm dessen, was in den Texten vorbegrifflich umgeht. Peltzer hat sich selbst auf die Suche begeben, mit seinen Poetikvorlesungen liefert er das Verworfene ein Stück weit nach. Entlassen aus den Fraktionierungen der End-
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siebziger Jahre gilt es in den zehner Jahren des 21. Jahrhunderts offenbar zurückzufinden zum Begrifflichen; die Literatur ist dann doch nicht mehr der Gegenentwurf zur Theorie, sondern als Nicht-Philosophie das nukleare Moment des Philosophierens, Energie und Nukleus von Theoriebildung, die gar nicht anders kann, als sich zugleich auf vorgängige Theorie zu beziehen, die ja die Literatur selbst mitgeformt hat, insofern die Peripherie ein selbst ideologischer oder theoretischer Ort ist, der sich einer gewissen Abstinenz verdankt. Einer Apartheit, die der Kunst im Ganzen eignet, da ihr Wert nicht in der Warenförmigkeit aufgeht, sondern immer ein Stück Autonomie mit transportiert wird. In dieser Hinsicht steht literarische Produktion, die sich ihrer Verwertbarkeit als unmittelbarer entzieht, immer schon an einem Rand. Ob wir uns nun die Gesellschaft als Scheibe, Kugel oder Cloud oder Dogon-Ei denken, macht nicht wirklich einen Unterschied dafür, dass die Ränder nicht gleich sind, es geht hier wie bei Peltzer um eine genauere Bestimmung des Peripheren. Eine Peripherie, die sich in Sprache fasst und die Sprache erfasst: Lesarten einer Geschichte, deren Wahrheit sich in Wahrheiten verliert, sich aufsplittert in Möglichkeiten und Varianten, die sich an den Ton, an die Rede- und Denkweise dessen anschmiegen, der das Wort hat; und so die Sprache selbst in Bewegung versetzen., sie in zahlreiche Richtungen fliehen lassen, den Grenzen des Sagbaren zu. Als würde die Flucht vor erstickenden Konventionen, vor dem Zeichenregime einer dominanten Zentralmacht (Kolonial- oder Parteidiktatur, in anderer zeitgenössischer Form aber auch das Gebot eines betäubenden Konsumismus: Kauf dir dein Glück, oder sei zumindest glücklich beim Kaufen), als würde diese Flucht zugleich eine Flucht der Sprache erzeugen, sie ihrer Peripherie zutreiben in eine – berückende – Fremdheit hinein, die man nie verwechseln sollte (nie, nie, nie) mit Unalltäglichem, mit exotischen Ausdrücken, Manierismen oder Gestammel – einem Willen zum Effekt. Viele eher handelt es sich um eine Fremdsprache, die nicht die Sprache eines anderen Landes, einer weit entfernten Region, sondern eine noch unbekannte in der eigenen ist, eine Sprache syntaktischer Abwege und Torsionen, die stets aufs neue geschaffen werden (geschaffen werden müssen), um das Leben in den Dingen sichtbar zu machen. Eine minoritäre Sprache jenseits jeden territorialen Codes, jenseits herrschender Bedeutungen und Aussagevorschriften, durch die allein wir etwas über das Außen ihrer selbst erfahren. (AM 132f.)
So ganz kann man sich damit nicht zufrieden geben: Warum soll die Literatur das Leben in den Dingen sichtbar machen? Wieso soll uns das Minoritäre in das Außen territorialer Codes führen? Warum nicht in der schönen, immer neuen Welt des Konsums verharren? Wieso kann egalitäre Geschwisterlichkeit ein Ideal sein? So recht geben die Vorlesungen keine Antwort darauf. Müssen sie viel-
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leicht auch nicht, denn wie mal jemand sagte: Moral versteht sich von selbst oder eben gar nicht. Nun lässt sich Moral in der Tat nicht sinnvoll begründen, sie hängt immer an einer Entscheidung zu ihr, wenn wir sie nicht als eine Art Affektion begreifen wollen. Aber vielleicht ist das Anfangen mittendrin auch das Projekt der Theorie, die sich nicht vereindeutigen will, auf die theoretischen Bezugspunkte, die Deleuze und Guattari, die hier vorausgingen, klar markierten: eine sozialistische Begrifflichkeit, Marxist bleiben, ohne orthodox zu sein, den Kapitalismus abschaffen … Louis Althusser lehrte, dass der Marxismus ein theoretischer AntiHumanismus sei und dass das gut wäre. Der Vorteil ist: man entkommt der Moral. Der Marxismus wird dann zu einer Ideologie, in der sich ganz schlicht die Verhältnisse zum Wohle aller leben, was auf eine bestimmte Art und Weise eben funktionaler ist, als was wir jetzt erleben, aber uns wird nichts anderes übrig bleiben, als den Titel Peltzers ernst zu nehmen, wenn wir diese Funktionalität einsetzen möchten: Angefangen wird mittendrin!
»Der Mensch als Fluss seiner Sprache« Ulrich Peltzer und James Joyce M AREN J ÄGER
Der Einfluss von James Joyce auf die deutsche Prosaliteratur ist ein weites Feld, das – für die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg – einigermaßen zuverlässig kartographiert worden ist: Döblin, Jahnn, Musil, Broch; auch Joyces Wirkung auf Erzähler der Nachkriegsgeneration – von Koeppen über Arno Schmidt und Johnson bis zu Hildesheimer – steht außer Frage. Ist Joyce damit als Impulsgeber und Schreibmotor erledigt, seine Wirkung passé? Wird er von deutschsprachigen Erzählern überhaupt noch gelesen? Oder gar: produktiv rezipiert? Oder sind die Innovationen von Ulysses und Finnegans Wake mittlerweile Standard, Techniken, die – das Markenzeichen des Autors verblasst – Eingang in das Handwerkszeug gefunden haben, dessen sich der Romancier des 21. Jahrhunderts selbstverständlich bedient? Ulrich Peltzer ist sicher kein verallgemeinerbarer, sondern ein extraordinärer Fall; er ist enorm belesen, wobei das Spektrum weit über die deutsche Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts hinausreicht, in angloamerikanische Erzähltraditionen ebenso wie in die französische Philosophie, besonders des Poststrukturalismus. Zudem ist er ein hochreflektierter Erzähler, der keine anxiety of influence kennt – und niemals vergisst oder verheimlicht, wer seine geistigen Väter sind. Als ihm aufgetragen wird, die Frankfurter Poetikvorlesung zu halten, beginnt er die fünf Vorlesungen am 11. Januar 2011 unter der Überschrift »Die Dinge, der Alltag« mit einer emphatischen Würdigung. Später wird es noch um Nietzsche, Poe, Stendhal, Benjamin und Gaddis, dann um Defoe, Twain und Kafka gehen, um Deleuze und Guattari – aber angefangen wird mit James Joyce. Das Bindeglied zwischen seinen eigenen Überlegungen über das Anfangen, den initialen, produktiven Augenblick und Joyces Œuvre ist Giambattista Vico. Peltzer zitiert: »Ich scheine mir der gleiche zu bleiben; aber im dauernden Auf und Ab der Dinge, die in mich eingehen und mich verlassen, bin ich in jedem
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Zeit-Moment ein anderer.«1 Damit ist ein Kernproblem Peltzerschen Erzählens benannt: die Fragwürdigkeit und Instabilität des dezentrierten Subjekts, die Kontingenz des menschlichen Daseins. Vicos Einsicht in die Historizität allen Wissens, seine etymologisch-konjekturale Methode und vor allem seine Idee einer »sapienza poetica«, der Metaphorizität allen Sprachgebrauchs – Vicos Scienza Nuova war für Joyce eine immense Inspirationsquelle. Finnegans Wake ist ein Buch, das sich wie kein anderes auf Vico und seinen Masterplan bezieht; hinsichtlich Struktur und Mutmaßung, ein Ausdruck […] trage beharrlich eine komplette Sprach- und Sinngeschichte mit sich, die in ihrer schier unendlichen Bezüglichkeit aufgedeckt werden könne – wozu im konkreten Fall die Mittel phonetischer Verdichtung, Verschiebung und Schachtelung herangezogen werden, über die ein Titan, ein Riese, auf dessen Schultern wir stehen und rumbalancieren, vollkommen lässig zu verfügen scheint. Denn einen Titanen braucht es dazu, keine Frage, und der, von dem hier die Rede ist, heißt Joyce, und der Roman natürlich Finnegans Wake. (AM 15).
Diese geistige Sprache erscheint Peltzer an Vico besonders bemerkenswert: »Sprachen in Sprachen, die sich über die Zeiten schichten, einander durchdringen, Geschichten erzählen, […] von so elementarer wie beziehungsreicher Semantik, die man, sofern man will, nur lernen muss zu lesen.« (AM 13f.) »[L]ernen muss zu lesen« – das ist das Stichwort, mit dem Joyce invoziert wird, genauer: der berühmte erste Satz aus Finnegans Wake: »riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs.«2 (AM 14) Peltzer hält in seiner ersten Frankfurter Vorlesung ein flammendes Plädoyer fürs Lesenlernen an und mit Joyce. Er will Berührungsängste abbauen – gegenüber einem Roman, den »man weitaus einfacher, als es das notorische Gerücht will, lesen
1
Zit. n. AM 10. Das Zitat stammt aus dem Liber metaphysicus, dem ersten (und einzigen vollendeten) Buch der Schrift De antiquissima Italorum sapientia (Kap. IV.4). Vgl. Giambattista Vico: Liber metaphysicus (De antiquissima Italorum sapientia liber primus) 1710. Risposte 1711/1712. Aus dem Lateinischen und Italienischen ins Deutsche übertragen von Stephan Otto und Helmut Viechtbauer. Mit einer Einleitung von Stephan Otto, München 1979, S. 92: »Idem ipse mihi videor; sed perenni accessu et decessu rerum, quae me intrant, a me exeunt, quoquo temporis momento sum alius.«
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James Joyce: Finnegans Wake. With an introduction by Seamus Deane, London 1992, S. 3.
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(oder entziffern) lernen kann, wenn man sich mit der nötigen Neugier und dem nötigen Spaß auf seine Voraussetzungen einlässt.« (AM 15)3 Aber diese Ausführungen – so glänzend und emphatisch sie auch vorgetragen sind – sind doch nur die Ouvertüre zur Besprechung des Ulysses, eingeleitet durch Überlegungen zu den Protagonisten in Finnegans Wake: »Eine Familie aus Dublin als universelle Everybodies, im fortwährenden ›riverrun‹ menschlicher Existenz, von Adam und Eva bis heute.« (AM 18) Und diesen Jedermännern galt »Joyce’ Interesse von Anfang an«, von den Dubliners, über das Porträt des Künstlers als junger Mann zum Ulysses, einem Buch, das […] die Ebene der Individuation nie verlässt, nichts ähnlich Überpersönliches wie das spätere Werk im Blick hatte. Sondern das in seinen Techniken […] entschieden funktional bleibt, das heißt, diese verblüffend neuartigen Techniken noch rückbindet an die traditionell chronologische Romanform mit eigentlich immer identifizierbarem Personal, um, [so] Klaus Reichert, »eine komplette Darstellung mehr oder minder alltäglicher Figuren zu erreichen.« (AM 18)
Joyce hat im Ulysses radikal wie kein Romanschriftsteller vor ihm die formalen und stilistischen Konsequenzen aus der in der Moderne maßgeblichen Frage nach der Abbildbarkeit der Welt gezogen, ohne dabei den Anspruch epischer Totalität aufzugeben. Peltzer lenkt damit seinen Vortrag nicht nur auf den Ulysses hin, sondern zugleich auf eines der Schlüsselthemen seines eigenen Werks: Das ist von jetzt an das Thema, Darstellung oder Untersuchung des Alltagslebens in der modernen Welt, die Gleichzeitigkeit sehr verschiedener Dinge, »die in mich eingehen und mich verlassen«, die ich wahrnehme und umforme, genau, wie sie das mit mir tun – sei es an einem 11. Januar 2011, sei es am 16. Juni 1904. (AM 19)
Oder an einem Novembertag im Westberlin der 80er Jahre, mag man ergänzen, denn Peltzer fährt fort: »Wir könnten jedes beliebige Datum wählen, jede belie-
3
Peltzer stellt hier seine Joyce-Lesekompetenz unter Beweis. Wie gut er sich mit dem Ulysses auskennt, beweisen seine Erläuterungen zu plot und Protagonisten des Romans ebenso wie die extemporierten Exkurse zu C. G. Jungs humorloser Kritik am Ulysses und Joyces humorvoller Reaktion (vgl. AM 17), der Hinweis auf die Annotations to Finnegans Wake von McHugh (vgl. ebd.), ferner auf Stanislaus Joyces Biographie My Brother’s Keeper oder Burgess’ Here Comes Everybody (vgl. AM 27). Und er ist selbstredend auch zur Eccles Street Nr. 7 gepilgert (vgl. AM 25).
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bige Stadt – Stadt bzw. Großstadt als privilegierter Erfahrungsraum der Moderne – und würden doch zu verwandten Ergebnissen kommen […].« (AM 19) Um es vorwegzunehmen: Am deutlichsten sind Joyces Spuren in Peltzers vermutlich radikalstem, komplexestem und auf heroische Weise unzeitgemäßem Roman Stefan Martinez. Unzeitgemäß mutet allein schon die Monumentalität an. Der knapp 600-seitige Roman, mit dem Peltzer eine Art zweites Debüt vorlegte, erschien 1995 im Ammann Verlag, ganze acht Jahre nach dem flotten (laut Peltzer »in einem merkwürdigen Trotz […] gegen jede Form der Innerlichkeit« geschriebenen4) Roman Die Sünden der Faulheit (1987) – ungefähr die Zeitspanne, die Joyce für die Niederschrift des Ulysses benötigte, den er 1914 begann und 1922 beendete. Der Mut, das Risiko, der Aufwand an Kraft, Zeit und Geld – davon bekommt man eine Ahnung, wenn man Ulrich Peltzer in der Mainzer Poetikvorlesung vom 10. Februar 2012 hört: Jedenfalls war ich aber so blank und so zermürbt von dem Buch, dass ich dachte, ich brauch jetzt mal Geld, Schluss mit dem Muff. […] Ich war 1995 wasted and wounded, it ain’t what the moon did, it was what the book did, wirklich ripped, ich war so blank, dass ich nicht mehr zum Friseur gegangen bin.5
Nun soll hier nicht versucht werden, die erste Frankfurter Poetikvorlesung als ein um 15 Jahre verspätetes poetologisches Programm zu lesen, das Peltzer Stefan Martinez nachgeliefert, gewissermaßen hinterhergeschrieben hätte. Nichtsdestoweniger verdichten sich hier produktionsästhetische Anliegen, die ihn fortwährend, d. h. schon bei der Konzeption und Niederschrift seines zweiten Romans (und gewiss auch noch bei Konzeption und Niederschrift seines jüngsten) beschäftigt haben. Peltzer klopft den Vorgänger auf das hin ab, was sich für eigene erzählerische Bedürfnisse produktiv machen lässt, er liest Joyce ›funktional‹.6 Rückgekoppelt an eigene Darstellungsinteressen sind auch die Innovatio-
4
Vgl. Ulrich Peltzer: »Anfänge«, in: Neue Rundschau (2012) H. 3, S. 248-266, hier S. 257f.: »Der zweite Roman hat auch Westberlin zum Gegenstand, hatte allerdings eine völlig andere Anlage als der erste. Die Sünden der Faulheit war extrem geplottet, hat die Struktur eines Kriminalromans und war in einem merkwürdigen Trotz […] gegen die damals vorherrschende Suhrkamp-Kultur geschrieben, wo gerne in der edition suhrkamp, ich würde das Innerlichkeits-Kurzprosa nennen, auftauchte.«
5
Peltzer: »Anfänge«, S. 260. Er zitiert hier Tom Waits’ Tom Traubert’s Blues.
6
Im Mainzer Vortrag zitiert Peltzer programmatisch aus Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997, S. 40: »Findet Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht
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nen des Ulysses, denen Peltzer sich im Folgenden widmet, während er dem Frankfurter Publikum nebenbei den Ulysses erzählt: Die Enthierarchisierung von Ereignissen bzw. Gleichrangigkeit von »Staatsaktionen neben Kalamitäten« (AM 24), von scheinbar banalem, trivialem (und damit: exemplarischem) oder explizitem Detail, von der Zeitungslektüre auf der Toilette, dem Onanieren (ob voyeuristisch am Strand Dublins oder in einem Berliner Pornokino), und großer, z. T. katastrophischer Geschichte, der Verzicht auf Helden und einen plot, mithin auf die genrespezifische Finalität und jede Vorstellung von epischem telos. Die radikale Subjektivierung bzw. Rückbindung der narrativen Vermittlung des ›Außen‹ (und des ›Innen‹) an ein Ich, monoperspektivisch und oft fragmentarisch, achronologisch und lückenhaft, also eine Dezentr(alis)ierung des Erzählens (AM 24). Die Figuren sind ihre Sprache, sie präsentieren sich dem Leser (bewusstseins)unmittelbar; und in Peltzers Worten klingt das so: Der Mensch als Fluss seiner Sprache, das Subjekt montiert aus Redeweisen und jenen […] Worten und Sätzen, die zu gegebener Zeit in einem Kopf herumrauschen und sein konkretes Dasein veranschaulichen, es sozusagen lesbar machen durch dieses Material hindurch – das kommt uns heute selbstverständlich vor, war es aber keineswegs in den zwanziger Jahren […]. (AM 31)
Und damit verbunden: die Polyphonie der Sprachschichten, die berauschende »Vielfalt der Sprachen« (AM 31), ihre Montage zu einem »buntscheckigen Kosmos«, zum »sprachlichen Reichtum zwischen high und low […], der unser ganzes Leben ist.« (AM 25). Die zeitliche Intensivierung: Indem in immenser Detailfülle, die man Hyperrealismus nennen mag, erzählt wird, »was am 16. Juni los gewesen ist« (AM 24), erzählt Joyce »[d]as Leben an einem Tag. ›In‹ einem Tag.« (AM 25), mittels einer Reduktion der dargestellten Welt von einer extensiven zugunsten einer intensiven. Die Totalität der Weltdarstellung erwächst paradoxerweise gerade aus dem Ausschnitthaften.7
mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches sondern eine neue Art zu lesen. In einem Buch gibt es nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Nichts zu interpretieren und zu bedeuten, aber viel, womit man experimentieren kann. Ein Buch muss mit etwas anderem Maschine machen. Es muss ein kleines Werkzeug für ein Außen sein.« (Peltzer: »Anfänge«, S. 256). 7
Vgl. Maren Jäger: Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945, Tübingen 2009 (Studien zur deutschen Literatur; 189), S. 438.
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Die Revolution des Romans, die vom Ulysses ausging, den »unerhörte[n] Bruch mit den damals verbindlichen Regularien der Romanform« (AM 29) sieht Peltzer in der Vielgestaltigkeit der Textform, die mal ein Zeitungslayout ist, mal die Gestalt eines Groschenromans annimmt, mal die Entwicklungsstufen der englischen Sprachgeschichte abschreitet (vgl. AM 29). Die »moderne[ ] metropolitane Odyssee« im Ulysses ist, so Peltzer, »zugleich eine Odyssee der Formen« (AM 31). Er teilt Joyces Faszination für Grenzüberschreitungen bzw. Transgressionen – zwischen Textsorten wie zwischen den Künsten. Das flexible Medium des Romans wird im Ulysses bis zum Äußersten strapaziert und alle Leseerwartungen gründlich zerschlagen. ›Extremleser gesucht‹: Die gleichzeitige Brüskierung und Emanzipation des Rezipienten birgt Potentiale, die vor Peltzer auch Autoren wie Uwe Johnson erkannt und genutzt haben. Ihre Mission ist eine aufklärerische, und dazu wird die Mitarbeit des Lesers eingefordert, oder in den Wortes William Gaddis’: »a collaboration between the reader and what is on the pages«8 (AM 32). Peltzer plädiert am Ende dieser ersten Vorlesung für ein kritisches und erweitertes Traditionsbewusstsein: »Zu wissen, auf welchem Fundament man dabei steht, bei dem Versuch, die Wirklichkeit neuerlich zu erzählen, sollte klar sein.« (AM 34 f.) Er hält es mit Brecht: »Wer die Tradition nicht beherrscht, fällt hinter sie zurück«, weist aber zugleich auf die Erfordernisse einer als zunehmend komplex und diffus empfundenen Gegenwart hin. Jeder Schriftsteller muss wissen, was »als Tradition nicht zu leugnen ist […] und doch beiseitegeräumt werden muss, um für das ›dauernde Auf und Ab der Dinge‹, ein mittlerweile rasend oszillierendes ›Auf und Ab‹, einen Ausdruck zu finden.« (AM 35) Halten wir fest: Geht es Peltzer um das Erzählen von Geschichten, so geht es ihm um das Erzählen von Welt, der Dinge, des Alltags, gebrochen im Affekt des immer changierenden, sich – im ›ewigen Auf und Ab der Dinge‹ – immer neu konstituierenden Subjekts. Mit der Entscheidung, den Namen des Protagonisten als Romantitel zu wählen, stellt Peltzer sich in die Tradition des Bildungsromans von Anton Reiser über Wilhelm Meister bis zum Grünen Heinrich; natürlich lässt der Vorname
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William Gaddis: »The Art of Fiction No. 101«, in: The Paris Review 105 (Winter 1987); http://www.theparisreview.org/interviews/2577/the-art-of-fiction-no-101-willi am-gaddis vom 25.1.2014. Gaddis spricht hier von seinem Roman JR: »It is the notion that the reader is brought in almost as a collaborator in creating the picture that emerges of the characters, of the situation, of what they look like – everything. So this authorial absence, which everyone from Flaubert to Barthes talks about, is the sense that the book is a collaboration between the reader and what is on the pages.«
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Stefan auch an den Protagonisten des Ulysses und des Portrait Stephen Dedalus/Daedalus denken, aber zugleich signalisiert Peltzer, dass es ihm darum geht, die (exemplarische) Geschichte eines Menschen zu erzählen – nicht im Sinne der Selbstfindung des bürgerlichen Subjekts innerhalb einer Gesellschaft als telos, das Kontingenz per se ausschließt, sondern unter dem Vorzeichen des in der Postmoderne zum Topos gewordenen Verschwindens des Subjekts: Es ist die Geschichte eines damals Mitt-/Endzwanzigers, der Mathematiker ist und es ist so etwas wie ein […] Entwicklungs- oder ein Anti-Entwicklungsroman. Wobei man, wenn man ein Leben schildert, vor der Frage steht, ob das eigentlich genug Homogenität hat. Gibt es genug Kohärenz? Gibt es genug Kontinuität […]? Insbesondere wenn man sich weigert, lineare Abläufe, Kontinuität herzustellen.9
Stefan Martinez ist – wie Joyces Protagonisten – Held und Antiheld zugleich; er verfügt zwar über einen Namen, eine Biographie und mehr Individualität als manche Romanfigur des 20. Jahrhunderts, aber zugleich ist er »Platzhalter, der Name eines Wahrnehmungsschauplatzes, an dem der Autor seine Alltagsbeobachtungen, Raisonnements […] niederlegt«;10 und mit den geschärften Sinnen und der Reflexionsgabe eines Stephen Dedalus schickt Peltzer den Mathematiker Stefan wie Leopold Bloom auf eine moderne Odyssee durch eine Metropole, die plötzlich nur noch eine halbe ist, weil der Einbruch »von Geschichte in Großbuchstaben«11 dem Autor ein Schnippchen schlägt. Dem Roman vorangestellt ist das Motto, das im Auftakt der Frankfurter Poetikvorlesung wiederkehren soll: »Ich scheine mir der gleiche zu bleiben; aber im dauernden Auf und Ab der Dinge, die in mich eingehen und mich verlassen, bin ich in jedem Zeit-Moment ein anderer.« Vico. Wie ein Echo klingt das Motto durch den Roman. So lässt Peltzer seinen ›Helden‹ denken: »Wenn ich mir selbst auch immer als dergleiche erscheine, kommt es mir zugleich so vor, beständig ein anderer zu sein; der Zeit, die ich bin, ganz fremd gegenüberzustehen, irgendwie asynchron, als gäbe es zwei Laufwerke.« (SM 529) Dem Dilemma, »weder Chronologie noch einen (semantischen) Ort mehr zu besitzen« (SM 537), weiß Stefan zuletzt, ist nur schreibend beizukommen. Als er dieses Gefühl der ›Besinnungslosigkeit‹ seinem Freund Edmund anvertraut, rät der ihm,
9
Peltzer: »Anfänge«, S. 259.
10 Bruno Preisendoerfer: »Das warʼs dann wohl. Ulrich Peltzers zweiter Roman Stefan Martinez«, in: Die Zeit 11 (1996); http://www.zeit.de/1996/11/Das_war's_dann_wohl vom 25.1.2014. 11 Peltzer: »Anfänge«, S. 258.
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»schwarz auf weiß auf Papier alles zu notieren […] Alles zu bewahren / das vergangene Jahr / zukünftig / gestern und heute […].« (SM 529) Genauigkeit und radikale Subjektivierung sind die zentralen Postulate dieser Schreibaufgabe – und zugleich die Grundpfeiler des Joyceschen und des Peltzerschen Erzählansatzes:12 »So genau wie möglich zu sein« (SM 549) und »So wie du bist, der du dich erinnerst. Trägst alles bei dir, Schritt für Schritt«, sagt Stefan zu sich selbst. (SM 173) Stefans Schreibmotive sind Versuche, Erinnerungen festzuhalten, Ordnung, Orientierung und (Er)klärungsmuster herzustellen: »Daß man sich nicht abfindet mit dem. Die Geschichte, wo man drin ist. Eine Reihenfolge wissen zu wollen. Um nichts zu vergessen […], es festzuhalten […], was alles passiert ist. Wann.« (SM 363) Mit der immanenten Selbstreflexion des Erzählprozesses wird die ›Schreibbewegung‹ bewusst gehalten. Immer wieder wird Stefan als Autor des Gelesenen enttarnt – etwa wenn er in der U-Bahn die wenige Seiten zuvor wiedergegebene Situation festhält: »Die ruckenden Bewegungen des Zuges geübt tarierend, schrieb er auf die Rückseite des Zettels einige Worte, das Panorama der Straße, durch das Viertel gehen, es dringt durch mich« (SM 291) – oder bei Stefans Bestandaufnahme seiner (Italien-)Erinnerungen auf den letzten Seiten des Romans: Das Trapez des Orions, […]. Und weiter?
12 In den vergleichsweise spärlichen Auseinandersetzungen der Forschung und Kritik mit dem Roman fällt durchaus (jedoch zumeist en passant) der Name Joyce. In Auers KLG-Artikel heißt es: »Als ›Bewusstseinsroman‹ verweist ›Stefan Martinez‹ natürlich auf literarische Vorbilder. Ganz deutlich steht er etwa in der Nachfolge von James Joyces ›Ulysses‹, in dem das permanente Ineinanderfließen und Verschmelzen von Außenwelt und Innenwelt, von Augenblick und Geschichte, die einer quasi festen Identität des Einzelnen entgegensteht, exemplarisch gestaltet wird. Weitere literarhistorische Bezugspunkte sind Alfred Döblins Großstadtroman ›Berlin Alexanderplatz‹ oder auch Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹.« (Matthias Auer: Eintrag »Peltzer, Ulrich«, in: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, http://www.munzinger.de/document/16000000688 vom 28.12. 2013) Koeppens Tauben im Gras, Dos Passos’ Manhattan Transfer oder die U.S.A.Trilogie ließen sich ergänzen. Und in der FR schreibt Böttiger über Stefan Martinez: »Da wird Joyce auf den Kopf gestellt. An dem Punkt, den Peltzer mit diesem spannenden Romanexperiment im Visier hat, setzt die wirklich aufregende Literatur der Gegenwart ein.« (Zit. n. http://www.ammannverlag.ch/?pbid=2&k=4&sk=2&tb=bio vom 25.1.2014).
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Das halbverfallene Haus ohne Fenster, in dem wir wohnten. […] Und noch? […] Ich habe Lust, alles zu erzählen. Dann fange ich an. (SM 567)
Die unhintergehbare Kontingenz des menschlichen Daseins wird zu Beginn des Romans ausgestellt, als der Protagonist eine Münze wirft, um über seinen Weg in die Stadt zu entscheiden. Dieser Erzählbeginn – und die Absage an Kausalität, die doch das Rückgrat des Epischen scheint – wird zuletzt in einer zirkularen Bewegung aufgegriffen: Wann geht die Geschichte los, genau? An einem Novembertag in ihrer Küche, als derjenige, von dem ich erzähle, einen Katalog mit dem Bild der Veranda durchblättert. Es handelt sich um reinen Zufall, da er auch Zeitung hätte lesen können, oder ganz was anderes. Er erinnert sich. […]; später wirft er eine Münze hoch, ob Kopf oder Zahl, Bus oder U-Bahn. (SM 572)
Gewiss macht das Aufspüren von in den Text eingelassenen Verneigungen vor dem Ahnen Spaß – und man wird auch des Öfteren fündig, etwa wenn von Hammelkeulen und Innereien die Rede ist (vgl. SM 19), Leopold Blooms Leibund Magenspeisen, wenn Joyces einprägsame Wendung von der »snotgreen« und »scrotumtightening sea« (U 1.78)13, also der »rotzgrünen« und »skrotumzusammenziehende[n] See«, nicht nur in der Poetikvorlesung (AM 25), sondern auch in Stefan Martinez auftaucht (vgl. SM 294); es gibt auch ein Wiedersehen mit den Lotophagen (vgl. SM 106 u. 523), denen bekanntlich eine UlyssesEpisode gewidmet ist. All das wäre abendfüllend, aber nicht erkenntnisfördernd. Deshalb soll es im Folgenden eher darum gehen, fundamentale Gemeinsamkeiten zwischen den narrativen Ansätzen und Verfahren Joyces und Peltzers aufzuzeigen – und in einem letzten Schritt die Frage aufzuwerfen, inwiefern Joyces Prosainnovationen in den achtziger Jahren zum Katalysator von Peltzers eigenen produktionsästhetischen Absichten werden konnten. Im Folgenden sollen als Analyseraster die Spezifika des Ulysses herangezogen werden, die Peltzer in seiner Poetikvorlesung an Joyce selbst herausgehoben hat: • Intensivierung & chronotopologische Fixierung • Enthierarchisierung
13 James Joyce: Ulysses, hg. v. Walter Gabler u.a., London 1986. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert mit der für diese Ausgabe üblichen Sigle (U [Kapitel].[Zeile]).
62 | M AREN J ÄGER • Subjektivierung & Dezentralisierung • Polyphonie • Transgression & Zerstörung von Rezeptionserwartungen
Intensivierung/chronotopologische Fixierung Joyce reduziert die extensive Zeitdarstellung des Romans auf eine intensive,14 die er nicht nur in den berühmten Strukturschemata zum Ulysses offenlegt,15 sondern die auch anhand von über den Text verstreuten Zeitangaben für den Leser durchweg verifizierbar ist. Im Ulysses werden »einige Menschen […] für etwa 24 Stunden aus der Anonymität einer großstädtischen Menge herausgehoben« (AM 25); bei Peltzer sind es nun nicht 24 Stunden eines Junitags des Jahres 1914, sondern etwa 48 Stunden an einem 11. oder 12. November im Westberlin der achtziger Jahre:16 »[D]er Ulysses, als das Buch, das in extrem verdichteter Form und dann in explodierender Form mit Zeit umgeht: Ein Tag und eine knappe Nacht in Dublin. Ich – zwei Tage, eine Nacht in Berlin.«17 Immer wieder sind die Gedanken Stefans durchsetzt von sekundengenauen Zeitangaben, die das Erzähltempo als zeitdeckend, wenn nicht gar zeitdehnend ausweisen. Zwölf Uhr, fünfzig Minuten, sechsundzwanzig Sekunden. Gegenwart. September Oktober November: Herbst. Siebenundzwanzig Sekunden. Swatch swiss scuba watch. Achtundzwanzig […]. Zweiundfünfzig Grad nördlicher Breite und dreizehn Grad östlicher Länge – Charlottenburg – Berlin – Deutschland – Europa – Erde – Sonnensystem – Milchstraße – Weltall. Zehn hoch einundsechzig Plancksche Elementarzeiten alt. (SM 449f.)
In dem von den Zeitangaben interpunktierten inneren Monolog Stefans durchmischen sich als äußere Reize die Signale der Uhr und seine elliptischen Reflexionen über die Zeiterfahrung des Einzelnen, hier als ein vages Gefühl langer Dauer/durée beim Warten auf den Feierabend – wodurch die Zeitgestaltung zweifach intensiviert erscheint: nämlich praktisch in den Erzählfluss eingeschrieben und zugleich poetologisch reflektiert.
14 ›Telemachos‹ setzt am 16. Juni 1904 um 8 Uhr ein, ›Penelope‹ endet gegen 2 Uhr früh am 17. Juni. 15 Vgl. Stuart Gilbert: Das Rätsel ›Ulysses‹. Eine Studie, übers. v. Georg Goyert, Zürich 1932, S. 26f. 16 Vgl. SM 195: »elfter oder zwölfter November, siebzehn Uhr zehn«. 17 Peltzer: »Anfänge«, S. 259.
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Analog zu den Bestrebungen des Futurismus, Simultaneität in die Literatur einzuführen, weist der Ulysses mit seiner Tendenz zu alinearen Erzählverfahren zahlreiche Passagen auf, in denen der Eindruck von Gleichzeitigkeit durch narrative Mittel suggeriert wird. Auch in Stefan Martinez wird neben der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (durch Erinnerungen Stefans, die sich zwischen die auf ihn einflutenden Sinneseindrücke drängen, vgl. etwa SM 448 f.) auch – ungleich komplexer – die Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen erzählerisch umzusetzen versucht: So heißt es im Anschluss an den eben zitierten Abschnitt: »*Zwischenzeitlich ist folgendes geschehen: Nachdem sie die Weiße Maus gegen 6:30 verlassen haben […].« (SM 451f.), wodurch im Leserbewusstsein der Eindruck einer komplexen zeitlichen Überlagerung von Simultaneität bei gleichzeitiger Sukzessivität der Sequenzen entsteht. In diese intensive Erzählzeit wird verdichtend ›externe‹ Zeit hineingeholt: Zwar wohnt dem inneren Monolog, der den Roman über weite Strecken dominiert, eine »lineare Unerbittlichkeit« inne (SM 316); trotzdem greift die Erzählbewegung (auch über Stefans kognitive ›Erinnerungs‹-Möglichkeiten hinausreichend) in teilweise großen Analepsen über die zwei Tage zurück. Durch die Inkorporation anderer ›Erzählbewusstseine‹ – die Kindheits- und Jugenderinnerungen der Mutter Stefans in Teil II oder Stroux’ im Schützengraben des ersten Weltkriegs (vgl. SM 224-235) – wird die erzählte Zeit angereichert zu einer (wiewohl durchweg als subjektiv und selektiv markierten) (Familien-)Historie oder einem Generationenroman, der das historische Panorama des gesamten 20. Jahrhunderts umfasst. Historie erscheint im Ulysses wie auch in Stefan Martinez nie als ›große Geschichte‹, sondern entweder schlagzeilenartig in Form allgegenwärtiger Fragmente der urbanen Informationsflut oder – gebrochen durch die Weltwahrnehmung der Protagonisten – in ihrer Bedeutung als Individualgeschichte. Nur durch die Zeitungs(klo)lektüre Kapitän Heinrichsons erfahren wir etwa von der Regierungskrise in Bonn und dem Auseinanderbrechen der CDU/CSU/FDPKoalition 1966: »Während der Nachrichtensprecher meldete, daß die F.D.P die Koalition verlassen habe, kam Bewegung in [Heinrichsons] Eingeweide, sanft getrieben von den Fermenten des Tees und der herzhaften Würze des Tabakrauchs.« (SM 296, vgl. U 4.494ff.) Die Zeitangaben, denen Joyce eine penible Aufmerksamkeit widmete, werden ergänzt durch eine nicht minder akribische topographische Daten- und Detailfülle. Die Erinnerung an seine Heimatstadt kontrollierte Joyce im Exil anhand
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von Stadtplänen.18 Joyces akribisches Arbeitsverfahren, das vor Werkzeugen wie Messtischblättern, Kalendern und sogar einer Stoppuhr nicht zurückschreckte, legt durchaus das Etikett »Hyperrealismus« nahe und hat die Literatur des 20. Jahrhunderts nachhaltig verändert. Und manch ein Leser von Stefan Martinez hat gewiss – sofern er Berlin nicht wie seine Westentasche kennt – bei der Lektüre zu einem Stadtplan gegriffen, um die von Ulrich Peltzer exakt kartographierten Schauplätze in der realen Physiognomie der Stadt nachzuvollziehen. Dies gilt besonders für die Erzählpassage zu Beginn des Romans, als Stefan sich von Evelyns Wohnung zu seinem Arbeitsplatz begibt. Sein Weg durch das Viertel – »durch das Viertel gehen, es dringt durch mich«, heißt es programmatisch in der Mitte des Romans (SM 291) – beginnt mit einer Reflexion seiner räumlichen Aneignung der Nicht mehr- und Noch nicht-Hauptstadt: Seine Karte der Stadt zerfiel in verschiedene [...] Planquadrate [...]. Manche Teile Berlins waren weiß geblieben, unbeschriftet mit den Linien seiner Wege, Räume ohne Graphen und Achsen, die er auch nicht mehr kennenlernen wollte. […] Der Wedding ein Alptraum, Spandau das Fegefeuer, Rudow die Hölle, das Ende der Welt. (SM 18)
Dann folgt ein dichtes Netz von Straßennamen und sonstigen topographischen Markierungen, anhand dessen sich Stefans Route exakt nachvollziehen lässt: »Helmstraße […] Kleistpark […] Neun Uhr vierzig etwa. […] Potsdamer-, Grunewald-, Haupt- und Langenscheidstraße […] Hohenzollernplatz […] Fehrbelliner Platz […] Blissestraße« (SM 23-26). Mit der Verankerung seines Ulysses in der irischen Hauptstadt, die um 1920 keineswegs den Rang einer Weltstadt innehatte, etabliert Joyce den Regionalismus in der experimentellen Literatur. Dublin wird zum Mikrokosmos des Weltalltags der Epoche: »I always write about Dublin, because if I can get to the heart of Dublin I can get to the heart of all cities in the world. In the particular is contained the universal.«19 Auch das Westberlin der 1980er Jahre, in dem der Osten noch keine Rolle spielt, ist in Stefan Martinez Dorf und Metropole zugleich, und vor allem: ein Mikrokosmos der urbanen Existenz, eine Versuchsanordnung, in der das moderne Subjekt zum Beobachtungsgegenstand wird.
18 Seit dem Kommentar von Don Gifford und Robert Seidman: Ulysses Annotated. Notes for James Joyce̓s Ulysses, Berkeley, Los Angeles, London 1988 verzichtet keine der kommentierten ›Ulysses‹-Ausgaben mehr auf die Beigabe von Stadtplänen. 19 Zit. n. Richard Ellmann: James Joyce, New York 1959, S. 520.
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Enthierarchisierung Gerade die gleichsam enzyklopädische Detailfülle des Ulysses sprengt den plot. Voraussetzung einer geschlossenen Handlung ist die Selektion des Autors. Für den Ulysses gilt die traditionelle Unterscheidung zwischen ›wichtig‹ und ›unwichtig‹ nicht; die Opposition von ›banal‹ vs. ›welthaltig‹ ist hinfällig geworden; die zentralen Charaktere, Stephen Dedalus, Leopold und Molly Bloom, werden nicht von einem Erzähler vorgestellt, sondern ihre Gedankenwelt und sinnliche Wahrnehmung werden dem Leser vermittels der stream of consciousness-Technik offengelegt. Was normalerweise nicht zur Darstellung gelangt, wird mit den Mitteln der literarischen Avantgarde versprachlicht, der Protagonist mithin zur Projektionsfläche, auf der sich die Details der Alltagswahrnehmung abbilden; programmatisch lauten die letzten Worte des Romans: »Die Dinge gehen durch ihn hindurch. Was er sieht.« (SM 572) Subjektivierung & Dezentralisierung Peltzer beherrscht die ganze Bandbreite literarischer Mittel der klassischen Moderne, wie er im komplexen Montageverfahren eindrucksvoll unter Beweis stellt: Traditionell heterodiegetisch, jedoch (von den Erinnerungen der Mutter und anderer Nebenfiguren abgesehen) größtenteils im Präsens wiedergegebene, meist intern fokalisierte Erzählpassagen wechseln sich mit Bewusstseinsstrom ab, der jedoch häufig von heterogenen Erzählfragmenten durchsetzt ist: Sich wieder seiner Jacke entledigend, ging Stefan zum Rechner und nahm Platz. On. Grünes Lämpchen. An der Wand hing die Fotokopie der Veranda. Die Gegenwart eines Gefühls, das Wirklichkeit war. Aus der Tiefe des Körpers hervor. Gerettet. Ein Beweis von sich selbst. Warum man daß man so ist. Everything. Reveals a picture and a verse. It’s not like years ago. Wenn ich es ihr nur sagen könnte. Schreiben. Damit sie versteht. Die Bedeutung, was für mich was bedeutet. Was für mich die zarte Feder dunkler Härchen an ihrem Bauch bedeutet. Wie eingebrannt, daß ich es nie vergessen werde. Ich will nicht. Die Gegenwart. In einem Augenblick. (SM 314)
Narration von Handlungsabläufen, Sinneseindrücke Stefans vor seinem Computer und der Kopie eines Gemäldes,20 Erinnerungen, Reflexionen, Musikfetzen stehen gleichberechtigt nebeneinander. Im Hinblick auf Stefan Martinez scheint
20 Vgl. SM 143: »Eine vom Wein umrankte Veranda 1828: erste Zeile, S. F. Schtschedrin: zweite Zeile«.
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es angemessen, von einem »abbreviatorischen Erzählverfahren«21 zu sprechen, das positivistisch auf Bewusstseinstatsachen rekurriert; da jedoch kein Erzähler eine Vermittlung vornimmt, ist es dem Leser aufgegeben, ausgehend von einer verschlüsselt erscheinenden Textgestalt die kausalen Bezüge herzustellen. Ähnlich opak wird z. B. das äußere Handlungsgeschehen im 4. Kapitel des Ulysses durch die Gedanken Blooms gebrochen: »Not there. In the trousers I left off. Must get it. Potato I have. Creaky wardrobe. No use disturbing her.« (U 4.72ff.) Peltzer weiß: Das eigentliche Skandalon des Ulysses lag weniger in seiner vermeintlich pornographischen Natur, an ›Stellen‹ (vgl. AM 30), als vielmehr an der Unmittelbarkeit, der »Unverblümtheit« (AM 28), mit denen sich der Leser »dem nackten Leben« (AM 28) ausgeliefert sieht. »[D]as Neue der Joyce’schen Erzählung [, das] die Wirkung potenzierte« besteht darin, dass es im Ulysses »zum ersten Mal in der Weltliteratur keine Vermittlungsinstanz« gibt (AM 28). Im Ulysses wie auch in Stefan Martinez finden sich wenige erläuternde oder beschreibende Passagen, immer sind die Autoren bemüht, die Menschen und Dinge ›bewusstseinsunmittelbar‹ aus sich selbst sprechen zu lassen. Der Grundbass des Buches, die ›Stimme‹ Stefans ist eine Mischung versprachlichter Bewusstseinsfetzen, Assoziationen, Reflexionen, Erinnerungen. Ellipsen und Anakoluthe sind die Hauptmerkmale, oft bestehen syntaktische Einheiten in staccatoartigen Einzelwortkaskaden, die möglicherweise ein Vorbild in Joyces ›Sirens‹-Episode haben: »Will? You? I. Want. You. To.« (U 11.1096): Unbewußt geworden alles, trotzdem aber. Bleibt es. Irgendwo in den Zellen. Sonst würde das ja nicht funktionieren mit Opium. Eine Medizin um. Umzu. Zum. Träume auch. Der Mann, der sagte, er sei der Vater. Auf spanisch, das klang wie deutsch, zu verstehen. (SM 106)
Daneben dringen auch überraschend anders klingende Erzähltöne ein, die sequenzweise erprobt und verworfen werden. Die individuellen Stile der Figuren Ulrich Peltzers sind so charakteristisch, dass sie komplexer und wahrhaftiger erscheinen als diejenigen eines Romans traditioneller Prägung, die von einem auktorialen Erzähler für den Leser entfaltet, motiviert und psychologisiert werden.
21 Reimer Bull: Bauformen des Erzählens bei Arno Schmidt. Ein Beitrag zur Poetik der Erzählkunst, Bonn 1970, S. 40.
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Polyphonie Ebenso wie die formale Geschlossenheit des Romans zugunsten eines episodischen Arrangements und einer komplexen symbolischen Struktur aufgegeben wird, weicht der initiale charakteristische Erzählton im Ulysses einem Stilpluralismus, durch den jedes Kapitel anders klingt; dabei folgt jede Episode – dies gilt vor allem für die zweite Hälfte des Romans – einem anderen Gestaltungsprinzip. Joyce bedient sich nicht nur gattungsfremder Darstellungsformen (etwa der Dramatisierung in ›Circe‹), häufig werden außerliterarische Muster zum Vorbild für narrative Einheiten (etwa in der Fugenform von ›Sirens‹). Stilpluralismus und Polyphonie sind auch zentrale Bestandteile des Erzählprogramms für Stefan Martinez: Es geht nicht um subjektive Bekenntnisse. Drehbuchdialoge stehen in diesem Roman neben Polizeiberichtssprache und abgehacktem Metropolenslang; naturwissenschaftliche Exaktheit unterbricht abrupt einen realistischen Erzählduktus. Der Stil ist der jeweiligen Gefühlsfarbe abgelesen. Hier wird James Joyce weitergeschrieben, und hier kommen neueste Theorien ins Spiel.22
Im Gespräch über Stefan Martinez im Rahmen des Berliner Kolloquiums erklärt Ulrich Peltzer, dass auch den fünf Kapiteln seines Romans unterschiedliche formale Grundmuster unterlegt seien: Während das erste Kapitel (SM 7-219) in einer ›zirkulären‹ Struktur konstruiert sei, folge II (SM 220-275) linear dem erinnernden Bewusstsein der Mutter Stefans. III (SM 277-530) sei in seiner Tektonik ›spiralförmig‹; dieser Eindruck solle durch die Verknüpfung von Rückblenden und stilistischen Neueinsätzen erzeugt werden, die mal die Form wissenschaftlicher Abhandlungen mit ihrem objektivierenden Stil und ihren Anmerkungsapparaten annehmen können, mal mittelhochdeutsche Zitatfragmente inkorporieren – wofür die ›Oxen of the Sun‹-Episode des Ulysses Pate gestanden habe. Und in der Tat ist Stefan Martinez besonders in III durchsetzt von Sequenzen, die als Fremdkörper in der narrativen Gesamttektonik erscheinen, etwa von Briefen, Postkarten (vgl. SM 279, 330) oder dem Transkript einer Tonaufnahme mit Pau-
22 [O-Ton Ulrich Peltzer.] Der Sound der Metropole. Politik und zeitgenössische Musik in Ulrich Peltzers Romanen. Autor: Helmut Böttiger. Redaktion: Walter Filz. Übernahme Deutschlandradio Kultur Berlin. Sendung: Dienstag, 23.12.2008, 20.03 Uhr, SWR 2. Vgl. http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/literatur/-/id=659892/nid =659892/did=4184404/pvirzn/ vom 25.1.2014 [Manuskript S. 4].
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sen und Ähms.23 Das vierte Kapitel (SM 531-567) wiederum sei ›stromartig‹ angelegt – in Anlehnung an ›Penelope‹, das Schlusskapitel des Ulysses, das ohne Punkt und Komma dahinfließt.24 Im fünften Kapitel (SM 569-572) werde die Zeit ›als reines Jetzt‹ präsentiert. Im Ulysses werden zahllose literarische Werke aller Epochen und Gattungen durch Motivübernahmen, Verweise und Zitate zu einem intertextuellen Netz verwoben; planvoller Eklektizismus wird zur Methode, die Tradition zum Material. Aber auch Stefan Martinez präsentiert sich gleichsam als Summa des bis dato Gelesenen und Gelernten: Ulrich Peltzer gibt augenzwinkernd zu, ein Ziel des Autors als junger Mann sei es nicht zuletzt gewesen, »natürlich alles unter[zu]bringen, was man gelesen hat«.25 Im Bewusstsein des belesenen Stefan, des Protagonisten Peltzers, liegt ein ebenso reichhaltiger wie heterogener Fundus von Wissensfragmenten, Versatzstücken, die aus der Philosophie, Mathematik und Literatur stammen; das spiegelt nicht nur seine Bibliothek, die listenartig inventarisiert wird:
23 »…und? Hast du an? Die Batterien sind drin? Also gut. Klar ist, daß man einzeln kommen mußte, oder höchstens zu dritt, weil man sonst ja schon vom Pförtner aufgehalten worden wäre, und …äh…auch klar ist« (SM 463). Ferner findet sich eine altertümliche (an die Inhaltsverzeichnisse frühneuzeitlicher Abhandlungen erinnernde) und metaleptische Einleitung einer Erzählpassage (vgl. SM 393) ebenso wie protokollartig gehaltener Bericht über das K-Gruppentreffen (vgl. SM 460). Der Duden wird ebenso als Quelle genutzt (vgl. SM 391) wie das Amtsdeutsch von Bekanntmachungen der BVG (vgl. SM 197f.). 24 Als Stefan schließlich nach Italien aufbricht und der Zug, allmählich Fahrt aufnehmend, den Berliner Bahnhof verlässt, erinnert die durch Stefans Bewusstsein gefilterte Narration in ihrem interpunktionslos in rhythmisierter Prosa dahinströmenden, die immer schneller aufeinander folgenden optischen Eindrücke miteinander verknüpfenden Duktus stark an den stream of consciousness des ›Penelope‹-Kapitels: »Ruckt endlich los Edmund in seinen langen Mantel gehüllt winkend auf dem Bahnsteig glasdurchschossen das Stahlgerippe der Halle entläßt den Zug in ein morgendliches herbstliches Grau das Theater des Westens mit den griechischen Säulen gleitet vorbei der fensterlose Kasten des Delphi-Kinos dann Häuser mehr und mehr an Fahrt gewinnend beschleunigend vor dem Esplanade hängt eine große Leuchttafel mit roten und schwarzen Buchstaben nach wenigen Minuten springt die festgefugte Mauer der Fassaden rechtwinklig zurück und gibt den Blick frei auf einen länglichen Platz sich kreuzenden Verkehr regennasse Straßen […].« (SM 532). 25 So Ulrich Peltzer am 5.12.2013 im Berliner Brechtforum.
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Längs des Sockels standen Bücher aufgereiht, außen neben den Heizkörpern einige größere Bildbände, denen Literatur folgte von A wie Winterspelt über J wie Strahlungen und K wie Das Schloß zu P wie Crying a lot 49 und S wie ein Start ins Leben, Taschenbücher, gleichgroß, die ein kleiner Stapel Philosophie abstützte, damit sie nicht umkippten, Quine, Wittgenstein, das nie gelesene Prinzip Hoffnung, eine teilweise exzerpierte Kritik (welche, rein oder praktisch?) und obenauf ein in der Arbeitsgruppe des Grundstudiums ›Kritische Wissenschaft‹ zerfledderter Band der Minima moralia (das Ganze, das Unwahre?), daneben, unter dem Tapeziertisch, Vorlesungsmitschriften, eine Theorie der Differentialgleichungen, Schüttes Beweistheorie […]. (SM 64)
Von Herodot (vgl. SM 118 u. 523) über Faulkners »Licht im August« (SM 93), »Tom Sawyer« (SM 332), Hemingways Der alte Mann und das Meer (vgl. SM 334) über Ortega y Gasset (SM 338) bis zu Cioran (SM 116) und Pasolini (vgl. SM 572) reicht die Liste der zitierten Texte; sie inkorporiert Thomas von Aquin (SM 484 u. 512), Descartes (SM 367), die Mathematiker Peano (SM 542), Cantor und Dedekind (SM 485, Anm. 5), den Astronomen Leverrier (vgl. SM 451), die Quantenmechanik Diracs (SM 488, Anm. 6), Adorno (SM 542) und Eliade (SM 475) ebenso wie den Nibelungenstoff (vgl. SM 353) und Dantes Divina Commedia (SM 116). Auch Kant darf nicht fehlen; so verweist eine Fußnote auf »das in der transzendentalen Logik gezogene Resümee, daß Gedanken ohne Inhalt leer, Anschauungen ohne Begriffe hingegen blind seien.« (SM 478, Anm. 2; vgl. KrV B75, A48) Der junge Stefan entnimmt »dem Oberstufenregal der Schulbibliothek« Doderers »Dämonen, worunter man sich etwas anderes, spannendes vorgestellt hat« (SM 354).26 Später kommt ihm Handkes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt »[p]lemplem« vor wie seine eigene zwanghafte Gewohnheit, Schritte zu zählen: Die Außenwelt der Innenwelt. Gibt’s doch ein Buch. Gedichte praktisch. Fußballmannschaftsaufstellungen, Fernsehprogramme, Inhaltsverzeichnisse. Ganz schön gaga. Achtzehn, siebzehn. (SM 526)
26 Stefan erinnert sich an Theaterbesuche mit der Mutter: »Die kahle Sängerin […], Hänsel und Gretel […], Mendelsohn sein Traum von der Mittsommernacht, […] Don Carlos, das Arschloch. Don, noch so einer, Giovanni« (SM 516) und den Freunden im Piccolo Teatro, wo (tatsächlich) »Lessings (?) Minna von Barnhelm, mit Andrea Jonasson« (SM 570) in der Titelrolle aufgeführt wurde (SM 570f.).
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Stefan Martinez teilt mit seinem Autor eine Vorliebe für Dylan Thomas und dessen Villanelle Do not go gentle into that good night,27 deren Refrain zitiert wird »Rage, rage against the dying of the light« (SM 508), wenige Seiten nach den ersten Versen von Eliots The Waste Land: »Ferne nur: April is the cruellest month, breeding Lilacs out of the dead land, mixing memory and desire […].« (SM 501) Und man darf unterstellen, dass der Naturwissenschaftler Stefan bei White Noise (SM 500) nicht nur Störungen in einem Modell im Sinn hat, sondern auch den 1985 erschienenen Roman von Don DeLillo. Aber auch andere Figuren reichern den Romanhorizont um verschiedenste Intertexte an: Stefans Flamme Ute liest Handkes »Der kurze Brief zum langem Abschied, beziehungsweise, seit Montag, Das Glasperlenspiel« (SM 380), Chiara Montherlant (SM 566); Edmund bevorzugt Pavese, »zuletzt das Handwerk des Lebens, oder, eine Frage der Stimmung, die Tagebücher Valérys« (SM 533); Ludwig Milde ist ein Verehrer Meister Eckarts und denkt angesichts des herbstlichen Wetters an Rilkes Gedicht »Herbsttag«: Diz bürgelîn ist mîn und ist niht dîn. Mal wieder lesen vorm Einschlafen zur Beruhigung. […] Muß man so murmeln, dann versteht man den Meister. […] Der Atem. Schwadet. Weht ums Kinn. Jetzt gehts los mit Rainer Maria und Konsorten. (SM 159, vgl. auch SM 318)
Allgegenwärtig wie die Literatur sind Film und bildende Kunst im geistigen Kosmos des Universalgelehrten Stefan Martinez. Dazu zählen Bilder Rauschenbergs (vgl. SM 10), des russischen Landschaftsmalers Schtschedrins (vgl. SM 143, 314), Bosschaerts (SM 226) oder Plastiken Giacomettis (SM 434) ebenso wie Filme Doillons (SM 572), Kaurismäkis (vgl. SM 214 u. 535f.), van Sands Mala Noche (vgl. SM 535), Godards Pierrot Le Fou (SM 55), Dick Richards Farewell, My Lovely (vgl. SM 507), »Zabriskie Point, Woodstock, Z., Odyssee im Weltraum, Clockwork Orange (!)« (SM 190) oder Antonionis L’Eclisse (vgl. SM 212ff.).28
27 Vgl. Peltzer: »Anfänge«, S. 256f. 28 Daneben gibt es Selbstzitate, wie das Auftauchen des Kellners Raimund (vgl. SM 155) und Bernd Lacans, des Protagonisten aus Peltzers Erstling Die Sünden der Faulheit (vgl. SM 130). Auch Joyces eigenes literarisches Schaffen fließt in den Ulysses mit ein; durch die Wiederaufnahme von Figuren (allen voran Stephen Daedalus/Dedalus aus Stephen Hero und A Portrait of the Artist, aber auch einiger Figuren aus den Dubliners) entsteht der Eindruck, als ›umschrieben‹ Joyce und Peltzer
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Der Ulysses inkorporiert nicht nur eine Vielzahl von Sprachen, sondern er überschreitet auch die Grenzen der Syntax und verstößt gegen die Gesetze der Grammatik und Semantik. Stefan Martinez ist durchsetzt von fremdsprachigen Textsplittern, italienischen, englischen, häufig in bunter Mischung, nicht nur in der Italienhandlung, in der ein Schlager in das Hotelzimmer dringt, in dem sich Stefan und Chiara lieben: »tilasciomessagicodominitiscrivocosì oder Idontwantotellyoulies-Ijustwantomakeyouright« (SM 99), sondern auch in den Dialogen mit Umberto. Aber auch lateinische Satzfragmente stellen sich beim Universalgelehrten Stefan ein, selbst wenn es lediglich um die Frage geht, ob er sich dem Mittagessen der Bürokollegen anschließen möchte – und er sich an die Einleitungsworte der Kommunion (mehr oder minder) erinnert: »Kein Bock, keinen Appetit. Null. Sed tantum dic verbo et sanitärbiturate anima mea. Leise gemurmeltes Zwiegespräch vor der Kommunion.« (SM 112) Das Bild einer Zeit zeichnet auch Peltzer mittels einer exakten Wiedergabe der gesprochenen Sprache; diese erscheint hier ebenso inhomogen wie das Sprachgemisch Dublins im Ulysses. Dialekte und Soziolekte werden in einer Art lautlicher Umschrift wiedergegeben, in der sowohl das Lokalkolorit als auch das Aufeinandertreffen von Menschen verschiedener Herkunft in der westdeutschen Metropole fasslich werden. Beim Warten auf die überfällige U-Bahn klingt das in Berlin so: »Isn dit? Kommt er nich? Ick jloobe, die bauen an die Gleise rum. Muß doch nich sein. Nee. Meine Meinung is ja, sowat nächtens zu erlejen. Enau, immer nachts).« (SM 33) Bei einer authentischen Wiedergabe der lautlichen Physiognomie Dublins Anfang des 20. Jahrhunderts haben Schlager und Songs erheblichen Anteil an der Klangwelt des Ulysses. Stefans musikalische Sozialisation ist freilich eine andere als die der Joyceschen Helden: Hört der junge Stefan Hendrix, Taste, Cohen, Iron Butterfly, Jethro Tull, Emerson, Lake und Palmer (vgl. SM 389), ferner »Simple Minds, Michael Jackson und Depeche Mode« (SM 542), U2 und Men at Work (SM 563), so sind es beim musikalisch gereiften die Cramps (vgl. SM 185), die Mothers of Invention (vgl. SM 186), Slade (vgl. SM 436), »Siouxsie and the Banshees […], The Cure, […] Throbbing Gristle […]. Suicide: Martin Rec und Alan Vega« (SM 518) gehören ebenso dazu wie Dylan (vgl. SM 411 u. 519)], die Scherben (vgl. SM 517), Velvet Underground, Can, Guruguru, Ernst Busch, Mikis Theodorakis, Neil Young (SM 189), und REM, deren »Nightswimming« (SM 217) sich als Echo durch den Roman zieht (vgl. SM 314 u. 363).
sich mit einem literarischen Kosmos, der mit jedem neuen Werk größer, bevölkerter und detaillierter wird.
