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German Pages 333 [338] Year 2020
Frank Görne
Die Obstruktionen in der Römischen Republik
Historia
Alte Geschichte
Franz Steiner Verlag
Historia – Einzelschrift 264
historia
Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |
Journal of Ancient History | Rivista di storia antica
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen (federführend)
Christelle Fischer-Bovet | Mischa Meier | Sabine Panzram | Henriette van der Blom | Hans van Wees Band 264
Die Obstruktionen in der Römischen Republik Frank Görne
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Zugleich Dissertation Universität Rostock Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12754-7 (Print) ISBN 978-3-515-12757-8 (E-Book)
meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Schrift ist eine überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Jahr 2017 an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock angenommen wurde. Meinem akademischen Lehrer und Doktorvater Egon Flaig danke ich für die jahrelange intensive Betreuung der Arbeit, die zahlreichen guten Ratschläge sowie die vielen spannenden und fruchtbaren Diskussionen, die wir in dieser Zeit geführt haben. Bei Fragen nahm er sich immer Zeit für mich und war stets bereit, sich auf meine Gedanken einzulassen. Eine bessere Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können. Ebenfalls danke ich Gunnar Seelentag und Karl-Joachim Hölkeskamp für ihre Gutachtertätigkeit und viele Anregungen und Hinweise, die mir bei der nachträglichen Überarbeitung der Dissertation geholfen haben. Karen Piepenbrink danke ich dafür, dass sie sich, nach dem Beginn meiner Tätigkeit in Gießen, der Mühe unterzogen hat, das umfangreiche Manuskript zu lesen und die letzte Phase der Überarbeitung mit guten Ratschlägen zu begleiten. Wolfgang Bernard, Steffen Kammler, Katarina Nebelin und Marian Nebelin bin ich dafür dankbar, dass sie mich auf vielfältige Weise während der gesamten Zeit der Abfassung unterstützt haben. Von Anfang an verfolgte Jenny Görne mit unendlicher Geduld die Entstehung der Arbeit, musste in dieser Zeit zahllose Entwürfe lesen und immer wieder mit mir darüber diskutieren. Ihre Kommentare, Ideen und Nachfragen waren mir ein wichtiges Korrektiv und eine unschätzbare Hilfe. Meinen Eltern danke ich dafür, dass sie mich immer dazu ermuntert haben, meinen eigenen Weg zu gehen, ohne mir jemals das Gefühl zu geben, diesen alleine gehen zu müssen. Ihnen sei die Arbeit gewidmet. Der Friedrich-Ebert-Stiftung sei für die Gewährung eines dreijährigen Promotionsstipendiums gedankt, durch das es mir möglich war, mich über einen längeren Zeitraum hinweg ganz und gar auf die Abfassung der Arbeit zu konzentrieren. Abschließend danke ich den Herausgeberinnen und Herausgebern der Historia Einzelschriften für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Gießen, März 2020
Frank Görne
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Aufbau der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Eine Typologie der Obstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die vier Typen der Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Erster Obstruktionstypus: Die verfahrenstechnische Obstruktion . . . . . . . 2.2.1. Der Filibuster im US-Senat des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Die Merkmale der verfahrenstechnischen Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Zweiter Obstruktionstypus: Die amtsgebundene Obstruktion . . . . . . . . . . 2.3.1. Die Merkmale der amtsgebundenen Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Dritter Obstruktionstypus: Die zustimmungsverweigernde Obstruktion . 2.4.1. Die Merkmale der zustimmungsverweigernden Obstruktion . . . . . . . . . . 2.4.2. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Vierter Obstruktionstypus: Die sakrale Obstruktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1. Die Merkmale der sakralen Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Erste extreme Ausprägung: Die prinzipielle Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1. Die Merkmale der prinzipiellen Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7. Zweite extreme Ausprägung: Die kostenlose Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . 2.7.1. Modern Filibuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2. Die Merkmale der kostenlosen Obstruktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
3. Obstruieren in der Römischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1. Die Obstruktion als Mittel zur Entschleunigung von Entscheidungen . . . . 79 3.1.1. Kein gleicher Lohn für ungleiche Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.1.2. Der Feldherr und die fides gegenüber seinen Soldaten . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.1.3. Losen oder prorogieren?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.1.4. Vermeintliche Widersprüche in der Senatsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.1.5. Tribunicische Intercessionen und Personalentscheidungen . . . . . . . . . . . . 121 3.1.6. Notfalls ohne die Zustimmung des Senats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.1.7. Ein notwendiger Normenbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.1.8. Die Eskalation verhindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.1.9. Tribunicische Intercessionen und Sachentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.1.10. Der Verlust der Eindeutigkeit im Wertekonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.1.11. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.2. Das verabsolutierte Veto des M. Octavius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.2.1. Die lex agraria des Ti. Sempronius Gracchus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.2.2. Das Beharren auf der Intercession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3.2.3. Die sponsio des T. Annius Luscus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3.2.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3.3. Obstruktionen als Krisenphänomene in der Späten Republik . . . . . . . . . . . 190 3.3.1. Die prinzipiellen Obstruktionen gegen C. Marius und Cn. Pompeius Magnus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3.3.2. Amtsträger im Auftrag der Imperatoren und die populare Methode . . . . 199 3.3.3. Die Esklationsspirale und der Wandel des Obstruktionsphänomens. . . . 215 3.3.4. Die zunehmende Bedeutung der verfahrenstechnischen Obstruktion . . . 229 3.3.5. Die sinkenden Obstruktionskosten im letzten Jahrzehnt der Republik . . 234 3.3.6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 5. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 5.1. Übersicht – Liste der überlieferten Obstruktionsfälle zwischen 366 und 49 v. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 5.2. Diagramme zu den Obstruktionen in der Römischen Republik. . . . . . . . . . 290 6. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Quellenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
1. Einleitung 1.1. Fragestellung Οὐχ ἕξετε […] τὸν νόμον τοῦτον ἐν τῷ ἔτει τούτῳ, οὐδ᾽ ἄν πάντες ἐθελήσητε. Cass. Dio 38,4,3 „Ihr werdet das Gesetz in diesem Jahr nicht bekommen, selbst wenn ihr alle es wolltet.“ In diesem einen Satz, den der Consul M. Calpurnius Bibulus laut Cassius Dio den Teilnehmern einer contio zum Agrargesetz seines Kollegen C. Iulius Caesar entgegenwarf, drückt sich die Krise des Jahres 59 v. Chr. in ihrer Gesamtheit aus. Auf der einen Seite stand das versammelte Volk, das sich auf dem Versammlungsplatz eingefunden hatte, um die Argumente für oder gegen die promulgierte Gesetzesinitiative zu hören. Denn über deren Annahme sollte es in einer späteren Versammlung abstimmen. Ihm gegenüber stand der einzelne Magistrat, der keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht nur unabhängig von jeglichen Argumenten, sondern auch von den Präferenzen des Volkes an seiner Entscheidung festhalten würde, die Gesetzesinitiative seines Kollegen im höchsten Amt der Republik auf jede erdenkliche Weise zu verhindern. Bibulus stellte damit öffentlich und in radikalster Weise die maiestas populi Romani infrage.1 Indem er den Präferenzen der Teilnehmer der contio keinerlei Bedeutung beimaß, ließ er die öffentliche Versammlung des Volkes zu einer Farce verkommen. Mit diesem einen Satz nahm der oberste Magistrat der Republik die politische Enteignung des römischen Volkes vor.2 Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zwischen den Kollegen im Consulamt brach der Consul Caesar den Widerstand seines Kollegen und der drei in dessen Sinne intercedierenden Volkstribunen, indem er diese am Tag der Entscheidung vom Versammlungsplatz vertreiben ließ. Bibulus zog sich nach dem erfolglosen Versuch, das 1 2
Vgl. Jehne 2011, S. 117 f. Claudia Tiersch spricht von einem „Offenbarungseid jeglicher Legitimierungsansprüche“ des Senats (vgl. Tiersch 2009, S. 64), dessen Interesse Bibulus und seine Unterstützer mit ihrem Handeln zu vertreten glaubten.
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Einleitung
Gesetz vom Senat kassieren zu lassen, für den Rest des Jahres in sein Haus zurück. Er ließ aber an jedem Tag, an dem von Caesar und seinen Unterstützern im Volkstribunat Versammlungen abgehalten wurden, über ein Edikt verkünden, dass er den Himmel beobachten werde. Bibulus übte damit die dauerhafte Obnuntiation schlechter Vorzeichen, die den versammlungsleitenden Magistraten zum Abbruch der Versammlung zwingen sollten.3 Das Verhalten des Bibulus war beispiellos in der Römischen Republik. Bewusst nahmen er und seine Verbündeten in Kauf, dass keinerlei legale Gesetzgebungstätigkeit im gesamten Jahr möglich sein würde, um Caesar und seine Unterstützer in die Knie zu zwingen. Zwar scheiterte der Versuch und die sogenannten Triumvirn setzten die gewünschten Gesetzesinitiativen trotzdem um, die Verordnungen des Jahres 59 v. Chr. blieben jedoch wegen der Umsetzung trotz obnuntiierter omina oblativa4 prekär. Sie konnten nun jederzeit aufgrund sakraler Bedenken kassiert werden, wenn sich das Machtverhältnis zu Ungunsten der Triumvirn verschieben sollte. Der Verhinderungsfeldzug des Bibulus läutete den Schlussakt der libera res publica ein, denn nach diesem Jahr, in dem das ‚Triumvirat‘ seine Gesetzesinitiativen ungeachtet tribunicischer Intercessionen und magistratischer Obnuntiationen mit Gewalt durchgesetzt hatte, war allen Teilnehmern klar, dass sich die politischen Spielregeln der Republik dauerhaft verändert hatten. Die von dem optimatischen Kreis um M. Porcius Cato und Bibulus vorangetriebene Eskalation des Konflikts zwischen einem entschlossenen Teil der Senatsaristokratie und drei einzelnen sehr einflussreichen nobiles, die sich zu einem Zweckbündnis von bisher ungekannter Machtkonzentration zusammengefunden hatten, ließ das seit Jahren stark beanspruchte politische Feld zwischen der patricisch-plebeischen Senatsaristokratie, dem römischen Volk und einzelnen mächtigen nobiles kollabieren.5 Die wesentlichen politischen Entscheidungen
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Zur spectio des Bibulus: Cic. Att. 2,16,2; dom. 40; har. resp. 48; Sest. 129; Vat. 5; 15; 17; Cass. Dio 38,6,1 u. 5 (Nach Cassius Dio erklärte Bibulus noch vor der entscheidenden Versammlung alle restlichen Tage des Jahres zu feriae und wies nach seinem Rückzug per Edikt darauf hin, dass an diesen Tagen keine Versammlungen stattfinden dürfen.); App. civ. 2,12; Plut. Pomp. 48,1–4; Caes. 14,6. In der Römischen Republik wurden die direkt von den Göttern erfragten omina impetrativa von den sich selbst zeigenden omina oblativa geschieden (zum grundlegenden Unterschied vgl. Mommsen StR I, S. 103 ff.). Wurden letztere obnuntiiert, also dem versammlungsleitenden Magistrat gemeldet, musste dieser die Versammlung abbrechen oder riskieren, dass der Volksbeschluss später aufgrund eines erzeugten vitium vom Senat kassiert wurde. Im Rahmen dieser Arbeit wird häufig von „dem“ Volk, „der“ plebs, „der“ Senatsaristokratie, „den“ Rittern oder „den“ nobiles mit ihren Präferenzen, Wertvorstellungen oder Zielen gesprochen. Selbstverständlich handelte oder entschied „das“ versammelte Volk oder „der“ tagende Senat, wie jedes Kollektiv, nicht als einzelner homogener Akteur, denn jedes Kollektiv besteht notwendigerweise aus Individuen mit je eigenen Interessen, Wertvorstellungen und Zielsetzungen. Aufgrund der Quellenlage lassen sich m. E. zwar zumindest für die letzten Jahrzehnte der Republik allgemeinere Aussagen zur Zusammensetzung der Volksversammlungen treffen. So halte ich es bspw. für überzeugend, dass es eine größere Akteursgruppe gegeben hat, die regelmäßiger als andere die contiones besuchten, weil sie in der Nähe des Forums als Händler und Handwerker tätig wa-
Fragestellung
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wurden im letzten Jahrzehnt der Republik in einem zähen Ringen zwischen ‚Kommissaren‘6 des Triumvirats und der radikal-optimatischen Gruppe um Cato und Bibulus durchgesetzt, ohne dass der populus Romanus, mit Ausnahme der Wahlen, von der Senatsaristokratie noch als politisch relevanter Faktor wahrgenommen wurde. Daran änderten auch die Agitationen des P. Clodius Pulcher nichts, dessen Instrumentalisierung eines Teils der stadtrömischen plebs weniger der Wiedereingliederung des römi-
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ren, und daher von popularen Senatoren besonders in den Blick genommen wurden. Christian Meier bezeichnet sie als plebs contionalis (vgl. Meier 1965, Sp. 614; Vanderbroeck 1987, S. 92 ff.; Tan 2008, S. 172 ff. mit weiteren Verweisen). Aber nicht alle Forscher halten die Existenz einer solchen Gruppe für historisch. So geht Henrik Mouritsen davon aus, dass „it is not possible to reconstruct the social profile of contional crowds on the basis of explicit ancient testimonies, although we might note that the once widely held notion of a lowly plebs contionalis of local shopkeepers is not based on any concrete evidence. The concept of a solid and respectable, almost modern-looking middling class of shopkeepers and craftsmen is itself likely to be an anachronism, not least because these economic functions appear to have been overwhelmingly performed by freedmen.“ (Mouritsen 2013, S. 71). Gibt es also schon in diesem Bereich divergierende Ansichten aufgrund der spärlichen Quellenlage, so lässt sich im Einzelfall im Grunde nie bestimmen, wie sich das jeweilige Kollektiv konkret zusammensetzte. So urteilt bspw. Francisco Pina Polo über die römischen Volksversammlungen: „Jedenfalls läßt sich nicht genau erklären, wer die Teilnehmer an den Volksversammlungen waren. Die Quellen geben keinen Aufschluß darüber, da sie nur allgemeine Termini enthalten.“ (Pina Polo 1996, S. 130). Den Berichten der antiken Autoren über die im Rahmen dieser Arbeit behandelten Debatten, lassen sich aber sehr wohl Hinweise entnehmen, welche Positionen mehrheitsfähig waren oder wie stark der Grad der Unterstützung durch „das“ versammelte Volk oder „den“ tagenden Senat für die vorliegende Gesetzesinitiative war. Hinzu kommt, dass die Berichte häufig Aufschluss darüber geben, welche Argumente und welche dahinterstehenden Werte den Ausschlag dafür gegeben haben, dass sich eine bestimmte Position durchsetzte oder abgelehnt wurde. Auch sollte gerade im Hinblick auf die Analyse von Entscheidungssituationen in der Römischen Republik bei der Erwähnung einer überwältigenden Mehrheit oder eines erzielten Konsenses nicht automatisch davon ausgegangen werden, hierbei handele es sich um eine historiographische Erfindung oder Übertreibung. Solange es im Einzelfall keine guten Gründe dafür gibt, die Geschlossenheit der plebs oder des Senats am Ende der Debatte über eine bestimmte Angelegenheit anzuzweifeln, sollte danach gefragt werden, wie es den Akteuren gelang, Einigkeit zu erzielen. Wenn also im Rahmen dieser Arbeit von „dem“ Volk oder „den“ Senatoren die Rede ist, die auf eine bestimmte Art und Weise handeln, dann soll damit verdeutlicht werden, dass die Quellen den Schluss zulassen, dass die vielen Individuen im Kollektiv große Mehrheiten gebildet und ihre Forderungen mit mehr oder weniger Nachdruck vertreten haben. In dem Moment, in dem sich Volkstribunen und ordentliche Magistrate als ‚Kommissare‘ eines einzelnen nobilis oder einer Gruppe von nobiles verstanden, wurden sie konsensunfähig. Anstatt sich frei und selbstständig an den jeweiligen Argumenten oder den Präferenzen verschiedener Gruppen des Gemeinwesens orientieren zu können, banden sie sich selbst an die Aufträge ihrer Unterstützer. Damit mussten sich die Fronten verhärten. Egon Flaig hat im Zusammenhang mit dem Konsensprinzip auf die allgemeine Problematik aufmerksam gemacht: „Bindet das Mandat den Deputierten, so daß er Beschlüssen nur zustimmen darf, falls diese nicht Anweisungen seines Wahlkreises zuwiderlaufen, dann kann dieses Mandat im Grenzfalle ganz >unfrei< werden, also sich in ein >imperatives Mandat< verwandeln.“ (Flaig 2013, S. 164). Die Senatsaristokratie war sich der Gefahr durchaus bewusst, die von Magistraten ausging, die sich als „Kommissare“ anderer Senatoren verstanden. Bereits der ältere Tiberius Gracchus wies im Jahr 187 den Volkstribunen M. Aburius im Senat zurecht, der sein Veto im Interesse des Consuls M. Aemilius Lepidus eingelegt hatte (Liv. 39,4,4–5,6). Zu diesem Fall vgl. Flaig 2017, S. 399–408.
