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German Pages [281] Year 2017
ANGEWANDTE ETHIK Marktwirtschaft und Moral
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Ingo Pies (Hg.)
Die moralischen Grenzen des Marktes Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Michael J. Sandel
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495818329
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B
Ingo Pies (Hg.) Die moralischen Grenzen des Marktes
MARKTWIRTSCHAFT UND MORAL
A
https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael J. Sandel lehrt in den USA Politische Philosophie an der Harvard University. In einem grundlegenden Aufsatz über die moralischen Grenzen des Marktes, der hier in deutscher Übersetzung zusammen mit dem englischen Original abgedruckt wird, ruft er die Wissenschaftsdisziplin der Ökonomik dazu auf, sich wieder verstärkt auf ihre historischen Wurzeln in Ethik und Politischer Philosophie zu besinnen. Das ökonomische Selbstverständnis als wertfreie Wissenschaft hält er für ein Selbst-Missverständnis. Seiner Auffassung nach kann die Ökonomik ihrer gesellschaftlichen Aufgabe nur dann nachkommen, wenn sie sie sich (wieder) mit den moralischen Grenzen des Marktes beschäftigt. Bloße Effizienzüberlegungen reichen hierfür nicht aus. Vielmehr hält Sandel es für erforderlich, Fairness-Fragen gleicher oder ungleicher Behandlung auf Märkten deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Vor allem aber kommt es ihm darauf an, die Möglichkeit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken, dass Märkte sich negativ auf moralische Normen und Werte auswirken können, mit der bedenklichen Folge, dass eine an sich wünschenswerte Praxis korrumpiert wird. Deshalb warnt Sandel vor einem immer weiteren Ausgreifen des Marktes auf andere gesellschaftliche Bereiche, und er wirft der Mainstream-Ökonomik vor, einem solchen Ausgreifen unkritisch und sogar unreflektiert das Wort zu reden. Dieser Band leitet dazu an, sich mit den Thesen von Sandel intensiv und kritisch auseinanderzusetzen. Methodische Handreichungen erleichtern die Textanalyse. Besonders anregend für die Diskussion sind dreizehn Kurzkommentare, die den Aufsatz von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchten. Das Diskussionsmaterial hilft, die Stärken und Schwächen der vorgelegten Argumentation fundiert beurteilen zu können.
Der Herausgeber: Prof. Dr. Ingo Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Ingo Pies (Hg.)
Die moralischen Grenzen des Marktes Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Michael J. Sandel
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
ANGEWANDTE ETHIK Herausgegeben von Nikolaus Knoepffler, Peter Kunzmann, Reinhard Merkel, Ingo Pies und Anne Siegetsleitner Wissenschaftlicher Beirat: Reiner Anselm, Carlos Maria Romeo Casabona, Klaus Dicke, Matthias Kaufmann, Jürgen Simon, Wilhelm Vossenkuhl, LeRov Walters Marktwirtschaft und Moral Band 2
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48832-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81832-9
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Vorwort von Ingo Pies
Michael Sandel hat im Jahr 2013 in der US-amerikanischen Zeitschrift »Journal of Economic Perspectives« einen sehr bemerkenswerten Aufsatz publiziert, in dem er sich nicht nur mit der Wirtschaft kritisch auseinandersetzt, sondern auch mit den Wirtschaftswissenschaften. Er vertritt die These, dass die moderne Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zunehmend der Tendenz unterliegt, das Marktprinzip immer stärker auch in solchen gesellschaftlichen Bereichen zur Anwendung zu bringen, wo er dies für moralisch besorgniserregend hält. Aus Sandels Sicht leistet die zeitgenössische MainstreamÖkonomik dieser Tendenz unreflektiert Vorschub, weil sie sich ausschließlich auf den Aspekt der Effizienz kapriziere und damit die moralisch sensiblen Fragen nach einer etwaigen Ungleichbehandlungen der Bürger (Fairness-Argument) sowie nach einer etwaigen Normerosion (Korruptions-Argument) kategorial ausblende. Vor diesem Hintergrund fordert Sandel die Ökonomik auf, sich wieder verstärkt auf normative Diskussionen einzulassen und sich zu diesem Zweck auf ihre historischen Anfangsgründe in der Ethik und in der Politischen Philosophie zu besinnen. Dieses Buch ist aus der Überzeugung heraus entstanden, dass der Aufsatz von Michael Sandel es verdient, auch im deutschen Sprachraum zur Kenntnis genommen zu werden. Diese intellektuelle Auseinandersetzung lohnt sich! Und zwar auch gerade dann, wenn man dem Autor gar nicht oder jedenfalls nicht in allen Details zustimmen mag. Um eine kritische Diskussion zu fördern, offeriert dieses Buch diverse Materialien, die eine inhaltlich tiefschürfende Auseinandersetzung erleichtern. Es enthält:
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Vorwort
die deutsche Übersetzung, der ein Abdruck des englischen Originalaufsatzes Absatz für Absatz gegenübergestellt ist, um eine textgenaue Lektüre zu erleichtern, 1 • ferner Anregungen für eine eigenständige Textanalyse, mit der man sich die Argumentationslinie des Aufsatzes so vor Augen führen kann, dass man als Leser über eine solide Interpretationsgrundlage verfügt, die ein fundiertes Urteil ermöglicht, • sodann 13 kurze Kommentare, die einzelne Aspekte des Themas kritisch ausleuchten • sowie schließlich einige weiterführende Hinweise für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Thesen des Aufsatzes. Das in diesem Buch versammelte Diskussionsmaterial wurde auf einer interdisziplinär besetzten Tagung vorbereitet, die vom 31. August bis 2. September 2015 in Lutherstadt Wittenberg stattgefunden hat. Der Dieter-Schwarz-Stiftung ist für finanzielle Unterstützung herzlich zu danken. Dank gebührt insbesondere auch den Teilnehmern der Tagung. Viele von ihnen sind als Autoren in diesem Buch vertreten. Ihre Beiträge dokumentieren, wie interessant das Thema ist und wie anregend die Diskussionen waren, die wir in Wittenberg führen konnten. Ein ganz besonderes Dankeschön verdient Gerhard Engel – und dies keineswegs nur deshalb, weil er unsere produktive Diskussionstagung in Wittenberg mit substanziellen Beiträgen und zudem mit einem hoch attraktiven musikalischen Abend bereichert (und begeistert) hat. Ich habe sehr davon profitiert, dass er dieses Buchprojekt von Anfang an mit Rat und Tat inhaltlich unterstützt hat. Dankbar bin ich auch für seine Bereitschaft, sich auf das Abenteuer einzulassen, gemeinsam mit mir zu versuchen, den englischen Originaltext von Michael Sandel in eine gut lesbare deutsche Fassung zu übersetzen. Hier wurde um jedes Wort gerungen, an jeder Formulierung •
Hinweis zur Zitation: Verwendete Quellen werden durch Autorennamen, Jahreszahl(en) sowie ggf. durch Seitenverweise im Text und in den Fußnoten kenntlich gemacht. Der vollständige Quellennachweis findet sich in den Literaturverzeichnissen am Ende der jeweiligen Beiträge. Stehen hinter einem Autorennamen zwei durch ein Komma getrennte Jahreszahlen, so zeigt die erste Zahl das Erscheinungsjahr der Erstausgabe, die zweite Zahl das Erscheinungsjahr der zur Zitation verwendeten Ausgabe an. Die Abkürzung H. i. O. steht für »Hervorhebung(en) im Original«. Die Zitation des Aufsatzes von Michael Sandel erfolgt in diesem Buch durchgehend nach einem besonderen Muster der Abkürzung und Verweisung auf Absatz-Ziffern. Beispielsweise steht »MS-4« für »Michael Sandel (2013, 2016; Ziffer 4)«.
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Vorwort
gefeilt. Ich habe in diesem Prozess sehr viel gelernt und kann nur hoffen, dass man der Übersetzung nicht ansieht, wie viel Arbeit wir da hineingesteckt haben. Für uns als Übersetzer außerordentlich hilfreich waren die zahlreichen kenntnisreichen Kommentare und konstruktiven Hinweise der Tagungsteilnehmer in Wittenberg, namentlich die von Johannes Fioole. Auch hierfür ein herzliches Dankeschön! Als Herausgeber bleibt mir zu wünschen, dass sich möglichst viele – insbesondere junge – Menschen von dem Geist kritischer Analyse und engagierter Diskussion inspirieren lassen, der unsere Tagung in Wittenberg prägte und in den diversen Beiträgen zu diesem Buch einen deutlichen Niederschlag gefunden hat. Dieser Wunsch, dass der Funke überspringen möge, speist sich aus zwei sehr unterschiedlichen Motiven. Das eine ist individualethischer, das andere system-ethischer Natur. Zum einen kann kein Mensch sämtliche Ausprägungen des heutigen Wirtschaftslebens affirmativ bejahen. Aber für das eigene Lebensgefühl und Wohlbefinden macht es einen erheblichen Unterschied, ob man dem Wirtschaftssystem, das man vorfindet, mit moralischer Ablehnung und Fundamentalopposition begegnet oder ob man dem zugrunde liegenden Marktprinzip aufgrund von Sachargumenten aus innerer Überzeugung und mit differenzierender Kritik zustimmen kann. Zum anderen gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen destruktiver und konstruktiver Kritik. Deshalb ist es für die kulturelle Evolution unseres Wirtschaftssystems – insbesondere auch im globalen Maßstab – von geradezu existenzieller Bedeutung, ob die Bürger zur Verwirklichung moralischer Anliegen eher eine (partielle) Außerkraftsetzung oder eine (verbesserte) Inkraftsetzung des Marktes anstreben. Bürger sind wir ja schließlich nicht nur als Wirtschaftsbürger (bourgeois), sondern auch als Staatsbürger (citoyens), die über politische Stellhebel verfügen. Die Zukunft liegt in unserer Hand! Deshalb ist die Auseinandersetzung mit den Thesen von Michael Sandel weitaus mehr als nur theoretischer Selbstzweck oder akademisches l’art pour l’art. Die Diskussion ist praxisrelevant für eine nachhaltige Entwicklung – auf der Ebene des Individuums ebenso wie auf der Ebene unserer (Welt-)Gesellschaft. Halle (Saale), im Oktober 2015
Ingo Pies
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https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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I. Textquelle Michael J. Sandel: Market Reasoning as Moral Reasoning: Why Economists Should Re-engage with Political Philosophy
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Michael J. Sandel: Marktdenken als Moraldenken: Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Hinweise zur Textbearbeitung Ingo Pies: Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik. Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Michael J. Sandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
III. Kommentare Johannes Fioole: Sandels republikanische Kritik der Marktmoral .
118
Reinhard Zintl: Marktdenken und Politikdenken . . . . . . . . .
128
Ingo Pies: Michael Sandels Fairness-Argument, sein KorruptionsArgument und die Kategorie ökonomischer Effizienz . . . .
137
9 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Inhaltsverzeichnis
Michael Schramm: Michael Sandels »Punkt«. Anmerkungen aus der Sicht einer Business Metaphysics . . . . . . . . . . .
149
Klaus Beckmann: Tugend, Wissen und Moralin. Was sparen Märkte ein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Gerhard Engel: Die moralischen Grenzen der Moral . . . . . . .
170
Markus Beckmann: Wollen – Können – Sollen: Normativer Pluralismus und Michael Sandels Kritik der Ökonomik im Spiegel des praktischen Syllogismus . . . . .
183
Birger P. Priddat: Effizienzfreie Zonen? Michael Sandels moralische Ökonomie
. . . . . . . . . . 196
Andrea Maurer: Der spontane Charme normativer Marktkritik .
206
Robert Skok: Die soziale Einbettung von Märkten und die Frage nach den moralischen Grenzen des Marktes – Michael Sandel und die Erklärungsschwächen moralbasierter Gesellschaftsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216
Christian Rennert: Ökonomik und moralischer Wandel
. . . . . 227
Richard Sturn: Werte, Anreize und die Grenzen des Marktes
. . 238
Markus Beckmann: Bauch versus Kopf? Michael Sandels Ökonomik-Kritik und die Perspektive der empirischen Moralforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Ausblick Ingo Pies: Weiterführende Hinweise Kurzangaben zu den Autoren
. . . . . . . . . . . . . . 262
. . . . . . . . . . . . . . . . . 279
10 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
I. Textquelle
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Market Reasoning as Moral Reasoning: Why Economists Should Re-engage with Political Philosophy Michael J. Sandel*
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There are some things money can’t buy—friendship, for example. If I want more friends than I have, it clearly wouldn’t work to buy some. A hired friend is not the same as the real thing. Somehow, the money that would buy the friendship dissolves the good I seek to acquire.
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But most goods are not of this kind. Buying them does not ruin them. Consider kidneys. Some people favor a market in human organs; others are opposed. But those who oppose the buying and selling of kidneys cannot argue that a market in kidneys would destroy the good being sought. A bought kidney will work, assuming a good match. So if a market in human organs is objectionable, it must be for some other reason. Money can buy kidneys (as the black market attests); the question is whether it should be allowed to do so.
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In my book What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets, I try to show that market values and market reasoning increasingly reach into spheres of life previously governed by nonmarket norms (Sandel 2012). In procreation and childrearing, health and education, sports and recreation, criminal justice, environmental protection, military service, political campaigns, public spaces, and civic life,
* Journal of Economic Perspectives—Volume 27, Number 4—Fall 2013—Pages 121– 140. Michael J. Sandel is the Anne T. and Robert M. Bass Professor of Government, Harvard University, Cambridge, Massachusetts. His email is [email protected]. edu. To access the disclosure statement, visit http://dx.doi.org/10.1257/jep.27.4.121, doi=10.1257/jep.27.4.121
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Marktdenken als Moraldenken: Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten Michael J. Sandel*
Es gibt so manche Dinge, die man mit Geld nicht kaufen kann – 1 Freundschaft zum Beispiel. Wenn ich die Anzahl meiner Freunde vermehren möchte, hilft es wenig, mir welche durch Bezahlung anschaffen zu wollen. Ein bezahlter Freund ist nicht dasselbe wie ein wirklicher Freund. Irgendwie bringt Geld, mit dem man Freundschaft kaufen möchte, das Gut zum Verschwinden, um das es einem in Wahrheit geht. Die meisten Güter sind jedoch von anderer Art. Sie zu kaufen 2 bedeutet nicht, sie in ihrem Wert zu beschädigen. Nehmen wir menschliche Nieren als Beispiel. Manche Leute befürworten einen Markt für menschliche Organe; andere lehnen das ab. Doch wer den Kauf und Verkauf von Nieren ablehnt, kann das nicht mit dem Argument tun, ein Markt für Nieren würde das gefragte Gut zerstören. Vorausgesetzt, Spender und Empfänger passen gut zusammen, wird eine gekaufte Niere ihren Dienst tun. Wenn also ein Markt für Organe verwerflich ist, müssen dafür andere Gründe maßgeblich sein. Rein technisch betrachtet mag es möglich sein, Nieren für Geld zu kaufen (wie der Schwarzmarkt zeigt); die Frage ist, ob eine solche Praxis erlaubt sein sollte. In meinem Buch Was man für Geld nicht kaufen kann – Die 3 moralischen Grenzen des Marktes versuche ich zu zeigen, dass der Marktwert und das Marktdenken zunehmend in Lebensbereiche vordringen, die früher durch nicht-wirtschaftliche Normen bestimmt * Ursprünglich erschienen unter dem Titel »Market Reasoning as Moral Reasoning: Why Economists Should Re-engage with Political Philosophy«, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 24, No. 4, (Fall 2013), S. 121–140. Der Aufsatz einschließlich der im Text angeführten Zitate wurde übersetzt von Gerhard Engel und Ingo Pies. – Michael J. Sandel ist »Anne T. und Robert M. Brass«-Professor für Verwaltungswissenschaften an der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts. Seine eMailAdresse lautet [email protected]. – Zur Unbefangenheitserklärung des Autors vgl. http://dx.doi.org/10.1257/jep.27.4.121
13 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
money and markets play a growing role. I argue that this tendency is troubling; putting a price on every human activity erodes certain moral and civic goods worth caring about. We therefore need a public debate about where markets serve the public good and where they don’t belong.
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In this article, I would like to develop a related theme: When it comes to deciding whether this or that good should be allocated by the market or by nonmarket principles, economics is a poor guide. On the face of it, this may seem puzzling. Explaining how markets work is a central subject of economics. So why has economics failed to provide a convincing basis for deciding what should, and what should not, be up for sale?
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The reason lies in the conception of economics as a value-neutral science of human behavior and social choice. As I will try to show, deciding which social practices should be governed by market mechanisms requires a form of economic reasoning that is bound up with moral reasoning. But mainstream economic thinking asserts its independence from the contested terrain of moral and political philosophy. Economics textbooks emphasize the distinction between »positive« questions and normative ones, between explaining and prescribing. The popular book Freakonomics states the distinction plainly: »Morality represents the way we would like the world to work and economics represents how it actually does work.« Economics »simply doesn’t traffic in morality« (Levitt and Dubner 2006, pp. 11, 46, 190; see also Robbins 1932).
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Marktdenken als Moraldenken
wurden (Sandel 2012a bzw. 2012b). Bei Fortpflanzung und Kindererziehung, im Gesundheits- und Bildungswesen, in Sport und Freizeit, in der Strafjustiz, im Umweltschutz, im Militärdienst, in Wahlkämpfen, im öffentlichen Raum und im sozialen Leben spielen Geld und Märkte eine wachsende Rolle. Ich halte diese Entwicklung für beunruhigend; wenn man jede menschliche Tätigkeit mit Preisschildern auszeichnet, erodieren bestimmte moralische und staatsbürgerliche Tugenden, die wir durchaus wichtig nehmen sollten. Wir brauchen daher eine öffentliche Debatte darüber, in welchen Bereichen Märkte dem öffentlichen Wohl dienen und wo sie nicht hingehören. In diesem Aufsatz würde ich gerne ein verwandtes Thema be- 4 handeln: Wenn es um die Entscheidung geht, ob die Versorgung mit einem bestimmten Gut nach den Regeln des Marktes oder alternativ nach nicht-marktlichen Prinzipien erfolgen sollte, liefert die Wirtschaftswissenschaft nur dürftige Anhaltspunkte. Auf den ersten Blick mag das verwirrend erscheinen. Die Erklärung, wie Märkte funktionieren, ist schließlich das zentrale Thema der Ökonomik. Warum also hat sie es versäumt, eine überzeugende Grundlage bereitzustellen, auf der man darüber entscheiden kann, was auf Märkten zum Verkauf stehen darf und was besser nicht? Der Grund liegt in der Konzeption der Ökonomik als einer wert- 5 neutralen Wissenschaft menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Entscheidungen. Wie ich zu zeigen versuche, erfordert die Entscheidung darüber, welche gesellschaftlichen Praktiken von Marktmechanismen gesteuert werden sollten, eine Art des ökonomischen Denkens, die mit moralischem Denken eng verbunden ist. Aber die Hauptrichtung des ökonomischen Denkens beteuert ihre Unabhängigkeit vom umstrittenen Gebiet der Ethik und der Politischen Philosophie. Ökonomische Lehrbücher legen großen Wert darauf, zwischen »positiven« und normativen Fragen zu unterscheiden, zwischen Erklärungen und Anweisungen. Das populäre Buch Freakonomics verdeutlicht die Unterscheidung schlicht und einfach so: »Moralität steht für die Art und Weise, wie wir die Welt gerne hätten, während die Wirtschaftswissenschaft sich damit befasst, wie sie tatsächlich ist.« Die Ökonomik sei nun einmal »keine Handlungsreisende in Sachen Moral« (Levitt und Dubner 2006; S. 11, S. 46, S. 190; vgl. auch Robbins 1932).
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Market Reasoning as Moral Reasoning
Moral Entanglements 6 Economists have not always understood their subject in this way. The
classical economists, going back to Adam Smith, conceived of economics as a branch of moral and political philosophy. But the version of economics commonly taught today presents itself as an autonomous discipline, one that does not pass judgment on how income should be distributed or how this or that good should be valued. The notion that economics is a value-free science has always been questionable. But the more markets extend their reach into noneconomic aspects of life, the more entangled they become with moral questions.
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To be clear, I am not writing here about the standard textbook limitations on markets. A considerable body of economic analysis is devoted to identifying »market failures,« or situations in which unaided market forces are unlikely to produce an efficient result, such as imperfectly competitive markets, negative and positive externalities, public goods, imperfect information, and the like. Another body of economic literature addresses questions of inequality. But this literature tends to analyze the causes and consequences of inequality while claiming to be agnostic on normative questions of fairness and distributive justice. Outsourcing judgments about equity and fairness to philosophers seems to uphold the distinction between positive and normative inquiry.