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Das enzyklopädische Montageverfahren, mit dem auch Peltzer seinen Roman für Realitätspartikel aller Art öffnet, legt – dem urbanen Erscheinungsbild Berlins Rechnung tragend – einen Schwerpunkt auf Medien, Werbung und Schlagzeilen, wobei sowohl akustische als auch visuelle Splitter in den Text eingeflochten werden, »scraps of urban life«29: Ohrwurmartige Werbeslogans – z.B. »Keine Sorge – Volksfürsorge. Gesungen, eine Melodie, mit kurzer Pause zwischen Sorge und Volks« (SM 173) – oder die Ansagen im öffentlichen Nahverkehr (»Nächste Station Eisenacher Straße, Umsteigemöglichkeit in die Busse sieben, zwölf, einhunderteinundvierzig, Anschluß nach Steglitz und Lichtenrade.« SM 41) gehören ebenso zur Physiognomie Berlins wie die Aldi-Werbung auf einer Litfasssäule (»Aldi informiert – Aldi informiert – Aldi informiert: Ung. Hirschbraten 12.85 – Orig. russ. Kaviar 24.95«, SM 29), Produkt- und Markennamen (die »Preßspanregale der Marke Billy [und eine] Apple-MacIntosh-Maschine« (SM 533), »Schultheiß« (SM 537), »Karstadt« (SM 557) und »Brunnen« (SM 559)) und die Inschriften auf den U-Bahnstationen, die – gebrochen durch die visuelle Wahrnehmung Stefans aus dem langsamer werdenden Zug – transkribiert werden: Stefan »beugte sich vor, um den Namen der / Station zu lesen, dessen Lettern an der Scheibe vorbeihuschten: Bahr Ptz … Baychr Pltz … Bayrischer Platz. Raus hier.« (SM 46) Transgression & Zerstörung von Rezeptionserwartungen Bei der Transkription nonverbaler Phänomene wie auch bei der Imitation von optischen Wahrnehmungen vollführt Peltzer (wie Joyce im Ulysses) mancherlei Grenzüberschreitung, die bereits bei einem flüchtigen Blick auf das Druckbild des Romans augenscheinlich wird. Paragraphenzeichen (vgl. SM 175) und Sternchen fallen ebenso ins Auge wie etwa die ›blanks‹ in einer Liebesszene (vgl. SM 207 f.), die durch Reihen von Auslassungspunkten markierten Aussparungen einer Laienpredigt im Zweiten Weltkrieg (vgl. SM 256), der in kyrillischen Buchstaben reproduzierte Name Lenins (ЛЕНИН) (vgl. SM 411), die Kellnernotizen auf Bierdeckeln: ein Strich für ein Bier und ein kleiner Kreis für einen Ouzo, Cola sind Häkchen, so daß beim Bezahlen jeder sein eigenes, unverwechselbares Muster vor sich hat, Nils nicht selten richtige Verzierungen am Rand der Filzpappe: /o/o/o/o, oder: ///o//o/oo, oder oooo. (SM 410)
29 Joyce zit. n. Budgen: James Joyce and the Making of Ulysses and Other Writings, Oxford 1972, S. 86f.
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– oder die lange im wissenschaftlichen Jargon gehaltene Fußnote über die menschliche Wahrnehmung (vgl. SM 97-110), die an Stephens Monolog in der Proteus-Episode erinnert und sinnliche Intimität mit neurophysiologischer Abstraktion konfrontiert. Joyces und Peltzers Instrumentierung, die Aufwertung des Klangs und der Wortgestalt, leisten zweierlei: erstens einen Detailrealismus, der die Gegenstände der Erzählung, das Subjekt/die Stadt fasslicher werden lassen, als es traditionelle Erzählverfahren vermögen. Außerdem rückt das handwerklich-künstlerische Material des Schriftstellers und damit der Artefaktcharakter des Werkes ins Blickfeld. Damit stellen beide Autoren Geduld und Ausdauer des Rezipienten auf eine Probe: Bedeutung ist weder im Ulysses noch in Stefan Martinez schlicht ›vorhanden‹. Die Lektüre wird zu einem Austauschprozess, der Leser in einen Text miteinbezogen, der an seine Gedächtnisleistung, sein Weltwissen, an seine Kenntnis der literarischen Tradition und seine synthetisierenden Fähigkeiten erheblich höhere Anforderungen stellt als der Roman des 19. Jahrhunderts. Dass sich sowohl die Umwelt eines Stefan Martinez (Berlin mit – allein im Westen – ca. 2 Millionen Einwohnern ca. 15 Jahre vor der Jahrtausendwende) gegenüber derjenigen eines Stephen Dedalus (Dublin mit etwa 200.000 Einwohnern ca. 15 Jahre nach der Jahrhundertwende) ebenso fundamental unterscheidet wie die Intensität, Qualität und Dichte der Signale und Reize, die auf ihr jeweiliges Bewusstsein einströmen, steht außer Frage. Erinnerung, Erkenntnis und Erfahrung – die bildgebende Sphäre für die Metaphorik in Stefan Martinez ist die des beginnenden Informationszeitalters: Vorher, verschwunden wie ein Ordner, den der Speicher nicht mehr freigibt. Access memory. Closed thru error. File is unnamed. Exit: Buchstaben und Zahlen, die ohne erkennbare Ordnung über den Bildschirm flackern […]. Load new file: All informations are erased. Try to restore bygone data. Wie du gewesen bist, als du ein anderer warst. Zu einem bestimmten Zeitpunkt t. […] Restore bygone data, was diese Idioten empfehlen, um sich dann, wenns mißlingt, per Einblendung lustig zu machen: Sorry pal, you failed. Choose new code. (SM 40)
Es dürfte nicht einfach sein, einen deutschsprachigen Roman der letzten Jahrzehnte zu finden, der sich mit ähnlicher Konsequenz und Radikalität dem Ulysses annähert wie Peltzers Stefan Martinez. Aber die ketzerische Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wozu? Warum der Aufwand? – an Form, an Sprache, an Energie und Lebenszeit des Autors, an Geduld des Lesepublikums wie der teils überforderten Kritiker?
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Erstens war der Ulysses für nachfolgende Generationen von Romanautoren nicht nur Pflichtlektüre, sondern für Schriftsteller der experimentellen Traditionslinie nicht selten ein Initiationserlebnis, ein Katalysator, der die jeweils eigenen poetologischen Prämissen und Intentionen freizusetzen, zu konturieren und zu kanalisieren half. So ist Joyce auch für Peltzer ein »Fürsprecher«: »Ich brauche meine Fürsprecher, um mich auszudrücken, und sie würden sich nie ohne mich ausdrücken. Man arbeitet immer zu mehreren.«30 Als Fürsprecher bei Stefan Martinez nennt Peltzer Flaubert, Claude Simon und »natürlich de[n] Ulysses«.31 Hinzu käme nun allerdings ein Zweites: Der Ulysses stellte Peltzer ein Formeninventar bereit, dessen Erprobung seine Stimme konturiert hat, und das zugleich die Reiseroute für die späteren Romane vorgab; Stefan Martinez war also vielleicht (ungeachtet aller Frustrationen) als Purgatorium notwendig. Womöglich musste der Autor einmal durch Joyce und seinen Ulysses hindurchgehen, um sich selbst (neu) zu (er)finden, zum eigenen Ton zu finden. »Alle oder keiner«, 1995 erschienen, mutet wie eine entschlackte, dennoch avancierte Fortschreibung des ›Erzählprogramms‹ an, das in Stefan Martinez entworfen wurde. Indes kann diese Fegefeuerdiagnose nicht der Weisheit letzter Schluss sein, entzündet sich an Stefan Martinez doch eine literaturgeschichtsphilosophische Frage: War Peltzers zweiter Roman wirklich so unzeitgemäß? Ist der Autor der Letzte einer Ahnenreihe, die von Döblin bis zu Arno Schmidt und dessen Adepten wie Wollschläger reicht und sich dem Projekt der Moderne verpflichtet fühlt – oder ist er der erste deutschsprachige Erzähler, der den Ulysses von der Moderne in die Postmoderne verschiebt? Immerhin wird Joyce hier erstmals mit Foucault, Deleuze und Guattari konfrontiert. Bei der Lektüre von Barthes’ Gedanken zur Rhapsodie – so Peltzer in der Mainzer Poetikvorlesung – habe er eine Antwort auf die Frage gefunden, wie die Überfülle an Material zu organisieren sei, »ohne einer falschen Homogenisierung oder einer falschen Kontinuisierung des Stoffes zu unterliegen:«32 Es gibt eine von den Grammatikern der Erzählung wenig untersuchte rhapsodische Struktur der Erzählung, […]. Das Erzählen besteht hier nicht darin, eine Geschichte reifen und dann sich auflösen zu lassen. Erzählen besteht vielmehr darin, ganz einfach wandernde
30 Peltzer zitiert hier (in »Anfänge«, S. 256) Gilles Deleuze: »Die Fürsprecher«, in: ders.: Unterhandlungen: 1972-1990, Frankfurt/Main 1993, S. 175-197, hier S. 181. 31 Peltzer: »Anfänge«, S. 259. 32 Ebd.
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und mobile Stücke nebeneinander zu setzen. Das Kontinuum ist dann nur eine Folge von Stückelungen, ein barockes Flickengewebe.33
Während der Ulysses mit der Odyssee noch auf eine sinnstiftende ›große Metaerzählung‹ rekurriert (auch wenn er diese desavouiert und ironisiert), setzt Peltzer überhaupt erst beim Fragmentierten an, wenngleich das (beständig konterkarierte) Muster des Bildungsromans noch immer die Signatur des ›grand récit‹ trägt. Dadurch muss Stefan Martinez für den orthodoxen Modernisten im direkten Vergleich mit dem Ulysses als Rückschritt erscheinen (und welcher Roman täte das nicht?), wird Unverbundenheit hier doch in radikalerem Ausmaß ausgebreitet. Während der Ulysses im Vertrauen des Autors auf die Abbildbarkeit der Welt in epischer Totalität, in seiner durchstrukturierten Komposition und (im Linati-Schema34) fixierten Symbol-, Zeit- und Verweisstruktur – letztlich ein klassizistisches Formkunstwerk darstellt, ist Peltzers Zugriff auf die Gegenwart vergleichsweise ›amorph‹; das Bewusstsein des Protagonisten legt sich in fragmentierten Einzelkapiteln und immer neuen Erzählansätzen rhizomartig über die Stadt; die einschießenden Reize präsentieren sich nicht in epischer Organisation als modernistisches Tableau, sondern teils wirklich als das Chaos, das sie ist. Bei Joyce gibt es zwar keine Helden wie Odysseus mehr, aber doch noch immer das autonome, sprechende, handelnde Subjekt – das spätestens bei Deleuze fragwürdig geworden ist: »Ja, es gibt Subjekte, aber es sind tanzende Partikel im Staub des Sichtbaren und wechselnde Plätze in einem anonymen Gemurmel.« (AM, S. 3435) Die Lesbarmachung des Subjekts ist für Peltzer folgerichtig nur noch nur im »Fluss seiner Sprache« möglich. Nach Stefan Martinez werden Peltzers Fürsprecher dann andere: »Fürsprecher bei Stefan Martinez waren wie gesagt Flaubert, Joyce und Claude Simon«. Nun sind es »DeLillo und Pynchon beispielsweise.«36 Peltzer scheint sich mit seinem zweiten Roman Joyce zugleich einverleibt und vom Leib geschrieben zu
33 Roland Barthes: »Sade II«, in: ders.: Sade, Fourier, Loyola, Frankfurt/Main 2002 (stw; 585), S. 139-194, hier S. 159f. 34 Vgl. Gilbert: Das Rätsel ›Ulysses‹, S. 26 f. In diesen Schemata, die Joyce Carlo Linati, Valéry Larbaud, Herbert Gorman und Stuart Gilbert zukommen ließ, wird jeder Episode – neben dem Schauplatz und der Stunde der Handlung – ein Organ, eine Kunst, eine Farbe, ein Symbol sowie eine literarische Technik zugeordnet. 35 Peltzer zitiert aus Gilles Deleuze: »Ein Portrait Foucaults«, in: ders.: Unterhandlungen: 1972-1990, Frankfurt/Main 1993, S. 147-171, hier S. 154. 36 Peltzer: »Anfänge«, S. 263.
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haben, hat mit dem Ulysses »Maschine gemacht«;37 aber der kompromisslose Durchgang durch die harte Schule des Ulysses verleiht ihm ein Ethos, das ihn von anderen Autoren, auch solchen, die sich auf DeLillo und Pynchon berufen, gründlich unterscheidet. Wenngleich er der Metropole Berlin an der Schwelle zum 21. Jahrhundert mit modernen Verfahren zu Leibe rückt und mit Stefan Martinez eine Erzählinstanz etabliert, die auf die narrative Herausforderung zugleich reagiert und diese erkenntniskritisch problematisiert – der Autor hält doch letztlich an der prinzipiellen Möglichkeit einer narrativen Gestaltung von Großstadterfahrung fest.38 Denn obwohl Peltzer die Möglichkeit einer »komplette[n] Darstellung« unserer komplexen Gegenwart mit ihrer »Überfülle an Signifikanten« (AM 32), von Plotkonstruktion und Sinnstiftung als »zum Scheitern verurteilt« sieht, glaubt er dennoch an die Chance, »eine absurd vorläufig bleibende, immer vom Verschwinden bedrohte Wirklichkeit sich (wieder) anzueignen, in dem man sie erzählend von sich selber berichten lässt.« (AM 34) Dazu gilt es, das realistische Programm des Iren unter veränderten Bedingungen fortzuschreiben: »Alles gleich, alles anders, wäre vielleicht die Losung, von der man auszugehen hätte bei einem erneuten Versuch […], der Wirklichkeit ›habhaft‹ zu werden, […] was heißt: sie sich erzählen zu lassen.« (AM 33). In der Ernsthaftigkeit dieses Unternehmens agiert Ulrich Peltzer unbeirrbar auf einem modernistischen Posten, der eigentlich verloren ist. Umso notwendiger, ihn nicht aufzugeben.
37 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997, S. 40. 38 Damit weicht er fundamental von postmodernen Autoren ab, die mimetische Referentialität grundsätzlich negieren, mithin das epistemologische Problem in ein ontologisches überführen. Vgl. Brian McHale: Postmodernist Fiction, London/New York 1987, S. 10. Diese Anregungen verdanke ich Christoph Jürgensen – ebenso wie den wertvollen Hinweis auf Borges’ Erzählung »Pierre Menard«, deren Protagonist Don Quijote Wort für Wort noch einmal schreibt, dabei jedoch nicht zum Kopisten wird, sondern ein in radikalem Sinne neues Werk schafft. Wie in diesem (extremen) literarischen Exempel ist auch Peltzers Zugriff auf den Ulysses ein reflektierter und schöpferischer. Auf dem Fundament eines tieferen (literar)historischen Bewusstseins schreibt er – wiewohl im Gestus der Moderne – einen gänzlich anderen Ulysses, eine andere Moderne ins 21. Jahrhundert fort.
Non-lineare Erzählverfahren und literarische Topographien Zu Ulrich Peltzers Stefan Martinez J EANINE T USCHLING
Ulrich Peltzers 1995 erschienener zweiter Roman Stefan Martinez schildert detailreich das Leben im Berlin der achtziger und frühen neunziger Jahre, so steht es angesichts der zeittypischen Elemente und des Alters der Hauptfigur jedenfalls zu vermuten. Der Protagonist Stefan Martinez ist Anfang Dreißig, Architekt und fasziniert von städtischen Bauten und der Gestaltung des urbanen Raums. Martinez begleitet auf seinen Gängen durch die Stadt ein Gefühl der Verlorenheit und der Ziellosigkeit, das sich nicht nur auf seine persönlichen Beziehungen, sondern auch auf seinen verebbenden politischen Aktivismus und sein fortschreitendes Älterwerden erstreckt. Das erzählende Ich und die Stadt sind im Roman eng miteinander verschränkt. Bereits das von Giambattista Vico stammende, dem Roman vorangestellte Motto lässt erkennen, dass das Ausloten der spezifischen Beziehung zwischen Ich, Raum und Zeit ein zentrales Anliegen des Romans ist: »Ich aber scheine mir der gleiche zu bleiben; aber im dauernden Auf und Ab der Dinge, die in mich eingehen und mich verlassen, bin ich in jedem Zeit-Moment ein anderer.« (SM 5) Ulrich Peltzer beschreibt in seinem Berlin-Roman nicht nur die Stadt selbst, sondern auch die Bewegungen der Menschen in ihr, die durch die architektonische Logik des Raumes dirigiert werden. Der Roman ist ästhetisch wie theoretisch der klassischen Moderne verpflichtet, das Repertoire der erzählerischen Mittel reicht von Collageverfahren über Schockeffekte bis hin zu inneren Monologen, die an die Tradition des stream-of-consciousness erinnern. Der Roman nutzt zahlreiche Anspielungen auf Literatur, Film und Philosophie, um den sozialen und theoretisch-politischen Kosmos des Protagonisten zu umreißen. Die Beschreibungen der Stadt wiederum erinnern an das Berlin in den Romanen und
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Filmen der zwanziger Jahre und haben daher nicht selten Vergleiche mit Döblins Berlin Alexanderplatz heraufbeschworen: »Wolkenschleier, die […] das Licht der Stadt reflektierten, [...] Autoscheinwerfer, die Kegel der Peitschenmasten, […] strahlende Neonreklamen: Fuji-Color, Commerzbank, […] illuminierte Schaukästen mit Waren aller Art.« (SM 224f.) Die Orte, die der Roman skizziert, sind ebenfalls genretypisch, oftmals sind es Szenarien in der U-Bahn, in zwielichtigen Kinos, in nächtlichen Kaschemmen und verlassenen Straßen, durch die sich Stefan Martinez meist ziellos und verloren treiben lässt. Die Stadt ist zugleich auch Ausformung des Kapitalismus und des Konsums, der die Sinne betört und verwirrt, so wird beispielsweise ein Zeitungskiosk zum quasireligiösen Konsumtempel: »Alles in Allem erinnerte die Ansicht an einen Altar, mit der Werbetafel als Baldachin und den Illustrierten in den Kästen als Votivgaben.« (SM 32) Die Verbindung zwischen Stadtraum und Konsum wird hier bewusst in die assoziative Nähe des Religiösen gerückt. Konsum und Stadt verwirren die Sinne des Beobachters und lenken ihn ab. Der Roman entwirft eine Theorie der Wahrnehmung des Ich in der kapitalistischen Großstadt, und lotet die soziale und gesellschaftliche Beschaffenheit des urbanen Raumes mit Hilfe der Erzähltechnik experimentell aus. Stefan Martinez als einen Generationsroman oder einen der Popliteratur vergleichbaren Gegenwartsroman zu verstehen, der die historische oder soziale Realität seiner Zeit abzubilden versucht, indem er zeittypische oder ortsspezifische Elemente in realistischer Manier in den Text einfügt, würde zu kurz greifen.1 Es gibt zwar Parallelen zu den Romanen der Popliteratur, so wird detailreich und unter Einbeziehung zahlreicher Produkt- und Firmennamen das Berlin der achtziger und neunziger Jahre evoziert. Allerdings bleibt die »Welthaltigkeit«2 lediglich angedeutet, so dass über die genaue zeitliche Einordnung Uneinigkeit herrscht. In einzelnen Kritiken wird unterstellt, dass der Roman in den Achtzigern angesiedelt ist und dass diejenigen Elemente, die auf die Dekade danach verweisen, ungewollte Anachronismen seien.3 Andere wiederum monieren, dass der Roman beide Jahrzehnte abdecke und dabei die wichtigsten Ereignisse,
1
Die Rezeption in den Feuilletons schlug zumeist diese Richtung ein, vgl. Bruno Preisendörfer: »Das war’s dann wohl«, in: Die Zeit vom 08.03.1996 und Harald Jähner: »Marx und Lenin sind jetzt Bettpfosten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.11.1995.
2
Alexandra Pontzen: »Von Bryant Park zum Potsdamer Platz. Ulrich Peltzer erzählt Globalisierung«, in: Wilhelm Amann/Georg Mein (Hg.): Globalisierung und deutsche Gegenwartsliteratur, Heidelberg 2010, S. 223-228, hier S. 227.
3
Vgl. Preisendörfer, »Das war’s dann wohl«.
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den Mauerfall und die Wiedervereinigung, ausspare.4 Das Buch widersetzt sich der eindeutigen zeitlichen Festlegung, und so muss der Versuch, ihn als Generationsroman, Migrationsliteratur5 oder Wenderoman zu etikettieren, zwangsläufig scheitern. In einer Zeit, da sich die Literaturkritik und Literaturwissenschaft solcher Etikettierungen nur allzu gerne bedienten,6 wundert es nicht, dass der Roman nur sehr selten besprochen wurde und auch von der Literaturwissenschaft bisher wenig wahrgenommen wurde.7 Angesichts des damaligen Trends zu popliterarischen und teilweise beinahe journalistischen anmutenden Schreibweisen, die am »Puls der Zeit« sein wollten, erscheint Peltzers erzählerisches Großprojekt unzeitgemäß. Autoren wie beispielsweise Benjamin von Stuckrad-Barre oder Christian Kracht wurden als »Archivisten der Gegenwart«8 gepriesen, die es zudem verstanden, sich in den Medien erfolgreich zu positionieren. Der narratologische und ästhetische Anspruch des Romans war demgegenüber vermutlich nicht leicht zu vermitteln. In dieser Hinsicht weist der Roman eher Parallelen zu Jan Brandts Gegen die Welt9 als zum fröhlichen Positivismus der Popliteratur auf, formuliert Peltzer doch ein ambitionierteres politisch-kritisches Programm. Eine zeitgenössische Rezension unterstellt Peltzers Roman allerdings eine mangelnde kritische Distanz zur Haltung des zunehmend desillusionierten Martinez, wenn sie dem Autor vorwirft, dass dieser die theoretisch-kritischen Elemente nur anzitiert, um sie gewissermaßen als epochenspezifische Tapete in den Erzählraum einzubringen: Nein, das stilistische Repertoire der klassischen Moderne […] kann die spezifisch zeitgemäße Ratlosigkeit des Stefan Martinez nicht begründen. Vielleicht sind die Probleme, die seine Generation zu lösen hat, in der Tat so fundamental, daß jenes fast teilnahmslose Achselzucken, das als Grundstimmung den Roman durchzieht, sich einmal aus der histori-
4
Pontzen: »Von Bryant Park zum Potsdamer Platz«, S. 226f.
5
Preisendörfers Rezension in Die Zeit beginnt mit dem Aufhänger, dass »der Gastarbeiter« nun als Thema in der deutschen Literatur angekommen sei. Dem gegenüber ist allerdings einzuwenden, dass Peltzer weder stilistisch noch formal an die so genannte »Gastarbeiterliteratur« anknüpft, und dass die Heimatlosigkeit des Helden eher einen grundsätzlich-metaphysischen als einen sozialkritisch motivierten Charakter hat.
6
Dirk Niefanger: »Der Autor und sein Label«, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart und Weimar 2002, S. 521-539.
7
Alexandra Pontzen geht in ihrem Aufsatz zu Teil der Lösung lediglich in zwei kurzen Sätzen auf Stefan Martinez ein.
8
Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002.
9
Jan Brandt: Gegen die Welt, Köln 2011.
80 | J EANINE T USCHLING schen Distanz als durchaus alternativlos darstellen wird. Auf die jüngste Vergangenheit bezogen, verdeckt es aber allzu nonchalant die Tatsache, daß seine Generation ihre Denkstrukturen binnen weniger Jahre zu großen Teilen ausgetauscht hat. […] Wie im richtigen Leben werden die geistigen Requisiten der einen Ära begriffslos durch die Accessoires der nächsten ersetzt. Marx, Engels und Lenin sind als Möbelstützen unter den Bettrost gewandert und haben Fritjof Capra, der Chaostheorie und der Mandelbrotmenge Platz gemacht, die Peltzer nun Anlaß für aktuelle erkenntniskritische Kürläufe bieten.10
Statt die Veränderungen in jenen »Denkstrukturen« zu verdecken, entwickelt der Roman jedoch vielmehr eine implizite Kritik an der Gleichgültigkeit seines Helden. Tatsächlich bietet der Roman keinen auktorialen oder allwissenden Erzähler, der die politisch-kritische »Ratlosigkeit« seines Protagonisten im Sinne eines Korrektivs aufzuheben versuchte. Vielmehr hebt Unvermitteltheit der subjektiven Ebene die Diskontinuitäten und Widersprüchlichkeiten des Stefan Martinez nur umso deutlicher hervor. Martinez ist durch seinen Job in einem Architekturbüro am Aufbau des turbokapitalistischen Berlin der achtziger und frühen neunziger Jahre beteiligt. Sein fast schon naiver Glaube an die Objektivität der Naturwissenschaft erinnert ein wenig an Max Frischs Homo Faber, und in der Überzeichnung dieses Denkens ist eine implizite Kritik an der Idee des wertneutralen Architekten formuliert: »Etwa fünfhundert Meter gerader Strecke lagen noch vor ihm, fünf Minuten bei gleichbleibender Geschwindigkeit, ohne irgendwo stehenzubleiben oder sich überflüssige, dem Tempo abträgliche Gedanken zu machen.« (SM 225) Wenn Martinez allerdings versucht, seine Gefühle mit Hilfe seiner naturwissenschaftlichen Methoden zu analysieren, scheitert er kläglich. Seine Beziehung zu seiner Freundin Evelin, sein ungeklärtes Verhältnis zu seinem spanischen Vater und zu seiner Vergangenheit insgesamt bringen ihn ins Schleudern. Seine Individualität, seine Herkunft und seine Lebensgeschichte sind für ihn fremd und unverständlich, was er allerdings wiederum nur über den Umweg einer von seiner Person abgelösten wissenschaftlichen Hypothese auszudrücken vermag: »Unter der heute eigentlich gesicherten Voraussetzung einer unendlich heißen Verdichtung des Raumes im Nullpunkt der Zeit, in Form einer volumenlosen Singularität, existiert folglich eine kurze Epoche der Geschichte, die, von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet, unbefriedigend und undurchsichtig bleibt.« (SM 337) Er bezeichnet sich als »idiot savant« (SM 198) und als einen »Schatten von toten Formeln« (SM 198). Dem Leser wird der Protagonist während einer Fahrt mit der U-Bahn erstmals genauer beschrieben. Die Beschrei-
10 Jähner: »Marx und Lenin«.
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bung der Person vermischt sich dabei mit der des Raums; Türen, Fenster und Mauerwerk sind die Projektionsfläche für das Ich, die Unaufhaltsamkeit des Älterwerdens wird wohl nicht zufällig in einer durch einen Tunnel rasenden UBahn reflektiert: Am besten, man blieb ein wenig zurück und suchte sich eine Stelle nahe der Türe […], wo einem […] niemand vor der Nase stand, außer dem eigenen Bild, das im Tunnel auf dem abgetönten fettigen Glas der Scheibe erschien; aus ihrem Hintergrund (fliehendes Mauerwerk) hervortrat, wie ein jenseitig verborgenes Gesicht, das zwar nicht fremd war, doch verschieden von dem Eindruck, den ein gewöhnlicher Spiegel vermittelt, eher die Wirkung eines Negativs hatte, das vorwegnahm, was einmal sein wird. […]. [Es] gruben sich zwei Falten tief in die Mundwinkel und gaben ihm […] eine gewisse Strenge. […] Eine Narbe, die sich im Lauf der Zeit immer deutlicher abzeichnen würde. Unumkehrbar, wie eine chemische Reaktion, die […] nicht mehr aufzuhalten ist und mit vorhersagbarer Genauigkeit ans Ende kommt. (SM 45)
In der Beschreibung des Protagonisten wird deutlich, dass Zeit und Raum sowohl motivisch als auch für die Narration des Romans eine fundamentale Rolle spielen. Seine Selbstwahrnehmung ist untrennbar mit dem Leben in der Stadt verknüpft, denn diese beeinflusst seine Sinne und prägt seine persönliche Wahrnehmung des Innen und Außen. Zeit im Roman Der Roman verschränkt verschiedene Erzählzeiten und Erzählräume und moduliert durch die gezielte Manipulation der Erzählzeit und durch die Fragmentierung des Erzählraums auch die Wahrnehmung des Lesers durch eine spezifische Aufmerksamkeitslenkung. Am Beispiel der Modularisierung der Erzählzeit und der erzählten Zeit soll daher die zeitliche Strukturierung des Romans genauer untersucht werden. Zeit spielt für die Rhythmisierung des Romans eine wichtige Rolle, so wird in vielen Passagen der Erzählfluss sehr zerdehnt, eine kurze Zeitspanne sehr genau und mit einer Überfülle von detailgenauen Beschreibungen des Raumes angereichert. Die Zeit quoll herein, ein nicht vorhergesehenes Zuviel an ihr, die unvermutete Dehnung eines gewöhnlichen Ablaufs, und damit Unruhe, die unterdrückt werden musste. Als sei man plötzlich ganz auf sich zurückgeworfen, entblößt durch einen Fehler des Betriebssystems, mit dem man sich organisch verbunden glaubte (...), sozusagen im Rhythmus eines Fahrplans, der eine Viertelstunde lang alle Verantwortung übernommen hatte. Was tun?
82 | J EANINE T USCHLING Auf und ab gehen, sich langsam im Kreise drehen, das Programm der Theater lesen, in seiner ruhigen tabellarischen Abfolge versinken, um die das Bewusstsein zerkribbelnde Nervosität zu betäuben. Und keine Ansage gab ein Maß vor, an dem man das Warten hätte abzählen können. (SM 39)
Die Erzählzeit und erzählte Zeit erscheinen dabei teilweise fast deckungsgleich, und so vollzieht der Leser die im inneren Monolog akribisch genau beschriebene Langweile und Ungeduld des auf die verspätete U-Bahn wartenden Protagonisten selbst beinahe quälend nach, wenn sich die Erzählung an den unzähligen Details aufhält. Dieser Verlangsamung stehen an anderer Stelle wiederum schockartige Wechsel des Tempos und elliptische Kurzsätze gegenüber: Verloren das Vorher, verschwunden wie ein Ordner, den der Speicher nicht mehr freigibt. Access Memory: Closed thru error. File is unnamed. […] Wie du gewesen bist, als du ein anderer warst. […] Vorgestern, gestern, heute. […] Vor drei, vier Jahren. Vergessen, zu lange her, von der Gegenwart durch eine Wand getrennt […]. Nie mehr. (SM 47)
Durch die englischen Einsprengsel aus dem Bereich der Computersprache und das befehlsartige Stakkato aus Kurzsätzen entsteht der Eindruck, dass die aufgezählten Zeitpunkte tatsächlich durch keine zeitliche oder semantische Logik miteinander verbunden seien. Die elliptische Satzstruktur erschwert es zusätzlich, die Gedankenfolge in einen größeren Zusammenhang zu bringen. Erst im weiteren Verlauf wird deutlich, dass es sich um einen inneren Monolog von Stefan Martinez handelt, der beim Warten auf die U-Bahn über die Vergänglichkeit seines Lebens und sein Älterwerden sinniert. Die Verschränkung von Zeit und Raum im individuellen Erleben und ihre wechselseitige Beeinflussung werden in der Narration selbst auf einer Metaebene reflektiert, etwa, wenn die Bewegung von Individuen im städtischen Raum dargestellt wird. [D]ie meisten [schienen] sich ihrer Route sicher zu sein, wußten, wohin sie wollten […] alle hasteten zielstrebig durch das Geschoß, von Ausgang zu Rolltreppe oder umgekehrt, und es dauerte immer eine zeitlang, bis sich die Wahrnehmung dieser Rennerei anpaßte und Einzelheiten aufnahm […], sich sozusagen von jenem Schwindel befreite, in den die Atmosphäre eines von zahllosen Bewegungen durchkreuzten Halbdunkels sie versetzte. (SM 30)
Der Raum moduliert Tempo und Richtung der Bewegung der Einzelnen und bewirkt dabei eine spezifische Anpassung der sinnlichen Wahrnehmung. Die Hektik und der Fluss der Menge erinnern stark an Siegfried Kracauers Ornament der
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Masse. Kracauer beschreibt in dem Essay das Verschmelzen der Individuen zu einer ornamentartigen Masse, wie beispielsweise in Varietéaufführungen, in denen sich zahlreiche Individuen in einem bestimmten Rhythmus und einer vorgegebenen räumlichen Anordnung optisch zu einer einzigen Konfiguration mit ornamentalem Charakter fügen. Der Einzelne wird dabei weitgehend zum Verschwinden gebracht. Interessanterweise beschreibt Kracauer die Beziehung von Individuum und Menge mit einem Beispiel aus der Architektur, nämlich in der Beziehung zwischen Einzelbaustein und Gesamtgebäude: Die Muster der Stadions und Kabarette […] werden aus Elementen zusammengestellt, die nur Bausteine sind und nichts außerdem. Zur Errichtung des Bauwerkes kommt es auf das Format der Steine und ihre Anzahl an. Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.11
Wie Peltzer interessieren Kracauer die Wirkung auf den Einzelnen und die Zwanghaftigkeit, die sich aus der konzertierten Bewegung im Raum ergibt. Er beschreibt diese als einen Prozess der Verdinglichung, aus dem sich ein auratischer Überschuss ergibt, der sich der rein rationalen Betrachtung widersetzt: »Träger der Ornamente ist die Masse. […] Ein Strom des organischen Lebens wälzt sich von den schicksalhaft verbundenen Gruppen zu ihren Ornamenten, die als magischer Zwang erscheinen und so mit Bedeutung belastet sind, daß sie sich zu reinen Liniengefügen nicht verdünnen lassen.«12 In der oben beschriebenen Szene aus dem Roman ist der Zwang der Bewegung in der Masse als ein Schwindel zu spüren, aus dem das Individuum erst einmal auftauchen muss. Der Roman durchbricht diesen Zustand der Passivität, indem er den Leser zu unterschiedlichen Rezeptionsmodi einlädt, diese aber jeweils durch schnelle Wechsel des Erzählrhythmus, der Perspektive und des Stils immer wieder unterbricht. Eine kontemplative Immersion wird durch diese Verfahren wiederholt verhindert. Dem liegt die im Roman ausformulierte These zugrunde, »daß die Modi der Erkenntnis von Ort und Bewegungszustand der Beobachtungssituation abhängen und Zeitmessungen nur dann ihren Sinn behalten, wenn man angibt, auf welchen Raum sie sich beziehen.« (SM 562) Daher wird die Erzählzeit in verschiedene Stränge unterteilt, die in den jeweiligen Kapiteln und Abschnitten des Romans ihrer eigenen räumlichen Logik folgen. Verschiedene erzählte Zeiten überlagern
11 Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/Main 1977 [1927], S. 51. 12 Ebd.
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sich, Gegenwart und Vergangenheit zerfließen im Roman. In den Reflexionen, die der Protagonist über seine eigene Wahrnehmung der Zeit unternimmt, steht die Vergänglichkeit im Vordergrund. Stefan Martinez denkt wiederholt über sein eigenes Altern nach und versucht, seine Individualität in Beziehung zu setzen zu dem, was um ihn herum geschieht. In seine objektive mathematisch-berechenbare Welt führt er dabei insgeheim eine vierte, nämlich subjektive, Dimension ein: Für mich [...] zerfließen die Sekunden vor dem Fenster langsamer als gewohnt und erwartet, die Strecken sind gestaucht, weil die Zeit, meine Zeit, […] kein ubiquitär gültiges Maß darstellt, sondern als bewegungs-, d.h. geschwindigkeitsabhängige Variable verstanden werden muß, den drei Koordinaten des Raumes, meines Raumes, als vierte gleichranging und nicht mehr von ihnen zu trennen. (SM 563)
Die Etablierung der Zeit als eine vierte Dimension des Raumes erinnert wohl nicht zufällig an Michail Bachtins Konzept des »Chronotopos«, den er als »Raumzeit« definiert: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur erfaßten ZeitRaum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos (»Raumzeit« müßte die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen. […] Für uns ist wichtig, daß sich in ihm der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur.13
Beide, Bachtin und Peltzer, stützen sich auf die Einstein’sche Relativitätstheorie. Bachtin überträgt sie auf die Literaturwissenschaft, um die Untrennbarkeit von Raum und Zeit im Roman genauer zu fassen und um sich der »literarischen Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raums«14 zu nähern. Dabei gilt es nicht, diese als Splitter des Realen festzustellen, sondern die im Roman verankerte Reflexion der Beziehung von Raum und Zeit aufzudecken. Die zeitliche Gestaltung des Romans ist mit einer aufwändigen Raumstruktur gekoppelt. Wenn der Roman Raum und Zeit reflektiert, tut er das zugleich in Rückgriff auf seine eigene Konstruktion und auf seine Beziehung zur literarischen Tradition. Die Parallelen zum Aufbau von James Joyces Ulysses
13 Michail Bachtin: Chronotopos, Frankfurt/Main 2008, S. 7. 14 Ebd.
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sind auffällig,15 denn Stefan Martinez arbeitet die verschiedenen zeitlichen Modi des klassisch-modernen Vorbilds nacheinander durch. Das erste Kapitel weist eine zirkuläre, das zweite eine linearen, das dritte wiederum eine spiralförmige Zeitstruktur auf. Ulrich Peltzer will keine historische oder soziale Realität abbilden, sondern den Leser durch die Modularisierung der Erzählzeit und durch die Fragmentierung des Erzählraums und durch die darin implizierte Reflexion der eigenen Chronotopoi die verschiedenen Raum-Zeiten erfahrbar machen. Raum und Zeit sind daher bei ihm keine festen Entitäten, sondern tradierte Erzählmuster und somit historisch und sozial wandelbar. Sie sind sowohl individuelle als auch kollektive Variablen, die sich stets verändern. Stadt, Architektur und Raum im Roman Raum ist für das Verständnis des Romans in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsselelement. Die Inszenierung des Großstadtraums zu analysieren, geht aber über die Aufdeckung realer lokaler Bezüge hinaus, sie kann vielmehr auch »Aufschluss geben […] über das Verhältnis zwischen erzählten Räumen, realen Räumen und kulturellen Raummodellen.«16 Die Semantisierung des Raums erfolgt auf verschiedenen Ebenen: Reale Orts- und Straßennamen und Beschreibungen von bekannten Räumlichkeiten wie Kneipen, Plätzen und Gegenden werden beispielsweise bei der Darstellung von Stefan Martinez’ Flânerien durch Berlin in die Erzählung mit eingeflochten. Diese Nennungen sind sparsam eingesetzt, um die oftmals allzu sehr an die Wirklichkeit angelehnten Beschreibungen zu vermeiden, wie sie etwa im Genre des regionalspezifischen Kriminalromans auftauchen.17 Darüber hinaus bietet die Fokalisierung der Erzählung eine weitere Mög-
15 Eine genauere Betrachtung der Nähe zu James Joyce nimmt Maren Jägers Beitrag in diesem Band vor. 16 Ansgar Nünning: »Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 40. 17 Wie beispielsweise in der folgenden Textpassage aus einem von Anne Chaplets in Frankfurt angesiedelten Lokalkrimi: »Er hatte den großen Platz – rechts die Fachwerkhäuser, dahinter der Dom, vorne die Justitia am Gerechtigkeitsbrunnen – bereits überquert, als er das Kreischen hinter sich hörte. Elstern, dachte er. Die Vögel spielten wirklich verrückt heute. […] Während er schon über die Braubachstraße lief, drehte er sich um und blickte zurück. Die schwarzweißen Vögel kreisten um den Glockenturm der Alten Nikolaikirche […]« (Anne Chaplet: Erleuchtung, Berlin 2012, S. 3).
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lichkeit der Raumdarstellung: Im Wechsel zwischen innerem Monolog und erlebter Rede aus der Perspektive verschiedener Personen werden unterschiedliche Räume geschildert: Stefan erzählt von der engen Spießigkeit der mit »Gelsenkirchener Barock« und zugehörigem Buchbestand (Brockhaus und Reader’s Digest) eingerichteten Wohnzimmer seiner Tante und fängt damit nicht nur den innenarchitektonischen, sondern auch den geistigen Mief der BRD der frühen sechziger Jahre ein. Aus der Sicht der Mutter wird die Beklemmung in von Bombentreffern zerstörten Kellern im Zweiten Weltkrieg gezeigt. Naturschilderungen aus der Sicht eines auktorialen Erzählers evozieren an anderer Stelle wiederum die Erzählräume der deutschen Romantik und der Topos des locus amoenus. Diese durch die Fokalisierung, die Variation der Diegese und die Multiperspektivität des Romans vervielfachte Raumordnung bewirkt gleichzeitig eine Fragmentierung, aber auch eine Öffnung des Erzählraums. Durch die Komplexität der zeitlichen Konstruktion des Romans wird auch der Erzählraum des Romans selbst, seine innere Architektur, zu einer aus vielen kleineren Entitäten bestehenden Struktur. Diese Struktur stellt eine Spiegelung der historischen Durchdringung der erzählten Räume dar. In Analepsen auf Martinez’ Kindheit in der Nachkriegs-BRD werden etwa wiederholt Städte beschrieben, bei denen sich die verschiedenen Lagen der Geschichte in die Gestaltung des Raumes und der Architektur einschreiben. Trümmergrundstücke werden mit dem Wirtschaftswunder und dem entstehenden Kohleabbau zwar weniger, aber nicht vollständig verdrängt. Und auch in Berlin ist die Geschichte in der Architektur weiterhin präsent: Hinten schloß sich dem Block ein hochgeschossener Querriegel an, der […] den Blick in die Straßenflucht verstellte wie eine Wand. […] Erst aus der Nähe […] sah man, daß der schmucklose graue Kasten […] ein Bunker war, dessen Abriß zu teuer gekommen wäre, weshalb man das Haus in den siebziger Jahren um ihn herum gebaut hatte, sich seiner als Fundament bedienend, Überbleibsel eines Hallenkomplexes, in dem einst der totale Krieg ausgerufen worden war. (SM 108)
Die Architektur ist hier kein Mittel der wertfreien Gestaltung des Raums, sondern gestaltet, im Gegenteil, den sozialen Raum, und das Zusammenleben der Menschen in diesem Raum. Sie hat eine zeitlich-historische Dimension, die die auch die gegenwärtige Wahrnehmung beeinflusst (»Sie verstellte den Blick wie eine Wand«). Die Stadtarchitektur wird dabei zu einem »Erinnerungsraum« im Sinne des Begriffs von Aleida Assmann, denn in ihr manifestiert sich das kulturelle Gedächtnis. Der Ort verweist zugleich auf seine spezifische Zeitlichkeit, in der sich verschiedene Zeitebenen und Erinnerungsschichten überlappen.
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Seit der antiken Mnemotechnik, jener Lehre, die das notorisch unzuverlässige natürliche Gedächtnis mit einem zuverlässigen artifiziellen Gedächtnis implementierte, besteht eine unverbrüchliche Beziehung zwischen Gedächtnis und Raum. Der Kern der ars memorativa besteht aus imagines, der Kodifizierung von Gedächtnisinhalten in prägnanten Bildformeln, und loci, der Zuordnung dieser Bilder zu spezifischen Orten eines strukturierten Raumes. Von dieser topologischen Qualität ist es nur noch ein Schritt zu architektonischen Komplexen als Verkörperungen des Gedächtnisses.18
In Peltzers Schilderung der palimpsestartigen Überlagerung der architektonischen Schichten drückt sich auch eine Konkurrenz verschiedener Erinnerungsdiskurse aus; hier ist es der Pragmatismus der siebziger Jahre, dort die Verweigerung des Erinnerns in der Kultur der Gegenwart. Die Architektur ist aber nicht nur eine Verkörperung des kulturellen Gedächtnisses, sondern auch Ausdruck der sozialen Beziehungen der Gegenwart, die der Raum steuert. So denkt Martinez beispielsweise auf einer Zugfahrt an eine vergangene Reise zu den Pyramiden in Ägypten und referiert gedanklich die »Axis Mundi«-Theorie des Religionshistorikers Mircea Eliade, nach der es eine sakrale Praxis gab, bei der »Symbole einstmals die Ordnung des Universums, i.e. die dauerhafte Verbindung zwischen Himmel und Erde ausdrückten, um welche man jede architektonische bzw. soziale Konstruktion gruppierte […].« (SM 547f.) Im Zitat oben ist der Bunker ein negatives Symbol, um das herum sich die moderne Stadt konstituiert, das aber umso markanter für die soziale Hierarchisierung des städtischen Raumes steht. In Teil der Lösung wird dieser Aspekt am Beispiel der Bewegung verschiedener sozialer Gruppen, und vor allem der Beschränkung dieser Bewegung im Sony-Center am Potsdamer Platz, dann intensiver ausgearbeitet. Es ist ein soziales Privileg, sich im städtischen Raum frei bewegen zu können, während anderen der Zutritt zu bestimmten Bereichen verwehrt bleibt. Mit Hilfe digitaler Überwachungstechnologie wird die Nutzung des Raums dezidiert kontrolliert. Die Frage, wie sich die Kontrolle von Raum und die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse bedingen, wird zu einer kritischen Theorie des Raumes entwickelt. In Stefan Martinez findet somit eine Metareflexion der Chronotopoi des Romans statt. Da der Raum immer auch eine Zeitdimension hat, bedeutet dies eine intrinsische Verstrickung von Autor und Welt. Die individuelle Erfahrung von Raum und Zeit kann somit niemals von der Gesellschaft, in der sie gemacht wird, abgekoppelt sein. Orte sind durch ihre Zeitlichkeit und die Gleichzeitigkeit
18 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 158.
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dieser temporalen Dimension miteinander verknüpft, ebenso wie die individuellen Erfahrungen, die die Menschen machen. Die Freude des Einen ist nicht zu trennen vom Leid des Anderen. Auch der soziale, geographische Raum der Stadt wird im Roman zu einem individualisierten Gefüge aus Zeit und Raum. Martinez schlendert durch die Stadt, in der verschiedene Orte für die Vergangenheit und die Gegenwart des Ich eine Bedeutung haben. Dieses wird dabei zu einer Art Atlas der Emotionen und Reaktionen auf die Umwelt: Teil einer Karte, die eine verschlungene Linie durchlief, deren Anfang (oder Ende) vor dem Haus lag, in dem Evelin wohnte. Seine Karte der Stadt zerfiel in verschiedene solcher Planquadrate, mal größer, mal kleiner, da sauber voneinander getrennt, dort sich überschneidend, mit jeweils anderer Zeichnung, (...) was davon abhing, wie lange er es irgendwo ausgehalten hatte, alleine oder mit einer Frau. Manche Teile Berlins waren weiß geblieben, unbeschriftet mit den Linien seiner Wege, Räume ohne Graphen und Achsen, die er auch nicht mehr kennenlernen wollte. (SM 21)
Diese individualisierte Raumordnung ist aber ambivalent, denn an anderer Stelle macht die Erzählung klar, dass diese eigentlich nicht von der übergreifenden, durch historisch-politische Realitäten gestalteten Welt zu trennen ist, wie später noch genauer ausgeführt werden soll. Es ist auch deutlich, dass der Protagonist bewusst gewisse Teile ausblendet. In Stefan Martinez steht die Weltoffenheit, die er in der beengten Kindheit in Westdeutschland vermisst hat, einer Sehnsucht nach dem Bei-Sich-Sein gegenüber. Nicht zufällig ersinnt er seine subjektivistische Geographie, während er in die Landschaft blickt, deren Beschreibung an die überhöhten Naturschilderungen der Romantiker erinnert: [A]n den Böschungen der Gräben […] wachsen Kopfweiden, gedrungene, krüppelige Stämme mit aufsprießendem Geäst, […] Erdgeister, denen die Haare zu Berge stehen. […] Tatsächlich geht […] eine Umschichtung […] im Seelenleben des Reisenden vonstatten, und zwar dergestalt, daß […] sich eine Art Wohlbefinden bemerkbar macht, […] den eine linde Euphorie tönt […]. Hätte man gefragt, weshalb der Eindruck eines […] herbstlichen Nachmittags sein Inneres solchermaßen affizierte, wäre Stefan weder zu einer Erklärung noch zu einer schlüssigen Erläuterung […] in der Lage gewesen. (SM 550)
Eine mögliche Erklärung könnte sich aus dem Kontext erschließen. Die geschilderte Szene, in der auch Stefans Wahrnehmungstheorie elaboriert wird, trägt sich im Anschluss an ein politisches Treffen in seiner Jugendzeit zu. Gemeinsam mit Freunden hatte er an der Zusammenkunft einer marxistisch-leninistischen Basisgruppe teilgenommen, bei der die Frage der Kriegsdienstverweigerung diskutiert
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worden war. Dabei wurde vom einen Lager behauptet, dass Pazifismus mit Feigheit gleichzusetzen sei und dass der Wehrdienst die ideale Grundlage für den bewaffneten Widerstand gegen den Kapitalismus sei. Nur ein Einzelner hatte gegen diese Ansicht protestiert, was die Mehrheit mit feindseligen Reaktionen quittiert hatte. Auf der Rückfahrt herrscht zwischen Martinez und seinen Freunden peinliches Schweigen: »Den ganzen Weg wendet niemand auch nur einmal den Kopf, um, was vorgefallen ist, zur Sprache zu bringen, den Ausschluß Bs, die Linie der Partei, das eigene und das Verhalten der Genossen, obwohl – oder vielleicht gerade deshalb – jeder sich auf spezifisch persönliche Weise, das heißt politisch, davon betroffen fühlt.« (SM 542) Der Einschub, der auf die Verquickung des Persönlichen und des Politischen hinweist, ist hier keinesfalls nur eine Anspielung auf den bekannten Slogan der Epoche, sondern er kündigt bereits die Problematik an, die im weiteren Verlauf bestimmend sein wird: Martinez flüchtet nicht nur vor der aktuell peinlichen Situation, die Rückreise mit den Freunden überstehen zu müssen, ohne den Vorfall zu thematisieren, sondern vielmehr vor der Gretchenfrage, die die Linke zu der Zeit spaltete, nämlich die Frage der Legitimität von Gewalt als Mittel des politischen Widerstands. Sein Zufluchtsraum ist die subjektive Wahrnehmung, das Sich-Versenken-in-die Natur, das die aporetische Verstrickung von Persönlichem und Politischem scheinbar aufzuheben vermag. Doch Peltzer desavouiert diese Flucht ins Private, indem er seinem Protagonisten Adorno und Kant entgegenhält. Doch vermag der Zauber dieses Eindrucks sich jedem zu erschließen, der […] einen (Rest-)Sinn für solche Metaphern hat […], selbst in dem Wissen, daß semantische Übertragungen willkürlich, d.h. nominalistisch, sind. […] So handelt es sich […] um einen gewöhnlichen Prozeß, den sich ein vorwissenschaftliches Denken kraft mehr oder weniger gelungener Vergleiche inkorporiert, […] augenblicksweise entrückend, was heute allein noch mit Zauber gemeint sein könnte. (SM 549)
Hier erinnert nicht nur die Diktion an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, sondern auch die Vorstellung von der Beziehung von Wahrnehmung, Sprache und Wirklichkeit. In der Dialektik der Aufklärung war das magische Denken dahingehend charakterisiert worden, dass es eine nominalistische Auffassung der Beziehung von Wort und Ding verficht, dass also das Unerklärliche, nicht mit dem Verstand fassliche, als magischer Überschuss formuliert wird. In der Theorie Horkheimers und Adornos wird die Aufklärung selbst wieder unvernünftig, wo sie ihre eigenen Grenzen verkennt und das Nichtidentische, Nicht-Erklärbare wiederum als vollständig durch den Verstand beherrschbar
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setzt. So wird wiederum eine Identität von Begriff und Anschauung gesetzt, die ins magische Denken kippt. Dagegen wird von Horkheimer/Adorno, aber auch von Peltzer das folgende Diktum Kants ins Feld geführt: »Auf jeden Fall erwähnenswert bleibt in diesem Zusammenhang das in der transzendentalen Logik gezogene Resümee, daß Gedanken ohne Inhalt leer, Anschauungen ohne Begriffe hingegen blind seien.« (SM 551) Der Protagonist indes vergisst dieses Diktum wieder und verlegt sich auf einen beinahe kindlichen Glauben an das Mathematisch-Naturwissenschaftliche, das seine gesamte Wahrnehmung fortan dominiert: Wie Frischs Homo Faber flüchtet er sich in eine übertrieben wissenschaftliche Wahrnehmung seiner Welt, so beschreibt er beispielsweise die Traube der Wartenden in einer U-Bahn als eine Gauß’sche Glockenverteilung (vgl. SM 42) oder berechnet die zurückgelegte Distanz während seines Gehens mittels mathematischer Formeln (vgl. SM 225). Doch dieser Zugang zur Welt wird wiederholt ad absurdum geführt, denn er verstickt sich in inhaltsleere Gedanken und seine Wahrnehmungen werden zunehmend zu einem bedeutungslosen Kaleidoskop der Sinneseindrücke, die das Ich zwar naturwissenschaftlich registriert, aber nicht verarbeitet. Statt diese aber als einen subjektiven Faktor außerhalb des Objektiv-Erklärbaren zu begreifen, integriert er sie in sein naturwissenschaftliches Weltbild. Er versucht, sein Leben als eine logische Aufeinanderfolge von rational erklärbaren Tatsachen zu fassen, um sich selbst besser zu verstehen: »So kam ich dahin, würde man alles in eine präzise Reihenfolge bringen, die ein logisches Ergebnis hat. […] Abgeleitet wie ein Beweis. Das bist du. Eine Karte, die man sich angucken kann.« (SM 94) Statt einer Chronologie präsentiert die Erzählung daher eine Topographie von miteinander verknüpften, aufeinander verweisenden Elementen, in die der Erzählraum sich wie eine Art Hypertextstruktur aufsplittet. In dieser Verräumlichung der Vergangenheit scheint der Erzähler einen gewissen Trost zu suchen, da dieser sich vermeintlich durch physikalisch-mathematische Formeln beherrschen lässt. Seine so scheinbar erreichte Selbstermächtigung, die zur Aufhebung seiner emotionalen Widersprüchlichkeiten führen soll, vergrößert eigentlich seine Entfremdung von sich selbst. Der politische Aktivismus seiner Jugendzeit wird bald von einem Leben verdrängt, das von nächtlichen Kneipentouren und Drogenexzessen bestimmt ist, während derer zwar ausgiebig mit Freunden philosophiert und über den gesellschaftlichen Zustand der Welt sinniert wird, doch letztlich werden diese Erfahrungen, in Kants Worten, zu Anschauungen ohne Begriffe und letztlich zur leeren Geste. Diese Widersprüchlichkeiten sind in Erzählraum und Erzählzeit des Romans Stefan Martinez als Konstruktionsprinzip bewusst eingeschrieben. Diese Sozialtheorie des Raumes ist eng mit der soziohistorischen Formung des städtischen Raumes verknüpft. Peltzer macht die soziale Geographie des ur-
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banen Raumes erneut in Teil der Lösung anhand der durch die Globalisierung forcierten Mobilität zum Thema. Für diesen Roman problematisiert Alexandra Pontzen eine ähnliche Gemengelage, reklamiert dabei allerdings, dass dieser die Widersprüchlichkeit auf der narratologischen Ebene aufzuheben versuche: Auf der Handlungsebene des Romans verweist er19 auf den Radikalismus des 1970erJahre-Terrorismus und spiegelt sich in einem Streit zwischen […] [den Protagonisten], ob man im Kampf um Veränderung Aktivist oder Profiteur ist. Angesichts des Masterphänomens Globalisierung lässt sich die Alternative nur noch aufheben: in der Organisation der Narration.20
Meines Erachtens versucht Peltzer aber gerade nicht, diesen Widerspruch aufzuheben, sondern vielmehr, mit ästhetischen Mitteln seine Funktionsweise zu demonstrieren. Treffend an Pontzens Analyse ist jedoch die Verortung dieses Vorgangs in der spezifischen Konstruktion der Narration. Alexandra Pontzen stützt ihre These damit, dass es keine »erzählerische Relativierung der In-eins-Setzung von Makro- und Mikrokosmos«21 gebe. In Stefan Martinez besteht zunächst die Tendenz, dieses Verhältnis als deckungsgleich zu setzen, wenn minutiös der subjektive Atlas der Wahrnehmungen des Protagonisten geschildert und mit der Kartographie der Großstadt in Beziehung gesetzt wird. Doch gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass eben jene Parallele als problematisch gesetzt wird, beispielsweise, indem die Perspektive des Protagonisten ironisch gebrochen oder als in sich widersprüchlich dargestellt wird. Interessanterweise fasst Pontzen fasst diese Konstruktion nicht als Spannungs-, sondern als ein Abbildungsverhältnis auf, kommt jedoch letztlich zu einem ähnlichen Schluss: Sie scheint […] indes eher als mimetisch zuverlässige Widerspiegelung eines (Intellektuellen-) Milieus, für das die Differenzierung in ›Globalisierungsgewinner‹ und ›-verlierer‹ keine bzw. eine falsche Alternative darstellt, weil sich in seiner Lebensweise die Privilegien der Globalisierung längst nicht mehr von deren Preis unterscheiden lassen […].22
Beide Seiten fallen auseinander, weil die jeweilige Vermitteltheit nicht aufgelöst werden kann. Das zeigt sich auch darin, dass der Einzelne sich nicht aus den
19 Gemeint ist der im Romantitel aufgegriffene Satz des RAF-Mitglieds Holger Meins: »Entweder du bist Teil des Problems oder du bist Teil der Lösung«. 20 Pontzen: »Von Bryant Park zum Potsdamer Platz«, S. 230. 21 Ebd., S. 229. 22 Pontzen: »Von Bryant Park zum Potsdamer Platz«, S. 230.
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Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft lösen kann. Dieses Problem ist beispielsweise in Teil der Lösung Gegenstand der Auseinandersetzung, weil der Protagonist als Journalist mit den Berichten über die Widerstandsgruppen nicht nur aufklären, sondern eben auch Geld verdienen will. Stefan Martinez hingegen verstrickt sich etwa in Widersprüche, weil sein politischer Aktivismus zwar ehrlich gemeint, aber auch dadurch motiviert ist, dass er Frauen beeindrucken will. Eine seiner Missionen, auf die er von seinen Genossen geschickt wird, ist der Schmuggel von Waren über die ägyptische Grenze, angeblich zur Unterstützung des politischen Widerstands, doch auch diese Aktion ist fragwürdig, weil die Schmuggelware aus Luxuskonsumgütern wie Designerkleidung besteht. An einer Stelle wird ein früher vermeintlicher Ökoladen kritisiert, weil er den Anschein zu erwecken versuche, dass seine Produkte der »industrielle[n] Entfremdung enthoben« (SM 36) seien, und gerade dadurch eine besonders hohe Gewinnspanne erzielte. Der Roman formuliert das Problem der Verstrickung wiederum im Sinne einer Theorie des Raumes, nach der keine Handlung, keine Wahrnehmung und kein Ort unabhängig von anderen ist, im Sinne des Aphorismus von John Donne »No man is an island«.23 Der Roman Stefan Martinez löst daher die Widersprüchlichkeiten seines Helden und auch seiner verschiedenen Erzählstränge nicht in einer linearen Erzähllogik auf, sondern schafft einen Hypertext aus verschiedenen Motiven, Erzählsträngen, Zeitebenen und Befindlichkeiten. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung greift Peltzer das eingangs erwähnte Zitat von Giambattista Vico als Formulierung einer »Fragwürdigkeit von Souveränitätsvorstellungen, die jeder Einzelne von sich macht« (AM 10) erneut auf und hebt dabei hervor, dass das Ich kein »willenloses Produkt zufälliger Verkettungen« (AM 11) sei, dass es aber auch keinen Akt der Selbstermächtigung gebe, der dem Ich eine Beständigkeit geben könnte. Denn das menschliche Wesen sei eines, »das nämlich unausgesetzt modifiziert wird und sich selbst modifiziert, Verbindungen herstellt und kappt, zu allem fähig wie zum Gegenteil von allem, in seiner Gegenwart gefangen wie es ihm immer wieder glückt, sie zu verlassen, sie zu überschreiten, sich also ihrer pausenlosen Zumutungen zu erwehren.« (AM 11) Vico greife mit seinem Gedanken den narrativen Bauformen der Moderne vor, indem er das Wissen um die Beziehungen von »sozialem Territorium und sprachlichem Ausdruck« (AM 12) formuliert. Dieses Wissen hat Ulrich Peltzer in Stefan Martinez in eine ästhetische Form gegossen, die sich nicht im reizvollen Spiel mit Leserlenkung und kulturellen Anspielungen verliert. Der Roman entfaltet eine eigene Theorie der sozialen Ge-
23 Henry Alford (Hg.): The Works of John Donne, London 1839, S. 575.
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ographie und der Beziehung von Sprache und Wirklichkeit, die wiederum nur in den Irrwegen, Ringschlüssen und Aporien des Textes als ein zeitlich und räumlich variable Konstrukt auszuloten, aber nicht zu fixieren ist. Im Roman selbst wird dieses ästhetische Programm reflektiert und als ein Kennzeichen von anspruchsvoller Kunst am Beispiel von gelungener Architektur formuliert: »Man baut ja meistens, weil man einen bestimmten Auftrag hat. Gut sind Sachen, die ihre Dimensionen reflektieren, ökonomisch, sozial, politisch und so weiter, und mit einem schlüssigen ästhetischen Konzept verbinden. Deren Struktur Bezüge nach innen und außen herstellt und vermittelt.« (SM 105) Mit dem Auftragsverhältnis des einleitenden Satzes sind aber zugleich die Grenzen des künstlerischen Engagements benannt, denn auch der Künstler kann sich nicht von der Aporie befreien, dass sein Werk zwangsläufig zugleich Teil des Problems wie Teil der Lösung ist und sein muss.
»Anfang Punkt Ende Punkt darin öffnet es sich springt auf« Syntax im Werden in Ulrich Peltzers »Alle oder keiner« M ALTE K LEINWORT
Wer die Romane von Ulrich Peltzer zu lesen beginnt, bemerkt sogleich Eigentümlichkeiten in der Syntax, und wer weiterliest, kommt nicht umhin einzugestehen, dass die Syntax weit mehr ist als ein ephemeres Formelement, ein bloßes Gerüst der Worte oder ein Ausdruck persönlicher Präferenzen des Autors. Peltzer selbst hat in seinem Essay »Erzählen ohne Grenzen« aus dem Jahr 2006, inspiriert durch Überlegungen von Gilles Deleuze, die Suche nach der Syntax als ein zentrales Element seines Schreibens hervorgehoben.1 In Peltzers Roman »Alle oder keiner« ist die Syntax mehr als das bloße Resultat dieser Suche, sie ist die Suche selbst, das Finden und die Wiederholung der Suche. Lässt sich die Frage nach der Syntax normalerweise durch ein paar induktiv aus dem Satzbau eines Textes abgeleitete Regeln beantworten, stellt »Alle oder keiner« eine solche Antwort selbst in Frage. Dabei votieren seine Texte nicht für Chaos und Regellosigkeit, sondern für einen reflektierten Blick auf das, was den Roman zusammenhält: die Syntax, die nach Peltzer und mit Deleuze eine Fremdsprache in der eigenen ist.2 Für Peltzer spielt dabei – jenseits eines traditionellen rhetorischen Referenzrahmens – die produktive Kraft der Syntax eine entscheidende Rolle. Es geht um Lektüreerfahrungen, bei denen Wirkung vor
1
Ulrich Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen. Über denkbare Plots, Flüchtige Subjekte und die Raumstruktur des zeitgenössischen Romans«, in: Sprache im technischen Zeitalter 179 (2006), S. 294-312.
2
Vgl. ebd., S. 301, sowie Gilles Deleuze: »Bartleby oder die Formel«, in: Kritik und Klinik, Frankfurt/Main 2000, S. 94-123, hier S. 99.
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Bedeutung, Stimulanz vor Signifikanz geht, und die Peltzer mit musikalischen Begriffen wie »Sound« und »Groove« umschreibt.3 Peltzer und Deleuze über Fremdsprache und Syntax Peltzer schreibt in »Erzählen ohne Grenzen« und schließt damit einigermaßen direkt an Ausführungen von Deleuze an:4 »Eine Fremdsprache lernen. Eine fremde Sprache, die nicht die eines anderen Landes, einer weit entfernten Region ist, sondern eine noch unbekannte Sprache in der eigenen, die Sprache einer beinahe körperlosen Empfindung, für die man nach einer Syntax zu suchen beginnt, um das Leben in den Dingen sichtbar zu machen.«5 Beim Schreiben zielt Peltzer also nicht auf eine eigene Sprache, sondern sucht eine »noch unbekannte in der eigenen«, entfremdet sich also von sich, von seinen eigenen sowie von den allgemein geläufigen Sprechweisen und -gewohnheiten. Selbstentfremdung statt Selbstfindung lautet das Programm. Dezidiert setzt sich Peltzer im Anschluss daran von Konzepten der »Formalisierung«, der »Kombinatorik von Inhalten und Vokabeln« oder der »Bebilderung« ab.6 Desgleichen negiert er die Vorstellung, einer »Innerlichkeit« würde sprachlich eine »grammatisch prägnante Gestalt« verliehen; weder eine »Sammlung rhetorischer Muster« noch ein »erprobtes Konstruktionsschema« finden in seinen Texten Anwendung.7 Im Anschluss an diese Abwehr traditioneller Betrachtungsweisen literarischer Syntax schildert Peltzer detailliert den Moment, in dem die Suche nach einer neuen, fremdartigen Syntax produktiv wird. Ein Schlüsselbegriff in diesem Prozess ist der »Groove«, der jene »Momente der Intensität« markiert, die pro-
3
Vgl. Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen«, S. 302 und AM 133. Dabei ist Peltzer erneut Deleuze nahe, der das literarische Stottern mit dem »musikalische[n] und himmlische[n] Jenseits der gesprochenen Sprache insgesamt« (Gilles Deleuze: »Bartleby oder die Formel«, S. 100) verbindet oder der an Kleist dessen »schwindelerregende Klänge« (Deleuze: »Stotterte er…«, in: Kritik und Klinik, S. 145-154, hier S. 148) hervorhebt.