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Einleitung
schen Volkes in die res publica diente, sondern eher Ausdruck des sich neu formierenden politischen Feldes7 war, das dem Intimfeind Ciceros neue Möglichkeiten bot, sich eine eigene Machtbasis zu schaffen.8 Die Formel Senatus Populusque Romanus war – als Folge der öffentlich aufgeführten Tragödie zwischen Bibulus und Caesar – nun endgültig zu einer leeren Worthülse verkommen.9 Der Fall des Jahres 59 v. Chr. war der schwerste Normenkonflikt im Zusammenhang mit Obstruktionen, d. h. bewusst herbeigeführten Verzögerungen und Verhinderungen von politischen Entscheidungen. Bibulus setzte die Obstruktionen absolut und machte allen Beteiligten deutlich, dass er jegliche Versuche, eine Gesetzesänderung in seinem Amtsjahr vorzunehmen, verhindern würde10 und zwar unabhängig von jeglichem Druck von Außen. Damit degradierte der obstruierende Magistrat alle anderen Teilnehmer des politischen Entscheidungsprozesses zu ohnmächtigen Zuschauern, die sich dem Willen des Magistrats unterwerfen mussten, da ihre Präferenzen keinerlei Bedeutung für ihn hatten. Bibulus verwendete die Obstruktion auf extreme Weise. Sie diente ihm vor allem zur Bekämpfung des politischen Gegners und nicht in erster Linie zur Verhinderung einer strittigen Gesetzesinitiative.11 Ein solches Vorgehen bezeichnet Erich Brandenburg als ‚prinzipielle Obstruktion‘12; sie ist ein Grenzfall und sie ist selten. Die prinzipielle Obstruktion stellt für ein Gemeinwesen eine große Belastungsprobe dar, da sich ein Teil der politischen Gemeinschaft bewusst ausklammert und seine eigene Vorstellung vom Gemeinwohl zu der einzig gültigen und erstre7
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„Ein Feld ist ein Kräftefeld und ein Kampffeld zur Veränderung der Kräfteverhältnisse. In einem Feld, wie dem politischen, religiösen oder jedem anderen Feld, wird das Verhalten der Akteure durch ihre Position in der Struktur des Kräfteverhältnisses bestimmt, das für dieses Feld zu dem betreffenden Zeitpunkt charakteristisch ist.“ (Bourdieu 2001, S. 49). Vgl. Nippel 1988, S. 109 und Benner 1987, S. 56 ff. Anders dagegen Spielvogel 1997, S. 56–74. So interpretiert Claudia Moatti die Reformen Sullas als den Versuch, der zunehmenden Bedeutung des römischen Volkes innerhalb der res publica aktiv entgegen zu wirken: „On peut même dire que plus le peuple politique de Rome devient influent et visible, plus il disparaît des textes officiels et se voit confisquer l’espace judiciaire, avant de perdre, sous l’Empire, le droit d’élire ses magistrats ou le droit de voter des lois. Au nom de la res publica, les mesures de Sylla allaient donc à l’encontre de la réalité politique et sociale.“ (Moatti 2018, S. 155 f.) Vgl. Cass. Dio 38,4,3. Das unterscheidet den Fall von dem des M. Octavius im Jahr 133 v. Chr. Während jener nämlich als Volkstribun vermutlich im Auftrag einer nicht näher bestimmten Gruppe von nobiles sein Veto absolut setzte, um das Ackergesetz des Tiberius Gracchus zu verhindern, zielte das Vorgehen von Bibulus und seinen Unterstützern darauf ab, durch die konsequente Blockade der Gesetzgebungstätigkeit Caesars den in ihren Augen viel gefährlicheren Pompeius daran zu hindern, die eigene Machtfülle abzusichern, indem er die Ansiedlung seiner Veteranen und die Anerkennung seiner Neuregelungen im Osten des Reiches zu legitimieren versuchte. Während also im Jahr 133 v. Chr. die Kommunikation zwischen Tiberius Gracchus und der Nobilität scheiterte und alle Beteiligten in die Blockade gerieten, handelte es sich im Jahr 59 v. Chr. um eine Agenda, die Bibulus umzusetzen versuchte. Dies wird bereits daran deutlich, dass die Optimaten Bibulus als regelrechten Gegenkandidaten zu Caesar im vorhergehenden Wahlkampf durch massive Geldspenden unterstützt hatten. Vgl. Suet. Iul. 19,1. Vgl. Brandenburg 1904, S. 5.
Fragestellung
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benswerten Form überhöht. Wer auf diese Weise obstruiert, verweigert sich nicht nur dem politischen Diskurs, sondern negiert das Politische insgesamt.13 Bibulus war nicht der erste in der Geschichte der Römischen Republik, der das Mittel der Obstruktion einsetzte, um den politischen Gegner zu bekämpfen, aber keiner ist in seiner Ausübung je so weit gegangen wie er. Wie sehr Bibulus damit den eigenen Handlungsspielraum erweiterte, wird erst deutlich, wenn man die Verwendung der Obstruktionen seit dem Ausgang der sogenannten Ständekämpfe betrachtet. Obstruktionen, insbesondere in der Form des tribunicischen Vetos, spielten in der Römischen Republik wohl bereits früh eine wichtige Rolle. Nach römischer Vorstellung diente das Veto des Volkstribunen in den Auseinandersetzungen zwischen Patriciern und Plebeiern noch als plebeisches Druckmittel im Kampf sowohl um sozialen Ausgleich für die einfachen Bürger, die die Hauptlast in den Kriegen zu tragen hatten, als auch um politische Teilhabe der plebeischen Elite.14 Während der schrittweise vorgenommenen Neuformierung der patricisch-plebeischen Senatsaristokratie und der zwangsläufigen Integration des Volkstribunats in die neue res publica der Mittleren und Späten Republik, die sich zumindest in Grundzügen nachvollziehen lassen,15 wandelte sich die Funktion des Vetos jedoch. Das Volkstribunat, dessen Amtsträger sich ebenfalls aus der senatorischen Aristokratie rekrutierten, wurde zu einer Stufe eines spezifisch plebeischen Karriereschemas.16 Die Verwendung der tribunicischen Intercession muss daher ab der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts immer auch vor dem Hintergrund einer angestrebten senatorischen Karriere mit dem Ziel des maximus honos, dem Consulat, bewertet werden. Da mit ihr jegliche magistratische Amtshandlung unterbunden werden konnte, befinden sich die Vetos der Volkstribunen immer wieder im Zentrum der überlieferten politischen Auseinandersetzungen und erlauben dem Althistoriker einen Einblick in das Zustandekommen von Entscheidungen im römischen Gemeinwesen, das von einer hoch kompetetiven und zugleich konsensorientierten Führungsschicht geprägt war.17 Seit 100 v. Chr. wurde auch vermittels der 13 14 15 16
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„Das kollektive Entscheiden ist das Herz des Politischen schlechthin. An der Fähigkeit zum gemeinschaftlichen Entscheiden bemißt sich letztlich die Politische Kultur – und zwar jegliche überhaupt.“ (Flaig 2013, S.23). Zur Konzeption der tribunicischen Intercession im Rahmen des Ständekampf-Narrativs der Historiographen der Späten Republik und Frühen Kaiserzeit vgl. Görne 2019. Vgl. dazu die Arbeiten von Karl-Joachim Hölkeskamp zum vierten und dritten Jahrhundert v. Chr.: Hölkeskamp 1988; ders. 2011. Zu den Karriereschemata in der Mittleren Republik vgl. Beck 2005. Hans Beck zeigt, dass sich die durch die lex Villia annalis geregelten Karriereschemata bereits vorher herausbildeten. Die Einführung des cursus honorum erscheint daher als Versuch der Nobilität, die durch die Erhöhung der Praetorenstellen verschärfte inneradlige Konkurrenz zu kontrollieren. Es ist jedoch anzunehmen, dass Mitglieder der plebeischen Elite schon im vierten Jahrhundert das Volkstribunat als ein exklusives Karrieresprungbrett begriffen, da sich pro Jahr zehn Plebeier in herausgehobener Stellung für eine spätere Consulatsbewerbung empfehlen konnten. Zum Spannungsfeld von Konsens und Konkurrenz in der Römischen Republik vgl. Hölkeskamp 2006, S. 360–396; Rosenstein 2006, S. 365–382 und Nebelin 2014, S. 141–174.
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Einleitung
Obnuntiation, d. h. einer sakralen Form der Obstruktion, vermehrt auf die politische Entscheidungsfindung eingewirkt bzw. wurden bestimmte, bereits beschlossene Gesetze nachträglich kassiert. Hinzu kommen außerdem die besonders vom jüngeren Cato angewandten Dauerreden im Senat sowie weitere Formen von Obstruktionen, über deren Anwendungen wir zumindest für das erste Jahrhundert unterrichtet sind.18 Dass die Senatsaristokratie den Obstruktionen mit ihren weitreichenden Folgen einen solchen Raum ließ, ist erklärungsbedürftig.19 Obwohl die Gefahr der absoluten Blockade stets latent vorhanden war, hat die politische Klasse der Republik anscheinend die Vorteile der Obstruktionen höher gewertet als ihre Nachteile. Und tatsächlich kam es erst spät, erstmals um 100 v. Chr. und dann in den 60er Jahren, zu dem Versuch, vermittels einer prinzipiellen Obstruktion die Machtstellungen des C. Marius und später des Cn. Pompeius Magnus zu erschüttern. Sowohl das lange Ausbleiben als auch das Eintreten des äußersten Grenzfalles der Obstruktion lassen Rückschlüsse auf das politische Feld der Römischen Republik zu. Die Angehörigen der Senatsaristokratie sahen sich von verschiedenen Seiten hohen Erwartungshaltungen ausgesetzt. Das Leben eines römischen Senators spielte sich bereits seit frühester Jugend weitestgehend in der Öffentlichkeit ab.20 Sogar das eigene Haus verfügte mit dem Atrium über einen öffentlichen Bereich, der den politischen Führungsanspruch einer senatorischen gens gegenüber der eigenen Clientel unterstrich, wenn sie bei der morgendlichen salutatio dem Senator ihre Aufwartung machte.21 Wie Hans Beck herausgestellt hat, mussten sich Senatoren daher in vielen verschiedenen Rollen vor den Augen einer aufmerksamen und interessierten Öffentlichkeit bewähren, wenn sie eine erfolgreiche Karriere anstrebten.22 Insbesondere die ‚Prominenzrollen‘, vor allem die in der Regel zeitlich begrenzten Ämter, die den Träger exponierten, boten dazu große Chancen. Sollte die Amtsführung zur Mehrung der eigenen auctoritas beitragen, so war der Amtsträger bestrebt, seine Rolle ‚gut‘ zu spielen. 18 19 20
21 22
Vgl. de Libero 1992, S. 15 ff.; S. 53 ff.; S. 69 ff. Vgl. Heuss RG, S. 37. Karl-Joachim Hölkeskamp führt, den Überlegungen Georg Simmels (vgl. Simmel 2001, S. 284–382; bes. 323 ff.) folgend, die „kollektive Öffentlichkeitsfixierung“ der Senatsaristokratie auf die hohe Konkurrenz innerhalb des römischen Adels zurück. Dieser ist auf das dauerhafte Werben um die Akzeptanz aller relevanten Wählerschichten angewiesen und sucht daher in extremer Weise die Öffentlichkeit. Vgl. Hölkeskamp 2006, S. 387. Dazu gehörte auch, dass sich erfolgreiche Senatoren um ein wiedererkennbares und positives öffentliches Image bemühen mussten, wie Henriette van der Blom in einer Untersuchung zu öffentlichen Reden im republikanischen Rom unterstrichen hat. Vgl. van der Blom 2017, S. 325–334. Vgl. Flower 1996, S. 185–222; Flaig 2003a, S. 49–68 und Rollinger 2014, S. 140–155; anders hingegen Goldbeck 2010, S. 130–146. „In einem stratifizierten Ambiente schaffen Rollen […] eine besondere Erwartungssicherheit, da sie ihrerseits nicht zwingend individuelle Personen oder Charaktere voraussetzen, sondern vielmehr die Existenz einer Statusgruppe, die sich von den anderen Gesellschaftsschichten unterscheidet.“ (Beck 2009, S. 106.); zur Konzeption der römischen Gemeinschaft als ‚mask-to-mask-society‘ vgl. Martin 2002, S. 348.
Fragestellung
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Die öffentliche Wahrnehmung maß das Verhalten des Amtsträgers nach bestimmten, über exempla tradierten Normen. Dieser fand sich daher mit zum Teil schwer zu erfüllenden Erwartungshaltungen konfrontiert, die seinem Handeln bis zu einem gewissen Grade Schranken setzten.23 Denn da Normen sowohl dem handelnden Individuum als auch seiner es bewertenden Umgebung Orientierung darüber gaben, was zu einer guten Amtsführung gehörte und was nicht, waren seine Handlungsspielräume begrenzt.24 Besonders der Volkstribun, der über die weitreichendsten Obstruktionsmittel verfügte, nahm dabei eine Rolle ein, die zwar besonders volksfreundlich sein sollte, in der Mittleren und Späten Republik aber eben auch nicht der Senatsherrschaft diametral gegenüber stehen durfte.25 Eine rücksichtslose Amtsführung und eine unbelehrbare Art führten schnell zu einem vorzeitigen Ende der Karriere, da der zum Aufstieg nötige Rückhalt der Senatsaristokratie und besonders ihres innersten Kerns, der Nobilität, verloren ging oder gar nicht erst erworben wurde.26 Allerdings konnte bei einem einseitig am Interesse der eigenen Standesgenossen ausgerichteten Handeln des Volkstribunen die Unterstützung des Volkes in offene Feindschaft umschlagen, mit zum Teil lebensbedrohlichen Folgen.27 Auch wenn die Volkstribunen im besonderen Maße unter Beobachtung der plebs standen, so mussten die anderen Angehörigen der römischen Oberschicht, die sich in der politischen Öffentlichkeit bewegten, die Folgen ihrer Handlungen ebenfalls gut abschätzen können, um nicht die eigene Stellung innerhalb der res publica nachhaltig zu gefährden.28 Ihre Handlungsspielräume waren begrenzt und zwar insbesondere 23 24 25 26
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Innerhalb der Senatsaristokratie bestand eine relativ hohe Einigkeit über die jeweils geltenden Normen, weshalb sich die exempla einzelner römischer Familien zu einem allumfassenden Kanon von Handlungsmaximen verdichteten. Vgl. Blösel 2000, S. 48. Vgl. Flaig 2005, S. 216. Zu den deutlichen Unterschieden des Volkstribunats zur ordentlichen Magistratur vgl. Bleicken 1955, S. 25 f. Alexander Yakobson hat jüngst darauf hingewiesen, dass trotzdem das politische System der Römischen Republik regelmäßig öffentliche Konfrontationen zwischen den rangniedrigeren Volkstribunen und den Consuln vorsah, sich die Vertreter der mächtigen Spitzengruppe im Senat an ihren Kontrahenten bitterlich rächen konnten. Vgl. Yakobson 2018, S. 33 f. Die stadtrömische plebs ging bisweilen mit äußerster Härte gegen ehemalige, nun nicht mehr sakrosankte, Volkstribunen vor, die während ihrer Amtszeit unbeirrbar an einem Veto gegen eine Gesetzesinitiative festgehalten hatten, obwohl eine deutliche Mehrheit der plebs das Gesetz befürwortet hatte. So verdankte Octavius u. a. seinem Kontrahenten Tiberius Gracchus, dass er nicht nach seiner Absetzung im Jahr 133 v. Chr. von der versammelten plebs getötet wurde (vgl. Plut. Tib. 12,3). P. Furius wurde im Jahr 98 v. Chr. von der plebs zerissen, nachdem er im Jahr zuvor mit seinem Veto die allgemein gewünschte Rückrufung des Q. Caecilius Metellus Numidicus verhindert hatte, obwohl dessen Sohn ihn mit einem squalor konfrontiert hatte (vgl. App. civ. 1,33; Cass. Dio fr. 95,1–3). Zu dieser Episode nun ausführlich: Degelmann 2018, S. 228–233. So verspielte der Sieger über Karthago und Numantia, P. Cornelius Scipio Aemilianus, im Jahr 130 seinen hohen Kredit beim römischen Volk, indem er auf die sponsio des Volkstribunen C. Papirius Carbo zur Tötung des Ti. Gracchus zunächst unsouverän antwortete und sich in Reaktion auf die dann einsetzenden Unmutsäußerungen des Volkes in demütigenden Beschimpfungen gegen den versammelten populus erging. Vgl. zu diesem Fall: Flaig 2003a, S. 205–208.