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But this intellectual division of labor is misleading, for two reasons. First, as Atkinson (2009) has recently observed, »economics is a moral science,« despite protestations to the contrary. Efficiency only matters insofar as it makes society better off. But what counts as better off? The answer depends on some conception of the general welfare or the public good. Although »welfare economics has largely disappeared« from mainstream economics in recent decades, Atkinson writes, »economists have not ceased to make welfare statements.« Articles in journals of economics »are replete with welfare statements« and reach »clear normative conclusions,« he states, even though the principles underlying those conclusions go largely unex16 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
I. Moralische Verstrickungen Ökonomen haben ihr Forschungsgebiet nicht immer so aufgefasst. 6 Die klassischen Ökonomen bis hin zu Adam Smith konzipierten die Wirtschaftswissenschaft als einen Zweig der Ethik und der Politischen Philosophie. Doch die heute gelehrte Hauptrichtung der Ökonomik stellt sich selbst als autonome Disziplin dar, die keine Werturteile darüber fällt, wie das Volkseinkommen verteilt werden sollte oder wie dieses oder jenes Gut zu bewerten ist. Die Auffassung, Ökonomik sei eine wertfreie Wissenschaft, ist schon immer fragwürdig gewesen. Aber je stärker die Märkte ihren Einflussbereich auf nichtökonomische Aspekte des Lebens ausdehnen, desto mehr verstricken sie sich in moralischen Fragestellungen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mir geht es hier nicht um 7 jene Grenzen des Marktes, die in Standard-Lehrbüchern vorkommen. Ein beachtlicher Teil ökonomischer Analysen befasst sich damit, »Marktversagen« zu identifizieren, also Situationen, in denen unregulierte Marktkräfte mit großer Wahrscheinlichkeit zu ineffizienten Resultaten führen – Beispiele hierfür bieten vermachtete Märkte, auf denen kein vollständiger Wettbewerb herrscht, ferner negative und positive Externalitäten, öffentliche Güter, unvollständige Informationen und Ähnliches mehr. Eine andere Richtung der ökonomischen Literatur behandelt Fragen der Ungleichheit. Aber hier tendiert man dazu, die Ursachen und Konsequenzen der Ungleichheit zu analysieren und gleichzeitig zu behaupten, hinsichtlich der normativen Fragen von Fairness und Verteilungsgerechtigkeit einen agnostischen Standpunkt einzunehmen. Indem man Werturteile über Gleichheit und Fairness den Philosophen zuweist, verfestigt man die Unterscheidung zwischen positiver und normativer Fragestellung. Aber diese intellektuelle Arbeitsteilung ist aus zwei Gründen 8 irreführend. Erstens: Wie Atkinson (2009) kürzlich bemerkte, »ist die Ökonomik eine moralische Wissenschaft« – trotz anderslautender Beteuerungen. Effizienz spielt nur insofern eine Rolle, als sie die Gesellschaft besserstellt. Aber was gilt als »besser«? Die Antwort hängt von der jeweiligen Konzeption der gesellschaftlichen Wohlfahrt oder des Allgemeinwohls ab. Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten »die Wohlfahrtsökonomik [aus der vorherrschenden Ökonomik] weitgehend verschwunden ist«, so Atkinson, »haben die Ökonomen nicht davon abgelassen, Stellungnahmen zu Wohlfahrtsfragen abzugeben«. Aufsätze in ökonomischen Fachzeitschriften sind nach sei17 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
amined. Mostly, the conclusions rest on utilitarian assumptions. But as John Rawls and other philosophers have pointed out, utilitarianism seeks to maximize welfare without regard for its distribution. Atkinson calls for a revival of welfare economics that acknowledges the defects of utilitarianism and considers a broader range of distributive principles.
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A second reason to doubt that economics can be a value-free science of social choice points beyond debates about distributive justice to debates about commodification: Should sex be up for sale? What about surrogate motherhood, or pregnancy for pay? Is there anything wrong with mercenary armies, and if so, how should military service be allocated? Should universities sell some seats in the freshman class in order to raise money for worthy purposes, such as a new library, or scholarships for well-qualified students from poor families? Should the United States sell the right to immigrate? What about allowing existing US citizens to sell their citizenship to foreigners and swap places with them? Should we allow a free market in babies up for adoption? Should people be allowed to sell their votes?
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Some of these controversial uses of markets would improve efficiency by enabling mutually advantageous exchanges. In some cases, negative externalities might outweigh the benefits to buyers and sellers. Even absent externalities, however, some market transactions are objectionable on moral grounds.
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One such ground is that severe inequality can undermine the voluntary character of an exchange. If a desperately poor peasant sells a kidney, or a child, the choice to sell might be coerced, in effect, by the necessities of his or her situation. So one familiar argument in favor of markets—that the parties freely agree to the terms of the deal—is called into question by unequal bargaining conditions. In order to know whether a market choice is a free choice, we have to 18 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
ner Auffassung »voll von solchen Stellungnahmen« und schließen »eindeutige normative Schlussfolgerungen« ein, obwohl die Grundsätze, die diesen Schlussfolgerungen zugrunde liegen, überwiegend ungeprüft durchgehen. In der Regel beruhen sie auf utilitaristischen Voraussetzungen. Aber wie John Rawls und andere Philosophen betont haben, ist der Utilitarismus auf die Maximierung des Nutzens aus, ohne dessen Verteilung zu berücksichtigen. Atkinson fordert daher eine Wiederbelebung der Wohlfahrtsökonomik, in der man die Unzulänglichkeiten des Utilitarismus eingesteht und über eine größere Bandbreite von Verteilungsgrundsätzen nachdenkt. Ein zweiter Grund, daran zu zweifeln, dass die Ökonomik eine 9 wertfreie Wissenschaft gesellschaftlichen Entscheidens sein könne, weist über die Debatten zur distributiven Gerechtigkeit hinaus auf Prozesse der Kommerzialisierung: Sollte Sex verkauft werden dürfen? Wie steht es um Leihmutterschaft oder bezahlte Schwangerschaft? Ist irgendetwas falsch an Söldnertruppen, und wenn ja, auf welche Weise sollten dann militärische Dienstpflichten verteilt werden? Dürfen Universitäten einige Studienplätze für Anfangssemester verkaufen, um Geld für noble Zwecke zu beschaffen, wie etwa eine neue Bibliothek zu finanzieren oder die Stipendienmittel für gut qualifizierte Studierende aus bedürftigen Familien? Dürfen die Vereinigten Staaten Einwanderungsrechte verkaufen? Sollte es regulären USBürgern erlaubt sein, ihre Staatsbürgerschaft an Ausländer zu verkaufen und mit ihnen die nationale Zugehörigkeit zu tauschen? Wollen wir einen freien Markt zulassen für die Adoption von Babys? Soll es Bürgern erlaubt sein, ihre Wählerstimmen zu verkaufen? Manche dieser umstrittenen Optionen, auf die Kräfte des Mark- 10 tes zu setzen, würden die Effizienz erhöhen, indem sie einen Austausch zum gegenseitigen Vorteil ermöglichen. Zwar könnten in einigen Fällen negative Externalitäten die Vorteile für Käufer und Verkäufer durch eine Schädigung Dritter zunichtemachen. Doch selbst wenn man von solchen Externalitäten absieht, sind manche Markttransaktionen als moralisch anstößig zu beanstanden. Einer der Gründe besteht darin, dass massive Ungleichheit den 11 freiwilligen Charakter eines Tauschakts untergraben kann. Wenn ein bitterarmer Bauer eine Niere oder ein Kind verkauft, kann seine Verkaufsentscheidung letztlich durch situative Nöte erzwungen sein. Daher wird ein gängiges Argument zugunsten von Märkten – dass nämlich die Tauschpartner den Bedingungen des Deals freiwillig zustimmen – durch die Ungleichheit der Tauschbedingungen in Frage 19 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
ask what inequalities in the background conditions of society undermine meaningful consent. This is a normative question that different theories of distributive justice answer in different ways.
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A second moral objection is not about fairness and tainted consent, but about the tendency of market practices to corrupt or crowd out nonmarket values worth caring about. For example, we might hesitate to create a market in children on the grounds that putting them up for sale would price less-affluent parents out of the market or leave them with the cheapest, least desirable children (the fairness argument). But we might also oppose such a market on the grounds that putting a price tag on children would objectify them, fail to respect their dignity, and erode the norm of unconditional parental love (the corruption argument).
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Even where markets improve efficiency, they may be undesirable if they corrupt or crowd out nonmarket norms of moral importance. So before we can decide whether to create a market in children, for example, we have to figure out what values and norms should govern the social practices of child-rearing and parenting. In this sense, market reasoning presupposes moral reasoning.
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For those who assume that all values are merely subjective preferences not open to reasoned argument, it may seem odd to suggest that some ways of valuing goods are more appropriate, or fitting, or morally defensible than others. But such judgments are unavoidable, and we make them—sometimes implicitly, sometimes explicitly— whenever we decide whether this or that good should be up for sale.
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Economists are not unaware of the moral objection to monetizing all relationships. For example, Waldfogel (1993; 2009), like many economists, questions the rationality of gift giving. Analyzing what he calls the »deadweight loss of Christmas,« he calculates the utility loss that results from people giving gifts rather than the cash equiva20 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
gestellt. Um zu wissen, ob eine Marktentscheidung eine freie Entscheidung ist, müssen wir die Frage stellen, welche Ungleichheiten in den Hintergrundbedingungen der Gesellschaft eine aussagekräftige Zustimmung untergraben. Dies ist eine normative Frage, die von den verschiedenen Theorien distributiver Gerechtigkeit auf unterschiedliche Weise beantwortet wird. Beim zweiten moralischen Einwand geht es nicht um mangelnde Fairness und erzwungene Zustimmung, sondern um die Neigung des Marktes, eigentlich erhaltenswerte marktferne Werte zu korrumpieren oder zu verdrängen. Um ein Beispiel zu geben: Wir können es ablehnen, einen Markt zum Kauf und Verkauf von Kindern einzuführen – etwa mit der Begründung, dass ein solcher Kinderhandel weniger wohlhabende Eltern aus dem Markt drängen würde oder nur die preisgünstigsten, also am wenigsten gefragten Kinder für sie übrig ließe (so das Fairness-Argument). Doch wir könnten einen solchen Markt auch mit der Begründung ablehnen, dass das Anheften eines Preisschildes die Kinder einer Verdinglichung anheim gäbe, ihre Würde missachte und die Norm bedingungsloser elterlicher Liebe erodieren ließe (so das Korruptions-Argument). Selbst wenn Märkte die Effizienz erhöhen, können sie dennoch unerwünscht sein, sofern sie nämlich nicht-wirtschaftliche Normen korrumpieren oder verdrängen, denen wir ein moralisches Gewicht beimessen. Bevor wir also beispielsweise über die Schaffung eines Marktes für Kinder entscheiden können, müssen wir erst herausfinden, an welchen Werten und Normen die gesellschaftliche Praxis der Kindererziehung und Elternschaft ausgerichtet sein sollte. In diesem Sinne setzt Marktdenken moralisches Denken voraus. Wer annimmt, alle Werte seien bloß subjektive Präferenzen, die vernunftgeleiteter Erörterung nicht zugänglich sind, mag die Behauptung als abwegig ansehen, einige Verfahren zur Bewertung von Gütern seien angemessener, passender oder moralisch vertretbarer als andere. Aber entsprechende Beurteilungen sind unvermeidlich, und wir nehmen sie immer dann vor – manchmal stillschweigend, manchmal ausdrücklich –, wenn wir festlegen, ob dieses oder jenes Gut auf Märkten zum Verkauf stehen darf. Moralische Einwände gegen die Monetarisierung sämtlicher Sozialbeziehungen sind den Wirtschaftswissenschaftlern nicht unbekannt. Waldfogel (1993) und (2009) zum Beispiel hinterfragt, wie viele andere Ökonomen auch, die Rationalität des Schenkens. Bei seiner Analyse dessen, was er den »Wohlfahrtsverlust von Weih21 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Market Reasoning as Moral Reasoning
lent. He attributes the practice of in-kind gift giving to »the stigma of cash giving.« But he does not ask whether this stigma might be justified. He simply assumes it is an irrational obstacle to utility that should ideally be overcome. He does not consider the possibility that the stigma against monetary gifts, at least among lovers, spouses, and other intimates, may reflect norms worth honoring and encouraging, such as attentiveness and thoughtfulness.
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Alvin Roth (2007) also recognizes moral objections to the commodification of certain social practices, when he writes of »repugnance as a constraint on markets.« To contend with such repugnance, he designs in-kind kidney exchanges and other mechanisms that avoid outright buying and selling. Unlike Waldfogel, he does not treat repugnance as an irrational, utility-destroying taboo; he simply accepts it as a social fact and devises work-arounds. Roth does not morally assess the repugnant transactions he discusses. He does not ask which instances of repugnance reflect unthinking prejudice that should be challenged and which reflect morally weighty considerations that should be honored. This reluctance to pass judgment on repugnance may reflect the economist’s hesitation to venture onto normative terrain.
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But the project of devising in-kind exchanges presupposes some moral judgment about which instances of repugnance are justified and which ones are not. Consider human organs. Everyone recognizes that lives could be saved by increasing the supply of organs for transplantation. But some object to the buying and selling of kidneys on the grounds that removing an organ from one person and transferring it to another violates the sanctity and integrity of the human body. Others object on the grounds that buying and selling kidneys objectifies the human person by encouraging us to view our bodies as property, as collections of spare parts to be used for profit. Still others favor a market in kidneys on the grounds that we own ourselves and should be free to profit from our bodies in whatever way we choose. 22 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
nachten« nennt, berechnet er die Nutzeneinbuße, die sich daraus ergibt, dass Menschen eher Geschenke als deren Bargeld-Äquivalente geben. Er führt die gesellschaftliche Praxis, sich Sachen zu schenken, auf »das Stigma des Geldgeschenks« zurück. Aber er stellt sich nicht die Frage, ob dieses Stigma berechtigt sein könnte. Er nimmt einfach an, dass es ein irrationales Hindernis der Nutzenstiftung darstellt, welches im Idealfall überwunden werden sollte. Er zieht die Möglichkeit gar nicht erst in Betracht, dass die Stigmatisierung von Geldgeschenken zumindest zwischen Liebenden, Ehepartnern und anderen Nahestehenden Normen widerspiegeln könnte, die es wert sind, bewahrt und gestärkt zu werden – etwa Achtsamkeit und Rücksichtnahme. Alvin Roth (2007) gesteht ebenfalls moralische Einwände gegen 16 die Kommerzialisierung bestimmter sozialer Praktiken zu, wenn er über »Abscheu als Marktrestriktion« schreibt. Um dieses Problem zu bewältigen, konzipiert er Nierenspenden nach dem Sachleistungsprinzip und entwirft andere Mechanismen, um den Eindruck eines regulären Kaufens und Verkaufens zu vermeiden. Allerdings behandelt er nicht, wie Waldfogel es tut, die ›Abscheu‹ als irrationales, nutzensenkendes Tabu; er akzeptiert sie einfach als soziale Tatsache und ersinnt Umgehungsstrategien. Roth bewertet nicht die moralisch abstoßenden Transaktionen, die er diskutiert. Er stellt nicht die Frage, ob ›Abscheu‹ bei näherer Betrachtung nur gedankenlose Vorurteile spiegelt, die kritisch angegangen werden sollten, oder ob sie moralisch schwerwiegende Bedenken anzeigt, die ernst genommen werden sollten. Diese Urteilsenthaltung in Bezug auf die ›Abscheu‹ könnte die Abneigung eines Ökonomen widerspiegeln, sich auf normatives Terrain zu wagen. Aber der Plan eines Sachleistungstauschs setzt bereits bestimm- 17 te moralische Urteile darüber voraus, welche Fälle von ›Abscheu‹ gerechtfertigt sind und welche nicht. Nehmen wir das Beispiel menschlicher Organe. Jedermann weiß, dass durch ein wachsendes Angebot an Organen für Transplantationen Menschenleben gerettet werden können. Aber manche Leute erheben gegen den Kauf und Verkauf von Nieren Einspruch mit der Begründung, die Entnahme eines Organs einer Person und seine Verpflanzung auf eine andere missachte die Unantastbarkeit und Integrität des menschlichen Körpers. Andere begründen ihre Einwände damit, dass der Handel mit Nieren die menschliche Person verdingliche, indem er dazu ermuntere, unsere Körper als eine Art von Eigentum zu sehen – als Ersatzteillager zur 23 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
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Whether an outright market in kidneys or an in-kind exchange is morally defensible depends, at least in part, on which of these stances toward the body and human personhood is correct. If the first view is right, then all forms of organ transplantation, paid or gifted, are objectionable, notwithstanding the lives that could be saved. If the second view is right, then gifted but not paid kidney transfers are morally defensible. Insofar as kidney exchanges preserve the gift ethic and avoid promoting a mercenary, objectifying attitude toward the human body, they address the moral concern underlying the second view. If the third view is right, we should not limit kidney transfers to in-kind exchanges, but should allow people to buy and sell kidneys for cash.
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Some of the most corrosive effects of markets on moral and civic practices are neither failures of efficiency in the economist’s sense, nor matters of inequality. Instead, they involve the degradation that can occur when we turn all human relationships into transactions and treat all good things in life as if they were commodities. The economic literature that acknowledges stigma and repugnance makes implicit judgments about these questions; otherwise, it would be unable to propose either market solutions or quasi-market alternatives. But it does not articulate and defend the basis of these judgments. Doing so would carry economic reasoning beyond the textbook distinction between positive and normative inquiry and call into question the conception of economics as a value-neutral science of social choice. I will try to show how this is so by considering arguments for and against the use of market mechanisms in some contested contexts. 1 A number of the sections of this paper draw upon Sandel (2012), especially from pp. 21–133. For those interested in following up specific discussions, here are the relevant page references to the 2012 book: »Ticket Scalpers and Line Standers,« pp. 21–23; »Markets and Corruption,« pp. 33–35; »Refugee Quotas,« pp. 63–65; »Fines vs. Fees,« pp. 65–70; »Tradeable Procreation Permits,« pp. 70–72; »Paying to Shoot a Walrus,« pp. 82–84; »Incentives and Moral Entanglements,« pp. 88–91; »The
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24 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
gewinnbringenden Nutzung. Wieder andere befürworten einen Markt für Nieren mit der Begründung, dass wir ›uns selbst gehören‹ und frei sein sollten, mit unserem Körper Gewinne zu machen – wie auch immer wir uns dabei entscheiden. Inwiefern ein ungeregelter Markt für Nieren oder ein Sachleis- 18 tungstausch moralisch vertretbar ist, hängt wenigstens zum Teil davon ab, welche dieser grundsätzlichen Einstellungen zu Körper und menschlicher Personalität richtig ist. Wenn die erste Ansicht richtig ist, dann sind alle Formen der Organtransplantation, ob bezahlt oder gespendet, unzulässig – ungeachtet der Menschenleben, die gerettet werden könnten. Wenn die zweite Ansicht richtig ist, dann sind nur spendenbasierte, aber keine kaufbasierten Nierenverpflanzungen moralisch vertretbar. In dem Maße, in dem die Vermittlung von Nieren die Ethik des Schenkens wahrt und es vermeidet, eine kaufmännische, verdinglichende Einstellung gegenüber dem menschlichen Körper zu fördern, vertritt man das moralische Anliegen, welches der zweiten Ansicht zugrunde liegt. Wenn die dritte Ansicht richtig ist, sollten wir die Übereignung von Nieren nicht auf den Sachleistungstausch beschränken, sondern erlauben, dass man Nieren gegen Bargeld kaufen und verkaufen kann. Einige der stärksten Erosionswirkungen auf moralische und 19 staatsbürgerliche Tugenden, die von Märkten ausgehen, haben ihre Wurzel nicht in Problemen der Ungleichheit und auch nicht in Problemen der Ineffizienz (im wirtschaftswissenschaftlichen Verständnis dieses Begriffs). Vielmehr gehen sie einher mit der Entwürdigung, die zu erwarten ist, wenn man alle Beziehungen zwischen Menschen zu Geschäftsbeziehungen degenerieren lässt und all das Gute im Leben so behandelt, als ob es eine Ware wäre. Die ökonomische Literatur, die Phänomene wie Stigma und ›Abscheu‹ durchaus zur Kenntnis nimmt, fällt in diesen Fragen implizite Werturteile; andernfalls wäre sie kaum in der Lage, Marktlösungen oder marktähnliche Alternativen vorzuschlagen. Aber sie arbeitet die Grundlage solcher Urteile nicht deutlich heraus und verteidigt sie nicht. Täte sie es, käme das ökonomische Denken über die Lehrbuchunterscheidung zwischen positiver und normativer Analyse hinaus und würde die Konzeption der Ökonomik als einer wertneutralen Wissenschaft gesellschaftlicher Entscheidungen in Frage stellen. Ich will zu zeigen versuchen, was es damit auf sich hat, indem ich anhand einiger umstrittener Problembereiche untersuche, welche Argumente für bzw.
25 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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The Line-Standing Business 20
When Congressional committees hold hearings, they reserve some seats for the press and make others available to the general public on a first-come, first-served basis. Corporate lobbyists are keen to attend these hearings, but are loath to spend hours in line to assure themselves a seat. Their solution: Pay thousands of dollars to professional line-standing companies that hire homeless people and others to queue up for them (Montopoli 2004; Copeland 2005; Lerer 2007; Palmeri 2009).