4
Vgl. neben einer Vielzahl von Stellen in verschiedenen Kapiteln der oben erwähnten Aufsatzsammlung Kritik und Klinik auch Deleuzes Ausführungen unter »S comme style« in: Pierre-André Boutang (Regisseur und Produzent): L’Abécédaire de Gilles Deleuze, DVD 1997.
5
Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen«, S. 301.
6
Ebd., S. 302.
7
Ebd.
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duktiv werden,8 da durch sie »Klang und Tonlage des zu schreibenden Romans figuriert« werden.9 Peltzer verbindet den »Groove« mit Spannungen, die direkt aus Kunsterfahrungen resultieren; als Beispiele führt er Filmsequenzen, die »mich zu Tränen rührende Stimme des Sängers Conor Oberst von Bright Eyes« und »eine Installation von Mike Kelley« an.10 Er spricht von einem »synästhetischen Blitz«, in dessen »Widerschein« die »fremde, für mich bisher unbekannte Sprache« erscheint. Der »Takt« der im Roman niederzuschreibenden Sätze wird generiert, ihr »Rhythmus«, ihre »innere Beschaffenheit als deskriptive, von Bruchstücken erzählter Rede durchschossene kurze Aussage, oder als ausufernde, für vielfältige Assoziationen offene Verkettung«.11 Es ist eine Sprache, »die allein aus den Worten und ihren Verknüpfungen, aus nichts als aus reiner Erzählung heraus, das Innere der Wirklichkeit, ihre ureigene Wirklichkeit, zur Anschauung bringt.«12 Zum Abschluss illustriert Peltzer die Bandbreite der Resultate des eindringlich geschilderten Produktionsprozesses an den gegenübergestellten Anfängen von »Alle oder keiner« und Teil der Lösung.13 Dreierlei möchte ich im Anschluss an diese Ausführungen hervorheben und diskutieren: 1.
2. 3.
Die Frage nach dem Verhältnis von Roman und Welt oder nach der Wirklichkeit der im Roman dargestellten Ereignisse und wie diese zurückgebunden wird an die Syntax. Für Peltzer ist die Syntax stets die Syntax eines Romans und nicht die Syntax einer Reihe von Romanen oder die von einem Autor präferierte Syntax. Syntax ist einerseits das Resultat eines Prozesses, der unvermittelt durch ein kontingentes Ereignis ausgelöst wird, andererseits scheinen jene Prozesse in der Syntax fortzuwirken.
Es verdeutlicht den Stellenwert der Syntax in Peltzers Poetologie, dass ungeachtet der Semantik und jenseits hermeneutischer Operationen das »Innere der Wirklichkeit« lediglich »aus den Worten und ihren Verknüpfungen« heraus zur Anschauung gebracht wird. Augenscheinlich nimmt Peltzer Parallelen zwischen den Elementen und Prozessen, die einen Roman konstituieren, und jenen, die
8
Ebd.
9
Ebd., S. 303.
10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 303f.
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Welt und Wirklichkeit konstituieren, an. Jenseits einfacher Widerspiegelungstheorien wird Syntax damit zu einem Schlüsselbegriff nicht nur für narrative, sondern auch für politische Zusammenhänge. So hebt Peltzer in einem Interview hervor, dass das »Politische der Literatur […] der Syntax eingeschrieben«14 sei. In einer Rede, die er vor den besten saarländischen Abiturienten des Jahres 2008 hielt, verbindet er die Suche nach der Sprache eines zu schreibenden Romans mit der Suche nach Begriffen, die »mir das Funktionieren unserer Welt ein bisschen erklärlicher machen«. (VI 46) Als »umstürzlerische neue Syntax« (AM 129) kann und muss die Syntax bei Peltzer Gegenstand politischer und sozialer Fragestellungen sein. Umgekehrt erfordert eine jede Deutung von Peltzers Romanen, die politische oder soziale Fragen in den Mittelpunkt rückt, diese auch als Fragen der Syntax in den Blick zu nehmen. In der Syntax als strukturiertem Feld von Kräften wird so mit Peltzer und Deleuze die klassische Differenz zwischen Roman und Welt aufgehoben. Folgerichtig bezieht Peltzer in seinen Poetikvorlesungen die »Syntax einer Gegenwart, die von sich selbst verschlungen zu werden droht« (AM 168f.) sowohl auf sein 2012 aktuelles Romanprojekt als auch auf die Gegenwart selbst, also auf die Welt als Zusammenhang sozialer und politischer Kräfte. Indem Peltzer die neue Syntax konkret an einen Roman bindet und zum Abschluss die Unterschiede zwischen den Romanen anhand von zwei Textbeispielen illustriert, setzt er sich implizit vom Stichwortgeber für seine Ausführungen ab: Deleuze differenziert kaum zwischen den unterschiedlichen Werken des gleichen Autors, sondern ist stets darum bemüht, konvergente Strukturen und Prozesse hervorzuheben. Das gilt für seine einflussreiche Monografie zu Kafka ebenso wie für seine kleineren Schriften zu anderen Autoren.15 Peltzer dagegen schließt mit seiner Betonung des Divergenten durchaus konsequent an Deleuzes Ausführungen zur Fremdsprache an. So verortet Deleuze die Literatur im Feld der Unterscheidungen von Eigenem und Fremdem oder Resultat und Prozess eindeutig in der Fremde und im Werden. Apodiktisch resümiert Deleuze: »Schreiben heißt auch, etwas anderes als Schreiber zu werden.«16 Nicht nur die Syntax von zwei Romanen des gleichen Autors wäre im Anschluss an dieses Resümee verschieden, sondern auch die Autoren wären – damit implizit anschlie-
14 Jesko Bender: »Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.03.2011. 15 Vgl. Deleuze: »Bartleby oder die Formel«, S. 105f.; Deleuze/Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt/Main 1976. 16 Deleuze: »Die Literatur und das Leben«, in: Kritik und Klinik, Frankfurt/Main 2000, S. 11-17, hier S. 17.
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ßend an Überlegungen von Roland Barthes und Michel Foucault zu Rolle und Funktion des Autors in der Moderne – je andere.17 Neigt Deleuze dazu, eine Reihe von Texten des gleichen Autors durch die Bildung von Ketten und Serien miteinander zu verbinden, hebt Peltzer die Singularität eines jeden Produktionsprozesses hervor. Beide Perspektiven auf das Phänomen der Syntax eines Textes oder einer Reihe von Texten haben ihre Berechtigung; sie lassen sich auf die Unterscheidung zwischen der Lektüre eines fremden Textes durch einen Liebhaber oder Fan und der Selbstlektüre eines Schriftstellers zurückführen. Während Peltzer im Essay die Produktivität eines bestimmten Moments oder einer bestimmten Erfahrung und damit auch die Singularität dieses Ereignisses in den Mittelpunkt rückt, interessiert sich Deleuze für die Ereignisketten, für das, was über den einen Moment hinausgeht. So sehr aus Sicht des Literaturproduzenten der Gedanke daran, dass sich die produktiven Ereignisse systematisieren lassen, dass sie kalkuliert und erklärt werden können, störend sein können und die Produktivität hemmen,18 so sehr mag es für den Literaturliebhaber stören, wenn statt großer Formeln, Dynamiken und Ereignisketten nur Ereignisse stehen, die sich der Systematisierung und Einordnung entziehen. Beide Sichtweisen auf die Frage der Syntax schließen sich keineswegs aus.19 Was Peltzer beim Schreiben behindern könnte, kann ihm bei der Lektüre anderer Texte Genuss bereiten. Das dokumentiert Peltzer nicht zuletzt bei seinen zuweilen hymnischen Lektüren in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Markanterweise verwendet er bei derartigen Lektüreerfahrungen mit der Syntax eines Textes nicht den Begriff »Groove«, bei dem das Produktive, Momentane und Stimulierende im Mittelpunkt steht, sondern den Begriff »Sound«. So lobt er als ausdrücklicher Fan von Mark Twains Huckleberry Finn den dort zu findenden »un-
17 Roland Barthes: »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-193; Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main 2003, S. 234-270. 18 Franz Kafka versucht derartigen Störungen durch das Postulat der »Selbstvergessenheit« beim Schreiben zu begegnen (vgl. Kafkas Brief an Max Brod vom 5. Juli 1922 in: Malcolm Pasley: Max Brod. Franz Kafka. Eine Freundschaft. Briefwechsel, Frankfurt/Main 1989, S. 376-380, hier S. 379). 19 Die Vereinbarkeit von Singularität und Reihenbildung ließe sich mit Überlegungen von Deleuze zum Verhältnis von Differenz und Wiederholung belegen; gerade für den Bereich der Kunst betont er die Bedeutung der »Verschiebung und Verkleidung« für eine jede Wiederholung (vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 364).
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nachahmlich lässig[en] Sound von Slang und Dialekt«. (AM 133)20 Während es durchaus denkbar ist, dass über ein Buch, einen Autor oder eine Autorin geurteilt wird, es, er oder sie habe einen ganz bestimmten, einprägsamen Sound, lässt sich die Selbstbezugnahme des Autors oder der Autorin auf eigene Texte mit dem Hinweis, diese haben einen eigenen Sound nur in Ausnahmefällen – vor allem einer bestimmten selbstbezüglichen Popliteratur – denken. Was eine derartige Selbstadressierung verhindert, sind die Anmaßung, die dahinter steht, sich selbst aus der Sicht eines Fans oder bloßen Rezipienten zu betrachten, die Reduktion einer Reihe von Texten auf einen bloßen Sound und die eigene, singuläre Schreiberfahrung. Was sowohl Deleuze als auch Peltzer bei ihrer Beschäftigung mit der literarischen Syntax entgeht, sind spezifische Resonanzeffekte zwischen den Texten des gleichen Autors. Die schematische Gegenüberstellung von eigener und fremder Sprache lässt außen vor, dass mit dem Schreiben in der Fremdsprache eine Aneignung einhergeht, die diese Bezeichnung fraglich werden lässt. Mit jedem geschriebenen Roman muss neu verhandelt werden, was eigene und was fremde Sprache ist oder was so bezeichnet werden könnte.21 Zwar kann diese Problemstellung durch die Konzentration auf lediglich einen Roman von Peltzer hier nur angerissen werden, durch die im Folgenden noch nachzuzeichnenden rekursiven Schleifen in der Syntax von »Alle oder keiner« lässt sich aber zumindest belegen, dass bei der Rückkehr zu initialen Momenten die Frage nach den
20 Auch der Filmregisseur David O. Russell wählt diesen Begriff für eine spezifische Kunsterfahrung, wenn er über den Film »Chinatown« bemerkt, er würde für ihn »einen ganz bestimmten Sound heraufbeschwören« (»Pleite sein ist eine tolle Motivation. David O. Russell über seinen Film ›American Hustle‹«, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.02.2014). 21 In der kantischen Genieästhetik werden diese Probleme einer literarischen Syntax als Fragen des Wechselverhältnisses von Freiheit und Regel in der Kunst diskutiert (vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Immanuel Kant. Werke in zehn Bänden, Bd. X, Darmstadt 141996, §§ 46f., B 181-187, A 178185). Es sind Probleme, die nicht zuletzt das komplexe Verhältnis von Stil und Spätstil betreffen (vgl. bspw. Malte Kleinwort: Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension, München 2013, S. 21-55). Angesichts dieser komplexen Gemengelage ist es zumindest fraglich, ob Peltzer, wie Christian Jäger diagnostiziert, in »Alle oder keiner« »seinen Ton gefunden hat, in seiner Sprache heimisch geworden ist« (Jäger: »Berlin, Heinrichplatz. Die Romane von Ulrich Peltzer«, in: http://www.westoestlicherdiwan. de/peltzer1.pdf, S. 11).
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Ausgangsbedingungen und damit auch die Frage nach dem, was fremd und bereits bekannt war, stets neu verhandelt werden müssen. Der Reiz von Peltzers detaillierter Beschreibung, wie es zur Syntax eines neuen Romans kommt, liegt nicht zuletzt darin, die Konsequenzen und das Fortwirken jenes Prozesses zu bedenken. Der »Groove« bestimmt ja nicht nur »Klang und Tonlage des Romans«, sondern auch den »Takt der Sätze« und ihren »Rhythmus«.22 Von dort ist es kein weiter Weg zu der von Peltzer in einem Interview erwähnten »autonome[n] Eigendynamik«, der im Produktionsprozess eines Buches nicht nur »das Material und die Geschichte«, sondern auch er selbst folgen sollen.23 Liegt es also nahe, anzunehmen, dass der Findungsprozess der Syntax im Schreiben fortwirkt, stellt sich noch die Frage nach dem Verhältnis vom Schreiben zum Geschriebenen, von der Produktion zum Produkt. Bei Deleuze gibt es einen fließenden Übergang vom Schreiben zum literarischen Produkt; er rechnet die Literatur »eher zum Formlosen oder Unfertigen« und ordnet das Schreiben als »eine Sache des Werdens« ein.24 Die »syntaktische Schöpfung« wird als ein »Werden der Sprache« beschrieben oder in einem anderen Aufsatz als eine »werdende Syntax«.25 Syntax ist nach Deleuze also weder Schema noch Form, sie schreibt keine verbindlichen Grenzen, Rahmen oder Strukturen vor, sondern ist selbst ein Prozess; sie ist nicht, sie wird und wirkt. Dementsprechend schreibt Deleuze dezidiert von »Syntaxeffekten«.26 »Alle oder keiner« ist ein Roman, bei dem das Stimulierende und Prozessuale der Syntax oder – genauer – die Syntax als Stimulanz und Prozess von zentraler Bedeutung ist. Syntax. Effekte. »Alle oder keiner« »Alle oder keiner« präsentiert Geschichten aus dem Leben des in Berlin wohnenden Protagonisten und Ich-Erzählers Bernhard Lacan. Die Erzählgegenwart liegt in den Neunzigern, die Ausschnitte aus dem Leben des Enddreißigers reichen zurück bis in die Siebziger. Der Roman beginnt mit einer mitten im Geschehen einsetzenden Erzählung von einer Demonstration im spanischen Baskenland, auf die Bernhard von seinem Freund Florencio in den siebziger Jahren
22 Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen«, S. 302f. 23 Vgl. Bender: »Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.03.2011. 24 Deleuze: »Die Literatur und das Leben«, S. 11. 25 Ebd., S. 16 und Deleuze: » Stotterte er…«, S. 151. 26 Deleuze: »Die Literatur und das Leben«, S. 16.
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mitgenommen worden war. So unvermittelt wie die Erzählung einsetzt, so unvermittelt wird sie auch wieder abgebrochen (vgl. AK 17). Das Tempus wechselt und der Roman springt in die Erzählgegenwart. Bernhard befindet sich mit zwei halb ausgepackten Kartons in der Wohnung seiner neuen Freundin, der Schriftstellerin Christine, die, finanziert durch ein Stipendium, nach Schleswig-Holstein gereist war. Alle drei Kapitel des Romans beginnen jeweils mit Geschichten aus der Vergangenheit; neben der erwähnten Demonstration im Baskenland sind das die Reise nach Bukarest zu einem Psychologie-Kongress Mitte der neunziger Jahre und ein Essen in Bernhards WG, kurz bevor er Christine kennenlernte. Im Verlauf des Romans springt der Text immer wieder unvermittelt zwischen Geschichten aus der Vergangenheit und der Erzählgegenwart hin und her. Bernhard ist Psychologe, und die Psyche scheint auch das wichtigste Referenzmodell für die Syntax des Romans zu sein. Die auffällige Länge der Sätze, das Vor- und Zurückspringen in der Zeit, der unvermittelte Einbau von Satz- und Wortfetzen, der ungewöhnliche Einbau von Absätzen mitten im Satz, das häufige Weglassen von Satzteilen – all das lässt sich mit einem Erzählen nach dem Modell des stream of consciousness verbinden und das Bewusstsein zur stilprägenden Instanz des Romans erheben.27 Dieser Eindruck muss indes bei einer genaueren Untersuchung relativiert werden. So sehr das Erzählen dem Moment, von dem gerade erzählt wird, der Wahrnehmung und der Erinnerung verpflichtet ist, so wenig eignet sich die Psyche als letzte Instanz bei der Frage nach den strukturbildenden Instanzen. Vielmehr steht mit den Geschichten aus dem Leben des Protagonisten, die den Roman ausmachen, dezidiert die Frage, wie erzählt werden kann, im Mittelpunkt. Während der Protagonist beim Geschichtenerzählen das Verhältnis zur jeweils erzählten Vergangenheit auslotet, bezieht sich der Roman immer wieder auf einen Zustand zurück, in dem die Geschichte noch keine Syntax hat oder in dem die Syntax dabei ist zu entstehen. Die den Roman beschließende Aufforderung von Bernhards Freundin Christine, »die Geschichte« zu erzählen, scheint auf den ersten Blick lediglich einen Bogen zum Anfang zu schlagen: »Alle oder keiner« als Replik auf diese Aufforderung und als der Versuch, den hohen ästhetischen Ansprüchen der Schriftstel-
27 Christoph Jürgensen weist darauf hin, dass »ein ständiger Strom von Wahrnehmungspartikeln, die sich nicht zu einem kohärenten Bild der Wirklichkeit zusammenfügen lassen«, das Bewusstsein des Erzählers durchzieht (Jürgensen: »Berlin Heinrichplatz, Berlin Potsdamer Platz. Die Textstädte Ulrich Peltzers«, in: Katja Carrillo-Zeiter/Berit Callsen (Hg.): Berlin – Madrid. Postdiktatoriale Großstadtliteratur, Berlin 2011, S. 67-83, hier S. 73).
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lerin Christine gerecht zu werden.28 Sie könnte aber auch paradigmatisch dafür stehen, dass der Roman stets auf den Moment des Erzählens zurückkommt, in dem die Syntax gerade dabei ist, den Modus des noch nicht hinter sich zu lassen. Das Romanschreiben und Geschichtenerzählen wird immer wieder mit Momenten der Intensität verbunden, wie sie im Essay beschrieben wurden: »ein Stich ins Herz, den man sich nicht erklären kann«, mit dem »ein herkömmliches Muster schließlich zerfällt und ein neues entsteht«, mit der »das, was gültige Gegenwart war, in Erzählung« (AK 12) verwandelt wird. Zwar beginnt auch diese Passage mit Reflexionen zur Psyche, zum »Geschehen im Innern des Kopfes« (AK 11), Zielpunkt ist aber keine Rückführung der Ereignisse auf psychische Vorgänge, sondern der Roman und dessen Syntax. Trocken konzediert der Protagonist bei der Prozessbeschreibung: »Übrig bleiben Sätze.« (AK 12) Durch »rauschhafte[] Momente[]«, die mit einem Lied im Radio oder dem Anblick einer Fotografie verbunden werden, kommt es zu Tagträumen, die »Zeile für Zeile in die Kapitel eines Romans, der das eigene Leben ist,« eingesponnen werden, in denen der Roman das Leben »wieder hervorruft, weiterschreibt, verdichtet«. (AK 12) »Alle oder keiner« ist ein Roman, der auf einer Vielzahl von Ebenen – biographisch, politisch, massenpsychologisch und poetologisch – die Frage nach den auslösenden Momenten verhandelt. Dafür steht die von ungerahmten Rückblenden bestimmte Erzählweise ebenso wie die Fokussierung dramatischer geschichtlicher Ereignisse, die Infragestellung der eigenen Biografie durch den Protagonisten und Ich-Erzähler oder die einprägsame, langsam erzählte Eingangssequenz, in welcher Bernhard ein aufmerksamer Beobachter der rätselhaften Massenbewegungen bei der erwähnten Demonstration im Baskenland ist. In »Alle oder keiner« mit seinen vielen rekursiven Schleifen wird die Frage nach dem Verhältnis von Anfang und weiterem Verlauf, von Vorgeschichte und Geschichte, von Auslösung und Ereignis oder von Groove und Syntax unermüdlich durchgearbeitet und zu einem wesentlichen Antrieb der erzählerischen Dynamik. Dezidiert behandelt Peltzer diesen Fragekomplex in »Alle oder keiner« beim Besuch des Konzerts der Band Atari Teenage Riot im berühmten Kreuzberger Konzertveranstaltungsort SO 36 kurz vor dem Ende des Romans. Von einem »Sog« ist dort die Rede, der Bernhard »fortzieht« (AK 209); Selbsterfahrung geht über in Selbstentfremdung – »delete yourself«. (AK 210) Eine vermeintlich bloß musikalische oder vorsprachliche Erfahrung wird in der Beschreibung auch zu einer sprachlichen, »gesampelte Worte, Satzteile heben sich über die Stim-
28 Vgl. Jäger: »Berlin, Heinrichplatz«, S. 8; Volker Hage: »Berliner Zeitsprünge«, in: Der Spiegel 48 (1999), S. 250.
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men der Männer hinweg, Bässe vibrieren in meinem Brustraum, als sollte mein Herz seinen Takt verlieren« (AK 210); Sprache, Syntax, Rhythmus und Takt treffen hier in einem exzentrischen Moment zusammen, der die Fülle dessen umreißt, was in Peltzers Essay mit »Anschlüsse[n] und energetische[n] Ladunge[n]«, mit einem »Echo« oder eben mit einem »Groove« verbunden wird.29 Blieben die Beispiele bislang auf der Ebene der Handlung und der Beschreibung, soll im Folgenden konkreter auf die Syntax selbst eingegangen werden. Die erste Auffälligkeit, die beim Lesen des Romans ins Auge springt, sind die vielen eigentümlichen Absätze mitten im Satz. Mal steht am Ende dieser Absätze ein Komma oder ein Semikolon, mal gar kein Satzzeichen, obwohl zwischen dem Satzabschnitt am Absatzende und dem am darauf folgenden Absatzanfang eigentlich eines zu erwarten gewesen wäre. Mit den Absätzen wird die Syntax deutlich als etwas markiert, das sich nicht auf grammatische Regeln oder Konventionen zurückführen lässt. Vielmehr wird die Fraglichkeit des Zusammenhangs von Satzteilen drastisch vor Augen geführt. Der Absatz im Satz markiert im Roman eine Lücke, deren Umfang, Bedeutung und Ursache ungeklärt sind. Die Versuche der Klärung und Erklärung verschieben die Aufmerksamkeit bei der Lektüre auch auf andere zäsurierende Satzzeichen. Von der Frage, warum sich an dieser Stelle ein Absatz befindet, ist es kein weiter Weg zu der Frage, warum an jener Stelle kein Absatz zu finden, warum hier ein Komma und kein Punkt oder ein Punkt und kein Semikolon gesetzt wurde, warum das syntaktisch Mögliche nicht realisiert wurde. Im Fokus jener Fragen wird die Syntax zugleich rätselhaft und bedeutsam. Der Text erscheint als einer, der mit einem bestimmten Rhythmus verbunden werden kann, in dem Dynamiken wirksam werden, die üblicherweise mit Begriffen wie Text- oder Erzählfluss bezeichnet werden. Statt die Ursache der Absätze in einer einfachen Regel oder einer kalkulierten schriftstellerischen Entscheidung zu suchen, lässt sie sich im Text selbst vermuten. Etwas im Text scheint den Absatz ausgelöst zu haben. Wie der Protagonist zu Beginn des Romans bemüht ist, die Ereignisse auf der Demonstration im Baskenland richtig einzuordnen, zu erklären und den Überblick zu behalten, »eingekeilt zwischen den anderen« (AK 11), so auch diejenigen, die mitten in einem über eine Buchseite reichenden Satz lesen: […] jeder hielt die Arme seiner Nachbarn fest untergehakt und stemmte sich breitbeinig den Versuchen, den entschiedener werdenden Versuchen der Ordnungskräfte entgegen,
29 Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen«, S. 302.
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die Reihen auseinanderzureißen, um in den Block zu kommen, ihre alte Taktik, Grüppchen zu isolieren, beiseite zu drängen und aufzulösen; aber doch nicht ganz bei der Sache, mit letzter Konsequenz, die über einzelne Handgemenge hinaus zu einer gröberen, wirklich heftigen Schlägerei geführt hätte, dieses Sichhochschaukeln, Aufladen mit Wut, bis dem ersten die Sicherungen durchbrennen und man instinktiv handelt […] (AK 10)
Dieser erste ungewöhnliche Absatz markiert deutlich eine Lücke, die darauf hinweist, dass der Erzählfluss, der oberflächlich betrachtet einem stream of consciousness gleicht, bei genauer Betrachtung von Zäsuren durchsetzt ist: zwischen einer Beobachtung und der nächsten, einer Beobachtung und einer Reflexion des Beobachteten, einer Reflexion und einer Neueinschätzung der Reflexion. Bereits vor dem Absatz bei »den Versuchen, den entschiedener werdenden Versuchen« (AK 10) gerät die Sprache in den Strudel der Ereignisse, es kommt zu einer Art Stottern. Für Deleuze gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der minoritären Fremdsprache der Literatur und dem Stottern, das bei ihm mit einer Syntax verbunden wird, die »durch Krümmungen, Windungen, Kehren, Abweichungen« einer sich verzweigenden syntaktischen Linie gebildet wird. Diese »werdende Syntax […] strebt einer Grenze entgegen, die selbst nicht mehr syntaktisch oder grammatikalisch ist«.30 Jene Grenze ließe sich einerseits als die Grenze zwischen Prosa und Poesie fassen. So scheint der Nebensatz »wenn ich in die S1 wechsle« durch den doppelten Absatz wie ein eingeschobener und dadurch hervorgehobener Vers: Würde ich wenn ich in die S1 wechsle, mich auf die rechte des Wagens begeben und an der entsprechenden Stelle hochblicken, könnte ich, sofern das dichte Grün der Sträucher und Bäume es nicht verhindert, über der Böschung das Haus sehen […] (AK 49f.)
Andererseits weist das, was »nicht mehr [Herv. d. Verf.] syntaktisch oder grammatikalisch ist«,31 zurück auf das, was noch nicht Teil einer Syntax geworden ist. Bernhard beschreibt die Schwierigkeit, Liebesgeschichten in der Großstadt zu rekonstruieren, als eine Schnipselarbeit mit noch unförmigem Material. Bezeichnenderweise markiert einer jener ungewöhnlichen Absätze im Satz den Übergang von passivem Dasitzen zu konkreter Arbeit am Text:
30 Deleuze: »Stotterte er…«, S. 151. 31 Ebd.
106 | M ALTE K LEINWORT […] als säße man über den Schnipseln einer Textseite, die willkürlich zerschnitten worden ist, in Nebensätze und begonnene Aussagen, in alleinstehende Subjekte und prädikatlose Beschreibungsversuche, daß etwas geschehen sollte, müßte oder werde, möglicherweise geschieht, bei der Arbeit, die man sich macht, alles neue zu ordnen, die Stücke so lange hin und her zu schieben, bis sie wieder eine Art Sinn ergeben, eine Erzählung aus sich einleuchtend folgenden Teilen. (AK 50)
Jenseits der Frage nach den Auslösungsfaktoren für den Absatz, scheint der Absatz einen Wechsel von der Betrachtung zur Bearbeitung der Schnipsel zu stimulieren.32 Was diesen Schnipseln des Großstadtlebens im Roman am nächsten kommt und zugleich die äußerste Grenze dessen, was noch als syntaktisch oder grammatikalisch bezeichnet werden kann, markiert, sind jene rätselhaften Passagen ohne Satzzeichen, die stets räumlich und durch Kursivierung abgesetzt sind.33 Sie lassen sich als Erinnerungsanker an eine affektive Syntaxerfahrung lesen, die dem Schreiben und damit auch jeder Syntax vorausliegt. Dort ist Sprache lediglich Material und Impulsgeber, losgelöst von üblichen syntaktischen Strukturen. Derart sind die Passagen Textbeispiele für das, was sprachlich vorhanden ist, bevor mit dem Schreiben begonnen wird, beispielsweise Großstadterfahrungen, die aus der Nacherzählung eine Schnipselarbeit machen. Das folgende Beispiel für eine solche kaum erzählbare, in unförmigem Sprachmaterial vorliegende Geschichte weist, nebenbei bemerkt, darauf hin, dass von »Alle oder keiner« nicht nur ein Bogen zurück zu Alfred Döblins Berlin, Alexanderplatz geschlagen werden könnte,34 sondern auch zu Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: allein die Vorstellung zu versuchen sich das vorzustellen ist unmöglich dorthin will ich nicht wie ich geboren wurde Schreie Schlag auf den Schädel man spuckt Erde und Dreck aus einen ganzen Mund voll lehmiger Geschmack kein Deklinieren mehr ob mit s oder n
32 In vielen Fällen findet im Absatz ein solcher Wechsel statt. Ebenfalls von Betrachtung zu Bearbeitung oder vom Modus der Beschreibung in den Modus der Selbstkorrektur wechselt der Text hier: »wie das Wetter / falsch, nicht das Wetter« (AK 16). 33 Für Jäger schreiben die »Satzfetzen«, die sich »an den Grenzen des Sinns« bewegen, dem Roman »die Unstimmigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse sichtlich ein[]« (Jäger: »Berlin. Heinrichplatz«, S. 10). 34 Vgl. ebd., S. 1 und S. 17.
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oder t aber der gibt doch noch Laute von sich irgendwie atmend dabei handelt es sich um einen Automatismus soviel steht fest. (AK 52)
Eine Problematisierung der Vorstellungskraft, eine imaginierte Regression in den vorsprachlichen Zustand der Geburt, Splitter einer Kampfszene, wie sie sich in der nächtlichen Großstadt Berlin zugetragen haben könnten, Sprachflow ohne Satzzeichen und irrationales, impulsives Handeln scheinen hier vermengt in einer regellosen écriture automatique. Die Einschübe dokumentieren eine Beschäftigung mit der Syntax, die das Impulsive, das Dynamische und damit auch das Politische der Syntax vor jeder regelgeleiteten Einhegung ausstellt. Die Auseinandersetzung mit der politischen Wirkungskraft der Worte ließe sich nicht nur an der kritischen Arbeit mit BZ-Schlagzeilen nachvollziehen (vgl. AK 53). Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für diesen Zusammenhang soll im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden. Nach einer Erinnerungspassage der Erzählinstanz Bernhard an seinen Vater kommt es erneut zu einer dieser rätselhaften para- oder prä-syntaktischen Passagen am Rande des Sinnhaften: »Anfang Punkt Ende Punkt darin öffnet es sich springt auf« (AKL 73). Die ersten vier Worte lassen sich als Minimalbeschreibung einer aus zwei Sätzen bestehenden Syntax lesen. Die Rede von Anfang und Ende verdeutlichen, dass der oder die Sätze vor dem ersten »Punkt« in einer Art Folgebeziehung zu dem oder den Sätzen zwischen dem ersten und dem zweiten »Punkt« stehen. Anfang und Ende ergeben zusammen eine geschlossene Einheit. Diese Einheit scheint im Anschluss aufgebrochen zu werden, es öffnet sich etwas, etwas springt auf. Das Wort »darin« könnte sowohl auf die syntaktische Struktur als auch auf die Beschreibung der syntaktischen Struktur bezogen werden. Die Syntax selbst oder deren Nachvollzug durch die Worte »Anfang Punkt Ende Punkt« setzen eine exzentrische Dynamik in Gang, die an jene im Essay von Peltzer umrissenen Syntax-Erfahrungen erinnert. Wie triftig der Hinweis auf den Essay ist und wie eng zugleich diese vermeintlich sinnlose Passage mit dem Roman verwoben ist, wird deutlich, wenn der Vielzahl von Bezügen dieser Passage zu anderen Stellen im Roman nachgegangen wird. Postuliert Peltzer im Essay das Lernen der Sprache des zu schreibenden Romans als Lernen einer Fremdsprache,35 stellt kurz vor der zitierten Passage Bernhards Vater seinem Sohn noch zu Kindheitszeiten im Rückgriff auf Erzählungen aus dem Krieg den Vorteil heraus, »sich in einer fremden Sprache ausdrücken zu können« (AK 72). Bernhard wiederum berichtet davon, wie er schon früh von Fremdsprachenerfahrungen geprägt wurde. So blieb ihm das
35 Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen«, S. 301.
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Wort »limestone« (Kalkstein) allein deshalb in Erinnerung, weil es in dem gelben Fremdwörterbuch seines Vaters direkt vor »limited« stand (AK 70), dem Wort, das auf einer Frachtkiste im Hamburger Hafen zu finden war, an die sich Bernhard gut erinnerte. (AK 70f.) Das Wort »limited« wiederum ist die Kurzform für eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, und direkt im Anschluss an die kursive Passage geht es im syntaktischen Schema, das beschrieben wurde, weiter: »Gesellschaft. Zivilgesellschaft. Oder auch: Wetterleuchten.« (AK 73) Das Wetterleuchten, also der Widerschein eines Blitzes, lässt sich nach nicht nur mit dem Öffnen und Aufspringen aus dem Einschub verbinden, sondern auch mit der augenblickshaften Offenbarung der Syntax in Peltzers Essay: »Da, im Widerschein dieses Blitzes, wie eine Landschaft im grellen Flackerlicht eines nächtlichen Gewitters, erscheint sie plötzlich, die fremde, für mich bisher unbekannte Sprache«.36 Sind im Essay eine Installation oder ein Lied die Auslöser, ist es im Roman ein Wort: »Ein Wort rauscht ohne Zusammenhang durch meine Gedanken, einem Mantra ähnlich, das sich wie von selbst wiederholt, so eine Abfolge sinnlos werdender Silben – werden sinnlos infolge unablässiger automatischer Wiederholung, vergleichbar dem Sprung in einer alten Platte.« (AK 73) Durch die mechanische Loslösung des Wortes »Zivilgesellschaft« aus seinen üblichen semantischen und syntaktischen Zusammenhängen kommt es zu dem, was Peltzer tentativ im Essay mit den Worten »Anschlüsse«, »energetische Ladungen«, »Groove«, »Echo« und dem »Flirren eines spannungsreichen Augenblicks« fasst.37 Im Roman wird das folgendermaßen beschrieben: Ich sitze mit übergeschlagenen Beinen in der S-Bahn, und niemand sieht mir an, was los ist, die Aktivität meines Gehirns, den Zackenausschlag einer tintengefüllten Schreibpatrone, Feder, mechanischer Arm auf Elektrode; zeichnet inhaltsleer den synaptischen, organeigenen Strom auf. Zivile Gesellschaft, was ist denn das Gegenteil davon, geschlossene Anstalt, Militärdiktatur? Jemand nimmt sich ungefragt das Recht, den Ausnahmezustand zu verhängen, es habe eine Gefahr gedroht. Für wen oder was? (AK 73)
Was Gesellschaft und Zivilgesellschaft wie Anfang und Ende eines unveränderbaren monolithischen Blocks erscheinen lässt, ist deren Indienstnahme zur Rechtfertigung der Verhängung des Ausnahmezustands. Die Berufung auf eine in Gefahr geratene Zivilgesellschaft scheint bestens dazu geeignet, Diskussionen über die Rechtmäßigkeit des Ausnahmezustands im Keim zu ersticken: Punkt, Aus, Ende der Diskussion. Das bricht der Protagonist mit seinen kritischen
36 Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen«, S. 303. 37 Ebd., S. 302.
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Nachfragen, die aus einer Beschäftigung mit Worten jenseits der Semantik hervorgehen, auf. Es folgen über mehrere Seiten sprach- und gesellschaftskritische Reflexionen, Erinnerungen und Fantasien zur Militärdiktatur in Chile; dabei spielt auch das Wetter wieder eine Rolle, und zwar in dem zynischen Kommentar eines »christlich-deutsche[n] Politiker[s]«, »bei sonnigem Wetter sei das Leben im Stadion von Santiago recht angenehm«. (AK 74) Mitten in der fiktiven Verteidigungsrede eines politisch Verantwortlichen, der mit den unmenschlichen Taten der Junta konfrontiert wird, kehrt der Text schließlich zurück zu den Ausgangsworten, erreicht die heimische U-Bahn-Station Kottbusser Tor und endet mit Komma und Absatz: »[…] die Gesellschaft, Zivilgesellschaft, Wetterleuchten, längs des einfahrenden Zuges über den Bahnsteig am Kottbusser Tor,« (AK 76) Die Ersetzung der Punkte durch Kommata könnte so verstanden werden, dass hier eine harte Fügung von abgesetzten Wörtern in den stream of consciousness überführt wird, das Widerstrebende, Zäsurierende, Elliptische der ersten Nennung also gewissermaßen minimiert wird. Es könnte aber auch so verstanden werden, dass die Zäsur der Punkte in den Kommata produktiv geworden ist. Kommata trennen bei Peltzer nicht allein gleichberechtigte Satzglieder voneinander ab und garantieren dadurch den Fluss des Satzes, vielmehr zäsurieren sie in vielen Fällen elliptische Einschübe. In der unscheinbaren Aufzählung verbergen sich widerstrebende, elliptische Elemente.38
38 Von hier ausgehend, wären weitere Überlegungen zur Bedeutung der Zäsur in Peltzers Syntax anzustellen. Tatsächlich ist die Differenz von Punkt und Komma, auf die Peltzer auch bei seiner Gegenüberstellung der Anfänge von »Alle oder keiner« und Teil der Lösung abhebt (Vgl. »Erzählen ohne Grenzen«, S. 303f.), weniger groß, als es auf den ersten Blick scheint, da die Zäsur der Kommata größer ist als üblich. Dafür stehen die durch Kommata abgetrennten und nicht eindeutig zuzuordnenden drei Worte »ohne wirkliches Ziel« im langen ersten Satz von »Alle oder keiner« ebenso wie eine bemerkenswerte Änderung, die Peltzer an der im Essay abgedruckten Fassung des Beginns von Teil der Lösung vornahm. Im Essay lautet einer der kurzen Sätze vom Beginn von Teil der Lösung: »Rechts von ihm steigt eine dünne Rauchfahne aus dem Aschenbecher auf der Konsole hoch, einem schmucklosen länglichen Pult, das mit zwei Tastenfeldern bestückt ist« (»Erzählen ohne Grenzen«, S. 303). In der späteren Druckfassung des Romans löst er den Pult aus seinem grammatischen Bezug zur Konsole und verschmilzt ihn mit dem nachfolgenden Nebensatz: »Rechts von ihm steigt eine dünne Rauchfahne aus dem Aschenbecher auf der Konsole hoch, ein schmuckloses längliches Pult mit zwei Tastenfeldern« (TL 7). Was vorher eindeutig eine Apposition war, ist nun ein Satzteil, der, von einem stärker zäsurierenden Komma abge-
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Jene produktive Dynamik lässt sich auch an den über den Roman verteilten kursiven Passagen nachvollziehen. Knapp zwanzig Seiten nach der kurzen kursiven Passage zu Anfang und Ende kommt es zu einer Reprise: Anfang Punkt Ende Punkt darin öffnet es sich springt auf die Möglichkeiten könnten genutzt werden Schlag auf den Schädel mit der flachen Hand daß man zu lernen habe wozu aufgeregtestes Kratzen des Griffels über eine Schiefertafel einer kehligen Stimme lauschend ängstlich ein i neben dem anderen Versprechungen dieser Ton eines glanzlosen schwarzen Untergrunds. (AK 89)
Ein »Schlag auf den Schädel« ist bereits gut vierzig Seiten vorher in der ersten hier zitierten kursiven Passage zu finden, dort indes eingerahmt von dem Hinweis darauf, dass »allein die Vorstellung zu versuchen sich das vorzustellen […] unmöglich« ist, und von Assoziationen zum Sprechen, zur Lautbildung und zum Deklinieren (vgl. AK 52). Statt eines Diktums des Unmöglichen wird die Möglichkeit, Möglichkeiten zu nutzen, erwähnt, und statt über Stimme und Sprechen zu reflektieren wird eine Schreibszene beschrieben, bei der das Schreibenlernen durch Zuhören und Übungen auf einer Schiefertafel im Mittelpunkt stehen. Damit scheint ein Lernprozess nachvollzogen zu werden, der für das Romanschreiben nach Peltzer von konstitutiver Bedeutung ist. Die Syntax im Werden, die »Alle oder keiner« bestimmt, kehrt immer wieder zu den Momenten ihres Entstehens zurück, lässt diese produktiv werden und wird durch jene Produktivität selbst überholt. In dieser Arbeit an und mit Varianten, Verschiebungen und Wiederholungen erweist sich die Syntax als eine, die sich von einfachen Kausalzusammenhängen abzulösen imstande ist und auf Kollektivverhältnisse abzielt. Nach einer von der Romanhandlung her naheliegenden Deutung des Titels »Alle oder keiner« zielt dieser auf Adornos Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen geben könne, ab; Bernhard kann sich nicht in einer »selbstgefälligen Saturiertheit« einrichten und ist durch den gesellschaftlichen Status quo gezwungen, sein Leben in den Erinnerungsschleifen selbstkritisch zu reflektieren.39 Zugleich könnte damit auch auf ein Erzählen Bezug genommen werden, dass sich nur oberflächlich betrachtet auf das Leben des Protagonisten konzentriert; vielmehr spürt der Roman, abzielend auf das Alle im Titel, einem »System« oder einer »Ordnung, die das Ganze« durchdringt und »auf eigene Weise« zusammenhält, nach, wie sie sich Bernhard am Ende des Romans
trennt, eigentümlich schwerelos zwischen Erläuterung und einer neu angesetzten Beschreibung changiert. 39 Vgl. Jäger: »Berlin, Heinrichplatz«, S. 10f.
A NFANG P UNKT E NDE P UNKT …
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bei der Lektüre der Texte seiner Freundin »nach und nach erschloß«. (AK 223f.) Wie im letzten Absatz des Romans deutlich wird, handelt es sich bei dieser Ordnung erstens um eine spezifische Satzordnung oder Syntax, »sich aneinanderreihende Sätze« und »Ketten von Silben und Worten«, und zweitens um ein System, in dem Kollektivbewegungen nachvollzogen werden: Die Vögel in den Bäumen vor der Stazione Termini, Tausende von Vögeln, deren Geräusche die Dämmerung erfüllten, den Straßenlärm rund um den Busbahnhof übertönten mit ihrem Tschilpen und Flattern. (AK 224)
»Was hat dich bloß so ruiniert?« Ulrich Peltzers »Alle oder keiner« E LKE S IEGEL Keiner oder alle. Alles oder nichts.1 BERTOLT BRECHT KEINER ODER ALLE War das falsche Programm für alle reicht es nicht Das letzte Kriegsziel ist die Atemluft2 HEINER MÜLLER Dinge […], die mich nicht nur im Augenblick, sondern grundsätzlich interessieren. Moral. Das Verhältnis von Kunst und Geld, der Umgang mit Macht. Freundschaft. Schönheit.3 ULRICH PELTZER
1
»Keiner oder alle«, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt/Main 1975, S. 649f., hier S. 649.
2
»Ajax zum Beispiel«, in: Die Gedichte (Werke 1), Frankfurt/Main 1998, S. 292-297,
3
Ulrich Peltzer: »Antrittsrede von Ulrich Peltzer, Bergen-Enkheim. 28.08.2009«. Vgl.
hier S. 294. http://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2345164&_ffmpar%5B_id_inhalt%5D =7121709 vom 14.5.2014.
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Der Riss Es ging um nicht weniger als die Durchsetzung einer hegemonialen Geschichtserzählung über die 1970er Jahre in der BRD, als im Januar 2001 das Millennium mit der Debatte um Außenminister Joschka Fischers Vergangenheit als Straßenkämpfer in Frankfurt am Main eröffnet wurde. »Die Deutungshoheit über das Gestern verspricht die Macht für morgen: Deshalb war die Position des moralischen Siegers der Geschichte schon immer heiß umkämpft«, schrieb Bettina Gaus in ihrer Analyse der Debatte bereits am 15. Januar 2001.4 Konservative Leitartikler würden daher Fischer seine gegen den Staat gerichteten militanten Handlungen lieber als »Jugendsünden« vergeben wollen, als ihn zum Rücktritt zu zwingen: »Wer verzeihen darf, hat Recht gehabt. Wer um Verzeihung bitten muss, war im Unrecht und erkennt damit zugleich Verhalten und Sichtweise des ehemaligen Gegners als richtig an.« Keine weiteren Auseinandersetzungen um einen Staat, der sein Gewaltmonopol brutal durchsetzte, keine weiteren Fragen dazu, welche Wahrheiten die Kritik von links in den sechziger und siebziger Jahren benannte. ›Alles oder nichts‹, Sieger oder Verlierer der Geschichte, Verbrecher oder »geläuterte[r] Sohn« – letzteres gern im bewährten Muster des Bildungsromans, beschrieben von Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik: »[D]as Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet«.5 Dass es in der Diskussion kaum Interventionen von Linken oder ehemals Linken gab, sah Gaus der Tatsache geschuldet, dass ihnen ohnehin zwischenzeitlich ihre Utopien von einst peinlich geworden seien. Wenn jemand, als Zeitzeuge etwa, spreche, dann sei entweder Beschönigung im Spiel oder es würde versucht, die »Zeit als radikaler Linker zu einem monströsen Irrweg zu stilisieren«, so Christian Semler im Juni 2001.6 Doch selbst wenn oder gerade weil sich bisher kein produktiver Umgang mit der »Dialektik von Bruch und Kontinuität« in der Erzählung politischer Autobiografien entwickelt habe, gäbe es, plädiert Semler, gute Gründe zuzuhören:
4
Bettina Gaus: »Die peinliche Vergangenheit«, in: tageszeitung vom 15.1.2001.
5
G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt/Main 1990, S. 220. Vgl.
6
Christian Semler: »Über Motive und Triebkräfte der Revolte. Joschka und die Siebzi-
auch Ulrich Peltzer über die »Auto-Ödipalisierung« von Robinson Crusoe in AM 60f. gerjahre« [Erstveröffentlichung Kommune 6 (Juni 2001)]. Vgl. http://www.taz.de/ !dig=2001-06-06-a0007/ vom 12.5.2014.
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Wir erfahren etwas über ihre intellektuelle Entwicklung, über Beziehungsgeflechte, über die starken und oft dunklen Leidenschaften, von denen die Akteure getrieben waren, schließlich auch über ihre utopischen Hoffnungen. Von all dem ist wenig schriftlich niedergelegt worden, auch nicht in literarischer Form.
Ulrich Peltzer nun – der in einer Glosse einmal schreibt: »Vielleicht muss man daran erinnern, dass es sie einmal gab, die Linke«7 – hatte mit »Alle oder keiner« bereits 1998 einen Roman vorgelegt, der grundlegend und auf avancierte erzählerische Weise das Problem des Umgangs mit dem Bruch oder »Riß« im Leben und in der Lebenserzählung eines ehemals radikalen Linken, des Protagonisten Bernhard, ausstellt und fragt, wie ein politischer Aktivist, der keiner mehr ist, leben, schreiben, denken kann auf eine Weise, die der Geschichte politischer Träume und Hoffnungen Rechnung trägt und weiter träumt. Von staatlicher Seite aus hätte man diesen Bernhard, so heißt es einmal, in den späten siebziger Jahren wohl beschrieben als keiner der orthodoxen Parteien zugehöriger Ultra [...], spontaneistisches Element, dem eine solide marxistische Schulung fehlte, wie ihm die Masse des Volkes, die Volksmassen, das kraftstrotzende, hammerschwingende Proletariat im großen und ganzen suspekt war, Ausgeburt phantastischer Träumereien, die die eigene Machtlosigkeit kaschierten. (AK 162)
Folgende Stationen der politischen Biografie dieses frei flottierenden, undogmatischen Linken lassen sich aus dem Roman isolieren, der, statt chronologisch ein Leben zu erzählen, den mäandernden Erinnerungen und Assoziationsketten des 37jährigen Bernhard im Berlin der frühen bis mittleren 90er Jahre nachgeht8: Politisches ›Ur‹-Erlebnis des Schülers ist die Auseinandersetzung mit dem Militärputsch in Chile 1973 und dessen Repräsentation in den Medien (AK 73ff.); die
7
Ulrich Peltzer: »Ohne Begriffe kein Denken. Die Erinnerung an die 70er-Jahre-Linke ist die Basis für ein Vokabular der Gegenwart«, in: tageszeitung vom 25. März 2009. Vgl. auch Ingo Arend: »Wer war ich denn? Ich als Durchgangsstation. Ulrich Peltzer erzählt in seinem neuen Roman: »Alle oder keiner« von der schmerzlosen Verbürgerlichung der Protestgeneration«, in: Der Freitag vom 28.1.2000.
8
Es geschieht auf der Gegenwartsebene des Romans scheinbar nicht viel, und so ist es unmöglich, eine adäquate Zusammenfassung dieses Textes zu geben, der uns in Bernhard versetzt, durch ihn die Welt hören, sehen, riechen, wahrnehmen lässt, uns in die Bewegung seiner Bewusstseinsprozesse durch die Zeiten und Orte seines Lebens zieht.
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sich ihm aufdrängende Frage, was Menschen zu Handlungen bewegt, die politisch nicht in ihrem Interesse sind, ist möglicherweise der Grund dafür, sich dann besonders in der Antipsychiatriebewegung zu engagieren und an deren theoretischen Texten zu schulen;9 die Industriekatastrophe von Seveso radikalisiert Bernhard weiter, indem sie ihn mit den Funktionsweisen internationaler Konzerne und Finanzmärkte konfrontiert, die sich nicht der Zivilgesellschaft, sondern Aktieneignern verantwortlich sehen (AK 16f.); er nimmt an dem von tausenden internationalen Linken besuchten Antirepressionskongress in Bologna 1977 teil (AK 22f.)10 und findet sich kurz darauf in Pamplona11 inmitten einer gefährlichen Straßenschlacht wieder, als er den jungen Basken Florencio, mit dem er sich in Bologna angefreundet hat, besucht. Die Beschreibung dieser »Straßenszene«12 bildet den fulminanten Anfang des Romans: Erleben einer gewaltsamen politischen Auseinandersetzung, in der zuerst einmal alle weiteren ideologischen Fragen, etwa hinsichtlich des baskischen Nationalismus, suspendiert sind, da in der Kollision von demonstrierender Minderheit und Staatsmacht sich die Gewaltfrage für den Moment nicht in Form eines Tagesordnungspunktes stellt. Konterkariert wird der militante Kampf, dem sich Bernhard in Pamplona für einige Stunden solidarisch verbindet, später im Roman mit dem, was im Deutschland der späten 70er Jahre als dünne Möglichkeit für ihn bleibt: Er hält eine an die »Fraktion der Nomaden« gerichtete Rede auf einem Kongress der zersplitterten deutschen Linken (AK 159ff.), die begeis-
9
Siehe auch Bernhards Beschreibung seines ersten Besuches einer sogenannten ›Landesnervenklinik‹ mit seiner Arbeitsgruppe (AK 124ff.). Es steht, meine ich, noch aus, »Alle oder keiner« und Rainald Goetz’ Roman Irre (1983) zusammen zu lesen.
10 Dies wird im Text nicht ausgeführt, aber die Datierung macht es sehr wahrscheinlich, dass es sich um diesen Kongress handelt. 11 Der Name der Stadt wird im Roman nicht genannt, aber alle Hinweise lassen darauf schließen, dass es sich um Pamplona handelt. 12 »Eine Straßenszene in einer nordbaskischen Stadt, das dämmrige Licht zahlreicher Monitore, die jemand gedankenverloren beobachtet – mehr existiert nicht, außer der Gewißheit, daß es damit losgehen muß« (Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen. Über denkbare Plots, Flüchtige Subjekte und die Raumstruktur des zeitgenössischen Romans«, in: Sprache im technischen Zeitalter 179 (2006), S. 294-312, hier S. 302. Die Romananfänge von »Alle oder keiner« und von Teil der Lösung scheinen mir in ihrem Kontrast die Geschichte politischen Widerstands von den 1970er bis in die Anfänge des 21. Jahrhunderts aufzuspannen. Zum poetologischen Problem des Romananfangs siehe Norbert Miller (Hg.): Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans, Berlin 1965.
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tert aufgenommen wird und in der er sich einen Moment lang zu sehr gefällt in der Rolle des Rhetors. In dieser Spannung zwischen politischer Sprachkunst und sprachloser Gewalt (die Bernhard nicht offensteht, sofern er sich nicht als ›Revolutionstourist‹ engagieren will) gerät das politische Leben Bernhards in eine Sackgasse. Ein Riss, dessen Genese oder Grund rational oder erzählerisch nie gänzlich einzuholen sein wird, bildet sich im Innern seiner Welt, seines Ich: eine Erkenntnis, eine Entscheidung. Oder ein Dahintreiben, das trifft die Sache genauer, nachts, zwischen den Wrackteilen einer zerbrochenen Sprache, keinen festen Boden mehr unter den Füßen, oben und unten verkehrt, was man für falsch hielt und was für wahr, schlagt zu und verschwindet, Schweine mit Flügeln, schafft Zentren des Widerstands. Vorbei mit einemmal, zu einem untauglichen Wissen geworden, stumpf, plötzlich stand man den eigenen Überzeugungen als Fremder gegenüber, nicht ein Ort, an dem man sich hätte heimisch fühlen können, kein gültiger Satz. (AK 185, Hervorhebung ES)13
13 Vgl. auch AK 116 und AK 81f. Eine textuelle Besonderheit von »Alle oder keiner« sollte hier ins Spiel gebracht werden: Ungleichmäßig verteilt über den Roman finden sich, kursiv gedruckt, Sprachfragmente, die in die Erzählung so wenig zu integrieren sind wie in einen Metadiskurs (siehe hierzu Jäger: »Berlin Heinrichplatz. Die Romane von Ulrich Peltzer«, S. 10. Vgl. http://www.westoestlicherdiwan.de/peltzer1.pdf vom 14.5.2014). Diese unterschiedlich langen Wortreihen halten sich nicht an Syntax und erscheinen zum Teil als unverständliches, nicht kontextualisiertes Sprachmaterial: Traumsprache oder Sprache des Vorbewussten, die außer an einer einzigen Stelle sich im Neutrum oder im unpersönlichen »man« ausdrückt. Man könnte diese Fragmente als besagte »Wrackteile einer zerbrochenen Sprache« lesen. Oder aber es zeigt sich hier eine »unbekannte [Sprache] in der eigenen« (AM 133), von der Peltzer, in Anlehnung an Deleuze, in poetologischen Texten häufig spricht (siehe »Erzählen ohne Grenzen«, S. 301, und »Dankesrede. Zur Verleihung des Bremer Literaturpreises 2003 an Ulrich Peltzer für ›Bryant Park‹ im Bremer Rathaus am 27. Januar 2003«. Vgl. http://www.rudolf-alexander-schroeder-stiftung.de/pdf/2003_dank_1.pdf vom 14.5.2014.). Sammelt man diese kursiv gesetzten Stellen, so ergibt sich ein eigener Korpus, der sich, meine ich, prä-symbolischen (um mit Lacan oder Kristeva zu sprechen) Erfahrungen des Formlosen sowie Gewalterfahrungen und Todesangst nähert. In dem letzten dieser Fragmente – »camera silens« – drückt sich möglicherweise die ambivalente Möglichkeit eines Aufhörens der Sätze im Kopf aus (welches früher im Text von Bernhard erwähnt worden war, AK 35); ambivalent, weil camera silens auch der terminus technicus für die Foltermethode der Isolierhaft ist.
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Ein Driften, in dem kein Subjekt eine Entscheidung trifft oder erkennt: ›Schiffbruch ohne Zuschauer‹, beinahe ohne Ich. Sprache, Wissen, einst taugliche Kampfrufe bieten keinen Grund mehr, zerschlagen und zersetzt werden Bernhard und Bernhards bisheriges Leben in einer radikalen ›Chandos‹-Krise des politischen Denkens und der politischen Sprache. Die Kehrseite des Verlusts all des nun untauglich erscheinenden Wissens ist dabei zuerst einmal auch Euphorie, die der Befreiung von der Last »toter Begriffe und einer lähmenden Überwachung des Denkens durch richtiges Oben und falsches Unten beziehungsweise umgekehrt« (AK 45) folgt.14 Entlassen »aus der Obhut der großen Wahrheit« (ebd.): Pogo tanzen.15 Später: Studium, Beziehung, Wohnung, prekäre Beschäftigung an der Universität als forensischer Psychologe16, Paarabende (AK 153ff.). Der endgültigen Verbürgerlichung, dem Leben mit den Dingen – das Georges Perec bereits 1965 in seinem Roman Die Dinge auf bis heute gültige Weise an dem Paar Sylvia und Jérôme beschrieben hat – springt Bernhard gerade noch von der Schippe: Er beendet die achtjährige Beziehung mit Evelin, Marktforscherin und Romanistin, und verlässt mit nicht mehr als vier Kisten die gemeinsame Wohnung. Untergekommen ist er vorerst in dem WG-Zimmer, das ihm die Autorin Christine17, die er nur wenige Monate zuvor kennengelernt hat (AK 205ff.), während ihrer Abwesenheit für den Sommer zur Verfügung stellt.
14 Andererseits wird das Nachtleben der 80er Jahre auch im Licht bzw. Dunkel depressiver Stimmung beschrieben (siehe AK 34f.). 15 Vgl. Greil Marcus’ Beschreibung seiner ersten Erfahrung mit slam dancing: »Thirtytwo years had not taught me what I learned that night: when you’re pushed, push back; when a shove negates your existence, negate the shove.« (Lipstick Traces: A Secret History of the Twentieth Century, Cambridge, Mass. 1990, S. 90). 16 In einem Jahr wird die Fünfjahres-Stelle an der FU Berlin auslaufen, wo Bernhard mit einer Kollegin an einem Handbuch zu Persönlichkeitstests arbeitet. Zu seinem ambivalenten Verhältnis zu diesem Projekt siehe AK 48. 17 Zu Christines Betonung, sie sei »Autorin«, nicht »Schriftstellerin«, siehe AK 207.
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Vergessen erinnern Und ich? Ich versuche mich zu erinnern, was zuerst da war und später hinzugekommen ist (AK 22)
Bernhard lässt sich durch die Stadt, die Tage und Nächte treiben, wird getrieben von der Frage: »Wie man lebt. Man sich das aussucht oder auch nicht, irgendwo reinschliddert.« (AK 192) Durch ihn spülen jetzt Erinnerungen, wo das geregelte Arbeits- und Beziehungsleben, das dem Gesetz ›ewiger‹, unabänderlicher Gegenwart18 folgt, das Erinnern hatte vergessen lassen. In Anbetracht des gerissenen Lebensfadens mag dieses Vergessen durchaus nötig gewesen sein. Doch Erinnerung tut nun not an dieser Stelle mitten im Leben, wo etwas Neues begonnen sein will. Doch wie anfangen, wo, womit – dies ist eine poetologische, existentielle und politische Frage, die der Roman verfolgt. Dass das Erzählen nicht den Mustern von Bildungs-, Familien- oder Generationenroman19 folgen wird, macht der Anfang deutlich. Denn den Anfang der Erzählung und der Erinnerung macht eben nicht »das ewige Papa-Mama«20, das zur konstanten ›Vertagung‹ des Realen‹21, zur Infantilisierung der Literatur führt (Deleuze). Angefangen wird ›mittendrin‹: mit besagter Demonstration im Baskenland, die fast zwei Jahrzehnte zurückliegt, jedoch intensiv, wie gegenwärtig erinnert oder geträumt wird von einem Subjekt, das nie ganz Herr seiner Wahrnehmungen sein wird.
18 »ein geregelter Ablauf hat die Tage in sich verschlungen, [...] und ich muß mir dann ins Gedächtnis rufen, daß die Zeit fast um ist, daß wir uns langsam, aber sicher der Schlußredaktion unserer Arbeit nähern« (AK 48, Hervorhebung ES). Siehe auch Heiner Müllers Feststellung nach 1989: »Die westlichen Demokratien können sich nicht durch Tote legitimieren. Da gibt es keinen Tod – da gibt es nur Gegenwart. […] In einer Gesellschaft, in der die Toten oder die Ahnen keinen Platz haben, werden die sozial Schwachen, also die, die nicht funktionieren, zu Müll, denn sie stören den reibungslosen Kreislauf der ewigen Gegenwart.« (»Jenseits der Nation«. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, Berlin 1991, S. 23ff.) 19 Dies betont auch schon Dirk Knipphals in »Berliner Realitäten. Vom Furor zum Weingenuss: Ulrich Peltzer schreibt mit ›Alle oder keiner‹ den Roman seiner Generation fort«, in: tageszeitung vom 13.10.1999. 20 Gilles Deleuze: »Die Literatur und das Leben«, in: Ders.: Kritik und Klinik. Aus dem Frz. von Joseph Vogl, Frankfurt/Main 2000, S. 11-17, hier S. 12f.. 21 Gilles Deleuze: »Von der Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur«, in: Ders./Claire Parnet: Dialoge, Frankfurt/Main 1980, S. 43-82, hier S. 58.