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Einleitung
dann, wenn die Vorherrschaft der Nobilität infolge von Fehleinschätzungen und allzu selbstbezogenen politischen Entscheidungen infrage gestellt wurde.29 Da die Grenzen des Handelns selten eindeutig waren, sich verschieben, erweitern oder verengen konnten, sind zahlreiche Normenkonflikte für die Römische Republik überliefert.30 Dabei verweisen die Obstruktionen selbst in der Regel auf das jeweils politisch Strittige, weil sich in ihnen der Dissens innerhalb der Senatsaristokratie über eine Gesetzesvorlage manifestierte. Die fundamentale Bedeutung der Obstruktionen für die politische Kultur der Römischen Republik herauszuarbeiten, ist das zentrale Anliegen meiner Untersuchungen. Dabei stehen die Normenkonflikte im Zentrum, in denen Obstruktionen eine Rolle spielten, da für den Althistoriker dort Grenzen am deutlichsten sichtbar werden, wo sie überschritten werden.31 Anstatt eine lückenlose Dokumentation aller überlieferten Obstruktionsfälle anzustreben32, werde ich daher anhand von ausgewählten Fällen, an denen sich zeigen lässt, welche Bedeutung die Obstruktionen für die politischen Entscheidungsprozesse der Römischen Republik hatten, das Thema neu zu beleuchten suchen. 1.2. Forschungsüberblick Die Obstruktionen in der Römischen Republik sind bisher nur selten ausführlich behandelt worden. In den meisten althistorischen Arbeiten werden die Obstruktionen im Kontext des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes behandelt33 bzw. beschränken sich die Untersuchungen auf einzelne Obstruktionsarten34. Die 1992 publizierte Dissertation von Loretana de Libero ‚Obstruktion. Politische Praktiken im Senat und in der Volksversammlung der ausgehenden Republik (70–49 v. Chr.)‘ ist die bisher einzige Monographie, in der das Obstruktionsphänomen im Zentrum steht.35 Ich
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Dies geschah im Zuge der Iugurthinischen Affäre. Sie führte zur Verurteilung von fünf nobiles in Hochverratsprozessen und schließlich zum Aufstieg des C. Marius (vgl. Sall. Iug. 73,2–7; Cic. Brut. 127 f.). Das Thema wurde von Christoph Lundgreen ausführlich behandelt: Lundgreen 2011. Vgl. Flaig 2013, S. 315. Die mir bekannten Obstruktionsfälle zwischen 366 und 49 v. Chr. befinden sich in einer Liste im Anhang. Vgl. u. a. Burckhardt 1988, S. 159–209; Flaig 2003a, S. 213–222; Lundgreen 2011, S. 277–285; Meier RPA, S. 129 f., 145, 157–159; Nippel 1988, S. 55–58; 60–62; 64–66; Rüpke 2005, S. 1448–1453; Thommen 1989, S. 207–248; Timmer 2008, S. 295–317. Vgl. u. a. Groebe 1905; Linderski 1971; ders. 1986; Mommsen STR I, S. 73–112, 258 ff.; Meier 1968; ders. 1984; Rilinger 1989; Weinrib 1970; Weinstock 1937b. Vgl. dazu die Rezensionen von Gruen 1995a; Linderski 1995; Drummond 1994; Bonnefond-Coudry 1994; Lambrecht 1994; Ungern-Sternberg 1993.
Forschungsüberblick
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sehe in der Hauptsache vier Kritikpunkte, die m. E. eine Neubearbeitung der Thematik nach fünfundzwanzig Jahren rechtfertigen: 1. Der Zeitraum der Untersuchung de Liberos (70–49 v. Chr.) ist zu eng gefasst. Die Begründung für ihr Vorgehen, nämlich die deutlich bessere Quellenlage für die letzten zwei republikanischen Jahrzehnte36, liegt zwar auf der Hand. Die Verengung des Untersuchungszeitraums auf die durch Sullas Reformen und schwere innen- und außenpolitische Krisen geprägte Republik des Consuls Cicero hindert jedoch daran, den Wandel im Umgang mit der Obstruktion im Laufe der Republik wahrzunehmen, auf den Christian Meier bereits früh hingewiesen hat37. Werden die letzten Jahrzehnte der Republik losgelöst von den vorhergehenden Jahrhunderten betrachtet, so besteht die Gefahr, dass den veränderten Handlungsspielräumen, Spielregeln und Machtkonzentrationen innerhalb der Späten Republik, die einen anderen Umgang mit der Obstruktion erwartbar machen, nicht genug Beachtung geschenkt wird. Die Entschleunigung von politischen Entscheidungen hatte es zwar ursprünglich der Nobilität ermöglicht, Spannungen innerhalb der Senatsaristokratie abzubauen, seit dem ausgehenden zweiten Jahrhundert und besonders in Ciceros Zeit weicht sie jedoch immer häufiger der dauerhaften Blockade zur Bekämpfung des politischen Gegners und führt – wie auch im Fall des Bibulus – keineswegs zur Lösung von Konflikten. 2. Es fehlt ein theoriegeleiteter Abschnitt, in dem die Unterschiede zwischen politischen Obstruktionen moderner Staatswesen und der Römischen Republik deutlich herausgearbeitet werden. Die Verwendung des Begriffs ‚Obstruktion‘, vom lateinischen Verb obstruere38, für eine bewusst herbeigeführte Verzögerung im politischen Entscheidungsprozess ist erst für das 19. Jahrhundert belegt39 und ist eine Folge der sich häufenden und an Intensität zunehmenden Fälle von Blockaden in den Parlamenten. Zwischen dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert wird die politische Obstruktion von Rechtswissenschaftlern schließlich als Kategorie für den modernen Parlamentarismus herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund erscheint die Übertragung dieser Kategorie ohne eine vorhergehende Untersuchung hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit für die politischen Prozesse der Römischen Republik problematisch.
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Vgl. de Libero 1992, S. 11. Vgl. Meier 1968, S. 86–100. Im Deutschen mit „verbauen, verrammeln, versperren, verstopfen“ zu übersetzen. Der früheste mir bekannte Beleg für die Verwendung des Wortes im politischen Kontext findet sich im US-Senat im Jahr 1841 während der Debatte um die sogenannte Bank Bill der Whig-Party (siehe dazu Kapitel 2.2).
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Einleitung
3. Die Monographie ist nach einer strengen Systematisierung der politischen Obstruktionsmechanismen aufgebaut, wodurch die einzelnen untersuchten Fälle von ihrem historischen Kontext losgelöst betrachtet werden. De Libero liefert mit ihrem Ansatz zwar eine weitgehend lückenlose Dokumentation aller bekannten Obstruktionsfälle aus dem von ihr untersuchten Zeitraum, die als Materialsammlung sehr nützlich ist, aber sie zwängt die Fälle gleichzeitig in eine Systematisierung, die zum Verständnis der politischen Obstruktionen wenig beiträgt. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die politischen Akteure der Römischen Republik lediglich ein bestimmtes Instrumentarium zur Hand gehabt hätten, mit dem sie missliebige Entscheidungen hätten verhindern können. Dabei wird aber nicht deutlich, dass sie sich auch in der Späten Republik in einem umfangreichen, sich zum Teil deutlich überschneidenden Beziehungsgeflecht befanden, das maßgeblich ihr Verhalten erwartbar machen sollte. Die unterschiedlichen Fälle der Obstruktion müssen daher immer im jeweiligen historisch-sozialen Kontext untersucht werden, um die Bedeutung einzelner Handlungen zum einen verständlich zu machen und zum anderen die Wirkungen auf das politische Feld zu verdeutlichen. Wenn einzelne politische Akteure Erfolg damit hatten, bestimmte, über Jahrhunderte gültige Konventionen zu brechen, indem sie die Obstruktion stur aufrechterhielten, sodass nur noch das Mittel der physischen Gewalt die Blockade beenden konnte, definierten sie die Spielregeln der Politik neu. Entsprechend muss dann die Frage gestellt werden, welche Auswirkungen dieser Vorgang auf die politische Kultur der Römischen Republik insgesamt hatte. Diese Frage zu beantworten leistet de Liberos Ansatz nicht. 4. Die Hauptthese de Liberos, anhand der politischen Obstruktionen in der Späten Republik könne man ablesen, dass „die politische Ordnung auch in den letzten beiden Jahrzehnten der Republik unbeschadet in ihren Kontroll- und Regulationsmechanismen bestehen“40 blieb, ist nicht haltbar. Anhand der Veränderungen in der politischen Kommunikation, der Uneinigkeit der Nobilität, der Verschärfung der inneradligen Konkurrenz, der zunehmenden Entpolitisierung der stadtrömischen plebs, der herausragenden Stellung einzelner mächtiger nobiles und deren Tendenz, Gesetze notfalls am Senat vorbei direkt über die Volksversammlung verabschieden zu lassen, offenbart sich u. a. die Krise der Späten Republik,41 die auch an den Obstruktionen ablesbar ist. Denn in dem Moment, in dem die Obstruktion in ihrer gesamten Vielfalt (Intercession, Obnuntiation, longa oratio etc.) als Mittel zur Bekämpfung des politischen Gegners verwendet wird und nicht mehr, um eine politische Entscheidung zu entschleunigen, tritt ein gefährlicher Wandel ein. Der politische Gegner wird gezwungen, wenn er den völligen Stillstand der res publica ver40 41
de Libero 1992, S. 105. Vgl. zur Krise der Republik u. a. Walter 2009; Bringmann 2003; Christ 2000; Steel 2013; Mackay 2009; Hölkeskamp 2017a, S. 311–327 mit weiteren Literaturhinweisen.
Forschungsüberblick
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hindern will, unter einem großen Verlust des eigenen Ansehens aufzugeben oder aber den ‚legalen‘ Widerstand mit dem ‚nicht legalen‘ Mittel der Gewalt zu brechen. Für de Libero ist dies ein Beweis für die funktionierende Ordnung der Republik, da sie den Gegner zu einem kriminellen Akt und damit zum Eingestehen der eigenen Niederlage zwingt. Dies ist m. E. jedoch ein eindeutiges Zeichen für eine Veränderung der politischen Spielregeln in der Späten Republik. Die Obstruktion verändert sich von einem Mittel zur Entschleunigung und Konsensstiftung zu einem Kampfmittel, das in hohem Maße einen Konsens von vornherein negiert und die politische Ordnung, die von der Handlungsfähigkeit seiner politischen Elite abhängig ist, destabilisiert. Neben den genannten Einwänden spricht für eine Neubearbeitung des Themas außerdem die Tatsache, dass seit der Publizierung der Dissertation im Jahr 1992 eine rege Forschungstätigkeit im Themenfeld der Römischen Republik stattgefunden hat. Die althistorische Forschung setzt sich, insbesondere in Deutschland, seit 25 Jahren intensiv mit der Kulturgeschichte des Politischen in der Römischen Republik auseinander. Vor allem seit der Debatte um die Demokratie-Thesen des britischen Althistorikers Fergus Millar in der Mitte der neunziger Jahre42 sind zu verschiedenen Teilgebieten des Forschungsfeldes wie der Memorialkultur43, der Kommunikation zwischen Senatsaristokratie und Plebs44, der inneradligen Konkurrenz45 sowie der Herstellung von Entscheidungen innerhalb der Römischen Republik46 zahlreiche Monographien und Aufsätze erschienen47, die unser Verständnis von der Römischen Republik entscheidend verändert haben. Die Vertreter des neuen Forschungsansatzes konzentrieren sich, freilich ohne die „Inhalte konkreter Politik, […] die sozialen Rahmenbedingungen, Institutionen und formalen Verfahren des ‚Subsystems‘ des Politischen“48 zu vernachlässigen, verstärkt auf die ‚Ausdrucksseite‘ der politischen Kultur, die sich u. a. in ritualisierten Handlungen, zwingenden Gesten und Festen manifestiert. Untersuchungen, die sich auf die kognitiv erfassbaren Dimensionen politischer Kultur konzentrieren, nehmen dabei das Sinnstiftende der politischen Handlungen in den 42 43 44
45 46 47 48
Vgl. Millar 1984; ders. 1986; ders. 1989. Einen grundlegenden Überblick zu dieser Debatte bietet Hölkeskamp 2004. Vgl. dazu u. a. Crawford 2011, S. 105–114, Hölkeskamp 2011b, S. 115–124 sowie Hurlet 2012, S. 20–43. Vgl. u. a. Biesinger 2016; Blösel 2003, S. 53–72; Bücher 2006; Flower 1996; dies. 2003, 39–52; Hölkeskamp 2012, S. 380–414; Walter 2003, S. 255–278; ders. 2004. Vgl. u. a. Arena 2012; Degelmann 2018; Döbler 1999; Flaig 1995, S. 77–128; ders. 2003; ders. 2005, S. 209–221; Hölkeskamp 1995, S. 11–50; Jehne 1993, S. 593–613; ders. 2000a, S. 207–236; ders. 2003, S. 279–298; Laser 1997; Morstein-Marx 2004; ders. 2013, S. 29–48; Mouritsen 2001; ders. 2013, S. 63–82; Pina Polo 1996; ders. 2011, S. 286–303. Vgl. u. a. Beck 2005; Hölkeskamp 2006, S. 360–396; Nebelin 2014, S. 141–174; Rosenstein 2006, S. 365–382. Vgl. u. a. Bonnefond-Coudry 1989; Flaig 2013; Kuhnert 2013; Lundgreen 2011; ders. 2017; Märtin 2012; Ryan 1998; Timmer 2009; ders. 2014; ders. 2017. Die enorme Produktion neuer Beiträge zu diesem Forschungsfeld lässt sich gut in Hölkeskamp 2011a, S. 305–331 und Hölkeskamp 2017b nachvollziehen. Hölkeskamp 2004, S. 57.
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Fokus. Sie stellen Fragen nach den Dispositionen einzelner Akteure und Gruppen, ihren Erwartungshaltungen und Handlungsspielräumen, ihren Verhaltensmustern und politischen Einstellungen sowie nach der kollektiven Identität der Bürgerschaft und ihrer Führungsschicht. Dabei zeigt sich, dass sich politische Entscheidungsprozesse in der Römischen Republik keineswegs allein über ein Verständnis der Institutionen, formalen Regeln und Gesetze nachvollziehen lassen. Den bisherigen Ergebnissen der Kulturforschung des Politischen, sofern sie für die Obstruktionen in der Römischen Republik relevant sind, Rechnung zu tragen und die damit verbundenen neuen Fragestellungen dafür fruchtbar zu machen, ist ein wesentliches Ziel dieser Untersuchung. 1.3. Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in zwei größere Abschnitte, einen theoriegeleiteten und einen empirischen. Im ersten der beiden Abschnitte werde ich zunächst anhand einer Typologie die kategorialen Unterschiede zwischen den einzelnen Obstruktionsarten herausarbeiten, um diese anschließend im folgenden Abschnitt auf ausgewählte Obstruktionsfälle der Römischen Republik anzuwenden. Eine Typologie der Obstruktionen im Sinne Max Webers 49 dient dazu, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Obstruktionsarten zu bestimmen. Dadurch lässt sich zum einen zeigen, dass die genuin römischen Formen zur Verhinderung bzw. Verzögerung von politischen Entscheidungen, namentlich Intercession und Obnuntiation, tatsächlich als Obstruktionen bezeichnet werden können. Zum anderen wird die nötige Trennschärfe zwischen den Kategorien und Begriffen erreicht, um diesen Verzögerungstechniken einen spezifischen Ort innerhalb der übergeordneten Kategorie ‚Obstruktion‘ zuweisen zu können. Ausgehend von der Überlegung, dass eine Obstruktion zunächst einmal ein von einem oder mehreren politischen Akteuren aufgestelltes Hindernis für eine kollektive Entscheidung darstellt, mit dem diese das Ziel verfolgen, die einer Entscheidung vorausgehende Deliberation direkt zu beeinflussen, wird nach den grundlegenden Prinzipien gefragt, auf deren Grundlage ein Akteur obstruieren kann (Kapitel 2.1). Durch die genaue Benennung der Prinzipien lassen sich Idealtypen der Obstruktion bestimmen, unter die die einzelnen Techniken der Obstruktion systematisch geordnet werden können. Auf diese Weise ermittele ich vier verschiedene Typen, denen jeweils ein anderes Obstruktionsprinzip zugrunde liegt, und arbeite die Möglichkeiten und Grenzen obstruktiven Verhaltens innerhalb des jeweiligen Typus heraus (Kapitel 2.2–2.5).