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A company called LineStanding.com describes itself as »a leader in the Congressional line standing business.« It charges $ 50 dollars an hour for line-standing services, of which a portion is paid to the people who stand and wait. The business has recently expanded from Congress to the US Supreme Court. When the Court hears oral arguments in big constitutional cases, the demand for seats far exceeds the supply. But if you are willing to pay, LineStanding.com will get you a ringside seat in the highest court in the land. Business was brisk for the Obama healthcare case in July 2012, when the line began forming three days in advance. For the same-sex marriage cases in June 2013, some people queued up five days in advance, making the price of a seat in the courtroom about $ 6,000 (for reports of this practice in the popular press, see Cain 2011; Smith 2013; Associated Press 2013; Liptak 2013).
Case against Gifts,« pp. 98–103; »Crowding out Non-market Norms,« pp. 113–120; »The Commercialization Effect,« pp. 120–22; »Blood for Sale,« pp. 122–125; »Two Tenets of Market Faith,« pp. 125–127; and »Economizing Love,« pp. 127–133.
26 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
gegen den Einsatz von Marktmechanismen ins Feld geführt werden können. 1
II. Das Geschäft mit dem Schlangestehen Wenn im US-Kongress Parlaments-Ausschüsse mündliche Verhand- 20 lungen anberaumen, reserviert man einige Plätze für die Presse und macht die übrigen für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich; dabei gilt der Grundsatz ›Wer zuerst kommt, mahlt zuerst‹. Nun sind Unternehmens-Lobbyisten ganz erpicht darauf, bei diesen Verhandlungen dabei zu sein; sie stehen aber nur ungern stundenlang Schlange, um sich einen Platz zu sichern. Die Lösung ihres Problems: Sie zahlen Tausende von Dollar an professionelle Warteschlangen-Firmen, die Obdachlose oder andere Personen anheuern, um an ihrer Stelle anzustehen (Montopoli 2004; Copeland 2005; Lerer 2007; Palmeri 2009). Eine Firma namens »LineStanding.com« bezeichnet sich selbst 21 als »Marktführer des Geschäftszweigs ›Schlangestehen im Kongress‹«. Sie verlangt für ihre Warteschlangendienste 50 Dollar pro Stunde, wovon ein Teil an die Leute geht, die anstehen und warten. Dieser Geschäftszweig ist kürzlich sogar ausgeweitet worden – vom Kongress zum Obersten Gerichtshof der USA. Bei mündlichen Anhörungen zu wichtigen Verfassungsfragen ist die Platznachfrage bei weitem höher als das Angebot. Aber wenn man zahlungswillig ist, verschafft einem »LineStanding.com« einen Platz in der ersten Reihe im höchsten Gericht des Landes. Bei der Klage gegen Obamas GeEine Reihe von Abschnitten dieses Aufsatzes stützt sich auf Sandel (2012a), insbesondere auf die Seiten 21–133. Wer an den nachfolgenden spezifischen Diskussionen interessiert ist, sei hier auf die relevanten Passagen der englischen Ausgabe verwiesen. [Die in eckigen Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Ausgabe – Sandel (2012b)]: »Kartenschwarzhändler und Schlangesteher«, S. 21–23 [S. 30–33]; »Märkte und Korruption«, S. 33–35 [S. 44–47]; »Flüchtlingskontingente«, S. 63–65 [S. 81–83]; »Geldbußen vs. Gebühren«, S. 65–70 [S. 83–86]; »Handelbare Fortpflanzungslizenzen«, S. 70–72 [S. 90–92]; »Bezahltes WalrossSchießen«, S. 82–84 [S. 104–107]; »Anreize und moralische Verwicklungen«, S. 88– 91 [S. 107–116]; »In Sachen Geschenke«, S. 98–103 [S. 123–134]; »Die Verdrängung nicht-wirtschaftlicher Normen«, S. 113–120 [S. 142–143]; »Der Kommerzialisierungs-Effekt«, S. 120–22 [S. 150–152]; »Blut zu verkaufen«, S. 122–125 [S. 153– 155]; »Zwei Dogmen des Marktglaubens«, S. 125–127 [S. 155–158]; und »Die Ökonomisierung der Liebe«, S. 127–133 [S. 158–162].
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27 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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On efficiency grounds, it is hard to find fault with the line-standing business. The homeless people who spend hours queuing up receive a payment that makes the waiting worth their while. Those who employ their services gain access to a Congressional hearing or a Supreme Court argument that they are eager to attend and willing to pay for. And the company that arranges the deal makes money too. All of the parties are better off, and no one is worse off.
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And yet some people object. Senator Claire McCaskill, a Missouri Democrat, has tried to ban paid Congressional line standing, without success. »The notion that special interest groups can buy seats at congressional hearings like they would buy tickets to a concert or football game is offensive to me,« she said (as quoted in O’Connor 2009; see also Hananel 2007).
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But what exactly is objectionable about it? One objection is about fairness: It is unfair that wealthy lobbyists can corner the market on Congressional hearings, depriving ordinary citizens of the opportunity to attend. But unequal access is not the only troubling aspect of this practice. Suppose lobbyists were taxed when they hired line-standing companies, and the proceeds were used to make linestanding services affordable for ordinary citizens. The subsidies might take the form, say, of vouchers redeemable for discounted rates at line-standing companies. Such a scheme might ease the unfairness of the present system. But a further objection would remain: turning access to Congress into a product for sale demeans and degrades it.
28 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
sundheitsreform im Juli 2012 lief das Geschäft wie geschmiert: Die Schlange begann, sich schon drei Tage im Voraus zu bilden. Bei den Homo-Ehe-Verhandlungen im Juni 2013 standen einige Leute fünf Tage im Voraus an und trieben den Preis für einen Platz im Gerichtssaal auf 6.000 Dollar hoch (zu Berichten über diese Vorgehensweise in den Massenmedien vgl. Cain 2011; Smith 2013; Associated Press 2013; Liptak 2013). Wenn man sich auf bloße Effizienzgründe beruft, ist es schwie- 22 rig, an der Warteschlangen-Branche irgendetwas kritisierenswert zu finden. Die Obdachlosen, die ihre Zeit damit verbringen, Schlange zu stehen, erhalten eine Bezahlung, die es für sie lohnend macht, eine gewisse Zeit zu warten. Wer ihre Dienste in Anspruch nimmt, erhält Zugang zu einer Kongress-Anhörung oder zu einer Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof, bei der er unbedingt dabei sein will und dafür auch bereitwillig zahlt. Und das Unternehmen, das den Deal arrangiert, kommt ebenfalls auf seine Kosten. Alle beteiligten Parteien erfahren einen Nutzenzuwachs; niemand wird schlechtergestellt. Und dennoch gibt es Menschen, die daran etwas auszusetzen 23 haben. Die Demokratische Senatorin Claire McCaskill aus Missouri hat versucht, das bezahlte Schlangestehen im Kongress zu verbieten – ohne Erfolg. »Die Vorstellung, dass Sonderinteressengruppen bei Kongressanhörungen Plätze in ähnlicher Weise kaufen können wie Eintrittskarten für ein Konzert oder ein Football-Spiel, stößt mich ab«, sagte sie (zitiert in O’Connor 2009; vgl. auch Hananel 2007). Aber was genau ist daran auszusetzen? Ein Einwand betrifft die 24 Fairness: Es ist unfair, dass wohlhabende Lobbyisten den Markt für Kongress-Anhörungen beherrschen und es dadurch den einfachen Bürgern erschweren, dabei zu sein. Aber die ungleiche Zugangsmöglichkeit ist nicht der einzige störende Aspekt an diesem Verfahren. Nehmen wir an, Lobbyisten würden besteuert, wenn sie Aufträge an Warteschlangenfirmen vergeben haben, und die Gelder würden dazu verwendet, die Warteschlangendienste für jeden Bürger erschwinglich zu machen. Die Fördermittel könnten zum Beispiel die Form von Gutscheinen annehmen, die man bei Warteschlangenfirmen einlöst, um eine Gebührenermäßigung zu erhalten. Eine solche Maßnahme könnte die mangelnde Fairness des gegenwärtigen Systems abmildern. Aber ein weiterer Einwand bliebe bestehen: Indem man den Zugang zum Kongress in ein käufliches Gut verwandelt, missachtet man die Bedeutung dieser politischen Instanz und würdigt sie herab. 29 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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We can see this more clearly if we ask why Congress »underprices« admission to its deliberations in the first place. Suppose, striving mightily to reduce the national debt, it decided to charge admission to its hearings—say, $ 1,000 for a front row seat at the House Appropriations Committee. Many people would object, not only on the grounds that the admission fee is unfair to those unable to afford it, but also on the grounds that charging the public to attend a Congressional hearing is a kind of corruption.
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We often associate corruption with ill-gotten gains. But corruption refers to more than bribes and illicit payments. To corrupt a good or a social practice is to degrade it, to treat it according to a lower mode of valuation than is appropriate to it (on higher and lower modes of valuation, see Anderson 1993). Charging admission to Congressional hearings is a form of corruption in this sense. It treats Congress as if it were a business rather than an institution of representative government accessible to all citizens.
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Cynics might reply that Congress is already a business, in that it routinely sells influence and favors to special interests. So why not acknowledge this openly and charge admission? The answer is that the influence peddling and self-dealing that already afflict Congress are also instances of corruption. They represent the degradation of government in the public interest. Implicit in any charge of corruption is a conception of the purposes and ends an institution (in this case, Congress) properly pursues. The line-standing industry on Capitol Hill is corrupt in this sense. It is not illegal, and the payments are made openly. But it degrades Congress by treating access to public deliberations as a source of private gain rather than an expression of equal citizenship.
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This does not necessarily mean that queuing is the best way to allocate access to Congressional hearings or Supreme Court argu30 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
Wir können das noch klarer sehen, wenn wir fragen, warum der Kongress den Zugang zu seinen Sitzungen überhaupt »unter Preis anbietet«. Nehmen wir an, das Parlament beschließt in seinem unerschütterlichen Streben nach Haushaltskonsolidierung, für den Zugang zu seinen Sitzungen einen Preis zu verlangen – sagen wir 1.000 Dollar für einen vorderen Platz im Haushaltsausschuss des Repräsentantenhauses. Viele Leute würden das ablehnen – und zwar nicht nur deshalb, weil eine Zugangsgebühr unfair gegenüber denjenigen wäre, die sie sich nicht leisten können, sondern auch deshalb, weil es eine Form von Korruption ist, dem Publikum für die Anwesenheit bei einer Kongress-Sitzung eine Gebühr zu berechnen. Wir bringen Korruption häufig in Zusammenhang mit illegalen Einkünften. Aber bei Korruption geht es um mehr als um Bestechung und gesetzwidrigen Zahlungsverkehr. Ein Gut oder eine gesellschaftliche Praxis zu korrumpieren heißt, sie herabzuwürdigen und sie nach einem niedrigeren Bewertungsmodus zu behandeln, als ihr angemessen wäre (zu höheren und niedrigeren Bewertungsmodi vgl. Anderson 1993). In diesem Sinne ist es eine Form von Korruption, den Zugang zu Kongress-Sitzungen an Gebühren zu koppeln. Das behandelt den Kongress, als ob er ein Unternehmen wäre – wo er doch eine Institution repräsentativer Demokratie darstellt, die für alle Bürger zugänglich ist. Zyniker könnten erwidern, dass der Kongress ohnehin schon längst zu einem Unternehmen geworden ist, in dem man gewohnheitsmäßig Einfluss und Begünstigungen an Interessengruppen verkauft. Warum das also nicht offen eingestehen und Zugangsgebühren erheben? Die Antwort lautet, dass das Schachern um Einfluss und die Insiderabsprachen, die schon heute den Kongress beschädigen, ebenfalls Beispiele für Korruption sind. Sie stehen für den Niedergang einer dem Gemeinwohl verpflichteten Staatlichkeit. In jedem Korruptionsvorwurf ist implizit eine Vorstellung von den Zwecken und Zielen enthalten, denen eine Institution (in diesem Fall: der Kongress) ordnungsgemäß nachgeht. Die Warteschlangen-Branche auf dem Capitol Hill ist korrupt in genau diesem Sinne. Sie ist nicht illegal, und die Geldflüsse liegen offen. Aber indem sie den Zugang zu öffentlichen Debatten als Quelle privater Bereicherung statt als Ausdruck gleichen Bürgerrechts betrachtet, schadet sie dem Ansehen des Kongresses. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass Schlangestehen das optimale Verfahren ist, um den Zugang zu Kongress-Debatten und zu 31 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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ments. Another alternative, arguably more consistent with the ideal of equal citizenship than either queuing or paying, would be to distribute tickets by an online lottery, with the provision that they be nontransferable.
How Markets Leave Their Mark 29
Before we can decide whether a good should be allocated by market, queue, lottery, need, merit, or in some other way, we have to decide what kind of good it is and how it should be valued. This requires a moral judgment that economists, at least in their role as social scientists, hesitate to make.
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Part of the appeal of market reasoning is that it seems to offer a nonjudgmental way of allocating goods. Each party to a deal decides what value to place on the goods being exchanged. If someone is willing to pay for sex or a kidney, and a consenting adult is willing to sell, the economist does not ask whether the parties have valued the goods appropriately. Asking such questions would entangle economics in controversies about virtue and the common good and thus violate the strictures of a purportedly value-neutral science. And yet it is difficult to decide where markets are appropriate without addressing these normative questions.
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The textbook approach evades this quandary by assuming— usually implicitly—that putting a price on a good does not alter its meaning. It assumes, without argument, that the activity of buying and selling does not diminish the value of the things being bought and sold. This assumption may be plausible in the case of material goods. Whether you sell me a flat screen television, or give me one as a gift, the television will work just as well. But the same may not be true when market practices extend their reach into human relationships and civic practices—sex, child rearing, teaching and learning, voting, and so on. When market reasoning travels abroad, beyond the domain of televisions and toasters, market values may transform social practices, and not always for the better. 32 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
Verhandlungen des Obersten Gerichtshofs zu regeln. Eine andere Möglichkeit, die wohl eher dem Ideal gleichen Bürgerrechts entspräche als Schlangestehen oder Geldzahlungen, bestünde darin, die Tickets per Online-Auslosung zu vergeben und dann mit der Auflage zu versehen, dass sie nicht auf Dritte übertragen werden dürfen.
III. Wie Märkte ihre Spuren hinterlassen Bevor wir entscheiden können, ob der Zugang zu einem Gut durch 29 den Markt geregelt werden soll oder durch Schlangestehen oder eine Lotterie, ob nach Bedürftigkeit oder Verdienst oder auf eine andere Weise, müssen wir festlegen, um was für eine Art von Gut es sich handelt und wie es bewertet werden sollte. Das erfordert ein moralisches Urteil, das Ökonomen zumindest in ihrer Rolle als Sozialwissenschaftler nur ungern fällen. Es macht einen Teil der Attraktivität des Marktdenkens aus, dass 30 es ein werturteilsfreies Verfahren zur Güterverteilung zu bieten scheint. Jeder Beteiligte an einem Geschäft entscheidet selbst, welchen Wert er den getauschten Gütern beimisst. Wenn jemand bereit ist, für Sex oder eine Niere zu bezahlen, und wenn ein Erwachsener einwilligt und verkaufen möchte, dann fragt der Ökonom nicht, ob die Tauschpartner das Gut angemessen bewertet haben. Solche Fragen zu stellen würde die Ökonomen in Streitigkeiten über Tugendhaftigkeit und Gemeinwohl verwickeln und auf diese Weise die Verengungen einer vermeintlich wertneutralen Wissenschaft aufbrechen. Aber es ist schwierig, über die Eignung von Märkten zu befinden, ohne diese normativen Fragen zu thematisieren. Die lehrbuchmäßige Herangehensweise vermeidet diese Zwick- 31 mühle, indem sie – üblicherweise stillschweigend – annimmt, dass die Bepreisung eines Gutes seinen Bedeutungsgehalt unberührt lässt. Ohne weitere Begründung wird angenommen, dass Kauf- und Verkaufsaktivitäten den Wert der Dinge nicht mindern, die gekauft und verkauft werden. Diese Annahme mag bei materiellen Gütern plausibel sein. Ob Sie mir einen Flachbildfernseher verkaufen oder ihn mir schenken, hat auf die Funktion des Gerätes keinen Einfluss. Doch das Gleiche trifft wohl nicht zu, wenn marktübliche Praktiken ihren Wirkungsbereich auf menschliche Beziehungen und staatsbürgerliches Verhalten ausdehnen – also auf Sex, Kindererziehung, Lehren und Lernen, die Ausübung des Wahlrechts und so weiter. Wenn das 33 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Refugee Quotas and Childcare Pickups 32
Consider, for example, a proposal for a global market in refugee quotas. Each year, more refugees seek asylum than the nations of the world are willing to take in. A law professor, inspired by the idea of tradable pollution permits, suggested a solution: Let an international body assign each country a yearly refugee quota, based on national wealth. Then, let nations buy and sell these obligations among themselves. So, for example, if Japan is allocated 10,000 refugees per year but doesn’t want to take them, it could pay Russia, or Uganda, to take them instead. According to standard market logic, everyone benefits. Russia or Uganda gains a new source of national income, Japan meets its refugee obligations by outsourcing them, and more refugees are rescued than would otherwise find asylum (Schuck 1994, 1997).
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The argument in favor of the scheme is that countries would likely accept higher refugee quotas if they have the freedom to buy their way out. Yet there is something distasteful about a market in refugees, even if it’s for their own good. But what exactly is objectionable about it? It has something to do with the tendency of a market in refugees to change our view of who refugees are and how they should be treated. It encourages the participants—the buyers, the sellers, and also those whose asylum is being haggled over—to think of refugees as burdens to be unloaded or as revenue sources, rather than as human beings in peril.
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One might acknowledge the degrading effect of a market in refugees and still conclude that the scheme does more good than harm. But the example illustrates that markets are not mere mechanisms.
34 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Marktdenken also über den Bereich von Fernsehern und Toastern hinaus ausufert, dann können die Werte des Marktes die gesellschaftliche Praxis verändern – und das nicht immer zum Besseren.
IV. Flüchtlingskontingente und Abholung aus dem Kindergarten Schauen wir uns zum Beispiel den Vorschlag an, einen globalen 32 Markt für Flüchtlingskontingente einzuführen. Jedes Jahr beantragen weitaus mehr Flüchtlinge Asyl, als Staaten weltweit aufnehmen wollen. Inspiriert von der Idee handelbarer Verschmutzungsrechte, unterbreitete ein Rechtsprofessor folgenden Lösungsvorschlag: Ein internationales Komitee darf jedem Land je nach Höhe seines wirtschaftlichen Wohlstandes ein jährliches Flüchtlingskontingent zuweisen. Die Länder dürfen dann diese Verpflichtungen untereinander kaufen und verkaufen. Wenn also beispielsweise Japan jährlich 10.000 Flüchtlinge zugewiesen werden, das Land sie aber nicht aufnehmen will, könnte es Russland oder Uganda dafür bezahlen, das an seiner Stelle zu tun. Nach der üblichen Marktlogik bringt das für jeden Vorteile: Russland oder Uganda bekommt eine neue nationale Einkommensquelle, Japan erfüllt seine Verpflichtungen gegenüber den Flüchtlingen, und insgesamt werden mehr Flüchtlinge gerettet, als ansonsten Asyl gefunden hätten (Schuck 1994; 1997). Das Argument zugunsten einer solchen Regelung lautet, dass 33 Staaten wahrscheinlich höhere Flüchtlingskontingente akzeptieren würden, wenn sie die Freiheit hätten, sich aus der Verpflichtung herauszukaufen. Doch ein Markt für Flüchtlinge hat etwas Abstoßendes, selbst wenn er in deren eigenem Interesse liegen sollte. Aber was genau ist daran auszusetzen? Das Problem liegt darin, dass von einem Flüchtlingsmarkt die Tendenz ausgeht, unsere Sicht davon zu verändern, was es heißt, ein Flüchtling zu sein, und wie Flüchtlinge behandelt werden sollten. Der Markt animiert die Beteiligten – also Käufer, Verkäufer und auch diejenigen, um deren Asyl geschachert wird –, Flüchtlinge als Lasten zu empfinden, deren man sich entledigen kann, oder auch als Einkommensquellen – anstatt als Menschen in Not. Es mag sein, dass man die entwürdigenden Auswirkungen eines 34 Flüchtlingsmarkts eingestehen und dennoch zum Schluss kommen kann, dass eine solche Regelung mehr Gutes als Schlechtes bewirkt. Aber das Beispiel zeigt deutlich: Märkte sind nicht bloße Mechanis35 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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They embody certain norms. They presuppose—and promote—certain ways of valuing the goods being exchanged. 35
Economists often assume that markets are inert, that they do not touch or taint the goods they regulate. But this is untrue. Markets leave their mark on social norms. Market incentives can even erode or crowd out nonmarket motivations.
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A well-known study of some childcare centers in Israel shows how this can happen (Gneezy and Rustichini 2000a). The centers faced a familiar problem: parents sometimes came late to pick up their children. A teacher had to stay with the children until the tardy parents arrived. To solve this problem, the centers imposed a fine for late pickups. If you assume that people respond to financial incentives, you would expect the fine to reduce, not increase, the incidence of late pickups. Instead, late pickups increased.