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Die versierten literarischen Verfahren, die in »Alle oder keiner« wirksam werden, sind den darstellungstheoretischen Fragen, der Sprach-, Bewusstseinsund Subjektkritik der Moderne geschuldet22, dem Wissen um die Unmöglichkeit, der »Dinge habhaft zu werden«.23 Doch geht es dabei um mehr oder anderes als die kunstvolle Einschreibung in die Literaturgeschichte oder den selbstreflexiven Umgang mit erzählerischen Aporien. Die Frage, wie (ein Leben) überhaupt erzählt werden kann, welche Lebensentscheidungen und -pläne ermöglicht oder blockiert werden, ist – das zeigt der Roman eindrücklich – weder eine nur theoretische noch eine individuelle, gar psychologische Frage, so sehr das Subjekt in Frage steht. Vielmehr geht es darum, in Gilles Deleuzes Worten, Schreiben zu nutzen »als Mittel, ein mehr als lediglich individuelles Leben hervorzubringen«.24 Ein solches Schreiben kommt dem gleich, was Ulrich Peltzer als »Erzählen von Geschichte in Geschichten«25 bezeichnet. Was er für erzählenswert hält, präzisiert Peltzer in der Dankesrede zum Bremer Literaturpreis 2003: Die Gegenwart der Vergangenheit – um es so schlicht zu sagen –, politische Diskurse – nicht viel besser –, leidenschaftliche Verstrickungen – man nähert sich der Sache –, und wie alles (schicksalhaft, in einer Art closed circuit, paranoisch) miteinander zusammenhängt – das wollen wir sehen.26
22 Siehe Ulrich Peltzer: »25 Thesen«, in: Wilfried F. Schoeller/Herbert Wiesner (Hg.): Widerstand des Textes. Politisch-ästhetische Ortsbestimmungen, Berlin, 2009, S. 1422. Wie z. B. Joyces Ulysses und Woolfs Mrs. Dalloway erstreckt sich die äußere Handlung im ersten Teils des Romans über ungefähr einen Tag kurz nach Bernhards Umzug. Vgl. Jürgensen, Christoph: »Berlin Heinrichplatz, Berlin Potsdamer Platz – Die Textstädte Ulrich Peltzers«, in: Katja Carrillo Zeiter/Berit Callsen (Hg.): Berlin – Madrid. Postdiktatoriale Großstadtliteratur, Berlin 2011, S. 67–83, hier S. 72ff. und Peter Michalzik: »Ein Buch für keinen?« Ulrich Peltzer geht aufs Ganze«, in: Frankfurter Rundschau vom 10.11.1999. 23 Klaus Irler: »Der Dinge habhaft werden. Ulrich Peltzer, Träger des Bremer Literaturpreises, über Identität, scheiternde Kunst und Talk-Shows«, in: tageszeitung vom 28.1.2003. Siehe hierzu Jäger: »Berlin Heinrichplatz«, S. 7f. 24 Deleuze: »Überlegenheit«, S. 58. 25 Peltzer: »25 Thesen«, S. 18. 26 Ulrich Peltzer: »Dankesrede«.
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Aufgabe der Literatur ist für Peltzer nicht politisches Engagement oder Aktivismus im engeren Sinn,27 sondern – in der Arbeit mit Perzepten, Wahrnehmungen28 – die Erforschung der Art und Weise, wie gesellschaftliche Verhältnisse und Macht sich in die größten und kleinsten, in Molares und Moleküle (Deleuze), in das Öffentlichste und Intimste einschreiben.29 Geschichte in Geschichten zu erzählen heißt deshalb auch immer, Geschichten von und in Beziehungen und Verhältnissen zu erzählen. Hierauf verweist bereits der Titel »Alle oder keiner« explizit und implizit. Aufgerufen wird mit dem Zitat30 – das zwischen mündlicher Rede (Kampfruf der italienischen Antipsychi-
27 »Für mich bewegt sich der Terminus politische Kunst um so näher an die Grenze zur Contradictio in adiecto, je länger ich über ihn nachdenke [...].« (Peltzer: »25 Thesen«, S. 21) Und: »Es geht eher darum, Perzepte zu entwickeln, durch die ich beim Lesen hindurchgehe und die Verschiebungen erzeugen [...]. Insbesondere im politischen Aktivismus ist man nicht in der Lage, der Kunst das erstens zuzugestehen und zweitens das auch zu wollen. Da erwartet man doch eher moralische und politische Verbindlichkeiten. Die sollte die Literatur aber nicht geben.« (Jesko Bender: »Warum sind Gefühle nicht das Wahre«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.3.2011). 28 »Beschäftigt sich die Wissenschaft mit Funktionen und die Philosophie mit Begriffen, dann die Kunst mit Perzepten und Affekten, mit Empfindungsblöcken, [...]; was die Welt keineswegs zum Verschwinden bringt, sie auch nicht ihrer Gegenwart als Kampfplatz gegensätzlicher ökonomischer und sozialer Interessen beraubt« (ebd., S. 17f.). 29 Peltzer: »25 Thesen«, S. 19. 30 Die erste und dritte Ausgabe des Romans tragen den Titel »Alle oder keiner«, während der Suhrkamp-Ausgabe die Anführungszeichen fehlen. Da die neueste Ausgabe die Anführungszeichen wieder enthält, nehme ich als den Titel »Alle oder keiner« an. Peltzer selbst hat in einem Interview den Kampfruf der italienischen Antipsychiatriebewegung »nessuno o tutti« als Quelle des Titels angegeben (siehe Susanne Ledanff: Hauptstadtphantasien. Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989-2008, Bielefeld 2009, S. 331). Dieser Slogan aber geht wohl zurück auf Brechts Gedicht »Keiner oder alle« aus den Svendborger Gedichten, vertont von Hanns Eisler (siehe Nessuno o tutti, Regie: Silvano Agosti/Marco Bellocchio/Sandro Petraglia/Stefano Rulli, Italien 1975; vgl. David Forgacs, Italy’s Margins: Social Exclusion and Nation Formation since 1861, S. 244). Durch die Umstellung von »keiner« und »alle« kommt, erstaunlicherweise, diese Referenz, die Brecht durch Übersetzung ins Deutsche rücktransportiert, beinahe nicht in den Blick. Als mögliche Referenz des Titels vgl. auch ›Alle oder keiner!‹ Comisiones Obreras. Neue Arbeiterbewegung in Spanien von Erich Rathfelder, Anna Stein und Klaus Vogel (Berlin 1976).
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atriebewegung) und einer durch Anführungszeichen markierten Distanzierung von einem politisch-programmatischen Begriff oszilliert – nicht nur erneut das ungelöste Problem des Verhältnisses von Einzelnem und Gesellschaft, was nämlich der Einzelne hoffen darf, wo noch nicht alle hoffen dürfen31; mit dem Titel setzt sich der Roman auch in ein Verhältnis zur literarischen Arbeit an dem programmatischen »Keiner oder alle« bei Brecht und Müller, durch die Inversion der Pronomen das Motto aufnehmend und erneuernd, ohne ein Programm zu wiederholen.32 Mit der komplexen sprachlichen Handlung, die dieser Titel vollzieht, ergeht bereits mit dem ersten Zeichen des Romans – dem Anführungszeichen – an die Leserin die Forderung nach einem (re)konstruierenden Verhältnis zum Text, zu den Geschichten verlorener Träume und verlorener Freunde. Geschichte(n) Über Jean-Luc Godards Die Verachtung schrieb Ulrich Peltzer einmal: Kunst sagen, aber Ware meinen, und von Liebe reden, obwohl man lediglich ein finanzielles oder sexuelles Interesse verfolgt, sind die Seiten ein- und derselben Münze, die sich bis heute ihre Kaufkraft bewahrt hat. Wie es Godard gelingt, dafür Bilder zu finden [...], macht seine Verachtung zu einem der schönsten Filme, die je gedreht worden sind – ein einziges Versprechen darauf, dass es einmal eine Welt geben könnte, in der Träume so real sind wie das Leben, und das Leben ein für alle Realität gewordener Traum.33
31 Die »Versöhnung der Gegensätze, die Hoffnung auf ein Kollektivsubjekt«, dies seien zentrale Anliegen Ulrich Peltzers nicht nur in diesem Roman, schreibt Christian Jäger ausgehend von dem Romantitel (»Berlin Heinrichplatz«, S. 7). 32 »Wer sagt uns denn, daß wir auf der Fluchtlinie nicht das wiederfinden, vor dem wir flohen? [...] Ein wirklicher Bruch vermag sich nur mit der Zeit auszubreiten, [...] er muß auch vor sich selbst und gegen die ihn heimsuchenden Reterritorialisierungen geschützt werden. Dies der Grund, warum er vom einen zum anderen Schriftsteller überspringt wie etwas, das immer wieder aufs neue angefangen werden muß. [...] Anders wiederbeginnen [...] heißt, die unterbrochene Linie wiederaufnehmen, der brüchigen Linie ein weiteres Segment hinzufügen [...]. Von Interesse ist dabei niemals Anfang oder Ende, beides sind Punkte. Was zählt, ist das Dazwischen. Angefangen wird mittendrin.« (Deleuze: »Überlegenheit«, S. 47f.) 33 Peltzer: »Antrittsrede«.
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Das Versprechen einer Zukunft bedeutet das Versprechen, dass es in der Zukunft noch Träume geben wird. Dass Träume aus den Halden »leergeträumten«34 Materials, das uns umgibt, gewonnen oder diesen abgetrotzt werden müssen, aus dem, was räumlich und zeitlich ›vor‹ uns liegt: darauf beharrt »Alle oder keiner«. »Geschichte in Geschichten« zu erzählen heißt, die Geschichte von Träumen, Hoffnungen und Wünschen zu erzählen, die vielleicht nie verwirklicht wurden, deshalb aber nicht minder wirklich und wirksam waren.35 Dass es dem Roman um Geschichte zu tun ist, zeigt sich subtil an den Rändern des Textes, indem das Motto sowie die ersten und die letzten Worte des Romantextes eine Konstellation bilden, die eine präzise Auseinandersetzung des Romans mit Geschichte und den Mühen des Erzählens von Geschichte(n) reflektiert: schließlich ist die Geschichte, wie ein Freund mir einmal schrieb, ein schon geträumter und wieder zerstörter Traum (AK 5, Hervorhebung ES) Es würde noch etwas geschehen hier, das lag für mich in der Luft, wie schon die Sache mit der Polizei eine Aktion, die sie heimlich geplant hatten [...]. (AK 7, Hervorhebung ES) erinnere dich mal, sagte Christine eines Nachmittags, als wir auf ihrem Bett saßen, und erzähl’ mir, das dürfte doch nicht so kompliziert sein, wie geht die Geschichte? (AK 224, Hervorhebung ES)
Das Motto – Zitat eines Zitats – ruft ins Bewusstsein, dass Geschichte nicht aus Ereignissen besteht, sondern aus Träumen und deren Ruinierung. Das Wort »schließlich« und das Bild einer Welt aus den Trümmern vergangener Träume droht am Anfang diesen Text bereits seinem sofortigen Ende zuzutreiben. Kein
34 Für Variationen dieses Ausdrucks bei Ulrich Peltzer siehe AK 16, »Dankesrede«, »Blick nach vorn« (Akzente 53, no. 6 (2006), S. 520–527, hier S. 527) und »Abwesend / Notizen zu einem Roman« (in: [Der Berliner Literaturpreis 1996]: Wilhelm Genazino, Ulrich Peltzer, Raoul Schrott, Angela Krauss, Josef Winkler, Katja LangeMüller, Marcel Beyer, Berlin 1996, S. 29-41, hier S. 32). 35 Siehe Alexander Kluge zur Wirklichkeit des vermeintlich ›Unwirklichen‹ unter anderem in dem Interview »Menschen in der Zeit: Alexander Kluge – Seismograph der Gegenwart«: »Menschen werden sich die Hoffnung und die Wünsche nicht verwehren lassen. Alles das gehört zur Realität. Wenn Sie fragen: was ist wirklich? Dann brauchen Sie alle Zeiten, Sie brauchen den Erzählraum.« (Vgl. http://de.radiovaticana.va/ news/2012/05/06/menschen_in_der_zeit:_alexander_kluge_%E2%80%93_seismogra ph_der_gegenwart/ted-585396 vom 1.7.2014).
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Zufall scheint dabei zu sein, dass eine Adressierung zitiert wird – dass also, wo auf die Endzeit der Geschichte geblickt wird, doch noch gesprochen und Gesprochenes erinnert wird. Am Ende des Romans, der nachträglich eine anfängliche Frage liefert, die der Schließung den Anfang abtrotzt, ist es dann auch eine Freundin, die Geschichten erfragt und damit eine Öffnung schafft für das erneute Erleben und Erinnern von ›Geschehen‹. Der Sprung in die Mitte des Geschehens wiederum als dem, was einmal Geschichte sein wird, ist dabei ein Sprung nicht wirklich in das nie unmittelbar habbare Geschehen, sondern in den Konjunktiv, dem der Affekt – Schrecken oder freudige Erwartung? – nicht abzulesen ist. Ein ›schließlicher‹ Anfang, ein eröffnendes Ende: Umkehrungen von Positionen, dazwischen Erinnerungssprünge in Momente des Geschehens, die sich nie gänzlich der interpretierenden Erschließung ergeben, so diese Kausalitäten im Faktischen oder Psychischen sucht. Zusammen operieren diese Elemente, möchte man meinen, wie eine poetologische Apparatur, die immer wieder zum Erinnern und zum Beginnen zwingt. Denn wer möchte dem Freund des Mottos Recht geben? Wer würde Christine nicht antworten wollen? Wer würde nicht wissen wollen, ob noch etwas geschieht und was bereits geschehen ist und was jetzt geschehen könnte? Und wer würde nicht, immer wieder, einem Toten, einem Freund, seinen Träumen und dem Traum einer Freundschaft einen Platz in der Geschichte und in Geschichten geben wollen? Adressen Man schreibt aus Liebe, jedes Schreiben ist ein Liebesbrief36 GILLES DELEUZE
Eines wäre es, bäte Christine Bernhard nur, ihr zu erzählen. Doch wer aufgefordert wird, sich zu erinnern, hat damit offenbar aufgehört, gewollt, ungewollt, auf größere oder kleinere Teile des Lebens bezogen. Geht es in diesem Buch um den Versuch eines Neuanfangs eines ›verbürgerlichten Linken‹ – um eine zu gewinnende Lebenserzählung, in der endlich einmal nicht der Ablauf ›Bruch mit Elternhaus‹, ›Rebellion‹, ›Normalisierung‹ und dann vielleicht noch ›midlife crisis‹ reproduziert wird –, so ist dieser Versuch grundsätzlich relational, wie auch beinahe alles, was Bernhard dann erinnern wird, im Zusammenhang mit Relationen,
36 Deleuze: »Überlegenheit«, S. 58f.
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bestimmten Menschen und je besonderen sprachlichem Umgangsformen steht.37 Im englischen Verb to relate hat dieses Zusammenfallen von ›erzählen‹, ›verknüpfen‹ und ›sich beziehen‹ einen schönen Ausdruck gefunden.38 Auf diese Weise geht der Roman den Möglichkeiten ›politischer Bewegung‹ in allen Bedeutungen des Wortes nach: Wie, wodurch Einzelne bewegt, affiziert, erregt, angeregt werden.39 Wie ein junger Deutscher aufgrund eines unwahrscheinlichen Gesprächs mit Florencio, einem jungen Basken, am Rande einer politischen Massenveranstaltung in Bologna an einer gefährlichen Aktion in Pamplona teilnimmt. Dass die Frage einer Frau – Astrid –, mit der er nur wenige Stunden in Bukarest verbringt, Bernhard zum Erzählen über die Geschichte seines Interesses an der Psychologie bewegt (AK 124ff.) und sie wiederum ihm die Geschichte einer Lebenswende erzählt. (AK 138ff.) Wie eine langjährige Beziehung darauf aufbauen kann, etwas nicht zu erzählen, nicht erzählen zu müssen,40 dass auf der Basis einiger geteilter Interessen eine durchaus glückliche Beziehung aufgebaut werden konnte, die nun aber wiederum unmöglich weitergeführt werden kann, aus keinem einzelnen Grund, sondern aufgrund von ›Anstößen‹, die Bernhard bewegen oder anhalten, darunter der vielleicht wichtigste: Christines Fragen, das in gewisser Weise das Fragen Astrids wiederholt und vertieft. Christines Frage ermöglicht dabei Bernhards Erinnern und Erzählen auch insofern, als gerade ihre Abwesenheit Bernhard eine Adresse im doppelten Sinne gibt: Christine ist Adressatin seines Erzählens,41 und sie überlässt ihm ihre Adresse, ihren Wohn- und Schreibort in Kreuzberg, sowie eine Ahnung davon, wie das Leben als Literat aussehen könnte, welche Möglichkeiten, Notwendigkeiten und auch Freiheiten es gibt im Umgang mit Sprache und Formen.42 Dabei möch-
37 Oder, wie Jäger schreibt, es »queren sich wie immer bei Peltzer Privates und Politisches, gehen eine untrennbare Liaison ein« (»Berlin Heinrichplatz«, S. 11). 38 Siehe Deleuze: »Überlegenheit«, S. 62ff. zur Relation. 39 »Wo fängt das an? Wo überhaupt etwas, von dem man beginnt, zu erzählen? [...]. Eine Affizierung der Vorstellungskraft, Einwirkungen von außen auf den Körper und das Denken, deren Zufälligkeit, wie mir scheint, unauflösbar mit der Bereitschaft für eine bestimmte Geschichte verknüpft ist, Vorströme, die zwischen Potentialen unbemerkt hin und her fließen.« (AM 164). 40 Siehe AK 108 und 176. 41 Zum Problem der Adressierung vgl. Volker Hage: »Berliner Zeitsprünge. In seinem neuen Roman blickt der talentierte Erzähler Ulrich Peltzer zurück auf die wilden Jahre vor dem Mauerfall«, in: Der Spiegel 48/1999, S. 250. 42 Aufmerksam hat er beobachtet wie sie arbeitet (AK 32f.), einen ihrer Texte gelesen (AK 223f.) und ihre Sprechweise beobachtet (AK 208).
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te ich nicht behaupten, Bernhard nehme die Textproduzentin Christine als Matrix: B ≠ C. Bernhard schreibt, erzählt im Gehen, Erinnern, Träumen43 – und lernt, dass dies ›geht‹, dass Geschichte so gehen kann, fließend, stockend, auf Umwegen. Er sucht deleuzesche Fluchtlinien, »Linien jeder Art von Geschichte, zerbrochene Linien wie neu entstehende, [...] Momentaufnahmen eines Produzierens, das buchstäblich alles umfaßt, wie es eines nie ist: familiär.«44 Pamplona I: Der Schrei Zum Anfang also: »Es würde noch etwas geschehen hier, das lag für mich in der Luft, wie schon die Sache mit der Polizei eine Aktion, die sie heimlich geplant hatten, genau vorbereitet, auch wenn jetzt alles wieder ruhig schien, [...].« (AK 7, Hervorhebung ES) Gegen eine Schließung von Geschichte, der die Träume auszugehen drohen, stemmt sich der Textanfang mit einem in medias res, das allerdings in einen suspendierten Moment äußeren Geschehens (geht es hier um Flucht, um die Auflösung einer Demonstration oder um die Sammlung zur nächsten Aktion?) springt, andererseits mitten hinein in einen Adrenalin pumpenden Körper mit rasenden Gedanken.45 Das Ich – Teilnehmer einer Kundgebung, die gerade unterbrochen wurde, nun unterwegs in den Gassen Pamplonas – wird als ein sensorischer Wahrnehmungsapparat eingeführt, ein »für mich«, das versucht sich zu orientieren in einer Extremsituation, die wortwörtlich unlesbar ist: Auch wenn der 19jährige Bernhard – um den es sich in der Rückschau handelt46 – offensichtlich über Erfahrungen mit politischen Aktionen verfügt und sicherlich auch über Wissen hinsichtlich des baskischen Kampfes gegen staatliche Unterdrückung, kennt er nicht den zuvor ausgearbeiteten Plan und ist des Baskischen nicht mächtig. All dies führt zu einer zwischen Erwartung, Nervosität und Angst oszillierenden körperlichen und mentalen Spannung, die sich selbst verstärkt dadurch, dass Bernhard sich so genau beobachtet wie die Umgebung. Es würde tatsächlich noch etwas geschehen: Mit dem Eingreifen der Guardia Civil in voller militärischer Montur, verwandelt sich die Stadt in ein Schlachtfeld
43 Wir sehen ihn nur einmal am Schreibtisch, als er versucht eine quasi literarische Rezension zu verfassen (AK 212). 44 Peltzer: »Erzählen ohne Grenzen«, S. 306. 45 Vgl. Ursula März: »Bild der Unruhe. Ulrich Peltzer beschäftigt sich mit seiner Generation – mit den Mitteln der Moderne«, in: Die Zeit vom 29. Dezember 1999. 46 Siehe Jürgen Joachimsthaler: »Die memoriale Differenz. Erinnertes und erinnerndes Ich«, in: Judith Klinger/Gerhard Wolf (Hg.): Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen, Tübingen 2009, S. 33-52.
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(AK 30ff.). Die – wie Bernhard zuerst »mit Schrecken bemerkte« (AK 31) – für solche Fälle ausgerüsteten Demonstranten, nun mit Halstüchern vermummt, beschießen die »Phalanx des Staates« (ebd.) mit Steinen, die Kolonne der Guardia Civil wirft Tränengasbomben, die den Hauptplatz in Nebel hüllen. »[E]s wird jetzt zu Verletzungen kommen« (AK 36), denkt Bernhard – doch überkommt ihn nun eine eher euphorische Stimmung: »mein Körper war nicht mehr schwer, nicht mehr verschieden von dem Augenblick und seiner Erzählung« (ebd.). Die zunehmende Gefahr zwingt gleichsam Bernhard in eins – ihn, den Intellektuellen, der aufgrund seiner Gabe der genauen Wahrnehmung eher (sich) beobachtet, als impulsiv zu handeln, der beständig die akut erfahrene mangelnde (zeitliche) Übereinstimmung von sinnlicher Wahrnehmung, Denken und Handeln aushalten muss. Die Erinnerung an die Aktion scheint auf diesen kathartischen Moment der Spannungsentladung hinauszuwollen: mit einem Schrei, der den Schlachtruf der anderen imitiert, stimmt er in den Chor der Protestierenden ein. Er schrie, was die anderen schrien, ohne daß ich davon mehr als den Klang verstanden hätte, aber darum ging es auch nicht, mein Herz, seine rasenden Schläge, der in Strömen herunterlaufende Schweiß, was ich sah und hörte und tat, das alles verschmolz ineinander in diesem Moment. (AK 37)47
Was zu diesem Moment eines paradoxem Mit-sich-identisch-Seins – in einer unbekannten Stadt, in einer unbekannten Sprache, in einer Artikulationsweise, die kaum noch Sprache ist – und der Erfahrung von Kollektivität und Solidarität entscheidend beiträgt, ist, meine ich, Bernhards Beobachtung, dass die »Phalanx
47 Dabei ist der Status dieses Schreis als Ausdruck eines ekstatischen Erlebens insofern unklar, als genau an dieser Stelle der Text ein Gleiten von wachem Erinnern zum Traum andeutet (siehe AK 36). Ähnliche rauschhafte Zustände werden später im Roman, wie Jäger zeigt, dann nicht mehr im Bereich der politischen Aktion gesucht, sondern in lauter Musik, die mit Elementen der Wiederholung arbeitet (AK 44ff.; siehe Jäger: »Berlin Heinrichplatz«, S. 9). Zu erwähnen ist aber auch die Beschreibung der agitatorischen Rede, die Bernhard einmal vor großem linkem Publikum verlesen hat, und in der er – nach anfänglicher Unsicherheit – die Macht politischer Rede erfährt, und ihr gleichsam selbst erliegt (AK 159ff.). Diese ›Szene des Politischen‹ kann – hinsichtlich der Erfahrung von Macht – als Inversion der Anfangsszene gelesen werden.
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des Staates« getroffen, ihre Gewalt erwidert werden kann48: Demonstranten werfen Tränengasbomben zurück in die Reihen der Gardisten, und er glaubt einen der Uniformierten, getroffen von einem Zwillengeschoss, zusammenbrechen zu sehen. Dank eines solidarischen Busfahrers entkommt Bernhard mit anderen dem augenblicklichen Chaos, um dann langsam zum Hauptplatz zurückzukehren. Pamplona II: »Hast du Angst vor dem Tod?« Es lässt sich aus dem Text des Romans nicht erschließen, warum diese Erinnerung, dieser Traum am Anfang steht, warum die Erzählung an diesem frühen Tag seiner neuen oder Übergangsexistenz einsetzt, warum wahrscheinlich einer der ersten Tage und Träume in dieser neuen Umgebung erfüllt ist von diesem intensiven Erlebnis, das etwa 20 Jahre zurückliegt. Sicherlich gehört diese Erfahrung zum Außergewöhnlichsten, was Bernhard je erlebt hat: ein äußerst komplexes Erlebnis von Angst und Lust, ein befreiender und erschreckender Moment des Kontrollverlusts, der absoluten Gegenwärtigkeit. Plötzlich, in einem spontanen Akt internationaler Solidarität, hat er Teil an einem politischen Kampf, der eher als ein schon über Jahrzehnte geführter Krieg zu bezeichnen ist. Er kann nicht darauf vorbereitet gewesen sein, in einer ihm unbekannten Stadt, wo eine ihm unbekannte Sprache gesprochen wird, der geballten Macht eines Staats gegenüberzustehen. Zumindest wird diese Lesart plausibel, liest man, im dritten Teil des Romans, wie traumatisch sich die zufällige Rückkehr an diesen Ort Jahre später gestaltet, als Bernhard mit seiner Freundin Evelin auf einer Urlaubsreise einen Abstecher nach Pamplona, zu den Sanfermines, dem Stierlauf, unternimmt.49 Zu diesem Zeitpunkt sind sie seit drei Jahren zusammen, und Evelin scheint von seinem (politischen) Leben vor ihrer Beziehung kaum etwas zu wissen:
48 Zur Erfahrung von Machtlosigkeit gegenüber einem »Apparat, der übermächtig erscheint, abgeschottet und im Vollbesitz seiner Macht, die die unbestrittene Macht zu definieren ist« siehe AK 132. 49 Aufgrund der Wiederholung, mit der der Roman hier operiert, wäre eine Lesart dieser Szene mit Freud denkbar, dem zufolge das Trauma sich strukturell aus zwei Momenten zusammensetzt: dem traumatisierenden Moment, in dem der Reizschutz des unvorbereiteten Subjekts durchstoßen wird und der sich der Einordnung entzieht, und einem zweiten Moment, der den ersten wachruft. Der traumatische Moment wird also immer erst nachträglich zu einem solchen.
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Nie habe ich ihr Einzelheiten von früher erzählt, als sei der Faden abgeschnitten gewesen, als hätte ich ihn persönlich durchtrennt, weil das, was an ihm hing, seine Bedeutung in meinem Bewußtsein, im Raum seiner Bilder, verloren hatte. (AK 176)
Bernhard erzählt in der Beziehung mit Evelin nichts Genaues, kann es auch nicht: Es lässt sich keine Geschichte spinnen ohne Faden, nicht einmal die Geschichte des zertrennten Fadens selbst. Es gehört nicht viel dazu, sich vorzustellen, wie grotesk – gerade für einen, der sich nicht erinnern will – sich die Bilder der von der Guardia Civil gejagten Demonstranten und Passanten überlagern mit dem Eindruck der durch die Gassen jagenden Ochsen und Stiere, verletzter corredores und feiernder Massen in einer Art »gemeinschaftlicher Selbstvergessenheit.« (AK 173) Bernhard überkommt mehr und mehr eine sich zur Panik steigernde Unruhe. Im Gegensatz zur Anfangspassage des Romans reagiert er auf das Geschehen nicht mit genauem Wahrnehmen, sondern verliert immer mehr die Kontrolle über seine Denk- und Artikulationsfähigkeit. Er fühlt sich beobachtet [...] wie einer, der auf der Fahndungsliste steht beziehungsweise sein Foto kurz zuvor auf einem Plakat entdeckt hat und nun glaubt, jeder müsse ihn erkennen [...] Völlig irrational, dachte ich, ohne daß dieser Gedanke meine Nervosität gedämpft hätte. [...] fast panisch, ich könnte angesprochen und aufgehalten werden, von sich jagenden, zerreißenden Sätzen geplagt, die durch meinen Kopf trudelten, Worte ohne Zusammenhang, nicht mehr fähig, ein Gespräch zu führen [...]. (AK 178f.)
Vor dem Hintergrund dieses zweiten Pamplona-Besuches kehrt man zur Beschreibung der Kundgebung in Pamplona, die den Anfang bildet, zurück und fragt sich einmal mehr: Was ist dort geschehen? Was wird dort beschrieben? Angst, die im rauschhaften Moment des Schreis zuerst einmal nicht wahrnehmbar war?50 Nachträgliche Ahnung der Gefahr, die politischer Kampf, wie er an diesem Ort geführt werden musste, bedeutet?51 Panik, da diese Erfahrung für einen Moment seine war, obwohl dies nicht sein Kampf sein konnte? Erschrecken bei dem Gedanken, er könnte tatsächlich auf einer Fahndungsliste stehen – weil bei der Beteiligung an militanten Aktionen gegen den Staat die Regel »Einmal ist keinmal« ihre Gültigkeit verliert?
50 Erhellend ist, dass Bernhard grundsätzlich – und dies ohne Ressentiment oder Überheblichkeit – davon ausgeht, dass Menschen Angst haben vor der Konfrontation mit Staatsgewalt (vgl. AK 136f.). 51 Vgl. Jäger: »Berlin Heinrichplatz«, S. 10.
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Es mag sich um einen Augenblick handeln, dessen intensives Erleben zurückersehnt oder gefürchtet wird, er ist in jedem Fall ein Teil seiner Vergangenheit, der sich nicht einfügen will in eine Geschichte, auch deshalb, weil er sich nicht in die Zusammenhänge der Bundesrepublik einordnen lässt. Damit sind die diversen ›Schnappmechanismen‹ außer Kraft gesetzt, die die Debatte um die Anwendung von Gewalt (Stichwort »RAF«) regulieren.52 Denn in Pamplona ging es, wie ihm sein Freund Florencio damals erklärt hatte, darum, »nach Jahrzehnten des Jochs, Garrotte und so weiter« (AK 14) die Unruhe wachzuhalten. Die Unruhe hat Bernhard verloren und ist jetzt einer anderen, ruhigen Unruhe, auf der Spur. Die Vergegenwärtigung der intensiven und gefährlichen Stunden in Pamplona am Anfang des Romans erlauben die Auseinandersetzung mit Fragen wie die nach der Rolle der Gewalt im Widerstand gegen den Staat; nach der Lust des Aufstands; nach der womöglich nicht eingestandenen Angst, ja Todesangst. Und dass Todesangst, oder die Erfahrung der eigenen Endlichkeit und die daran sich knüpfende Frage, wie man dieses Leben denn leben wolle, bei dem, was im Text als »Riß« bezeichnet wird, eine Rolle spielen könnte, dafür spräche eines: Über die sehr kurze Affäre mit Astrid in Bukarest heißt es: »es gab einen Riß in mir, den diese Frau wieder aufdeckte, wachgehalten durch sporadische Telefonate«.53 Was ist dort geschehen? Sie gehen durch die Stadt, eine/r erzählt der/dem anderen aus ihrem Leben,54 und dann fragt Astrid, die gerade ihren Widerwillen gegen Monumente und die Memorialisierung von »Ruhm und Ehre« verkündet hat:
52 Da die Erinnerungen an den Kongress in Bologna und an die Kundgebung in Pamplona sich meiner Meinung nach auf den September und Oktober 1977 beziehen, finden sie also zeitgleich mit dem sogenannten Deutschen Herbst statt, der nirgends explizit erwähnt wird (außer, man nähme das Sprachfragment »camera silens« als tatsächlich fast unhörbaren Hinweis, AK 219; siehe FN 13). 53 An dieser Stelle heißt es weiter über die Begegnung mit Astrid: »das habe ich nie erzählt, und wie hätte ichʼs auch erklären sollen, wenn für mich selber alles, was später folgte, damit in keinem direkten Zusammenhang steht, im Bezug auf so ein bestimmtes Gefühl, das mich seit unserer Begegnung damals, im ehemaligen Gästehaus der ehemaligen staatlichen Gewerkschaft, nicht mehr verlassen hat.« (AK 47f.) Die unerzählte Affäre bestand selbst hauptsächlich aus Erzähl- oder sprachlichen Akten. 54 Astrids Erzählung ist, könnte man meinen, die Geschichte eines derivé: Im Zuge eines halb unbewussten Gehens erschließt sich ihr eine andere Stadt und ein anderes Selbst. Diese Krisenerzählung von Astrid kann als eine Art Matrix dafür gelten, was Bernhard in diesem Sommer, meist allein, tun wird. Siehe hierzu Ledanff: Hauptstadtphantasien, S. 338ff.
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»Ich meine, sie hob ihre Schultern und streckte ihr Kinn vor, es bleibt von uns doch sowieso nichts am Ende, und das macht die Figuren auf ihren Sockeln für mich noch sonderbarer, als sie es schon allein sind. Hast du Angst vor dem Tod?« (AK 149)55 Florencio Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.56 WALTER BENJAMIN
Die Frage ist nicht nur, was ermöglicht die Anfangsszene zu sehen, sondern: Was macht diese Anfangsszene überhaupt erst möglich? Wodurch wurde diese Erfahrung, dieser solidarische Akt, möglich und gleichzeitig zwingend? Erlaubt hat Bernhard dieses Erlebnis eine Einladung, eine Gabe, die wie jede Gabe auch Bernhards Möglichkeiten übersteigt, von eben jenem Florencio – »mit seinem schönen Namen« (AK 186) –, der in dem Roman eine undurchdringliche Stelle der Schönheit, der Tragik, der Klarheit und Integrität bezeichnet.57 Politischer Aktivismus, Solidarität, all das ist jenseits aller Grundsätze und Analysen eben auch eine Frage des Affekts, der Liebe, des Vertrauens. Bernhard und Florencio hatten sich nur wenige Wochen zuvor auf dem erwähnten Antirepressionskongress in Bologna (September 1977) kennengelernt (AK 22f.). Kurz darauf fährt Bernhard alleine die weite Strecke nach Pamplona. Dort, inmitten des Chaos, hören wir Bernhard denken: »[E]s gibt keine echte Gefahr, dachte ich, eingekeilt zwischen den anderen, [...] als sei es wie im Theater nur ein Vorspiel, in das ich geraten war, mit Florencio, dem vertraute ich uneingeschränkt.« (AK 11) ›Uneingeschränktes Vertrauen‹: ungewöhnlich schon unter gewöhnlichen Bedingungen, noch ungewöhnlicher vor dem Hintergrund des
55 Bernhards sich daran anknüpfende Assoziationen ähneln in mancher Hinsicht der Rede von den »Wrackteilen der Sprache« (AK 185) und den kursiv gesetzten Textteilen (vgl. FN. 13). 56 Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften I/2, Frankfurt/Main 1974, S. 691-704, hier S. 695 (These VI). 57 Vgl. hierzu Peter Michalzik: »Ein Buch für keinen?«
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zu jener Zeit tief sitzenden Misstrauens in der Linken, geschürt durch staatliche Repressionen und eingeschleuste Spitzel (AK 23). Die Grundlage dieses schnell gefassten Vertrauens ist ein unbefragbares Einverständnis, das sich in einem Gespräch ergibt und für einen Augenblick die Hoffnung wahr werden lässt auf eine internationale Bewegung, die zu Veränderungen führen könnte: damals, »als die Dinge sich für uns beide einen Moment lang gleich darstellten und in unseren Sprache die gleichen Bezeichnungen trugen. Austauschbar die Worte, die man gebrauchte, in verschiedenen Ländern, für ein und dasselbe, man glaubte fest daran, daß es so wäre.« (AK 186) Es ist ein eigentlich unmögliches Gespräch zwischen zweien, die die jeweilige Muttersprache des anderen nicht sprechen: in allen verfügbaren Sprachen, eingeschlossen die des Körpers. »Er gefiel mir, seine unaufgeregte Art zu erzählen, um was es sich für ihn handelte im allgemeinen und im besonderen, welche Ziele sie verfolgten, und mit wem.« (AK 23) Immer wieder geht es, wo Florencio erwähnt wird, um seine Ruhe, seine Fähigkeit zu schlichten, seine »Entschiedenheit und Umsicht« (AK 186), seine Unermüdlichkeit (AK 177), seine Furchtlosigkeit und Souveränität (AK 178): »Für diese Art war ich empfänglich, ein weder auftrumpfendes noch bloß zusammengelesenes Selbstbewußtsein, das er für mich verkörperte, allein schon, wie er beim Reden seine Hände bewegte, irgendwie behutsam und entschieden zugleich, nichts darstellend.« (AK 177f.) Bernhard diagnostiziert an anderer Stelle einmal an sich selbst einen »abschätzende[n] Blick«, der »wie ein Lesegerät über Oberflächen« taste, immer fürchtend, »ihm könne etwas, das wichtig wäre, entgehen, und noch geringste Unterschiede, Abweichungen verzeichnet, anstatt sich dem Sichtbaren auszuliefern.« (AK 203) Alles und alle um ihn herum genau beobachtend ist Besonders deshalb für Menschen empfänglich, die nichts darstellen als sich selbst.58 Florencio erscheint eins mit sich und der Sache, sein Sprechen eins mit seinem Körper. Bernhard muss auf keine Abweichungen, auf nichts Dahinterliegendes oder Vorgeschobenes achten, er kann sich dem Sichtbaren ausliefern, weil es alles zeigt. Das ist Florencios Schönheit – nicht nur sein Name ist schön, der schöne Name bezeichnet einen schönen Menschen. Dabei scheint gerade die Beschreibung seines nicht ›auftrumpfenden‹ Selbstbewusstseins Florencio zur Verkörperung einer anderen Männlichkeit oder gar eines anderen, androgynen Geschlechts werden zu lassen.59 Denn auf eine ungreifbare und doch meines Erachtens gleichzeitig deutliche Weise ist »Alle oder keiner« ein Text über eine Figur,
58 Siehe auch Bernhards Eindruck von Astrid (AK 134). 59 Siehe zur Beschreibung Florencios AK 187.
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der Männlichkeit, gar ›deutsche‹ (wie sie vielleicht nicht nur in der deutschen Linken inszeniert wurde), fremd ist.60 Diesen Florencio also liebte Bernhard. Und doch, ich zitiere noch einmal diese wichtige Stelle, ist Florencio aus meiner Welt damals von einem Tag auf den anderen herausgefallen, durch einen Riß in ihrem Inneren, eine Erkenntnis, eine Entscheidung. Oder ein Dahintreiben, das trifft die Sache genauer, nachts, zwischen den Wrackteilen einer zerbrochenen Sprache, keinen festen Boden mehr unter den Füßen. (AK 185, Hervorhebung ES)61
Es wird nun deutlich, dass der Riss, der durch Bernhards Welt geht, jenseits des alleine schon schmerzhaften Verlusts von Gewissheiten, den unersetzlichen Verlust eines, diesen Freundes bedeutet.62 Und dass, um auf den Anfang des vorliegenden Textes zurückzukommen, ein Denunzieren der radikalen, auch militanten Vergangenheit bedeutet, einen Reichtum von Möglichkeiten, Gefühlen, Erlebnissen ebenso zum Müll der Geschichte zu erklären, wie Beziehungen, die eine Welt bedeuteten, und Menschen, die für eine Sache gestorben sind, die eine Gesellschaft nicht als ›gerechte‹ Sache anerkennen oder des Gesprächs würdigen will. Der ›Idiot‹, oder: Wiedersehen mit einem Toten Dass Florencio nicht nur aus seiner, Bernhards Welt gefallen ist, sondern aus der Welt, muss Bernhard beim nächsten Halt der Reise, nach dem überstürzten Auf-
60 Ich werde noch einmal darauf, was ich als eine deleuzesche Tendenz zum ›Frau werden‹ in diesem Text lese, zurückkommen. 61 Von diesem Riss ist bereits früher einmal, wie bereits zitiert, im Zusammenhang mit der »Affäre von Bukarest« kurz die Rede (AK 47f.). 62 »Aber die Welt und die Menschen, welche sie bewohnen, sind nicht dasselbe. Die Welt liegt zwischen den Menschen, [...]. Mehr und mehr Menschen in den Ländern der westlichen Welt, die seit dem Untergang der Antike die Freiheit von Politik als eine der Grundfreiheiten begreift, machen von dieser Freiheit Gebrauch [...]. Dieser Rückzug aus der Welt braucht den Menschen nicht zu schaden, [...]. Nur tritt mit einem jeden solchen Rückzug ein beinahe nachweisbarer Weltverlust ein; was verloren geht, ist der spezifische und meist unersetzliche Zwischenraum, der sich gerade zwischen diesem Menschen und seinen Mitmenschen gebildet hätte.« (Hannah Arendt: »Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten«, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, S. 11-42, hier S. 12).
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bruch aus Pamplona, erfahren: Auf einem alten Passbild blickt ihn dieser aus der baskischen Zeitung an, die er sich von Evelins morgendlichem Einkaufsgang hat mitbringen lassen. Er habe ein Gefühl gehabt, als würde ihm der Kopf ausgeschabt, heißt es, als er »Florencio nach Jahren wiedersah, seinen Namen las unter einer grob gerasterten, schwarzweißen Fotografie, nebst zwei Jahreszahlen, die ein kurzer Bindestrich miteinander verband.« (AK 172) Es ist ein unheimliches Wiedersehen mit einem Toten – die ungewöhnliche Verwendung des Wortes ›Wiedersehen‹, das, wenn auf Menschen gemünzt, meist eine Gegenseitigkeit impliziert, deutet darauf hin, dass Bernhard ein Wiedersehen für möglich gehalten oder es gewünscht hatte, irgendwo, jenseits des Risses in seiner Welt. Nun erfährt er, dass ein ›Wiedersehen‹, im eigentlichen Sinne, schon lange unmöglich geworden ist: der abgetauchte Florencio Larrazabal wurde wohl vor drei Jahren von einer der durch das Land marodierenden rechten Gruppen ermordet. (AK 184f.)63 Was bleibt, ist die Begegnung mit einem Toten, Opfer eines politischen Mordes, gestorben, weil er meinte, ich wiederhole dieses Zitat, »nach Jahrzehnten des Jochs, Garrotte und so weiter« dürfe »die Unruhe [...] nicht einschlafen, müsse wachgehalten werden.« (AK 14) Dies ist, in meiner Lektüre, eine der zentralen Aufgaben, die Bernhard und dem Roman gestellt sind: Einen toten Freund zu erinnern, ihm nachzurufen, wohl wissend, er wird nicht hören können, wohl wissend, es ist zu spät. Nicht zu spät ist es für Bernhards Unruhe, für das Wachhalten des Risses in ihm und seiner Welt.64 Wenn zu lesen ist, Bernhard habe zuerst vor sich hingestarrt »wie ein Idiot gedankenlos« (AK 185, Hervorhebung ES), dann scheint mir das Wort »Idiot« mit Bedacht gewählt:65 Der Idiot ist ursprünglich die »Privatperson«, die trotz angemessener Fähigkeiten kein öffentlich-politisches Amt ausübt. Bernhard, zu Besuch als Privatmensch im Baskenland, Bernhard der »Idiot« sieht sich konfrontiert mit einem Freund und Genossen, der Opfer seiner politischen Arbeit wurde. Bernhard mag den »Riß« nicht bewusst gewählt haben, doch der Unterschied zwischen ihm und Florencio ist, dass er überhaupt Privatmensch werden konnte. Bernard, so der Text später, habe lange mit der Zeitung dagesessen, »darin das Paßbild eines Toten, mit dem ich vor Jahren in Bologna Freundschaft geschlossen hatte« (AK 187). Die leicht irreguläre Konstruktion dieses Satzes – die die Lesart ›ich schloss Freundschaft mit einem Toten‹ ermöglicht – verdeutlicht,
63 Es ist eine merkwürdige Koinzidenz (der hier nicht weiter nachgegangen werden kann), dass Florencio ungefähr zu der Zeit starb, als Bernhard eine Beziehung mit Evelin einging. 64 Vgl. AK 48. 65 Siehe Avital Ronell: Stupidity, Urbana, Ill. 2002.
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dass Florencio, in dem politischen Kampf, den er kämpfen musste, schon immer – der erschreckend realen Möglichkeit nach – ein Toter, Opfer eines politischen Mordes, Opfer einer staatlich geduldeten Gewalt gewesen sein wird. Ihm sucht Bernhard jetzt, Christines Frage folgend, ein Nachleben zumindest in der Erinnerung zu schenken: Je länger ich das nicht sehr große, schwarzweiße Foto ansah, desto weiter entfernte es sich von mir, die abgebildete Person, als träte sie wieder zurück durch die Zeit in jenes Jahr, in dem die Aufnahme entstanden war. Zwischen uns verlassener Raum, Erzählung im Konjunktiv, was hätte sein können, wenn, nichts Reales. Nur unsere Erinnerung, dachte ich, in der sie noch Leben hatte, er hat. (AK 186)
Dreiecke, oder: ›Ubw‹ in Umzugskisten Die Scham, ein Mensch zu sein – gibt es einen besseren Grund zum Schreiben? Selbst eine Frau muss Frau-werden, wenn sie wird [...]. Werden heißt nicht eine Form erlangen (Identifikation, Nachahmung, Mimesis)66 GILLES DELEUZE
Das Elternhaus, so hatte Florencio bei einem Gespräch in Pamplona angemerkt, sei eine »Sackgasse, aus der es kein Entrinnen gab, wenn man nicht beizeiten umkehrte, auch politisch« (AK 16). So habe sich sein Vater mühevoll zu einer guten Stellung hochgearbeitet, sei dann aber nicht über den »lachhafte[n], selbstgenügsame[n] Stolz« ob des Erreichten hinausgekommen, der von der Geschichte lediglich wissen will, was in seiner Reichweite liegt, [...] sich ängstlich an das Erreichte klammernd, ohne jemals einen einzigen Gedanken zu verschwenden, ob das Leben mehr zu bieten haben könnte als eine Eigentumswohnung [...], Teilchen einer Maschinerie, die nicht zu beeinflussen war wie das Wetter / falsch, nicht das Wetter, keine Jahreszeiten der Konjunktur, wie ein steter natürlicher Kreislauf [...], vielmehr ein mitreißender Warenstrom, der so plötzlich hervorsprudelt, wie er im Sand verläuft, verrinnt, da bleibt eine Steppe leergeträumter Dinge zurück, und wieder von vorne, auf Tastendruck. (AK 16)67
66 Deleuze: »Die Literatur und das Leben«, S. 11. 67 Vgl. hierzu Jäger: »Berlin Heinrichplatz«, S. 8. Da die Absätze in diesem Prosatext sehr bewusst gesetzt sind, markiere ich einen einfachen Absatz mit ›/‹.
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Die Auflehnung gegen den Vater trägt keine Züge des Ödipalen, das Elternhaus ist nicht reduziert auf eine psychische Konfiguration, sondern steht für die politische Haltung, sich – sobald ein Fußbreit an Boden gewonnen wird – zufrieden zu geben. Der Preis dafür, nur das Erreichte festhalten zu wollen, ist hoch. Das Glücksversprechen wird nie eingelöst, in endloser Wiederholung muss mit immer neuen Dingen der Versuch gemacht werden, endlich einmal das Gewünschte in Händen zu halten. Verschrieben ist der ganze Mensch aber nicht nur dem Besitz(wunsch), sondern falschen Denkweisen: Als wäre nichts zu ändern, da die Verhältnisse sich als natürlich geben. Und dabei geht es ja nicht nur um individuelles Glück oder Unglück: Produziert werden Ruinen, Katastrophen, verloren werden Träume, geleert wird die Welt. Mit den Dingen entleeren sich die Träume und die Geschichte – oder: keine Geschichte ohne Träume, die nicht zur Warenförmigkeit gerinnen. Bernhards eigener Vater war Kaufmann, ein eher unauffälliger Patriarch. Er verstarb jung. »Alle oder keiner« will – Deleuzes Invektive gegen eine Infantilisierung der Literatur folgend – keine Familiengeschichte erzählen. Dennoch muss hier auf eine Handlung eingegangen werden, die – gerade weil auf der Gegenwartsebene Bernhard keine großen Entscheidungen trifft, keine außergewöhnlichen Handlungen vollzieht – um so mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Unter den Dingen, die Bernhard bei seinem Auszug aus der mit Evelin geteilten Wohnung reflexartig mitgenommen hat, findet sich sein Lieblingsbuch, Svevos Zeno Cosini (einer der ersten Romane, der die Psychoanalyse literarisch einsetzte), und eine Fotografie, die, soweit ich zählen kann, vier Mal in dem Roman erwähnt oder beschrieben wird68 und die er einmal aus einem Familienalbum seiner Mutter gelöst und nach Berlin mitgenommen hatte.69 Die Fotografie hing dann – für einen Intellektuellen ein überdeterminierter Ort – über seinem Schreibtisch. Nun aber findet er für sie keinen Platz mehr: »während ich einen Platz für das Bild suchte und keinen fand, ich meine, es kam mir plötzlich unmöglich vor, es hier an eine Wand zu heften, oder überhaupt noch an eine Wand, als gehörte es allein in jenes Album, aus dem ich es herausgeholt hatte, ich nahm mir vor, es wieder dort einzukleben« (AK 92).
68 AK S. 62f., S. 66f., S. 92 und 219f. 69 Vgl. hierzu Helmut Böttiger: »Abkühlen. Runterkommen«, in: Frankfurter Rundschau vom 13.10.1999: »Die landläufigen Züge eines Entwicklungsromans sind hier völlig eliminiert. Nur gelegentlich taucht ein Foto des Vaters auf, zwanzig Jahre vor Bernhards Geburt, das er in seinen beiden Umzugskartons mitgenommen hat: ein fremdes Gesicht mit steifem Kragen, ein ferngerücktes Umfeld. Das ist von der Frage nach Identität übriggeblieben.«
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»Alle oder keiner« legt gleichsam Spuren aus, die einer »Hermeneutik des Verdachts« Vorschub leisten: die wiederholte Beschreibung, die Tatsache, dass das Bild fast unbewusst gegriffen wurde und dass dann für eine Weile das Bild in einer unausgepackten Kiste in Christines Zimmer bleibt. Es ist, als stünde das ›Ubw‹ in Form von Umzugskartons im Raum. Andererseits: Ausgerechnet Svevos Zeno zusammen mit der Fotografie aus seinem alten Leben mitzunehmen, konstituiert schon in sich eine distanzierende Geste, da Zeno der Methode und seinem Analytiker gegenüber eine rebellische bis ironische Distanz beibehält.70 Der Roman will Bernhards Geschichte nicht als die Geschichte eines Sohnes erzählen, doch einfach so zu tun, als gäbe es die Familie nicht, wäre unwahr. Hinsichtlich des Bilds vom toten Vaters scheint es eher um den unsentimentalen Versuch zu gehen, Geschichte aus einem Bild zu lesen, das aus einer Zeit und einer Welt stammt, zu der es keinen Rückgriff mehr gibt. Insofern steht das Vaterbild im Kontrast zu Florencios Passbild71: letzteren versucht Bernhard für Augenblicke in seiner Erinnerung auferstehen zu lassen, nicht mehr einzuholen jedoch ist die Haltung, sind die Träume dieses jungen Mannes, seines Vaters im Jahre 1931: Stehkrägen mit kurzen weißen Propellerfliegen, Blendrevers, Ziertücher, wobei das des mittleren viel zu weit aus seiner Brusttasche hervorschaut, ein zusammengefaltetes Dreieck aus Brüsseler Spitze, dessen erste Lage umgeknickt ist und, sicher mit ein wenig Parfüm getränkt, herabhängt, wie der Ausdruck des Gesichts eine lässige Antwort auf die Frage nach dem Preis der Welt, daß das, was sie auch immer kosten möge, für ihn kein Problem darstellen würde. (AK 66f., Hervorhebung ES)72
Das etwas zu lässige Brusttuch ist für Bernhard gleichsam das barthessche ›punctum‹ dieses Bildes, das ihn berührt und das dem Gesichtsausdruck des Vaters auf seltsame Weise entspricht. Der Blick, die männliche Eroberungspose, der Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins hinsichtlich der Käuflichkeit der Welt, der Machbarkeit des Ichs,73 all das, was in diesem Augenblick für seinen
70 Und: Svevo ist ein Lieblingsautor, den Christine goutieren kann – fungiert also zwischen Bernhard und ihr als eine Art Shibboleth (AK 222). 71 Zur Rolle von Freundschaft (oder Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit) ohne väterliches Gesetz siehe AM 119. 72 Vgl. auch Peltzer: »Blick nach vorn«, S. 527. 73 Zu Bernhards Reflexionen über das »verlorene[] bürgerliche[] Leben« in Berlin siehe AK 166.
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Vater gerade noch möglich schien, in einem kurzen Moment vor Nationalsozialismus, Holocaust, Vernichtungskrieg, ist nun unlesbar oder unmöglich geworden.74 Dies ist keine Verwerfung des Vaters, doch seine Geschichte gehört in den Zusammenhang des Familienalbums, eines Familienromans. Was hat es also mit diesem chronologisch (nicht in der Textfolge) letztem Moment auf sich, als Bernhard gerade noch bei seiner Mutter ist,75 aber fast schon auf der Reise zu Christine, die ein Stipendium nach Norddeutschland verschlagen hat? das unpassende Ziertuch des mittleren ist zu weit aus der Brusttasche seiner Jacke gezogen, die Spitze umgeknickt. Ich nehme die Uhu-Tube und mache vier Kleckser auf die Rückseite des Bildes, dann drücke ich es am schwarzen Karton fest, über die akkurat in weißen Druckbuchstaben geschriebene Legende. Meine Mutter sieht fern, das könne sie noch einigermaßen gut, sagte sie mir, während ihre Nahsicht fast verschwunden sei, hinter einem Schleier, [...] man habe sich damit abzufinden, mit dem dauerhaften Verfall des Opticus, es sei Schicksal, den einen treffe es und den anderen nicht. Ich bin mit dem Zug fünfhundert Kilometer nach Westen gefahren, morgen geht es ungefähr genausoweit nach Norden, zurück in Richtung Südosten, was ein leicht verschobenes, spitzwinkliges Dreieck ergibt, denke ich, und daß es schön sein wird, Christine wiederzusehen. (AK 219f., Hervorhebung ES)
Das Bild wird zurück an den Ort gebracht, wo es – durch die säuberliche Kommentierung der Mutter – datiert und aufbewahrt, gleichzeitig aber unsichtbar werden wird: Die Mutter, die es immer liebte, die alten Alben durchzusehen, hat schon beinahe alle Nahsicht verloren und wird das Bild nicht mehr ansehen können. Seltsam aber ist, wie das Ziertuch, das Dreieckstuch, in der geographischgeometrischen Beschreibung Bernhards wiederkehrt – oder doch nicht wiederkehrt? Verwandelt es sich nicht vielmehr und kommt in Bewegung? Ist nicht mehr Zeichen männlichen Übermuts, nicht mehr Zeichen ödipaler Zwangssubjektivierung, sondern wird ein grundsätzlich anderes? Man kann nicht umhin, an Deleuze, den Ulrich Peltzer sehr genau gelesen hat und schätzt, zu denken: »Schreiben heißt ja, Fluchtlinien ziehen«.76 Linien ziehen, mehr, andere Drei-
74 Zur Geschichte des Vaters siehe AK 70ff., 146, 194f. Bernhard ist »nachkommenlos« (AK 189), will selbst nicht Vater werden und ist befremdet von der unhinterfragten Annahme des ›es muss weitergehen‹ (ebd.). Vgl. auch AM 59. 75 Die Diskussion der außerordentlich wichtigen Position der Mutter in dem Roman kann hier leider nur angedeutet werden. Siehe auch Ulrich Peltzers »Abwesend«. 76 Deleuze: »Überlegenheit«, S. 51.
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ecke bilden.77 Schreiben als Frau werden, minoritär werden.78 Nicht Mann-sein, sondern Florencio erinnern, der in seiner Gestalt und seinem Wesen in kein Raster passte. Das Alphabet erinnern: A wie Astrid, B wie Bernhard, C wie Christine, E wie Evelin, F wie Florencio – und dass die Buchstaben nichts sind, als ihr Verhältnis. Und immer wieder neu beginnen, einen anderen Horizont im Auge, im Sucher eine andere Ebene aus Silben und Worten und Sätzen, die den wahren Stoff beinhalten (wie man für sich insgeheim vermutet), jenes noch nicht leer geträumte Material, das die Geschichte ausmachen soll.79
77 Zu hinter und aus dem familiären Dreieck proliferierenden anderen Dreiecken vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Frz. übers. von Burkhart Kroeber, Frankfurt/Main 1976, S. 15ff. 78 Vielleicht könnte hier, bei Deleuze und Guattaris ›Tier-werden‹, eine Lektüre einsetzen, die einer Stelle, kurz vor Ende des Romans, gerecht würde, die Christines Frage vorausgeht: »Was man darf und was nicht, was davor war und was noch folgt, sich aneinanderreihende Sätze, einsetzend an einer bestimmten Stelle, Schnitt durch die Zeit, Ketten von Silben und Worten, die man empfindet oder empfunden hat, man hört und sieht, für die Dauer eines Lidschlags, in diesem Moment, sprechend. Die Vögel in den Bäumen vor der Stazione Termini, Tausende von Vögeln, deren Geräusche die Dämmerung erfüllten, den Straßenlärm rund um den Busbahnhof übertönten mit ihrem Tschilpen und Flattern, Rast auf dem Weg nach Süden, dachte ich, oder hier den Winter verbringend.« (AK 224). 79 Peltzer: »Dankesrede«.
Den kommenden Terror erzählen Ulrich Peltzers Bryant Park
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Subtil werden die Anschläge des 11. September 2001 nicht gerade in die Erzählung Bryant Park eingeflochten. Ganz im Gegenteil: der Einschlag der Flugzeuge ins World Trade Center wird geradezu mimetisch als Einschlag einer neuen Erzählinstanz im Text abgebildet. So, wie man im hegemonialen politischen Diskurs die Welt in eine Welt ›vor‹ und ›nach‹ 9/11 einteilt, so kann man auch Peltzers Text in eine Erzählung vor und nach 9/11 einteilen. So, wie man die Anschläge in den USA als eine aus dem Nichts kommende Gewalttat verstanden hat, so bricht in Bryant Park aus dem Nichts eine Erzählstimme in den Text herein, die bisher völlig unbekannt und unsichtbar war. Ulrich Peltzers Text übersetzt den Terror von 9/11 also durchaus stringent in ein erzählerisches Modell und sucht geradezu die Nähe zur terroristischen Gewalttat. Im gleichen Moment arbeitet Peltzers Text jedoch gegen die terroristische Gewalt und gegen die machtvollen und gewaltförmigen politischen Diskurse, die sich mit ihr verbinden. Peltzers Text entwickelt eine ganz besondere politische Ästhetik, indem er das Ereignis des 11. September in ein komplexes Textverfahren einwebt. Der Bruch, den die Anschläge in der Erzählung zunächst ganz offensichtlich darstellen, wird durch das Textverfahren so umfassend unterlaufen, dass das Deutungsmuster der historischen Zäsur in seiner Legitimität in Frage gestellt und stattdessen die Möglichkeit eines Erzählens in einer Zeit des Terrors ausgelotet wird – eines Erzählens, das zum einen die verstörende Wucht der Gewalt bezeugt, sich den politischen Herrschaftsdiskursen aber im gleichen Moment zu entziehen versucht. Peltzers Erzählung führt die Gratwanderung vor, die damit verbunden ist, einerseits die Wucht eines Ereignisses aufzunehmen, andererseits aber den mit ihm verbundenen, vermeintlich klaren Deutungsmustern zu widerstehen, diese zu reflektieren und sie schließlich zugunsten einer
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erzählerischen Ethik zu verwerfen. In der poetischen Feinfühligkeit, mit der Peltzer diese Gratwanderung unternimmt, liegt meines Erachtens die große Besonderheit seiner politischen Ästhetik. Dabei wendet er sich in Bryant Park buchstäblich einem grundlegenden Problem des Erzählens zu: dem ersten Satz. Erste Sätze Bryant Park behandelt das Thema ›erste Sätze‹ ausgiebig, sogar der letzte Satz der Erzählung thematisiert einen solchen ersten Satz: »Ein erster Satz aus dem Nichts.« (BP 136), so lautet der letzte Satz der Erzählung. Das Ende der Erzählung stellt also einen ersten Satz in Aussicht. Der Erzählstrang, an dessen Ende dieser erste Satz in Aussicht gestellt wird, handelt von einem Schreibprojekt, das sich durchgängig am Rande des Scheiterns bewegt. Einen ersten Satz hat Stefan Matenaar, der für ein biographisches Schreibprojekt in der New Yorker Public Library Chroniken durchsieht, bis zum Ende der Erzählung nicht formulieren können – zumindest erzählt Bryant Park nichts von einem solchen, zu Papier gebrachten, ersten Satz. Sehr wohl aber von den Schwierigkeiten, von der Lektüre der Chroniken überhaupt in einen Modus des Schreibens zu gelangen: »Etwas hinschreiben, an den oberen Rand eines Blattes, etwas wegstreichen, die Gliederung des Textes ergänzen, Strichmännchen zeichnen, rauchen.« (BP 60) Der dezidiert ›erste Satz‹ seiner Geschichts-Studie steht also noch aus, von ihm kann die Erzählung nicht berichten – auch wenn sie mit einem ›ersten Satz aus dem Nichts‹ begonnen haben muss. Anders gesagt: der ›erste Satz aus dem Nichts‹ steht als Versprechen noch aus – vielleicht aber auch als Drohung. Warum Versprechen, warum Drohung? Bryant Park führt die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, einen ›ersten Satz aus dem Nichts‹ zu formulieren, durch eine durchgängige Reflektion auf die in einem solchen ersten Satz angelegte Gewaltförmigkeit des Sprechens. Lässt sich ein ›erster Satz aus dem Nichts‹ überhaupt formulieren, ohne eine gewaltsame Setzung vorzunehmen? Ohne damit Herrschaftsgeschichte zu erzählen? Welche Macht hätte eine Stimme, die einen solchen ersten Satz sprechen könnte? Und in welchem Verhältnis stünde sie zu anderen Stimmen und zur historischen Zeit? Bryant Park provoziert diese Fragen durch die Art und Weise, wie mit dem Problemfeld ›erster Satz‹ umgegangen wird. Dies soll anhand von drei Passagen erläutert werden. Erstens muss die Erzählung ja irgendwie begonnen haben, um dort anzukommen, wo sie mit der Aussicht auf einen ersten Satz endet. Und mit diesem Anfang, dem ersten ›ersten Satz‹ tut sie sich tatsächlich etwas schwer. Dem ersten der extradiegetischen Instanz zuzuordnenden Satz ist auf paratextueller Ebene das Gedicht Tatooed City von Charles Simic als Motto vorangestellt, das
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schon auf das schwierige Verhältnis von ›Ich‹ und ›Schrift‹ hinweist: »I, who am only an incomprehensible / Bit of scribble«. Und auch das Umschlagfoto sowie seine Erläuterung im Impressum der Erstausgabe – das Foto stammt von Kathrin Röggla, einer Freundin des Autors Ulrich Peltzer, die auch mutmaßlich als die aus New York E-Mails schreibende k./kathrin in der Erzählung auftaucht – kann man dem ›Auftakt‹ des Textes zurechnen. Nach diesem Vorgeplänkel lautet der erste Satz der Diegese: »Von zahlreichen Fenstern in rechtwinkligen Mustern durchbrochene Fassaden aus Granit und Sandstein und Marmor, die steil aufragend die Rasenfläche hinter der Public Library an der fünften Avenue umschließen.« (BP 7) Dieser Satz fügt sich insofern in das Problemfeld ›erster Satz‹ ein, als ihm sowohl eine zeitliche Markierung als auch ein sprechendes Subjekt (›Ich sehe‹ kann man ihm in Gedanken voranstellen) fehlen. Gestaltet ist der Auftakt der Erzählung durch einen vier Zeilen nach unten gerückten Textbeginn mit einer Majuskel, dem Textbeginn geht eine Ellipse voraus. Der Text verfügt nicht nur über einen ersten Satz, sondern, zweitens, gleich über zwei ›erste‹ Sätze: Der Einbruch von 9/11 nämlich wird durch einen Satz markiert, der offensichtlich den ersten Satz aufruft, also als ›zweiter/erster‹ Satz erkennbar ist, weil er grafisch den Beginn der Erzählung aufruft, ein vier Zeilen nach unten gerückter, mit einer Majuskel beginnender Satz. Über diese formale Analogie zum ersten Satz der Erzählung hinaus beginnt mit dem ›zweiten‹ ersten Satz aber auch eine neue, scheinbar aus dem Nichts kommende Erzählung: eine bis dahin völlig unbekannte Erzählinstanz bricht schlagartig in die Erzählung ein und berichtet davon, wie sie in Berlin – die von ihr abrupt abgebrochene Erzählung hatte ihren Schauplatz in New York, und zwar deutlich vor dem 11. September 20011 – die Anschläge vom 11. September 2001 erlebt. Neben diesen zwei ›ersten‹ Sätzen endet die Erzählung, drittens, schließlich mit dem letzten Satz, der einen ›ersten Satz aus dem Nichts‹ in Aussicht stellt (und Bryant Park somit gewissermaßen zu einer Vorgeschichte eines ›ersten Satzes aus dem Nichts‹ macht).