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Vgl. Weber 1973, S. 190 ff.
Aufbau der Arbeit
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Neben der Typenbildung, die ein klares Unterscheidungskriterium liefert, wird auch die Analyse einer extremen obstruktiven Verhaltensweise vorgenommen, die Erich Brandenburg als ‚prinzipielle Obstruktion‘ bezeichnet hat (s. o.). Dieses Verhalten bildet keinen eigenen Typus, da es bei allen vier Typen der Obstruktion auftreten kann und scheint sich auf den ersten Blick hinsichtlich der spezifischen Merkmale von den Typen zu unterscheiden (Kapitel 2.6). Im folgenden Unterkapitel untersuche ich einen weiteren Extremfall, der in dem jüngeren US-Senat seit den 1970er Jahren greifbar wird. Das als stealth filibuster bezeichnete Verhalten nenne ich ‚kostenlose Obstruktion‘ (Kapitel 2.7) und es ist wie die prinzipielle Obstruktion nur unter bestimmten politischen Rahmenbedingungen wahrscheinlich. Schließlich fasse ich in einem Fazit die Ergebnisse des Theorieteils zusammen (Kapitel 2.8). Im Abschnitt 3 der Arbeit werden die mittels der Typologie gewonnenen Kategorien auf die Verhältnisse der Römischen Republik angewandt. Ausgehend von den Überlegungen Christian Meiers zur tribunicischen Intercession50, dass für den Ausgang von Intercessionskonflikten die Kräfteverhältnisse zwischen den beteiligten Akteuren ausschlaggebend gewesen seien, nehme ich vor allem die Handlungsspielräume der Akteure in Obstruktionskonflikten in den Blick. Dabei konzentriere ich mich zunächst auf die tribunicische Intercession, da sie laut der Überlieferung zur Geschichte der Römischen Republik die mit Abstand am meisten verwendete Obstruktionsart gewesen ist. Anhand ausführlicher Einzelfallanalysen gehe ich der Frage nach, warum die Senatsaristokratie trotz der stets latenten Gefahr der absoluten Blockade an dieser weitreichenden Obstruktionsart festhielt und ihren Geltungsbereich nahezu uneingeschränkt ließ. Im Rahmen dieser Fallanalysen stelle ich die These auf, dass die Senatsaristokratie von der tribunicischen Intercession vor allem in Wertekonflikten profitierte, da sie als Mittel zur Entschleunigung dabei helfen konnte, die Gewichtung der Werte vorzunehmen (Kapitel 3.1). Daran anschließend werden die Ursachen für die Eskalation des Intercessionskonfliktes zwischen M. Octavius und Ti. Sempronius Gracchus im Jahr 133 v. Chr. untersucht. Die Ermordung des Gracchus während seines Volkstribunats spaltete das kollektive Gedächtnis der römischen Gemeinschaft51 und der daraus resultierende gravierende Deutungskampf sorgte dafür, dass der durch das verabsolutierte Veto des Octavius ausgelöste semantische Kampf52 um die Rolle der Intercession unentschieden blieb (Kapitel 3.2). In einem nächsten Schritt stehen die Folgen dieser Entwicklung für das politische Feld der Späten Republik im Fokus. Dreißig Jahre nach dem Volkstribunat des Ti. Gracchus führte das Bündnis zwischen einem übermächtigen Imperator und einem Volkstribunen dazu, dass eine Eskalati-
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Vgl. Meier 1968; ders. 1984. Flaig 2003a, S. 221. Vgl. Koselleck 1985, S. 113 ff.; Zur Anwendung des Konzeptes des semantischen Kampfes auf die Römische Republik vgl. Tiersch 2018, S. 35–68 und siehe bald den Sammelband von Claudia Tiersch und Marian Nebelin: Nebelin/Tiersch 2020.
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onsspirale in Gang gesetzt wurde, die einen deutlichen Wandel des Obstruktionsphänomens auslöste. Die Obstruktionen in der Späten Republik lassen sich zunehmend als Krisenphänomene beschreiben, die den beiden in Kapitel 2.6 und 2.7 vorgestellten extremen Ausprägungen der Obstruktion entsprechen (Kapitel 3.3). Im Fazit meiner Arbeit gehe ich schließlich der Frage nach, welche Rolle die Obstruktionen im Entscheidungssystem der Römischen Republik spielten (Kapitel 4).
2. Eine Typologie der Obstruktionen 2.1. Die vier Typen der Obstruktion Kollektives Entscheiden innerhalb eines Kollegialorgans1 erfordert die Deliberation. Denn ohne das Abwägen der Argumente bleiben den Stimmberechtigten die Alternativen und die möglichen Folgen einer Entscheidung unbekannt. Eine Obstruktion im politischen Kontext stellt hingegen ein Hindernis für das Entscheiden dar, das absichtlich von einem oder mehreren politischen Akteuren aufgestellt wird. Sie setzt grundsätzlich bei der Deliberation an, indem sie diese stört, in die Länge zieht, vertagt oder gar gänzlich verhindert. Unter einer Obstruktion wird nach dieser Definition das individuelle Verhalten eines oder das kollektive mehrerer politischer Akteure verstanden, nicht aber das Nichtzustandekommen einer gesamtstaatlich verpflichtenden politischen Entscheidung, weil zwei Kollegialorgane unterschiedlich entscheiden, wie dies in Zweikammersystemen der Fall sein kann. Demnach ist die Ablehnung eines Beschlusses des Deutschen Bundestages durch den Bundesrat, der zu einer erneuten Beratung der Materie im Bundestag führt, keine Obstruktion, das absichtliche Fernbleiben einer größeren Anzahl von Parlamentariern, um die Bundestagssitzung aufgrund eines nicht erreichten Quorums zur Auflösung zu zwingen, hingegen schon. Der grundlegende Unterschied ist, dass im ersten Fall das ‚Veto des anderen Kollegialorgans‘2 selbst aufgrund einer Mehrheitsentscheidung innerhalb des Organs zustande gekommen und folglich das Ergebnis einer Deliberation ist. Im zweiten Fall dagegen wird die Deliberation gestört und die Handlungsfähigkeit des Organs eingeschränkt.
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„Kollegialorgane lassen sich […] als Organe bezeichnen, die aus mehreren Personen bestehen. Diese nehmen gemeinsam die dem Organ zugewiesenen Aufgaben und Zuständigkeiten wahr. Innerhalb des Kollegialorgans erfolgt die Willensbildung nach einem festgelegten inneren Organisationsrecht. Unter kollegialen Entscheidungsorganen werden Organe verstanden, die eine Entscheidung in Form von Beschlüssen in der Regel durch Abstimmung annehmen. Diese können sowohl einen empfehlenden als auch einen rechtlich verbindlichen Charakter besitzen.“ (Thiele 2008, S. 136). Vgl. Thiele 2008, S. 354–356.
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Eine Typologie der Obstruktionen
Die Bezeichnung ‚Obstruktion‘ für einen solchen Eingriff in die politische Debatte verweist auf eine moderne Kategorie. Erst im 19. Jahrhundert bildete sich der Terminus als Reflex auf die immer häufigeren und in ihrer Intensität zunehmenden Verzögerungen der politischen Debatte in den neuzeitlichen Parlamenten heraus3 und wurde schließlich von der Rechtswissenschaft zu einer Kategorie ausgearbeitet. Obstruktives Verhalten in diesem Sinne geht deutlich über parlamentarische Opposition hinaus, denn diese bringt alternative Handlungsoptionen in die Debatte ein, versucht unsichere Abgeordnete mit Argumenten von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen und stimmt schließlich mit ‚Nein‘ oder enthält sich, wenn sie die Mehrheit der Abgeordneten nicht überzeugen kann. Sie legitimiert – als notwendiger Bestandteil jeglicher Deliberation – die Mehrheitsentscheidung mit, die das Parlament für oder gegen eine Gesetzesvorlage fällt. Wer jedoch obstruiert, versucht die Abstimmung zu verzögern bzw. zu verhindern, um seine politischen Ziele zu erreichen – er tut dies, indem er dem Deliberationsprozess Hindernisse in den Weg legt. Die Opposition leiste, so Herbert Fuchs, „parlamentarische Arbeit“, während die Obstruktion diese „verhindere“.4 Der Entscheidungsort wird auf diese Weise vorübergehend zu einem Ort der Verhandlung, in der die Abgeordneten abwägen müssen, ob sie die Verzögerung aushalten und in Kauf nehmen, Zeit für andere Gesetzesinitiativen zu verlieren, ob sie dem Obstruenten nachgeben und die strittige Gesetzesvorlage zugunsten von Angelegenheiten, die in ihren Augen dringlicher sind, fallen lassen, oder ob sie dessen Einlenken durch Zugeständnisse erkaufen. An die Stelle der Argumente tritt damit fast immer die Intensität der Präferenzen der Teilnehmer. Je intensiver und geschlossener die Mehrheit an einer Gesetzesinitiative festhält, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Verzögerung so lange aushält, bis die obstruierende Minderheit aufgibt. Umgekehrt können intensive Minderheiten laue oder wacklige Mehrheiten nachhaltig von der Abstimmung abhalten bzw. Änderungen an der Gesetzesinitiative erzwingen. Die Möglichkeiten, diesen „Kampf um die Zeit“5 zu führen, sind durchaus vielfältig. Neben dem Dauerreden gehören u. a. auch massenhaft eingebrachte Änderungsanträge, Interpellationen und das Fernbleiben von der Abstimmung mit dem Ziel, das erforderliche Quorum zu brechen, dazu. Loretana de Libero hat die verschiedenen Obstruktionstechniken für die letzten Jahrzehnte der Römischen Republik zusammengetragen und gezeigt, dass die Obstruktion zumindest in dieser Zeit „ein vielschichtiges Instrument in den Händen der Nobilität“ war, das „unterschiedslos von allen politisch führenden Kreisen im Senat angewandt“ worden ist.6 Während die überlieferten Dauerreden im Senat, das absichtliche
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Vgl. Brandenburg 1904, S. 4; Radnitzky 1904, S. 480; Fuchs 1928, S. 25; Koller 1910, S. 113; Griess 1932, S. 16; Jellinek 1970, S. 421. Vgl. Fuchs 1928, S. 29. Ebd., S. 29. de Libero 1992, S. 104.
Die vier Typen der Obstruktion
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Fernbleiben von Senatssitzungen und die Ausnutzung bestimmter Verfahrensregeln, um die Debatte zu verzögern, durchaus der modernen Obstruktionskategorie entsprechen, fallen die vornehmlich tribunicischen Intercessionen und die sakral begründeten Obnuntiationen aus dem Rahmen. Dies liegt zum einen an ihrer Andersartigkeit im Verhältnis zu den bekannten modernen Obstruktionstechniken, denn diese waren nicht nur legitim, ihre Missachtung konnte darüber hinaus handfeste Konsequenzen haben. So konnte die Missachtung der Obnuntiation ein von der Volksversammlung verabschiedetes Gesetz im Nachgang ungültig werden lassen und die Missachtung der Intercession zu einem Gerichtsprozess führen. Zum anderen erreichten sie ein ungleich höheres Verhinderungspotenzial. Die magistratische Meldung eines ungünstigen göttlichen Zeichens am Himmel reichte theoretisch aus, um die Auflösung einer Volksversammlung zu erzwingen und damit die Entscheidung auf einen anderen Tag zu verschieben, und ein einzelner Volkstribun konnte rein formal den gesamten Entscheidungsprozess der Republik dauerhaft durch sein ‚Dazwischentreten‘ blockieren. Dennoch blieb die Römische Republik, trotz der aus moderner Sicht erstaunlich weitreichenden legitimen Obstruktionsmöglichkeiten, über Jahrhunderte hinweg handlungsfähig. Dieser Umstand ist erklärungsbedürftig und „verlangt nach neuen Konzeptbildungen“7, denn ein schlüssiges Bild vom politischen Entscheiden in der Republik kann nur dann entworfen werden, wenn dem Phänomen der Obstruktion in ausreichendem Maße Rechnung getragen wird. Dazu ist es jedoch zunächst notwendig, zwischen den verschiedenen Obstruktionsmöglichkeiten zu differenzieren und ihre spezifischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu benennen. Eine Typologie der Obstruktionen, die ich in diesem ersten Teil der Arbeit entwickle, dient mir dafür als heuristisches Hilfsmittel. Ein Idealtypus ist nach Max Weber ein theoretisches Konstrukt, das in der historischen Wirklichkeit keine Entsprechung findet. Bei dessen Bildung nimmt der Forscher eine „einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte“ vor und ordnet ihnen die „vorhandenen Einzelerscheinungen“ zu.8 Der Idealtypus ist ein Mittel zum Vergleichen, bei dem besonders scharfe und eindeutige Begriffe verwendet werden, um das jeweils Bedeutsame eines empirisch fassbaren Vorganges zu ermitteln. Der Vergleich hilft dabei, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Arten von Obstruktionen erkennbar zu machen, um sie im Anschluss auf einer Skala von verschiedenen Typen anordnen zu können. Die überlieferten Fälle politischer Verzögerungsmaßnahmen in der Römischen Republik lassen sich so in den späteren Kapiteln stets mit Blick auf die hier erarbeitete Typologie differenziert betrachten und auf ihre Wirkungsweisen hin analysieren. Als grundlegendes Unterscheidungsmerkmal dient mir das jeweilige Prinzip, das der Obstruktion eines politischen Akteurs zugrunde liegt. Mit anderen Worten: Auf
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Flaig 2013, S. 354. Weber 1973, S. 190.