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What explains the result? Introducing the monetary payment changed the norms. Before, parents who came late felt guilty; they were imposing an inconvenience on the teachers. Now, parents considered a late pickup as a service for which they were willing to pay. They treated the fine as if it were a fee. Rather than imposing on the teacher, they were simply paying him or her to work longer. If the goal of the payment for late pickups was to cover the additional costs of lateness, they were arguably a success; but if the goal of the payments was to discourage lateness by penalizing it, they were a failure.
Fines versus Fees 38
It is worth considering the difference between a fine and a fee. Fines register moral disapproval, whereas fees are simply prices that imply no moral judgment. When the government imposes a fine for littering, it makes a statement that littering is wrong. Tossing a beer can into the Grand Canyon not only imposes cleanup costs. It reflects a bad attitude that we want to discourage. Suppose the fine is $ 100, and 36 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
men. Sie verkörpern vielmehr bestimmte Normen. Sie setzen bestimmte Bewertungsweisen der getauschten Güter voraus – und setzen sie auch durch. Ökonomen nehmen häufig an, dass Märkte neutral sind und die 35 auf ihnen getauschten Güter in ihrer Eigenart weder berühren noch beschädigen. Aber das ist nicht wahr. Märkte hinterlassen ihre Spuren an den sozialen Normen. Marktanreize können nicht-wirtschaftliche Beweggründe sogar aushöhlen oder verdrängen. Eine namhafte Untersuchung zu Kinderbetreuungszentren in Is- 36 rael zeigt, wie sich das abspielen kann (Gneezy und Rustichini 2000a). Die Einrichtungen standen vor einem wohlbekannten Problem: Eltern verspäteten sich gelegentlich bei der Abholung ihrer Kinder. Eine Lehrkraft musste dann mit den Kindern warten, bis die säumigen Eltern eintrudelten. Um dieses Problem zu lösen, führten die Zentren Bußgelder für verspätete Abholungen ein. Wenn man annimmt, dass Menschen auf finanzielle Anreize reagieren, dann würde man erwarten, dass Geldbußen die Häufigkeit verspäteter Abholungen senken, nicht erhöhen. Doch das Gegenteil geschah: Verspätete Abholungen nahmen zu. Was erklärt diesen Befund? Die Einführung eines monetären 37 Entgelts veränderte die Normen. Vorher fühlten sich Eltern, die zu spät kamen, schuldig; sie bereiteten den Lehrkräften Unannehmlichkeiten. Jetzt betrachteten die Eltern eine Spätabholung als eine Dienstleistung, für die sie bereit waren zu bezahlen. Sie behandelten das Bußgeld einfach als eine Gebühr. Anstatt der Lehrkraft zur Last zu fallen, bezahlten sie ihre längere Arbeitszeit. Wenn die Geldbußen für verspätete Abholungen das Ziel hatten, die zusätzlichen Kosten für die längere Arbeitszeit zu decken, dann waren sie wohl ein Erfolg; aber wenn sie Verspätungen durch Bestrafung verhindern sollten, dann waren sie ein Fehlschlag.
V. Geldbußen versus Gebühren Es lohnt sich, über den Unterschied zwischen einer Geldbuße und 38 einer Gebühr nachzudenken. Geldbußen bringen eine moralische Missbilligung zum Ausdruck, während Gebühren schlicht Preise darstellen, die kein moralisches Urteil einschließen. Wenn der Staat für das achtlose Wegwerfen von Abfällen eine Geldbuße verhängt, so ist damit die Aussage verbunden, dass die Vermüllung der Landschaft 37 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
a wealthy hiker decides it is worth the convenience. He treats the fine as a fee and tosses his beer can into the Grand Canyon. Even if he pays up, we consider that he’s done something wrong. By treating the Grand Canyon as an expensive dumpster, he has failed to appreciate it in an appropriate way.
39
Or consider the case of parking spaces reserved for use by the physically disabled. Suppose a busy but able-bodied contractor wants to park near his building site. For the convenience of parking his car in a place reserved for the disabled, this contractor is willing to pay the rather large fine. He considers it a cost of doing business. Even if he pays the fine, wouldn’t we consider that he is doing something wrong? He treats the fine as if it were simply an expensive parking lot fee. But in treating the fine as a fee, he fails to respect the needs of the physically disabled and the effort of the community to accommodate them by setting aside certain parking spaces.
40
In practice, the distinction between a fine and a fee can be unstable. In China, the fine for violating the government’s one-child policy is increasingly regarded by the affluent as a price for an extra child. The policy, put in place over three decades ago to reduce China’s population growth, limits most couples in urban areas to one child. (Rural families are allowed a second child if the first one is a girl.) The fine varies from region to region, but reaches 200,000 yuan (about $ 31,000) in major cities—a staggering figure for the average worker, but easily affordable for wealthy entrepreneurs, sports stars, and celebrities (Moore 2009; Bristow 2007; Coonan 2011; Ming’ai 2007).
41
China’s family planning officials have sought to reassert the punitive aspect of the sanction by increasing fines for affluent offenders, denouncing celebrities who violate the policy and banning them from appearing on television, and preventing business executives with extra kids from receiving government contracts. »The fine is a piece of 38 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
ein Übel ist. Wenn jemand eine Bierdose in den Grand Canyon wirft, zieht das nicht nur eine kostenträchtige Säuberungsaktion nach sich; vielmehr bringt es auch eine niedrige Gesinnung zum Ausdruck, der wir als Gesellschaft entgegenarbeiten wollen. Nehmen wir an, die Geldbuße beträgt 100 Dollar, und ein wohlhabender Wanderer ist der Ansicht, das sei ihm die Sache wert. Er fasst die Geldbuße als eine Gebühr auf und schleudert seine Bierdose in den Grand Canyon. Selbst wenn er das alles bezahlt, haben wir den Eindruck, dass er etwas Falsches tut. Indem er den Grand Canyon wie einen kostspieligen Müllcontainer behandelt, hat er dabei versagt, ihn in angemessener Weise wertzuschätzen. Oder betrachten wir den Fall der Behindertenparkplätze. Neh- 39 men wir an, ein vielbeschäftigter, aber körperlich gesunder Bauunternehmer möchte in der Nähe seiner Baustelle parken. Er stellt seinen Wagen auf einem nahen Behindertenparkplatz ab und ist bereit, für diesen Komfort die recht hohe Geldbuße in Kauf zu nehmen; für ihn sind das einfach Betriebskosten. Doch selbst wenn er die Geldbuße bezahlte: Wären wir nicht der Ansicht, dass er etwas Falsches tut? Er sieht die Geldstrafe einfach als hohe Parkgebühr an. Aber auf diese Weise respektiert er weder die Bedürfnisse der Behinderten noch die Bemühungen der Gemeinde, diesen Bedürfnissen durch Ausweisung bestimmter Parkplätze zu entsprechen. In der Praxis kann der Unterschied zwischen einer Geldstrafe 40 und einer Gebühr unscharf werden. In China wird die Geldbuße für Verstöße gegen die staatliche Ein-Kind-Politik von wohlhabenden Chinesen zunehmend als Preis für ein weiteres Kind gesehen. Diese Politik wurde vor über drei Jahrzehnten zur Eindämmung des chinesischen Bevölkerungswachstums eingeführt; sie erlaubt den meisten Paaren in städtischen Räumen nur ein Kind. (Familien auf dem Land dürfen ein zweites Kind bekommen, wenn das erste ein Mädchen ist.) Die Geldbuße variiert je nach Region, aber in Großstädten erreicht sie 200.000 Yuan (etwa 30.000 Euro) – ein schwindelerregender Betrag für den durchschnittlichen Arbeiter, aber leicht erschwinglich für reiche Unternehmer, Sportstars und Prominente (Moore 2009; Bristow 2007; Coonan 2011; Ming’ai 2007). Chinas Familienplanungs-Funktionäre haben versucht, den 41 Strafbezug der Sanktion wieder geltend zu machen, indem sie die Bußgelder für reiche Rechtsverletzer anhoben, Prominente, die gegen die Vorschriften verstoßen hatten, öffentlich anprangerten und ihnen verboten, im Fernsehen aufzutreten, und indem sie Geschäftsleute 39 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
cake for the rich,« explained Zhai Zhenwu, a Renmin University sociology professor (Moore 2009). »The government had to hit them harder where it really hurt, at their fame, reputation, and standing in society« (for discussion, see also Xinhua News Agency 2008; Liu 2008).
42
The Chinese authorities regard the fine as a penalty and want to preserve the stigma associated with it. They don’t want it to devolve into a fee. This is not mainly because they’re worried about affluent parents having too many children; the number of wealthy offenders is relatively small. What is at stake is the norm underlying the policy. If the fine were merely a price, the state would find itself in the awkward business of selling a right to have extra children to those able and willing to pay for them.
Tradable Procreation Permits 43
Some Western economists have called for a market-based approach to population control strikingly similar to the one the Chinese seem determined to avoid: that is, they have urged countries that seek to limit their population to issue tradable procreation permits. For example, Kenneth Boulding (1964) proposed a system of marketable procreation licenses as a solution to overpopulation. Each woman would be issued a certificate (or two, depending on the policy) entitling her to have a child. She would be free to use the certificate or sell it at the going rate. Boulding (pp. 135–36) imagined a market in which people eager to have children would purchase certificates from (as he indelicately put it) »the poor, the nuns, the maiden aunts, and so on.«
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The plan would be less coercive than a system of fixed quotas, as in a one-child policy. It would also be economically more efficient, since it would get the goods (in this case, children) to the consumers most willing to pay for them. Recently, two Belgian economists revived Boulding’s proposal. They pointed out that, since the rich would likely buy procreation licenses from the poor, the scheme would have 40 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
mit überzähligen Kindern von Regierungsaufträgen ausschlossen. »Für die Reichen sind die Bußgelder Peanuts«, erklärte Zhai Zhenwu, ein Soziologieprofessor der Universität von Renmin (Moore 2009). »Die Regierung musste sie härter anfassen, da, wo es wirklich wehtut, bei ihrem Ruhm, ihrem Ansehen und ihrer Stellung in der Gesellschaft.« (Zur weiteren Diskussion vgl. auch Xinhua News Agency 2008; Liu 2008). Die chinesischen Behörden betrachten das Bußgeld als Bestra- 42 fung und wollen das damit verbundene Stigma aufrechterhalten. Sie möchten es nicht zu einer bloßen Gebühr verkommen lassen. Sie tun das in der Hauptsache nicht deshalb, weil sie fürchten, dass wohlhabende Eltern zu viele Kinder bekommen; die Anzahl reicher Rechtsverletzer ist relativ klein. Ihnen geht es vielmehr um die Norm, auf der diese Politik beruht. Wäre das Bußgeld lediglich eine Gebühr, würde sich der Staat an dem heiklen Geschäft beteiligen, das Recht auf weitere Kinder an diejenigen zu verkaufen, die willens und in der Lage sind, dafür zu bezahlen.
VI. Handelbare Fortpflanzungslizenzen Einige westliche Ökonomen haben einen marktbasierten Ansatz zur 43 Geburtenkontrolle gefordert, der verblüffend demjenigen ähnelt, den China offenbar zielstrebig vermeidet. Sie haben nämlich Länder, die ihre Bevölkerung zu begrenzen suchen, dazu gedrängt, handelbare Fortpflanzungslizenzen auszugeben. Beispielsweise schlug Kenneth Boulding (1964) ein solches System zur Kontrolle der Überbevölkerung vor. Dabei würde jeder Frau eine einzige (oder je nach Regelung auch eine zweite) Bescheinigung ausgestellt, die ihr das Recht auf ein Kind einräumt. Sie wäre frei, diese Lizenz zu nutzen oder sie zum aktuellen Preis zu verkaufen. Boulding (S. 135–136) stellte sich einen Markt vor, in dem Menschen mit dringendem Kinderwunsch solche Zertifikate kaufen würden – und zwar (wie er es etwas taktlos ausdrückte) von »Armen, Nonnen, alten Jungfern und so weiter«. Dieser Plan wäre weniger restriktiv als ein System fester Quoten 44 wie bei der Ein-Kind-Politik. Er wäre auch ökonomisch effizienter, da die Güter (in diesem Fall: die Kinder) denjenigen Kunden zufielen, die am meisten dafür zahlen wollen. Kürzlich ließen zwei belgische Ökonomen Bouldings Vorschlag wieder aufleben. Sie betonten, diese Regelung hätte den zusätzlichen Vorteil einer Verringerung der Un41 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
the further advantage of reducing inequality by giving the poor a new source of income (de la Croix and Gosseries 2006). 45
Some people oppose restrictions on procreation, whether mandatory or market-based. Others believe that reproductive rights can legitimately be restricted to avoid overpopulation. Set aside for the moment that disagreement of principle and imagine a society that was determined to implement mandatory population control. Which policy would be less objectionable: a fixed quota that limits each couple to one child and fines those who exceed the limit, or a marketbased system that issues each couple a tradable procreation voucher entitling the bearer to have one child?
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From the standpoint of economic reasoning, the second policy is clearly preferable. The freedom to choose whether to use the voucher or sell it makes some people better off and no one worse off. Those who buy or sell vouchers gain (by making mutually advantageous trades), and those who don’t enter the market are no worse off than they would be under the fixed quota system; they can still have one child.
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And yet, there is something troubling about a system in which people buy and sell the right to have kids. Part of what is troubling is the unfairness of such a system under conditions of inequality. We hesitate to make children a luxury good, affordable by the rich but not the poor. Beyond the fairness objection is the potentially corrosive effect on parental attitudes and norms. At the heart of the market transaction is a morally disquieting activity: parents who want an extra child must induce or entice other prospective parents to sell off their right to have a child.
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Some might argue that a market in procreation permits has the virtue of efficiency; it allocates children to those who value them most highly, as measured by the ability to pay. But trafficking in the right to procreate may promote a mercenary attitude toward children 42 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
gleichheit: Den Armen erschließe sich eine neue Einkommensquelle, weil die Reichen wahrscheinlich deren Fortpflanzungslizenzen kaufen würden (de la Croix und Gosseries 2006). Manche Menschen sind gegen jegliche Beschränkungen der Fortpflanzung – ob verpflichtend oder marktkonform. Andere meinen, Reproduktionsrechte ließen sich auf legitime Weise beschränken, um Überbevölkerung zu vermeiden. Lassen wir diese prinzipielle Uneinigkeit einmal beiseite und stellen uns eine Gesellschaft vor, die sich entschlossen hat, eine obligatorische Bevölkerungskontrolle einzuführen. Zwei Möglichkeiten bieten sich an: Ein System fester Quoten, das jedem Paar nur ein Kind zubilligt und Verstöße mit einem Bußgeld ahndet, und ein marktbasiertes System, das jedem Paar einen handelbaren Fortpflanzungsgutschein ausstellt, der den Inhaber zu einem Kind berechtigt. Welche Regelung wäre weniger bedenklich? Vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen ist die zweite Regelung eindeutig vorzuziehen. Frei entscheiden zu können, ob man den Gutschein nutzen oder verkaufen möchte, stellt einige Menschen besser, ohne andere schlechter zu stellen. Diejenigen, die Gutscheine kaufen oder verkaufen, gewinnen etwas, indem sie einen wechselseitig vorteilhaften Handel abschließen; und diejenigen, die am Markt nicht teilnehmen, sind nicht schlechter dran als unter einem festen Quotensystem – sie können schließlich immer noch ein Kind bekommen. Und dennoch: Ein System, in dem Menschen mit dem Recht, Kinder zu haben, Handel treiben können, hat etwas Verstörendes. Zum Teil hat das mit der Unfairness eines solchen Systems zu tun, wenn es unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit funktionieren soll: Es widerstrebt uns, Kinder zu einem Luxusgut zu machen, das zwar für Reiche, nicht aber für Arme erschwinglich ist. Über den Fairness-Einwand hinaus gibt es die potentiell zersetzenden Auswirkungen auf elterliche Einstellungen und Normen. Im Kern der Markttransaktion liegt nämlich eine moralisch beunruhigende Handlung: Eltern, die sich ein weiteres Kind wünschen, müssen andere potentielle Eltern dazu bringen oder dazu verleiten, ihnen ihr Recht auf ein eigenes Kind zu verkaufen. Nun könnte man einwenden, dass ein Markt für Fortpflanzungslizenzen die Tugend der Effizienz besitzt: Er verteilt Kinder an diejenigen, die sie am meisten schätzen – gemessen an der Zahlungsbereitschaft. Doch der Handel mit Fortpflanzungsrechten könnte 43 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Market Reasoning as Moral Reasoning
and corrupt the norm of unconditional love of parents for their children. For consider: Wouldn’t the experience of loving your children be tainted if you acquired some of them by bribing other couples to remain childless? Might you be tempted, at least, to hide this fact from your children? If so, there is reason to conclude that, whatever its advantages, a market in procreation permits would corrupt parenthood in ways that a fixed quota, however odious, would not.
49
In deciding whether to commodify a good, we must consider more than efficiency and fairness. We must also ask whether market norms will crowd out nonmarket norms, and if so, whether this represents a loss worth caring about.
Paying to Shoot a Walrus 50
Consider another kind of tradable quota—the right to shoot a walrus. Although the Atlantic walrus was once abundant in the Arctic region of Canada, the massive, defenseless marine mammal was easy prey for hunters, and by the late nineteenth century the population had been decimated. In 1928, Canada banned walrus hunting, with a small exception for aboriginal subsistence hunters whose way of life had revolved around the walrus hunt for 4,500 years.
51
In the 1990s, Inuit leaders approached the Canadian government with a proposal. Why not allow the Inuit to sell the right to kill some of their walrus quota to big-game hunters? The number of walruses killed would remain the same. The Inuit would collect the hunting fees, serve as guides to the trophy hunters, supervise the kill, and keep the meat and skins as they had always done. The scheme would improve the economic wellbeing of a poor community, without exceeding the existing quota. The Canadian government agreed.
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Today, rich trophy hunters from around the world make their way to the Arctic for the chance to shoot a walrus. They pay $ 6,000 44 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
eine Händlermentalität gegenüber Kindern fördern und die elterliche Norm uneingeschränkter Liebe zu den Kindern korrumpieren. Denn überlegen Sie: Fiele nicht auf die Erfahrung der Liebe zu Ihren Kindern ein Schatten, wenn Sie einige von ihnen nur deshalb bekommen hätten, weil Sie andere Paare dazu verleitet haben, kinderlos zu bleiben? Und würden Sie nicht wenigstens den Drang verspüren, diese Tatsache vor Ihren Kindern zu verbergen? Wenn es sich so verhält, dann gibt es gute Gründe für den Schluss, dass ein Markt für Fortpflanzungslizenzen, was auch immer seine Vorteile sein mögen, den Familiengeist auf eine Weise korrumpieren würde, wie es feste Quoten nicht täten – so verhasst sie auch sein mögen. Bei der Entscheidung, etwas als Wirtschaftsgut zu handeln, 49 müssen wir mehr in Betracht ziehen als Effizienz und Fairness. Wir müssen auch fragen, ob Marktnormen nicht-wirtschaftliche Normen verdrängen, und wenn dem so ist, ob das einen Verlust bedeutet, um den man sich sorgen sollte.
VII. Bezahlte Walrossjagden Untersuchen wir eine andere Art von handelbaren Quoten – das 50 Recht, ein Walross zu schießen. Obwohl das Atlantische Walross in den arktischen Regionen Kanadas einst sehr häufig vorkam, war der massige wehrlose Meeressäuger für Jäger eine leichte Beute, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Population stark zurückgegangen. 1928 untersagte Kanada die Walrossjagd mit Ausnahme einer kleinen Quote für die Inuit – einheimische Subsistenzjäger, deren Lebensweise sich seit 4.500 Jahren um die Walrossjagd dreht. In den 1990er Jahren traten die Inuit mit folgendem Vorschlag an 51 die Kanadische Regierung heran. Was spräche eigentlich dagegen, ihnen zu erlauben, aus ihrer Quote einige Abschussrechte an Großwildjäger zu verkaufen? Die Anzahl der getöteten Walrosse bliebe unverändert. Die Inuit kassierten die Jagdgebühren und würden den Trophäenjägern als Führer dienen, den Abschuss beaufsichtigen sowie das Fleisch und die Felle behalten – so, wie sie das immer schon getan hatten. Das Projekt würde das wirtschaftliche Wohlergehen eines armen Gemeinwesens fördern, ohne die schon bestehenden Quoten zu überschreiten. Die kanadische Regierung war einverstanden. Wegen der günstigen Gelegenheit, ein Walross zu jagen, machen 52 sich mittlerweile aus allen Teilen der Welt reiche Trophäenjäger in die 45 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
to $ 6,500 for the privilege. They do not come for the thrill of the chase or the challenge of stalking an elusive prey. Walruses are unthreatening creatures that move slowly and are no match for hunters with guns. In a compelling account in the New York Times Magazine, Chivers (2002) compares walrus hunting under Inuit supervision to »a long boat ride to shoot a very large beanbag chair.« The guides maneuver the boat to within 15 yards of the walrus and tell the hunter when to shoot. Chivers describes the scene as a game hunter from Texas shot his prey: »[The] bullet smacked the bull on the neck, jerking its head and knocking the animal to its side. Blood spouted from the entry point. The bull lay motionless. [The hunter] put down his rifle and picked up his video camera.« The Inuit crew then pull the dead walrus onto an ice floe and carve up the carcass.