1
Einen Hinweis auf die Zeit, in der die Erzählung angesiedelt ist, geben die Fernsehbilder von Bill Clinton bei der Verleihung einer Ehrenmedaille an besonders engagierte Bürger (BP 32); die Fassbinder-Werkschau »letzten Februar« (BP 78), von der Matenaar berichtet, fand im Jahr 1997 statt (vgl. http://www.moma.org/interactives/exhib itions/1997/fassbinder).
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Der ›zweite‹ erste Satz Wieso wird eine Erzählung, die deutlich vor dem 11. September angesiedelt ist, abgebrochen, um eine neue Stimme (die den gleichen Namen trägt wie der Autor des Buches) über den 11. September sprechen zu lassen? Ulrich Peltzer begründet diesen Einbruch von 9/11 als eine Entscheidung für eine erzählerische Ethik: Die Anschläge ereigneten sich während meiner Arbeit an dem Buch. Das ist letztlich eine sehr traurige Geschichte von jemandem, der versucht, sich in New York wieder einzusammeln; in einer Stadt, in der er nicht mehr zu Hause ist. Mit den Attentaten vom 11. September 2001 ergaben sich dann für mich zwei Möglichkeiten: entweder das Buch abzubrechen oder mir zu überlegen, wie ich den Bogen wieder zu der Geschichte zurückziehen kann.2
Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum die Erzählstimme, die mit dem 11. September in den Text einbricht, Ulrich heißt. Produktionsethisch gesprochen inszeniert Peltzer mit dem Einbruch von 9/11 den Schreibprozess im Buch selbst: während er die Geschichte von Stefan Matenaar schreibt, ereignen sich in den USA die Terroranschläge vom 11. September. Über diese Anschläge muss man sprechen, man darf sie nicht ignorieren, nicht beschweigen. Die Erzählinstanz ›Ulrich‹ bezeugt auf diese Weise in Echtzeit die Anschläge. ›Nichts wird mehr so sein, wie zuvor‹ – der Topos der Zäsur, der den US-amerikanischen und europäischen politischen 9/11-Diskurs prägte, spricht auch aus Peltzers Entscheidung, nicht einfach weiter zu erzählen, als wäre nichts passiert. Diese auf Peltzers Äußerung gestützte produktionsethische Dimension des Textes beschreibt jedoch nur die eine Seite des Effekts, den das Auftreten von ›Ulrich‹ im Text hat. Diese Ethik ist zugleich höchst ambivalent, hat sie doch auch eine Kehrseite: ›Ulrich‹ bezeugt mit seinem Auftreten ja nicht nur die Anschläge, sondern verübt zugleich seinerseits durch die Form seines Auftretens einen Anschlag auf die bisherige Erzählung. Neben einer Ethik des Erzählens lässt sich in Bryant Park also auch eine Strategie terroristischen Erzählens finden, und zwar in ein und demselben Textphänomen. Wer ist also dieser ›Ulrich‹, Zeuge oder Terrorist? Spätestens hier sollte klar sein, dass Peltzer es einem mit dem Ereignis des Terrors doch nicht so einfach macht, wie es zunächst den Anschein hat. Er hätte ja auch einfach den 11. September beschweigen und sein Buch wie ursprünglich
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Jesko Bender: »Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. März 2011, S. Z6.
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geplant fertig schreiben können, oder die Anschläge anders denn als Einschlag im Text thematisieren können. Indem sich Peltzer für diese (auch formale) Thematisierung von 9/11 entschied, setzte er ein Textverfahren in Gang, in dem die beiden Ebenen in ein und derselben Passage zusammenfallen. Und so stellt der Text auf radikale Weise die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Erzählens im Angesicht des Terrors und damit auch die Frage nach den problematischen Implikationen von Konzepten der Zeugenschaft. Er stellt aus, dass die Souveränität des Erzählens/Erzählers unablässig zwischen einer Position der Zeugenschaft und einer gewaltsamen Attacke oszilliert und zeichnet die erzählerische Souveränität als eine Kippfigur, in der die Wirkmacht des Terrors angelegt ist. Ein ›erster Satz aus dem Nichts‹ kann demnach beides sein: ein Zeugnis im Sinne der Wiedererlangung einer Sprache nach der Zerstörung aller Referenzrahmen und zugleich ein Anschlag aus dem Nichts. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Erzählung Bryant Park. Der erste Satz Was wäre ein erster Satz aus dem Nichts anderes als ein Ereignis? Wer könnte ihn sprechen und woher bezöge diese Stimme die Fähigkeit, zu sprechen? Wer könnte ihn verstehen? Ulrich Peltzer hat mit 9/11 ein historisches Geschehen gefunden, an dem er diese Suche auf ihre historischen, geschichtsphilosophischen und politischen Implikationen befragen kann. Ein erster Satz aus dem Nichts, ein erster Satz, gesprochen am Nullpunkt, im Angesicht von ground zero – das steht in Peltzers Erzählung zur Verhandlung. Was wie ›aus dem Nichts‹ einbricht, ist Ereignis. Das Ereignis, so schreibt Jacques Derrida, ist das, »was vertikal über mich hereinbricht, ohne dass ich es kommen sehen kann.«3 Mit dieser klaren Abgrenzung vom Horizontalen, von dem also, was man kommen sehen kann, löst Derrida das Ereignis zugleich aus dem visuellen Paradigma, in das sich das deutsche Wort einschreibt. ›Ereignis/ereignen‹ geht etymologisch auf das mittelhochdeutsche ›erougenen‹ zurück und bezeichnet folglich ein Phänomen des vor dem Auge Erscheinens; etwas ›zeigt sich‹ oder ›wird offenbar‹.4 Die Herauslösung des Ereignisses aus dem
3
Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 35.
4
Deutsches Wörterbuch: ›Ereignen‹, Band 8, Sp. 1691. Die seltenere mittelhochdeutsche Form ›ougenen‹ (›vor Augen führen‹) verweist noch deutlicher auf die Augen. Christoph Deupmann nimmt diese etymologische Dimension zum Ausgangspunkt für seine Bryant Park-Lektüre, vgl. Christoph Deupmann: »Ausnahmezustand des Erzäh-
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Feld des Sichtbaren ist bedeutsam, liegt doch für Derrida im Erscheinen des Ereignisses bereits der Verlust von dessen Einzigartigkeit. »Ebenso kann das Ereignis, wenn es erscheint, nur um den Preis erscheinen, dass es bereits in seiner Einzigartigkeit selbst wiederholbar ist.«5 Ein Ereignis im Sinne einer Einmaligkeit/Einzigartigkeit kann es also nicht geben, bzw. kann diese Einzigartigkeit niemals lesbar und in irgendeiner Weise sinnhaft werden – Derrida wendet also das Denken der différance auf alle Vorstellungen ereignishafter Einmaligkeit an.6 Dass die Rede vom Ereignis von vornherein zu spät kommt, bedeutet nicht nur, dass die ›Präsenz‹ des Ereignisses nicht eingefangen werden kann, sondern zugleich auch, dass es in seiner Singularität nicht erfasst werden kann – denn die Sprache ist strukturell »einer gewissen Allgemeinheit, einer gewissen Iterierbarkeit, einer gewissen Wiederholbarkeit unterworfen und muss schon deswegen die Singularität des Ereignisses verfehlen.« Man kann also sagen, so Derrida weiter, »dass das Sprechen vom Ereignis die Singularität des Ereignisses […] immer schon verfehlt – durch die einfache Tatsache, dass das Sprechen zu spät kommt und die Singularität in der Generalität verliert.«7 Diese wenigen Sätze dekonstruieren bereits eine Vorstellung vom Ereignis, die eine reine Singularität und eine reine Präsenz des Ereignisses behauptet. Vom Ereignis zu sprechen, bedeutet immer, es im gleichen Moment zu unterlaufen. Und doch bedeutet diese Dekonstruktion des Ereignisses nicht, die Kategorie gänzlich aufzugeben: Selbst wenn Derrida das Sprechen über das Ereignis als eine »unmögliche Möglichkeit« betrachtet, bleibt die Vorstellung des Ereignisses doch als Bezugspunkt erhalten – wenn auch als sprachlich uneinholbarer. Derrida geht es ja nicht darum, »Ereignishaftes« zu leugnen, sondern vielmehr um die Frage, ob ›man das Ereignis sagen kann‹ (der Originaltitel seines Textes
lens. Zeit und Ereignis in Ulrich Peltzers ›Bryant Park‹ und anderen Texten über den 11. September 2001«, in: Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen (Hg.): Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, Heidelberg 2008, S. 17-28, hier: S. 17f. 5
Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 36.
6
»›Dieses Mal‹ […] gibt sich ausdrücklich als die […] Mannigfaltigkeit eines Ereignisses, das kein Ereignis mehr ist, da seit Eintritt ins Spiel seine Singularität sich verdoppelt, sich vervielfältigt, sich aufteilt und sich in Abzug bringt, wobei es sich sogleich in eben dem Augenblick, wo es sich scheinbar hervorbringt, das heißt sich gegenwärtigt, im uneinnehmbaren ›doppelten Boden‹ einer Nicht-Gegenwärtigkeit verbirgt.« (Jacques Derrida: Dissemination, Wien 1995, S. 328).
7
Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 21.
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lautet: Une certaine possibilité impossible de dire lʼévénement.). Wenn es ein Ereignis gibt, dann ist es nur unter der Bedingung von dessen »Unmöglichkeit möglich.«8 Für ihn wird das zum Ereignis, was in der »Struktur des Feldes«9 unmöglich ist: Die Erfahrung »des Unmöglichen ist Bedingung für die Ereignishaftigkeit des Ereignisses. Was als Ereignis eintritt, kann nur da eintreten, wo es unmöglich ist. Wenn es möglich oder vorhersehbar wäre, könnte es nicht eintreten.«10 Allerdings ist schon das Verhältnis von Möglichem und Unmöglichem eines, das nicht benennbar ist: das Unmögliche ist schlichtweg nicht wiss- und sprechbar – die für seinen Aufsatz titelgebende Formulierung der »unmöglichen Möglichkeit« formuliert einen rhetorischen Widerspruch, ein Oxymoron, das er aber für eine Auseinandersetzung mit dem Ereignis für »irreduzibel notwendig«11 hält. Randgänge des Schreibens Peltzers Text schreibt sich genau in das aporetische Feld ein, das Derrida mit der ›unmöglichen Möglichkeit‹ des Ereignisses absteckt. Innerhalb dieses Feldes entwickelt Peltzers Text die spezifisch politische und geschichtsphilosophische Dimension einer Dekonstruktion des Ereignisses. Denn er erzählt den 11. September auf eine Art und Weise, die zum einen den hegemonialen Diskurs von den Anschlägen als Ereignis, Zäsur und Einschlag (›Nichts wird mehr sein, wie zuvor‹) affirmiert, indem die Anschläge ganz deutlich als Text-Ereignis markiert werden; zum anderen entwickelt diese Geste der Affirmation eine subversive, dekonstruktive Kraft, weil sie in einen Textzusammenhang eingebettet ist, der sämtliche Vorstellungen von ereignishafter Präsenz unterwandert. Die Erzählstimme ›Ulrich‹, die das Ereignis setzt, verübt damit sowohl einen terroristischen Akt und bezeugt zugleich die Anschläge des 11. September – eine wahrlich paradoxe Situation, in der aber gerade das Kritikpotential des Textverfahrens steckt. Um dies näher zu erläutern, lohnt ein Blick auf das Textverfahren vor dem Einbruch von 9/11. Auf diesen Seiten beschreibt der Erzähler Stefan Matenaar seinen Aufenthalt in New York, dessen Zweck Recherchen »in den auf Microfiches und CD-Roms gespeicherten Archiven, Taufregistern und Pfarreichroni-
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Ebd., S. 32.
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ken« (BP 60) für ein nicht näher bezeichnetes Buchprojekt sind. Die Arbeit an diesem Projekt gestaltet sich schwierig, und diese Schwierigkeiten sind im Gegensatz zum genauen Anliegen des Buchprojektes recht deutlich formuliert: die Arbeit mit Chroniken wirft die Frage auf, wie man Geschichte erzählen kann, wie eine Aneinanderreihung von Daten in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden kann und welche Bedeutung dabei der Chronist einnimmt: »berührten ihn die Schicksale überhaupt, die er in seinem Buch protokollierte, oder ließen sie ihn kalt als ein Werk der Vorsehung, nur Chiffren eines prädestinierten Geschehens, von dem er der Nachwelt pflichtbewusst Zeugnis ablegte«? (BP 24) Was der Autor der Matenaar vorliegenden Chronik gedacht haben mag, lässt sich nicht sagen, es bleibt bei der bloßen Frage danach; aber auch Matenaar versteht sich ja als ein Geschichtsschreiber, verfolgt jedoch einen völlig eigenständigen historiographischen Ansatz, er ist, so sagt er über sich selbst »im Prinzip der Erste […], der sich dem Thema auf diese Weise nähert.« (BP 27) ›Diese Weise‹ wird nicht explizit ausgeführt, es wird jedoch deutlich, dass das Projekt um die Frage kreist, wie Geschichte gelesen und geschrieben werden kann und wie ein Geschichtsbegriff aussähe, der die Schicksale eben nicht ›kalt‹ in eine objektivierbare Struktur einer mutmaßlich linear verlaufenden und strengen Gesetzmäßigkeiten folgenden Geschichte einbettete, sondern der eine Position der Zeugenschaft für diejenigen Dimensionen der Geschichte entwickelt, die nicht in diesen (angenommenen) Strukturen aufgehen. Matenaar interessieren gerade die Aspekte, die sich bestenfalls an den Rändern der ihm vorliegenden Dokumente erahnen lassen und gerade durch ihre Randständigkeit seine Phantasie anregen: »immer wieder«, so heißt es über die Lektüre, »schweifen die Gedanken ab, entzündet sich die Fantasie an einem Schnörkel auf den oft rissigen, von Falzspuren gezeichneten Seiten, die der Bildschirm vergrößert zur Schau stellt«. (BP 23) Ihn interessiert weniger der Inhalt der Chroniken als vielmehr die Form, das Material und nicht sinnhafte Marginalien wie beispielsweise Verzierungen der Schrift – die Momente, die darauf hindeuten, dass auch der strenge Chronist in seiner Arbeit abschweifte, wecken Matenaars Interesse und affizieren ihn: »man glaubt, die Hand sehen zu können, die diese Bögen zog, zu beobachten, wie sie ausstrich, Majuskeln verzierte oder Sternchen und Kreuze in eigenwilliger Form aufs Papier setzte.« (BP 23/24) Sowohl die Randgänge des Lesens, in denen sich die Gedanken an Schnörkeln entzünden, als auch die Randgänge des Schreibens interessieren Matenaar, weil sie ihm zu versteckten Hinweisen und zu Symptomen einer vergessenen Geschichte werden, aber dennoch (oder gerade deshalb) die Phantasie des Lesers, der zugleich Schreiber ist, anregen. »Man möchte Geschichten dazu erfinden, das Gerippe der Daten, einzelner Worte, kryptischer
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Bemerkungen auffüllen mit den Kapiteln des Dramas, das man dahinter vermutet, nachhallend bis heute durch die dürren Angaben hindurch.« (BP 23) Eine solcherart auf die Ränder konzentrierte Rekonstruktion von Geschichte misstraut der Chronologie als »Herrschaftszeugnis« (BP 26), sie erachtet vielmehr diejenigen Momente für bedeutsam, in denen sich unwillkürlich etwas ›entzündet‹, in denen der Eindruck eines Nachhalls der Geschichte entsteht. Funkt es, oder in Walter Benjamins Begriffen, dessen Geschichtsphilosophie hier immer wieder durchscheint: ›blitzt etwas auf‹, dann treten Vergangenheit und Gegenwart in ein Verhältnis zueinander, dann wird die Gegenwart von der Vergangenheit affiziert, es wird lesbar, was anders nicht lesbar wäre – darin besteht laut Benjamin der »Funken der Hoffnung«, den nur ein materialistischer Geschichtsbegriff entfachen kann.12 Die Hoffnung, die dieser Funke entzündet, besteht darin, zu retten, was im Herrschaftsnarrativ dem Vergessen anheim gegeben ist. Es liegt im unvorhersehbaren, unwillkürlich eintretenden Ereignis also durchaus etwas Hoffnungsvolles – und diese Hoffnung gilt es gewissermaßen gegen ein Herrschaftsnarrativ zu verteidigen, welches das Ereignis machtpolitisch instrumentalisiert und damit gerade seiner hoffnungsvollen Dimensionen beraubt. In der Bibliothek ›funkt‹ es aber nicht, Matenaar verlässt gleich zu Beginn der Erzählung die Public Library und setzt sich den Eindrücken der Stadt New York aus. Markiert die Public Library einen Ort, der es als Archiv ermöglicht, auf die gespeicherte und durch technische Apparaturen abrufbare Geschichte zuzugreifen, so wird Matenaar auf seinem Weg durch Manhattan zum Flaneur und die Stadt zum Erinnerungsraum einer mémoire involontaire: »Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit«, schreibt Benjamin im Passagenwerk und fragt: »Warum aber die seines gelebten Lebens? Im Asphalt, über den er hingeht, wecken seine Schritte eine erstaunliche Resonanz.«13 Es ist dieser Resonanzraum der Vergangenheit, den der Matenaar-Strang in Bryant Park erzählt – im Gegensatz zu der Geschichte, die Matenaar in der Bibliothek zu recherchieren versucht, aber nicht erzählt. Der Weg durch New York wird zu einem Weg in die Vergangenheit, eine Vergangenheit allerdings, die sich der chronologischen Ordnung (ihrer Festlegung auf das Vergangen-Sein) sowie der kontrollierten Verfügbarkeit widersetzt: sie bricht unwillkürlich in die
12 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1974, S. 695. 13 Walter Benjamin: Das Passagenwerk, in: Gesammelte Schriften, Bd. V.1, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 1982, S. 524.
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Schilderungen der Gegenwart, und damit mitten in die Sätze ein – lauter kleine Ereignisse durchziehen also die Erzählung, schon lange vor dem ›großen‹ Ereignis 9/11. Das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart wird in Matenaars Erzählung zum Verhältnis von ›Gewesenem‹ und ›Jetzt‹ im Sinne Benjamins: »Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild, sprunghaft. – Nur dialektische Bilder sind echte […] Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.«14 Die Verfahrensweise von Matenaars Erzählstrang zeichnet den Versuch, die Gegenwart zu erzählen, letztlich als ein Erinnerungsprojekt, das nicht bewusst gesteuert und kontrolliert werden kann, sondern das seine ›Sprunghaftigkeit‹ aus den Assoziationsräumen bezieht, die der Weg durch die Stadt eröffnet.15 Jenseits kausaler oder chronologischer Gesetzmäßigkeiten drängen sich mehrere Erzählstränge in die New Yorker Gegenwart, die einen gescheiterten Drogendeal in Italien und die Zeit unmittelbar vor dem Tod des Vaters erinnern. Diese Erinnerungsstränge provozieren zumeist einen Übergang mitten im Satz, der lediglich durch den Wechsel in kursiv gesetzte Schrift angezeigt, ansonsten aber nicht (inhaltlich) plausibilisiert wird: In die New Yorker Gegenwart drängt sich so unweigerlich das Gewesen als »die andere Geschichte«, die »sich einfach in den Text der Gedanken hineinschiebt, als sei es ein ihr unveräußerliches Recht.« (BP 115) Diese Konstellationen machen aus der Gegenwart des New Yorker Geschehens ein Textverfahren der Gegenwärtigkeit. Einbrechende Geschichte Diese, in einer materialistischen Geschichtsphilosophie verankerte, um den Begriff der Gegenwärtigkeit als Kritik an Herrschaftsnarrativen ringende Erzählung, bricht auf Seite 106 abrupt ab. In das mäandernde Netzwerk der Assoziationen, Sprünge und Erinnerungsspuren, die sich allesamt den Ansprüchen des historiographischen (Herrschafts-)Diskurses nach Kausalität, Chronologie und Objektivierbarkeit widersetzen, bricht ›Ulrich‹ ein und bringt den MatenaarStrang mit einem (An-)Schlag zum Verstummen.
14 Ebd., S. 577. 15 Auf den assoziativen Charakter der Erinnerungen weist Christoph Deupmann hin: »Ohne auf absichtlichen Abruf zu warten, melden sich die Erinnerungen selbst zu Wort und reichern die wahrgenommene Wirklichkeit assoziativ an.« (Deupmann: Ausnahmezustand des Erzählens, a.a.O., S. 23).
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Das ganze Ringen um einen Geschichtsbegriff scheint mit dem Auftritt des Ich-Erzählers Ulrich und den Einschlägen der Flugzeuge ins WTC und Pentagon ein Ende zu haben, Ulrich kann offenbar selbstidentisch sprechen. Seine Erzählung besteht aus um Authentizität bemühten Schilderungen von Telefonaten mit Freunden, von seinen eigenen Reaktionen auf die Fernsehbilder und von E-MailWechseln mit seiner Freundin Kathrin in New York.16 Zumeist handelt es sich um die Wiedergabe von Gesprächen ohne erzählerische Distanz oder um die Beschreibung der Fernsehbilder, in denen das erzählende völlig hinter das erzählte Ich bzw. der Sprecher hinter den Wahrnehmenden zurückzutreten scheint. An die Stelle der literarischen Stilisierung, welche die Erzählebene Matenaars auszeichnet, tritt nun das ›authentische‹ Sprechen von Ulrich, und diese Ersetzung wird als kategorialer narrativer und inhaltlicher Bruch eingeführt. ›Das hier ist wirklich‹, wollen die Sätze Ulrichs sagen. Die Anschläge sind durch die Erzählinstanz Ulrich im doppelten Sinne als einbrechende Geschichte in den Text eingeschrieben – sie bricht kommentarlos in den bisherigen Verlauf des Geschehens herein und bringt die Narration damit zum Einbrechen. Dieser Einschnitt ist besonders interessant, weil er doch selbst einem ›terroristischen‹ Akt der einen gegen die andere Erzählinstanz gleichkommt; Ulrich bricht als völlig unbekannte, geschichtslose Stimme aus dem Nichts in den Erzählfluss Matenaars ein und verfügt ganz offensichtlich über die Macht, diesen Gewaltakt auszuführen.17 Auf den ersten Blick scheint es also, als affirmiere und reproduziere Bryant Park in dieser Passage das Masternarrativ von 9/11 als umfassende Zäsur. Indem der Text aber das Diskursmuster als terroristisch lesbar macht, buchstabiert er zugleich den Terror als Diskursmuster aus und öffnet ihn damit für die Dekonstruktion. Der Einbruch der Erzählstimme ›Ulrich‹ bricht zwar die bisherige Erzählung ab, ›aus dem Nichts‹ kommt sie allerdings nicht, das wird spätestens dann deutlich, wenn sie sich als Autor des Matenaar-Stranges zu erkennen gibt und dar-
16 Vgl. ausführlich: Volker Mergenthaler: »Katastrophenpoetik. Max Goldts und Ulrich Peltzers literarische Auseinandersetzungen mit ›Nine-Eleven‹«, in: Wirkendes Wort 2 (2005), S. 281-294. 17 Terror und das Denkmuster des welthistorischen Bruchs werden in Bryant Park als eine Form der Rede lesbar gemacht. Was als weltgeschichtliche Zäsur wahrgenommen wird, hängt davon ab, wie über politisches Geschehen gesprochen wird – das wird auch in Matenaars Erzählstrang deutlich. Dieser ist teilweise noch vor der Wende 1989 angesiedelt, über diesen ›historischen Wendepunkt‹ verliert die Erzählung allerdings kein Wort.
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über sinniert, wie denn dessen Erzählstrang wieder aufgenommen werden könne. (BP 116) Als Erzählstimme war sie damit erzähllogisch von Anbeginn der Erzählung an anwesend, blieb dabei aber stumm. Sie ist gewissermaßen ein Schläfer: anwesend, aber noch nicht ›geweckt‹. Ihr Auftreten setzt nun eine Wiederholungsstruktur in Gang, die das ›Ereignis‹ 9/11 und das damit verbundene Diskursmuster einer Zäsur unterläuft. Denn der Einbruch von ›Ulrich‹ erinnert an den Anfang der Erzählung – der Anfang der Erzählung und der Einbruch Ulrichs werden miteinander verschaltet. Das beginnt schon auf formaler Ebene, wenn bereits zwei Seiten nach dem Auftreten von Ulrich Passagen wieder kursiv gesetzt sind. Besonders stechen die Wiederholungsstrukturen aber auf der Ebene der histoire ins Auge. Beginnt die Erzählung Matenaars mit seinem nachmittäglichen Verlassen der Public Library (BP 7), kommt Ulrich »gegen siebzehn Uhr aus der Staatsbibliothek nach Hause« (BP 107); Matenaar sieht sich mit einem Verkehrschaos in Manhattan konfrontiert, Ulrich bekommt von einem solchen berichtet. Der Grund sind in beiden Fällen Ereignisse, die der unmittelbaren Wahrnehmung der beiden Protagonisten entzogen sind. Kaum hat Matenaar die Public Library in Manhattan verlassen, ist er mit einem Geschehen konfrontiert, das sich massiv auf das dortige Leben auswirkt, von dem er aber nur vermittelt erfährt; die Straßen und U-Bahn-Linien rund um das Geschehen sind von der Polizei gesperrt. Matenaar erfährt zunächst von einem Passanten, dass ein Lastenaufzug eingeknickt sei und dass nun »die Gefahr bestehe, dass Tonnen von Stahl, die ganze Einrüstung des Gebäudes zusammenbreche«. (BP 8) Dieser eingeknickte Aufzug und die deshalb gesperrten Straßen und UBahnen in Manhattan sind ihrerseits die Wiederholung eines ähnlichen Unglücks wenige Wochen zuvor, und Matenaar begreift sie folgerichtig auch als Zitate eines nur medial vermittelten vorangegangenen Ereignisses, indem er sich sofort an die damaligen Fernsehbilder erinnert (»beständig wiederholt im lokalen Fernsehen«, BP 8). Das Teile von Manhattan lähmende Unglück wird zum bestimmenden Ereignis während Matenaars Nachmittag.18 Vor diesem Hintergrund lässt sich schon auf den ersten Seiten der Erzählung ihr poetisches Verfahren erkennen: die Fernsehbilder des ersten Kranunglücks wirken auf Matenaar, »als sei das Programm in eine sich selbst erzeugende Schlaufe geraten.« (BP 9f). Die Wahrnehmung von Wirklichkeit wird als eine Schleife von (medialisierten) Zitaten vorgeführt, die sich folglich auch um die im Zentrum des Textes stehende Zäsur herum gruppieren.
18 Auf folgenden Seiten von Bryant Park geht es um das Unglück bzw. um dessen Folgen: 8, 9, 10, 22, 23, 34, 36, 41, 42, 43, 49, 50, 60, 65, 81 und 133.
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Im Text ist die Störung der narrativen Ordnung bis zum Ende virulent, es zeigt sich aber ebenso, dass ein Nach-dem-11. September 2001 nur im Bezug auf das Vorher beschreibbar ist. Und so unterläuft der Text das Denkmuster des Bruchs, indem die Verfahrensweise als »Wiederholung und Modulation Echo« (BP 70) beschreibbar wird – die Worte bezeichnen nicht nur ein Echo und eine Wiederholung, sie verweisen dezidiert auf die poetische Funktion und damit auf die Notwendigkeit, aus dem verfügbaren Zeichenrepertoire auszuwählen: drei Worte aus dem gleichen Paradigma werden ausgewählt und auf der Achse der Kombination aneinandergereiht.19 Die Zäsur wird durch die Doppelbewegung von formalem Bruch und dem Verweis auf die poetische Funktion der Sprache weder als solche anerkannt, noch verworfen. In den Begriffen der Modulation und des Echos steckt immer auch die verschobene Wiederholung, die immer vom nicht verfügbaren ›Original‹ abweicht. Just in dem Moment, in dem die Polizei die Sperrung in Manhattan aufhebt (BP 105/106), der Unglücksort für Matenaar also zugänglich und gewissermaßen erfahrbar wäre, bricht mit den Anschlägen vom 11. September das nächste Ereignis herein, zu dem es keinen unmittelbaren Zugang gibt: Die Erzählinstanz Ulrich lebt in Berlin und ist auf verschiedene Informationsmedien angewiesen, um sich eine Vorstellung vom Geschehen im rund 7.000 Kilometer entfernten New York machen zu können. 9/11 wird in Bryant Park somit zur Wiederholung eines bereits etablierten Musters bzw. etabliert einen ›ersten Satz‹ eben als Muster – und als Muster ist er nicht mehr Ereignis. Der Einbruch von Ulrich lässt sich nur als Einbruch eines ›ersten Satzes aus dem Nichts‹ lesen, weil die Erzählung bereits zu Beginn eine Vorstellung eines solchen initialen Ereignisses geschaffen hat und im ersten Satz sogar von »durchbrochene[n] Fassaden« (BP 7) spricht (die allerdings erst nachträglich in eine Konstellation zu 9/11 treten). Das von Ulrich geschaffene ›Ereignis‹ ist daher im Moment seines Eintretens bereits dezentriert.
19 Zur poetischen Funktion vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. von Elmar Hohenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt/Main 1979, S. 83-121.
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Der kommende Terror Nimmt man nun noch die erzählte Zeit des Matenaar-Erzählstranges hinzu, wird die Sache noch etwas spannender: der Matenaar-Strang ist deutlich vor dem 11. September 2001 angesiedelt. Insofern stört das Auftreten der neuen Erzählinstanz ›Ulrich‹ im narratologischen Sinne nicht nur den Ort des Erzählens, sondern auch die Zeitstruktur. Die Verstörung der Zeitstruktur innerhalb der Erzählung bindet den Terror von 9/11 mit der geschichtsphilosophischen Dimension des Erzähldiskurses zusammen. Der 11. September bricht in Bryant Park aus der Zukunft ein. Wendet man sich der Konstellation von Erzählungs-Anfang und dem Einbruch von 9/11 zu, dann lässt sich der Anfang der Erzählung auch lesen als die Etablierung eines Musters, das die Zukunft eröffnet – jede iterative Struktur ist ja nicht nur durch die Vergangenheit ermöglicht, sondern immer auch auf die Zukunft gerichtet, das heißt, ein ›Anfang‹, ein vermeintlich ›erster Satz aus dem Nichts‹ spricht nicht nur seine ihn ermöglichenden Bedingungen immer mit (auch wenn er sie zu verschweigen versucht), sondern er ist auch durch die in ihm angelegte Notwendigkeit zur Iteration in die Zukunft gerichtet. Diese notwendige Wiederholung stiftet allerdings nicht Kohärenz und festigt nicht die Bedeutung des Anfangs, sondern verschiebt den Sinn des Anfangs permanent. Damit kommt neben dem offensichtlichen Charakter des Textes als Erinnerungstext eine zweite Zeitbewegung ins Spiel: die auf die Zukunft gerichtete. Diese Ausrichtung auf die Zukunft ist durch das Textverfahren angelegt. Die Analepsen, die sich permanent in kursivierter Schrift in den Erzählfluss des Matenaar-Stranges hineinschieben, markieren ja nicht nur einen Sprung in die Vergangenheit: von der Analepse aus gesehen findet immer auch ein Sprung zurück in die Zukunft statt, wenn es wieder in die New Yorker Zeit geht. In dem Textverfahren ist somit nicht alleine die Bedingtheit der Gegenwart durch die Vergangenheit ausbuchstabiert, sondern ebenso ein Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das sich als ein Ineinander der Zeitschichten beschreiben lässt. Dieses komplizierte Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft wird in Bryant Park schließlich auch im Zusammenhang mit dem Bruch durch 9/11 thematisiert. Nachdem sich Ulrich als der ›Autor‹ des Matenaar-Stranges zu erkennen gegeben hat, reflektiert er die Möglichkeit, wieder an diesen Strang anzuknüpfen, um die Geschichte »zu Ende« (BP 116) zu erzählen: und vorher wäre die Erzählung auch nicht zu Ende, als bräuchte sie, die der Anschlag unterbrochen hat wie man beim Lesen eine Seite verschlägt, die man auf Anhieb nicht
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wiederfindet, noch genau so viele Tage, um bis zu ihrem Schlusspunkt sich fortzusetzen, jener Stelle (dem Laden des Psychic Reader & Advisor ein paar Häuser neben der Nummer vierhundertneunundzwanzig), an der sie unweigerlich abbräche, weil das Folgende in einen anderen Zusammenhang gehörte (ein anderes Buch mit einer anderen Geschichte), als sich kreuzende Spuren aus einer bestimmten Vergangenheit und einer bestimmten Gegenwart, im Kopf herumvagabundierendes Material, Fetzen von Bildern, Empfindungen: was sich abspielt während eines Nachmittags und Abends zwischen Public Library und East Village, zwischen einer schon seit Wochen dauernden Suche nach Namen und Begebenheiten in Taufregistern und Pfarreichroniken des frühen neunzehnten Jahrhunderts. (BP 116)
Hier sei nochmals an die unterschiedlichen Zeitpunkte der beiden Stränge erinnert: Die Erzählinstanz ›Ulrich‹ spricht (von Matenaars Strang aus gesehen) in der Zukunft. ›Ulrichs‹ Überlegungen beziehen sich demnach auf die Fortführung einer Erzählung an ihr Ende, die in der Vergangenheit angesiedelt ist. Es geht also darum, ›nach‹ 9/11 eine Erzählung weiterzuerzählen, die ›vor‹ 9/11 angesiedelt ist und an ein Ende zu führen, das auf der Ebene der histoire ›vor‹ 9/11 liegt, auf der Ebene des discours aber ›nach‹ 9/11. Aufgrund dieser Struktur gewinnt in der eben zitierten Passage der Begriff des ›Folgenden‹ eine besondere Bedeutung. Zum einen geht es darum, die Geschichte, die durch 9/11 unterbrochen wurde, weiterzuerzählen und an das Ende zu bringen, das sie auch ohne 9/11 hätte nehmen sollen – Stefan Matenaar also vor das Schaufenster des Psychic Reader & Advisor zu führen (wo er am Ende auch tatsächlich stehen wird). ›Das Folgende‹ ist aus dieser Perspektive der noch zu Ende zu erzählenden Geschichte u.a. der 11. September 2001 – dieser ist aber durch den Erzähldiskurs bereits in den Text eingeschrieben. Das, was als das ›Folgende‹ in einen anderen Zusammenhang gehörte, ist durch den Erzähldiskurs schon im Text anwesend (auch wenn es chronologisch ›nach dem Ende‹ der Erzählung folgt) und damit als etwas markiert, das ebenso in den Bereich der ›sich kreuzenden Spuren aus einer bestimmten Vergangenheit und einer bestimmten Gegenwart‹ gehört. ›Das Folgende‹ tritt somit in eine Konstellation zum Vergangenen, es scheint determiniert, eben ›bestimmt‹ zu sein – die konjunktivische Form von ›gehören‹ fällt hier sogar mit der Vergangenheitsform zusammen (›das Folgende gehörte‹). Liest man vor diesem Hintergrund den Beginn von Bryant Park und den an diesen erinnernden Einbruch von 9/11, dann ist nicht 9/11 der unvermittelte Einbruch des Ereignisses, sondern erinnert an den ersten Satz des Textes, der unter dem Eindruck von 9/11 als eine ›Urszene des Textes‹ und durch die Konstellation zu 9/11 als eine ›Urszene des Terrors‹ lesbar wird. Eine Urszene allerdings,
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die nur in einer ›Konstellation‹ der Nachträglichkeit zur Urszene wird und an sich nichts mit Terror zu tun hat.20 Die ›durchbrochenen Fassaden‹, von denen sie erzählt, erhalten erst durch den Einbruch von Ulrich bzw. 9/11 eine mit 9/11 assoziierte Bedeutungsebene. So wird 9/11 in Ulrich Peltzers Text nicht nur ein Ereignis als Einbruch in den Text, sondern der ›Terror‹ wird zugleich als ein noch bevorstehender lesbar: für Stefan Matenaar steht der 11. September noch aus, er droht sich also zu wiederholen. Darin besteht die Drohung eines ›ersten Satzes aus dem Nichts‹. Man kann also keineswegs sagen, dass die Erzählinstanz ›Ulrich‹ den Terror von 9/11 erzählerisch eingeholt und dessen verstörendes Potential gebändigt hätte. ›Ulrich‹ bleibt als Autor-Stimme zugleich Zeuge und Terrorist. Und doch ist durch das Textverfahren von Bryant Park in diesem Vexierbild der Autorschaft eine zutiefst ethische Dimension des Erzählens erkennbar. Das Textverfahren nimmt den ›aus dem Nichts kommenden‹ terroristischen Satz vorweg, es kommt ihm zuvor, es nimmt ihm die Wucht. Bryant Park erzählt bereits, was in ›ein anderes Buch mit einer anderen Geschichte‹ gehörte. Der ›erste Satz‹ dieser ›anderen‹ Geschichte hat damit seine gewaltige Wucht eingebüßt, bevor er überhaupt geschrieben wurde.
20 Zum Konzept der Nachträglichkeit in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich ist Ilka Quindeau: Spur und Umschrift. Die konstitutive Bedeutung von Erinnerung in der Psychoanalyse, München 2004.
»wie man beim Lesen eine Seite verschlägt« Ulrich Peltzers Poetik der Unterbrechung in Bryant Park P ETER G ILGEN
Das auffälligste Merkmal von Ulrich Peltzers Erzählung Bryant Park ist ein wenige Seiten langer Einschub, der die Fiktion unterbricht und die Anschläge des 11. September 2001 aus der Sicht des Autors protokolliert. Die geschilderten Ereignisse haben keine Verbindung zu den Geschichten, die durch sie unterbrochen werden. Dennoch bleibt die räumliche Nähe der unverbundenen Texte nicht folgenlos: Peltzers Poetik der Fragmentarisierung und Unterbrechung, die er in den drei Geschichten, aus denen die Erzählung besteht, ins Werk setzt, wird durch die Terroranschläge auf die Probe gestellt. Dieser Essay interpretiert den Einbruch der Geschichte in Peltzers Text als eine Radikalisierung seiner Poetik, einschließlich ihrer Konsequenzen für die Methode des Lesens, die Frage nach der Erinnerung und die Möglichkeit eines Neuanfangs. I. Bryant Park beginnt mit einer Beschreibung, die in wenigen Strichen die idyllischen Qualitäten des gleichnamigen Parks und die allgegenwärtigen Inkursionen der Stadt nachzeichnet. Die grüne Enklave mitten in Manhattan wird von Hochhäusern und an ihrem südöstlichen Ende von der New York Public Library eingefasst. Der Park erscheint als abgeschiedener Bereich, dessen Rahmung seine Exterritorialität im Verhältnis zur urbanen Umgebung anzeigt, ohne die Situierung inmitten des städtischen Lebens zu negieren. Schon im zweiten Absatz bewegt sich der Text mit einem harten Schnitt über die Grenzen dieses Idylls hinaus, taucht in das städtische Umfeld ein, wendet sich einem nahegelegenen asiatischen Imbiss auf der 40. Straße zu und nähert sich dann mit einem literarischen Kameraschwenk dem nur wenige Schritte ent-
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fernten Haupteingang der Public Library auf der 5. Avenue. Diese schnellen, abstrakten Bewegungen werden durch die Beschreibung des Lichts, des Himmels und der städtischen Schwüle atmosphärisch angereichert und in körperliche Erfahrung übersetzt. Das Subjekt dieser Erfahrung bleibt allerdings ohne Konturen und wird im Text nur durch das Indefinitpronomen »man« angezeigt. Der ungenannte, neutrale Erzähler – erst sehr spät im Text werden wir seinen Namen erfahren – hört Polizeisirenen und sieht Krankenwagen vorbeirasen; er ist Teil der beobachtenden und durcheinander redenden Menschenmenge.1 Er bringt in Erfahrung, dass irgendwo auf der 36. Straße ein Baugerüst oder Lastenaufzug eingeknickt ist und jeden Moment zusammenbrechen könnte. Einer der Umstehenden spricht davon, dass die Anwohner evakuiert werden müssten, damit sich nicht wieder »das Gleiche« ereigne wie letzthin, und fragt rhetorisch, »ob man sich nicht erinnere«? (BP 8) Es wird nicht deutlich, an wen der Sprecher diese Frage richtet und wen er an den genannten Vorfall erinnern will. Allerdings enthält die in indirekter Rede wiedergegebene Frage jenes generalisierende Personalpronomen, das in den New-York-Passagen, die den größten Teil von Peltzers Buch ausmachen, als Platzhalter des Erzähler-Protagonisten fungiert. Wie eine Kamera im Film führt er den Leser durch die Stadt, als sollte dieser sie mit seinen Augen sehen. Die Frage richtet sich daher als verdeckte Apostrophe auch an den Leser selbst und fragt grundsätzlich nach der Möglichkeit von Erinnerung. Die graphische Anordnung des Textes zeigt jedoch an, dass diese Frage eigentlich keine Frage ist, denn sie endet mit einem Komma, auf welches ein neuer Absatz folgt, der mit Kleinschreibung beginnt und dessen erstes Syntagma sich aus grammatischer Sicht nicht mit dem vorausgegangenen Satzteil kombinieren lässt. Zwischen den beiden Absätzen klafft eine Lücke, die sich nicht füllen lässt; keine hermeneutische Anstrengung vermag das Fehlende zu rekonstruieren. Eher ist der Leser geneigt, diese Schwierigkeit einfach zu überlesen, denn die im neuen Absatz beschriebene, im Lokalfernsehen wiederholt gesendete Aufnahme eines Kranunglücks scheint zumindest inhaltlich dem Gegenstand der rhetorisch eingeforderten Erinnerung zu entsprechen. Allerdings sind die im Gedächtnis des Medienarchivs gespeicherten Daten des Unglücks erst der Anlass des Erinnerns, nicht dieses selbst, genauso wie die Kluft zwischen den beiden
1
In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen bezieht sich Peltzer auf Edgar Allan Poes Erzählung The Man in the Crowd, an der er besonders »die Latenz der Katastrophe, eines Verbrechens […], das dann doch nicht passiert«, hervorhebt (AM 20f.). Die Diffusion des Ichs in der Stadt wird auch in Charles Simics Gedicht Tattooed City zum Thema, das Peltzer Bryant Park als Motto voranstellt.
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Absätzen Anlass zu einer Interpretation gibt, die nicht schon die Gleichheit des »Gleichen« voraussetzt. Der Erzähler zeichnet auf, was er an den Fernsehbildern wahrnimmt: die Porträtfotos der Unfallopfer ebenso wie »ein gelbliches Gestänge, das schräg in der Luft zu hängen schien, als die Kamera es abtastete«; er vermerkt die Namen der Umgekommenen und notiert, dass der Krach des einstürzenden Krans einem Zeugen »wie die Detonation einer Bombe« (BP 9) vorkam. Geduldig artikuliert er mit den Mitteln der Sprache, was es auf dem Bildschirm zu sehen gab – eine Erinnerungsarbeit, die sich schließlich mit den Stimmen von draußen und dem Rauschen der Klimaanlage vermischen wird. (Wir erfahren, dass Sarah, von der wir zu diesem Zeitpunkt nur den Namen kennen, die Hitze nicht mehr ertragen konnte.) Das Entscheidende dieser Stellen liegt darin, dass sich unter dem Druck der späteren, ins kollektive Gedächtnis eingebrannten Ereignisse, die ungeplant auch zum Thema von Ulrich Peltzers Buch wurden, ihre Bedeutung verschoben hat. Die Bilder des Unglücks haben sich nachträglich in ominöse Vorzeichen verwandelt. In unserem Erinnern fällt der Schatten des 11. Septembers 2001 auf sie. Allerdings hatte Peltzer den Großteil seines Buchs schon vor den Anschlägen geschrieben.2 Dies ist bemerkenswert, weil die zwei in den Eröffnungspassagen beschriebenen Bauunfälle aus heutiger Sicht fatal an die Bilder des zerstörten World Trade Centers erinnern. Diesen Stellen kommt nach dem Einbruch der historischen Wirklichkeit in die Fiktion unversehens ein anderer, unheimlicher Status zu. Die Gleichheit der Bilder bewirkt eine enorme teleskopische Verkürzung, die historische Kontingenz und Komplexität in einen zwar unerklärlichen, deshalb aber nicht weniger sinnfälligen und sinnvollen nachträglichen Zusammenhang übersetzt. Es ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst von Bryant Park, dass die Erzählung diese temporale Dynamik mitführt, ohne ihr zu erlie-
2
Ein Indiz dafür ist die Datierung am Ende des Buchs: »Dezember 2000/November 2001.« Vgl. auch Volker Weidermann: »Paare, Paranoia. Ein Buch als Warnschuss: Der neue Roman von Ulrich Peltzer beschreibt den allgegenwärtigen Terror in unserer nächsten Nachbarschaft«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 9.9.2007, der schreibt: »In sein letztes Buch ist Ulrich Peltzer die Gegenwart hineingefahren wie ein Donnerschlag«; Christoph Schröder: »Weltbilder prallen aufeinander«, in: tageszeitung vom 10.10.2007, bemerkt, dass die Anschläge Peltzer »sozusagen während der Arbeit an seinem Buch in die Quere kamen.« Schröder nimmt damit eine Formulierung seines Kollegen Hans-Peter Kunisch in einer Rezension von Bryant Park auf; vgl. Hans-Peter Kunisch: »Sünden der Wahrnehmung«, in: tageszeitung vom 12.03.2002.
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gen. Ulrich Peltzer erprobt eine andere narrative Temporalität, die der nachträglichen Umwandlung diskreter Ereignisse in Kontinuität opponiert. Ohne Übergang, wie zur Einübung einer weniger linearen und wendigeren Form der Lektüre, führt uns Peltzer im vierten Absatz seines Buchs zurück zur Eingangstreppe der Public Library – jenem Ort, an dem der Erzähler-Protagonist an einer mühseligen historischen Recherche arbeitet, die ihn nach New York gebracht hat. Die Ortsangabe erfolgt verspätet. Zunächst lässt sich nicht entscheiden, ob Verkehrsstau und Lärm noch zur zuvor beschriebenen Fernsehaufzeichnung gehören, oder ob unsere teilnehmende Erinnerung unvermittelt in eine teilnehmende Erfahrung übergegangen ist. Tatsächlich ist Peltzers Erzählung voll von solchen kontextuell beweglichen Momenten: Begebenheiten, deren unterschiedliche Zeitindexe nur zu vermuten sind, gleiten ineinander; Erinnerung und Erfahrung werden austauschbar im Medium der Literatur. Solche Übergänge ereignen sich nicht nur auf der Ebene der Sätze und Absätze. Die gesamte Erzählung besteht aus einem dichten Geflecht dreier Geschichten, die derart ineinander verzahnt sind, dass eine beträchtliche Anzahl von syntaktischen und semantischen Zweideutigkeiten und Unsicherheiten entsteht, während es andererseits nur spärliche inhaltliche Überschneidungen oder Verbindungen zwischen den verschiedenen Erzählsträngen gibt, die noch dazu erst im letzten Drittel der Erzählung deutlich werden. Mit diesen Kunstgriffen schafft Peltzer ein Leseexperiment, dessen Vollzug eine performative Antwort im Medium der Literatur auf die Frage nach der Erinnerung im Zeitalter der elektronischen Archive und der Bilderflut gibt. II. Die drei Geschichten, aus denen sich Peltzers Text zusammensetzt, werden neben- und durcheinander erzählt. Die Hauptgeschichte, deren erster Schauplatz dem Buch den Namen gibt, spielt in New York und hält als narrative Klammer, als Anfang und Ende der Erzählung, ihren gesamten Inhalt zusammen. Sie ist außerdem als das eigentliche Reflexionsmedium des Buches angelegt. Die Handlung ist schnell erzählt: Der Erzähler hat ein Forschungsvorhaben in der Public Library; er verfolgt die Spuren seines Ururgroßvaters, eine Suche, an deren Sinnhaftigkeit er schon bald zu zweifeln beginnt. Das Projekt kommt kaum vom Fleck. Wichtiger ist ihm das Leben in New York. Er geht lieber in den benachbarten Park als in die Bibliothek, flaniert durch die Stadt, lernt Leute kennen, besucht seine Lieblingskneipen und verbringt Zeit mit seiner Freundin Sarah, einer New Yorkerin, die er auf Kreta kennen lernte und die der eigentliche Grund für seinen Aufenthalt in der Stadt ist. Der Park ist der zentrale Bezugspunkt dieser
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Geschichte. Hier sieht der Erzähler eines Abends eine Freilichtvorführung von John Hustons Moby Dick; zwar kennt er die Geschichte schon seit langem, aber sie vermag ihn wieder so zu bannen, »als hörte oder läse man sie zum allerersten Mal.« (BP 85) Die zweite hauptsächlich in Italien in der Nähe von Neapel spielende Geschichte hat ihren chronologischen Anfang, der allerdings erst mittendrin erzählt wird, in Berlin. Ein Drogendeal soll den Erzähler finanziell sanieren, geht aber schief. Zunehmend beginnen Irrwege und Nebenschauplätze die eigentliche Abenteuergeschichte, die undurchsichtig bleibt, zu überwuchern und schließlich zu verdrängen. Die formale Besonderheit dieser Geschichte besteht darin, dass sie mit derselben Szene endet, mit der sie begann. Überhaupt zeichnet ein retardierendes Moment sie aus. Nichts scheint wirklich vorwärts zu gehen (vgl. BP 13 und 133). Im dritten Erzählstrang schildert der Erzähler den langsamen Tod seines Vaters. Hier gelingt Peltzer ein präzis beschreibender und zugleich berührender Text, dessen Trauer vor allem in den Schlusspassagen nachvollziehbar wird. Diese Geschichte scheint weit von den beiden anderen entfernt, wenngleich Peltzers Beobachtungsgabe auch hier für detaillierte und aufschlussreiche Beschreibungen und somit für stilistische Kontinuität sorgt. Ähnlich wie die ItalienGeschichte folgt auch diese Erzählung keiner linearen Chronologie. Zunächst wird die Leidensgeschichte, die mit dem Tod und der Kremation endet, in einem ersten Durchgang erzählt.3 Nach einer längeren Unterbrechung beginnen Erinnerungen aufzutreten (BP 52) – darunter kurze, bildhafte Flashbacks von traumatischen Momenten (z.B. BP 60 oder 79) – , um bald darauf fast ganz zu versiegen. Nach den Anschlägen und Ulrichs Ermahnung an sich selbst, die Erzählung wieder aufzunehmen (BP 116), wird der Tod des Vaters in der Erinnerung noch einmal durchgespielt. Ein intimer, emotionaler Ton prägt diese Beobachtungen, die sich nun wie eine den Text durchsetzende, dem Autor Ulrich zuzuschreibende reale Erfahrung ausnehmen – ein Eindruck, der durch keinen inhaltlichen Hinweis oder grammatischen Bezug im Text gestützt wird,4 sondern sich allein aus der Sequenz der Erzählung ergibt.
3
Passagen und oft sehr kurze Fragmente davon finden sich auf S. 26-28; 29; 31; 32; 34;
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Allerdings gibt es auch keine Hinweise, die einem solchen Verständnis widerspre-
38-40; 41; 42. chen.
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Da der Leser den Namen des vorgeblichen Erzählers – Stefan Matenaar – erst sehr spät erfährt,5 könnte die sprachlich virtuose und detailreiche Erkundung New Yorks zunächst als eine Reportage Peltzers gelesen werden. Die an Musil erinnernde Gattungsbezeichnung »essayistische Prosa«, die Stefan für sein Schreiben in Anspruch nehmen wird (BP 85), ließe sich mühelos sowohl auf die Titelerzählung, als auch auf den Bericht vom Tod des Vaters und zumindest auf Teile der Italien-Erzählung anwenden. Doch die Namensgebung des ErzählerProtagonisten an später Stelle setzt eine nachträgliche Wirkung frei, durch welche die essayistische, nicht-fiktionale Prosa, die der Leser zu lesen glaubte, sich unversehens in Fiktion verwandelt. Denn der Autor-Erzähler zeigt erst hier die Maske, die er sich aufgesetzt hat; alle bisherigen Beobachtungen (von den späteren gilt dies ohnehin) verlangen deshalb danach, retrospektiv als Äußerungen Stefan Matenaars indexiert und neu gelesen zu werden. Diese verschlungene Temporalität, die den gesamten Text durchdringt, wird durch das in ihm geschilderte einschneidende Ereignis fokussiert und intensiviert. Der Einbruch der historischen Realität in Peltzers Text, die Terroranschläge des 11. September 2001, zieht sich als Schneise durch die drei Geschichten. Ein anderer Erzähler namens Ulrich, offensichtlich der Autor selbst, der von Berlin aus die Ereignisse in Realzeit beobachtet, meldet sich zu Wort. Sein Bericht verlässt sich auf die Fernsehnachrichten und etwas später die Eindrücke Kathrins, einer gerade in New York weilenden Freundin. Über die Katastrophe wird in Peltzers Buch nicht viel gesagt und vor allem nichts, was der zeitgenössische Leser nicht ohnehin schon wüsste. Bezeichnend sind eher die spürbare Bestürzung der auftretenden Personen und ihre unbeholfen wirkenden Versuche, die Anschläge politisch-philosophisch zu interpretieren. Die Ungeheuerlichkeit des Ereignisses wird umso deutlicher, je weniger überzeugend die angeführten Erklärungen sind. Doch nicht nur externe, im Text gespiegelte Diskurse stehen hier auf dem Prüfstand. Die verschlungenen Geschichten, aus denen Bryant Park besteht, werden von den Anschlägen entzwei gerissen. Von dieser Zäsur aus wird das Vorher und Nachher neu vermessen. Die Temporalität der Geschichten verändert sich allein durch den veränderten Kontext, in den sie unversehens geraten. Der Versuchung, alles Vorhergehende als versteckte Vorankündigung der Katastrophe und alles Nachfolgende als ihre Konsequenz zu verstehen, ist auf der
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Der Name Stefan Matenaar fällt erstmals auf S. 85f. von Bryant Park, im Rahmen der Haupterzählung, in der der Vorname noch zwei weitere Male erwähnt wird (S. 114; S. 115). Der Vorname taucht kurz vor Schluss ein viertes und letztes Mal in der ItalienErzählung auf (S. 130).
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Ebene des Textes, dessen Linearität eine Version der Linearität der Sprache ist, nur schwer beizukommen.6 Während die Auswirkungen des Einbruchs realer Geschehnisse in den Text sich der Zeitachse entlang vorwärts bewegen, hat die späte, allerdings noch vor den Anschlägen erfolgende Namensnennung des fiktionalen Autors zunächst den erwähnten rückwirkenden Effekt einer umfänglichen Fiktionalisierung der in New York spielenden Geschichte. Die Überschneidungen dieser gegensätzlichen Vektoren bilden die beiden Namensnennungen Stefans in einer Passage, die von Textteilen flankiert wird, die sich auf die Anschläge des 11. September beziehen: Der Bericht Ulrichs über seine Wahrnehmung des Unglücks geht ihnen voraus, während ihnen die letzte im Buch wiedergegebene Email Kathrins unmittelbar folgt; darin beschreibt sie ihre Erfahrungen in New York im Anschluss an die Katastrophe und rät Ulrich, seinen geplanten Besuch zu verschieben. (BP 116) Im dazwischen liegenden Stück Erzählprosa, in dem das Indefinitpronomen »man« wie in den vorausgehenden Teilen der New-York-Erzählung die Stelle des grammatischen Subjekts einnimmt, wird Stefan zweimal als Beispiel oder mögliche Konkretisierung dieses abstrakten, nur formal bestimmten Erfahrungssubjekts angeführt.7 Stefan erscheint hier als Marionette des Autors und nimmt trotz der stilistischen und grammatischen Kontinuität nicht länger die Position des Erzählers ein, die ihm ohnehin erst sehr spät und auf eher dezente, indirekte Art zugeschrieben wurde.8 War es im Zuge dieser Zuschreibung zu einer retrospektiven Umdeutung und Neuzuteilung der Erfahrungen, Beobachtungen und Gedanken des bis zu diesem Zeitpunkt nur durch das Indefinitpronomen »man« angezeigten Erfahrungssubjekts gekommen, so drängt sich nun eine weitere Umdeutung auf. Es ist, als hätten die Anschläge den Unterschied, die Distanz zwischen realem Autor und fiktionalem Erzähler vernichtet. Die Überkreuzung von Fiktion und Reportage und das Oszillieren der Erzählerposition zwischen Stefan und Ulrich verdeutlichen eine Ambiguität, die bereits in der Genrebezeichnung des Buches – Erzählung – enthalten ist. Einerseits
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Zur Linearität der Sprache vgl. Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale, hg. v. Tullio de Mauro, Paris 1982, S. 103.
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Die beiden Stellen lauten: »böge man indessen nach links in die Houston Street, wie Stefan es tun würde« (BP 114) und »ginge man, das heißt Stefan möglicherweise, auf jener Straßenseite nicht gern.« (BP 115) Der hypothetische Charakter der gesamten Passage ist offensichtlich.
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Bei der einzigen Namensnennung vor den Terroranschlägen des 11. September wird Stefan Matenaar kurz als ein Autor beschrieben, der sich von Ulrich Peltzer kaum zu unterscheiden scheint (BP 85f.).
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kann sie als Anweisung verstanden werden, Bryant Park als narrativen, fiktionalen Text zu lesen. Der Gattungsname unterscheidet sich jedoch andererseits von anderen gängigen Genrebezeichnungen, etwa dem Roman oder der Novelle, dadurch, dass er sich nicht ausschließlich auf ein narratives literarisches Prosagebilde beziehen muss, sondern in seinem allgemeinen Gebrauch jegliche Art des Erzählens einschließt. In diesem umfassenderen Sinne können auch ein Reisebericht und ähnliche Formen »essayistischer Prosa« als »Erzählung« oder »narratio« bezeichnet werden. Überhaupt fällt es nicht leicht, die Gattung der Erzählung zu definieren und von anderen fiktionalen und nicht-fiktionalen Prosaformen abzugrenzen.9 Dieser Nachteil erweist sich als Vorteil für einen Text, der die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit abschreitet und die Frage nach der Funktion von Literatur provoziert. Als weiterer und vielleicht wichtigster Hinweis auf die Bryant Park zugrunde liegende literarische Intention kann die eigenwillige Form des Textes gelten. Die drei kunstvoll ineinander verschlungenen Erzählungen erschweren zügiges Lesen und zwingen dazu, an manchen Stellen länger zu verweilen und sie einer intensiveren, mehrmaligen Lektüre zu unterziehen, um ihre vielfältigen grammatischen und inhaltlichen Bezüge zu erkennen.10 Die hermeneutische Dialektik zwischen dem Ganzen und seinen Teilen ist in diesem Text sehr stark zu den Teilen, zum Partikularen hin verschoben, denn diese wollen sich nicht zum Ganzen fügen. Die Einzelerzählungen bleiben selbstständig; zwischen ihnen gibt es, abgesehen von ihrer graphischen Verflechtung, nahezu keine Querverweise oder Verbindungen. Der leichteste Weg für den Leser, diese Schwierigkeit zu bewältigen, besteht darin, die Gesamtheit der Erzählungen mit einem Rückgriff auf die klassische Moderne zum stream of consciousness zu erklären und einem einzelnen Subjekt im Großstadtdickicht zuzuordnen. Das Italien-Abenteuer und die Erzählung vom Tod des Vaters wären dann die eigentliche Geschichte durchsetzende Erinnerungsfetzen. Diese Interpretation kann auf den Gebrauch unter-
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Es wird diese Unschärfe des Gattungsnamens gewesen sein, die den Fischer-Verlag dazu veranlasste, Peltzers explizit als »Erzählung« bezeichnetes Buch (BP 3) auf dem Buchdeckel der Taschenbuchausgabe als »Roman« zu bezeichnen.