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welches ‚Regelsystem‘ wird bei der Obstruktion zurückgegriffen? Auf diese Weise unterscheide ich zwischen vier Typen der Obstruktion. Diese sind (1) die Obstruktion unter Ausnutzung von Verfahrenstechniken: Verfahrenstechnische Obstruktion; (2) die Obstruktion vermittels einer Einspruchsmöglichkeit, die einem Amtsträger eingeräumt wird: Amtsgebundene Obstruktion; (3) die Obstruktion durch Zustimmungsverweigerung: Zustimmungsverweigernde Obstruktion; (4) die Obstruktion unter Verweis auf Götterverbote und -warnungen: Sakrale Obstruktion. Da es bei einer Typenbildung um die Vergleichbarkeit geht, strukturiere ich die Untersuchung der vier Typen nach fünf grundlegenden Merkmalen. Diese sind (A) die Begründung der Obstruktion; (B) die Bedingungen für den Ausgang der Obstruktion; (C) die potenziellen Obstruenten; (D) die Bedeutung von Werten und Normen; (E) die Erwartbarkeit der Obstruktion. Zu (A): Jede Obstruktion wird auf irgendeine Art und Weise begründet. Politische Akteure berufen sich dabei in der Regel auf eine institutionell verankerte Grundlage, d. h. ihre Anwendung ist in irgendeiner Form durch die politischen Spielregeln abgedeckt. Diese Spielregeln werden im modernen Parlamentarismus mehr durch die Geschäftsordnungen der Parlamente und weniger durch die jeweiligen Normen bestimmt. In der Römischen Republik sind es die durch den mos maiorum tradierten Verhaltensregeln und die schriftlich fixierten leges, die den Spielraum der politischen Akteure festlegen. In der älteren rechtswissenschaftlichen Literatur wird mitunter auch der gezielte Gewalteinsatz durch fortwährendes Lärmen oder gar handgreifliche Auseinandersetzungen zu obstruktivem Verhalten gerechnet. Auch wenn das vordergründige Ziel solcher Auseinandersetzungen die Verhinderung einer Abstimmung sein mag, bedeuten sie entweder, dass die ursprüngliche Obstruktion eskaliert ist und die parlamentarische Sitzung im Tumult untergeht, oder dass es sich bei ihnen um bewusste Angriffe auf die politischen Spielregeln handelt, bei denen die Regeln des Kollegialorgans zumindest kurzfristig vollkommen ignoriert werden. Letzteres offenbart, dass die auf diese Weise handelnde Seite nicht einmal mehr zum Schein die Gültigkeit des Organs als gemeinsamen Entscheidungsort anerkennt und folglich hier nur noch die Ohnmacht des Organs demonstriert werden soll.9 Aus diesem Grund zähle ich in
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Gewalt kam im Rahmen der Obstruktionskämpfe zwischen den Deutschen und Tschechen im Österreichischen Reichsrat in den Jahren 1897–1898 regelmäßig zum Einsatz. Vgl. Ostermeyer
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der Folge von Ernst Radnitzky den gezielten Gewalteinsatz nicht zu obstruktivem Verhalten.10 Zu (B): Je nach Obstruktionstypus sind andere Kriterien ausschlaggebend dafür, wann eine Obstruktion endet. Unter welchen Bedingungen ist es wahrscheinlich, dass die politischen Akteure aus der Blockade des Entscheidungsprozesses herausfinden und die Debatte fortsetzen bzw. mit einer neuen Debatte beginnen? Zu (C): Der Kreis potenzieller Obstruenten ist insofern wichtig, als er Aufschluss darüber gibt, von welchen Akteuren eine Obstruktion für gewöhnlich zu erwarten ist. Zu (D): Jede Gemeinschaft benötigt ein Normensystem, in dem die standardisierten und erwartbaren Verhaltensweisen ihrer Mitglieder in den verschiedenen Rollen und Funktionen aufeinander bezogen sind, damit sie überhaupt dazu in der Lage ist, kollektiv zu handeln.11 Geraten einzelne Akteure mit den geltenden Normen in Konflikt, muss die Gemeinschaft prüfen, ob sie das Verhalten des Regelbrechers bestraft oder akzeptiert. Akzeptiert sie sein Verhalten, so schafft er einen Präzedenzfall, der bei Wiederholung zur Norm werden kann. In Normenkonflikten stehen letztendlich die grundlegenden Werte der Gemeinschaft zur Disposition. Im Zusammenhang mit den Obstruktionen ist zu prüfen, unter welchen Umständen ein bestimmter Obstruktionstypus mit dem Normensystem einer Gemeinschaft in Konflikt geraten kann und inwieweit das Obstruieren die Werte tangiert. Die Frage ist, ob und inwiefern die Werte und Normen einer Gemeinschaft auf dem Spiel stehen, wenn auf obstruktive Weise in den Entscheidungsprozess eingegriffen wird. Zu (E): Je nach Obstruktionstypus variiert die Häufigkeit der Obstruktionen und sind die Gelegenheiten mehr oder weniger begrenzt, zu denen die Verzögerungen erwartbar sind.
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1969, S. 1. Zur prinzipiellen Obstruktion im Österreichischen Reichsrat: Ostermeyer 1968a, S. 25– 51; ders. 1968b, S. 73–87; ders. 1969, S. 1–18; Brandenburg 1904, S. 21 ff. „Es ist selbstverständlich, daß wir hierbei nur die in parlamentarischen Formen sich bewegende Obstruktion, d. h. die Ausnützung gewisser Bestimmungen der Geschäftsordnung zum Zwecke der Verschleppung oder Verhinderung der Geschäfte des Parlamentes im Auge haben. Denn daß die gewaltsame Störung der Parlamentsverhandlungen durch Mitglieder des Parlamentes, mag dieselbe nun einer Strafsanktion unterliegen oder nicht, genau so rechtswidrig ist, wie wenn sie von Nichtmitgliedern ausgeht, bedarf für den Juristen keiner näheren Begründung.“ (Radnitzky, 1904, S. 466). Damit unterscheidet sich meine Definition der Obstruktion von jener, die Christopher Degelmann in seiner Studie zum squalor verwendet. Er versteht darunter eine „Strategie der Verhinderung von politischen Aktionen jedweder Art“, weshalb er auch Gewaltanwendungen gegen Senatoren, die einen squalor inszenieren wollen, zu den Obstruktionen zählt (vgl. Degelmann 2018, S. 260 mit Anm. 39). Zum Verhältnis von Werten und Normen vgl. Flaig 2005, S. 217–221 u. Lundgreen 2011, S. 29–50.
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Eine Typologie der Obstruktionen
2.2. Erster Obstruktionstypus: Die verfahrenstechnische Obstruktion Unter dem Typus der verfahrenstechnischen Obstruktion fasse ich die Fälle zusammen, denen das Prinzip der radikalen Ausnutzung von Verfahrensformen zugrunde liegt, um die Deliberation zu verzögern oder ganz zu verhindern. Im modernen Parlamentarismus lässt sich dieser Typus bereits für seine Frühzeit nachweisen.12 Wenn in Zeitungsartikeln und wissenschaftlicher Literatur außerhalb der altertumswissenschaftlichen Disziplinen über Obstruktionen geschrieben wird, sind damit für gewöhnlich Fälle des verfahrenstechnischen Typus gemeint. 2.2.1. Der Filibuster im US-Senat des 19. Jahrhunderts Die meisten wissenschaftlichen Studien, die sich dem Obstruktionsphänomen widmen, haben das ‚Filibustering‘ im US-Kongress seit dem 19. Jahrhundert zum Thema. Dies verwundert nicht, denn im Gegensatz zu anderen demokratischen Gemeinwesen der Nachkriegszeit nehmen in den USA Obstruktionen bis heute einen vergleichsweise großen Raum im politischen Entscheidungsprozess ein. In der politischen Debatte werden sie in der Regel als Filibuster13 bezeichnet. Häufig verweist der Begriff auf die Dauerrede eines Abgeordneten14; als politische Kategorie umfasst er jedoch alle Formen der Obstruktion und ist daher mit diesem Begriff gleichzusetzen15. Die ersten Fili12 13
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Verzögerungsfälle sind im englischen Parlament bereits für das 17. Jahrhundert belegt. Vgl. Koller 1910, S. 23. Die Bezeichnung obstruktiver Maßnahmen als Filibuster kam in den 1850er Jahren im Rahmen des sich zuspitzenden politischen Diskurses zwischen Nord- und Südstaatlern in den beiden Kammern des Kongresses auf. Das Wort stammt ursprünglich von dem niederländischen „vrijbuiter“ (Freibeuter), das im 18. Jahrhundert im Englischen zu „freebooter“, im Französischen zu „filibustier“ und im Spanischen zu „filibustero“ wurde. Aufgrund der im 19. Jahrhundert verstärkt auftretenden Raubzüge durch Marodeure an der zentralamerikanischen Küste sowie auf den karibischen Inseln, gelangte das spanische filibustero ins öffentliche Bewusstsein und wurde in den USA schließlich zur Bezeichnung des politischen Zeitraubs verwendet. (Vgl. Chemerinsky/Fisk 1997, S. 192; Binder/Smith 1997, S. 3). Gregory Koger konstatiert, dass sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die gebräuchliche Verwendung des Wortes Filibuster für ein „behavior that prevents action“ zu „talking ceaselessly“ verschob. (Vgl. Koger 2010, S. 104 f.). Vgl. hierzu den Eintrag zu filibuster im Oxford Companion to American History: „Filibuster, in U. S. politics, is the attempt by a member of a deliberative body to obstruct action on a bill by use of delaying tactics, such as speaking to consume time. The term refers especially to the almost unlimited debate allowed in the U. S. Senate.“ ( Johnson 1966, S. 297). „Generally speaking, a filibuster is the strategic use of delay to block legislation, to obstruct a nomination, to force an amendment, or to prompt other Senate action.“ (Chemerinsky/Fish 1997, S. 183); „I define filibustering as ‚legislative behavior (or a threat of such behavior) intended to delay a collective decision for strategic gain‘. Obstruction often consists of the unusual use of ordinary privileges. It is perfectly normal for a legislator to give a speech on the chamber floor, offer amendments, move to adjourn when the hour is late, or miss an occasional vote, yet each of these activities can be obstructive in large doses.“ (Koger 2010, S. 16); „We use the terms ‚filibuster‘ and
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buster sind bereits für das frühe 19. Jahrhundert belegt16 und haben seither zunehmend an Bedeutung gewonnen. Besonders im US-Senat hat das Filibustern seit den 1960er Jahren stark zugenommen und das Zustandekommen von politischen Entscheidungen maßgeblich beeinflusst. Während in den gegenwärtigen Parlamenten Europas die Debatte durch Zusätze in den Geschäftsordnungen stark reglementiert ist17 und Obstruktionen nur noch selten vorkommen, ist bis heute im Oberhaus der USA die politische Debatte nur wenigen Beschränkungen unterworfen. Der Senat hat damit einen anderen Weg eingeschlagen als das Unterhaus18 und spielt dank der Filibuster eine deutlich größere Rolle, als es Oberhäuser in Zweikammersystemen üblicherweise tun. Dieser Umstand ist auch den US-Senatoren bewusst. In den 1980er Jahren machte der damalige Senator Robert C. Byrd auf diesen Umstand aufmerksam: „We must not forget that the right of extended, even unlimited, debate is the main cornerstone of the Senate’s uniqueness. It is also a primary reason that the United States Senate is the most powerful upper chamber in the world today. […] Without the right of unlimited debate, of course, there would be no filibusters, but there would also be no Senate, as we know it […] Filibusters are a necessary evil, which must be tolerated lest the Senate lose its special strength and become a mere appendage of the House of Representatives. If this should happen, which God avert, the American Senate would cease to be ‚that remarkable body‘ about which William Ewart Gladstone spoke ‚the most remarkable of all the inventions of modern politics‘“.19
In der Aussage Byrds deutet sich ein Normenkonflikt an, der entscheidend für die Rolle der parlamentarischen Obstruktionen ist. Wie passen der Wunsch nach freier Debatte und die Gefahr von Obstruktionen zusammen? Da die US-Senatoren bis heute an der weitgehend uneingeschränkten Debatte und damit auch am Filibuster festhalten, gehören Obstruktionen zum politischen Alltag der USA. Seit sich nach Verabschiedung der Civil Rights Acts in den 1960er Jahren und der zunehmenden Bipolarisierung
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‚obstruction‘ interchangeably in this book to connote the full range of tactics used by opponents to stall legislation. This comports with the traditional understanding that long speeches are but one of a family of tactics used by obstructionists. It is only in the contemporary period that filibusters came to be equated with long speeches, and this shift was largely due to the restrictions on dilatory motions adopted in the late 19th and early 20th centuries.“ (Schickler/Wawro 2006, S. 15). Der erste bekannte Filibuster-Fall im Repräsentantenhaus ist für das Jahr 1807, der erste im Senat für das Jahr 1831 belegt. (Vgl. Koger 2010, S. 60–62). So beschränkt beispielsweise der § 35 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags die Redezeit einzelner Parlamentarier auf 15 Minuten, sofern das Parlament nicht eine Verlängerung dieser Redezeit beschließt, und bevollmächtigt den Bundestagspräsidenten dazu, einem Abgeordneten, der diese Vorgabe missachtet, nach einmaliger Ermahnung das Rederecht zu entziehen. Vgl. http://www.bundestag.de/dokumente/rechtsgrundlagen/go_btg/go06–245164.html (abgerufen am 02.12.2019). Durch die sogenannten Reed rules wurden die gängigen Obstruktionspraktiken im Repräsentantenhaus weitgehend eingeschränkt. Vgl. Schickler/Wawro 2006, S. 63. Schickler/Wawro 2006, S. 7.
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der großen Parteien ab den 1980er Jahren die Zahl und die Bedeutung der Filibuster deutlich erhöht hat, hat auch das Forschungsinteresse der amerikanischen Politologen am Filibuster im US-Senat zugenommen.20 Ihre Analysen, Fallsammlungen und Beobachtungen bieten eine gute empirische Grundlage, um die verschiedenen Merkmale des verfahrenstechnischen Typus zu bestimmen. 2.2.2. Die Merkmale der verfahrenstechnischen Obstruktion A. Die Begründung der Obstruktion Die geltenden Verfahrensregeln werden von den Obstruenten zum Verschleppen der Debatte missbraucht. Verfahrenstechnische Obstruktionen sind stets das Resultat einer missbräuchlichen Anwendung eines Verfahrens, das zur Herstellung von Entscheidungen dient. Das Ziel der Obstruktion ist es, das Verfahren dahingehend zweckzuentfremden, dass eine Entscheidung nicht zustande kommt. Für den US-Senat nennt Gregory Koger drei bekannte Formen von Filibustern/Obstruktionen, die regelmäßig im US-Senat vorkommen:21 1. Das Dauerreden (prolonged speaking) ist die bekannteste Form und hat durch einzelne herausragende Fälle, besonders im Zusammenhang mit den intensiven Bürgerrechtsdebatten der 1950er und 1960er Jahre, entscheidend das Bild von Obstruktionen geprägt. Die längste bekannte Dauerrede stammt von Senator Strom Thurmond, der am 28. August 1957 über vierundzwanzig Stunden lang redete, um eine civil rights bill zu verhindern, die jedoch im Anschluss vom Senat angenommen wurde.22 2. Mit Hilfe von Anträgen, die den Ablauf verzögern sollen (dilatory motions), kann eine entschlossene Gruppe von Kongressmitgliedern in den beiden Kammern die Entscheidung über eine bill hinauszögern. Hierunter fallen Anträge, die Sitzung für den Tag zu beenden (motions to adjourn), Anträge, den Tagesordnungspunkt abzusetzen (motions to recess), und Abstimmungen über strittige Punkte auf der Tagesordnung. Gelingt es einem obstruierenden Mitglied des Kongresses, mindestens 1/5 seiner Kammer für eine namentliche Abstimmung (roll-call vote) seines Antrages zu gewinnen, verzögert sich die Debatte dank der aufwendigen Stimmenzählung.
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Zum Filibustering im US-Senat allgemein vgl. u. a. Binder/Smith 1997; Bondurant 2011, S. 465– 515; Burdette 1965; Chemerinsky/Fisk 1997, S. 181–254; Koger 2010; Madonna 2009; Schickler/ Wawro 2006; Wolfinger 1971, S. 286–305. Vgl. Koger 2010, S. 15–34. Vgl. ebd., S. 17.
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Die dritte Form des Filibuster betrifft die Beschlussfähigkeit der Kammer. Die Minorität kann durch Fernbleiben der Abstimmung versuchen, das Quorum zu brechen (disappearing quorum), und somit das Ende einer Sitzung herbeiführen.
Nimmt man die Kategorien der negativen und positiven Freiheitsrechte23 zu Hilfe, offenbart sich das Dilemma, in das politische Akteure geraten, die mit einer verfahrenstechnischen Obstruktion konfrontiert sind: So machen Obstruenten, wie die Filibusterer im US-Senat, in extremer Weise Gebrauch von ihren negativen Freiheitsrechten. 1. Dauerredner reklamieren für sich das negative Freiheitsrecht, dass niemand sie daran hindern dürfe, während einer politischen Debatte die eigenen Argumente zu einem politischen Gegenstand in ausreichender Zeit darzulegen. 2. Obstruenten, die auf Maßnahmen zurückgreifen, mit denen sie den verfahrensmäßigen Ablauf verzögern wollen, nehmen eine ganze Reihe von negativen Freiheitsrechten für sich in Anspruch. Niemand dürfe sie bspw. daran hindern, durch einen Änderungsantrag eine Verbesserung für die der Kammer vorliegende Initiative vorzuschlagen oder durch eine Interpellation eine konkrete Antwort auf eine strittige Frage zu erhalten. Beide Maßnahmen, deren Sinn ist, die Debatte zu bereichern, können jedoch auch zur Verzögerung der Entscheidung missbraucht werden. 3. Der Versuch, das notwendige Quorum für eine Abstimmung mutwillig durch Fernbleiben zu brechen, basiert auf zwei negativen Freiheitsrechten. Zum einen schützt das Quorum die Gemeinschaft davor, dass eine möglicherweise folgenreiche Entscheidung nur von einer Minderheit getroffen wird. Zum anderen dient die Erlaubnis, dass ein Parlamentarier einer bestimmten Sitzung fernbleiben darf, dem persönlichen Schutz, z. B. im Krankheitsfall, oder bewahrt ihn davor, andere politisch erforderliche Aufgaben nicht ausüben zu können. Macht jedoch ein Parlamentarier in obstruierender Weise Gebrauch von den negativen Freiheitsrechten, begeht er damit einen Angriff auf die positiven Freiheitsrechte aller anderen Parlamentarier, da er ihr Recht zur Deliberation mutwillig stört.