53
The appeal of the hunt is difficult to fathom. It involves no challenge, making it less a sport than a kind of lethal tourism. The hunter cannot even display the remains of his prey on his trophy wall back home. Walruses are protected in the United States, and it is illegal to bring their body parts into the country.
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So why shoot a walrus? Apparently, the main reason is to fulfill the goal of killing one specimen of every creature on lists provided by hunting clubs—for example, the African »Big Five« (leopard, lion, elephant, rhino, and cape buffalo), or the Arctic »Grand Slam (caribou, musk ox, polar bear, and walrus). 55 It hardly seems an admirable goal; many find it repugnant. But from the standpoint of market reasoning, there is much to be said for allowing the Inuit to sell their right to shoot a certain number of walruses. The Inuit gain a new source of income, and the »list hunters« gain the chance to complete their roster of creatures killed—all without exceeding the existing quota. In this respect, selling the right to kill a walrus is like selling the right to procreate, or to pollute. Once you have a quota, market logic dictates that allowing tradable permits improves the general welfare. It makes some people better off without making anyone worse off.
46 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Arktis auf. Für dieses Sonderrecht bezahlen sie zwischen 6.000 und 6.500 Dollar. Sie kommen nicht wegen des Nervenkitzels der Jagd oder wegen der Herausforderung, einer schwer erreichbaren Beute nachzustellen. Walrosse sind harmlose Geschöpfe, die sich langsam bewegen und für Jäger mit Gewehren nicht wirklich eine Herausforderung darstellen. In seinem fesselnden Bericht im New York Times Magazine vergleicht Chivers (2002) die Walrossjagd unter Aufsicht der Inuit mit »einer langen Bootsfahrt, um am Ende auf einen sehr großen Sitzsack zu schießen«. Die Führer manövrieren das Boot bis auf 15 Meter an das Walross heran und signalisieren dem Jäger, wann es Zeit ist zu schießen. Chivers beschreibt die Szene, als ein Freizeitjäger aus Texas seine Beute erlegte: »Die Kugel des Jägers klatschte dem Bullen in den Hals, ließ seinen Kopf erzittern und warf das Tier auf die Seite. Blut sprudelte aus dem Einschussloch. Reglos lag der Bulle da. [Der Jäger] legte sein Gewehr weg und zückte seine Videokamera.« Die Inuit-Mannschaft wuchtete dann das tote Walross auf eine Eisscholle und zerlegte den Kadaver. Der Reiz einer solchen Jagd ist schwer zu ergründen. Sie stellt 53 keine großen Anforderungen, so dass es sich hier weniger um Sport als vielmehr um eine Art Todestourismus handelt. Nicht einmal eine Trophäe kann sich der Jäger zu Hause an die Wand hängen: Walrosse sind in den USA geschützt, und es ist illegal, Körperteile dieser Tiere ins Land zu bringen. Warum also eine Walrossjagd? Offenbar geht es hauptsächlich 54 um das Ziel, ein Exemplar aller Tierarten zu erlegen, die auf den Listen von Jagdvereinen stehen – zum Beispiel die Afrikanischen »Big Five« (Leopard, Löwe, Elefant, Nashorn und Büffel) oder den Arktischen »Grand Slam« (Rentier, Moschusochse, Eisbär und Walross). Dieses Ziel ist nicht gerade bewundernswert; viele finden es so- 55 gar widerwärtig. Aber aus der Sicht des Marktdenkens spricht vieles dafür, den Inuit zu erlauben, ihr Recht auf den Abschuss einer bestimmten Anzahl von Walrossen zu verkaufen. Sie selbst gewinnen eine neue Einkommensquelle, und die »Tabellenjäger« bekommen die Möglichkeit, ihre Liste getöteter Tiere zu vervollständigen – und das alles ohne Überschreitung geltender Abschussquoten. In dieser Hinsicht entspricht der Verkauf des Abschussrechts für ein Walross dem Verkauf des Rechts auf Fortpflanzung oder auf Umweltverschmutzung. Sobald eine Quote vorhanden ist, diktiert die Marktlogik, dass die Erlaubnis für einen Lizenzhandel das Allgemeinwohl mehrt. Sie stellt einige Leute besser, ohne andere schlechter zu stellen. 47 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning 56
And yet there is something morally disagreeable about the market in walrus killing. Let’s assume, for the sake of argument, that it is reasonable to permit the Inuit to carry on with subsistence walrus hunting as they’ve done for centuries. Allowing them to sell the right to kill »their« walruses is nonetheless open to two moral objections. First, it can be argued that this bizarre market caters to a perverse desire that should carry no weight in any calculus of social utility. Whatever one thinks of other forms of big-game hunting, the desire to kill a helpless mammal at close range, without any challenge or chase, simply to complete a list, is not worthy of being fulfilled. To the contrary, it should be discouraged. Second, for the Inuit to sell outsiders the right to kill their allotted walruses arguably corrupts the meaning and purpose of the exemption accorded their community in the first place. It is one thing is to honor the Inuit way of life and to respect its long-standing reliance on subsistence walrus hunting. It is quite another to convert that privilege into a cash concession in killing on the side.
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Of course, the moral judgments underlying these objections are contestable. Some might defend the system of tradable walrus-hunting quotas on the grounds that the desire to shoot a walrus is not perverse but morally legitimate, worthy of consideration in determining the general welfare. It might also be argued that the Inuit themselves, not outside observers, should determine what counts as respecting their cultural traditions. My point is simply this: deciding whether or not to permit the Inuit to sell their right to shoot walruses requires debating and resolving these competing moral judgments.
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Marktdenken als Moraldenken
Und dennoch hat ein Markt für Walrosstötungen moralisch et- 56 was Irritierendes. Nehmen wir um des Arguments willen an, dass es vernünftig wäre, den Inuit zu erlauben, weiterhin für ihren Lebensunterhalt Walrosse zu jagen, wie sie das seit Jahrhunderten getan haben. Dies vorausgesetzt, sprechen aber immer noch zwei moralische Einwände dagegen, ihnen zu erlauben, das Recht auf Tötung »ihrer« Walrosse zu verkaufen. Erstens kann man der Auffassung sein, dass dieser bizarre Markt einen perversen Wunsch bedient, welcher bei der Abwägung eines gesellschaftlichen Nutzens nicht ins Gewicht fallen sollte. Was immer man von anderen Formen der Großwildjagd halten mag: Der Wunsch, ohne jegliche Mühe oder Jagdanstrengung ein hilfloses Säugetier aus nächster Nähe zu töten, einfach um es auf einer Liste abhaken zu können, ist es nicht wert, erfüllt zu werden. Im Gegenteil: Dieser Wunsch sollte geächtet werden. Zweitens: Indem die Inuit das ihnen zugestandene Recht, eine bestimmte Anzahl von Walrossen töten zu dürfen, an Außenstehende verkaufen, unterminieren sie den Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung, die man für ihre Gemeinschaft eingeführt hat. Es ist eine Sache, die traditionelle Lebensweise der Inuit zu würdigen und dem Umstand Respekt zu zollen, dass sie für ihren Lebensunterhalt von alters her darauf angewiesen sind, Walrosse zu jagen. Eine ganz andere Sache jedoch ist es, dieses Vorrecht in eine Kaufkonzession für beiläufiges Töten umzumünzen. Diesen Einwänden liegen moralische Urteile zugrunde, die na- 57 türlich anfechtbar sind. Manche mögen das Quotensystem für handelbare Walrossjagden mit der Begründung verteidigen, dass der Wunsch, ein Walross zu schießen, nicht pervers, sondern moralisch legitim ist und bei der Abwägung des gesellschaftlichen Nutzens berücksichtigt werden sollte. Auch könnte man argumentieren, dass nicht außenstehende Beobachter, sondern die Inuit selbst darüber befinden sollten, was es bedeutet, ihre kulturelle Traditionen zu würdigen. Mein Standpunkt lautet einfach so: Der Entschluss, ob es den Inuit gestattet werden sollte, ihr Recht auf die Walrossjagd zu verkaufen, erfordert eine Debatte und eine Entscheidung zwischen diesen rivalisierenden moralischen Urteilen.
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Crowding out Nonmarket Norms 58
Markets in refugee quotas, procreation permits, and the right to shoot a walrus, however efficient in economic terms, are questionable policy to the extent that they erode the attitudes and norms that should govern the treatment of refugees, children, and endangered species. The problem I am emphasizing here is not that such markets are unfair to those who can’t afford the goods being sold (although this may well be true), but that selling such things can be corrupting.
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Standard economic reasoning assumes that commodifying a good—putting it up for sale—does not alter its character; market exchanges increase economic efficiency without changing the goods themselves. But this assumption is open to doubt. As markets reach into spheres of life traditionally governed by nonmarket norms, the notion that markets never touch or taint the goods they exchange becomes increasingly implausible. A growing body of research confirms what common sense suggests: financial incentives and other market mechanisms can backfire by crowding out nonmarket norms.
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The day care study offers one example. Introducing a monetary payment for late arrivals increased rather than reduced the number of parents arriving late. It is no doubt true that, if the fine were high enough (say, $ 1,000 an hour), the standard price effect would win out. But all that matters for my argument is that introducing a monetary incentive or disincentive can sometimes corrupt or crowd out nonmarket attitudes and norms. When and to what extent the »crowding out« effect may trump the price effect is an empirical question. But even the existence of a »crowding out« effect shows that markets are not neutral; introducing a market mechanism may change the character and meaning of a social practice. If this is true, deciding to use a cash incentive or a tradable quota requires that we evaluate, in each case, the nonmarket values and norms such mechanisms may displace or transform.
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VIII. Die Verdrängung nicht-wirtschaftlicher Normen So effizient sie in wirtschaftlicher Hinsicht auch sein mögen: Märkte 58 für Flüchtlingsquoten, für Fortpflanzungslizenzen und für das Recht, ein Walross zu schießen, sind in dem Maße fragwürdig, in dem sie die Einstellungen und Normen zersetzen, die unseren Umgang mit Flüchtlingen, Kindern und gefährdeten Arten leiten sollten. Das Problem, um das es mir hier geht, ist nicht, dass solche Märkte unfair zu denjenigen sind, die sich die gehandelten Güter nicht leisten können (obwohl das durchaus zutreffen mag), sondern dass der Handel mit solchen Gütern moralisch korrumpierend wirken kann. Das übliche ökonomische Denken geht davon aus, dass es den 59 Charakter eines Gutes nicht verändert, wenn man es zur Ware macht und zum Verkauf freigibt; dieser Vorstellung zufolge steigern Tauschhandlungen auf dem Markt die ökonomische Effizienz, ohne die Güter selbst zu verändern. Aber diese Annahme darf durchaus bezweifelt werden. Indem Märkte auf Lebensbereiche übergreifen, die traditionell von nicht-wirtschaftlichen Normen geleitet werden, verliert die Vorstellung zunehmend an Plausibilität, dass Märkte die auf ihnen getauschten Güter niemals beeinträchtigen oder gar verderben. Vielmehr bestätigen immer mehr Forschungsergebnisse, was schon der gesunde Menschenverstand nahelegt: Finanzielle Anreize und andere Marktmechanismen können nach hinten losgehen, indem sie nicht-wirtschaftliche Normen verdrängen. Die bereits erwähnte Studie zur Tagesbetreuung liefert ein Bei- 60 spiel. Nach Einführung von Geldzahlungen für Spätabholer erhöhte sich die Anzahl der Eltern, die zu spät kamen, statt zu sinken. Es ist zweifellos richtig, dass bei einer genügend hohen Geldstrafe (sagen wir: 1.000 Dollar pro Stunde) der übliche Preiseffekt dominieren würde. Aber für mein Argument kommt es lediglich darauf an, dass die Einführung eines Anreizes monetärer Belohnung oder Bestrafung manchmal die Folge nach sich ziehen kann, nicht-wirtschaftliche Einstellungen und Normen zu schwächen oder zu verdrängen. Wann und in welchem Ausmaß der Verdrängungseffekt den Preiseffekt übertrifft, ist eine empirische Frage. Aber schon die bloße Existenz eines Verdrängungseffekts zeigt, dass Märkte nicht moralisch neutral sind: Die Einführung von Marktmechanismen kann den Charakter und die Bedeutung einer gesellschaftlichen Praxis verändern. Und wenn das stimmt, dann erfordert der Entschluss, sich eines Geldanreizes oder einer handelbaren Quote zu bedienen, in jedem einzel51 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
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Several other studies also demonstrate the crowding out effect:
Nuclear Waste Siting 62 When residents of a Swiss town were asked whether they would be
willing to approve a nuclear waste site in their community if the Parliament decided to build it there, 51 percent said yes. Then the respondents were offered a sweetener: Suppose the Parliament proposed building the nuclear waste facility in your community and offered to compensate each resident with an annual monetary payment. (Frey, Oberholzer-Gee, Eichenberger 1996; Frey and Oberholzer-Gee 1997; see also Frey 1997, pp. 67–78). Adding the financial inducement did not increase the rate of acceptance. In fact, it cut it in half—from 51 percent to 25 percent. Similar reactions to monetary offers have been found in other places where local communities have resisted radioactive waste repositories (Frey, Oberholzer- Gee, and Eichenberger 1996, pp. 1300, 1307; Frey and Oberholzer-Gee 1997, p. 750; Kunreuther and Easterling 1996, pp. 606–608). 63
Why would more people accept nuclear waste for free than for pay? For many, the willingness to accept the waste site apparently reflected public spirit—a recognition that the country as a whole depended on nuclear energy, and that the waste had to be stored somewhere. If their community was found to be the safest site, they were willing to sacrifice for the sake of the common good. But they were not willing to sell out their safety and put their families at risk for money. In fact, 83 percent of those who rejected the monetary proposal explained their opposition by saying they could not be bribed (Frey, Oberholzer-Gee, and Eichenberger 1996, p. 1306). The offer of a private payoff had transformed a civic question into a pecuniary one. The introduction of market norms crowded out their sense of civic duty (Kunreuther and Easterling 1996, pp. 615–19; Frey, Oberholzer-Gee, and Eichenberger 1996, p. 1301; for an argument in favor of cash compensation, see O’Hare 1977).
52 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
nen Fall die Bewertung nicht-wirtschaftlicher Werte und Normen, die durch solche Mechanismen möglicherweise verdrängt oder verwandelt werden. Etliche weitere Studien belegen ebenfalls diesen Verdrängungs- 61 effekt:
(a) Nukleare Endlager Als in der Schweiz die Einwohner einer Stadt gefragt wurden, ob sie 62 einem nuklearen Endlager in ihrer Gemeinde zustimmen würden, wenn das Parlament beschlösse, es dort einzurichten, sagten 51 Prozent ›Ja‹. Dann wurde den Befragten ein Anreiz offeriert: Nehmen Sie an, das Parlament hätte den Bau einer Einrichtung für nukleare Abfälle in Ihrer Gemeinde beschlossen und böte jedem Bürger zum Ausgleich eine jährliche Geldzahlung an (Frey, Oberholzer-Gee und Eichenberger 1996; Frey und Oberholzer-Gee 1997; vgl. auch Frey 1997; S. 67–78). Der zusätzliche finanzielle Anreiz ließ die Akzeptanzrate jedoch nicht steigen. Tatsächlich halbierte sie sich – von 51 Prozent auf 25 Prozent. Ähnliche Reaktionen auf monetäre Offerten fand man an weiteren Orten, wo Kommunen sich gegen Lagerstätten für radioaktive Abfälle zur Wehr gesetzt hatten (Frey, OberholzerGee und Eichenberger 1996; S. 1300, 1307; Frey und OberholzerGee 1997; S. 750; Kunreuther und Easterling 1996, S. 606–608). Warum wollten mehr Menschen den nuklearen Abfall ohne Ent- 63 schädigung akzeptieren als gegen Bezahlung? Für viele war die Bereitschaft, eine Lagerstätte hinzunehmen, Ausdruck von Gemeinschaftssinn – also der Erkenntnis, dass das Land als Ganzes von der Atomenergie abhing und dass der Abfall schließlich irgendwo gelagert werden musste. Falls sich herausgestellt hätte, dass ihre Kommune den sichersten Standort bietet, hätten sie sich bereiterklärt, um des Gemeinwohls willen das Opfer zu bringen. Aber sie waren nicht bereit, ihre Sicherheit zu verschachern und ihre Familien gegen Geld in Gefahr zu bringen. Tatsächlich erklärten 83 Prozent derjenigen, die das Geldangebot zurückgewiesen hatten, ihre Ablehnung mit den Worten, dass sie nicht bestechlich seien (Frey, Oberholzer-Gee und Eichenberger 1996; S. 1306). Das Angebot einer privaten Ausgleichszahlung hatte eine staatsbürgerliche Angelegenheit in eine Frage des Geldes verwandelt: Die Einführung von Marktnormen verdrängte die Bereitschaft zur staatsbürgerlichen Pflichterfüllung 53 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
Donation Day 64
Each year, on a designated day, Israeli high school students go doorto-door to solicit donations for worthy causes—cancer research, aid to disabled children, and so on. Gneezy and Rustichini (2000b) did an experiment to determine the effect of financial incentives on the students’ motivations. They divided the students into three groups. One group of students was given a brief motivational speech about the importance of the cause, and sent on its way. The second and third groups were given the same speech, but also offered a monetary reward based on the amount they collected—1 percent and 10 percent respectively. The rewards would not be deducted from the charitable donations, but would come from a separate source.
65
Not surprisingly, the students who were offered 10 percent collected more in donations than those who were offered 1 percent. But the unpaid students collected more than either of the paid groups, including those who received the high commission. Gneezy and Rustichini (2000b, 802–807) conclude that, if you’re going to use financial incentives to motivate people, you should either »pay enough or don’t pay at all.« While it may be true that paying enough will get what you want, there is also a lesson here about how money crowds out norms.
66
Why did both paid groups lag behind those doing it for free? Most likely, it was because paying students to do a good deed changed the character of the activity. Going door-to-door collecting funds for charity was now less about performing a civic duty and more about earning a commission. The financial incentive transformed a publicspirited activity into a job for pay. As with the Swiss villagers, so with the Israeli students: the introduction of market norms displaced, or at least dampened, their moral and civic commitment. 54 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
(Kunreuther und Easterling 1996; S. 615–619; Frey, Oberholzer-Gee und Eichenberger 1996; S. 1301; für ein Argument zugunsten einer Barabfindung vgl. O’Hare 1977).
(b) Spendentag Jedes Jahr gehen israelische Oberschüler an einem bestimmten Tag 64 von Tür zu Tür und bitten um Spenden für wohltätige Zwecke – für die Krebsforschung, die Unterstützung behinderter Kinder und dergleichen. Gneezy und Rustichini (2000b) führten ein Experiment durch, um festzustellen, wie sich finanzielle Anreize auf die Motivation der Schüler auswirken. Sie teilten die Schüler in drei Gruppen ein. Vor der einen hielt man eine kurze, motivierende Ansprache über die soziale Bedeutung des Anliegens, dann schickte man sie los. Die zweite und dritte Gruppe bekamen die gleiche Rede zu hören, allerdings bot man ihnen zusätzlich ein finanzielles Entgelt an, das sich nach dem gesammelten Endbetrag richtete – und zwar ein Prozent beziehungsweise zehn Prozent. Den Schülern wurde mitgeteilt, dass die Entgelte nicht die gemeinnützigen Spendengelder verringern, sondern aus einer separaten Quelle stammen würden. Es überrascht nicht, dass Schüler, denen man zehn Prozent an- 65 geboten hatte, mehr Spendengelder einsammelten als diejenigen, die ein Prozent bekommen sollten. Aber die ehrenamtlich sammelnden Schüler bekamen noch mehr zusammen als jede der besoldeten Gruppen, darunter auch diejenige mit der hohen Provision. Gneezy und Rustichini (2000b; S. 802–807) zogen daraus folgenden Schluss: Wenn man finanzielle Anreize nutzen möchte, um Menschen zu motivieren, dann sollte man »entweder genügend oder gar nichts bezahlen«. Obwohl es zutreffen mag, dass man gegen genügende Bezahlung bekommt, was man verlangt, ist hier auch eine Lektion darüber enthalten, auf welche Weise Geld moralische Normen verdrängt. Warum gerieten die beiden entlohnten Gruppen gegenüber den 66 ehrenamtlichen Spendensammlern ins Hintertreffen? Sehr wahrscheinlich lag es daran, dass die Tätigkeit einen anderen Charakter annahm, als man die Schüler für ihre guten Taten bezahlte. Von Tür zu Tür zu gehen und Geld für wohltätige Einrichtungen zu sammeln diente nun weniger der Erfüllung einer Bürgerpflicht als vielmehr dem Zweck, eine Provision einzustreichen. Der finanzielle Anreiz verwandelte eine vom Gemeinsinn getragene Tätigkeit in einen be55 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
67
Why worry about the tendency of markets to crowd out moral and civic ideals? For two reasons—one fiscal, the other ethical. From an economic point of view, social norms such as civic virtue and public spiritedness are great bargains. They motivate socially useful behavior that would otherwise cost a lot to buy. If you had to rely on financial incentives to get communities to accept nuclear waste, you would have to pay a lot more than if you could rely instead on the residents’ sense of civic obligation. If you had to hire school children to collect charitable donations, you would have to pay more than a 10 percent commission to get the same result that public spirit produces for free.