10 Derartige komplexe Strukturen sind in traditionellen Gattungstheorien der Großform des Romans vorbehalten, während Novelle, Erzählung und Kurzgeschichte als verschlankte und geradlinige Erzählformen gelten, die sich durch eine einfachere Handlung auszeichnen sollen. Nach diesen Kriterien besteht Peltzers Erzählung tatsächlich aus drei ineinander verschlungenen (Unter-)Erzählungen, was die Schwierigkeiten des Gattungsbegriffs der Erzählung auch auf der formalen Ebene des Textes zum Vorschein bringt.
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schiedlicher Zeitformen verweisen, denn diese beiden Geschichten werden im klassischen Erzähltempus, dem Präteritum, erzählt, die New-York-Erzählung dagegen im historischen Präsens. Allerdings tritt in letzterer die subjektive Perspektive in den Hintergrund. Ein neutraler Erzähler ergeht sich in minutiösen Beschreibungen; Bezüge auf ein erfahrendes und erzählendes Subjekt erfolgen mittels des Indefinitpronomens »man«, ohne dass diese Verallgemeinerung oder Indirektheit thematisiert würde. Tatsächlich wechseln sich die eher reportagehafte Form der New-York-Erzählung und die traditionelle Erzählform der beiden anderen Geschichten ab, ohne dass eine Integration der verschiedenen Erzählstränge erforderlich schiene. Gerade weil die Erzählperspektiven sich deutlich unterscheiden, drängt sich dem Leser weniger die Frage auf, ob sie alle einem einzigen Erzähler zugehörig sind, als die immer wieder aktualisierte Verunsicherung darüber, wer in einem bestimmten Moment gerade spricht. Eine der bemerkenswerten Konsequenzen von Peltzers Erzählexperiment liegt darin, dass es aufzeigt, wie die Wechselwirkung von unterschiedlichen Erzählsträngen allein auf der materiellen Ebene des Layouts für einen traditionell konditionierten Literaturleser den Eindruck oder eher die Illusion eines biographischen, psychologischen oder historischen Zusammenhangs zu erwecken vermag. Denn außer durch ihre räumliche Verzahnung sind die verschiedenen Geschichten von Bryant Park während der ersten zwei Drittel durch nichts aufeinander bezogen. Trotz Stefan Matenaars nachträglichem, recht konstruiertem Zugriff auf zwei der drei Erzählstränge scheint die Möglichkeit einer umfassenden, selbstidentischen Leküre von Bryant Park von Anfang an ein uneinlösbares Versprechen zu sein. Hier wird ein im Lesevorgang angelegter Erwartungshorizont ausgestellt und zugleich unterminiert. Dennoch macht Peltzer auch deutlich, dass eine Lektüre ohne solche Erwartungen schlecht denkbar wäre. Das schon in der Etymologie des Wortes »lesen« (auch des lateinischen »legere«11) angelegte Sammeln und Zusammennehmen ist das notwendige Gegenstück des Erzählens: Beides sind Techniken, um aus der Kontingenz der Geschichte (res gestae) einen Sinn zu ziehen und ihre Komplexität auf ein verarbeitbares Maß zu reduzieren. Allerdings führt ihre bedenkenlose Anwendung zu Fehlschlüssen und Vereinfachungen, die den Wechselfällen der Geschichte und vor allem ihren zukünftigen – auf uns zukommenden – Kontingenzen nicht gerecht werden.
11 Zur Etymologie von »legere« vgl. Giambattista Vico: »La scienza nuova. Secondo l’edizione del MDCCXLIV«, in: Giambattista Vico, Opere, hrsg. v. Paolo Rossi, Mailand 1959, S. 237-860, hier S. 354. Zum deutschen Verb »lesen« vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, München 1984 (Nachdruck der Originalausgabe 1854-1971), Bd. 12, Sp. 774-785.
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In diesem Sinne ist das Erscheinen Stefan Matenaars im letzten Drittel der Erzählung ein entlarvendes Zugeständnis an die List der Lektüre. Ihre Struktur ist das genaue Spiegelbild von Hegels berühmter »List der Vernunft.«12 Waren nämlich bei dieser alle Handlungen geschichtlicher Subjekte letztlich nur Ausdruck der Vernunft, die der Geschichte insgesamt zugrunde liegt, so besteht die List der Lektüre darin, die geschilderten Beobachtungen und Gedanken, die zwar nebeneinander stehen, aber offensichtlich in unterschiedliche Erfahrungszusammenhänge gehören, als Ausdruck eines einzigen konkreten Subjekts zu lesen. Dieses wird gleichsam zur Prothese des Lesers im Text und bindet die divergenten, widersprüchlichen Erfahrungssplitter. Der Philosoph schürfte Sinn aus der Geschichte, indem er zeigte, wie die Vernunft hinter dem Rücken des geschichtlichen Personals arbeitet, und wie zwar nicht dieses, wohl aber die Philosophie im Rückblick der Erinnerung Einsicht in die wahre Bedeutung geschichtlicher Taten zu finden vermag.13 Im Gegensatz dazu stellt Peltzers Erzählung die Möglichkeit, geschichtliche Erfahrungen zu totalisieren, durchgehend in Frage. Daran ändert auch das späte Erscheinen Stefan Matenaars nichts; im Gegenteil: es unterstreicht die Künstlichkeit, das Nicht-Selbstverständliche der narrativen Zusammenführung. III. Die Erzählung vom Sterben des Vaters macht den Tod als die äußerste Möglichkeit unserer Existenz fühlbar. Der Tod bedeutet dabei auch das Ende dieser Geschichte. Die in New York spielende Geschichte läuft auf die Trennung von Sarah und Stefan zu: »So war es«, sagt sich dieser, »so wird es nicht mehr sein, als habe man die Sprache verloren, in der sich alles von selber versteht.« (BP 124) Gerade im Moment des Verlusts leuchten noch einmal die Erinnerungen auf, und zugleich wird der Verstehensprozess, der die Fragmente gemeinsamer Erfahrung fortlaufend in eine kohärente Erzählung verwandelte, fragwürdig. Auch die italienische Geschichte steuert auf den letzten Seiten des Buches auf ihren Scheitelpunkt, den missglückten Drogendeal, zu. All diese Entwicklungen werden von den Ereignissen des 11. September 2001 überschattet; unter diesen Umständen erweisen sich die Höhepunkte der Geschichten als antiklimaktisch. Es handelt
12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [= Bd. 3 Werkausgabe], Frankfurt/Main 1986, S. 53. 13 Ein Beispiel, das zeigt, wie diese List auf der Ebene von Hegels Sätzen operiert, gibt Peter Gilgen: Lektüren der Erinnerung. Lessing, Kant, Hegel, München 2012, S. 169171.
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sich letztlich nur um kleine Risse in der Zeit, die »in solchen Momenten sich auftu[n].« (BP 125) Es mögen diese fast unmerklichen Verschiebungen und Verwerfungen gewesen sein, denen Peltzer in seinem Buch ursprünglich nachspüren wollte, um der Frage nachzugehen, wie durch sie hindurch Erinnerungen fortzuschreiben wären. Ein anderes ist der große Riss, der das gesamte fiktionale Universum von Bryant Park in ein Vorher und Nachher spaltet. Als Einbruch des Realen in die Fiktion markieren die Anschläge den Contrapunkt zu Peltzers Erzählexperiment, denn diese Verwerfung ist von anderer Qualität als die Abbrüche und Risse, denen die durchkomponierten Erzählungen gewidmet sind. Es ist noch nicht entschieden, ob und wie sie erinnert und im Erzählen bewältigt werden kann, und ob nicht eher sie das Erzählen überwältigt. An dieser Stelle, im Abgrund der Literatur, meldet sich Peltzer selbst zu Wort, was der Leser allerdings erst verspätet zur Kenntnis nimmt: Gegen Ende des eingeschobenen Berichts wird sein Erzähler als »Ulrich« identifiziert.14 Graphisch dagegen ist die Passage von Anfang an als Neubeginn ausgewiesen und von den vorausgehenden Erzählungen, mit denen sie in keinem erkennbaren Bezug steht, durch einen Leerraum deutlich abgesetzt.15 Wie sonst nur am Anfang des Buches ist ihr erster Buchstabe eine Initiale – ein »A« – , als sollte hier alles nochmals von vorne beginnen. Unmissverständlich setzt ein anderes Erzählen ein, das sich nach wenigen Worten als Tatsachenbericht zu den Ereignissen des 11. Septembers erweist. (BP 107-113) Sein Autor befindet sich offensichtlich nicht vor Ort, sondern in Berlin.16 Er zeichnet in kürzer werdenden, atemlosen Sätzen auf, was er aus Fernsehnachrichten und Anrufen von Freunden über das Unglück erfährt, bis ihn eine Email von Kathrin erreicht, auf die er sogleich antwortet. Sie schreibt eine weitere, ausführliche Mail über die Situation in New York, bevor es ihr gelingt, ihn um 4 Uhr morgens anzurufen. Emails und Telefondialoge sind dokumentarisch als direkte Rede in den Bericht montiert. Das Staccato der Sätze wird durch die visuelle Gliederung mit vielen sehr kurzen Absätzen und Einrückungen unterstrichen. Dringlichkeit und eine hastiger Duk-
14 Nämlich in Kathrins Email, die an ihn gerichtet ist, vgl. BP 111. 15 In der Fischer-Taschenbuchausgabe wird diese Zäsur noch stärker betont als in der bei Ammann erschienenen Erstausgabe: Der Bericht über die Anschläge beginnt auf einer neuen Seite (BP 107). 16 Vgl. BP 107: Die »Staatsbibliothek« steht hier im Kontrast zur New York Public Library, an die der Bryant Park grenzt, sie stellt aber zugleich eine transgeographische, ideelle Verbindung mit ihr her.
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tus sind spürbar, zugleich aber auch der Wille des Erzählers, möglichst sachlich zu protokollieren, was um ihn herum geschieht. In einem gewissen Sinn kommt Bryant Park über Anfänge nicht hinaus. Ein Leben endet, eine Liebe endet, eine Reiseerzählung endet mit derselben Szene, mit der sie begann – jedes Ende ein Zitat aus dem Repertoire konventioneller literarischer Schlüsse. Doch in Peltzers Erzählung geht es nach jedem Ende weiter. Selbst die Terroranschläge erweisen sich letztlich als eine Zäsur und kein Ende. Sie verlangen danach, auf eine Weise erzählt zu werden, die den eigenen Erfahrungen Raum gibt als Gegengewicht zu den allgegenwärtigen Bildern, deren ästhetische Schauwerte sie als kalkuliertes Medienereignis entlarven. Das Ende von etwas lässt sich zwar nicht rückgängig machen, aber es lässt sich erzählen. In psychoanalytischen Begriffen gesprochen: Die erzählende Erinnerung ist das Durcharbeiten dessen, was als Endloswiederholung der Schreckensbilder in Melancholie erstarrte.17 Peltzer zwingt sich dazu, seine Erzählung, »die der Anschlag unterbrochen hat«, weiter zu erzählen oder, genauer gesagt, sie »bis zu ihrem Schlusspunkt« fortzusetzen, nämlich »jener Stelle (dem Laden des Psychic Reader & Advisor ein paar Häuser neben der Nummer vierhundertneunundzwanzig), an der sie unweigerlich abbräche.« (BP 116) Dieser für die wieder aufgenommene Erzählung anvisierte Schlusspunkt ist bedeutsam, was anders gewendet nur heißt, dass seine Kontingenz vom Autor inszeniert ist: als ein Ende, das auch ganz anders und zu einem anderen Zeitpunkt hätte erfolgen können. Der Laden liegt an der Avenue A. Somit bewegt sich der gesamte zweite Teil von Bryant Park von A (der Anfangsinitiale) nach A (der Avenue A). Man ist nicht sehr weit gekommen. Doch A ist nicht gleich A. Die beiden Buchstaben stehen nicht für Identität, sondern für den immer wieder zu wagenden Anfang, den Ausgriff in eine ungewisse Zukunft, der sich von der Bestimmung durch das Vergangene zu lösen sucht. Peltzers Weitererzählen beschränkt sich allerdings nicht auf die Rolle des dialektischen Gegenstücks seiner Poetik der Unterbrechung, das dieser erst den Ansatzpunkt und die Grundlage gibt (denn erst im Weitererzählen wird ein Ende zur bloßen Unterbrechung). Darüber hinaus verweigert sich die fortgesetzte Übersetzung der (realen oder imaginierten) Ereignisse in geschliffene Sprache »der anhaltenden Klage und Melancholie (in ihren endlosen Varianten) über die angebliche Unfähigkeit der Sprache, auf die Dinge der Welt zu verweisen.«18
17 Vgl. Sigmund Freud: »Trauer und Melancholie«, in: ders.: Studienausgabe, Frankfurt/Main, 1994 (12. Aufl.), Bd. 3, S. 197-212, und »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«, Ergänzungsband, S. 207-215. 18 Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt/Main, 2010, S. 19.
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Die Zäsur und der auf sie folgende erneute Anlauf in Peltzers Erzählung werden stattdessen zum Emblem der sprachlichen Rückeroberung der Wirklichkeit, was nur heißt, dass Erzählungen Wirklichkeit artikulieren und dadurch eine reale Wirkung entfalten – aller Sprachskepsis zum Trotz. Das Erzählen muss allerdings beweglich bleiben, um den unabsehbaren zukünftigen Kontingenzen gewachsen zu sein und die Interpretation des Vergangenen, wenn nötig, zu revidieren. Peltzers Dialektik von Unterbrechung und Weitererzählen verleugnet nicht das Trauma, noch verfällt sie in melancholische Erstarrung. Das Mittel, um die Dialektik in Gang zu setzen, ist die Sprache: Gerade dass sie nur ein konventionelles Verweissystem ist, das die Dinge der Welt nie vollständig zu erfassen vermag, verleiht ihr die notwendige Distanz, die ikonischen Zeichen – etwa den endlos wiederholten Fernsehbildern – fehlt. Die perfekte Mimesis des technisch produzierten Abbilds gewinnt Distanz von ihrem Gegenstand erst durch gegenläufige, ihren Naturalismus in Frage stellende technische Kniffe wie Montage, visuelle Zitate und Bildlegenden, die nichts anderes sind als eine rudimentäre Grammatik oder Techniken der Literarisierung. IV. Methode und Temporalität des Filmmediums fasst der Erzähler in einem schönen Vergleich mit einer Liebesbeziehung zusammen: Für Verliebte reiht sich ein Tag an den anderen, bis aus »den bruchstückhaften Teilen ein Bild zu werden [scheint], dann eine Abfolge von Bildern, als würde man Filmschnipsel zusammenkleben, die plötzlich eine Chronologie ergeben.« (BP 38) Der Übergang von jedem Früher zu einem Später funktioniere dabei »[w]ie bei einem Beweis […], der Schritt für Schritt die Erklärungen liefert.« (BP 38) Allerdings handelt es sich nicht um diskursive Erklärungen, sondern um den verkrusteten Niederschlag gemeinsamer Erfahrung in der Vorstellungskraft. Eine solche »Privatgeschichte der Empfindungen, die eine bestimmte Geste nicht mehr als zufällig versteht, sondern als körperlichen Ausdruck eines ganzen Romans« (BP 38), ist nicht allgemein mitteilbar. Denn die Bilder dieses Films und die Bedeutungen, mit denen die Liebenden sie überfrachten, sollen gerade nicht im Verhältnis der Konvention zueinander stehen; an die Stelle der Arbitrarität des Zeichens tritt ein vorgeblich natürlicher Zusammenhang, eine Bildsprache, die den direkten Weg über die Empfindungen nimmt, eine Sprache der Liebe, ein Symbolismus, der kongruent mit seinem Gegenstand ist. Einen ganzen Roman in einer Geste fassen zu wollen – ein aussichtsloses Unterfangen. Umgekehrt lässt sich eine Geste
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durchaus in einen ganzen Roman übersetzen, was aber niemand erkennen kann, bevor er den Roman gelesen hat.19 Neben dem Traum von einer Sprache der Bilder als vermeintlich natürlicher Zeichen stellt diese Passage auch die mit ihr verquickte Erklärungslogik, die den Lauf der Zeit als schrittweise Akkumulation von Erfahrung rekonstruiert und in die Zukunft hinein verlängert, in Frage. Sowohl ein Geschichtsverständnis als auch eine Geschichtenlektüre, die nach dieser Logik verfahren, versagen in Peltzers Erzählung vor dem großen Riss, der sie durchzieht. Denn in ihnen ist das Unerwartete nicht vorgesehen. In der Logik der schrittweisen Akkumulation von Bedeutung erscheint Unerwartetes nur als ungenügend erkannter, versteckter Zusammenhang. Die Unterbrechung der Erzählung durch die Anschläge des 11. September markiert somit die Grenzen der List der Lektüre. Der Temporalität des Films steht in Bryant Park die Schrift gegenüber. Peltzer misstraut dem Bild und seiner mimetischen Anschmiegsamkeit. Als der Erzähler an einem heißen Sommerabend in der Dämmerung auf die Straße tritt, zeigt sich Midtown verwandelt, belebt durch Neonzeichen und leuchtende Schriftzüge. Diese Symbole, »die man entziffern kann«, konstituieren »ein menschliches, die Distanzen spürbar verringerndes System.« (BP 48) Die Schriftzüge sprechen den sie Lesenden an. Durch sie fühlt er sich eingebunden »in die Welt, in diese seltsamen Verfahren zu existieren.« (BP 48) Selbst kyrillische Leuchtschriften und Sanskritbuchstaben beglücken den nächtlichen Flaneur – nicht als kunstvolle Bildelemente, sondern als entzifferbare Zeichen. Die Konvention der Schrift, das ihr zugrunde liegende Arbiträre des Signifikanten und somit die Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem – das heißt, ihr nichtmimetisches Verhältnis – ermöglichen die Verringerung der Distanz zwischen den Einzelnen, ihre Teilhabe an einem kollektiven, verbindlichen Symbolismus. Auf der Grundlage von Bildern dagegen, die nicht zu diesem Zweck formalisiert wurden, lässt sich kein solcher Symbolismus entwickeln. Gerade wegen ihrer mimetischen Genauigkeit, die immer einem besonderen Augenblick gilt, haftet ihnen etwas Imaginäres an. Sie lassen sich von ihrer Entstehungssituation nur bedingt lösen; tatsächlich führen sie diesen besonderen Augenblick immer mit. Sowenig wie den allgemeinen Begriff kennen Bilder die Negation: Ein Bild als Bild kann nicht darauf verweisen, was an ihm fehlt. Schon an einer früheren Stelle von Bryant Park macht der Erzähler die Erfahrung, was es bedeuten würde, wenn das Konventionelle der Schrift verloren ginge und sie zum reinen Bild würde. Die Microfichemaschine in der Public
19 Wie ein solcher Roman aussehen könnte, zeigt Milan Kundera: Die Unsterblichkeit, übers. v. Susanna Roth, München 1990.
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Library führt ihm vor Augen, was Schrift ausmacht. Bewegt er den Kontrollknopf zu schnell, »verwandelt sich die altertümliche, in Spalten gebrochene Schrift in das flirrende Muster eines abstrakten Gemäldes.« (BP 24) Buchstaben, Wörter, Sätze und ganze Seiten werden zu unentzifferbaren Flecken und Schlieren, die ihn nicht nur an die zufälligen Formen und Farbbahnen des Action Painting erinnern, sondern auch an dessen Grundidee, »man könne das Innere seiner Gefühle in einem spontanen Kraftakt zum Ausdruck bringen.« (BP 24) Allerdings liegt wohl die Stärke von Pollocks No. 5 gerade darin, dass es sich nicht diskursiv erfassen und in allgemein einsehbare Sätze transkribieren lässt. Von Anfang an zeichnen sich in Bryant Park die Umrisse einer Medienkritik aus der Perspektive der Literatur ab. Schon auf den ersten Seiten der Erzählung werden die in nahezu jeder Bar eingeschalteten Fernsehgeräte und die bevorstehende Vorführung von Moby Dick im Park zum Thema. Etwas später sitzt der Erzähler in einer anderen Bar, in der zwei Fernsehgeräte unterschiedliche Sendungen zeigen. Der Ton ist ausgeschaltet. Lärm und Stimmen füllen den Raum, die Bilder dringen stoßweise auf den Gast am Tresen ein. Seine Augen wandern wie unbewusst zwischen einem südamerikanischen Fußballspiel mit nachfolgender Schlägerei auf dem linken Bildschirm und den Abendnachrichten auf dem rechten hin und her. Er verfolgt die kalkulierte Gestik und Mimik der Nachrichtenmoderatoren und dann die Rauchschwaden im Fußballstadion. In diesem Augenblick reiner Visualität, die von keinem Begleitkommentar getrübt wird, beginnt er die Grenzen des visuellen Darstellungsregimes zu begreifen, das in der modernen Welt seit der Entstehung des Films und der elektronischen Medien zunehmend dominant geworden ist. Es geht Peltzers Erzähler nicht um eine technische Medientheorie; seine Sorge gilt weder der Auflösung der Welt in Pixel noch ihrer Reduktion auf einen binären Code, mit dem sich rechnen lässt. Was ihm, dem Alter Ego des Autors, auffällt und missfällt, ist die überwältigende Dominanz des Visuellen und die entsprechende Degradierung des Wortes in der Medienökologie des frühen 21. Jahrhunderts. Die visuelle Choreographie der Moderatoren, bemerkt der Erzähler, ziele darauf ab, »das Publikum zu Komplizen [zu] mach[en].« (BP 33) Die passiven Zuschauer sind sich dessen nicht bewusst, denkt er, bevor ihn selbst eine turbulente Fußballszene ablenkt und unterbricht. Dann versucht er, an seinen früheren Gedanken anzuknüpfen und bemerkt, dass dieser Eindruck »durch die Tonlosigkeit, das Stumme der Bilder sich noch verstärk[t].« (BP 33) Denn die Bilder sind nicht nur stumm, sie fordern und fördern die Stummheit ihrer Betrachter – eine Stummheit, die denen, die in den Sog der Bilder geraten, nicht mehr auffällt, und außerdem auch eine Stummheit, die jenseits aller Einwände liegt und der »Widerspruch so fremd ist wie eine exotische Krankheit, und Zweifel ein verbotenes
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Wort.« (BP 33) Anders gewendet, für Peltzers Erzähler, den SchriftstellerFlaneur, der seine Erfahrung in Sprache übersetzt und durch Sprache verarbeitet und in die Mitteilbarkeit überführt, ist die affirmative Tendenz des Visuellen die eigentliche Bedrohung, mit der sich die Literatur auseinandersetzen muss. Diese geläufige und zunächst etwas ratlos und abgegriffen anmutende Kritik des visuellen Darstellungsregimes von Film und Fernsehen, wird durch die Konfrontation mit der realen Katastrophe herausgefordert und geschärft: Was kann die Literatur, das die visuellen Medien nicht können? Genau diese Frage versucht Bryant Park als durchgehend auf seine eigenen Entstehungs- und Möglichkeitsbedingungen rekurrierender literarischer Text zu beantworten. Eine partielle Antwort enthält schon diese erste, rudimentäre Kritik: In der Ordnung der Bilder gibt es keinen Platz für Widerspruch und Zweifel – kurz: es gibt keine Negation. Ins Positive gewendet heißt dies, dass die Negation eine genuine Möglichkeit der Sprache und sprachlicher Formen, insbesondere der Literatur, ist. Zugleich ist sie die Bedingung eines bewussten Neuanfangs, einer Zäsur in der Geschichte. Das Erfassen dieser geschichtlichen Möglichkeit bedingt, das Heute nicht als durchgehend dem Gestern verpflichtet und von ihm bestimmt zu verstehen; das Spätere ist nicht allein Konsequenz oder Kumulation des Früheren. Negation und Unterbrechung sind verwandte Begriffe; sie sind Voraussetzungen im Umgang mit dem Unerwarteten als Unerwartetem – als kontingente Abweichung, die sich nicht Schritt für Schritt in die laufende Erzählung integrieren lässt. In seiner semiotischen Filmtheorie hat Christian Metz auf den entscheidenden Unterschied zwischen sprachlicher und cinematographischer Signifikation hingewiesen: Im Gegensatz zu jener ist diese »immer mehr oder weniger motiviert, nie arbiträr.«20 Dies mag auf den ersten Blick vorteilhaft scheinen, doch der fehlende mimetische Abstand zwischen dem Bildzeichen und seinem Referenten führt schnell zu unlösbaren Problemen. Arbitrarität ist dagegen die grundlegende Bedingung des sprachlichen Zeichens.21 Das Problem eines weitgehend aus ikonischen Zeichen bestehenden Mediums, deren Zeichenhaftigkeit allein ihrer mimetischen Qualität geschuldet ist, liegt genau darin, dass eine entsprechende »Sprache« ohne einen Code oder, in Saussures Terminologie, ohne eine
20 Christian Metz: Essais sur la signification au cinéma, Paris 1968, S. 111; diese und alle folgenden Übersetzungen sind vom Verfasser. Metz, der später eine psychoanalytisch orientierte Filmtheorie entwickelte, präsentiert in dieser Studie seine wegweisende strukturalistische Theorie, die versucht, Erkenntnisse aus der strukturalen Linguistik und der Semiotik auf den Film anzuwenden. 21 Vgl. Saussure: Cours, S. 103.
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langue auskommen muss.22 Die sich daraus ergebende Schwierigkeit fasst Metz in einem Satz zusammen: »Alles ist im Film gegenwärtig: daher die Offensichtlichkeit des Films, und daher auch seine Undurchsichtigkeit.«23 Gerade weil im visuellen Medium ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen Signifikanten und Signifikaten besteht, eignet es sich schlecht zur Darstellung des Fehlenden, des Negativen und des Nicht-Einverständnisses.24 Signifikation mittels einzelner oder serieller Bilder erinnert zwar in mancher Hinsicht an linguistische Strukturen, bleibt aber letztlich eine Art von frei flottierendem Ausdruck, der sich nicht auf einen generativen Code zurückführen lässt. Eine Semiotik der visuellen Medien kann sich daher nicht auf die strukturale Linguistik gründen.25 Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass die Beschriftung eines Bildes seine auratische Wirkung auf Distanz zu halten vermag. Bildunterschrift und Foto stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Kritik. Ihre Kombination hat einen »intellektuellen stereoskopischen Effekt« zur Folge: Das Bild gewinnt durch die Unterschrift an Deutlichkeit.26 Es wird gleichsam konventionalisiert und dadurch systematisch verwendbar. Gleichzeitig gewinnt das Wort durch das Bild an Evidenz und Überzeugungskraft. Anstatt den Betrachter in einer passiven Position dem Ansturm der Bilder auszusetzen, gibt ihm das geschriebene Wort – sei es als Bildunterschrift, sei es als durchkomponierte in das Filmmedium transponierte Erzählung – Hinweise auf die historische und zeitliche Distanz zwischen sei-
22 Dazu Metz: Essais, S. 117-119. 23 Ebd., S. 74. 24 Offensichtlich kann diese Einschränkung durch Sekundärcodierungen wenigstens teilweise überwunden werden – etwa durch Montage, visuelle Zitate oder die Überlagerung des primären semiotischen Systems durch ein sekundäres. Zu letzterem vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, übers. v. Horst Brühmann, Berlin 2012, besonders das abschließende Kapitel »Der Mythos heute«, S. 251-316. 25 Barthes Lektüren der in Gegenständen der Welt verkörperten kulturellen Codes in Mythen des Alltags gehören zur euphorischen Frühphase der Semiotik als umfassender Kulturwissenschaft; sie orientieren sich am Beispiel der strukturalen Linguistik. Die Einsicht, dass sich die Semiotik visueller Medien nicht auf linguistischer Basis formulieren lässt, führte dazu, dass Barthes sich vom Strukturalismus abwendete. Auf den ersten Seiten von Die helle Kammer hebt er vor allem deren nicht-linguistische Qualität hervor; vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt/Main 1989. 26 Vgl. Peter Gilgen: »History After Film«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Michael Marrinan (Hg.): Mapping Benjamin. The Work of Art in the Digital Age, Stanford 2003, S. 53-62, hier S. 56.
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ner Gegenwart und der dargestellten Welt. Es ist diese kritische Distanz, die Balance von Wort und Bild, die im unvermittelten Ansturm der Fernsehbilder verloren geht. Die von Peltzers Erzähler an den stummen Fernsehmoderatoren beobachtete gestische Attraktion ist daher nicht zuletzt ein Effekt ihrer Stummheit. Für die auf die Massenmedien zugeschnittenen, spektakulären Anschläge des 11. September 2001 kann dies aus Peltzers Perspektive nur bedeuten, dass wir die Worte für das Vorgefallene erst noch finden müssen – daher die einfachere Sprache und Reduktion auf das Wesentliche auf den Seiten, die von den Anschlägen berichten. V. Die Bilderflut des inszenierten Verbrechens, das auf den stärksten ästhetischen Effekt zielte, erfordert eine Literatur, die sich über das nichtssagende Gerede ebenso hinwegsetzt wie über die stumme Passivität gegenüber dem überwältigenden Bild; über die politische Instrumentalisierung der Katastrophe ebenso wie über die Gedankenlosigkeit flächendeckender Theorien; über die allzu routinierte Rückkehr zur Tagesordnung ebenso wie die melancholische Lähmung. Nach dem Schock und den ersten hilflosen Erklärungsversuchen beschließt Ulrich, sein Buch – ein literarisches, kein dokumentarisches Werk – zu Ende zu schreiben. Er nimmt sich vor, seine Erzählung bis zum bereits ins Auge gefassten Endpunkt voranzutreiben, an dem »sie unweigerlich abbräche, weil das Folgende in einen anderen Zusammenhang gehörte.« (BP 116) Alles hingegen, was in den gegenwärtigen, mit dem Titel Bryant Park bezeichneten Kontext gehört, soll an dieser Stelle zu Wort kommen und zu Ende gebracht werden – gleichsam vom jenseitigen Rand der Kluft aus, die diesen Zusammenhang durchzieht – , als gälte es, durch das neu ansetzende Erzählen über die Brüche und Verwerfungen hinweg eine Brücke zu schlagen. Dieses Verfahren wird nicht ein unbeirrtes, souverän über Risse und Zäsuren hinwegsehendes Erzählen sein können, aber ebenso wenig gibt sich Peltzer damit zufrieden, allein dem unaufhebbar Fragmentarischen des Lebens (und der ihm entsprechenden Literatur) das Wort zu reden. Ein einschneidendes Ereignis wie die Anschläge des 11. September wird weder durch die eine, noch die andere Methode fassbar. Das literarische Verfahren Peltzers besteht darin, die Erzählung, »die der Anschlag unterbrochen hat wie man beim Lesen eine Seite verschlägt, die man auf Anhieb nicht wiederfindet« (BP 116), wiederaufzunehmen und von diesem neuen Ansatzpunkt aus zu Ende zu erzählen. Dabei wird die zeitweilige Desorientierung nicht verschwiegen, sondern zum Thema.
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Die verschlagene Seite ist mehr als eine rhetorische Figur. Peltzers Vergleich ist allein dadurch schlagend, als ihm eine Häufung von Lemmata der Gewalt eingeschrieben ist – Schlag, Bruch, Hieb – , die dazu dient, die Unterbrechung und Desorientierung der Lektüre in Analogie mit den Anschlägen zu setzen. Das am 11. September Vorgefallene ist ein Beispiel historischer Kontingenz, die sich narrativ nicht einholen lässt.27 Auf vergleichbare Weise verweigert sich eine Erzählung, die sich liest, als hätte man beim Lesen die Seite verschlagen, den Versuchen umfassender Sinngebung und Kontingenzreduktion; sie lässt die Verwerfung stehen, ohne sie durch den Fortgang der Erzählung einzuebnen oder zumindest vergessen zu machen. Zugleich aber sollen Schreiben und Lesen nicht in untätige Melancholie versinken. Zwar müssen sie in diesen Zonen voller Überraschungen ohne die List der Lektüre auskommen, aber sie schaffen sich einen neuen Anknüpfungspunkt, von dem aus es weitergehen kann im Text, als wäre hier die Einfriedung, die Bryant Park als urbane Leerstelle zum Raum des Spielerischen und der gelungenen Synthese aus Bild und Erzählung machte (Moby Dick), umgestülpt: Die Realität dringt in den Raum der Fiktion ein und droht sie zu zerschmettern. Dies bringt den Autor dazu, sich zu erklären. Er nimmt sich vor, die Erzählung an ihren Endpunkt zu führen, den er schon am Anfang seines neu einsetzenden Erzählens bestimmt und dem Leser mitteilt, noch bevor er die bereits vor den Anschlägen erzählten Geschehnisse rekapituliert. Das vorweggenommene Ende dient als Orientierungshilfe, als Leitstern des Erzählens und als Fixpunkt für den noch ausstehenden Rest der Erzählung. Das Weitererzählen ist kein eigentliches Durcharbeiten des Traumas; die Anschläge kommen darin nicht vor. Die in den Medien endlos wiederholten, tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannten Bilder werden nur in dem eingeschobenen Bericht Ulrichs zum Thema; sie werden genau und ohne weiteren Kommentar beschrieben. Dagegen wirken die kurz anklingenden Erklärungsversuche allzu beliebig und eher hilflos: Ein Freund namens Horst bemüht den psychoanalytischen Gemeinplatz von der »narzisstische[n] Kränkung« der Amerikaner,28 wäh-
27 Solange sich historische Ereignisse innerhalb einer gewissen Bandbreite bewegen, fällt ihre prinzipielle Kontingenz nicht ins Gewicht; erst die Konfrontation mit dem völlig Unerwarteten, das sich weder verlässlich vorhersagen, noch auf nachvollziehbare Kausalitäten reduzieren lässt, macht die recht engen Grenzen unserer Kontingenzbewältigung deutlich. 28 Kathrin Röggla, die Kathrin in Peltzers Erzählung, verwendet dieselbe Formulierung in ihrem vor Peltzers Erzählung erschienenen 9/11-Buch und in einem in das Buch eingegangenen Essay, der bereits am 14. September 2001 in der tageszeitung veröffentlicht wurde. Vgl. Kathrin Röggla: really ground zero. 11. September und folgen-
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rend Ulrichs Freundin Jana von den »molare[n] Verkettungen« der »Kriegsmaschine« schwadroniert. (BP 111) Ulrich lehnt diese Erklärungsversuche ab, nicht weil ihm eine tiefere Einsicht in die Zusammenhänge beschieden wäre. Ganz im Gegenteil: Seine pragmatische Einschätzung, dass wohl »ein paar Städte am Hindukusch« bombardiert werden, »und dann ist es wieder gut« (BP 111), zeugt von Wunschdenken. Dennoch entfaltet sein »Nein« eine ungeahnte rhetorische Wirkung. Es schafft einen Freiraum gegenüber der gedankenlosen Zuflucht zu theoretischen Versatzstücken. Solche globalen Erklärungen, die das Besondere und die Kontingenz des historischen Ereignisses außer Acht lassen, verschleiern das Vorgefallene. Die Bestimmtheit, mit der Jana die Begriffsmaschinerie von Deleuze und Guattari in Stellung bringt, wird durch Ulrichs Nein in Frage gestellt. Die immer in Bewegung bleibenden Begriffe der zwei Denker sind in Janas Händen selbst zu »molaren Aggregaten« geworden, die »Intensitäten gefangen setzen oder Singularitäten in Resonanz- und Redundanzsysteme sperren.«29 Ulrichs Weitererzählen ist eine Alternative, die weder das Geschehene in einer handlichen Formel einzufangen versucht, noch im Orbit der Katastrophe gefangen bleibt. Es wird von den Anschlägen zwar überschattet, aber nicht bestimmt. Es bildet den Rand der Schneise, die der Einbruch der Realität geschlagen hat. Gleichsam als Hohlform der Anschläge werden die drei unterbrochenen und wieder aufgenommenen Erzählstränge zu ihrer Einfriedung; in der Anordnung des Textes fassen sie das historische Geschehen ein, ohne den Anspruch, es narrativ erfassen zu können. Sie markieren das Überbordende, Exzessive, Gewalttätige im Text, ohne sich ihm geschlagen zu geben. Literatur, das wird in Bryant Park deutlich, ist nicht zuletzt deshalb ein geeignetes Mittel, um Worte für das Vorgefallene zu finden, weil die Opposition zwischen ihr und der Realität ähnlich wie jene zwischen dem gleichnamigen Park und seiner städtischen Umgebung nur eine relative ist. Literatur ist Teil der Realität und entsteht auf ihrem Boden und in ihrem Schatten. Sie ist sich selbst reflektierende Realität im Medium der Sprache: Wirklichkeit, die sich im Spiel mit der Fiktion als innovatives Sprechen artikuliert.30 Der literarische Text kann, sofern er diesen Bezug zur Wirklichkeit, die prinzipielle Rezeptivität der Fiktion
des, Frankfurt/Main 2001, S. 14. Allerdings gibt Röggla auch zu bedenken, dass bald »die politischen und historischen kategorien« fehlen, um die Ereignisse »in einem größeren zusammenhang zu beschreiben und zu situieren.« 29 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie, Paris 1980, S. 54; Übersetzung des Verfassers. 30 Diese Bestimmung der Literatur lässt sich sowohl mit realistischen, als auch konstruktivistischen Erkenntnistheorien vereinbaren.
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gegenüber dem Realen, reflektiert, immer nur ein unabgeschlossenes Provisorium sein. Es ist daher nur folgerichtig, dass Ulrich Peltzer, dem beim Schreiben die Anschläge des 11. September »in die Quere kamen«,31 die klassisch moderne »Aufhebung oder Zerstörung der Geschlossenheit des Romans« weitertreibt und keinen als pure Fiktion ausgewiesenen Text schreibt. (AM 31) Die Bezeichnung »Erzählung« hat programmatische Züge. Bryant Park wechselt aus der Fiktion in die Reportage und zurück. Diesem Bruch trägt die Doppeldeutigkeit des Gattungsnamens Rechnung: Der Name einer Prosagattung irgendwo im schlecht kartographierten Gelände zwischen Roman und Novelle steht auch für ein viel allgemeineres, fundamentales Sprachspiel, das die Unterscheidung von Fiktion und Realität transzendiert. Peltzers Erzählung unterbindet daher die »kontemplative Geborgenheit vorm Gelesenen« noch nachdrücklicher, als der moderne Roman es tat, und fordert wie dieser die Mitarbeit des Lesers ein.32 Auch für die an der Grenze zwischen Fiktion und Realität angesiedelte Erzählung gilt William Gaddis’ auf den modernen Roman gemünztes Wort von der »collaboration between the reader and what is on the pages«, das Peltzer in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen zitiert. (AM 32) Denn wie der experimentelle Roman erfordert auch Bryant Park einen Übersetzungsvorgang. Das Layout der hart gefügten, unverbundenen Satzfragmente und Absätze in Peltzers Erzählung könnte als literarisches Bildrätsel verstanden werden, das die Bedingungen, unter denen die zeitgenössische Literatur operiert, zwar sichtbar macht, aber dennoch nicht zum Bild gerinnt, das der Sprache entriete. Das Übersetzen vom unvollständigen Abschluss eines Satzes oder Absatzes zum fragmentarischen Anfang des nächsten verlangt vom Leser eine aktive Übersetzungsleistung, die den bestehenden Mangel zum Anlass einer kontingenten, vorläufigen, widerruflichen Bedeutungsproduktion nimmt. Peltzers Poetik der Unterbrechung begreift das Erzählen als einen stets neu einsetzenden »Anfang ohne Ende.« (BP 134) Und die Literatur? Sie ist poiesis: »Ein erster Satz aus dem Nichts.« (BP 137)
31 Vgl. Schröder: »Weltbilder« und Kunisch: »Sünden.« 32 Ebd. Peltzer zitiert hier Adorno (ohne Quellenangabe, aber in Anführungszeichen). Vgl. Theodor W. Adorno: »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman«, in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt/Main 1981, S. 41-48, hier S. 46.
Die Überwachung der Gefühle Teil der Lösung und Probleme moderner Affektpoetik1 J ÖRG M ETELMANN Aus den Körpern strömte tierhafte Traurigkeit und Bilder, die Jahre zurücklagen, verschlissene Stellen und dünne, zitternde Ecken in einer fremden Stadt. Ich hatte meinen Teil gelernt und sagte, »Man muss sich auf allen Ebenen jede Sekunde gegen dieses Sterben wehren.« Und dazu bedarf es genauer Techniken, die man handzuhaben versteht. Ich ließ meinen inneren Bildschirm leerlaufen. ROLF DIETER BRINKMANN, Sonntag, 10. Oktober 1971/ Romananfang2
Einleitung Der Roman Teil der Lösung von Ulrich Peltzer ist mit Erscheinen im Jahr 2007 als großer Gegenwartsroman gefeiert worden, wobei besonders die authentische Schilderung der Liebesgeschichte und die Schilderung Berlins als überwachter
1
Für kritische Anmerkungen und hilfreiche Hinweise zu früheren Fassungen danke ich
2
In: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Träume, Auf-
vielmals Heinz Drügh und Christian Metz. stände/Gewalt/Morde. REISE ZEIT MAGAZIN. Die Story ist schnell erzählt. (Tagebuch), Reinbek bei Hamburg 1987, S. 69, Hervorhebung im Text.
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Stadt hervorgehoben wurden.3 Der Beitrag entwickelt diese Beobachtungen zu der These weiter, dass die gelungene Zeitdiagnose wesentlich darin besteht, Liebe und Überwachung zusammenzuführen. Der Roman zeigt durch die Einschreibung der Logik des Privaten in die des Öffentlichen, wie sowohl die Innenwelt als auch die Außenwelt Regimen der Beobachtung unterworfen sind: Sichtbarmachung und Sagbarkeit sind die zentralen Modi der (Selbst-)Kontrolle, zu denen es für die Figuren kein Anderes gibt. Peltzer repolitisiert so die Bedingungen moderner Liebeskommunikation, die seit dem 18. Jahrhundert gerade im Roman erfunden, ausgestellt und reflektiert werden.4 Ich beginne daher mit einer knappen Skizze der Semantiken moderner Gefühle, vor deren Hintergrund zunächst Peltzers Bryant Park und Die Habenichtse von Katharina Hacker im Hinblick auf das Verhältnis von Affekt und Emotion kurz verglichen werden. Im Anschluss an die ausführliche Interpretation von Teil der Lösung ende ich mit der Frage, inwiefern ein solches zeitdiagnostisches Verfahren in der Welt der digitalen Daten vor neue Herausforderungen gestellt wird. Das Gefühl ist in die Funktionale gerutscht Literarische Emotionen haben in den letzten Jahren wieder eine stärkere Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Forschung erfahren.5 Dabei stehen neben den Versuchen, neuere naturwissenschaftliche Ergebnisse (Damasio, Ekmann,
3
Vgl. beispielhaft Jochen Jung: »Zeitkörper, tätowiert«, in: Die ZEIT vom 1.11.2007; Andreas Platthaus: »Was in Flüchtenden um drei Uhr zwanzig vor sich geht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.12.2007; für weitere Rezensionen vgl. http://www.perlentaucher.de/buch/ulrich-peltzer/teil-der-loesung.html [abgerufen 14. 11.2013].
4
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 2
5
1983, S. 160.
Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003; Katja Mellmann: Emotionalisierung – Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche, Paderborn 2006; Thomas Anz: »Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung«, in: Karl Eibl/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen, Paderborn 2007, S. 207-239; Claudia Hillebrandt: Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten: Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel, Berlin 2011.
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LeDoux u.a.) systematisch mit den Philologien zu versöhnen,6 eher offene interdisziplinäre Herangehensweisen, die nach Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Diskursen suchen.7 Die Grundelemente dieser Gefühlsdiskurse8 stehen dabei nach wie vor, so die Ausgangsbeobachtung, in der Genealogie moderner Entwicklungen, die im 18. Jahrhundert beginnen. Die »moral sense«-Lehren von Shaftesbury, Hume und Hutcheson etablieren die Gefühle als subjektiv verortet und in sich moralisch wertvoll.9 »Gefühl« als Terminus bezeichnet in diesem Sinne einen Paradigmenwechsel weg von der zu domestizierenden Macht des Affekts – affectus als lateinische Übersetzung des griechischen pathos/pathé, »das zu Erleidende«, auf Deutsch: die Leidenschaften – hin zu einer zu kultivierenden Kraft der Gefühle, was zu einer wesentlichen Quelle der selbstbewussten Positionierung der bürgerlich empfindsamen Persönlichkeit gegen die kalte Persona des Affekt-Masken tragenden Adligen wird.10 Die Darstellung dieser neu entdeckten und wertgeschätzten inneren Bewegtheit (Emotion) leistet nun vor allem das »Literarische«, das anstelle der bisher gültigen Ordnung der Affekte, die rhetorisch in Begriffslisten mit Erklärung artikulierbar war, eine hermeneutische
6
Vor allem Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literari-
7
Vgl. Sandra Poppe (Hg.), Emotionen in Literatur und Film, Würzburg 2012.
8
Zur begrifflichen Abgrenzung: Mit Christiane Voss verstehe ich »Gefühle« als Ober-
scher Emotionen, Würzburg 2005.
begriff für sämtliche affektive Phänomene, sie umfassen »Emotionen«, »Stimmungen« und »Launen« (beide haben unterschiedliche Dauer), »affektive Einstellungen« (wie Sympathie), Empfindungen (körperliche Wahrnehmungen) und Intuitionen. Eine wichtige Abgrenzung hierbei ist die zwischen Emotion und Affekt: »Emotionen« sind Gefühle mit Geschichte in doppelter Hinsicht – sie sind historisch geworden, sie haben eine narrative Struktur und meistens ein Objekt; »Affekte« hingegen sind dagegen nicht-kodierte Intensitäten. Vgl. Christiane Voss: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin 2004, S. 11-14. 9
Stefan Hübsch: »Vom Affekt zum Gefühl«, in: ders./Dominic Kaegi (Hg.): Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1999, S. 137-150.
10 Gabriele Ricke: »Die empfindsame Seel mit der Fackel der Vernunft entzünden. Die Kultivierung der Gefühle im 18. Jahrhundert«, in: Ästhetik und Kommunikation, 53/54 (1983), S. 5-22. Diese Frontstellung findet eine Fortsetzung in den »Verhaltenslehren der Kälte« im 20. Jahrhundert, vgl. hierzu Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/Main 1994.
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Beziehung zwischen Empfindungen und der sich im 18. Jahrhundert formierenden Semiotik des »Humanen« herstellt.11 Dem Literarischen als Poetik des Heterogenen und hier besonders dem Roman kommt in der Konstellation einer ineinander verwobenen Aufwertung sowohl des bürgerlichen Subjekts als auch seiner Empfindungen eine zentrale Rolle zu, denn im Gegensatz zum alten Modell einer Affektkontrolle geht es nun um »eine Art affektueller Affektkontrolle«, wenn das sittliche Gefühl in den Dienst der Zivilisationsentwicklung gestellt wird.12 Das allgemeine »Gefühlswissen«13 wie die speziellere »Affektpoetik« – nun neu zu verstehen als diskursives System des »Literarischen« mit der Aufgabe, das Ungeformte (Empfindungen, Wahrnehmungen14) semantisch-kulturell zugänglich (sichtbar, sprachfähig) und konsensuell zu machen – operieren dabei zunehmend ohne metaphysisches Netz und doppelten Glaubensboden allein im Glauben an die evolutive Einholung der Versprechen der Moderne.15 Das Gefühl rutscht, wenn man es mit der bekannten Formulierung von Bertolt Brecht aus dem Dreigroschenprozeß umschreiben wollte, in die Funktionale: Es soll die Individuen prägen und als Subjekte emotional zurechenbar machen für gefühlte Gruppenidentitäten, die als Freundeskreise, Lesezirkel, als Schicht oder Nation organisiert werden.16
11 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung literarischer Rede im 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. XVI (kursiv im Text): Das Literarische verweise »auf den Ort eines Kreuzungspunktes in einem Diskursnetz, an dem Literatur gerade durch Nichtliteratur – Physiognomik des Körpers, medizinische Semiotik, Repräsentation der Wahrnehmung – formiert und definiert worden ist.« Vgl. hierzu auch die Studien von Albrecht Koschorke zur »anthropologischen Konjunktion«, in: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. 12 Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 18. 13 Vgl. Ute Frevert et al.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt/Main 2011. 14 Das fügt sich in das Projekt der »Aisthesis« nach Baumgarten: Die unteren Erkenntnisvermögen (d.i. Wahrnehmen, aber auch Erinnern, Imaginieren) sollen als analogon rationis verhandelt, d.h. tentativ begriffsfähig gemacht werden. Ich danke Heinz Drügh für diesen Hinweis. 15 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006. 16 Manfred Hettling/Stefan Ludwig Hoffmann: »Zur Historisierung bürgerlicher Werte. Einleitung«, in: dies. (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, 7-21, hier S. 16.
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Vor dem Hintergrund dieser Funktionsthese kann das Wiedererstarken des Affektdenkens in den letzten drei Jahrzehnten, maßgeblich verbunden mit den Namen Gilles Deleuze und in seiner Nachfolge Brian Massumi,17 in gefühlshistorischer Perspektive gelesen werden als eine Skepsis an genau diesem Nexus von Emotion und kultureller Narration. Profiliert man den Affekt als eine Kraft und Intensität, die sich dem teleologischen Fortschrittsdenken insofern entgegenstellt, als sie das Noch-nicht-Geformte, aber auch nicht zwanghaft zu Formende (im Sinne des alten Domestizierungsimperativs) darstellt, öffnet sich in Denken und Praxis ein Möglichkeitsraum, der Unvorhersehbares an die Stelle von Umzuschreibendem (da ja irgendwie Bekanntem) setzt.18 9/11 als Affekt-Ereignis und Angst-Narration Die Anschläge des 11. September 2001 als anfangs »ungewiß codierte[s] Phänomen«19 lassen sich vor diesem Hintergrund auch als mediales Ereignis deuten, das der global vernetzten Welt ein Gefühl davon vermittelte, was eine solche affektive Intensität ist: In größter Erschütterung zunächst überhaupt nicht zu wissen, was ›wirklich‹ passiert ist und was es bedeutet. Dieses intensiv gefühlte, ›erlittene‹ Sinnvakuum ist jedoch kaum zu ertragen, und so setzten 2001 umgehend Interpretationsmechanismen mit nach kulturellem Kontext unterschiedlichen Rahmungen ein. Inszenierte die US-Regierung rhetorisch das Melodram der angegriffenen Freiheit,20 so wurde etwa im deutschen Diskurs das »Denkmuster der ›Zäsur‹« sowohl der »Stunde Null 1945« als auch der »ʽ68-Bewegung« aufgegriffen und mit dem RAF-Kontext zur nun vermeintlich wieder völlig neuen Er-
17 Vgl. Gilles Deleuze: »Das Affektbild«, in: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 [1985], Frankfurt/Main 1997, S. 123ff.; Brian Massumi: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham/London 2002; Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich/Berlin 2007; Michaela Ott: Affizierung. Zu einer ästhetischepistemischen Figur, München 2010. 18 Brian Massumi: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin 2010, S. 25-34. 19 Helmut Lethen: »Bildarchiv und Traumaphilie: Schrecksekunden der Kulturwissenschaften nach dem 11.9.2001«, in: Klaus Scherpe/Thomas Weitin (Hg.): Eskalationen. Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik, Tübingen/Basel 2003, S. 3-14, hier: S. 4. 20 Vgl. Elisabeth Anker: »Villains, Victims, and Heroes. Melodrama, Media, and September 11«, in: Journal of Communication 55/3 (2005), S. 22-37.
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fahrung des Lebens im Zeichen des »Terrorismus« gekreuzt.21 Beide Rahmungen verfolgten das gleiche Ziel: Es ging um die Füllung des Vakuums und die Rückgewinnung der Deutungskontrolle, im Falle der USA sehr praktisch als Legitimationsstrategie für Vergeltungsmaßnahmen. Der vorschnellen Annahme, das einschneidende Ereignis »9/11« sei sogleich eine Zäsur mit Peripetie- und Reset-Funktion, ist auf vielfältige Weisen widersprochen worden, die sich aus gefühlstheoretischer Sicht als Übergang vom Affekt zur Emotion verstehen lassen. So stellt Thorsten Schüller fest, dass die Gefühle von Angst, Krise, Bruch und Zerstörung nicht durch 9/11 entstanden seien, sondern durch das messbare Datum das zugrunde liegende »Unbehagen an der zusammenwachsenden Welt« nur gebündelt wurde.22 Medial prominenter hat der Politologie Dominique Moïsi diese Beobachtung zu einer ganzen Theorie des »Kampf[es] des Emotionen« ausgebaut, der durch die Anschläge 2001 nun zu einem weltweit wirkmächtigen Schema der kulturellen Begegnung von Gefühlen der Angst (USA, Europa), der Demütigung (Afrika) und Hoffnung (Asien) geworden sei.23 Entscheidend ist für unseren Kontext hierbei die Codierung: Das AffektEreignis »9/11« wird zurückgeführt in eine kulturell bestehende Semantik der (negativen) Emotionen, wird eingeschrieben in Narrationen der Angst, der Ohnmacht und der Bedrohung, die wiederum mit Strategien der Kontrollausweitung diskursiv beantwortet werden. Im deutschsprachigen literarischen Feld haben vor allem zwei Romane an dieser Scharnierstelle von Affekt und Emotion im Hinblick auf 9/11 gearbeitet: Katharina Hackers mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Text Die Habenichtse von 2006 und Bryant Park von Ulrich Peltzer aus dem Jahr 2002, für den er 2003 den Bremer Literaturpreis erhielt. Hackers Roman nimmt die »Zäsur«-Semantik schon mit dem allerersten Satz auf: »Alles wird anders, verkündete Dave, als der Umzugswagen klappernd da-
21 Vgl. Jesko Bender: »›Umschmeichelt von so viel Schrift.‹ Zum Denkmuster der ›Zäsur‹ im deutschen ›Terrorismus‹-Diskurs nach dem 11. September 2001«, in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.), Nachbilder der RAF, Köln/Weimar 2008, S. 268286, hier S. 271f. 22 Thorsten Schüller: »Modern Talking. Die Konjunktur der Krise in anderen und neuen Modernen«, in: Ders./Sascha Seiler (Hg.): Von Zäsuren und Ereignissen. Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung, Bielefeld 2010, S. 13-28, hier S. 13. 23 Dominique Moïsi: Kampf der Emotionen. Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen, München 2009, S. 19.
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vonfuhr, und hob Sara auf seine Schultern […].«24 Bezeichnend für diesen Erzählstrang und paradigmatisch für den Roman als ganzen ist, dass sich wenig bis nichts ändert – die beiden Geschwister Dave und Sara werden auch im neuen Heim in der Margaret Road wieder Opfer häuslicher Gewalt. Ebenso führt das Katastrophen-Ereignis 9/11 zwar kurzzeitig zur punktuellen Neukonstellation der Figuren im zweiten Erzählstrang – Jakob glaubt Isabelle seine Rettung vor dem New Yorker Inferno zu verdanken, weil er wegen eines verabredeten Treffens mit ihr seine Dienstreise zwei Tage vorverlegt hat, sie heiraten dann wenig später –, beide finden jedoch in der veränderten Umgebung in London zu keinem Neuanfang als Paar.25 Diese Dekonstruktion der »Zäsur«-Semantik hat die Autorin im Hinblick auf ihre Affektpoetik explizit als zentrales Problem des Textes markiert: Emotionalität gilt ja oft im Grunde als Erweis des richtigen Lebens. In dem Roman Die Habenichtse spielt September 11th eine dramaturgische Rolle und war auch tatsächlich einer der Ausgangspunkte dieses Romans. Denn eine Art von Gewalttätigkeit […], wie sie sich in den Terroranschlägen äußert, hat eine ganz klare Folge: Menschen zentrieren sich. […] Ich hasse diese Art von Zuspitzung. In gewisser Weise würde ich mich immer als jemand bezeichnen, die gerne Plädoyers für Langeweile, Teilnahmslosigkeit und möglichst starke Emotionslosigkeit schreibt (Lachen) – im Gegensatz dazu aber natürlich Szenen benutzt, die emotional sehr aufgeladen sind, oder sein sollen.26
Hacker hält Florian Illies’ Beschreibungen der »Generation Golf« für verbindlich, denn diese Generation, der auch sie und ihre Protagonisten angehören, sei in der Tat »von Katastrophen, also Zuspitzungen, in bestimmter Art verschont geblieben.«27 Nimmt man dies als eine Art conditio sine qua der Erfahrung vor dem und im Schreiben, dann stellt sich die Frage nach der Reflexivität der literarischen Repräsentation: Inwiefern bietet das Artefakt die Möglichkeit, sich zu
24 Katharina Hacker: Die Habenichtse [2006], Frankfurt/Main 2011, S. 7. 25 Vgl. Heide Reinhäckel: »Literarische Schauplätze deutscher 9/11-Romane«, in: Sandra Poppe/Thomas Schüller/Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld, S. 121-138, hier S. 131-133. 26 Sandra Poppe/Jens Eder: »Emotionen in Literatur und Film – Ein Gespräch mit Katharina Hacker und Oskar Roehler«, in Sandra Poppe (Hg.): Emotionen in Literatur und Film, S. 299-327, hier S. 300. 27 Ebd., S. 304.
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den »zuspitzenden« Gefühlen wiederum in Beziehung zu setzen, statt von ihnen ganz vereinnahmt zu werden? Ein Musterbeispiel einer solchen reflexiven Poetisierung hat Ulrich Peltzer mit Bryant Park geliefert. Zwar führt der Einbruch des Realen zu einer temporär völlig neuen Erzählsituation, wenn anstelle des Ich-Erzählers Stefan Matenaar nun das literarische Autor-Ich »ulrich« versucht, den Schock der Bilder aus New York zu verarbeiten (BP 122/128). Doch schält der Text im Folgenden metareflexiv die Bedingungen heraus, unter denen dieses Schreiben von »ulrich« im Angesicht des Ereignisses steht: zum einen anhand des Modells des Filmvorführens, bei dem es darum gehe, die weißen Klebestreifen zwischen den Bildern so genau zu setzen, dass Unterbrechungen (»halbierte Bilder oder Sprünge im Ton«) nicht oder nur dann sichtbar werden, »so sie als Kunstmittel während der Projektion erwünscht sind«;28 zum anderen durch die Erprobung der unterschiedlichen Vertextungsverfahren »Bildbeschreibung« und »Dialogwiedergabe«, die beide jedoch verworfen und in die Textur des »Meow Mix« überführt werden, der Wiederholung und Modulation zu den einzig adäquaten Möglichkeiten des Umgangs mit dem Ereignis erhebt.29 So werde laut Jesko Bender deutlich, dass es ein »nach 9/11« nur geben könne mit einem »vor 9/11«, was die rekursiven Strukturen des Geschichtsdiskurses freilege, in denen sich Textproduktion, Gedächtnisarbeit und – wie ich Benders überzeugendes Argument ergänzen würde – Wahrnehmungsreflexion notwendigerweise verbinden.30 Mit Teil der Lösung setzt Ulrich Peltzer dieses zeitdiagnostische Anliegen auf einer neuen Stufe fort. Er erzählt nicht vom Ereignis, sondern in seinem Schatten – nicht von 9/11, sondern von der ubiquitären (Selbst-)Kontrolle und dem Widerstand dagegen. An die Stelle des Affekts treten Emotion und Stimmung, geht es doch im Roman in oftmals stillem, aber unüberhörbarem Dialog mit den noch geschichtsemphatischen 1960er und 1970er Jahren um die Frage, was man denn nun tun soll mit der und in der Geschichte, wie sie sich immer schneller zu stapeln scheint, ohne nach den großen Erzählungen noch auf einen Nenner gebracht werden zu können. Obwohl die politischen 9/11-Nachwehen nie explizit thematisch werden, schafft die erzählte Welt einen fiktionalen Rahmen, in den die Stimmungen der nicht fiktionalen ›Realität‹ – zwischen Unbehagen und angeblich konterterroristischer Wehrhaftigkeit der Demokratien – ein-
28 Vgl. Volker Mergenthaler: »Katastrophenpoetik. Max Goldts und Ulrich Peltzers literarische Auseinandersetzungen mit Nine-Eleven«, in: Wirkendes Wort 55 (2005), S. 281-294, hier: S. 289f.; das Zitat stammt aus Bryant Park, S. 56f. 29 Bender: »Umschmeichelt von so viel Schrift«, S. 276-282. 30 Ebd., S. 283/273.
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fließen können. Poetologisch gründet dies in einer Übersetzung der inneren Welt der Figuren in die Grammatik der Überwachung. Das Alleinstellungsmerkmal des bürgerlichen Romans seit Anton Reiser, die Beobachtung der Gefühle, wird über die Liebessemantik verbunden mit der intendiert lückenlosen Überwachung der potenziell suspekten Umwelt. Letztere wird so umgekehrt unter die gleiche Sigle der hermeneutischen und subjekttheoretischen Fragwürdigkeit geordnet wie die permanente emotionale Selbstbefragung des modernen Individuums, die mit Rousseau beginnt.31 Diese Fragen sind: Wie funktional ist diese Kontrolle? Und wie überhaupt funktioniert sie? Beobachtung, Inkommunikabilität, Romantik Kehren wir vorbereitend noch einmal zur Geschichte der Gefühle zurück. Mit der Funktionalisierung der Gefühle geht deren Internalisierung einher. Die Innenwelt der Einzelpersonen wird ab Mitte des 18. Jahrhunderts für Moral- und Lebensfragen in dem Maße zugleich wichtig wie unsicher, wie der Bezug zum Außen mit dem Ende alter Gewissheiten (Transzendenz/Kirche/Gott, Politik/Monarchie/König, Ökonomie/Merkantilismus) gekappt wird32 und »der Mensch” die Bühne nach dem Zeitalter der stabilen Repräsentation und der zeichenökonomischen Gleichgewichte betritt.33 Im modernen, romantischen Subjekt verbindet sich so die seelische Tiefenschau mit einer öffentlichen Ausdrucksnotwendigkeit zu einer expressiven Kultur, die in der permanenten Artikulation
31 Vgl. Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen [1971], Frankfurt/Main 2003; Dieter Thomä: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, München 1998. 32 Vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/Main 1996, S. 496, kursiv J.M.: »Neben der Konstitution der Dinge müssen wir auch unsere eigenen Begierden, Bestrebungen, Neigungen und Gefühle erforschen. Darauf läuft der ganze Subjektivierungsschub nun einmal hinaus. Dies ist auch der Punkt, an dem Begierden und Bestrebungen die entscheidenden Orte der Untersuchung werden. Es wird denkbar, dass Gut und Böse von der Natur unserer Empfindungen abhängig sein könnten.« Den Bruch zeigt auch der Vergleich mit der Philosophie von Descartes und Spinoza, vgl. hierzu Dominik Perler: Transformationen des Gefühls. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670, Frankfurt/Main 2011. 33 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966], Frankfurt/Main 1974, S. 269ff.; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Berlin/Zürich 2002, S. 299ff.