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Im Staatsrecht werden mit negativen Freiheitsrechten die Regelungen bezeichnet, die dem Staatsbürger die Freiheit von Zwängen (durch den Staat), wie zum Beispiel die Meinungsfreiheit, garantieren, während unter positiven Freiheitsrechten Regelungen verstanden werden, die den Staatsbürgern ermöglichen, von ihrer Freiheit faktisch Gebrauch machen zu können, indem zum Beispiel das Recht auf Bildung garantiert wird. Das libertäre Staatsverständnis räumt den negativen Freiheitsrechten einen deutlichen Vorrang vor den positiven Freiheitsrechten ein, während das sozialdemokratische Staatsverständnis die Gleichwertigkeit beider Formen von Freiheitsrechten betont. Vgl. Meyer 2011, S. 153 ff.
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B. Die Bedingungen für den Ausgang der Obstruktion Es findet ein Messen der Präferenzstärken in Form eines Zermürbungskampfes statt. Während eine Einzelperson die politische Debatte durch eine Dauerrede nur so lange verschleppen kann, wie es ihre physischen Kräfte zulassen, und solche Obstruktionen in der Regel nur den Charakter eines statement haben24, kann eine gut organisierte Gruppe vermittels einer Kombination der oben genannten Obstruktionsformen ein Parlament wochenlang paralysieren. In diesen Auseinandersetzungen spielen Argumente keine Rolle mehr, da der Zweck des Debattierens nicht in der Suche nach dem besten Argument, sondern in dem Konsum von Zeit besteht. Durch die Redundanz der vorgebrachten Reden werden alle politischen Akteure physischen Belastungen ausgesetzt. Während die obstruierende Minderheit dafür sorgt, dass zu jedem Zeitpunkt der Obstruktion ein Teil von ihr unter Berücksichtigung der Geschäftsordnung die Dauerdebatte fortführt, muss die Mehrheit sicherstellen, dass sich immer genug Abgeordnete in der Nähe des Sitzungssaales aufhalten, um bei einem Antrag auf Feststellung des Quorums die Beschlussfähigkeit des Kollegialorgans zu gewährleisten, während immer wieder dieselben ‚Argumente‘ vorgetragen werden.25 Bei der verfahrenstechnischen Obstruktion messen die politischen Akteure die Stärke ihrer jeweiligen Präferenzen, indem sie ausloten, inwieweit die Befürworter und Gegner einer Gesetzesinitiative dazu entschlossen sind, trotz der physischen Belastungen und dem Zeitverlust für andere, ihnen unter Umständen wichtigere Gesetze die Verzögerung der Debatte auszuhalten. Dabei muss es gar nicht das vorrangige Ziel der obstruierenden Abgeordneten sein, ein Gesetz vollkommen zu verhindern. Häufig geht es auch nur darum, eine bestimmte Änderung der vorgelegten Initiative zu erzwingen.26 Der Verhandlungscharakter, den die auf diese Weise in Mitleidenschaft geratene politische Debatte annimmt, wird besonders beim sogenannten hostage taking deutlich, bei dem gegen eine Gesetzesinitiative obstruiert wird, die eigentlich gar nicht das Ziel der Filibusterer ist, um die Mehrheit zu Zugeständnissen in der umstrittenen Frage zu bewegen.27 Entscheidend für Fälle von verfahrenstechnischen Obstruktionen ist, dass sie für gewöhnlich in dem Moment enden, in dem die Präferenzen aller politischen Akteure offenbar geworden sind.28
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„Also on the rise has been extended-debate-based obstructionism that appears aimed at killing or weakening legislation but actually is a form of position taking – intended to make a statement about senator’s stance and its intensity.“ (Sinclair 2002, S. 246). Beth/Heitshusen 2013, S. 8. „The fact that the legislation ultimately passed does not mean the filibuster was entirely unsuccessful. Filibusters often force significant changes in bills.“ (Vgl. Chemerinsky/Fisk 1997, S. 195, Anm. 73). Vgl. Sinclair 2002, S. 246 f. Eine Ausnahme stellt in den USA das nahende Ende eines Kongresses dar. Da alle zwei Jahre Wahlen stattfinden, bei denen die Wähler über die Besetzung sämtlicher Sitze im Repräsentantenhaus
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C. Die potenziellen Obstruenten Die obstruierenden Akteure gehören in der Regel einer politischen Minderheit an. Verfahrenstechnische Obstruktionen können zwar von allen Mitgliedern eines Kollegialorgans ausgehen, für gewöhnlich sind es aber politische Minderheiten, die die Debatte verzögern. Zwar kann es in Ausnahmefällen auch zu Obstruktionen einer politischen Mehrheit kommen, wenn es ihr bei sehr knappen Mehrheitsverhältnissen opportun erscheint, eine Beschlussfassung zunächst zu verzögern, bis gewährleistet ist, dass alle Abgeordneten der Mehrheit bei der Abstimmung auch im Saal sind, aber diese Fälle sind selten. Politische Mehrheitsverhältnisse verändern sich mit jeder Wahl, weshalb eine politische Minderheit immer nur temporär ist.29 Das bedeutet aber auch, dass eine Gruppe, je intensiver sie obstruiert, desto weniger Zurückhaltung von der anderen Seite erwarten kann, wenn sie selbst nach veränderten Mehrheitsverhältnissen in die Position gelangt, die politische Agenda zu bestimmen. Es muss daher auch ihr daran gelegen sein, den eigenen Gebrauch der Obstruktionen nicht ins Extreme zu steigern und sich zumindest bis zu einem gewissen Grad an die Norm zu halten, die politische Debatte nicht völlig zum Erliegen zu bringen. Schickler und Wawro haben auf den Umstand hingewiesen, dass im 19. Jahrhundert selbst knappe Mehrheiten eine hohe Erfolgsaussicht hatten, trotz eines Filibusters eine Gesetzesinitiative zur Abstimmung zu bringen. Sie erklären die vermeintliche Zurückhaltung der politischen Minderheiten, die ihre Obstruktionen noch intensiver hätten ausüben können, als sie es de facto taten, überzeugend mit der „role of norms of restraint, in tandem with threats to change the rules of the game“30. Die Möglichkeit einer entschlossenen Mehrheit, als letzte Maßnahme eine stärkere Reglementierung der Debatte durchzusetzen und damit die politischen Spielregeln dauerhaft zu verändern, hilft dabei, eine zu starke Verletzung der Normen zu sanktionieren.
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und jeweils ein Drittel der Senatorensitze entscheiden, setzen sich die beiden Kongresskammern regelmäßig neu zusammen. In der Zeit zwischen den Wahlen finden zwei Sessionen statt, die seit dem Jahr 1934 den Umfang eines knappen Kalenderjahres haben. Während Gesetzesinitiativen von Session zu Session erhalten bleiben, scheitern alle laufenden Vorlagen, über die vor Ende eines Kongresses nicht abgestimmt wurde. In den letzten Wochen, in denen der Senat zusammentritt, steigen daher die Erfolgsaussichten von Obstruktionen, da auch ein Ende der physischen Anstrengungen absehbar ist, die eine organisierte Minderheit aufbringen muss, um eine Debatte zu verschleppen. Die empirischen Daten, die Eric Schickler und Gregory Wawro für den Senat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorlegen, bestätigen, dass die sogenannten end term filibuster (vgl. Binder/Smith 1997, S. 62) deutlich häufiger zur Aufgabe der blockierten Gesetzesinitiativen führten (vgl. Schickler/Wawro 2006, S. 109–125). Je näher also das Ende einer Legislaturperiode im US-Senat rückt, desto weniger ausschlaggebend ist die Präferenzstärke der Mehrheit für das Ende einer verfahrenstechnischen Obstruktion. Vgl. Jellinek 1996, S. 27. Schickler/Wawro 2006, S. 125.
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D. Die Bedeutung der Werte und Normen Verfahrenstechnische Obstruktionen lösen häufig Normenkonflikte aus, da sie die Deliberation des betroffenen Kollegialorgans stören. Es ist in der Regel schwierig, dem obstruierenden Abgeordneten einen eindeutigen Beweis für seine verfahrenstechnische Obstruktion vorzulegen.31 Jedes politische Organ gibt seinen Mitgliedern Regeln vor, die dazu dienen sollen, dass sie überhaupt Debatten führen können, ohne dass diese im Chaos untergehen, weil jeder durcheinander redet. Obstruenten nutzen jedoch die vorgegebenen Regeln in radikaler Weise aus und begründen ihr Handeln häufig damit, dass sie lediglich von den ihnen garantierten Rechten Gebrauch machten, die für alle gleichermaßen gelten würden. Sie täten dies aber nicht, um die Entscheidungsfindung zu erschweren.32 Der naheliegende Schluss, einen generellen Missbrauch mit einer Regeländerung zu unterbinden, führt bis heute im Senat immer wieder zu heftigen Diskussionen. Die Gegner einer Regeländerung räumen zwar mitunter eine generelle Verletzung der parlamentarischen Normen durch Obstruktionen ein, sehen aber durch eine Debattenzeitbeschränkung gerade den Wert der Deliberation in Gefahr und befürchten in der Folge, dass der Senat dadurch zu einer Abstimmungsmaschinerie der Mehrheit würde.33 Im Kern ist das dieselbe Argumentation, derer sich auch Robert Byrd in der eingangs zitierten Rede (s. o.) bediente und die sich auch heute noch im Senat findet.34 Die Gegenseite sieht 31 32
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Auf die Schwierigkeit für den Wissenschaftler, aus Zusammenfassungen der Parlamentsdebatten, Zeitungsartikeln und anderen historischen Dokumenten eindeutige Fälle von Obstruktionen zusammenzutragen, wird häufig hingewiesen. Vgl. u. a. Schickler/Wawro 2006, S. 112. Auf den Versuch der Whigs die Debatte über die sogenannte Bank Bill des Jahres 1841, die seit Wochen durch das Filibustering der Demokraten verzögert wurde, über einen Verfahrenskniff zu beenden, reagierte der demokratische Senator Thomas Hart Benton mit Entrüstung. Er bezeichnete es als ‚verfassungsmäßiges Recht‘ eines Senatoren, ungehindert sprechen zu dürfen, solange er zum Thema spräche, und man dürfte ihm daher dieses Recht nicht beschneiden. Die Demokraten hätten, so Benton, als sie in den zwölf Jahren zuvor im Senat in der Mehrheit waren und die Whigs das freie Rederecht zur Obstruktion missbraucht hätten, aus guten Gründen Abstand davon genommen, der Minderheit den Mund mit einem gag law zu verbieten, „considering, and justly considering, that the privilege of speech was inestimable and inattackable – that some abuse of it was inseparable from its enjoyment – and that it was better to endure a temporary abuse than to incur a total extinction of this great privilege.“ (Congressional Globe, 27. Cong., 1841, p. 204.) Zur Bank Bill von 1841 vgl. u. a. Burdette 1965, S. 21–25; Madonna 2011, S. 1–30. So sieht auch Jellinek mit Verweis auf das britische Unterhaus in Debattenzeitbeschränkungen eine Gefahr für den Parlamentarismus, weil nun nicht mehr genug Zeit zur ernsthaften Debatte bleibe. Vgl. Jellinek 1970, S. 426. Eine zentrale Rolle spielt bei dieser Argumentation die vermeintliche Eigenständigkeit des Oberhauses gegenüber dem Unterhaus. Während das Repräsentantenhaus aufgrund der rigiden Debattenzeitregelungen lediglich ein Instrument der jeweiligen politischen Mehrheit sei, um die eigenen Gesetzesvorlagen durchzuwinken, müsse sich die Mehrheit im Senat der politischen Debatte stellen. Diese Ansicht hat sich in der politischen Elite der USA durchgesetzt. „A long-standing piece of conventional wisdom about bicameral difference is that the Senate is deliberative and the House more businesslike.“ (Wirls 2007, S. 194).
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wiederum aufgrund der Normverletzung durch obstruierende Abgeordnete ebenfalls den Wert der Deliberation bedroht und setzt sich für eine Regeländerung ein, um jene vor der zerstörerischen Wirkung endloser, redundanter Redebeiträge zu schützen. Solange die Deliberation für die politische Gemeinschaft einen Wert darstellt, sind verfahrenstechnische Obstruktionen nichts anderes als Verletzungen der geltenden Normen innerhalb des Kollegialorgans und damit Angriffe auf eben diesen Wert. Um ihn zu schützen, haben die meisten Parlamente zwischen dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Regeln der politischen Debatte verschärft. Das Festhalten der US-Senatoren an einer weitgehend unregulierten Debatte hat hingegen dazu geführt, dass die Filibuster im Laufe des 20. Jahrhunderts merklich zugenommen und nachhaltig das politische Feld der USA geprägt haben (siehe Kapitel 2.7). E. Die Erwartbarkeit der Obstruktion Die Obstruktionen sind erwartbar, wenn über politisch Strittiges debattiert wird. Nimmt man die empirischen Daten, die Koger in seiner Studie zu den Filibustern im Kongress des 19. Jahrhunderts gesammelt hat, zur Grundlage, dann wird deutlich, dass verfahrenstechnische Obstruktionen vermehrt dort zu finden sind, wo intensiv über die politische Agenda gestritten wird. Die meisten Filibuster im Senat und im Repräsentantenhaus fanden zu den Themen statt, die am stärksten umstritten waren, und das waren im 19. Jahrhundert besonders Zoll- und Budgetfragen, Personalbesetzungen, Sklaverei- und Bürgerrechtsgesetze sowie Landverteilungen und Wahlen.35 2.2.3. Zusammenfassung Verfahrenstechnische Obstruktionen sind zermürbende Auseinandersetzungen, in denen in der Regel eine politische Minderheit ihre negativen Freiheitsrechte missbraucht, um die politische Debatte über einen längeren Zeitraum zu verschleppen. Sie negiert temporär die Deliberation, um sie durch eine Verhandlungssituation zu ersetzen. In ihr testet sie aus, wie sehr eine erkennbare Mehrheit dazu bereit ist, an der blockierten Entscheidung unverändert festzuhalten. Bei diesem Obstruktionstypus nimmt daher die Präferenzstärke der politischen Akteure eine überragende Bedeutung ein. Je häufiger und intensiver verfahrenstechnische Obstruktionen in einem Kollegialorgan Anwendung finden, desto mehr werden sich die Akteure mit der formalen Geltung von Werten und Normen auseinandersetzen. Denn obwohl Obstruktionen,
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Vgl. Koger 2010, S. 76 f. sowie die Grafiken zu der Filibusterverteilung im Repräsentantenhaus und im Senat auf S. 65.
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die unter diesen Typus gezählt werden, häufig nur eine temporäre Störung darstellen und das Organ diese ohne größere Probleme aushalten kann, sofern sie sich nur gelegentlich ereignen, kann eine Häufung dieser Fälle seine Arbeit nachhaltig stören. Wenn die Hemmschwelle, zu obstruieren, sinkt und immer mehr Gesetzesinitiativen in Mitleidenschaft geraten, müssen die politischen Akteure reagieren, wenn sie nicht einen weitgehenden Stillstand der Gesetzgebungstätigkeit riskieren wollen. 2.3. Zweiter Obstruktionstypus: Die amtsgebundene Obstruktion Das grundlegende Prinzip des zweiten Obstruktionstypus ist eine legale Obstruktionsmöglichkeit, die bestimmten Amtsträgern eingeräumt wird. Anstatt wie bei der verfahrenstechnischen Obstruktion den Entscheidungsprozess indirekt zu verzögern, indem die Deliberation durch eine zeitverzögernde Ausnutzung von Verfahrensregeln in Geiselhaft genommen wird, gibt es bei diesem Typus Amtsträger, die aufgrund ihrer Amtsgewalt aktiv in die Entscheidungsfindung eingreifen können. 2.3.1. Die Merkmale der amtsgebundenen Obstruktion A. Die Begründung der Obstruktion Die Obstruenten machen von einer Obstruktionsmöglichkeit Gebrauch, die ihnen als Träger eines bestimmten Amtes zugestanden wird. Die Römische Republik kannte mit dem ius intercessionis der höheren Magistrate und der Volkstribunen eine legale Möglichkeit der Obstruktion. Der amtierende Consul konnte gegen die Amtshandlungen sowohl seines Kollegen als auch der geringeren Amtsträger sowie gegen Senatsentscheide intercedieren, sodass die Amtshandlung nicht durchgeführt bzw. die Entscheidung nicht gefasst werden konnte. Die Intercessionsmöglichkeiten der Volkstribunen reichten sogar noch weiter, da sie beinahe alle öffentlichen Handlungen sowie die Amtshandlungen sämtlicher Magistrate und ihrer Kollegen im Volkstribunat verhindern konnten. Auf diese Weise waren zehn junge Männer, die sich relativ weit unten auf der Karriereleiter befanden, theoretisch dazu in der Lage, die gesamten Staatsgeschäfte dauerhaft zu paralysieren.36 Die Obstruktion geht in solchen Fällen also von Amtsträgern aus, die auf legale Weise in den Entscheidungsprozess eingreifen können. Zwar lassen sich die magistratischen und die tribunicischen Intercessionen aufgrund des unterschiedlichen Ursprungs nicht „unterschiedslos nebeneinander“ stellen, wie Jochen Bleicken zurecht gegen Theodor
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Vgl. Meier 1984, S. 67 ff.