68
But to view moral and civic norms simply as cost-effective ways of motivating people ignores the intrinsic value of the norms. Relying solely on cash payments to induce residents to accept a nuclear waste facility is not only expensive; it is corrupting. The reason it is corrupting is that it bypasses persuasion and the kind of consent that arises from deliberating about the risks the facility poses and the larger community’s need for it. In a similar way, paying students to collect charitable contributions on donation day not only adds to the cost of fundraising; it dishonors their public spirit and disfigures their moral and civic education.
The Commercialization Effect 69
Many economists now recognize that markets change the character of the goods and social practices they govern. In recent years, one of the first to emphasize the corrosive effect of markets on nonmarket norms was Fred Hirsch, a British economist who served as a senior 56 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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zahlten Job. Wie bei den Schweizer Dorfbewohnern, so auch bei den israelischen Schülern: Ihr moralisches und bürgerschaftliches Engagement wurde durch die Einführung von Marktnormen verdrängt – oder zumindest geschwächt. Warum sollte es uns besorgt machen, wenn Märkte tendenziell 67 moralische Wertvorstellungen und bürgerschaftliche Ideale verdrängen? Aus zwei Gründen – der eine ist fiskalischer, der andere ethischer Natur. Ökonomisch betrachtet sind soziale Normen ebenso wie staatsbürgerliche Tugenden und zivilgesellschaftlicher Gemeinsinn ein gutes Geschäft. Sie motivieren zu sozial nützlichem Verhalten, das ansonsten nur für eine Menge Geld zu kaufen wäre. Würde man Kommunen mit finanziellen Anreizen dazu bringen wollen, Nuklearabfälle zu akzeptieren, müsste man sehr viel mehr bezahlen, als wenn man sich darauf verlassen kann, dass die Einwohner dies als ihre Bürgerpflicht betrachten. Müsste man Schulkinder anheuern, damit sie Spenden für wohltätige Zwecke sammeln, hätte man eine Provision von über zehn Prozent zu zahlen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen, das der Gemeinsinn kostenlos erbringt. Doch wenn man moralische Werte und bürgerschaftliche Ideale 68 lediglich als kostengünstige Möglichkeiten ansieht, Menschen zu motivieren, so übersieht man den inneren Wert dieser Normen. Setzt man allein auf Geldzahlungen, um Einwohner dazu zu bringen, ein Lager für Nuklearabfälle zu akzeptieren, ist das nicht nur teuer, es wirkt auch korrumpierend. Der Grund dafür liegt darin, dass man die Überzeugungsarbeit scheut und damit auf jene Art der Zustimmung verzichtet, die allein daraus erwächst, dass man den Bedarf des Gemeinwesens für nukleare Lagerstätten sowie die mit solchen Lagerstätten verbundenen Risiken umfassend erörtert. Ähnlich verhält es sich, wenn man Schüler dafür bezahlt, am Spendentag Geld zu sammeln; das erhöht nicht nur die Kosten der Spendensammlung, es missachtet auch den Gemeinsinn der Schüler und wirkt sich auf ihre moralische und staatsbürgerliche Erziehung nachteilig aus.
IX. Der Kommerzialisierungseffekt Viele Ökonomen erkennen mittlerweile an, dass Märkte den Charak- 69 ter von Gütern sowie von gesellschaftlichen Praktiken verändern. In den vergangenen Jahren war Fred Hirsch (ein britischer Volkswirt und Berater des Internationalen Währungsfonds) einer der ersten, 57 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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advisor to the International Monetary Fund. In a book published the same year that Gary Becker’s (1976) influential work An Economic Approach to Human Behavior appeared, Hirsch (1976) challenged the assumption that the value of a good is the same whether provided through the market or in some other way. Hirsch (pp. 87, 93, 92) argued that mainstream economics had overlooked what he called the »commercialization effect.« By this he meant »the effect on the characteristics of a product or activity of supplying it exclusively or predominantly on commercial terms rather than on some other basis —such as informal exchange, mutual obligation, altruism or love, or feelings of service or obligation.« The »common assumption, almost always hidden, is that the commercialization process does not affect the product.« Hirsch observed that this mistaken assumption loomed large in the rising »economic imperialism« of the time, including attempts, by Becker and others, to extend economic analysis into neighboring realms of social and political life. The empirical cases we’ve just considered support Hirsch’s (1976) insight—that the introduction of market incentives and mechanisms can change people’s attitudes and crowd out nonmarket values.
70
A growing body of work in social psychology offers a possible explanation for this commercialization effect. These studies highlight the difference between intrinsic motivations (such as moral conviction or interest in the task at hand) and external ones (such as money or other tangible rewards). When people are engaged in an activity they consider intrinsically worthwhile, offering them money may weaken their motivation by depreciating or »crowding out« their intrinsic interest or commitment. (For an overview and analysis of 128 studies on the effects of extrinsic rewards on intrinsic motivations, see Deci, Koestner, and Ryan 1999).
71
Standard economic theory assumes that all motivations, whatever their character or source, are additive. But this misses the corrosive effect of money. The »crowding out« phenomenon has far-reach58 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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der die zersetzende Wirkung von Märkten auf nicht-wirtschaftliche Normen hervorgehoben hat. In einem Buch, das im Jahre 1976 gleichzeitig mit Gary Beckers einflussreichem Werk Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens erschien (Becker 1976), stellte Hirsch (1976) die Annahme in Frage, der Wert eines Gutes sei immer gleich, unabhängig davon, ob er durch den Markt oder auf andere Weise zustande komme. Hirsch (S. 87, 93 und 92) argumentierte, die Hauptrichtung der Ökonomik hätte etwas übersehen, das er ›Kommerzialisierungseffekt‹ nannte. Darunter verstand er »die Wirkung auf die Merkmale eines Produkts, wenn seine Bereitstellung ausschließlich oder vorwiegend unter kommerziellen Bedingungen erfolgt und nicht auf einer anderen Basis beruht – etwa auf informellem Austausch, wechselseitiger Verpflichtung, Altruismus oder Liebe, Dienstbereitschaft oder Pflichterfüllung«. Die »übliche, fast immer unausgesprochene Annahme lautet, dass der Kommerzialisierungsvorgang sich nicht auf das Produkt auswirkt«. Hirsch bemerkte, dass diese falsche Annahme beim Aufkommen des »ökonomischen Imperialismus« der damaligen Zeit immer mehr um sich gegriffen habe – darunter auch bei den Bemühungen Beckers und anderer, die ökonomische Analyse auf benachbarte Gebiete des sozialen und politischen Lebens auszudehnen. Die gerade betrachteten empirischen Beispiele stützen Hirschs (1976) Einsicht, dass die Einführung von Marktanreizen und Marktmechanismen die Einstellung der Menschen verändern und nicht-wirtschaftliche Werte verdrängen kann. Eine wachsende Anzahl sozialpsychologischer Arbeiten liefert 70 eine mögliche Erklärung für diesen Kommerzialisierungseffekt. Die Studien beleuchten den Unterschied zwischen intrinsischer Motivation und extrinsischer Motivation, also zwischen moralischer Überzeugung oder einem genuinen Interesse an der zu erledigenden Aufgabe einerseits und Geld oder anderen materiellen Belohnungen andererseits. Wenn Menschen sich intensiv mit etwas beschäftigen, das sie als in sich wertvoll ansehen, dürfte ein Geldangebot ihre Motivation schwächen, indem es ihr intrinsisches Interesse oder Engagement entwertet oder verdrängt. (Für einen Überblick und eine Auswertung von 128 Studien zu den Auswirkungen extrinsischer Entlohnungen auf die intrinsische Motivation vgl. Deci, Koestner und Ryan 1999). Die ökonomische Standardtheorie unterstellt, dass alle Motiva- 71 tionen additiv sind, dass sie sich nicht wechselseitig beeinträchtigen, und zwar unabhängig davon, wie sie beschaffen und entstanden sind. 59 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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ing implications for economics. It calls into question the use of market mechanisms and market reasoning in many aspects of social life, including the use of financial incentives to motivate performance in education, health care, the workplace, voluntary associations, civic life, and other settings in which intrinsic motivations or moral commitments matter (Janssen and Mendys -Kamphorst 2004).
Blood for Sale 72
Perhaps the best-known illustration of markets crowding out nonmarket norms is a classic study of blood donation by the British sociologist Richard Titmuss. In his book The Gift Relationship, Titmuss (1971) compared the system of blood collection used in the United Kingdom, where all blood for transfusion was given by unpaid, voluntary donors, and the system in the United States, where some blood was donated and some bought by commercial blood banks from people, typically the poor, who were willing to sell their blood as a way of making money. Titmuss presented a wealth of data showing that, in economic and practical terms alone, the UK blood collection system worked better than the American one. Despite the supposed efficiency of markets, he argued, the American system led to chronic shortages, wasted blood, higher costs, and a greater risk of blood contaminated by hepatitis (pp. 231–32).
73
But Titmuss (1971) also leveled an ethical argument against the buying and selling of blood. He argued that turning blood into a market commodity eroded people’s sense of obligation to donate blood, diminished the spirit of altruism, and undermined the »gift relationship« as an active feature of social life. »Commercialization and profit in blood has been driving out the voluntary donor,« he wrote. Once people begin to view blood as a commodity that is routinely bought and sold, Titmuss (pp. 223–24, 177) suggested, they are less likely to feel a moral responsibility to donate it. 60 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
Aber das übersieht den zersetzenden Effekt des Geldes. Das Verdrängungsphänomen hat daher weitreichende Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaften. Es stellt die Eignung des Marktmechanismus und des Marktdenkens für viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Frage, also beispielsweise die Verwendung finanzieller Anreize zur Leistungsmotivation in der Erziehung, im Gesundheitswesen, in der Arbeitswelt, in Freiwilligenorganisationen, im Gemeindeleben und in anderen Bereichen, in denen es auf intrinsische Motivation oder moralisches Engagement ankommt (Janssen und MendysKamphorst 2004).
(a) Blut zu verkaufen Die vielleicht bekannteste Darstellung, wie Märkte nicht-wirtschaft- 72 liche Normen verdrängen, ist die klassische Studie über das Blutspendewesen vom britischen Soziologen Richard Titmuss. In seinem Buch The Gift Relationship (Titmuss 1971) verglich er das Blutspendesystem in Großbritannien, wo das gesamte für Transfusionen verwendete Blut von unbezahlten freiwilligen Spendern stammte, mit dem System in den USA, wo das Blut teils gespendet und teils von kommerziellen Blutbanken solchen (meist bedürftigen) Menschen abgekauft wurde, die bereit waren, den Verkauf ihres Blutes als Einkommensquelle zu nutzen. Titmuss präsentierte eine Fülle von Daten, die zeigten, dass das britische Blutspendesystem schon allein in wirtschaftlicher und praktischer Hinsicht besser funktionierte als das amerikanische. Trotz der vermeintlichen Markteffizienz führte Titmuss zufolge das amerikanische System zu chronischen Engpässen, zur Verschwendung von Blut, zu höheren Kosten und zu einer größeren Gefährdung durch hepatitisverseuchte Blutkonserven (S. 231– 232). Aber Titmuss (1971) erhob auch einen gleichrangigen ethischen 73 Einwand gegen den Kauf und Verkauf von Blut. Er machte geltend, die Umwidmung von Blut in eine Handelsware lasse bei den Menschen das Gefühl schwinden, Blut spenden sei Pflicht; es schwäche außerdem den Sinn für selbstloses Handeln und unterminiere die Praxis des Schenkens als Aktivposten des Gemeinschaftslebens. »Kommerzialisierung und Profite mit Blut haben den freiwilligen Spender zur Minderheit werden lassen«, schrieb er. Nach seiner Auffassung fühlen sich immer weniger Menschen zur Spende moralisch 61 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Market Reasoning as Moral Reasoning
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Titmuss’s book prompted much debate. Among his critics was Kenneth Arrow (1972). In taking issue with Titmuss, Arrow invoked two assumptions about human nature and moral life that economists often assert but rarely defend (for an insightful contemporary reply to Arrow, see Singer 1973). The first is the assumption I have examined above, that commercializing an activity doesn’t change it. According to this assumption, if a previously untraded good is made tradable, those who wish to buy and sell it can do so, thereby increasing their utility, while those who regard the good as priceless are free to desist from trafficking in it. This line of reasoning leans heavily on the notion that creating a market in blood does not erode the value or meaning of donating blood out of altruism. Titmuss attaches independent moral value to the generosity that motivates the gift. But Arrow (1972, p. 351) doubts that such generosity could be diminished or impaired by the introduction of a market: »Why should it be that the creation of a market for blood would decrease the altruism embodied in giving blood?«
75
The answer is that commercializing blood changes the meaning of donating it. In a world where blood is routinely bought and sold, giving it away for free may come to seem a kind of folly. Moreover, those who would donate a pint of blood at their local Red Cross might wonder if doing so is an act of generosity or an unfair labor practice that deprives a needy person of gainful employment selling his blood. If you want to support a blood drive, would it be better to donate blood yourself, or to donate $ 50 that can be used to buy an extra pint of blood from a homeless person who needs the income?
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The second assumption that figures in Arrow’s (1972) critique is that ethical behavior is a commodity that needs to be economized. 62 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
verpflichtet, sobald sie anfangen, Blut als routinemäßig gehandelte Ware zu sehen (Titmuss 1971; S. 223–224; S. 177). Titmuss’ Buch löste eine breite Diskussion aus. Zu seinen Kriti- 74 kern gehörte auch Kenneth Arrow (1972). Für seine Einwände gegen Titmuss berief sich Arrow auf zwei Annahmen über die menschliche Natur und über die gelebte Moral – zwei Annahmen, welche Ökonomen zwar häufig zugrunde legen, aber selten begründen (zu einer einsichtsvollen und zeitnahen Antwort auf Arrow vgl. Singer 1973). Die erste Annahme, die ich schon oben untersucht habe, lautet: Wenn man eine Praxis kommerzialisiert, verändert sie sich dadurch nicht. Diese Annahme unterstellt Folgendes: Sofern ein bislang nicht-handelbares Gut handelbar gemacht wird, können diejenigen, die es kaufen und verkaufen möchten, das gerne tun und so ihren Nutzen mehren, während die übrigen, die das Gut als unverrechenbar ansehen, über die Freiheit verfügen, sich von diesem anrüchigen Handel fernzuhalten. Eine solche Argumentation stützt sich stark auf die Vorstellung, dass die Einrichtung eines Marktes für Blut den Wert und die Bedeutung einer Blutspende aus altruistischen Motiven nicht untergräbt. Titmuss misst der Freigebigkeit, auf der die Spende beruht, einen eigenständigen moralischen Wert bei. Arrow (1972, S. 351) dagegen bezweifelt grundsätzlich, dass diese Freigebigkeit durch die Einführung eines Marktes gemindert oder beschädigt werden könnte: »Wie sollte die Schaffung eines Marktes für Blut den in einer Blutspende verkörperten Altruismus schwächen können?« Die Antwort hierauf lautet: Wird Blut zur Handelsware, ver- 75 ändert das die Bedeutung des Spendens. In einer Welt, in der routinemäßig mit Blut gehandelt wird, mag es allmählich dahin kommen, dass die Blutspende als kostenfreies Geschenk wie eine Dummheit erscheint. Mehr noch: Wer in seinem Wohnviertel beim Roten Kreuz einen halben Liter Blut spenden wollte, könnte darüber ins Grübeln kommen, ob dies ein Akt der Freigebigkeit ist oder nicht doch eher ein Akt unfairen Wettbewerbs im Sinne einer Lohnkonkurrenz, die einen Bedürftigen der Gelegenheit beraubt, sein Blut zu einem attraktiven Preis verkaufen zu können. Und wenn man eine Blutspendeaktion unterstützen möchte, wäre es dann besser, das Blut selbst zu spenden, oder sollte man lieber 50 Dollar geben für den Kauf eines zusätzlichen halben Liter Bluts von einem Obdachlosen, der ein solches Zusatzeinkommen gut gebrauchen kann? Die zweite Annahme, auf der Arrows (1972) Kritik basiert, lau- 76 tet, dass moralisches Verhalten ein Gut ist, mit dem wir sparsam um63 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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The idea is this: We should not rely too heavily on altruism, generosity, solidarity, or civic duty, because these moral sentiments are scarce resources that are depleted with use. Markets, which rely on self-interest, spare us from using up the limited supply of virtue. So, for example, if we rely on the generosity of the public for the supply of blood, there will be less generosity left over for other social or charitable purposes. »Like many economists,« Arrow (1972, pp. 354–55) writes, »I do not want to rely too heavily on substituting ethics for self-interest. I think it best on the whole that the requirement of ethical behavior be confined to those circumstances where the price system breaks down … We do not wish to use up recklessly the scarce resources of altruistic motivation.«
77
It is easy to see how this economistic conception of virtue, if true, provides yet further grounds for extending markets into every sphere of life. If the supply of altruism, generosity, and civic virtue is fixed, as if by nature, like the supply of fossil fuels, then we should try to conserve it. The more we use, the less we have. On this assumption, relying more on markets and less on morals is a way of preserving a scarce resource.
Economizing Love 78
The classic statement of this idea was offered by Sir Dennis H. Robertson (1954), a Cambridge University economist and former student of John Maynard Keynes, in an address at the bicentennial of Columbia University. The title of Robertson’s lecture was a question: »What does the economist economize?« He sought to show that, despite catering to what he called (p. 148) »the aggressive and acquisitive instincts« of human beings, economists nonetheless serve a moral mission.
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Robertson (1954) claimed that by promoting policies that rely, whenever possible, on self-interest rather than altruism or moral considerations, the economist saves society from squandering its scarce 64 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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gehen sollten. Zugrunde liegt folgende Idee: Wir sollten uns nicht allzu sehr auf Altruismus, Großmut, Solidarität oder staatsbürgerliches Pflichtethos verlassen, denn diese moralischen Gefühle sind knappe Ressourcen, die man durch Inanspruchnahme erschöpft. Märkte, die sich auf das Eigeninteresse stützen, schonen folglich den begrenzten Vorrat an Tugendhaftigkeit. Wenn wir uns also beispielsweise bei der Versorgung mit Blutkonserven auf den allgemeinen Edelmut verließen, würde am Ende weniger Edelmut für andere soziale oder wohltätige Zwecke übrig bleiben. »Wie zahlreiche Ökonomen«, schreibt Arrow (1972; S. 354–355), »möchte ich mich nicht allzu sehr darauf verlassen, dass Eigeninteresse durch Moral ersetzt wird. Ich halte es insgesamt gesehen für das Beste, den Bedarf an moralischem Verhalten auf die Umstände zu beschränken, in denen das Preissystem versagt. … Wir möchten nicht, dass die knappe Ressource altruistischer Motivation bedenkenlos aufgebraucht wird.« Es ist leicht zu sehen, wie diese ökonomistische Vorstellung von 77 Tugendhaftigkeit, wenn sie denn zuträfe, der Tendenz das Wort redet, den Markt immer weiter auf alle Lebensbereiche auszudehnen. Wenn der Vorrat an Altruismus, Großmut und staatsbürgerlicher Tugendhaftigkeit ähnlich wie der Vorrat an fossilen Brennstoffen von Natur aus begrenzt ist, sollten wir sparsam mit ihm umgehen. Je mehr wir verbrauchen, desto weniger steht uns zur Verfügung. Dieser Annahme zufolge schonen wir eine knappe Ressource, indem wir uns mehr auf Märkte und weniger auf Moral verlassen.
(b) Liebe – sparsam zu verwenden Die klassische Formulierung dieses Gedankens lieferte Sir Dennis H. 78 Robertson, ein Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Cambridge und ehemaliger Student von John Maynard Keynes, in einer Rede zum 200. Gründungstag der Columbia Universität im Jahre 1954. Der Titel von Robertsons Vorlesung war eine Frage: »Was ökonomisiert der Ökonom?« Er wollte zeigen, dass die Wirtschaftswissenschaftler trotz ihrer Ausrichtung auf die, wie er sagte (1954; S. 148), »aggressiven und auf Erwerb ausgerichteten Instinkte« des Menschen dennoch einer moralischen Mission dienen. Robertson (1954) machte geltend, dass der Ökonom, indem er 79 sich für eine Politik einsetze, die, wann immer möglich, auf das Eigeninteresse statt auf Altruismus oder moralische Erwägungen setzt, 65 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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supply of virtue. »If we economists do [our] business well,« Robertson (p. 154) concluded, »we can, I believe, contribute mightily to the economizing … of that scarce resource Love,« the »most precious thing in the world.« 80
To those not steeped in economics, this way of thinking about the generous virtues is strange, even far-fetched. It ignores the possibility that our capacity for love and benevolence is not depleted with use but enlarged with practice. Think of a loving couple. If, over a lifetime, they asked little of one another, in hopes of hoarding their love, how well would they fare? Wouldn’t their love deepen rather than diminish the more they called upon it? Would they do better to treat one another in more calculating fashion, to conserve their love for the times they really needed it?