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von individueller Befindlichkeit auch die äußeren Bedingungen des Lebens vermisst.34 Niklas Luhmann hat in seinem Klassiker Liebe als Passion diese Veränderungen speziell im Hinblick auf den Code der Intimität untersucht und dabei auch die Vor- und Nachgeschichte der romantischen amour passion herausgearbeitet. Der romantischen Liebe geht im 18. Jahrhundert die Erfahrung der Inkommunikabilität voraus. Parallel zum adeligen Liebescode des »plaisir«, der auf einer gefühlskalten Experimentier- und Beobachtungskunst aufruht, taucht mit der bürgerlichen Semantik der Authentizität ein Verständnis für das Problem auf, »ob es nicht, und zwar gerade in Intimbeziehungen, Sinn gibt, der dadurch zerstört wird, daß man ihn zum Gegenstand einer Mitteilung macht.«35 Es komme daher zu einer »oblique[n] Auswertung aller Äußerungen«, ja allen Verhaltens generell, »um Dispositionen des Partners in bezug auf die Intimbeziehung zu erkennen, zu testen, zu reproduzieren«36 – die Liebe gerät im Dreieck von Beobachtung, authentischem Fühlen und Mitteilung unter Druck. Der Einsatz der romantischen Liebe (»amour passion«) ist, diesen Druck im Paradox der »Erfahrung der Steigerung des Sehens, Erlebens, Genießens durch Distanz« zu vermindern und so die Zweisamkeit der Liebe als »Steigerung der Chance zur selbstbewussten Selbstbildung« zu recodieren. Heute – d.h. für Luhmann in der Spätmoderne um 1980, aber m.E. auch gegenwärtig – haben sozialstrukturelle Veränderungen diesen Code noch einmal radikalisiert: Der Code fordert jetzt eine universale Doppelwertung aller Ereignisse unter Führung durch die Differenz persönlich/unpersönlich. Dazu ist Liebe nötig als Ausdifferenzierung einer Bezugsperson, im Hinblick auf die die Welt anders gewertet werden kann als normal; in deren Augen auch der Liebende selbst ein anderer sein kann als normal.37
Die Welt ist einmal anonym und ein anderes Mal vertraut, je nach Bezug auf den geliebten Menschen. Das Problem ist dabei nicht mehr, in der Liebe das »Ganze« oder den »Sinn des Lebens« zu finden – das hat der »Konsum der Romantik«38 erledigt –, sondern die Frage, wie sich sehr verschiedene Personen noch als Eines entwerfen können: also im Spiegel des anderen ihr Selbst als Teil eines
34 Taylor: Quellen des Selbst, Teil II: »Innerlichkeit«, S. 639ff. 35 Luhmann: Liebe als Passion, S. 155. 36 Ebd., S. 156. 37 Ebd., S. 215. 38 Vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt/Main, New York 2003.
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Zweisamen sehen können. Probleme liegen dabei ersichtlicherweise im Anfangen, »weil man in Situationen, die primär durch unpersönliche Erwartungen geordnet sind, ein Interesse am Persönlichen sehen und zum Ausdruck bringen muß, ohne dafür über gesellschaftlich geprägte Verlaufformen (Galanterie) zu verfügen.«39 Die langsame Annäherung von Christian und Nele in drei aufeinanderfolgenden Begegnungen könnte kaum besser beschrieben werden, geht es doch dabei genau um die Frage, ob man dieses Zusammentreffen mit einer anderen Person nun persönlich nehmen soll oder nicht – und der Roman erweitert diese Frage dann um das Problem des Vertrauens in die Kraft, die in der beschriebenen Steigerung des eigenen Lebens im Spiegel des geliebten Anderen beschlossen liegen soll. ›Muss ich das jetzt persönlich nehmen?‹ Vor der langen Szene (Seiten 179–196) der ersten ›richtigen‹ Begegnung von Nele und Christian auf Jakobs Geburtstagsparty, mit der allerdings auch noch nicht der Anfang ihrer Liebe markiert ist, treffen sich beide bereits zwei Mal.40 Es sind kurze ›Treffen‹ im ganz körperlich wörtlichen Sinne: Erst stößt Nele Christian vor einem Club mit dem Ellbogen, dann Christian Nele mit Jakobs Bürotür. Sie reagieren bei diesen Gelegenheiten jeweils angemessen unpersönlich, mehr oder weniger genervt, aber nicht näher belangt. Das dritte Treffen umkreist nun permanent die Frage, ob man die Begegnung nun persönlich nehmen müsse – nicht umsonst beginnt es mit dem Wort »Familie«. Peltzer ersetzt in diesem Dialog den verloren gegangenen allgemeinen Code der Galanterie durch den Partialcode einer popkulturell-linksalternativen Szene, unter dessen Oberfläche er – und das ist die Pointe – jedoch konsequent die Frage nach der Sichtbarkeit und Sagbarkeit einzieht, die für den Roman auf der doppelten Bedeutungsebene der ›persönlichen Daten‹ zum Kernthema wird: einerseits geht es um die Liebe
39 Luhmann: Liebe als Passion, S. 205. 40 Zu Struktur und Inhalt des Romans: Verwoben mit der Geschichte von Christian und Nele, die sie von Berlin nach Paris bringt, führt Teil der Lösung vier Erzählstränge durch das Setting des Jahrhundertsommers 2003. Da ist zum einen die Beziehung Christians zum Universitätsdozenten Jakob und dessen Familie sowie zum gemeinsamen alten Freund Martin, zum anderen die Kontakte Neles zu Holger und der autonomen linken Szene, womit sich des Weiteren der Strang der Recherchen der Polizei bzw. des Verfassungsschutzes (Personen Seidenhut, Damm, Witzke) verbindet. Schließlich, ebenfalls über Nele, die Szenen mit dem Schauspieler Walter Zechbauer.
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zwischen zwei Menschen, andererseits um die Sensibilität der Daten in einem weiten politisch-rechtlichen Rahmen. Das Gespräch beginnt wie erwähnt mit dem Wort »Familie«: Christian erschreckt mit ihm Nele, die sich über Familienfotos von Jakob auf einer Kommode gebeugt hat, sie fährt hoch. Sofort laufen die Deutungsmaschinen los: »Ein Schreck, Erstaunen, auch Empörung spiegelt sich zu gleichen Teilen in ihrer Miene, da hat sich einer angeschlichen.« (TL 179) Christian legt mit dem Satz »Man wird sie nicht los. Eine echt zähe Masse« nach und versucht wieder, das Gesehene bzw. Sichtbare zu verstehen: »Man sah es förmlich hinter ihrer Stirn ticken, ein Ansturm von Gedanken, die sich widersprachen. « Der folgende Dialog, der zum zweiten rahmenden Schlüsselbegriff »Erfolg« führt (erneut Christian wirft ihn ein), ist immer wieder unterbrochen von optischen Reizen, kleinen Beobachtungen: »Sie trank einen Schluck Bier, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ« (TL 180); »Dann sah sie ihn wieder an, abrupt, übergangslos, ohne Vorwarnung« (TL 181); »Ihre Blicke trafen sich wieder, wieder aus heiterem Himmel«; »Sie sah ihn herausfordernd an.« (TL 182) Die Szenerie des ›Boy meets Girl‹ ist bis hierhin recht klassisch geschlechtlich kodiert: Mann spricht mehr, Frau spricht wenig und schaut viel, Mann versucht zwischen den Zeilen im Gesicht der Frau zu lesen. Nele führt kurz darauf den dritten Schlüsselbegriff ein, »Glück«, und definiert es als »Außenseite eines Gefüges, das die Menschen eisern im Griff hat.« (TL 183) Christian, in diesen postmodernen Diskursen wissentlich hoffnungslos unterlegen, antwortet nur: »Es gibt keine Außenseite« (TL 184) und öffnet so – nolens volens – die Tür für die Verständigung über das eigentliche Problem: [Christian:] »Verstehen. Nachvollziehen. Sich in die Logik eines Gedankens katapultieren.« »Ist nicht schwer«, sagte sie leise, beinahe zärtlich und schaute Christian mit geneigtem Kopf an. »Man muss sich nur ein bisschen Mühe geben.« […] [Christian:] »Wenn es so einfach ist.« [Nele:] »Eine Sache des Wollens. Bereitschaft zur Analyse. Entweder nimmst du die Welt, wie sie sich darbietet, oder als Folge von Ereignissen, die Ursachen haben. […]« (TL 185)
Als hätte diese Offenlegung, die Nele zugleich als den klügeren Kopf positioniert, eine Affizierung zur Folge, fällt Christian Sekunden später in eine Entrückung, die ihn vom konkreten Ort entfernt: »Parallelsysteme ohne Übergang, die Dichte der Tiefsee: Worte kommen verzögert an und Blicke ohne Ende. Du stierst, dachte Christian in einem klaren Moment – aber sie auch, ganz unverblümt.« (TL 186) Würden die beiden Protagonisten die Welt so nehmen können, »wie sie sich darbietet«, at face value, dann könnten sie sich jetzt küssen, wie in
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einem Liebesfilm aus Hollywood, und die soziale Welt punktuell als das Andere sehen. Aber da es ihnen (und dem Autor) um Folgen geht, um Ursachen, um Fragen der Repräsentation des Komplexen, um ihre Richtigkeit und Stimmigkeit, kehren beide aus der Epiphanie schnell in das diskursive Geflecht aus Familie, Erfolg und Glück zurück und unterhalten sich über Monologe mit sich selbst, das Zwiegespräch mit den eigenen Gedanken. Wenig später wird Christian durch das Auftauchen des potenziellen Brigate Rosse-Kontaktmannes Brenner abgelenkt, Nele lernt Christians Ex-Affäre kennen und fährt dann ohne Abschied nach Hause – Christian kann sie nicht mehr einholen. Der Abend endet mit einem Versprechen, der Möglichkeit eines Anfangs. Eine ›richtige‹ Liebesgeschichte Die von Peltzer etablierte Erzählsituation wird nun noch dadurch verdichtet, dass er über die Para-Texte Titel und Klappentext den Erwartungsdruck des Lesers auf die geschilderte Doppeldeutung des Persönlichen und des Politischen erhöht. Ähnlich wie der acht Jahre zuvor von Peltzer gewählte Romantitel »Alle oder keiner« (in Anführungszeichen) ruft auch Teil der Lösung ein dichotomisches Wahrnehmungsschema auf, dessen Interpellationskraft moralisch kodiert ist: Intuitiv möchte niemand innerhalb der kognitiv sofort ergänzten sprichwörtlichen Alternative, die zwar nicht im Text, dafür aber im Klappentext prominent genannt wird, ein Teil des Problems sein. Das geflügelte Wort geht auf ein Zitat des RAF-Terroristen Holger Meins aus dem Jahr 1974 zurück. Unter dem Titel »Der Mensch als Waffe« hatte er in einem Brief an den Mithäftling Grashoff geschrieben: »[E]ntweder Teil des Problems oder Teil der Lösung. Dazwischen gibt es nichts.«41 Durch die Teilgeschichten wird diese radikalisierte Alternative zwischen Links und Rechts, Emanzipation und Oppression, Tätigsein und Konsumidiotie als Konflikt zwischen Globalisierungskritik und Systemaffirmation bzw. Post-9/11-Sicherheitsapparat aktualisiert. Die interessante Operation, die Teil der Lösung im Hinblick auf die Liebesgeschichte, um die herum sich alle Erzählstränge anordnen, vornimmt, ist die Kontrastierung einer latenten melodramatischen Erwartung42 mit einer textuell
41 Zitiert nach Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985, S. 290. 42 Peter Brooks deutet das Melodram als modernes Säkularisat der Tragödie, das als kultureller Modus einzig dazu dient, die moralisch-manichäischen Positionen von Gut und Böse nach dem »Tod Gottes« sichtbar zu machen, vgl. Peter Brooks, »Die melodramatische Imagination« [1972], in: Christian Cargnelli/Michael Palm (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum melodramatischen Film, Wien 1994, S.
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durchgeführten Entdramatisierung durch Perzeptionscollagen. Besonders ist an dieser Liebe, und das gilt pars pro toto für den Roman insgesamt, nicht die Evokation von starken Gefühlen, sondern die konsequente Beobachtung von Gefühlen und der kollektiven Arbeit an ihrer Semantisierung, die auf soziale Zusammenhänge im Allgemeinen und auf etwas wie Nähe, Zärtlichkeit und schließlich Vertrauen im Besonderen verweisen. Das Politische ist nicht die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Glücks, sondern die Schwierigkeit seiner angemessenen Beschreibung. Das gilt für die Figuren wie für ihre Darstellung gleichermaßen, wobei sich die Ebenen unterscheiden.43 Die Leser sind durch den Klappentext (»atemberaubende Liebesgeschichte«) auf ein Ereignis und auf emotionale Verquickungen vorbereitet, die allerdings erst ab Seite 180 langsam beginnen – etwas spät für eine ›richtige‹ Liebesgeschichte, aber das ist ja genau der Punkt der angemessenen Beschreibung: Sie muss ›richtig‹ im Sinne von Stimmigkeit und Haltung, nicht aber (gänzlich) im Genre-Sinne sein. Die Hauptfiguren Nele und Christian werden eigentlich als Menschen gezeigt, die genug damit zu tun haben, sich in einem Alltag bzw. einer Lebenswelt stabil zu bewegen: Nele als begabte Studentin mit dem Background einer Jugend in der ehemaligen DDR, Christian als Möchtegern-Linker auf dem geraden Weg in eine hippe Altersarmut im Prenzlauer Berg. Dabei befragen sie sich permanent selbst und sind insofern, wie Hackers Protagonisten, Verkörperungen der »Generation Golf« und ihrer Kernkompetenz, der elaborierten Selbstbeschreibung.44 Auf das Ereignis Liebe scheinen beide nicht richtig
36-63; George W. Bush junior und seine Parole »Or you’re with us or with the Terrorists« ist in diesem Sinne zutiefst melodramatisch, vgl. hierzu Anker: »Villains, Victims, and Heroes. Melodrama, Media, and September 11.« 43 Vgl. zu systematischen Überlegungen zum Verhältnis von produktions-, text-, rezeptions- und kontextbezogener Ebene: Winko: Kodierte Gefühle, S. 34ff; vgl. auch: Nadine van Holt/Norbert Groeben: »Emotionales Erleben beim Lesen und die Rolle textsowie leserseitiger Faktoren«, in: Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinierte Perspektiven auf Literatur, Paderborn 2006, S. 111-130, hier S. 119-126. 44 Kaspar Maase: »Selbstbeschreibung statt Aufbruch. Anmerkungen zur postheroischen Generationsbildung«, in: Mittelweg 36 12 (2003), S. 69–78. Ein Unterschied zwischen Illies und dem Paar aus Teil der Lösung besteht freilich in den semantischen Katalogen, die sie zur Selbstbeobachtung aufrufen: Ist es bei Illies der Mainstream der in den 1980er Jahren einschlägig werdenden Marken (›Golf‹), so sind es bei Nele und Christian eher ›dissidente‹ Diskurse aus linker Theorie, Musik und Popkultur – zugespitzt formuliert: die Enzyklopädien der tageszeitung und nicht die der FAZ. Vgl. zur Poeto-
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vorbereitet zu sein – umso mehr wird es eine innerdiegetische Frage der Rahmung, der Paar-Geschichte, die sich mit der Leseerwartung spannungsvoll verbindet. Peltzers Führung der Erzählstränge hat nun bis zur Begegnung von Nele und Christian alle Vorbereitungen getroffen, um die – für die Figuren überraschende, vom Leser schon lange erwartete – »Sprache der Liebe« (Barthes) und Vertraulichkeit als einen zu inkriminierenden Wunsch nach unbeobachteter Zweisamkeit zu positionieren: Der Verfassungsschutz in Gestalt von Eberhard Seidenhut (Chef), Oliver Damm (Datenkombinierer), Klaus Witzke (klassischer Observierer), Andreas Klosters (Mittelsmann) und Gerd Berghain (»Groß Beh«, Informatiker) ist an der Gruppe dran (TL 104-110), zu der auch Nele am Rand gehört. Das Motto, mit dem Verfassungsschützer Witzke deren Aktivität anstacheln und so in die sanktionierbare Illegalität führen will, könnte dabei auch als DateRatgeber funktionieren: »Ihnen etwas vorschlagen, das sie beschäftigt. Das ihre Phantasie nicht mehr loslässt, weil es so folgerichtig erscheint.« (TL 141) Peltzers Verfahren besteht darin, die fiktionale Logik von Figuren in die Grammatik der Jetztzeit, in den ubiquitären Modus der Überwachung zu übersetzen, indem sich in bzw. an den Figuren diese Komplettkontrolle als dauerhafte (Selbst-)Beobachtung artikuliert. Jenseits der Süffisanz pseudowitziger Statements über Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit45 geht es um die reflexive Semantisierung des Innenlebens: Gefühle, die nicht einfach da sind oder sich sicher einstellen, sondern die aus dem endlosen Fluss der Wahrnehmungen herausgeschnitten, benannt, verstanden und geordnet werden müssen. In Anknüpfung an Probleme der »Codierung von Intimität« politisiert Peltzer die seit dem 18. Jahrhundert notwendige Hermeneutik am geliebten Gegenüber, wenn er die Frage nach der Wahrnehmung als ›persönlich‹ bzw. ›als Liebe‹ mit dem Problem der De-/Codierung des Persönlichen in der politisch motivierten Überwachung verknüpft.46 Er kann so die politische Dimension der intimen Kommunikation hervorheben und für die Erzählung fruchtbar machen: Peltzers Poetisierung des Überwachungsmodus in der permanenten Gefühlsbeobachtung und reflexiven Einordnung in das Figurenleben lässt sich als Bogen zur Thematik der Sagbarkeit und
logie dieser Vertextung von Marken und Popkultur: Moritz Baßler: Der deutsche PopRoman. Die neuen Archivisten. München 2002. Für den Hinweis auf den Unterschied danke ich Paul Fleming. 45 Film von Marc Rothemund aus dem Jahr 1998, u.a. mit dem späteren OscarPreisträger Christoph Waltz. 46 Für Anregungen zu diesem Punkt danke ich Christian Metz.
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Sichtbarkeit moderner Identität interpretieren, wenn er das zu kartographierende Innen mit der Kontrolle des Außen durch Bildregime verknüpft.47 Alle Bilder der Überwachungsgesellschaften sagen noch nichts über das, was sichtbar werden kann – dieses abgebildete Außen muss in seiner operativen Visualität ebenso gedeutet werden wie das Innere. Diese Logik der Überwachung hat Ulrich Peltzer in den beiden rahmenden Kapiteln »Sony Center« und »Belleville« ausgestellt. Über Repräsentation Der Roman wird von einem Prolog und einer Art Epilog gerahmt. Während »Sony Center« (Seiten 7–20) deutlich expositorischen Charakter hat und das Grundmotiv einer als ubiquitär dargestellten Überwachung einführt, hat »Belleville« (447–456) auch eine einfache narrative Funktion, indem der Abschnitt nicht zuletzt ein Happy End der Kerngeschichte entweder herbeiführen oder es versagen kann (bekanntlich endet der Text mit einem solchen). Bezieht man beide aufeinander – zwischen ihnen liegen die Teile I bis III –, dann tragen sie spiegelbildlich zur Profilierung des Problemzusammenhangs bei, der sich hinter dem Begriff »Überwachung« ›versteckt‹ und der den gesamten Roman prägt: Was ist Repräsentation? Das Berlin aus »Sony Center« ist reduziert auf das Areal im neuen Herzen der Hauptstadt, den Potsdamer Platz. Es ist das Negativbeispiel für zeitgenössische Urbanität heute: ein anonymisierter Stadtraum als riesige Konsumzone, steril und durchkontrolliert, mit stummer Einwilligung der Betroffenen in den Nexus von habitueller Konformität und ostentativem Kaufrausch. Es ist das nahezu perfekte Beispiel einer spätkapitalistischen Totalisierung von zusammenhangslosen Individuen durch die Pseudo-Freiheiten der Warenwelt.48 Zumindest gegen das Sicherheitsmodul dieser Logik, die komplette VideoÜberwachung auf Privatgrund, rebellieren die Camera Surveillance Players, die sich auf den Bildschirmen in verrauchten Sichträumen mit kleinen Einlagen bemerkbar machen, bis sie vom Sicherheitsdienst qua Hausrecht des Feldes verwiesen werden. Aber selbst das ist schon Routine: Man kennt sich, man spielt
47 Wie dies etwa auch der Filmemacher Christian Petzold unter dem genialen Titel Die Innere Sicherheit (2000) durchgeführt hat. 48 Vgl. für den Kontext Überwachung: Leon Hempel/Jörg Metelmann: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt/Main, S. 18.
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seine Rolle, Affirmation und Kritik, in schönem Wechsel, bis die Polizei kommt. No big deal. »Belleville« ist anders, verhält sich zu »Sony Center« wie eine Insel in Habermas’ »Lebenswelt« zu Luhmanns Systemdenken. Zwar werden die Leser ebenfalls Teil einer Marktsituation, jedoch einer markant differenzierten: In der Rue du Temple Straßenhändler vor Campingtischen mit Feuerzeugen, Zigaretten, Anhängern, Gürteln, Stapeln von Papiertaschentüchern. Boucherie Musulmane, ein brausendes Durcheinander von Autos und Mopeds auf dem Kopfsteinpflaster, Menschenmassen, die auf den schmalen Trottoirs von Geschäft zu Geschäft, von Angebot zu Angebot drängten. Er [Christian, der ein Geschenk für Nele sucht, JM] schwitzte, fand nichts. Billigen Goldschmuck, nachgemachte Markenwaren. Getrocknete Datteln aus Algerien. (TL 449)
Zwar findet auch in dem Café, in dem Christian nervös auf Nele wartet, laut Tafelaufschrift Kameraüberwachung statt (»Etablissement protégé par système de vidéo surveillance«)49, aber das ist als privater Raum des Glücksspiels (Rapido Live, »eine Art Bingo, anzukreuzende Zahlenfelder« (TL 440)) eben nicht der Ort, wo die gesellschaftliche Musik spielt – dieser ist, im Gegensatz zum Potsdamer Platz, öffentlich, die Straße. In punktgenauem Kontrast zu den anonymisierten Verkettungen von Konsum-Kontrollbildern aus »Sony Center« schildert »Belleville« das Marktgeschehen als Prozess einer sich optisch verwischende Menge: »Zuerst die Rue du Temple, dann systematisch alle Seitenstraßen, Sackgassen, Passagen, er sah auf den Stadtplan, blickte hoch – ein Getümmel von Fahrzeugen, Menschen, von Gesichtern, die ineinanderzufließen schienen. Das war wunderschön.« (TL 451, kursiv JM) »Sony Center« und »Belleville« repräsentieren zwei Arten von Stadtkultur, Konsummoderne und Markttradition. Beide Kulturen korrelieren mit Subjekttypen und Abbildungsregimen: zum einen das defragmentierte Kontrollsubjekt der Videoüberwachung als Bildkontinuum, zum anderen die amorph wirkende Masse als Realkontinuum. Letzteres scheint Nele mit ihren punktuellen DigitalAufnahmen in Einzelbilder zerschneiden zu wollen. Auch sie nimmt bei ihrem Gang durch das Viertel laufend Bilder auf: »Nele sah alles auf dem Display der Kamera, die sie in Brusthöhe leicht vor sich hingestreckt hielt. Auch beim Gehen, als folge sie den Bildern des kleinen Monitors, einer elektronischen Wegbeschreibung.« (TL 455) Auf ihrem Weg durch Belleville blickt sie nicht auf die
49 TL 440, kursiv im Text. Christian kann allerdings die Kameras nicht entdecken.
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Straße, sondern auf die Anzeige, und schaltet erst kurz vor dem Café, also kurz vor dem Ende des Romans im Showdown des Vertrauens, ab. Allerdings sind diese Aufnahmen eben ›nur‹ Einzelbilder, die die Frage aufwerfen, wie sie sich zu einem Ganzen zusammensetzen, zu einem Panorama, zu einer Einsicht formen lassen. Gegen dieses ›linke‹ Paradigma einer Sinnbildung von unten nach oben steht streng opponierend die rechts-konservative Kontrolllogik eines überwachten Gesellschaftsraum der potenziell verdächtigen Subjekte, in dem sich die Frage anders herum stellt: Wie lassen sich im Kontinuum der Bilder sinnvolle Einzelsituationen herausgreifen und bedeutsam machen (zur Prävention, zur Legitimation, zur Bestrafung)? Die beiden Repräsentationssysteme50 sind in ihren Problemverarbeitungen invers verbunden: einerseits das Kontextuieren des Besonderen in einem unbekannten/unbekannt gewordenen Allgemeinen; das Ausschneiden des Einzelnen aus dem opaken Ganzen andererseits. Peltzers literarische Modellierung dieser Gegenwartskonstellation hilft dabei auch zu verstehen, dass es sich bei der Kritik der gesellschaftlichen Kontrolle nicht so sehr um die Analyse einer »Rhetorik der Überwachung«51 handelt, sondern um die der Poetik derselben, die sich in der Narrativierung des Blicks niederschlägt und nach einer neuen Semantik sucht bzw. zunächst die vertraute Semantik in die Reflexionsschleife schickt. Diese dem Weltbild des Romans zugrunde liegenden Abbildungsformen bzw. Repräsentationsprobleme werfen auch ein Deutungsschlaglicht auf einige andere gesellschaftliche Konstellationen der Romanwelt. Da ist erstens die Frage, wie man heute eine soziale Bewegung denken kann. Im Erzählstrang um Holger und Nele, deren Gruppe sich am linken Globalisierungs-Protestrand mit Sachbeschädigungsakten und Radikalisierungspotenzial bewegt, kommt es nach der Eskalation von Zürich (dem Tod einer Demonstrantin) zu einem Wortwechsel über genau diese Frage:
50 Zwei mögliche Referenzpunkte für eine solche Unterteilung wären auf der einen Seite Ernesto Laclau, der die Demokratie essentiell als Bewegung der Emanzipation und Verknüpfung des Partikularen begreift, und auf der anderen Seite Nicholas Mirzoeffs These mit Thomas Carlyle, die das Visuelle (»visuality«) elementar mit der Machtpraxis des Feldherren korreliert, der auf dem Schlachtfeld den panoramatischen Überblick haben will; vgl. Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz, Wien 2002, S. 64; Nicholas Mirzoeff, »On Visuality«, in: Journal of Visual Culture 5/1 (2006), S. 53-79. 51 So Titel und zentrales Konzept des einflussreichen Sammelbandes von Thomas Y. Levin/Ursula Frohne/Peter Weibel (Hg.): [CTRL] Space. Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother, Cambridge, Mass., London 2002.
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[Nele:] »Ich habe keinen Begriff von Unmittelbarkeit, der falsch sein könnte, sondern einen sehr realistischen Begriff von dem, was nötig wäre, um überhaupt etwas in Bewegung zu bringen.« […] [Holger:] »In meinem Wortschatz fehlt das Volk.« [Nele:] »Repräsentation.« [Holger:] »Irrelevante Ausdrucksformen. « [Nele:] »Wer vertritt welche Interessen, wer erkennt, dass es noch etwas Sinnvolleres gibt als Glotze und Niedertracht.« (TL 391)
Dieses Problem der Mobilisierung verbindet sich zweitens über die Figur Nele, die in Zürich durch den Tod des Mädchens vor ihren Augen traumatisiert ist, mit der Frage nach dem Verhältnis von Geschichten (im Jetzt, mit tätigen Menschen) und Geschichte (der Niedertracht und des nötigen Aufbegehrens). Neles aufgestaute Selbstaggression, der Gewalt ›der Macht‹ etwas entgegensetzen zu wollen, dafür aber keine Mittel zu haben oder gutheißen zu können, äußert sich in ihrer Kritik an Christian, der nicht (mehr) handeln, sondern nur (noch) beschreiben will: [Nele:] »Leute, die etwas riskiert haben«, sagte sie ruhig. »Was riskierst Du denn, du und deinesgleichen?« [Christian:] »Ich weiß nicht, was ich riskieren sollte. Aber… ich ahne…« [Nele:] »Du ahnst was, ist ja schön.« [Christian:] »Es ist also verboten, jemanden zu interviewen?« [Nele:] »Wie… wie die ganzen Künstler, alles ein und dasselbe.« [Christian:] »Es ist also verboten…« [Nele:] »Nichts ist verboten«, schrie sie. »Ich verbiete niemandem etwas. « [Christian:] »Darauf läuft das hinaus, was du sagst. Bilderverbote, Darstellungsverbote, haben wir zur Genüge schon gehabt, danke.« (TL 435)
Christian, der Journalist und heimliche Romanschreiber, dessen Lebensform man wohl als »prekär« bezeichnen muss,52 ist fasziniert von der Geschichte des linken Widerstands im Italien der 1970er Jahren: Brigate Rosse, Splittergruppen, Negri, Fluchten nach Frankreich. In Paris will Christian über den Berliner Kontaktmann Carl Brenner, den Ex-Guerillero und Romanistikprofessor mit Sehnsucht nach Oderhaus-Idylle, Untergetauchte finden, die sich zur aktuellen politischen Situation 30 Jahre später interviewen lassen. Einfach so. Kein Aufruf zu nichts, einfach beschreiben, abbilden, eine Lage repräsentieren. Warum er das machen will, wird nie richtig klar. Er spricht kein Italienisch, seine eigene Protestgeschichte kulminiert mutmaßlich im Besuch eines The Clash-Konzerts mit 15, ansonsten schreibt er über Filme, Theater, Essen. Seine Motive bleiben letzt-
52 Sein Freund Jakob bringt es auf den Punkt: »Stimmt, dachte Jakob, du brauchst eine Wohnung, und zwar dringend. Eine nette Freundin statt dieser ewigen Geschichten, dazu für eine gewisse Zeit mal einen regulären Job, der dir ein festes Einkommen beschert. Längere Fristen.« (TL 93), kursiv im Text.
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lich so opak wie die von Nele,53 deren Faszination für Jean Paul und dekonstruktive Literaturwissenschaft (Christians bester Freund Jakob ist ihr Magisterbetreuer, so lernt sich das Paar kennen) nicht wirklich mit linkem Protestaktionismus zusammengeht (der das Paar nach den Vorfällen in Zürich auseinanderbringt; beide Unstimmigkeiten sind also narrativ folgenreich). Vor diesem erzählerischen Hintergrund wird dann auch die dritte Frage bedeutsam, die schon ausführlich kontextuiert wurde: Wie kann man Liebe als Zweisamkeit denken und beschreiben angesichts ausdifferenzierter individueller Gefühlskulturen? Das ist die ›private‹ Geschichte von Nele und Christian, die sich zwischen fehlendem Code, explosivem sexuellem Begehren und langsam wachsendem Vertrauen entwickeln muss – in Teilen gegen ihren Intellekt, in Teilen gegen seine Vorgeschichte mit Jakob, vor allem aber mit dem Schauspielerfreund Martin, der sich im Verlauf der Romanhandlung das Leben nimmt. Die Schilderung von Christians Befinden auf Martins Beerdigung verweist deutlich auf Emotionen als Zentralthema: »Wieder völlig in sich versunken, ein Kern von Erinnerungen und Gefühlen. Mit sich allein. Wie allein ist man?« (TL 419) Mit Peltzers Luhmann-Transformation ließe sich der Figur antworten: ›Sehr und immer, aber es gibt die Möglichkeit, sich dabei recht wohl zu fühlen im Horizont eines/einer anderen. Man muss sich nur aus dem Schneckenhaus herauszubewegen wissen‹ – um dann zu merken, dass man zugleich immer Teil einer großen Deutungsmaschine ist (mit wie beschrieben divergierenden Richtungen). Subjektivistische Gefühle, objektivierbare Perzeptionen: zu Peltzers Affektpoetik In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Ulrich Peltzer diese Spannung zwischen Persönlichem und Politischem im Hinblick auf Gefühle im Roman spezifiziert und damit auch die Ausführungen seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung (AM) ergänzt. Er verwahrt sich deutlich gegen jede Form von »subjektivistische[r] Gefühligkeit«, die den zentralen Charakter von Emotionen als sozial geteilten Erfahrungen ausblende. Stattdessen geht es ihm um die genaue Notation von Wahrnehmungen, da allein durch sie im Prozess des Lesens eine Dynamik der Verschiebung von vorgefassten Modellen möglich sei:
53 Und diese Einschätzung geht durchaus mit der Bewertung zusammen, dass die Figuren und ihr jeweiliges Milieu stimmig gezeichnet seien – nur eben nicht unbedingt in der Verbindung zweier Milieus, vgl. dazu Jung, »Zeitkörper, tätowiert«.
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Mir erscheinen Begriffe wie Empfindungsweisen, Affekte oder Perzepte angemessener, um zu beschreiben, was bei ästhetischer Wahrnehmung eigentlich passiert. Die Kunst ermöglicht Erkenntnisse, die ästhetisch vermittelt sind und diese Erkenntnisse sind andere als die wissenschaftlichen. Diese Erkenntnisse sind aber nicht eine rein subjektive Wahrnehmung, wie es mit dem Begriff des Gefühls impliziert wird.54
Deutlich nimmt Peltzer hier Elemente des oben erwähnten aktuellen AffektDenkens nach Deleuze (speziell aus »Was ist Philosophie?«) und auch der Theorie des Politischen von Jacques Rancière auf,55 für die – bei aller Differenz – die hegemoniale Kodierung von Empfindungs-, Fühl- und Denkweisen den wichtigsten Ansatzpunkt für philosophische und/als ästhetische Intervention darstellt.56 Zusammengehalten werden solche Schilderungen in Peltzers Roman wie erläutert durch ihre Einschreibung in das Narrativ der Überwachung, das je nach Objekt – die Figuren in ihren Selbstverhältnissen, die Apparatur, der staatlich bestallte Investigationsbetrieb – andere Praktiken hervorbringt. Mag dieses Verfahren der Wahrnehmungscollage, das in der adäquaten Anordnung der Perzepte eine ›richtige‹, durch Mischung der Vielstimmigkeit objektivierte Repräsentation der ›realen‹ Welt produziert, im Hinblick auf die intendierte Öffnung von sozialen Möglichkeitsräumen auch à jour sein, so bringt es doch in affektpoetischer, genauer: begehrenspolitischer Hinsicht ein Problem mit sich: Auf Perzepte lässt sich nicht wirklich eine Beziehung aufbauen – die Vieldeutigkeit des Außen beißt sich mit dem Wunsch der Eindeutigkeit des Innenlebens. Das genau ist der Spannungsbogen der Liebesgeschichte von Christian und Nele, die im Modus des ziselierten Selbstgesprächs keine tragfähige, und das heißt vertrauensvolle Beziehung etablieren können. Wie sich Nele ganz am Ende der Handlung selbst noch fragt: »Vertraust du mir? Soll ich dir denn vertrauen?« (TL 456) Die Dynamik des Romans entsteht so aus dem Versuch, die Opazität des überwachten Innenlebens mit der Transparenz des überwachten Außen abzuglei-
54 Vgl. Jesko Bender: »Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer?«, in: FAZ Online, 28.3.2011, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/imgespraech-ulrich-peltzer-warum-sind-gefuehle-nicht-das-wahre-herr-peltzer-1609221. html [abgerufen am 13.10.2013]. 55 Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien [2000], Berlin 2008. 56 Nele sucht das Haus von Deleuze am Boulevard Arago auf, um es zu aus mehreren Positionen zu fotografieren, »als wollte sie es später aus den Einzelbildern wieder zusammensetzen.« (TL 444)
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chen. Es geht auf Figurenebene darum, die Logik des Privaten mit der Logik des Politischen so zur Deckung zu bringen, dass man der für beide geltenden Praxis der Überwachung eine angemessene soziale und individuelle Haltung entgegenzubringen vermag. Dies geschieht vor dem Auge des Lesers, wie oben erläutert, in der mäandernden Schilderung einer allmählichen Verfertigung des starken Gefühls, das sich schließlich in einer Art Kleist’schem »Ach Christian« als tränenreicher Sprung in den Abgrund des Ungewissen (oder genauer: als Eintreten ins Café) manifestiert.57 Das durch den Titel suggerierte Melodram einer unmittelbar evidenten Positionierung des Selbst schiebt Peltzer durch die Technik der Perzeptionscollage immer weiter auf, ohne es ganz aus dem Blick und Erwartungsraum des Rezipienten zu entlassen. Ihm gelingt somit im Roman das Arrangement eines komplexen Gefühlsszenarios, das sogar noch ein wenig ausgefeilter ist als das im Interview genannte Projekt des Autors, das subjektivierte Gefühligkeit gegen objektivierende Perzeption in Stellung bringt. Denn natürlich haben Emotionen, also wie eingangs definiert »Gefühle mit Geschichte«, immer eine subjektive Erlebniskomponente, aber ebenso über ihre Historizität, Medienspezifik und Narrativität auch stets eine kollektive Dimension, über die sie streng genommen erst zu der Erfahrungshaltigkeit kommen – Erfahrung verstanden als reflektiertes Erleben –, die Ulrich Peltzer so wichtig ist. Hierin besteht ihre soziale Funktion. Gerade das Gefühl der Liebe, zumal im durch den Text selbst geschaffenen Kontext der Romantik (Neles Magisterthema), zeigt paradigmatisch, wie die gesellschaftliche Semantik einen Wahrnehmungsraum allererst öffnet und anschlussfähig macht: Christians emphatische Schilderung von Neles Lächeln funktioniert auch als Perzept, ja, viel mehr aber noch als Baustein einer Sprache der Liebe, die die Kommunikation auf zweisame Referenz hin zu kodieren begehrt. Gefühle als Oberbegriff umfassen zudem auch Stimmungen und Affekte, können also auch Passagen des Romans integrieren, die deutlich atmosphärischen Gehalt (die Akademiker-Party, der Gang durch Belleville) haben, punktuelle Sensationen (Martins Panik, die Angst um ihn) ausstellen oder eben die Schleifen der Wahrnehmung und des Empfindens abbilden. Das Besondere dieses Buchs bestünde in einer affektpoetischen Lektüre also darin, das Ganze wirklich als Summe seiner pluralen Gefühlsteile zu konzipieren und das berühmte »mehr« statt in eine lineare Love Story in die Rezeptionserfahrung der Leserinnen und Leser zu schieben – also die Dramaturgie der literarischen Emotionen
57 »Nele wischte sich die Tränen von den Wangen und atmete laut ein und aus, fast ein Stöhnen. Ach Christian. Dann ging sie hinein.« (TL 456) Eine andere Assoziation, die sich durch das Fenster-Setting einstellt, ist das ›Klopstock‹ aus Goethes Werther.
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konsequent auf die Ebenen Text (Figuren: Nele, Christian et al.), Rezeption (Leseerwartung: Melodram) und Kontext (Rezeptionsstimmungen: Nach 9/11) zu verteilen und dabei eine eigene Lektüre-Stimmung zu evozieren, die mehr über die Beobachtungs- als über die Identifikationsschiene funktioniert.58 Wenn Literatur, wie Peltzer im FAZ-Interview bekundet, emphatisch sein und sich gegen die Vereinnahmung sowohl durch das Wissen aus Theorie, Wissenschaft und Politik als auch gegen die Gleichsetzung mit dem Lebensvollzug wehren müsse, dann wäre das Modell von Teil der Lösung als das einer »Flucht«59 zu bezeichnen, das die ästhetischen Gegenwelten im kritischen Dialog mit den ausdifferenzierten Lebensumwelten hält, sie auf ihr Wirkungspotenzial ›da draußen‹ hin befragt. »Ich ließ meinen inneren Bildschirm leerlaufen.« Diese Poetologie im Namen einer Politik des Ästhetischen lässt sich mit dem letzten Satz des als Motto zitierten Tagebucheintrags von Rolf Dieter Brinkmann umschreiben: Es geht darum, sich von den inneren Bildern nicht gefangen nehmen, sich den Entwurf des Selbst von ihnen nicht determinieren und die individuellen Handlungsoptionen »gegen dieses Sterben« nicht reduzieren zu lassen – die Bilder auf diesem Subjekt-Schirm laufen ins Leere (sind aber trotzdem da), weil ich sie anders verbinde. In Teil der Lösung kommt das Verfahren auf Artefakt-Ebene zur Anwendung: So wie es bei Brinkmann um einen »Romananfang« geht, so stellt Ulrich Peltzer seinen Wunsch einer gesellschaftlichen Interventi-
58 Dies ließe sich als »Artefakt«-Emotion beschreiben, vgl. E. S. Tan/Nico H. Frijda: »Sentiment in Film Viewing«, in: Carl Plantinga/Greg M. Smith (Hg.): Passionate Views. Film, Cognition and Emotion, Baltimore/London 1999, S. 48-64, hier S. 48. Die Unterscheidung zwischen »Artefakt-« und »Fiktions-Emotionen« beruht auf Tans Modell des Rezipienten als Beobachter, der »witness-emotions« hat, vgl. E. S. Tan: »Film induced affect as a witness emotion«, in: Poetics 23/1-2 (1995), S. 7-23. 59 Klinger unterscheidet drei Wege, mit der Kontingenz des modernen Subjekts (als Resultat von Temporalisierung, Pluralisierung und Relativierung) umzugehen: die Optionen »der Auflösung der Subjektivität, der Ausbildung einer spezifisch ästhetischen Subjektivität und der Erlösung von der Subjektivität in höherer Substanzialität«, die sich mit den Kurzformeln »Revolte«, »Flucht« und »Trost« umschreiben lassen (Cornelia Klinger: Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten. München 1995, hier S. 133, kursiv im Text).
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on60 in den Rahmen einer fiktionalen Romanwelt, in der die (Alb-)Träume des inneren Bildschirms mit der Projektion einer Rebellion aus dem Geist der 1970er Jahre (Christians fixe Idee ist ja zugleich der Videos und Bilder beschreibende Text von Teil der Lösung) (TL 21-38) und mit den Realitäten der äußeren Überwachungsbildschirme verbunden werden. Mit dieser Konzeption ist Peltzer ein großer Wurf gelungen – der allerdings schon sechs Jahre nach Erscheinen überholt, wie ein Stück Geschichte scheint: Ja, ja, die guten alten Kämpfe gegen die Kameras, die die öffentlichen Bordsteine nicht filmen dürfen. In Zeiten von unfassbaren NSA-Informationsattacken und des verzweifelten Festhaltens an der Materialität und Sichtbarkeit von Merkels Handy wird immer deutlicher, dass der westlichen Kultur die Mittel für den adäquaten Umgang mit der Zahlenwelt des digitalen Universums fehlen: »Geschichten, für die es keine Bilder gibt, hören eines Tages auf, Geschichten zu sein. Sie gerinnen zu kalten, harten Tatsachen. Und irgendwann lassen sie sich auch nicht mehr umschreiben.«61 Doch natürlich gibt es, so wie das Problem der Datenbanken auch im Videoüberwachungsdiskurs immer gegenwärtig war,62 das Gesicht hinter den Bildern, den Mann der Zahlen und Algorithmen auch schon in Teil der Lösung. Er trägt den bezeichnenden Namen »Groß Beh« und ist derjenige, der den Code der Gruppe knackt und ihre Klarnamen und Adressen ausfindig macht: Es war für ihn eine Frage des Ehrgeizes gewesen, wenn man will, reizte ihn auch die wissenschaftliche Herausforderung. Zu hacken, was es zu hacken gibt, ohne eine Fährte zu hinterlassen, elektronische Fußspuren, die zu seinem Computer im Amt zurückführten. Was fatal wäre, ihm aber nicht passieren würde, dessen war er sich sicher, und darin bestand die Wissenschaft. (TL 334)
Nach getaner Arbeit isst er die letzten, kalt gewordenen Pommes und bringt seinem Chef die Liste, verabredet sich mit ihm zu Getränken am folgenden Abend. Immerhin noch ein Bild, nur ein klein wenig Klischee. Wie aber fühlen sich die
60 Vgl. Peltzer im Gespräch mit Bender: »In meine Arbeit, aber vielleicht auch in die Arbeit des Künstlers im Allgemeinen, ist es eingeschrieben – ob er will oder nicht –, an der Veränderung, am Unmöglichmachen der Verhältnisse zu arbeiten.« 61 Tobias Kniebe: »Die wahre Geschichte des Codes«, in: Süddeutsche Zeitung, 26./27.10.2013, S. 13. 62 Vgl. Wolfgang Ernst: »Hinter der Kamera. Speichern und Erkennen«, in: Leon Hempel/Jörg Metelmann (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt/Main 2005, S. 122-138.
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Daten ›da draußen‹ an?63 Die Daten, deren Kombination jedes erdenkliche Wissen über uns generieren kann? Reine Spekulation: Vielleicht tauchen, um an den Anfang dieses Textes zurückzukehren, in irgendeiner Form die Listen wieder auf, mittels derer die Rhetorik die Affekte zu ordnen verstand – Kräfte, die man nicht verstehen und bändigen, sondern nur in Systemen domestizieren konnte. Man wird vielleicht wieder Techniken (techne) gebrauchen, ist aber, anders als zum Beispiel Brinkmann, emotional völlig distanziert. Denn in der Welt der digitalen Daten und programmierten Algorithmen64 wird nicht mehr erzählt, sondern nur noch (auf-)gezählt.
63 Eine ähnliche Frage stellen z.B. Markus Lange und Christian von Scheve: »Wie fühlen sich Zahlungsversprechen an? Impressionen aus den digitalen Emotionsratgebern der Finanzbranche«, in: Jörg Metelmann/Timon Beyes (Hg.): Die Macht der Gefühle. Emotionen in Management, Organisation und Kultur, Berlin 2012, S. 67-85. 64 Die so vorgenommenen mathematischen Verkettungen werden natürlich wiederum gerahmt und in (politische) Narrative eingepasst – man denke im Überwachungskontext an Donald Rumsfeld und seine Überlegungen zu »connecting the dots«, »known unknowns« und »unknown unknowns«. Ich würde den Unterschied darin sehen, dass das Subjekt im Algorithmus/Profiling nicht mehr narrativ entsteht, sondern als Datenbündel (»aufgezählt«) dann in ein Schema eingepasst wird, das – so sollte der Verweis auf die Rhetorik andeuten – den gefühlsethischen Wert des Datenpakets bereits schon (zu-)geordnet hat. Für den Hinweis auf Rumsfeld danke ich Paul Fleming.
Entscheide Dich! Oder: Finito la musica! K ATHRIN R ÖGGLA
»Es würde noch was geschehen hier, das lag für mich in der Luft« – beginnt Ulrich Peltzers Roman »Alle oder keiner«, ein straighter Beginn, werden Sie sagen, und doch weiß nur ich, was er wirklich bedeutet. D.h. was dieser Satz dem Autor bedeutet hat. Das macht meine seltsame Funktion als Mitläuferin seiner Schreibprozesse, als Quasi-Bürogenossin, dass ich beispielsweise mitunter weiß, was ihn erste Sätze kosten. Und das, was danach kommt. Ich kenne mich sozusagen damit aus. Der Schreibrhythmus, die Schreibgeschwindigkeit während des ersten Kapitels, epische und ewige Zeit, die Schreibgeschwindigkeit während des zweiten, ewige und nervenaufreibende Zeit, des dritten, der Druck wird größer – und des vierten: Hier kommt Rasanz ins Spiel, jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Meist ist das so. Und das hat auch etwas mit den Anfängen zu tun. »Es würde noch was geschehen hier, das lag für mich in der Luft« – beginnt also Peltzers Roman »Alle oder keiner«, was ein klein wenig ungewöhnlich ist, weil seine Bücher oft mit Beschreibungen anfangen, statische visuelle Situationen, die sich auflösen, dynamisieren, als müssten sie zuerst das Bild beschwören, ein Tableau, eine gefrorene Szene. So eröffnet Stefan Martinez mit der Beschreibung des Rauschenberg-Bildes, in Teil der Lösung findet die ganze Eingangssequenz vor den Überwachungsbildschirmen des Sony Center statt, Bryant Park löst sich beinahe unwillig von dem Platz vor der Public Library, als wollte Peltzer weniger den Figuren als der Szene den Vortritt geben. Ein Geschehen wird beobachtet, ein Bild betrachtet und reflektiert, ein städtischer Raum vorgestellt, in dem sich mediale und Stadtraumwahrnehmung vermischen wie in Bryant Park, wo sich das beobachtete Stadtgeschehen durch die vorbeifahrenden Ambulanzfahrzeuge mit einem Mal auf die Geschichte von dem umgestürzten Gerüst und den dadurch ums Leben gekommenen Rentnern im Seniorenwohnheim irgendwo in der 36. Straße fokussiert.
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Eine gespannte, vibrierende, oft überpersonale oder gerade noch an der Hauptfigur irgendwie lose angebundene Wahrnehmung. Selbst in »Alle oder keiner« ist der Betrachter merkwürdig losgelöst und doch Teil dieser Szene. Ein drifter, kein Flaneur, jemand, der sich durch die Stadt treiben lässt, im summer in the city oder auf permanent vacation, der versucht die Zeichen zu lesen, zusammenzufügen, die ihm ständig entgleiten, insofern geeignet als alter ego oder Cicerone, der uns mit auf die Reise nimmt durch dieses unwägbare Gelände konkreter städtischer Erfahrung, dieses Netzwerk aus gegenwärtigen Eindrücken, vergangener Geschichten, subtiler Momente. Scheinbar funktionslos meistens, auf den ersten Blick mehr durch seine Wahrnehmung und seine Streifzüge durch den städtischen Raum mit dem Gesellschaftlichen verbunden als durch seine Arbeit. Kein Held der Arbeit, kein Geschäftsführer eines großen Unternehmens, kein Revolutionär im klassischen Sinn, nicht umsonst hieß Peltzers erstes Buch Die Sünden der Faulheit. Nein, seine Protagonisten sind Menschen mit Jobs: Filmvorführer, Drogenkuriere, Geschäftemacher, Radiomoderatoren, Restaurantkritiker, Aushilfsstatiker, und wenn doch, wie die Hauptfigur in »Alle oder keiner« ein Psychologe, dann als kurzfristig Beschäftigter, Auszubildender in einem Institut für forensische Psychologie, oder als Wissenschaftler prekarisiert tätig wie in Teil der Lösung, angewiesen auf Nebenjobs, die mit dem eigentlichen Thema, den Brigate Rosse und ihrer Nachgeschichte nun wirklich nicht viel zu tun haben. Keine Gewinner, Siegertypen, sondern Verwandte des potentiellen Lesers mit Müdigkeiten, Kopfschmerzen und diesen flatterhaften Euphorien, die allzu schnell in Melancholien umschlagen können. Eben romantische Figuren im besten Sinne. Vorläufige. Melancholiker, Subjekte mit Geschichte, die sich ihnen nie als Kontinuum darstellt, sondern bruchstückhaft, unterworfen einer Gewalt, die als Geschichtssturm den glücklosen Angelus Novus von Walter Benjamin nach hinten treibt, auch wenn in Peltzers Literatur die messianische Seite irgendwie zu fehlen scheint, die Utopie nur noch als verspiegelter Rest, als trügerische Reflexion in irgendwelchen Kästchen, Wasserflächen, neapolitanischen Strandsequenzen, kurzen Berührungen, kleinen Gesten sich wiederfindet. Es würde noch was geschehen. Aber was kann denn heute überhaupt noch geschehen? Vor ein paar Jahren hätten wir gesagt, nichts, zumindest nicht in Europa, bzw. allenfalls Unternehmensfusionen: Befinden wir uns nicht in der Posthistoire, sind jene großen Konflikte des 20. Jahrhunderts nicht Schnee von gestern, ist jede Praxis des Widerstands (gegen was überhaupt?) nicht ausgeschlossen, weil es keinen Grund mehr gibt? Doch wie schnell sich das Blatt wenden kann, wissen wir in Europa seit 2008, Finanzkrisen, Schuldenkrisen, Eurokrisen, die zahlreiche Proteste hervorgerufen haben und jetzt eine gewaltige Demokra-
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tiekrise nach sich ziehen. Gut – alles irgendwie weit weg von uns, in ein mildes deutsches Blockupy-Licht getaucht, oder doch nicht? Was haben diese Prozesse beispielsweise mit der Gentrifizierung des städtischen Raums zu tun? Die vielleicht etwas weniger offensichtlichen Verbindungen der großen Krisen auf den Finanzmärkten, der Transfer von Kapital in den Immobilienbereich, die Kapitalfluchtbewegungen nach Deutschland schreiben ebenso Stadtgeschichte, wie die heute halb staatlichen, halb privaten Versuche, den daraus resultierenden Widerstandsbewegungen der Verdrängten, der Prekarisierten, Herr zu werden. VMänner werden in linke Gruppen eingeschleust, jede Menge Fiktionalisierungsenergie aufgebracht, um alle Risiken abzuschätzen, jede Bewegung im Vorhinein zu ahnen – denn Sicherheitsraum ist Fiktionsraum, wenn auch in einem etwas anderen Sinn, mehr als Vorgestelltes, Hineinversetztes, in Szenarien Denkendes, in den Dienst Genommenes. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Peltzers Figuren in einer Gegenbewegung immer wieder zu erstaunlichen Tätigkeiten finden. Z.B. lesen sie. Schon in seinem erstem Roman Die Sünden der Faulheit lesen sie, sie lesen Gaddis, Pynchon, sie versinken in Biographien (Trotzki, Elvis Presley, you name it!), starten Kontaktversuche ins Universum von Spinoza, Melville, Defoe, Faulkner, Joyce, Claude Simon, Rolf Dieter Brinkmann, der aber nur indirekt. »Keiner weiß mehr«. Oder sie gehen ganz einfach ins Kino, in Stefan Martinez und »Alle oder keiner« wandern sie durch Städte und sehen sich gar Dokumentarfilme an! Ich meine, das ist doch merkwürdig: Protagonisten, die wie wir lesen, die wie wir ins Kino gehen und nachdenken! Bryant Park ist gar vollends durchtränkt vom Kino, es hat mitten im Zentrum der Stadt Platz genommen, lässt seine Fiktionstentakel wie ein Gegenmonster durch die Stadt wandern, als wolle Peltzer den Realterror der politischen Alltagsrhetorik ein für allemal den Garaus bereiten. Als wolle er das Malraux-Zitat aus seiner Frankfurter Poetikvorlesung: »Der Künstler ist nicht jemand, der die Welt transkribiert – er ist ihr Rivale« (AM 73) ins Vielstimmige übersetzen, ins Unendliche aufdröseln, derartig werden Fiktionsräume und Realräume ineinander verschachtelt. Seine Protagonisten kommentieren einander, beobachten sich gegenseitig, halten es selten lange miteinander aus, sind lieber für sich, aber auch das ist nicht von Dauer. Sie sind jedenfalls wach und werden irgendwie immer wacher. Sie haben eine unheimliche Aufmerksamkeit für soziale Hierarchien, Gesten, kriegen alles mit, wie wir das eigentlich auch mitkriegen müssten. Sie sind gegenwärtig und doch von Vergangenheit durchdrungen, strahlen eine Art Hypergegenwärtigkeit aus.
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Man könnte natürlich auch behaupten, Peltzers Figuren versuchen sich einfach zu orientieren, wo dieses »Narrenschiff« unserer Tage, mal mit und mal ohne »Lob der Dummheit« unterwegs ist, und ob man nicht irgendwie doch abspringen könnte, runter kann, am besten mit der minima moralia bewaffnet – könnte man behaupten, vielleicht haben sie auch anderes vor? Klar ist, dass die meisten seiner Figuren wissen, dass sie dazu Theorie benötigen, dass es ohne Begriffe nicht ganz geht. Diesbezüglich hat sie ihr Autor gut erzogen. Durch meine seltsame schon erwähnte und an dieser Stelle unbedingt als ehrenwert zu bezeichnende Funktion als Mitläuferin von Peltzers Schreibprozessen – schließlich sind wir u.a. seit vielen Jahren nicht nur so was wie Bürogenossen, sondern auch Co-Kinogänger – weiß ich um seine monatelange Beschäftigung mit der einen oder anderen Stalinbiographie. Ich bin sozusagen Zeugin seiner Lektüren und Relektüren. »Ich muss mal wieder Pynchon lesen, ich muss mal Deleuze neu lesen, ich muss Gaddis mir nochmal vornehmen!«, hörte ich nicht selten Schwüre aus dem einen oder anderen Telefon – Schwüre, die er stets einhält. Und: Spinoza, Spinoza, Spinoza, der kurzsichtige Optiker aus Amsterdam, dessen Glücksbegriff ihn umtreibt, genauso wie die Pascalschen Gottesfragen, Vicos Geschichtskonzeption – Theorie ist ihm wesentlich, und als guter Katholik hat er da eben seine Heiligenfiguren. Unter ihnen befindet sich an oberster Stelle mit Sicherheit der französische Philosoph Gilles Deleuze, der über kommunizierende Röhren, Kritik und Aufklärung geschrieben hat, von Intensitäten spricht, von Rissen und Lücken, von der Diskontinuität des Zeitflusses, der man Herr werden möchte, aber nicht kann. Noch gut habe ich Peltzers arg malträtierte Ausgabe des Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari vor Augen, was heißt malträtiert, das Buch wurde da zum Kunstwerk, mit Überschreibungen, Fotobild und Zeichnungen, aus jener Zeit der Sponti-Kongresse, »in der ich«, so Peltzers irgendwie-doch-Alter-Ego Bernhard in »Alle oder keiner«, »als keiner der orthodoxen Parteienzugehöriger Ultra beschrieben werden müsste, spontaneistisches Element«. Peltzers Schreiben wuchs eben nicht nur neben einem Psychologie-, Philosophie- und kurzfristigen Mathematikstudium auf, sondern auch in einer Zeit, die politische Hegemonie in Frage zu stellen sich erlaubte, nicht nur im Inhalt, sondern auch in den Formen der Wissensbildung. Theorie ist ihm weder Herrschaftswissen, noch Bildungskanon, sie ist mehr Movens – Abstraktion, Durchdringung, Ansatz für einen Widerstand, Auseinandersetzung. Es findet sich bei ihm eine Weiterführung des Marx’schen Gedanken, dass Theorie und Praxis zusammengehören, allerdings auf undogmatischem, mikropolitischem Gelände, eine Wissenslandschaft, die im Ästhetischen verankert ist, ohne das Politische preis zu geben. Das Denken der Theoretiker thematisiert Peltzer folgerichtig
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stets im Kontext von deren sozialen und politischen Umständen, er weiß, dass man nicht zufällig das denkt, was man denkt – und doch ist er weit davon entfernt, ein plumper Determinist zu sein, »keine Struktur, …, die einen gefangen hält, sonst wären wir Laborratten, aber vielleicht sind wir welche«, so Bernhard in »Alle oder keiner«. Da ist ihm doch die Reflektion über Zufall und Kontingenz wesentlich, die sich wie ein roter Faden durch seine Bücher zieht. Wie kommt es, dass man genau an diesem Punkt steht, der einen in seiner Zwickmühle hält, und wie kann ich aus ihr wieder rauskommen? Jetzt mal: konkret! Aus seiner Poetikvorlesung Angefangen wird mitten drin erfahre ich, dass es die Entscheidung ist, die uns da helfen kann. »Entscheide dich!«, ist tatsächlich die stete Aufforderung in all seinen Büchern, auch wenn dies eine Unmöglichkeit darstellt, eine Verknotung der Verhältnisse nach sich zieht, Schuldenlasten einen begraben könnten. »Entscheide Dich!«, steht gleich nach der Aufforderung, sich erstmal einer Geschichte zu überlassen, denn das muss man auch können, gerade heute ist das vielleicht weitaus mehr zu erwähnen. Wer nimmt sich die Zeit, sich monatelang mit Proust einzuschließen?, fragt Peltzer in einer Rede saarländische Abiturienten: Oder für ein halbes Jahr nach Indien zu reisen, um zu meditieren? Überhaupt finden Reisen, im klassischen bürgerlichen und nachbürgerlichen Erfahrungssinn, nicht mehr statt. Heute verlaufen unsere Lebensläufe im strikten Rahmen einer Ich-AG, unterworfen gewissen Effizienz- und Ökonomiekriterien, die das, was in ihrer Logik nicht enthalten ist, ausschließen. Bzw. blind dafür sind. Das Allerverbotenste ist aber, Verluste zu machen. Da das lebenstechnisch unumgänglich ist, das Leben bekanntermaßen eine Anhäufung an Verlusten darstellt, befinden wir uns in einem ständigen Widerspruch, Konflikt mit dem eigenen inneren Imperativ: Sei erfolgreich, gleich, was Du machst. Es ist ja egal, womit, längst sind da die letzten moralischen Bastionen gefallen, selbst ein Waffenhändler wird in den Medien menschlich dargestellt, seine moralischen Probleme als persönlich, und er zu bedauern, dass er sich immer diesem andernorts stattfindenden medialen shitstorm zu stellen hat. Nur der Erfolg verspricht eine gewisse Sicherheit, ein Angekommensein. Kein Wunder, dass Peltzers Helden niemals angekommen sind, ob es sich um Beziehungen handelt oder um berufliche Prozesse, ja nicht einmal die Städte sind angekommen und stehen fest, von denen man dies nun wirklich verlangen könnte. Die Städte bewegen sich, haben gar ein Eigenleben, sind unwägbar, ein riesiger Ballungsraum sozialer Gesten, Schichten an Zeichen, Äußerungen, die sich bekämpfen, ergänzen, konterkarieren, ins Verhältnis setzen.