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Mommsens Verständnis der Intercession anführt.37 Im Rahmen einer Typologie der Obstruktionen ist jedoch nicht die ursprüngliche Funktion, sondern die Wirkungsweise der beiden Intercessionsarten in den Jahrhunderten, über die uns die Quellen relativ zuverlässig Auskunft geben, von Interesse. Bis auf die unterschiedlich weit reichende Geltung und die politischen Orte, an denen mit ihnen zu rechnen ist, lassen sich diesbezüglich keine grundlegenden Unterschiede zwischen ihnen festmachen. Die wichtigste Gemeinsamkeit der beiden Intercessionsarten besteht in der Amtsgebundenheit. Vermittels eines Handlungsverbots in Form der Intercession konnten die für ein Jahr gewählten ordentlichen Magistrate und Volkstribunen direkt in den politischen Entscheidungsprozess der Römischen Republik eingreifen. Die Consuln, Praetoren und Censoren haben jedoch anscheinend viel seltener von der Intercession Gebrauch gemacht als die Volkstribunen, wie die deutlich geringere Zahl überlieferter magistratischer Intercessionen nahelegt.38 Die Existenz einer an das Amt gebundenen Obstruktionsmöglichkeit hat Konsequenzen für ihre Wirkungsweise. Jede Obstruktion dieses Typus ist ein öffentlicher Akt. Sie ist für alle politischen Akteure immer klar erkennbar, denn sie besteht in einer Ankündigung eines oder mehrerer dazu befähigter Beamter, gegen eine bestimmte Amtshandlung oder ein Gesetz in vorgelegter Form Einspruch erheben zu wollen. Daher ist der eigentliche Obstruktionsvorgang im Gegensatz zu Fällen des verfahrenstechnischen Obstruktionstypus notwendig transparent und grundsätzlich thematisierbar.
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Vgl. Bleicken 1955, S. 74 ff. gegen Mommsen StR I, S. 258 ff. Mommsen, der das Volkstribunat den ordentlichen Magistraturen der Republik zuordnet, macht keinen Unterschied zwischen den Intercessionen der Volkstribunen und der anderen Amtsträger. Der Volkstribun könne dem Consul die Handlung verbieten, denn das Volkstribunat sei als „dem Consulat überlegene Gewalt begründet“ worden, ihm käme also die maior potestas zu (Mommsen StR I, S. 269). Bleickens Einwand, die magistratische Intercession sei zu dem Zweck entstanden, die „Wiederherstellung des gebrochenen Einverständnisses in dem Kollegium der höchsten Magistrate“ zu sichern, während die tribunicische Intercession ursprünglich „nicht gegen den Kollegen […], sondern gegen den Magistrat“ gerichtet sei, erscheint mir aufgrund des Gegensatzes zwischen Plebeiern und Patriciern zwingend (Bleicken 1955, S. 75). Auch wenn sich der Ablauf der sogenannten Ständekämpfe aufgrund der äußerst schwierigen Quellenlage nicht zuverlässig nachvollziehen lässt, so wäre es wohl kaum nachvollziehbar, nähme man an, die Volkstribunen seien von vornherein als Ergänzung zur bestehenden Magistratur geschaffen und von den Patriciern anerkannt worden. Vielmehr wird der Intercession der Volkstribunen in den Ständekämpfen eine konfliktlösende Aufgabe zugekommen sein (vgl. dazu Görne 2019). Hinzu kommt, dass das Volkstribunat bis zum Ende der Republik dank dem vollständigen Fehlen der magistratischen Insignien auf symbolischer Ebene keine Einordnung in die ordentliche Magistratur erhielt (vgl. Bleicken 1955, S. 5). Ich schließe mich daher der Auffassung Bleickens an, dass „Volkstribunat und Konsulat sich nicht ohne weiteres in ein reguläres Verhältnis bringen, so etwa in die potestates der römischen Beamten einordnen lassen“ (Bleicken 1955, S. 77). Siehe dazu die Obstruktionenliste und die Grafiken im Anhang.
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B. Bedingungen für den Ausgang der Obstruktion Es findet ein Messen der Präferenzstärken in Form einer inhaltlichen Auseinandersetzung über die Berechtigung der Obstruktion statt. Die Urheber einer solchen Obstruktion sind immer genau zu benennen. Dadurch können die Obstruenten in aller Öffentlichkeit genötigt werden, ihr Handeln zu erklären. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Intercessionen der römischen Magistrate und Volkstribunen in den Blick nimmt. Diese mussten physisch präsent sein, wenn ihr ‚Dazwischentreten‘ zum Abbruch der öffentlichen Handlung führen sollte. Die Ankündigung, eine bestimmte Entscheidung oder Handlung nicht zulassen zu wollen, setzte die Intercedenten damit unmittelbar einem Begründungszwang aus, denn die anderen Akteure konnten von ihnen Auskunft darüber verlangen, wieso sie von der Intercession Gebrauch machen wollten. Wenn also beispielsweise ein Volkstribun die Intercession gegen eine Gesetzesvorlage ankündigte, nahm er damit der Versammlung gerade nicht die Möglichkeit, zu debattieren, wie es die Dauerredner während einer verfahrenstechnischen Obstruktion tun. Er erzwang stattdessen eine Debatte, nämlich darüber, ob die Gründe des Obstruierens den gemeinsamen Normen und Prinzipien entsprachen oder nicht.39 Zugespitzt formuliert: Während letztere im Sinne von 39
Zwei Beispiele für diesen Umstand finden sich in der Senatssitzung vom 1. Januar 57 v. Chr., in der über die Restitution Ciceros diskutiert wurde (zu dieser Sitzung vgl. Cic. prov. cons. 22; p. red. ad. Quir. 11 f.; p. red. in sen. 5; 8–12; Sest. 72–75; 130; dom. 68 f.; Att. 4,2,4). Bereits vor der Senatsdebatte stand die Haltung des Consuls Q. Caecilius Metellus Nepos im Fokus. Dieser war mit Cicero verfeindet, weshalb eine mögliche Intercession des Consuls gegen die Initiative seines Kollegen Lentulus Spinther zur Rückrufung Ciceros befürchtet wurde. Daher wurde auf Betreiben einiger nobiles wie P. Servilius Vatia Isauricus die öffentliche Versöhnung zwischen Metellus und dem abwesenden Cicero inszeniert, sodass der Consul mit seinem Verzicht auf das Veto seine eigene Nachgiebigkeit und Gemeinwohlorientierung öffentlich zur Schau stellen konnte. Cicero dankte ihm dafür nach seiner Rückkehr in seinen öffentlichen Reden (vgl. Cic. Sest. 72; 130). In derselben Sitzung kündigte am Ende der Debatte der Volkstribun Sex. Atilius Serranus Gavianus, ein amicus des P. Clodius, ein Veto gegen das einstimmig gefällte senatus consultum zur Rückrufung Ciceros an. Daraufhin versuchten die versammelten Senatoren, den Volkstribun zum Einlenken zu bewegen. Es gab Geschrei, einige protestierten, andere baten Gavianus, die Opposition aufzugeben, und schließlich warf sich ihm sein Schwiegervater Cn. Oppius Cornicius zu Füßen, um ihn zum Einlenken zu bewegen. Der Volkstribun erbat daraufhin vom Senat eine Nacht Bedenkzeit, die man ihm auch gewährte. Doch am folgenden Tag entschloss sich Gavianus dazu, die Intercessionsdrohung wahr zu machen, und sorgte dafür, dass der Senatsbeschluss nicht zustande kam (vgl. Cic. Sest. 74). Obwohl die discessio eindeutig ausgefallen war, sich sehr viele ranghohe Senatoren für das Gesetz ausgesprochen hatten, dem Volkstribunen noch einmal die Entschlossenheit des Senats in dieser Frage vor Augen geführt worden war und man dem Volkstribunen außerdem vermittels zwingender Gesten und der Gewährung von Bedenkzeit signalisiert hatte, dass man seine angedrohte Intercession so ernst nahm, dass man ihm sogar eine gesichtswahrende und ehrenvolle Möglichkeit zur Rücknahme der Ankündigung ließ, blieb der Tribun stur. Daher konnte Cicero zu einem späteren Zeitpunkt auch behaupten, dass dieses unwahrscheinliche Verhalten ein Beleg für dessen Käuflichkeit gewesen wäre (vgl. Cic. p. red. ad Quir. 12; Cic. Sest. 74). Als Gavianus während einer Senatssitzung am ersten Oktober desselben Jahres gegen einen ähnlich eindeutigen Senatsbeschluss zur Restituierung von Ciceros Besitztümern eine Intercession ankündigte, war der Ton ungleich schärfer. In der relatio zu seinem
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Herbert Fuchs Auseinandersetzungen um die Zeit sind (siehe Kapitel 2.1), sind erstere Auseinandersetzungen, bei denen sich die Akteure Zeit nehmen. Amtsgebundene Obstruktionen können den Prozess des kollektiven Entscheidens entschleunigen. Entscheidend ist dann nicht mehr, ob ein Antrag oder eine bestimmte Handlung mehrheitsfähig ist, sondern ob der oder die obstruierenden Amtsträger ihre Ankündigung wahr machen und damit die Beschlussfassung verhindern oder ob sie nachgeben und der Handlung nicht weiter im Weg stehen. Und hierfür ist die Präferenzstärke der maßgeblichen politischen Akteure ausschlaggebend. Die Voraussetzung dafür ist freilich, dass der Obstruent die eigenen Präferenzen nicht vereinseitigt. C. Die potenziellen Obstruenten Die obstruierenden Akteure sind auf bestimmte Amtsträger beschränkt. Die Amtsgebundenheit hat zur Folge, dass der Kreis potenzieller Obstruenten begrenzt ist. Neben den Obermagistraten sind es in der Römischen Republik insbesondere die zehn Volkstribunen, die als Obstruenten infrage kommen. Dies macht Fälle amtsgebundener Obstruktion in gewisser Hinsicht berechenbarer als jene anderer Obstruktionstypen, da der Kreis potenzieller Obstruenten von vornherein auf bestimmte Amtsträger beschränkt ist. Auf diese Weise können zumindest manche Obstruktionen vorab antizipiert werden und die politischen Akteure bereits früh darauf reagieren. D. Die Bedeutung von Werten und Normen Amtsgebundene Obstruktionen lösen selten Normenkonflikte aus, weil die Verwendung eines legalen Obstruktionsmittels eindeutige Regeln voraussetzt. Weil die Geltung der amtsgebundenen Obstruktion von den Akteuren grundsätzlich akzeptiert werden muss, damit sie als legales Obstruktionsmittel wirken kann, erzeugt sie im Einzelfall nur dann einen Normenkonflikt, wenn der Obstruent die bestehenden angekündigten Einspruch, die von den Consuln initiiert wurde, machten die Senatoren dem Volkstribunen klar, dass man nicht daran dachte, sich dieses Mal der Intercession zu fügen, und man ihn persönlich haftbar machen würde, wenn es im Zuge seines Widerstandes zu Ausschreitungen käme. Der Schwiegervater wiederholte daraufhin seine Bittgeste vom Januar und erneut erbat sich der Tribun Bedenkzeit. Doch schlug man ihm die Bitte ab, damit er dieses Mal nicht dem Druck der versammelten Senatoren entginge. Erst durch Ciceros persönliches Eingreifen wurde ihm die Bedenkzeit dennoch gewährt, und nun entschied sich Gavianus zur Rücknahme der Intercession (vgl. Cic. Att. 4,2,4). An dieser zweiten Episode wird deutlich, dass Gavianus in der ersten Senatssitzung aus der Sicht der anderen Akteure eine Transgression der Normen im Bereich der Intercession vorgenommen hatte. Daran erinnerten sich die Senatoren zehn Monate später. Dies mochte auch ein Grund dafür sein, dass der Volkstribun in der Folge vermutlich kein weiteres Amt mehr bekleidete, seine Karriere also nach diesem Amtsjahr stagnierte.
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Regeln der Obstruktionsanwendung sprengt. Die amtsgebundene Obstruktion ist von der Akzeptanz durch die politischen Akteure abhängig. Jedoch setzt die Anerkennung einer legalen Obstruktionsmöglichkeit voraus, dass die Gemeinschaft eine Vorstellung davon hat, unter welchen Bedingungen eine solche Obstruktion akzeptiert werden muss und unter welchen nicht. Ohne eindeutige Konventionen oder Regeln verlöre sie aufgrund ihres außerordentlich hohen Verhinderungspotenzials binnen kürzester Zeit an Akzeptanz. In der Römischen Republik waren die Grenzen für die Anwendung der magistratischen und tribunicischen Intercessionen durch die jahrhundertelange Praxis und später durch einzelne Gesetze geregelt. So musste die Intercession persönlich vorgebracht werden und sie wurde zumindest in der Späten Republik dadurch weiter eingeschränkt, „daß sie nicht gegen den fertigen Volksbeschluß, nicht gegen den ausgeführten magistratischen Akt, nicht gegen die Promulgation, nicht gegen eine Contio gerichtet und darüber hinaus auch durch spezielle gesetzliche Regelungen aufgehoben werden konnte“.40 Der formale Rahmen, der trotzdem erstaunlich weit reichte, war damit relativ klar definiert und gab allen politischen Akteuren Kriterien an die Hand, zu welchen Gelegenheiten die Intercession akzeptiert werden würde und zu welchen nicht.41 Entscheidender als diese formalen Bedingungen war jedoch, wie Christian Meier herausgestellt hat, dass der Intercedent eine ausreichende Unterstützung für seinen Einspruch erhielt.42 Sprachen die Kräfteverhältnisse gegen ihn, dann zog ein Volkstribun – zumindest bis zum verabsolutierten Veto des M. Octavius (siehe Kapitel 3.2) – regelmäßig seinen Einspruch zurück. Daher mussten Intercedenten ihre Obstruktion gut begründen können. Dieser Grundsatz galt partiell auch noch für die Späte Republik.43 Da amtsgebundene Obstruktionen notwendig akzeptiert werden müssen, sofern sie ein Teil des politischen Entscheidungsprozesses sein sollen, 40 41 42 43
Rilinger 1989, S. 489. Grundlegend für die formalen Bedingungen und Gelegenheiten zur tribunicischen Intercession im jeweiligen institutionellen Kontext ist Kunkel/Wittmann 1995, S. 582–607. Zu den Versuchen den formalen Rahmen zu erweitern vgl. Meier 1968; Rilinger 1989 u. de Libero 1992, S. 37 ff. Vgl. Meier 1984, S. 68. So spricht der Consul Cicero bspw. in seiner Rede gegen die lex agraria des P. Servilius Rullus davon, dass der Missbrauch des ius intercessionis, hier im Zusammenhang mit einer lex curiata, von den Senatoren nicht gutgeheißen würde: Vgl. Cic. leg. agr. 2,30. Auch die diskutierten Intercessionen auf der Senatssitzung vom 1. Januar 57 v. Chr. sind dafür Belege (siehe Anm. 39). Während nämlich die Feindschaft zwischen dem Consul Metellus und Cicero als hinreichender Grund zur Intercession angesehen wurde und entsprechend zuvor die Feindschaft durch Vermittlung und Druck mehrerer nobiles beigelegt werden musste, galt die angekündigte Intercession des Volkstribunen gegen den einstimmigen Senatsbeschluss als ungerechtfertigt, weshalb die anderen politischen Akteure die Intensität ihres Anliegens dem Tribunen deutlich vor Augen führten. Das Festhalten an der Intercession trotz vielfältiger Bitten, zwingender Gesten und einem Tag Bedenkzeit wurde daher mit guten Gründen als skandalös empfunden. Während der Consul in demonstrativer Weise die Rachepflicht im Sinne des Gemeinwohls beendete, bewies der Volkstribun allen anderen durch seine Sturheit, dass er die Freundschaft zu Clodius, dem Feind Ciceros, für wichtiger hielt als das Gemeinwohl. Damit demonstrierte er, dass er die grundlegenden Werte trotz aller ‚Hilfestellungen‘ nicht richtig abzuwägen vermochte.