81
Similar questions can be asked about social solidarity and civic virtue. Should we try to conserve civic virtue by telling citizens to go shopping until their country really needs them? Or do civic virtue and public spirit atrophy with disuse? Many moralists have taken the second view. Aristotle (Nicomachean Ethics, Book II, chap. 1, pp. 1103a–1103b) taught that virtue is something we cultivate with practice: »We become just by doing just acts, temperate by doing temperate acts, brave by doing brave acts.«
82
Rousseau (1762 [1973] Book III, chap. 15, pp. 239–40) held a similar view. The more a country asks of its citizens, the greater their devotion to it. »In a well-ordered city every man flies to the assemblies.« Under a bad government, no one participates in public life »because no one is interested in what happens there« and »domestic cares are all-absorbing.« Civic virtue is built up, not spent down, by strenuous citizenship. Use it or lose it, Rousseau says, in effect. »As soon as public service ceases to be the chief business of the citizens, and they would rather serve with their money than with their person, the state is not far from its fall.«
66 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Marktdenken als Moraldenken
die Gesellschaft davor bewahre, eine knappe Ressource zu verschleudern. »Wenn wir Ökonomen [unsere] Arbeit ordentlich machen«, schloss Robertson (S. 154), »dann können wir, glaube ich, erheblich dazu beitragen, die knappe Ressource ›Liebe‹ – das kostbarste Gut auf der Welt – sparsam einzusetzen.« Wer sich mit Wirtschaftswissenschaften noch nicht näher be- 80 fasst hat, wird diese Art, über altruistische Tugenden nachzudenken, merkwürdig, ja sogar abwegig finden. Denn sie sieht über die Möglichkeit hinweg, dass unsere Fähigkeit, zu lieben und wohltätig zu sein, durch Inanspruchnahme nicht geschwächt, sondern durch Gewohnheit gestärkt wird. Nehmen wir ein verliebtes Paar. Wenn sich die beiden wechselseitig ein Leben lang nur wenig abverlangten, weil sie hoffen, ihre Liebe horten zu können – wie gut würden sie damit fahren? Wenn sie hingegen ihre Zuneigung wechselseitig in Anspruch nähmen, würde die Liebesbeziehung dadurch nicht eher gefestigt als gelockert? Wären sie wirklich in einer besseren Lage, wenn sie einander eher berechnend behandelten, um ihre Liebe für solche Zeiten aufzusparen, in denen sie sie dringend benötigen? Vergleichbare Fragen lassen sich auch im Hinblick auf gesell- 81 schaftliche Solidarität und bürgerliche Tugenden stellen. Wären wir gut beraten, den Gemeinsinn dadurch zu bewahren zu suchen, dass wir den Bürgern sagen, sie sollten sich so lange beim Shoppen vergnügen, bis ihr Land sie wirklich braucht? Oder ist es nicht eher so, dass Bürgertugend und Gemeinsinn verkümmern, wenn man sie nicht in Anspruch nimmt? Viele Moralphilosophen haben sich für die zweite Ansicht entschieden. Aristoteles (Nikomachische Ethik, Buch II, Kap. 1, 1103a–1103b) lehrte, dass Tugend durch Praxis kultiviert wird: »Gerecht werden wir durch gerechtes Handeln, besonnen durch besonnenes Handeln, tapfer durch tapferes Handeln.« Rousseau (1762 [1973]; Buch III, Kap. 15, S. 239–240) vertrat 82 eine ähnliche Auffassung. Seiner Ansicht nach identifizieren sich die Bürger eines Landes mit ihrem Staatswesen umso mehr, je stärker sie von diesem in Anspruch genommen werden. »In einem wohlgeordneten Gemeinwesen eilt jedermann zu den Versammlungen.« Unter einer schlechten Regierung dagegen nehme niemand am öffentlichen Leben teil, »denn keinen interessiert es, was dort geschieht« und am Ende »verdrängen die häuslichen Sorgen alles übrige«. Bürgertugend werde durch eifrige Teilnahme am öffentlichen Leben nicht ab-, sondern aufgebaut. Was rastet, das rostet, sagt Rousseau sinngemäß. »Sobald der Dienst am Gemeinwesen aufhört, die wichtigste Angele67 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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The notion that love and generosity are scarce resources that are depleted with use continues to exert a powerful hold on the moral imagination of economists, even if they don’t argue for it explicitly. It is not an official textbook principle, like the law of supply and demand. No one has proven it empirically. It is more like an adage, a piece of folk wisdom, to which many economists nonetheless subscribe.
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Almost half a century after Robertson’s lecture, Lawrence Summers, then the president of Harvard University, was invited to offer the Morning Prayers address in Harvard’s Memorial Church. He chose as his theme what »economics can contribute to thinking about moral questions.« Economics, Summers (2003) stated, »is too rarely appreciated for its moral as well as practical significance.« Summers observed that economists place »great emphasis on respect for individuals—and the needs, tastes, choices, and judgments they make for themselves.« He illustrated the moral implications of economic thinking by challenging students who had advocated a boycott of goods produced by sweatshop labor: »We all deplore the conditions in which so many on this planet work and the paltry compensation they receive. And yet there is surely some moral force to the concern that as long as the workers are voluntarily employed, they have chosen to work because they are working to their best alternative. Is narrowing an individual’s set of choices an act of respect, of charity, even of concern?«
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Summers (2003) concluded with a reply to those who criticize markets for relying on selfishness and greed: »We all have only so much altruism in us. Economists like me think of altruism as a valuable and rare good that needs conserving. Far better to conserve it by designing a system in which people’s wants will be satisfied by individuals being selfish, and saving that altruism for our families, our 68 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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genheit der Bürger zu sein, und sobald sie es vorziehen, lieber mit ihrer Geldbörse als mit ihrer Person zu dienen, ist der Staat nicht mehr weit von seinem Untergang entfernt.« Der Gedanke, Liebe und Großmut seien knappe Ressourcen, die 83 durch Inanspruchnahme erschöpft werden, hat die moralische Vorstellungskraft der Ökonomen immer noch stark im Griff, auch wenn sie selten ausdrücklich in diesem Sinn argumentieren. Er ist kein offizieller Lehrsatz wie das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Niemand hat ihn empirisch nachgewiesen. Er gleicht eher einem Sprichwort, einer populären Lebensweisheit, der viele Ökonomen unvermindert anhängen. Fast ein halbes Jahrhundert nach Robertsons Vorlesung bat man 84 den Ökonomen Lawrence Summers, damals Präsident der Harvard Universität, im Rahmen einer Morgenandacht in der Memorial Church die Predigt zu halten. Als Thema wählte er: »Was die Wirtschaftswissenschaft zum Nachdenken über moralische Fragen beitragen kann.« Die Ökonomik, so konstatierte Summers (2003), werde »zu selten in ihrer Bedeutsamkeit sowohl für moralische als auch für praktische Fragen wahrgenommen«. Seiner Ansicht nach legen Ökonomen »großen Wert auf Respekt gegenüber Individuen – gegenüber individuellen Bedürfnissen und Vorlieben sowie gegenüber jenen Auswahlentscheidungen und Bewertungen, die die Individuen selbst vornehmen«. Nachdem Studenten sich für einen Boykott von Waren eingesetzt hatten, die durch Arbeit in Ausbeutungsbetrieben produziert wurden, stellte er ihren Protest in Frage und erläuterte die moralischen Implikationen des ökonomischen Denkens wie folgt: »Wir alle beklagen die Bedingungen, unter denen so viele Menschen auf diesem Planeten arbeiten, sowie die armselige Entlohnung, die sie dafür erhalten. Und dennoch hat die Tatsache moralisches Gewicht, dass sich die Arbeiter freiwillig für die Arbeit entschieden haben; sie haben sich entschieden zu arbeiten, weil sie das als ihre beste Alternative ansehen. Wäre eine Einschränkung der individuellen Wahlmöglichkeiten wirklich ein Akt des Respekts, der Nächstenliebe oder wenigstens der Anteilnahme?« Summers beendete seine Predigt mit einer Antwort an jene 85 Menschen, die dem Markt deshalb kritisch gegenüberstehen, weil sie glauben, dass er auf Selbstsucht und Habgier gegründet ist: »Wir alle verfügen nur über ein gewisses Maß an Altruismus. Ökonomen wie ich halten Altruismus für ein wertvolles und knappes Gut, das geschont werden muss. Es ist bei weitem besser, es durch den Entwurf 69 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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friends, and the many social problems in this world that markets cannot solve.«
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Here was Robertson’s (1954) adage reasserted. This economistic view of virtue fuels the faith in markets and propels their reach into places they don’t belong. But the metaphor is questionable. Are altruism, generosity, solidarity, and civic spirit like commodities that are depleted with use? Or are they more like muscles that develop and grow stronger with exercise?
Market Reasoning as Moral Reasoning 87
To answer this question is to take sides in a long-standing debate in moral and political philosophy. We have now seen two ways in which economic reasoning rests on contestable normative assumptions. One is the assumption that subjecting a good to market exchange does not alter its meaning; the other is the claim that virtue is a commodity that is depleted with use.
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The extension of market thinking into almost every aspect of social life complicates the distinction between market reasoning and moral reasoning, between explaining the world and improving it. Where markets erode nonmarket norms, we need to ask whether this represents a loss worth caring about. Do the efficiency gains of tradable refugee quotas outweigh the degrading effect they may inflict on refugees? Are the economic benefits of commercialized walrus hunts worth the coarsened attitudes toward endangered species they may engender and promote? Should we worry if cash compensation for civic sacrifice turns patriotic sentiments to pecuniary ones?
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eines Systems zu schonen, in dem die Wünsche der Menschen von eigennützigen Individuen befriedigt werden, und den Altruismus für unsere Familien, unsere Freunde und die vielen sozialen Probleme dieser Welt aufzusparen, die Märkte nicht lösen können.« Damit wurde Robertsons Diktum nochmals bekräftigt. Diese 86 ökonomistische Sichtweise der Tugend heizt den Glauben an die Märkte an und trägt dazu bei, dass sie in Bereiche vordringen, in denen sie nichts zu suchen haben. Die hierfür gewählte Metapher ist jedoch höchst fragwürdig. Sind Altruismus, Großmut, Solidarität und bürgerlicher Gemeinsinn wirklich wie Rohstoffe, die sich durch Inanspruchnahme erschöpfen und verbrauchen? Oder sind sie nicht eher wie Muskeln, die sich durch Gebrauch entwickeln und kräftiger werden?
X. Marktdenken als Moraldenken Diese Frage zu beantworten heißt, in einer in Ethik und politischer 87 Philosophie seit langem währenden Debatte Partei zu ergreifen. Wir haben jetzt zwei Beispiele dafür kennengelernt, wie ökonomisches Denken auf anfechtbaren normativen Voraussetzungen beruht. Die eine besteht in der Annahme, dass es den Bedeutungsgehalt eines Gutes nicht verändert, wenn man es dem Markttausch unterwirft; die andere ist die Annahme, dass Tugendhaftigkeit eine Ressource ist, die sich durch Gebrauch erschöpft. Die Ausweitung des Marktdenkens auf fast jeden Aspekt des 88 sozialen Lebens erschwert die Unterscheidung zwischen Marktdenken und Moraldenken, zwischen der Erklärung der Welt und ihrer Verbesserung. Wo Märkte nicht-wirtschaftliche Normen zersetzen, müssen wir die Frage stellen, ob das einen Verlust bedeutet, um den man sich Sorgen machen sollte. Wiegen die Effizienzgewinne von handelbaren Flüchtlingsquoten tatsächlich schwerer als die entwürdigende Wirkung, die sie auf Flüchtlinge ausüben können? Sind die ökonomischen Vorteile kommerzialisierter Walrossjagden wertvoll genug, um die verrohte Einstellung gegenüber gefährdeten Tierarten aufzuwiegen, die solche Jagden hervorrufen und fördern? Sollten wir uns Sorgen machen, wenn die monetäre Entlohnung staatsbürgerlicher Dienste das Opfer patriotischer Pflichterfüllung in eine Sache des Geldes verwandelt?
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Questions such as these carry us beyond predicting whether a market mechanism will »work« in a narrow sense. They require that we make a moral assessment: What is the moral importance of the attitudes and norms that money may crowd out? Would their loss change the character of the activity in ways we would regret? If so, should we avoid introducing financial incentives into the activity, even though they might offer certain benefits?
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To decide when to use cash incentives, or tradable permits, or other market mechanisms, economists must go beyond identifying the norms that inform social practices; they must also evaluate those norms. The more economic thinking extends its reach into social and civic life, the more market reasoning becomes inseparable from moral reasoning. If economics is to help us decide where markets serve the public good and where they don’t belong, it should relinquish the claim to be a value-neutral science and reconnect with its origins in moral and political philosophy.
91 I am grateful to the editors of this journal, David Autor, Timothy
Taylor, and Ulrike Malmendier, for their challenging comments and criticisms. Timothy Besley’s recently published essay (Besley 2013) on my book What Money Can’t Buy helped me sharpen the arguments of this paper, as did a valuable conversation with Peter Ganong. I would also like to thank Robert Frank and the participants in New York University’s Paduano seminar, and my colleagues in Harvard Law School’s summer faculty workshop, for instructive and penetrating discussions of an earlier version of this paper.
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Fragen wie diese führen uns weit über technische Probleme hi- 89 naus wie etwa die Prognose, ob ein Marktmechanismus in einem eng verstandenen Sinne »funktionieren« wird. Solche Fragen machen es unausweichlich, dass wir eine moralische Bewertung vornehmen: Was ist der moralische Stellenwert der Einstellungen und Normen, die durch Geld verdrängt werden könnten? Würde ihr Verlust den Charakter der gesellschaftlichen Praxis auf eine Weise verändern, die wir bereuen würden? Falls das so ist: Sollten wir es vermeiden, finanzielle Anreize in diese Praxis einzubauen, auch wenn dies vielleicht gewisse Vorteile bieten würde? Um zu entscheiden, ob man finanzielle Anreize, handelbare Li- 90 zenzen oder andere Marktmechanismen nutzen sollte, müssen Ökonomen mehr tun als die Normen nur zu identifizieren, die die gesellschaftliche Praxis durchdringen; sie müssen diese Normen auch bewerten. Je mehr das ökonomische Denken seinen Einflussbereich auf das soziale und öffentliche Leben ausdehnt, desto weniger kann man das Marktdenken vom moralischen Denken trennen. Damit die Ökonomik uns Bürgern helfen kann zu entscheiden, wo Märkte dem öffentlichen Wohl dienen und wo sie nicht hingehören, sollte sie die Behauptung preisgeben, eine wertneutrale Wissenschaft zu sein, und wieder Anschluss finden an ihre Ursprünge in Ethik und Politischer Philosophie. Ich danke den Herausgebern des »Journal of Economic Perspectives«, 91 David Autor, Timothy Taylor und Ulrike Malmendier, für ihre anspruchsvollen Kommentare und kritischen Anmerkungen. Timothy Besleys kürzlich erschienener Aufsatz (Besley 2013) über mein Buch Was man für Geld nicht kaufen kann half mir, die Argumente in diesem Paper zu schärfen, ebenso die wertvolle Diskussion mit Peter Ganong. Für instruktive und eingehende Diskussionen einer früheren Fassung dieses Aufsatzes möchte ich auch Robert Frank und den Teilnehmern am Paduano Seminar der Universität New York danken sowie meinen Kollegen beim Sommer-Fakultätsworkshop an der Harvard Law School.
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Marktdenken als Moraldenken Robbins, Lionel (1932): An Essay on the Nature and Significance of Economic Science. London. Robertson, Dennis H. (1954): What Does the Economist Economize? Speech delivered at Columbia University, Mai 1954. (Wiederabgedruckt 1956 in Dennis H. Robertson: Economic Commentaries, London, S. 147–54). Roth, Alvin E. (2007): Repugnance as a Constraint on Markets. In: Journal of Economic Perspectives 21, Heft 3, S. 37–58. Rousseau, Jean-Jacques (1762 [1973]): The Social Contract. Übersetzt von G. D. H. Cole. London. Sandel, Michael J. (2012a): What Money Can’t Buy. The Moral Limits of Markets. New York. Sandel, Michael J. (2012b): Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Übersetzt von Helmut Reuter. Berlin. Singer, Peter (1973): Altruism and Commerce: A Defense of Titmuss against Arrow. Philosophy and Public Affairs 2(3): 312–20. Schuck, Peter H. (1994): Share the Refugees. In: New York Times, 13. August. http://www.nytimes.com/1994/08/13/opinion/share-the-refugees.html. Schuck, Peter H. (1997): Refugee Burden-Sharing: A Modest Proposal. In: Yale Journal of International Law 22, S. 243–297. Smith, Jada F. (2013): A Line at the Supreme Court, and Some are Paid to Be There. New York Times Blog, 24. März. http://thecaucus.blogs.nytimes.com/ 2013/03/24/days-early-a-line-forms-at-the-supreme-court/. Summers, Lawrence H. (2003): Economics and Moral Questions. Morning Prayers address, Memorial Church, 15. September. Wiederabgedruckt in Harvard Magazine, November–December 2003. Auch erhältlich unter http://www. harvard.edu/president/speeches/summers_2003/prayer.php. Titmuss, Richard Morris (1971): The Gift Relationship. From Human Blood to Social Policy. New York. Waldfogel, Joel (1993): The Deadweight Loss of Christmas. In: American Economic Review 83, Heft 5, S. 1328–1336. Waldfogel, Joel (2009): Scroogenomics: Why You Shouldn’t Buy Presents for the Holidays. Princeton. Xinhua News Agency (2008): Beijing to Fine Celebrities Who Break ›One Child‹ Rule. 20. Januar. http://english.sina.com/china/1/2008/0120/142656.html.
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II. Hinweise zur Textbearbeitung
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Ingo Pies
Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik: Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Michael J. Sandel Mit seinem Buch »What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets« hat Michael Sandel 2012 einen internationalen Bestseller veröffentlicht, der noch im gleichen Jahr ins Deutsche übersetzt wurde. 1 Dieses Buch spielt in dem vorliegenden Aufsatz aus dem Jahr 2013 eine große Rolle: Der Aufsatz bedient sich des Buches als einer Fundgrube, indem er zahlreiche Beispiele für eine moralische Kritik des Marktes anführt, die im Buch näher erörtert werden. Dennoch ist der Aufsatz nicht einfach eine Kurzfassung des Buches, wie man leicht meinen könnte, wenn man es bei einer oberflächlichen Lektüre belässt. In seinem Buch vertritt Sandel die Auffassung, dass Märkte in immer mehr Lebensbereiche vordringen, in denen sie eigentlich nichts zu suchen haben, weil sie dort mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. In seinem Aufsatz hingegen vertritt Sandel eine ganz andere These. Sie lautet, dass sich die zeitgenössische Ökonomik als wertfreie Wissenschaft (miss-)versteht, dass sie sich deshalb um die Diskussion solcher Fragen tendenziell herumdrückt, dass sie damit ihre gesellschaftliche Aufgabe verfehlt und dass sie sich ihrer historischen Wurzeln in Ethik und Politischer Philosophie wieder bewusst werden muss, um ihrer normativen Aufgabe gerecht zu werden. Diese – spannend geschriebene – Kritik an der Ökonomik ist so geartet, dass sie nicht nur Wirtschaftswissenschaftlern etwas zu sagen hat, sondern weit über die Grenzen des Fachs und sogar über die Grenzen der Wissenschaft hinaus von allgemeinem Interesse ist. Gerade in gesellschaftspolitischer Hinsicht ist Sandels Auseinandersetzung mit der Ökonomik von außerordentlich großer Relevanz. Schließlich wirft er ihr im Aufsatz vor, genau jener Ausdehnung des Marktes das Wort zu reden, der er in seinem Buch mit moralischen Einwänden entgegentritt. 1
Vgl. Sandel (2012a) und (2012b).