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Ulrich Peltzer hat als Schriftsteller eine beinahe dreißigjährige Geschichte hinter sich, in der er die kommunizierenden Röhren, die Transmissionsriemen zwischen Politik und Literatur, den Magnetismus zwischen ästhetischem und politischem Feld ausgelotet, untersucht, provoziert hat. Es liegt was Radikales in dieser Suche, auch wenn er durch seine Romantik und seine Poetik der Wahrnehmung niemals in einem Radikalismus landen würde, er begleitet Subjekte, einzelne Figuren, nicht Systeme. Es ist eine zutiefst menschliche Poetik, die aber sich jedes zu eng gefassten Humanismus, jeder sentimentalen Verkürzung enthebt. »Was heißt es, gut zu leben?«, ist die Frage, die ihn umtreibt, sie kommt harmlos daher, und wird unheimlich komplex, nahezu ein Fabeltier an Frage, wie kann der Umgang miteinander nicht von der Ausbeutung angetrieben sein, die den Takt unserer Gesellschaft ausmacht, und wenn doch: Welche Rechnungen gehen dabei nicht auf? Ja, Peltzers Helden müssen rechnen – Karrieren einkalkulieren, das steht ihnen nicht zur Verfügung – sie haben eher Geldsorgen, persönliche Unzulänglichkeiten, leiden unter Gedächtnisschwund und plötzlichen Erinnerungsanfällen, zumindest seit Stefan Martinez, ein Buch, das mich heute ein wenig traurig macht, nicht nur, weil ich jetzt in einem dem Autor der Fertigstellung ähnlicheren Alter bin als bei der Erstlektüre, sondern weil in ihm der Versuch gestartet wird, wie Peltzer in seiner Poetikvorlesung schreibt, »absurd vorläufig bleibende, immer vom Verschwinden bedrohte Wirklichkeit sich (wieder) anzueigenen«. Geschichte wird als ständiger Verlust thematisiert, Gegenwart als abstrus sich stets neu bildende Vorläufigkeit, den üblichen Irrsinn und kurzfristige Euphorien erzeugend. »Vielleicht sind die richtigen Fragen bedeutsamer als die im Nachhinein als verkürzt erkannten Antworten«, resümiert Peltzer seine eigene Entwicklung, wobei ihm nichts ferner steht, als im Rückblick auf seine Geschichte so etwas wie Sentimentalität oder gar Ressentiment aufkommen zu lassen. Es gibt kein menschliches Gefühl, das Ulrich Peltzer so sehr verachtet wie das Ressentiment: »Im übrigen das widerwärtigste aller negativen Gefühle, (das Ressentiment), das einen Menschen durch und durch vergiftet und ausgesprochen hässlich macht.« Man muss sich also gegen die Freuden der Gemütlichkeit, die Annehmlichkeit des Mitlaufens, des Sich-nicht-Querstellens, der Gewohnheit, Bequemlichkeit oder Resignation, wie er einmal schreibt, wappnen. Entscheide Dich für ein selbstbestimmtes Leben im Rahmen der gegenwärtigen Möglichkeiten, nicht voluntaristisch – was aus diesen Entscheidungen lange Prozesse macht, sie an unsere Situationen gemahnt, in denen oftmals die Protagonisten noch nicht einmal wissen, dass etwas auf eine Entscheidung hindrängt. Ein im Grunde radikal aufklärerischer Ansatz, der allerdings darum weiß, dass auch ein Knie mitdenken
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kann oder eine Leber. Oder dass umgekehrt Folter den sprachlichen Raum zerreißen kann, die Deutungssysteme implodieren lässt, was allerdings im Dienst und im Rahmen von den sehr strikten Deutungssystemen politischer Gewaltherrschaft geschieht. Peltzers Werk ist durchzogen mit Verweisen auf diese schwarze Geschichte der weltweiten Torturen: Chile, Argentinien, Spanien, das internationale Mittelalter, das immer noch gegenwärtig ist, seine Arbeit gleich neben dem gouvernmentalen Herrschaftssystem westlicher Provenienz verrichtet, das uns viel bekannter scheint. Mehr noch: Wir sehen dieser von Foucault beschriebenen Hegemonie heute mitten in die Augen, sie kommt uns mit Normierung, Statistik, Biopolitik bei, und macht uns mit technischen Überwachungssystemen, Testläufen und Hartz IV-Geschehen zu den prekären Individuen der europäischen Städte, die auch durch Peltzers Bücher laufen. »Sich selbst«, so heißt es in »Alle oder keiner«, »läßt man ungerne testen, immer enttäuscht von den Ergebnissen, die man so nicht erwartet hat, ein bezifferbarer Frontalzusammenstoß mit dem eigenen Größenwahn, man könnte es auch narzisstische Kränkung nennen«. Dies ist noch eine harmlose Auswirkung des Systems, unheimlicher schon ist die Nähe der beide Herrschaftsräume, man solle sich nicht täuschen: Das biopolitische Regime und das der körperlichen Gewalt liegen nicht weit auseinander, vergegenwärtigt Peltzer, es liegt lediglich eine dünne Schicht Eis zwischen ihnen, gewachsen in nur ein paar Jahrzehnten. Etwas, das wir stets bereit sind zu vergessen. Wir? Warum wir? Weil es ein sozial produziertes Vergessen ist, ein sprachlich hervorgebrachtes Verdrängen, ein rhetorisches Geschehen, mitten in der Programmatik der win-win-Systeme, der Austeritätspolitik und der publicprivate-partnership everywhere. Wir merken lange nicht, wie uns Enteignungsprozesse durchlaufen, und wenn doch, gelten wir erstmal als Radikale oder unsauber Denkende und dann vergessen wir es wieder. Aber vielleicht doch nicht alle? Teil der Lösung erschien 2008, in jenem besagten Jahr kurz vor der Lehmannpleite, es ist ein Buch, das von Protestformen mitten in unserer Merkelgeschaukelten Wohlstandsrepublik spricht, in der Ruhe wieder oberste Bürgerpflicht ist, und Gewinne privatisiert und Verluste vergesellschaftet werden, d.h. die Schere zwischen Armut und Reichtum stetig auseinandergeht. Peltzers Roman führt direkt aus dem wabernden Wir einer Deutschland AG raus, zeigt einen Weg aus dem Labyrinth der politischen Alltagsrhetorik, einer technokratischen Verlangsamung, straight vorbei an negativen Heldenfiguren, die heute stets Investmentbanker sein müssen, mitten ins Herz des Berlins der ewigen Jugendfestspiele, der Nachtvögel und Nachwuchsakademiker, der radikalen Nicht-einmal-
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mehr-Splittergruppen, die verschiedene Formen des Widerstands gegen die Repressionen dieses Umverteilungsregimes ausloten. Nur kurze Zeit danach war Peltzer zusammen als Drehbuchautor mit dem Filmemacher Christoph Hochhäusler unterwegs auf Recherchereise für den Film »Unter dir die Stadt« quer durch das Frankfurter Bankenmilieu, er sprach mit Brokern, mit eben jenen Investmentbankern, mit Lobbyisten. Das Bild, das wir von der Finanzwelt erhalten, ist ein anderes als das der gepflegt erschütterten Bürger mit Haifischseite, die bloß einer einzigen Lebenslüge, nämlich der des Geldes aufsitzen, einer Lüge, der mit ein wenig Moral beizukommen wäre. Es ist das Irreal-werden einer kompletten Lebenswelt, ein fundamentales Unverortetsein, die Gespenster einer Globalisierung, wie wir sie selten zu Gesicht bekommen. Waren seine Romane bis Bryant Park im Grunde Entwicklungsgeschichten, eine vielschichtige éducation sentimentale, so ist Unter dir die Stadt jenseits einer Entwicklungsmöglichkeit angekommen, es ist eher eine Retardierung, der verzweifelte, ja, unmöglich gewordene Versuch einer Rückentwicklung, Rückbindung. Ich fürchte, wäre ich Germanistin, würde ich insofern weniger Arbeiten wie Spielerfiguren – Über die Rolle des Kartenspiels und der Daddelautomaten in Peltzers Werk oder Drogenabusus, Karnevalsstruktur und wissenschaftliche Karriere schreiben als vielmehr Radikalismus und Autonomiebewegungen als gegenwärtige Praxis im Rahmen des Regulationsregimes in ›Teil der Lösung‹, uff, oder Biopolitik oder die Unfähigkeit zu arbeiten in ›Bryant Park‹ und ›Stefan Martinez‹ – aber keine Sorge, ich bin gottlob keine Germanistin, sondern nur allenfalls mal zu einer Laudatio oder mal zu einem auflockernden Beitrag gewunkene Kollegin, und wie gerne würde ich Peltzers romantische Aufmüpfigkeit übernehmen, mich aus seinem Wissensschatz bedienen, der ihm niemals Schatz ist, also Eigentum, Kapital, aber zunächst und vor allem müsste ich ihm Respekt wegen seines langem Atems zollen. Denn das muss man erst einmal hinkriegen, in diesen hyperwachen Schreibverfahren, in dieser Reflexionsspannung all die Schreibjahre auszuharren. Wie er das macht? Keine Ahnung, sagt die Bürogenossin, also wirklich nicht. Vielleicht klaut er ihn ein wenig? Immerhin liebt und liest Ulrich Peltzer hauptsächlich diejenigen Autoren, die am Romandelta wohnen, mäandernde Schriftsteller, denen man durch sämtliche Verästelungen folgen möchte, mit ebenso langem Atem Versehene, obsessive, sich komplett unter das Diktat der eigenen Aufgabe stellende, wie Wilhelm Gaddis. Gaddis ist genauso wenig wie Charles Simic ein Autor, dem man gerne unterstellt, ein politischer Autor zu sein, er hielt sich weit weg von Meinungshuberei, Feuilletonspezialistentum, das zu jedem tagespolitischen Thema etwas zu
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sagen hat, und doch ist JR eines der Werke, die Ulrich Peltzer lange beschäftigt haben, hochpolitisch, beschreibt es doch eine Reise in das Herz unseres Finanzkapitalismus als absurde Komödie. Auf die Frage, warum er schreibe, habe Gaddis gesagt, »damit ich was zu lesen habe, wenn ich alt bin«, dieses Zitat habe ich von Ulrich Peltzer das eine oder andere Mal gehört, der es meist in den Momenten mit großem Vergnügen anbringt, in denen er selbst sicher nicht über dieses schnoddrige Ego verfügt, oder manchmal, wenn er auf die leidige Dichotomie von Unterhaltung und intellektuellem Vergnügen angesprochen wird. »Ich unterhalte nicht – Finito la musica«, würde Peltzer Gaddis jetzt lachend übersetzen, und nichts davon könnte ich glauben. Aber zuerst müsste ich zum Ende meines Beitrags kommen und habe, Sie ahnen es bereits, Ihnen jede Menge vorenthalten, doch immerhin könnten Sie jetzt vermuten, dass es neben dem Romandelta-Peltzer, dem Kino-Peltzer, auch den documenta-Peltzer, den Rolf-Dieter-Brinkmann-Peltzer, der Mythos-desSisyphos-der-Fremde-Albert-Camus-Peltzer, den Peltzer mit seiner Bibliothek, den Stalin-Biographie-Peltzer, den Trotzki-Lenin-was-tun-Peltzer, aber-derKBW-kann-mir-den-Buckel-runterrutschen-Peltzer, Stadtindianer – BrigateRosse, Radio-Alice-Peltzer gibt, und alle diese Peltzers zusammengesetzt ergeben ein Buch nach dem anderen, so hoffe ich keine Maschinchen, sozusagen magische Werke, entsprungen dem ihm üblichen Schreiballtag: »Es würde noch was geschehen hier, das lag für mich in der Luft.«
Black Box Notes on Ulrich Peltzer and the Movies M ARTIN C HALMERS
1. »Wie wundersam war das langsame fortschreitend Durchscheinen des Bildes beim Polaroid! Genau dies fehlt dem Digitalen: die Zeit des In-ErscheinungTretens, ohne die das digitale Bild nur noch ein zufälliges Segment des universellen Verpixelung ist, die überhaupt nichts mehr zu tun hat mit dem Blick oder dem Spiel des Negativ und der Distanz.« (Jean Baudrillard: ›Warum ist nicht alles schon verschwunden?‹) 2. » – monsieur cavaliere, was sagen sie dazu? doch der ist schon im vorführraum, ist schon wieder mit anderen dingen beschäftigt, bedient jetzt die maschinen, die filmrollen kommen auf die unterschiedlichen teller, er fädelt den filmstreifen ein, wischt mit dem pinsel noch einmal über die maske und das objektiv, bewegt einen hebel nach oben. etwas rastet ein, der film ist eingespannt, er läßt ihn ein wenig einziehen, schaltet dann die maschine wieder ab, geht zum diaprojektor und macht den an – zuerst die werbe dias, dann die werbe spots und letztendlich: der film: so fängt ein kinoabend eben an. […] immer derselbe ablauf: stefan sitzt im vorführraum, lisa hinterm tresen, hatice oben vor dem eingang, jemand steht unten neben der bestuhlung …« (Kathrin Röggla: Irres Wetter) 3. One would not need to be a very close reader of Ulrich Peltzer’s novels to notice the importance of film and the cinema to the author; one might even guess that he had worked as a film projectionist, given the detailed descriptions of cinema projection rooms in Stefan Martinez and Bryant Park and also of the work of the projectionist in the former. Not only that, Ulrich Peltzer has collaborated on writing film scripts with the director Christoph Hochhäusler. They worked
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together on the feature films Unter Dir die Stadt (2010) and Die Lügen der Sieger (2014). Both are thrillers of a kind, firmly set in a world of corrupting capitalist business practices. 4. At the cinema Ulrich Peltzer is always there already, at the fsk or the Arsenal and, if there’s no companion to hold him back, he’s always at the front, close to the screen. I catch sight of him before the lights go down for adverts and trailers, elbows on the arm rests, perhaps the tips of his hands rubbing together. His posture like that of Bernhard, the central character of »Alle oder keiner« (1999), looking back on a cinema-going past. … dort [im Royal Palast] habe ich mal Krieg der Sterne gesehen, die Rückkehr der JediRitter, wie immer ganz vorn in dem riesigen Saal sitzend, so daß die haushohe Leinwand sich außen um einen schließt und man zum Teil einer Projektion wird, in dieser Nähe ein grobkörniges Flimmern überdimensionaler Gestalten mit unscharf werdenden Rändern, eingehüllt ins Trommelfeuer aus farbigen Blitzen und Klangwirkungen, als wäre man selbst mitten im Geschehen, säße im Cockpit des Raumgleiters neben Harrison Ford, der Kampf um Kampf zu bestehen hatte gegen die Truppen des Imperiums, dessen Anführer eines SS-Mann nachempfunden war und Darth Vader hieß … gefühllos die Pulverisierung feindlicher Planeten befehlend, was in der ersten Reihe besonders gut ankam, tief im Polster des Sessels gesunken und die Beine weit ausgestreckt, am besten alles während des Nachmittags, beinahe allein, wenn sich nur wenige Besucher auf den tausend Plätzen verlieren.
5. In »Alle oder keiner« there is a wonderful description of the growing importance of cinema in a character’s life, the big screen taking on an overwhelming importance – the cinema described as solution to a crisis of meaning and purpose. Nach einer kurzen Pause, während deren sie sich ihre widerspenstigen Haare aus dem Gesicht strich und die Ärmel ihrer schwarzen Regenjacke zu den Ellbogen hochschob, sagte Astrid, gut, wären wir also bei meiner Hauptbeschäftigung in den folgenden Wochen, Filme sehen, zuerst wahllos in irgendeine Vorstellung hinein, eine nachmittags, eine abends, dann fing ich an, mir mein tägliches Programm in einer Zeitung auszusuchen, etwas Älteres und etwas ganz Neues in der Reihenfolge, wie ich mit Bus und U-Bahn Anschluß hatte quer durch die Stadt, um pünktlich zu sein, selbst nur die Titel zu versäumen war mir unmöglich, ich mußte eine Zeitlang alles sehen, von der Fanfare des Verleihs bis zum Copyright-Zeichen am Schluß, bevor ich in dieser Beziehung lockerer wurde und das Kino verließ, wenn mir eine Geschichte nicht mehr gefiel, zum nächsten Film, am liebsten
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einer von Antonioni oder Rossellini aus den 50er Jahren, weil die beiden meine Favoriten waren und immer noch sind, ich habe zwar das meiste inzwischen auf Video, aber für Viaggio in Italia fahre ich schon eine ganze Strecke, wenn der heute irgendwo richtig, ich meine in einem Saal auf einer großen Leinwand gezeigt werden sollte.
»Alle oder keiner« was published in 1999; today one would have to add or emphasise that »richtig« would mean shown as a 35 mm copy, in real black and white, and not in DigiBeta, DVD, Blu-Ray, DCP or some other pixillated form. 6. Ulrich Peltzer’s first novel Die Sünden der Faulheit (1987) is a reworking of ‘40s and ‘50s noir, the setting shifted from a sunny, if shadowy (and studiobound) L.A. to a freezing and shadowy Berlin. The novel begins by introducing its tragi-comic hero, Bernhard Lacan (»lockige kurze braune Haare, braune Augen«), in his mess of an apartment, in debt to all the wrong people, not very admirable in his sins of omission. On re-reading Die Sünden der Faulheit I couldn’t help thinking of Marlowe as played by Eliot Gould in Robert Altman’s version of Raymond Chandler’s The Long Goodbye. Here Marlowe, crumpled suit, cigarette always dangling from his lips is, like Lacan, too trusting of his friends and down on his luck. In fact, in the opening scenes of the film Marlowe is reduced to trying to deceive his neglected cat. Out of sight (he hopes) of the cat, he transfers cheap pet food he has just bought into the empty trays of the more expensive sort the cat prefers. The cat is naturally not fooled, turns up its nose at the inferior product and clamours for the real stuff. Bernhard Lacan, who will turn up in passing in Peltzer’s second novel Stefan Martinez, has no cat or other pet, but as a metaphor of humiliation it could stand for him, too – and the humiliations come as thick and fast for him as they do for Gould’s Marlowe. At the end of The Long Goodbye Marlowe/Gould has shot the friend who betrayed him. As he walks away to catch the bus back across the border to L.A., the camera films him from behind as he suddenly breaks into a skip, a dance almost, of relief; he even plays a tune on the harmonica. It’s a satisfying conclusion for the character, as for the viewer, but one senses that Marlowe’s troubles are not really over, merely on hold – and his cat has run away. Similarly, in Die Sünden der Faulheit the novel ends with Bernhard Lacan, having just evaded the police search closing in on him, taking flight from Berlin’s Tegel Airport with 30,000 marks in his pocket. He has been paid to keep quiet about the crime he became involved in, almost as a prank, and which through drunken carelessness led to the death of an old friend. It’s an incident Lacan barely seems to regret.
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Once again the reader, like the viewer of The Long Goodbye, can share Lacan’s relief at escape from a wintry Berlin, while knowing that 30,000 marks is not enough – if any sum were enough – to end his troubles. Cash and escape represent merely another postponement, a temporary moratorium. 7. In the year and a half since its release, we had missed Béla Tarr’s The Turin Horse. It had played only briefly after opening, and whenever it surfaced here and there we were either in the wrong city or the wrong country to catch it. But now it was being shown at midday on a Sunday in the Filmrauschpalast on Lehrter Straße in Moabit. The March morning was cool and damp when we set out for Lehrter Straße. It’s a longish, more or less straight street that now runs from the new Hauptbahnhof, or Central Station, which occupies the sites of an SBahn station and the former Lehrter Straße main line station (express trains to Stendal, Brunswick, Hanover, Lübeck, Bremen, Hamburg, Kiel). It’s the kind of wounded Berlin street I very much like, West Berlin, I should say, once close to the boundary of the Russian sector, to the inner-German border in Berlin. It displays a typically odd juxtaposition of remnants from before the Second World War, and the stopgaps and half-hearted new beginnings of a number of post-war decades – modest 1950s social housing, the offices of various legal and court services. The dirty red brick building with barred windows halfway up the left side of the street, coming from the Hauptbahnhof, used to be a women’s prison and now takes prisoners from Plötzensee Prison. It was once part of a group of army barracks that took up most of that side of the road. There are allotment gardens where the warders’ cemetery of the more famous or notorious Lehrter Straße Prison once stood. Little more than the perimeter wall of the jail, across the road from the Hauptbahnhof, is still standing. Inside there’s a memorial park. Further up the right-hand side of Lehrter Straße there are some surprisingly grand-looking fin-de-siècle tenements, but built with factories and warehouses in their courtyards; wasteland or brick and corrugated iron workshops in the spaces formerly occupied by other buildings. The tenements and their back courts back on to the terrain of the Lehrter goods yard, finally given up a few years ago and now earmarked as part of the new commercial and residential quarter under construction north of the Hauptbahnhof. The Filmrauschpalast is at no. 35 Lehrter Straße or, rather, it’s in the second courtyard from the street and the whole complex of buildings once prepared the meat for the barracks across the road. When we arrive at five to twelve, we meet what turns out to be the projectionist unlocking the ground floor door. We walk up to the third floor with him, to where the cinema itself is.
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There we find the improvised permanence that remains characteristic of Berlin. The former factory floor has been divided into a foyer and a 45-seat cinema auditorium. Divided in three, one should say, because the projection room, on a raised platform, constitutes a separate space. In the foyer, dusty-looking easy chairs, ticket and snacks counters (glass-topped, maybe they were once part of the furnishings of an old-fashioned sweets or haberdashery shop), a cooler cabinet for drinks, big windows that look out onto the former goods yard. As we wait for other customers to climb the stairs, the projectionist, also literally the cinema-maker, talks about his commitment to film. He has two second-hand Czech-built 35mm projectors and he and his associates have constructed the ideal curved screen for watching films. It is, of course, no accident that The Turin Horse is being shown here and that we’ve had some difficulty catching up with it. Tarr has declared that The Turin Horse will be his final film, not only that, he has required that in movie theatres it is shown only on 35mm film stock. And there are only a few (subtitled) copies in circulation in each language market (and only a few film theatres that still have the film projectors to make that possible). No one else comes to see the film and so the projectionist goes into the auditorium to light the stove before preparing projectors and film for the screening. When everything is ready, the projectionist lets the two of us choose our seats and closes the doors to the foyer. A big screen in a small cinema. Perhaps that makes the long opening shot of the black and white film even more overwhelming. A man, a horse, a cart, a howling wind: cart and horse driven along a track, an upward sloping track, the camera moving in close to the horse’s head, its eyes, drawing back. The past? The future? We don’t know. After minutes an isolated farmhouse. The man’s adult daughter helps stable the horse, drag the cart into shelter. Subsequently, day-by-day, the calamity unfolds. First, the horse refuses to budge, presumably threatening the small family’s livelihood. However, a neighbour drops by for some palinka (fruit brandy) and delivers a monologue, and a band of gypsies who approach the house are at once lively and menacing. These are brief intrusions in the repeated everyday rituals of father and daughter: the lighting of the stove; the cooking of potatoes (the only food the pair have); the father’s strange manner of eating, rubbing and tugging the peel from the potatoes with the fingers of one hand (his other arm hangs limp) while they’re still steaming hot, gobbling the crumbling white mass; the dousing of the light; lying down to rest. But these habitual activities are insufficient. The well dries up, the potatoes run out, as does the firewood. (Two or three times during the showing the projectionist creeps past the screen, his head bobbing just below the subtitles, to add wood
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to the stove in the front left-hand corner of the cinema, doubling the action on screen.) Even the wind, which has been blowing nonstop throughout all these days, drops. There is silence; then, finally, the oil for the lamps is finished. Darkness. A black screen. As many reviewers have pointed out, The Turin Horse presents a creation story in reverse, one that does not start, but ends with »And the earth was without form, and void: and darkness was upon the face of the deep.« But the blank black screen is also the end of cinema, of film as Tarr understands it. His last film, if it is his last, is both an austere celebration of cinema’s power and, with its ending, a full stop that fills the screen. The Turin Horse has begun, before the viewer sees horse, man and cart, with a black screen and a voice-over retelling the story of the apparent onset of Friedrich Nietzsche’s mental illness. How, in Turin, the philosopher put his arms around a horse’s neck to prevent it being beaten by a carter. The familiar anecdote represents the prelude to Nietzsche’s derangement and the end of his productivity. An older German word for mental derangement is ›Umnachtung‹. The victim, or the victim’s mind, is regarded as literally ›be-nighted‹, enveloped in darkness, just as Tarr’s film ends with blackout. 8. In Ulrich Peltzer’s novels the presence of the cinema is not just a matter of allusion and setting. Not just a matter of a poster on the kitchen wall of an apartment, of the movies characters go to see or watch on TV, of the descriptions of projection rooms, perhaps of the way characters identify with certain screen figures or actions. Or even that the larger part of Bryant Park consists of the thoughts and memories of the central protagonist, of his descriptions of the changing scene, as he waits in Bryant Park, next to New York Public Library, for darkness to fall and an open-air showing of John Huston’s Moby Dick to begin. Even more essential than such aspects, which might be no more than decorative, is the powerful influence of the art and techniques of film-making on the way Ulrich Peltzer writes his novels. In Sünden der Faulheit, Peltzer’s first published novel (1987), the cinema influence is relatively straightforward. There are abrupt cuts between scenes (or takes), marking a variation between longer and shorter episodes, sometimes no more than seconds of time. One device used at the beginning of an episode is the establishing shot, in the form of a description of sky or street, before the narration zooms onto a character going about his or her more or less futile activities. (»Das diesige Grau eines Berliner Januarhimmels spannte sich über die Stadt. Vermummte Passanten eilten frierend aneinander vorbei…« Or: »Es war ein klarer heller wolkenloser Wintermorgen. Die Sonne stand tief über die Stadt…
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Über Nacht hatten Spree und Havel wieder eine Eisdecke bekommen…«.) Here one inevitably thinks of Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin – The Heavens Above Berlin, or Wings of Desire in the English-language release – and its premonition of a reunited city. In fact the release of Der Himmel über Berlin slightly preceded publication of Die Sünden der Faulheit though presumably one was being filmed as the other was being written. Perhaps another point of comparison is just as relevant (as it is for Der Himmel über Berlin): The New York ›realist‹ thriller from Jules Dassin’s Naked City (1948) onwards. Naked City opens with the camera hovering over the city spread out below, before closing in on a character, characters. In the following 80 or 90 minutes the film reveals what links these figures. The movie concludes with the camera looking down on the city again. There is no further introduction, the reader finds himself ›in the middle of things‹, of the actions and thoughts of a character or characters. Figures are briefly ›lit up‹ before the reader discovers whether and how they will carry events forward (or not). 9. If we follow Lars Henrik Gass in Film und Kunst nach dem Kino, then a central aspect, if not the central feature, of film as art form is the viewer’s subjection to the duration of a movie within the ›black box‹. (An experience not replicated when films are watched in gallery spaces or on DVD at home.) The novel or story is also a means of holding up, staying time even as it passes, and its matter and techniques are part of that pausing in the everyday. If writing might earlier have been described as ›Bilderbuch ohne Bilder‹, to borrow the title of a set of texts by Hans Christian Andersen, the cinema has made writers even more sensitive to the slowing down, stopping of time, especially when the author, as with Ulrich Peltzer, has immersed himself in cinema. Stefan Martinez (1995) remains formally Peltzer’s most ambitious novel, and his longest. It covers two days in the life of its eponymous central character in West Berlin before the fall of the Wall. »Alle oder keiner« (1999) and Bryant Park (2002) can perhaps be seen as satellite works, reworking and carrying on themes and problems addressed in the larger novel. In Stefan Martinez Peltzer deploys a battery of devices, many derived from or related to film, to capture time as it slips away, to slow it down or give the illusion of real time passing as perceived by its main protagonist. There is, for example, the long passage beginning on page 11 (it can be considered a single passage through time – even though divided up by section numbers 4, 5, 6 … and interrupted by conversations). It represents Martinez’ morning journey from his girlfriend’s apartment to his own flat, to pick up a book, and on to the architectural practice where he works. It’s first of all a long walk
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through the Berlin district of Schöneberg, then the ›shot‹ continues on the underground train – and despite the breaks mentioned, it feels like a single shot – then the short walk to his flat in Charlottenburg, where an Italian friend, Umberto, is staying, then down to the underground again, before concluding with the third and briefest walk from the underground station to the practice itself. »Genau siebenundachtzig Atemzüge von der Wilmersdorfer Straße bis zur Türe von Hellers Büro.« 78 intakes of breath. How far is that? A block? Or less? How many 100 yards (or less)? How many minutes? Seconds? The passage is less stream of consciousness, even though internal monologue and scraps of dialogue are included, than the apparent attempt to describe, to fix precisely what the camera-eyes see. The idea of the caméra-stylo was that the film director should not be afraid to use the camera like a pen. Here Peltzer uses the pen (or the keyboard) as a camera: to create the illusion of the moving camera eye, to get everything in, perhaps more than the camera can, since the eyes are not bound by the frame. The word, the words on the page can never keep pace with the camera, still less with the eyes, but the illusion of comprehension, of comprehensiveness grips the reader, a circling round of what is important to the character Martinez on this day and to his ›vision‹ of the city, of West-Berlin in the late 1980s. And it is indeed a virtuoso record. Inevitably, Martinez passes a cinema and stops to look at a showcase outside. It contains a still photo from John Cassavetes’ film Gloria, showing an unnamed Gena Rowlands. John Cassavetes: the master of the illusion of authenticity through improvisation on the part of the actors in his films. There’s something else: words are not pictures, yet we see, we walk with Martinez past the building site fence (»Funken sprühten im Bauloch auf«), we descend the steps to the underground with him, where, below the street, but a level above the platforms, Von unten wehten Lautsprecheraussagen hoch, ›Kleistpark‹ und ›Zurückbleiben‹ der quietschende Ton von Zugbremsen, das schnappende Geräusch sich synchron öffnende Waggontüren, vermengten sich mit gedämpften Stimmen, die aus der Ferne hallenden Klänge des Akkordeon, dem Rumoren der Rolltreppen, einem Mahlen, das sich leicht vibrierend in die Beine fortsetzte.
The reader can ›hear‹ as little, or as much, as he can ›see‹. Yet what is encompassed here but a layer of sound within the description of the scene? A sound track to accompany the sight of the camera eyes, or at least instructions for the sound design.
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10. Every novel by Ulrich Peltzer contains at least elements of a love story; raises questions about commitment and its costs. Commitment to a long-term relationship may preclude political commitment, or perhaps commitment to a bohemian lifestyle, which a central protagonist cannot envisage or bear giving up. It is an issue, too, in Peltzer’s last published novel Teil der Lösung (2007). An issue that is provisionally resolved on the last page by a classic love story ending: Jetzt stand sie vor den spiegelnden Fenstern. Sie beschirmte mit beiden Händen ihre Augen und legte die Stirn ans Glas. Er rauchte. Sah wie die andere Gäste zu einem der beiden Fernseher unter der Decke hoch, die Telelotterie. Vor ihm auf dem Tisch eine Tasse Café crème und ein großer Blumenstrauß. Ohne Brille, als würde er die Zahlen, die gezogen wurden, gar nicht erkennen wollen. Nele wischte sich die Tränen von den Wangen und atmete laut ein und aus, fast ein Stöhnen. Ach Christian. Dann ging sie hinein.
It’s an ending that reads as if written for the cinema (wide screen certainly, colour probably) and it would be just as effective if Nele, the girl, had watched Christian for a moment, tears running down her cheeks, and then walked away nevertheless, instead of going inside. For there to be an effective love story ending, there has to be a love story and it’s a love story that provides the narrative skeleton of Teil der Lösung. Indeed the novel has the bare bones of a very Hollywood boy-girl story (in which the ›boy‹ and the ›girl‹ could be played by Rock Hudson and Doris Day). Boy and girl, literally, bump into each other, a misunderstanding, girl sticks up for herself (she may be carrying a bag of shopping or a bag of books), each thinks the other rude, then it emerges that they have a mutual friend, he/she can’t be that bad, can they?, interest is aroused, turns to love and affection, however tensions arise due to outside circumstances or events, one party has a ›past‹ perhaps, the two appear to separate, but apart they realise how much they really are in love, and reunite to kiss and make up. Teil der Lösung ends (see above) just before the kiss and make up scene. The camera at the end of Teil der Lösung is implied, unlike the surveillance cameras of Berlin’s Sony Center in the novel’s prologue. The cinematic conclusion, with its suggested belief in film, provides a stark contrast to the anti-cinema of the security cameras. In the prologue an agitprop group puts on a brief, illegal performance in the Center to make tangible to visitors the privatisation of urban space and the presence of cameras as the watchdogs of privatisation. In the control room the security men watch the monitors, observe the intruding performers
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as the cameras zoom in on details, draw back for long shots, move from shadow to light. Guards rush to deal with the interference. As a political thriller, one of the questions Teil der Lösung asks is: What are the possibilities of political action in an unjust world, given the resources available to the repressive agencies of the state? These include the old-fashioned informer as well as security cameras and Internet surveillance. Existing forms of organisation and action appear of limited effectiveness in the context of a new global division of labour. State and corporate power, a distinction that, more than ever, has become blurred, have at their disposal means that range from brute force to contractual and legal intimidation, with their consequent penalties, to the most sophisticated intelligence-gathering technologies. And, as an only seemingly trivial footnote here: How can the special quality of cinema survive in the face of a digitalisation which presents moving images via any number of vehicles (the wallpaper effect)? 11. In ›From a Letter‹ published in the Seagull Books Fall 2011 catalogue, Ulrich Peltzer wrote, The films I used to watch sometimes turn up now on night-time TV to fill out the programme, The Battle of Britain, The Way West (with Robert Mitchum and Kirk Douglas), Operation Hurricane, Friday Noon, The Fall of the House of Usher, The Pit and the Pendulum, The Last Roman, or A Man Called Horse … unvisited graves, voices which have lost their ring. Past perfect, the past of a past to which nothing corresponds any more, dead names which once in a while I softly recite before falling asleep … Lux, Primus, Atrium, Studio, Passage, Royal, Crystal, Odeon, Lichtspielhaus am Neumarkt, Capitol, Neues Theater, Seidenfaden … shut down forever. Do I mourn them? Did the question have to be asked? Answer it yourselves.
But is cinema really now no more than something to be mourned? No more than an object of »nostalgic reflection«? The cinema and the films shown in cinema’s black box have been so fruitful for an author like Ulrich Peltzer that the answer must be no. Furthermore, the cinema and its history are worth defending as part of a threatened public sphere. In the cinema the viewer is both always alone and yet part of a collective. To quote Lars Henrik Gass: Kino … ist der Zwang zur Wahrnehmung, und zwar unabhängig davon, wer im Publikum mit welcher individuellen Neigung, Bildung und mit welchen Absichten auch immer wahrnimmt. Der Film zwingt mir eine Wahrnehmung von etwas anderem und eine Bezug zur Zeit auf durch die Einstellung, die dauert: Dauer ist die »Zumutung des Kinos«.
Anhang
S IGLEN Zitate aus dem Werk von Ulrich Peltzer sind nach den folgenden Siglen belegt: SF SM AK BP TL AM VI
Die Sünden der Faulheit Stefan Martinez »Alle oder keiner« Bryant Park Teil der Lösung Angefangen wird mittendrin Vom Verschwinden der Illusionen und den wiedergefundenen Dingen. Abiturienten-Rede
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Primärtexte
Buchveröffentlichungen Peltzer, Ulrich: Die Sünden der Faulheit. Roman (Zürich: Ammann, 1987; Frankfurt/Main: Fischer, 2013). ---: Stefan Martinez. Roman (Zürich: Ammann, 1995; Frankfurt/Main: Fischer, 2013). ---: »Alle oder keiner«. Roman (Zürich: Ammann, 1999; Frankfurt/Main: Fischer, 2013). ---: Bryant Park. Erzählung (Zürich: Ammann, 2002; Frankfurt/Main: Fischer, 2013). ---: Teil der Lösung. Roman (Zürich: Ammann, 2007; Reinbek: Rowohlt, 2009). ---: Parte della soluzione. Übers. von Cristina Vezzaro (Mailand/Milano: Isbn Edizioni, 2009). ---: Part of the Solution. Übers. von Martin Chalmers (London: Seagull Books, 2011). ---: Vom Verschwinden der Illusionen und den wiedergefundenen Dingen (Merzig: Gollenstein, 2008). ---: Angefangen wird mittendrin: Frankfurter Poetikvorlesungen (Frankfurt/Main: Fischer, 2011). Filmografie ---, und Christoph Hochhäusler: Unter dir die Stadt (D 2010, Berlin: Piffl Medien, 2011). Sonstiges ---: »Berlin – Romanauszug«, in: Sprache im technischen Zeitalter 129 (1994): 41-56. ---: »Explosion«, in: Sprache im technischen Zeitalter 148 (1999): 81-94. ---: »Kontaktabzug«, in: Sprache im technischen Zeitalter 151 (1999): 339-344. ---: »Die Erkundung der Welt – Über den Schriftsteller William Gaddis«, in: Sprache im technischen Zeitalter 155 (2000): 300-311. ---, und Kathrin Röggla: »jammer/lappen«, figurationen 1 (2002): 95-100.
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---: »Eine Stadt, die niemals schläft. Über Istanbul«, in: tageszeitung, 13.10.2004; auch in: Joachim Sartorius (Hg.): Zwischen Berlin und Beirut. West-östliche Geschichten (München: C.H. Beck, 2007): 64-68. ---: »Sony Center«, in: Sprache im technischen Zeitalter 175 (2005): 294-306. ---: »Expeditionen ins Afrika der Seele«, in: Tagesspiegel, 09.03.2006. ---: »Erzählen ohne Grenzen. Über denkbare Plots, flüchtige Subjekte und die Raumstruktur des zeitgenössischen Romans«, in: Sprache im technischen Zeitalter 179 (2006): 294-312. ---: »Blick nach Vorn«, in: Akzente 6 (2006): 520-527. ---: »Das war ich, bin ich, das könnte ich sein, Astrid Busch, Fotografie« (Berlin: Goldrausch-Künstlerinnenprojekt Art IT, Frauennetzwerk 2006). ---: »Mieze im Volkspalast. Ein Abriss. Mit Zwischenbemerkungen von Kathrin Kollmeier«, in: Neue Rundschau 120:1 (2009), 73-85. ---: »Der stille Verrat« [Booklet], in: Chantal Akerman: Die Gefangene – nach Motiven von Marcel Proust (Frankfurt/Main: filmedition suhrkamp, 2009). ---: »Rom«, in: Neue Rundschau 121:4 (2010): 193. ---: »Der Teufel, vielleicht«, in: Du 820 (2011): 78-80. ---.: »Anfänge«, in: Neue Rundschau 122:3 (2012): 248-266. ---: »Können Sie das Kapital verstehen?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.2013. ---, und Kathrin Röggla: »Geisterfahrer: Büchner«, in: Neue Rundschau, 125:2 (2014): 131-166. Sekundärliteratur Aufsätze Böttiger, Helmut: »Ulrich Peltzer. Der Traum von Geschichte«, in: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Wien: Zsolnay, 2004): 171–184. Deupmann, Christoph: »Ausnahmezustand des Erzählens: Zeit und Ereignis in Ulrich Peltzers Erzählung Bryant Park und anderen Texten über den 11. September 2001«, in: Christoph Jürgensen (Hg.): Nine Eleven: Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001 (Heidelberg: Winter, 2008): 17-28. Halfmann, Roman: »Neo-Terrorismus im Zeichen der RAF: Die Aufarbeitung des Deutschen Herbstes in der deutschen Gegenwartsliteratur zwischen Klischee und Absetzung«, in: Norman Ächtler (Hg.): Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978 – 2008 (Heidelberg: Winter, 2010): 333-347.
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Jäger, Christian: »Berlin Heinrichplatz: The Novels of Ulrich Peltzer«, in: Stephen Brockmann (Hg.): Writing and Reading Berlin. Special Issue of Studies in 20th and 21st Century Literature 28:1 (2004): 183-210. Deutsche Fassung online verfügbar: http://www.westoestlicherdiwan.de/peltzer1.pdf. Jürgensen, Christoph: »Berlin Heinrichplatz, Berlin Potsdamer Platz – die Textstädte Ulrich Peltzers«, in: Katja Carrillo Zeiter, Berit Callsen (Hg.): Berlin – Madrid. Postdiktatoriale Großstadtliteratur (Berlin: Erich Schmidt, 2011): 67-83. Ledanff, Susanne: »Berliner Wenderomane am Ende der Neunziger: Cees Nooteboom, Peter Schneider, Ulrich Peltzer«, in: Hauptstadtphantasien: Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989 – 2008 (Bielefeld: Aisthesis, 2009): 310-345. Mergenthaler, Volker: »Katastrophenpoetik. Max Goldts und Ulrich Peltzers literarische Auseinandersetzungen mit ›Nine-Eleven‹«, in: Wirkendes Wort 2 (2005): 281-294. Pontzen, Alexandra: »Von Bryant Park zum Potsdamer Platz: Ulrich Peltzer erzählt Globalisierung«, in: Wilhelm Amann, Georg Mein, Rolf Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur: Konstellationen, Konzepte, Perspektiven (Heidelberg: Synchron, 2010): 223-238. Preece, Julian: »RAF Revivalism in German Fiction of the 2000s«, in: Journal of European Studies 40:3 (2010): 272-283. Thoma, Heinz: »Großstadt, Idylle und Selbstbehauptung des Subjekts. Rom in Gliegoisti (1917/1923) von Federigo Tozzi – Berlin in Teil der Lösung (2007) von Ulrich Peltzer«, in: Wolfgang Klein, et. al. (Hg.): Dazwischen. Reisen – Metropolen – Avantgarden (Bielefeld: Aisthesis, 2009): 395–411. Veel, Kristin: »Information Overload and Database Aesthetics«, in: Comparative Critical Studies 8 (2011): 307-319. Rezensionen Arend, Ingo: »Wer war ich denn?«, in: Freitag, 28.1.2000. (Zu: »Alle oder keiner«.) ---: »Im Widerschein des Lebens«, in: Freitag, 15.2.2002. (Zu: Bryant Park.) Bebber, Werner van: »Der Sound einer Großstadt«, in: Tagesspiegel, 18.11.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Böttiger, Helmut: »Ein Bewußtseinsroman von heute: Das Patchwork der Wahrnehmung«, in: Frankfurter Rundschau, 28.11.1995. (Zu: Stefan Martinez.) ---: »Abkühlen. Runterkommen«, in: Frankfurter Rundschau, 13.10.1999. (Zu: »Alle oder keiner«.)
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| 229
---: »Es liegt etwas in der Luft«, in: Die Zeit, Literaturbeilage, März 2002. (Zu: Bryant Park.) ---: »Ein Lied für die Tauben«, in: Süddeutsche Zeitung, 15./16.9.2007. (Zu: Teil der Lösung.) ---: »Am Ende der Welt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.4.2008. (Zu: Teil der Lösung). Braun, Michael: »Sünden der Faulheit«, in: Die Zeit, 4.3.1988. (Zu: Die Sünden der Faulheit.) Burkhardt, Otto Paul: »Bauen und Fällen«, in: Theater der Zeit 11 (2010): 38-39. (Zu: Teil der Lösung.) Dotzauer, Gregor: »Der Feind, den wir verdienen«, in: Tagesspiegel, 10.10.2007. (Zu: Teil der Lösung.) ---: »Robinson lebt hier nicht mehr«, in: Tagesspiegel, 6.2.2011. (Zu: Angefangen wird mittendrin.) Ebel, Martin: »Richtiges Oben, falsches Unten«, in: Berliner Zeitung, 2./3.10.1999. (Zu: »Alle oder keiner«.) Fetz, Bernhard: »Das Böse und sein Jäger«, in: Die Presse, 16.3.2002. (Zu: Bryant Park.) Frederiksen, Jens: »Ein Stehaufmännchen auf Kneipentour«, in: Die Welt, 12.12.1987. (Zu: Die Sünden der Faulheit.) Gloyer, Christian: »Im Bewußtseinstümpel«, in: Der Tagesspiegel, 17.12.1995. (Zu: Stefan Martinez.) Groß, Thomas: »Schon wieder Stadtneurotiker«, in: tageszeitung, 23.10.1987. (Zu: Die Sünden der Faulheit.) Gutmair, Ulrich: »Groteske Rückkehr des Bürgerlichen«, in: tageszeitung, 17.9.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Haas, Daniel: »Was macht er denn für Geschichten!«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.2.2011. (Zu: Angefangen wird mittendrin.) Hage, Volker: »Berliner Zeitsprünge«, in: Der Spiegel, 29.11.1999. (Zu: »Alle oder keiner«.) Halter, Martin: »Ist die Revolution nur noch ein Werbeslogan?«, in: TagesAnzeiger, 18.10.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Heinrich-Jost, Ingrid: »Schwarze Serie in Berlin«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.10.1987. (Zu: Die Sünden der Faulheit.) Hillgruber, Katrin: »Der Ansturm der Dinge«, in: Frankfurter Rundschau, 10.10.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Jähner, Harald: »Marx und Lenin sind jetzt Bettpfosten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.1995. (Zu: Stefan Martinez.)
230 | B IBLIOGRAFIE
Jung, Jochen: »Zeitkörper, tätowiert«, in: Die Zeit, 31.10.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Jung, Werner: »Angst vor Nähe«, in: Der Freitag, 31.8.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Jenny-Ebeling, Charitas: »Im Niemandsland«, in: Neue Zürcher Zeitung, 30.4.1988. (Zu: Die Sünden der Faulheit.) Klauhs, Harald: »Keine Angst vor der Flucht«, in: Die Presse, 24.11.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Knipphals, Dirk: »Berliner Realitäten«, in: tageszeitung, 13.10.1999. (Zu: »Alle oder keiner.«) Kramatschek, Claudia: »Haltsuche«, in: Neue deutsche Literatur 3 (2002): 170– 173. (Zu: Bryant Park.) Krass, Stephan: »Der Zipfel der Wahrheit«, in: Neue Zürcher Zeitung, 21.3.2002. (Zu: Bryant Park.) Krumbholz, Martin: »Ein paar Bomben«, in: Berliner Zeitung, 16./17.3.2002. (Zu: Bryant Park.) Kunisch, Hans-Peter: »Sünden der Wahrnehmung«, in: tageszeitung, 12.3.2002. (Zu: Bryant Park.) Leipprand, Eva: »Flaneur und Terror«, in: Stuttgarter Zeitung, 3.5.2002. (Zu: Bryant Park.) Magenau, Jörg: »Die Liebe in den Zeiten des Prekariats«, in: Falter (Wien), 14.12.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Maidt-Zinke, Kristina: »Hängende Klänge«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1999. (Zu: »Alle oder keiner«.) März, Ursula: »Bild der Unruhe«, in: Die Zeit, 29.12.1999. (Zu: »Alle oder keiner«.) ---: »5 vor 12«, in: Frankfurter Rundschau, 20.3.2002. (Zu: Bryant Park.) Merkel, Andreas: »Herr Peltzers Gespür für Weh«, in: Der Spiegel, 18.09.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Michalzik, Peter: »Ein Buch für keinen?«, in: Süddeutsche Zeitung, 10.11.1999. (Zu: »Alle oder keiner«.) Mischke, Roland: »Aus der Bahn in die Bahn geworfen«, in: Saarbrücker Zeitung, 1.3.2002. (Zu: Bryant Park.) Mohr, Daniela: »Berlin im Sekundentakt«, in: Berliner Zeitung, 3./4.2.1996. (Zu: Stefan Martinez.) Moritz, Rainer: »Descartes für U-Bahn-Fahrer«, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.12.1995. (Zu: Stefan Martinez.) Moser, Samuel: »Wo die Gauner noch Eddie und Assi heißen«, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10.1.1988. (Zu: Die Sünden der Faulheit.)
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Müller, Lothar: »Die Pflichtstadt«, in: Süddeutsche Zeitung, 25.2.2002. (Zu: Bryant Park.) Nutt, Harry: »Berlin Kleistpark«, in: tageszeitung, 9./10.12.1995. (Zu: Stefan Martinez.) Peters, Sabine: »Knast oder Karriere«, in: Basler Zeitung, 7.9.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Plath, Jörg: »Stillstand ist der Tod«, in: Tagesspiegel, 4.12.1999. (Zu: »Alle oder keiner«.) Platthaus, Andreas: »Was in Flüchtenden um drei Uhr zwanzig vor sich geht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Preisendörfer, Bruno: »Das warʼs dann wohl«, in: Die Zeit, 8.3.1996. (Zu: Stefan Martinez.) Rüdenauer, Ulrich: »Der Angriff der Gegenwart«, in: Tagesspiegel, Berlin, 17.3.2002. (Zu: Bryant Park.) ---: »Im Zentrum der Gegenwart«, in: Literaturen 11 (2007): 69-70. (Zu: Teil der Lösung.) Schachinger, Christian: »Liebe im öffentlichen Raum«, in: Der Standard, 12.1.2008. (Zu: Teil der Lösung.) Schott, Christiane: »Stiller Brüter«, in: Neue Zürcher Zeitung, 21.12.1999. (Zu: »Alle oder keiner«.) Schröder, Christoph: »Weltbilder prallen aufeinander«, in: tageszeitung, 10.10.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Schulte, Bettina: »Der Terror bricht in den Text ein«, in: Badische Zeitung, 9.3.2002. (Zu: Bryant Park.) ---: »Liebe in Zeiten der Überwachung«, in: Badische Zeitung, 20.10.2007. (Zu: Teil der Lösung.) ---: »Der Genauigkeitsfanatiker und der City-Sound«, in: Badische Zeitung, 5.2.1996. (Zu: Stefan Martinez.) Schuster, Katrin: »Das Gerippe des Realen«, in: Berliner Zeitung, 1.11.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Schütte, Uwe: »Das unerhörte Gemurmel von Berlin«, in: Volltext 6 (2007): 24. (Zu: Teil der Lösung.) ---: »Perspektive der Peripherie«, in: Wiener Zeitung, 2.4.2011. (Zu: Angefangen wird mittendrin.) ---: »Ulrich Peltzer: ›Vom Verschwinden der Illusionen – und den wiedergefundenen Dingen‹«, in: Wiener Zeitung, 6.9.2008. Sprang, Stefan: »Vor dem Mauerfall«, in: Rheinischer Merkur, 5.1.1996. (Zu: Stefan Martinez.)
232 | B IBLIOGRAFIE
---: »Zwei Tage als junger Mann«, in: Stuttgarter Zeitung, 16.2.1996. (Zu: Stefan Martinez.) Stefan, Sabine: »Nichts täuscht so wie Ruhe«, in: Neues Deutschland, 13.3.2008. (Zu: Teil der Lösung.) Steinert, Hajo: »total surreal how das ding collapsed«, in: Die Welt, 27.4.2002. (Zu: Bryant Park.) Stephan, Felix: »Frei ist der Mensch nur zwischen zwei Buchdeckeln«, in: Süddeutsche Zeitung, 27.4.2011. (Zu: Angefangen wird mittendrin.) Sternburg, Judith von: »Ulrich Peltzer beendet seine Poetikvorlesung und beginnt zu schreiben«, in: Frankfurter Rundschau, 10.2.2011. (Zu: Angefangen wird mittendrin.) Theobaldy, Jürgen: »Zwischen Koks & Knete«, in: Frankfurter Rundschau, 23.1.1988. (Zu: Die Sünden der Faulheit.) Weidermann, Volker: »Paare Paranoia«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.9.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Wickersham, Erik: »Ulrich Peltzer: Bryant Park«, in: World Literature Today 77:2 (2003): 126. (Zu: Bryant Park.) Wittstock, Uwe: »Neues von der Armee der Clowns«, in: Welt, 6.10.2007. (Zu: Teil der Lösung.) Wolz, Gernot: »Willkür statt Komposition«, in: Am Erker 44 (2002): 145-146. (Zu: Bryant Park.) Interviews »Ich setze mich einfach hin und fange an«, in: BELLA triste: Zeitschrift für junge Literatur (2004): 10. Bartels, Christian, und Peter Luley: »Gegen die sind wir Kleinbürger«, zusammen mit Christoph Hochhäusler, in: Der Freitag, 12.03.2009. Bender, Jesko: »Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.3.2011. David, Thomas: »Über die Gegenwart Nachdenken: Michael Kumpfmüller und Ulrich Peltzer im Gespräch über die Aktualität des Politischen in der Literatur«, in: Neue Zürcher Zeitung, 26.4. 2008. ---: »Darum geht es: Widerstand gegen die Schändlichkeit der Welt zu leisten«, in: Du 820 (2011): 73-76. Gutmair, Ulrich: »›Groteske Rückkehr des Bürgerlichen‹«, in: tageszeitung, 19.09.2008. Irler, Klaus: »Der Dinge habhaft werden«, in: tageszeitung, 28.01.2003.
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Kämmerlings, Richard: »Das Fernsehen schaut uns an«, zusammen mit Martin Kluger und David Wagner, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.2010. Knab, Dorothee, und Elke Schubert: »Versuche, die Zeichen der Stadt zu lesen«, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 3 (2000): 174–178. Magenau, Jörg: »Ich will weg von all diesem Ost-West-Blödsinn«, in: börsenblatt.net, 21.06.2007, http://www.boersenblatt.net/148716/. Raddatz, Frank: »Konsument des eigenen Lebens«, in: Theater der Zeit 5 (2014): 38-41. Sonstiges Auer, Matthias: Eintrag »Peltzer, Ulrich«, in: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, http://www. munzinger.de/document/16000000688 Böttiger, Helmut: »Ade, du schöne alte Berliner Welt!«, [Porträt] in: Stuttgarter Zeitung, 30.4.2004. ---: »Intensität und Sinn«, [Laudatio zum Berliner Literaturpreis] in: Sprache im technischen Zeitalter 186 (2008): 226–232. Röggla, Kathrin: »Laudatio auf Ulrich Peltzer«, in: Neue Rundschau 124:3 (2013): 227-235.
234 | Z EITTAFEL
Z EITTAFEL 1956 Geburt in Krefeld am 9. Dezember Kindheit, Jugend und Schulbesuch am Niederrhein 1975 Umzug nach Berlin Studium der Psychologie und Philosophie, Freie Universität und Technische Universität Berlin 1982 Abschluss als Diplom-Psychologe mit einer Arbeit über Einige Aspekte der Formierung bürgerlicher Individualität in der höfischen Gesellschaft 1987 Die Sünden der Faulheit, Roman, erscheint im Ammann Verlag, Zürich 1992 Bertelsmann-Stipendium beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1995 Stefan Martinez, Roman, Ammann 1996 Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung 1997 Anna Seghers-Preis 1999 »Alle oder keiner«, Roman, Ammann 2000 Preis der SWR-Bestenliste 2001
Niederrheinischer Literaturpreis der Stadt Krefeld
2002 Bryant Park, Roman, Ammann 2003 Literaturpreis der Stadt Bremen Aufenthaltsstipendium in Amsterdam 2006 Writer-in-Residence an der New York University 2007
Teil der Lösung, Roman, Ammann
2008 Vom Verschwinden der Illusionen und den wiedergefundenen Dingen. Rede an die saarländischen Abiturienten des Jahrgangs 2008, Gollenstein Verlag Berliner Literaturpreis für Gesamtwerk, damit verbunden die Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der Freien Universität, Berlin d.lit.-Literaturpreis der Stadtsparkasse Düsseldorf Förderpreis für Literatur der Akademie der Künste Düsseldorfer Literaturpreis Spycher Literaturpreis Leuk 2009 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim
Z EITTAFEL
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2010 Drehbuch zu Unter dir die Stadt (mit Christoph Hochhäusler) Förderpreis Deutscher Film Mitglied der Akademie der Künste in Berlin Frankfurter Poetik-Vorlesungen 2011 Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. Fischer Verlag Heinrich-Böll-Preis 2013 Konferenz zum literarischen Gesamtwerk im Literaturforum im Brechthaus, Berlin Carl-Amery-Literaturpreis
236 | D ANKSAGUNG
D ANKSAGUNG Die Herausgeber danken dem Department of German Studies und dem Institute for German Cultural Studies an der Cornell University (Ithaca/NY, USA) für die großzügige Unterstützung dieses Projekts. Ein besonderer Dank geht an Hannah Müller, Doktorandin an Cornells German Department, für ihre unermüdliche und fachkundige Arbeit an der Lektorierung und Formatierung dieses Bandes.
A UTORINNEN
A UTORINNEN
UND
UND
A UTOREN
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A UTOREN
Bender, Jesko, Germanist, arbeitet an der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Publikationen u.a. zu Poetiken der Zeugenschaft, Peter Weiss, 9/11 in der deutschen Literatur. Kurator der Ausstellung Emil Behr – Briefzeugenschaft vor, aus, nach Auschwitz im Jüdischen Museum Frankfurt/Main und Stadtmuseum Karlsruhe. Gemeinsam mit Monique Behr Hrsg. des gleichnamigen Ausstellungskatalog (Göttingen: Wallstein) 2012. Chalmers, Martin, grew up in Glasgow (Scotland) and studied history there and in Birmingham (England). After many years in London he now translates and writes in Berlin. He is the translator of the English edition of Urich Peltzer’s Teil der Lösung, which appeared in 2012 as Part of the Solution. Fleming, Paul, Professor of German Studies und Comparative Literature; Leiter des Institute for German Cultural Studies an Cornell University, Ithaca/NY, USA. Forschungsschwerpunkte: deutsche/europäische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts; Hermeneutik und Literaturtheorie; Kritische Theorie; Anekdoten in und als Theorie. Zuletzt erschienen: Exemplarity and Mediocrity: The Art of the Average from Bourgeois Tragedy to Realism (Stanford) 2009; Übersetzung von Hans Blumenberg, Care Crosses the River (Stanford) 2010; Aufsätze zu Freud, Simmel, Blumenberg, Storm, Keller und Kantorowicz. Gilgen, Peter, Associate Professor of German Studies und Member of the Graduate Field in Comparative Literature an der Cornell University, Ithaca/NY, USA. Forschungsschwerpunkte: neuere deutsche/europäische Literatur und Philosophie; Ästhetik; Geschichtsphilosophie; Poetik und Literaturtheorie; Lyrik; Systemtheorie. Zuletzt erschienen: Lektüren der Erinnerung: Lessing, Kant, Hegel (München: Fink) 2012; eine Übersetzung mit Einleitung von Niklas Luhmann, Introduction to Systems Theory (Cambridge: Polity) 2012; Mitherausgeber von Back to Kant II: The Fate of Kant in a Time of Crisis, Sondernummer der Zeitschrift The Philosophical Forum 41:1-2 (2010). Jäger, Christian, Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und Ästhetik vom 18. bis 20. Jhd., Literatur um 1800, der Weimarer Republik, der Nachkriegszeit, der DDR und der Gegenwart, Populärkultur, Aphoristik etc. Zuletzt: Minoritäre Literatur (Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag) 2005.
238 | A UTORINNEN UND A UTOREN
Jäger, Maren, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen; 2007 Promotion über Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945 (Tübingen: Niemeyer) 2009; von 2006-2008 nebenberufliche Tätigkeit auf dem Feld internationaler Literaturvermittlung; Veröffentlichungen u. a. zur Narratologie, zur Literatur nach 1945 und zu Friedrich Schlegel; seit 2010: Vorarbeiten zu einer Habilitation (Arbeitstitel: Brevitas: eine kurze Geschichte der Kürze); Arbeitsgebiete: Rhetorik & Poetik, Metapherntheorie, Lyriktheorie, Lyrik der Gegenwart, kleine Formen, (digitale) (Brief-)Edition. Jürgensen, Christoph, Akademischer Rat auf Zeit für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: Autorschaft, Literatursoziologie, Medialisierungsgeschichte des Krieges, Goethezeit, Gegenwartsliteratur. Zuletzt erschienen: (Hrsg., mit Ingo Irsigler) Nine Eleven – Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001 (Heidelberg: Winter) 2011; Sturm und Drang (mit Ingo Irsigler) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) 2010; (Hrsg., mit Gerhard Kaiser): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte (Heidelberg: Winter) 2011; (Hrsg., mit Tom Kindt): Wie im luziden Schlaf – Zum Werk Georg Kleins (Berlin: Erich Schmidt) 2013. Kleinwort, Malte, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUniversität in Hagen. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, Poetologien des Wissens, Schreibprozessforschung. Zuletzt erschienen: Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension (München: Fink) 2013, (als Mithrsg.:) Schloss-Topographien. Lektüren zu Kafkas Romanfragment (Bielefeld: Transcript) 2013. Metelmann, Jörg, Assistenzprofessor für Kultur- und Medienwissenschaft an der Universität St. Gallen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Mediale Emotionen, Deutscher Gegenwartsfilm. Zuletzt erschien (mit Scott Loren): Irritation of Life. The Subversive Melodrama of Michael Haneke, David Lynch and Lars von Trier (Marburg: Schüren) 2014. Röggla, Kathrin, Schriftstellerin, Prosa, Theater, Hörspiel. Forschungschwerpunkte: Ökonomie, Desaster, Arbeit, Horror. Zuletzt erschienen Besser wäre: keine (Frankfurt: S. Fischer) 2013; die alarmbereiten (Frankfurt: S. Fischer) 2010; Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen, hrsg. von Johannes Birgfeld (Berlin: Theater der Zeit) 2014.
A UTORINNEN
UND
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Schütte, Uwe, Reader in German an der Aston University, Birmingham/UK. Literaturkritiker und Musikjournalist. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Psychopathologie, Kulturanthropologie. Zuletzt erschienen: Arbeit an der Differenz. Zum Eigensinn von Heiner Müllers Prosa (Heidelberg: Winter) 2010; Unterwelten. Zu Leben und Werk von Gerhard Roth (St. Pölten: Residenz) 2013; Interventionen. Literaturkritik als Widerspruch bei W. G. Sebald (München: Edition Text & Kritik) 2014. Siegel, Elke, Associate Professor of German Studies an der Cornell University, Ithaca/NY, USA. Derzeitiger Arbeitsschwerpunkt: Tagebücher vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit, Fiktionalität und Authentizität, Monolog und Dialog, Literatur und Dokument. Buchveröffentlichungen zu Robert Walser sowie zur Poetologie und Praxis von Freundschaft bei Nietzsche, Freud und Kafka. Aufsätze u.a. über Möbel bei Thomas Bernhard, Rainald Goetz’ Abfall für alle, Ann Cottens Florida-Räume, Fassbinders Fontane Effi Briest und Herbert Marcuse. Tuschling, Jeanine, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Klassik Stiftung Weimar. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Formen der Autorschaft, Textualität und Medialität, Buch- und Bibliotheksgeschichte. Zuletzt erschien: »Eskapismus ins Außerirdische: Das Dorf als postutopischer Raum in Arno Schmidts KAFF auch Mare Crisium und Jan Brandts Gegen die Welt«, in: Werner Nell, Markus Weiland (Hrsg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Siedlungsvorstellungen der Gegenwart (Bielefeld: Transcript) 2014; »›Ich, eine Figur, die zu nichts taugt?‹ Autofiktionale Erzählstrategien in Elfriede Jelineks Internetroman Neid«, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Auto(r)fiktion. Verfahren literarischer Selbstbeobachtung (Bielefeld: Aisthesis) 2013.
Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0
Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen Dezember 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Juni 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke November 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4
Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3
Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen
Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur
August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1
Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2
Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen
Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe
August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6
Oktober 2014, 280 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4
Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing
Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel
April 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6
Juli 2014, 340 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5
August 2014, 376 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6
Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten
Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen
Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3
Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis
September 2014, 584 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2
Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.
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