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erzeugen sie also erst dann Normenkonflikte, wenn die Obstruenten den Rahmen des Erwartbaren sprengen. E. Die Erwartbarkeit der Obstruktion Sie sind erwartbar, wenn über politisch Strittiges debattiert wird. Ein Großteil der überlieferten magistratischen und tribunicischen Intercessionen betrafen Materien, die von hoher politischer Brisanz waren. Dabei handelte es sich in der Mittleren Republik vor allem um Personalentscheidungen, wie Triumphverleihungen, Provinzlosungen, Gerichtsverfahren und Unstimmigkeiten bei Wahlen, da diese den Vorrang innerhalb der Senatsaristokratie direkt betrafen. In der Späten Republik kamen sie vermehrt bei umstrittenen Gesetzesinitiativen zum Einsatz, die den Comitien vorgelegt wurden, bevor sich im Senat eine Meinung durchgesetzt hatte, oder gar dem Willen der Senatsmehrheit deutlich widersprachen.44 Da die Anwendung einer amtsgebundenen Obstruktion gegenüber den anderen politischen Akteuren für gewöhnlich gut begründet werden muss, ist damit zu rechnen, dass der Obstruent entweder davon ausgeht, sehr gute Argumente zu haben, mit denen er die anderen Akteure von der Berechtigung seines Einspruches überzeugen kann, oder der Meinung ist, dass ein nicht unwesentlicher Teil der politischen Akteure sein Veto begrüßen wird. Denn nur dann kann es aus seiner Sicht gerechtfertigt sein, die hohen politisch-sozialen Kosten zu tragen, die eine amtsgebundene Obstruktion mit sich bringt. Daher sind diese Obstruktionen nicht bei Routineangelegenheiten zu erwarten und entsprechend keine Alltäglichkeit. Ihre Anwendung ist nicht bei allen und auch nicht zwingend bei jeder größeren Entscheidung zu erwarten. Gerade aufgrund ihrer allgemeinen Akzeptanz ist ihre Anwendung im Einzelfall immer eine Akzeptanzfrage. Das Risiko, bei einem offenkundig falschen Verhalten in Intercessionskonflikten dauerhaft ins Abseits zu geraten, war vermutlich nicht unbeträchtlich. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass bei mehr als 3240 Volkstribunen, die zwischen 366 und 43 v. Chr. gewählt wurden45, nur 164 Fälle von tribunicischen Intercessionen bzw. ihren Androhungen überliefert worden sind46, von denen ein Großteil zudem noch auf die letzten beiden Jahrzehnte der Späten Republik fällt.
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Zum Verhältnis von Personal- und Sachentscheidungen in der Mittleren und Späten Republik siehe Diagramm 2 im Anhang. Kunkel/Wittmann 1995, S. 568. Vgl. die Liste der überlieferten Obstruktionsfälle im Anhang. Es ist dabei freilich nicht auszuschließen, dass nur die Intercessionen in bedeutsamen Angelegenheiten Eingang in unsere Überlieferung gefunden haben. Es ist zumindest denkbar, dass Einsprüche von Volkstribunen in Privatangelegenheiten, die von geringer Relevanz für die gesamte Gemeinschaft waren, häufiger vorkamen, als es unsere Überlieferung nahelegt. Dennoch ist die verhältnismäßig geringe Zahl an Intercessionen in den politischen Konflikten, zumindest bis zu den 60er Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, auffällig.
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Eine Typologie der Obstruktionen
2.3.2. Zusammenfassung Amtsgebundene Obstruktionen sind legale Mittel, mit denen Obstruenten aktiv in den politischen Entscheidungsprozess eingreifen können. Weil diese Obstruktionen die grundsätzliche Akzeptanz durch die politischen Akteure voraussetzen, ist es möglich, im Einzelfall über die Berechtigung ihrer Anwendung zu diskutieren. Da sie notwendig transparent und thematisierbar sind, verhindern sie gerade nicht die eigentliche Debatte, sondern verändern den Entscheidungsmodus. Sofern die Obstruenten ihre Präferenzen nicht vereinseitigen und sich allein auf ihr ‚Recht‘ zur Obstruktion berufen, ersetzen amtsgebundene Obstruktionen die Mehrheitsentscheidung zugunsten einer Entscheidung der Präferenzstärken. Bei diesem Messen der Präferenzen entscheidet aber nicht das Durchhaltevermögen, wie es bei verschleppten Debatten der Fall ist, sondern es wird ermittelt, ob die politischen Akteure im Laufe der entschleunigten Debatte dazu in der Lage sind, eine einheitliche Position für oder gegen die Obstruktion zu beziehen. Erfährt der Obstruent eine ausreichende Unterstützung für seinen Einspruch oder bleibt das Kollegialorgan gespalten, dann wird er ihn aufrechterhalten. Wenn er jedoch deutlich ins Hintertreffen gerät, ist es wahrscheinlich, dass er einer Entscheidung oder Handlung nicht weiter im Wege stehen wird. Da die Intensität der Akteure zum ausschlaggebenden Kriterium wird, setzen sich entweder die Befürworter oder die Gegner einer Entscheidung klar gegen die andere Seite durch, d. h. es wird eine eindeutige Entscheidung gefasst oder aber es wird die weiterhin umstrittene Materie mit dem Einspruch aus dem Spiel genommen, bevor sie den Zusammenhalt der Gemeinschaft belastet. In jedem Fall zielt eine solche Obstruktion auf die Herbeiführung einer Entscheidung und nicht darauf ab, eine Entscheidung zu verschleppen. Aus diesem Grund kann sie unter bestimmten Voraussetzungen (siehe Kapitel 3.1) dazu beitragen, die Entscheidungsfindung zu entschleunigen. 2.4. Dritter Obstruktionstypus: Die zustimmungsverweigernde Obstruktion Dem dritten Obstruktionstypus liegt ein schriftlich fixierter consensus communis zugrunde. In seiner radikalsten Auslegung erzwingt dieser die Einmütigkeit mit quasi rechtlichem Charakter. Bei der zustimmungsverweigernden Obstruktion machen sich Obstruenten den Umstand zunutze, dass das Zustandekommen einer Entscheidung des Kollegialorgans an einen finalen Akt der Übereinstimmung gebunden ist, der formal keine Gegenstimmen zulässt. Wird diese Bestimmung absolut gesetzt, kann bereits die Gegenstimme eines einzelnen Stimmberechtigten der Beschlussfassung im Wege stehen.
Dritter Obstruktionstypus: Die zustimmungsverweigernde Obstruktion
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2.4.1. Die Merkmale der zustimmungsverweigernden Obstruktion A. Die Begründung der Obstruktion Die Obstruenten berufen sich zur Obstruktion auf einen schriftlich fixierten consensus communis und beharren auf ihrem Recht, die Zustimmung verweigern zu können. Die zustimmungsverweigernde Obstruktion wird in Konsenssystemen geübt, in denen das Prinzip der vertagten Gegenleistung nicht funktioniert. Obstruierende Akteure lassen sich stattdessen ihre Stimme in einem konsentischen Tauschgeschäft abkaufen. Mit einem solchen System gelangte die polnisch-litauische Adelsrepublik zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zu Entscheidungen. Dieses basierte auf einem schriftlich fixierten consensus communis, der in der Konstitution von Radom im Jahr 1505 festgehalten wurde.47 Beschlüsse des polnischen Sejm48 setzten daher rein formal die Zustimmung aller Stände voraus. Diese mussten von den Landboten, Deputierten von 64 adligen Distrikten mit imperativem Mandat, ausgehandelt werden.49 Der Stimme des einzelnen Stimmberechtigten und seiner durch ihn vertretenen Gemeinde kam dabei ein deutlich höheres Gewicht zu als es bei Systemen der Fall ist, in denen die politischen Entscheidungen unter Verwendung der Mehrheitsregel gefällt werden. Die vorgeschriebene Einstimmigkeit lag jedoch nicht nur Beschlüssen des polnischen Sejm der Renaissance zugrunde. Die Einstimmigkeitsregel kommt teilweise auch in gegenwärtigen supranationalen Bünden wie der UNO (Sicherheitsrat) oder der EU zum Einsatz50, in welche die Staaten ihre Mitglieder zum Aushandeln gemeinsamer politischer Richtlinien entsenden. Indem die Staaten bei bestimmten wichtigen Fragen dem polnischen Modell gegenüber dem Mehrheitsprinzip den Vorrang geben, sichern sie ihre weitgehende nationale Selbstständigkeit: „Der Einstimmigkeitsgrundsatz setzt den partikularen Willen jedes Mitgliedstaates über den der gemeinsamen Einrichtung. 47 48
49
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Vgl. Roos 1974, S. 355. Die Gesetzesinitiative lag beim König. Er hatte sich in den Articuli Henriciani von 1573 dazu verpflichtet, den Sejm mindestens alle zwei Jahre mit einer Frist von sechs Wochen einzuberufen (vgl. Roos 1974, S. 363 ff.). Dieser bestand aus zwei Kammern: „the appointive Senate – in which castellans, palatines and bishops were represented – and of the elective Sejm – which consisted of ‚envoys‘ of Polish nobility“ (Roháč 2008, S. 115 f.). In den beiden Häusern des Reichstags wurden die königlichen Initiativen solange beraten, bis der consensus communis erreicht war. Die vom Sejm beschlossene Konstitution wurde dann in den einzelnen Landtagen ratifiziert. Die Landboten des Sejm waren an ein imperatives Mandat ihrer heimatlichen Landtage gebunden. Denn die königlichen Gesetzesinitiativen waren vorab in den einzelnen Landtagen beraten, um eigene Zusätze und Initiativen ergänzt und anschließend dem Landboten als Instruktion mitgegeben worden. Nach den Reichstagen mussten die Landboten sogar Rechenschaft für ihre Handlungen während des Sejm ablegen. „After each Sejm or sejmik, delegates had to organise ‚debriefing sessions‘ in their constituencies, explaining in detail their conduct and their voting during the parliamentary deliberations.“ (Roháč 2008, S. 119). Vgl. Thiele 2008, S. 272 ff.
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Die staatliche Souveränität wird mit dieser Regel kaum eingeschränkt.“51 Dabei teilen die Mitgliedstaaten supranationaler Bünde und die polnisch-litauischen Adligen eine gemeinsame Sorge: Sie fürchten um ihre lokale Selbstständigkeit. Von den politischen Akteuren wird die gemeinsame Entscheidungsfindung als potenzielles Nullsummenspiel betrachtet, in dem sich die Stimmberechtigten als Verhandlungspartner begreifen, denen es darum gehen muss, die bestmögliche Entscheidung zu Gunsten der eigenen Gemeinden bzw. Staaten auszuhandeln, ohne dabei Gefahr zu laufen, als Verlierer aus den Verhandlungen hervorzugehen. Dies drückt sich in den imperativen Mandaten der beteiligten Verhandlungspartner aus, die ihren Handlungsspielraum entscheidend eingrenzten und ihnen deutlich machten, wem gegenüber sie loyal zu sein hatten. Auf diese Weise konnte das Prinzip der vertagten Gegenleistung nicht wirken, das es den sich in der Minderheit befindlichen Akteuren in konsentischen Systemen ermöglicht, nachzugeben, ohne dass ihr Nachgeben als Schwäche ausgelegt wird.52 Während dieses Prinzip nämlich ein großes Vertrauen in die anderen Akteure voraussetzt53, welches für gewöhnlich nur bei einer entsprechend hohen Homogenität einer Versammlung erreicht wird, die kontinuierlich gemeinsame Entscheidungen trifft, setzt das Prinzip des konsentischen Tauschgeschäfts gerade auf die Wahrung der Autonomie der einzelnen Akteure und fördert die Heterogenität der Versammlung. B. Bedingungen für den Ausgang der Obstruktion Wird kein Kompromiss geschlossen, dann findet ein Messen der Präferenzstärken in Form einer inhaltlichen Auseinandersetzung über die Berechtigung der Obstruktion statt. Das Messen der Präferenzstärken ähnelt aufgrund seiner relativen Offenheit dem des amtsgebundenen Typus, da die Ankündigung, nicht zustimmen zu wollen, den Obstruenten nötigt, seine Obstruktionsabsicht zuzugeben. Weil jedoch nicht nur eine kleine Gruppe von Amtsträgern potenziell blockieren kann, sondern alle Akteure dazu in der Lage sind, ist es schwieriger, Druck zu erzeugen. Denn Akteure, die eine Initiative verhindern bzw. ihre Zustimmung durch Zugeständnisse erkaufen lassen wollen, kommen nicht zwangsläufig in die Verlegenheit, sich stark exponieren zu müssen, wie es für gewöhnlich Amtsträger tun, denen eine legitime Form der Obstruktion zugestanden wird. Dies hat seine Ursache darin, dass von jedem Akteur die Zustimmung verweigert werden kann. Unter dieser Voraussetzung muss also bei jeder Abstimmung mit Abweichlern gerechnet werden. Die Befürworter einer Initiative werden ihnen daher frühzeitig mit Zugeständnissen entgegenkommen, um eine mögliche Blockade 51 52 53
Thiele 2008, S. 272. Vgl. Sartori 1984, S. 99 ff. Jan Timmer betont die hohe Bedeutung des Vertrauens für Giovanni Sartoris Konzept der „Disposition zum Nachgeben“: vgl. Timmer 2017, S. 66–73.
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bereits im Vorfeld zu verhindern. Entsprechend werden Obstruenten erst dann unter Druck gesetzt, wenn sie trotz Zugeständnissen und eindeutigen Mehrheitsverhältnissen stur bleiben.54 C. Die potenziellen Obstruenten Die obstruierenden Akteure sind potenziell alle Stimmberechtigten eines Kollegialorgans, in dem formal das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Zwar lässt sich bei einigen Initiativen mit relativer Sicherheit bestimmen, welche Akteure ihre Zustimmung verweigern werden, da von vornherein klar ist, dass der Antrag ihrem Interesse entgegensteht, potenziell aber kann die Obstruktion von jedem politischen Akteur ausgehen. D. Die Bedeutung von Werten und Normen Sie lösen selten Normenkonflikte aus, weil die Obstruktion direkt aus dem Prinzip der Einstimmigkeit resultiert. Im Einzelfall erzeugt die zustimmungsverweigernde Obstruktion nur dann einen Normenkonflikt, wenn der Obstruent die bestehenden Regeln der Obstruktionsanwendung sprengt. Im Fall der polnisch-litauischen Adelsrepublik gehörte es zur gängigen Praxis, einzelne Landboten, die ihre Ablehnung signalisierten, unter Druck zu setzen bzw. durch Zugeständnisse zum Einlenken zu bewegen. Das Obstruieren war also Be-
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Einzelne Landboten, die ihren Einspruch ankündigten, wurden in aller Regelmäßigkeit genötigt, ihre Handlung zu erklären, und konnten häufig auch zum Einlenken bewegt werden (vgl. Müller 1983, S. 112–151). Aus den Protokollen der Reichstagssitzungen lässt sich entnehmen, dass ‚Hemmungen‘ der Sitzungen durch einzelne Landboten nicht ohne Weiteres akzeptiert worden sind, sondern einer Begründung bedurften. In der Hauptsache sind zwei Arten von Gründen als ‚stichhaltig‘ anerkannt worden. Erstens: Wenn sich der Landbote bei seinem Einspruch auf die Instruktionen seines Landtags berief. Zweitens: Wenn der Landbote argwöhnte, dass der Sejm mit der vorliegenden Gesetzesinitiative die Rechte verletzen würde, die aus den Beschlüssen früherer Reichstage hervorgegangen waren. Bestand jedoch die Vermutung, dass der Landbote lediglich private Interessen verfolgte, so musste er mit zum Teil heftigen Reaktionen der Kammer rechnen. „Entsprechend wurde das ius vetandi allgemein als das Recht bezeichnet, sich zu widersetzen >>in den Punkten, welche in der Instruktion ausgedrückt sind, wenn [der Sejm] sie nicht erledigtsich auszusprechen darüber, quod iuris est