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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
Durch die Verschränkung der Thesen des Buches mit der These des Aufsatzes ist Sandels Argumentation allerdings ausgesprochen anspruchsvoll, weil sie gleichsam auf zwei Ebenen operiert, die man inhaltlich sorgsam trennen muss. Auseinanderzuhalten sind (a) die Kritik der Ökonomie und (b) die Kritik der Ökonomik, also (a) die moralischen Einwände gegen ein immer weiteres Vordringen des Marktes und (b) die Aufforderung an die Wirtschaftswissenschaften, sich mit solchen moralischen Einwänden argumentativ auseinanderzusetzen. Insofern verlangt der Text nach einer gründlichen Lektüre und Bearbeitung, wenn man ihn angemessen kritisieren, d. h. würdigen will. 2 Sandels Aufsatz weist trotz seiner griffigen Formulierungen und trotz zahlreicher Wiederholungen, die dem Leser immer wieder den roten Faden vor Augen führen sollen, als Text einen besonderen Schwierigkeitsgrad auf. Deshalb ist es nicht leicht, ihn zu einer reinlich und reichlich sprudelnden Quelle für eigenes Lernen zu machen. Ob dies gelingt – oder eben misslingt –, hängt vor allem davon ab, wie sorgfältig der Aufsatz rezipiert wird. Und da stehen die Chancen wohl leider nicht gut. In der modernen Medienwelt der Zeitungen, des Internet und der auf Schlagzeilen verkürzten Twitter-Meldungen werden wir alle mit Texten konfrontiert, die für den momentanen Konsum geeignet sein sollen. Es handelt sich gewissermaßen nicht um Gebrauchstexte, sondern um Verbrauchstexte, bei denen es sich nicht lohnt, sie ein zweites oder gar drittes Mal zu lesen und bei denen deshalb eine sorgfältige Lektüre von vornherein vergebliche Liebesmühe wäre. Zudem begegnet man zahlreichen Lehrbüchern in Schule und Hochschule, die so schlecht geschrieben sind, dass man zögern möchte, hier überhaupt von »Literatur« zu sprechen. Andererseits ist natürlich nicht in Abrede zu stellen, dass es auch durchaus schön(geschrieben)e LiteraIn Sandels Buch spielen beide Ebenen eine Rolle, wobei der Schwerpunkt hier eindeutig auf einer Kritik der Ökonomie liegt (Ebene 1). Sandels Aufsatz unterscheidet sich hiervon in zweierlei Hinsicht: Zum einen verschiebt sich der inhaltliche Schwerpunkt zu einer Kritik der Ökonomik (Ebene 2). Zum anderen kommt hinzu, dass die Ebene 1 im Aufsatz einen anderen Stellenwert erfährt. Während Sandel im Buch bemüht ist, die Ausdehnung der Ökonomie substanziell zu kritisieren, beschränkt er sich im Aufsatz darauf, die moralische Kritik an (der Ausdehnung von) Märkten kurz zu skizzieren, um darauf verweisen, dass so argumentiert werden kann und dass schon die bloße Existenz solcher Argumente – unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit und Überzeugungskraft – die Ökonomik eigentlich zwingen müsste, ihr Verständnis als wertfreie Wissenschaft aufzugeben.
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tur gibt. Doch spielt die Belletristik gleichsam in einer anderen Liga, weil es sich bei ihr ja gerade nicht um Sach-Literatur handelt. Die Lesegewohnheiten unseres Alltags sind also an einer Textqualität geschult, die üblicherweise gar nicht erst die Erwartung aufkommen lässt, dass es sich lohnen könnte, bei der Texterfassung mehr Mühe zu verwenden, als für eine flüchtige Durchsicht erforderlich ist. Und das völlig zu Recht: Mehr intellektueller Aufwand macht sich dort einfach nicht bezahlt. Wer aber mit solchen Lesegewohnheiten an akademische Texte herantritt, die gleichzeitig auf mehreren Ebenen argumentieren, wird Schwierigkeiten haben, die in ihnen enthaltenen Lektionen sich selbst zu erarbeiten. Diese Texte sind oft sehr viel länger als unsere Alltags»Literatur«, und so erscheinen sie dem ungeübten Auge oft nur als langweilige Bleiwüsten aneinandergereihter Buchstaben. Das macht den Zugang zum Verständnis schwer. Sinn erschließt sich so nicht. Interesse kann folglich nicht aufkommen, ein Funke nicht überspringen. Wer so liest, bereitet selbst den faszinierendsten Wissenschaftsautoren intellektuell das Grab: Die Texte bleiben tote Materie. Deshalb lautet die entscheidende Frage: Wie kann man (potentiell lehrreiche) akademische Texte zum Leben erwecken? Wie kann man sie für sich zugänglich machen, wie sie erschließen und so aufbereiten, dass sie zu einem sprechen und dass man aus ihnen lernen kann – übrigens vollends unabhängig davon, ob man in einzelnen Punkten zum Zuspruch oder zum Widerspruch tendiert? Auf diese Frage sind natürlich mehrere Antworten möglich. Im Folgenden will ich eine spezielle Antwort skizzieren. Sie beschreibt eine Methode, die vier Schritte umfasst. 3 • Der erste Schritt besteht darin, sich an der Maxime zu orientieren, dass der kürzeste Sinnabschnitt in einem klassischen Text nicht der Satz, sondern der Absatz ist: Jeder Absatz bekommt eine eigene Nummer, und dann schreibt man – inklusive Überschrift und Zwischenüberschriften – für jede Absatznummer einen möglichst kurzen prägnanten Satz, der den Inhalt des Absatzes in eigenen Worten zusammenfasst. Ich habe diese Methode seit 1990 in zahlreichen Lektüre-Kursen und Seminaren (auch in Form von »co-teaching«) allmählich entwickelt und dabei von meinen akademischen Lehrern und Kollegen, aber auch von den Studierenden immer wieder neue Anregungen aufgenommen. Stellvertretend für viele Inspirationsquellen möchte ich an dieser Stelle Karl Homann und Tatjana Schönwälder-Kuntze für gemeinsame Lehr-Erfahrungen danken, bei denen ich viel gelernt habe.
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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
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Der zweite Schritt besteht darin, hierauf aufbauend – gleichsam aus der Vogelperspektive – einen Blick auf den Text und seine Argumentationsstruktur zu werfen. Manchmal bietet es sich an, eine kleine Skizze anzufertigen, die den Argumentationsgang nachzeichnet. In jedem Fall aber gilt es, den roten Faden zu entdecken. Hierfür sind die folgenden Leitfragen hilfreich: � Welche Problemstellung liegt der Argumentation zugrunde? (Dies ist die wichtigste Frage überhaupt! Sie ist gleichsam der Türöffner zum Textverständnis.) � Wie wird die Problemstellung bearbeitet? Welche Herangehensweise wurde gewählt? � Welche Thesen werden entwickelt? � Welche Problemlösung wird vorgeschlagen? Der dritte Schritt besteht darin, eine interne Kritik vorzunehmen. Hierzu wird überprüft, ob der Text seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird. Dafür sind die folgenden Leitfragen hilfreich: � Dienen die Thesen dazu, das vom Text selbst aufgeworfene Problem zu lösen? � Ist die Argumentation in sich konsistent? � Bauen die einzelnen Argumente logisch aufeinander auf, oder enthält der Text argumentative Sprünge? � Gibt es blinde Flecke? Werden wichtige Aspekte der Problemstellung ausgeblendet? � Sofern es Widersprüche im Text gibt (oder zu geben scheint): Was will der Autor wirklich sagen? Ist ihm der Widerspruch nicht aufgefallen? Warum nicht? Oder gibt es Anlass für Missverständnisse – z. B. in Form sprachlicher Formulierungen, deren Sinn sich im Laufe der Zeit geändert hat –, so dass der heutige Leser Positionen in den Text hineinliest, die der Autor gar nicht vertreten hat? Vor solchen Missverständnissen muss man insbesondere dort auf der Hut sein, wo man es mit alten Texten oder mit Übersetzungen aus anderen Sprach- und Kulturräumen zu tun hat. � Sofern Faktenaussagen getroffen werden: Halten sie einer kritischen Prüfung Stand? � Sofern sich der Text auf Referenzpositionen stützt: Werden sie korrekt wiedergegeben? � Welche (Art von) Literatur wird zitiert, welche nicht? � Wo liegen die Stärken, wo die Schwächen der Argumentation? 85 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Der vierte Schritt besteht darin, eine externe Kritik vorzunehmen. Hier geht es vor allem darum, den Text durch aktuelle thematische Bezüge neu zu kontextualisieren, um seine Leistungsfähigkeit für jene Probleme einzuschätzen, die uns als Leser interessieren. Die zentrale Leitfrage lautet: Was können wir aus einem in der Vergangenheit (und in einem anderen Kulturkreis) geschriebenen Text für unsere Zukunft lernen? Diese Frage lässt sich auf mindestens zwei Ebenen beantworten: � Inhaltliche Ebene: Welche Informationen bzw. Argumente sind noch heute aktuell und aufschlussreich? Welche erweisen sich als zeitbedingt und überholt bzw. aktualisierungsbedürftig? Sind bestimmte Aussagen schlicht veraltet und damit falsch (geworden), oder sind sie aus heutiger Sicht lediglich differenzierungsbedürftig? � Methodische Ebene: In vielen Fällen lässt sich weder die Problemstellung des Textes noch seine Problemlösung im Maßstab 1:1 auf unsere Gegenwart und Zukunft übertragen. Oft ist es aber dennoch möglich, aus einem akademischen Text zu lernen, indem man fragt, ob die Art der Problembehandlung Stärken bzw. Schwächen aufweist, die uns bei der Lösung heutiger Probleme als Orientierungshilfen dienen können. In vielen Fällen ist es hilfreich (und lehrreich), bei der kritischen Rezeption eines Textes nicht nur auf die einzelnen Argumente, sondern auch auf die Art des Argumentierens zu achten: auf die Gedankenführung und sogar auf die Architektur des argumentativ errichteten Gedankengebäudes. � Beide Ebenen hängen systematisch zusammen. Deshalb muss man sie im Zusammenhang – und auf diesen Zusammenhang hin – reflektieren. Also: Welche Fragen werden gestellt, und wie werden sie gestellt? Welche Antworten werden gegeben, und wie werden sie begründet? Ich werde im Folgenden versuchen, zumindest annäherungsweise den Weg zu skizzieren, den man mit den vier Schritten dieser methodischen Handreichung zurücklegen kann.
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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
Schritt I Ich beginne mit einer grau unterlegten Zusammenfassung der Textaussagen nach Absätzen und füge zum besseren Überblick die erste Überschrift ein: 0. Einleitung 1. Manche Güter – wie Freundschaft – kann man für Geld nicht kaufen. 2. Aber selbst bei Gütern, die man mit Geld kaufen kann – z. B. Nieren –, stellt sich die Frage: Soll das erlaubt sein? 3. Die These des Buches von Sandel (2012a) bzw. (2012b) lautet: Die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche – von der Freizeit über Kultur und Bildung bis hin zum Umweltschutz, zum öffentlichen Leben und zum politischen Wahlkampf – muss Sorge bereiten, weil sie moralische Wertorientierungen erodieren lässt. 4. Dieser Artikel behandelt ein verwandtes Thema: Er kritisiert die ökonomische Wissenschaftsdisziplin, weil sie keine Antwort auf die grundlegende Frage gibt, welche Güter über den Markt angeboten bzw. nachgefragt werden sollen und welche besser nicht. 5. Sandel kritisiert, dass sich die Ökonomik als wertfreie Wissenschaft (miss-)versteht. Seine Hauptthese lautet: Die Ökonomik muss sich ihrer moralphilosophischen Wurzeln besinnen, wenn sie zur Lösung des grundlegenden Problems beitragen will, die marktliche von der nicht-marktlichen Sphäre in angemessener Weise zu trennen. I. Moralische Verstrickungen 6. Je mehr Märkte auf die nicht-wirtschaftlichen Aspekte des Lebens ausgreifen, desto unhaltbarer wird das Selbstverständnis der Ökonomik als einer wertfreien Wissenschaft, zumal dieses Selbst-(Miss-)Verständnis der seit Adam Smith klassischen Auffassung diametral widerspricht, derzufolge die Ökonomik ein Zweig der Ethik und der Politischen Philosophie ist. 7. Hier geht es nicht um die in der ökonomischen Literatur diskutierten Gründe für Marktversagen, also etwa Marktmacht, externe Effekte, öffentliche Güter und Informationsasymmetrien. Sondern es geht darum, die Vorstellung von Arbeitsteilung zu kritisieren, derzufolge sich Ökonomen auf rein positive Fragen 87 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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spezialisieren und alle normativen Fragen – z. B. Werturteile über Gleichheit und Fairness – an Philosophen outsourcen. Zwei Gründe sprechen gegen diese Form von Arbeitsteilung: Der erste Grund liegt darin, dass die Effizienz-Aussagen der Ökonomik – und insbesondere die darauf basierenden Politik-Empfehlungen – implizit mit einem utilitaristischen Wohlfahrtsmaß arbeiten, das Verteilungsfragen ausblendet. Fragen gerechter Verteilung systematisch (wieder) einzublenden, ist eine genuin ökonomische Aufgabe, so dass die Ökonomik gar nicht umhin kann, sich normativen Fragen zuzuwenden. Neben diesem Verteilungsproblem liegt der zweite Grund im Kommodifizierungsproblem: Wo muss normativ eine Grenze gezogen werden, die die Sphäre des Marktes von der des NichtMarktes trennt, damit nicht auch solche Güter zum Gegenstand von Angebot und Nachfrage werden, deren moralischer Wert dadurch erodieren würde? Märkte steigern die Effizienz durch wechselseitige Vorteilsgewährung zwischen den Tauschpartnern. Zusätzlich zu negativen externen Effekten (= Drittschädigungen) können auch rein moralische Einwände gegen den Markt erhoben werden. Erster moralischer Einwand (= Fairness-Argument): Extreme Ungleichheit kann die Freiwilligkeit (und damit die Legitimität) eines Tauschakts in Frage stellen. Beispielsweise kann jemand so arm sein, dass er sich zum Verkauf einer Niere genötigt sieht. Zweiter moralischer Einwand (= Korruptions-Argument): Märkte können nicht-wirtschaftliche Werte verdrängen oder zerstören. Am Beispiel: Wären Kinder käuflich, würde ihre Würde verletzt und das Ideal elterlicher Liebe unterminiert. Selbst wenn Märkte die Effizienz erhöhen, können sie aufgrund ihrer Korruptionswirkung immer noch gesellschaftlich unerwünscht sein. Deshalb setzt ökonomisches Denken moralisches Denken voraus. Unterschiedliche Bewertungsverfahren für Güter sind in unterschiedlicher Weise angemessen bzw. moralisch rechtfertigbar. Dies ist keine Frage rein subjektiver Präferenzen, sondern einer vernünftigen Begründungsargumentation zugänglich. Ökonomen ist es nicht entgangen, dass es moralische Einwände gibt, die gegen eine Monetarisierung sämtlicher Sozialbeziehungen ins Feld geführt werden. Aber anstatt solche Einwände ernst zu nehmen, argumentieren Ökonomen beispielsweise, dass es
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effizienzfördernd wäre, zu Weihnachten nicht Geschenke, sondern Geldbeträge auszutauschen. Manchmal reagieren Ökonomen auch so, dass sie moralische Einwände nicht weiter hinterfragen, aber doch so ernst nehmen, dass sie Umgehungsstrategien ersinnen, etwa wenn sie Anreizarrangements vorschlagen, die darauf hinauslaufen, dass Nieren nicht gegen Geld verkauft, sondern per Naturaltausch gehandelt werden können. Aber letztlich wird auch hier der normativen Frage ausgewichen, ob die moralischen Einwände berechtigt oder unberechtigt sind. Zu der Frage, ob ein Markt für Nieren erlaubt sein soll, kann man normativ auf sehr unterschiedliche Weise Stellung beziehen: Man kann das ablehnen (a) mit Verweis auf die Unantastbarkeit des menschlichen Körpers oder (b) mit Verweis auf die damit verbundene Verdinglichung der Person; oder man kann das befürworten (c) mit Verweis auf die Freiheit, von seinem Körper nach eigenem Gutdünken Gebrauch zu machen. Ist (a) richtig, muss jede Form von Markt unterbunden werden, unabhängig davon, wieviel Menschenleben andernfalls gerettet werden könnten. Ist (b) richtig, lässt sich zwar nicht ein Geldtausch, wohl aber ein Naturaltausch von Nieren moralisch rechtfertigen. Ist (c) richtig, sollte es moralisch erlaubt werden, Nieren auf einem Markt gegen Geld zu handeln. Neben Effizienzminderung durch Marktversagen und neben Fairness-Argumenten, die die Verteilungsgerechtigkeit des Marktes in Frage stellen, gibt es mit dem Korruptionsargument noch eine dritte Kategorie von Einwänden gegen den Markt. Ökonomen nehmen dazu bislang nur implizit Stellung. Sie müssen sich aber explizit mit diesen normativen Fragen auseinandersetzen, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, die das Für und Wider einer Einrichtung von Märkten an konkreten Beispielen erörtern.
II. Das Geschäft mit dem Schlangestehen 20. Es gibt Unternehmen, die sich von Lobbyisten dafür bezahlen lassen, ihnen durch Schlangestehen einen knappen und deshalb begehrten Platz in den Hearings des US-Kongresses zu reservieren.
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21. Der Stundensatz beträgt $ 50. Manchmal muss man tagelang in der Schlange stehen. Die Kosten der Platzreservierung können sich dann auf bis zu $ 6.000 belaufen. 22. Unter dem Aspekt der Effizienz lässt sich gegen diese Praxis nichts einwenden: Es handelt sich um einen Tausch zum wechselseitigen Vorteil. 23. Aber trotzdem gibt es Widerspruch. Eine US-Senatorin beispielsweise empfand diese Praxis als anstößig und versuchte, sie per Verbot zu unterbinden. 24. Moralische Einwände gegen die Praxis des bezahlten Schlangestehens können sich auf Fairness-Überlegungen gründen. Andererseits kann man aber auch moralisch einwenden, dass diese Praxis die Bedeutung des Kongresses als politische Instanz missachtet und herabwürdigt. 25. Man kann sich dies leicht vor Augen führen, wenn man sich vorstellt, der Kongress würde die Plätze beim Hearing zum Preis von $ 1.000 verkaufen. Viele Menschen würden dem moralisch widersprechen: zum einen, weil es den armen Bürgern gegenüber unfair wäre, da sie faktisch ausgeschlossen würden; zum anderen, weil es eine Form von Korruption wäre, den Bürgern für ihr Recht auf politische Teilnahme eine Gebühr zu berechnen. 26. Man muss den Begriff von Korruption weit fassen. Hier geht es nicht nur um Bestechung und illegale Zahlungen, sondern um die Abwertung eines Gutes oder die Herabwürdigung einer gesellschaftlichen Praxis. 27. Korruption heißt, dass der Sinn und Zweck einer Institution in Frage gestellt wird. Dies ist beispielsweise dort der Fall, wo die öffentliche Verhandlung im Kongress zur Quelle privater Gewinnerzielung gemacht wird, anstatt Ausdruck eines für alle Bürger gleichen Rechts zu sein. 28. Neben dem (bezahlten) Schlangestehen oder dem Verkauf der Plätze gibt es noch andere Allokationsverfahren. Beispielsweise könnte man den Zugang zu Hearings auch auslosen (und dann verbieten, dass die zugelosten Plätze getauscht oder verkauft werden). III. Wie Märkte ihre Spuren hinterlassen 29. Bevor man entscheidet, welcher Allokationsmechanismus eingesetzt werden soll, muss man sich Klarheit darüber verschaffen, 90 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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um was für eine Art von Gut es sich handelt und auf welche Weise es bewertet werden soll. Hierfür sind moralische Wertungen erforderlich, denen Ökonomen gerne ausweichen. 30. Wenn Erwachsene auf freiwilliger Basis einem Tauschakt (z. B. von Nieren) zustimmen, fragen Ökonomen nicht, ob dieses Bewertungsverfahren für das Gut angemessen ist. Diese Frage zu stellen würde bedeuten, die Ökonomik in Auseinandersetzungen über Tugend und Gemeinwohl zu verwickeln und mithin die Grenzen einer wertfreien Wissenschaft zu überschreiten. Genau dies aber ist nötig. 31. Die Ökonomik umgeht diese Notwendigkeit, indem sie – zumeist implizit – annimmt, dass die Vermarktung eines Gutes seinen Charakter nicht verändert. Für materielle Güter mag dies zutreffen, nicht aber für menschliche Beziehungen und gesellschaftliche Praktiken. IV. Flüchtlingskontingente und Abholung aus dem Kindergarten 32. Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, eine internationale Behörde lege Flüchtlingskontingente fest, teile diese einzelnen Staaten zu, und die Staaten könnten dann damit Handel treiben, also ihre nationale Quote durch Ankauf oder Verkauf verändern. Auf diesem Weg könnten reiche Länder arme Länder dafür bezahlen, ihnen Flüchtlinge abzunehmen. 33. Ein solches Marktarrangement mag effizient sein. Trotzdem ist es moralisch anstößig. Denn es verändert unsere Sichtweise auf Flüchtlinge sowie darauf, wie wir sie behandeln sollten. 34. Dies Beispiel zeigt: Der Markt ist kein wertneutraler Mechanismus. Vielmehr verändert er die Art und Weise, wie wir Güter bewerten. 35. Es ist falsch, wenn Ökonomen von der Wertneutralität des Marktes ausgehen: Märkte verändern moralische Normen. Insbesondere können sie nicht-wirtschaftliche Handlungsmotive verdrängen oder gar zerstören. 36. Am Beispiel: Eine Studie über Kindergärten in Israel zeigt, dass eine Strafzahlung für Eltern, die ihre Kinder verspätet abholen, die Anzahl der Verspätungen nicht gesenkt, sondern erhöht hat. 37. Das lässt sich damit erklären, dass die Einführung monetärer Anreize eine Rückwirkung auf die Normen hatte: Die Strafzahlung wurde als Nutzungsgebühr interpretiert. 91 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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V. Geldbußen versus Gebühren 38. Eine Geldbuße signalisiert moralische Missbilligung, während eine Nutzungsgebühr lediglich ein Preis ist, mit dem sich keine moralische Wertung verbindet. Wenn beispielsweise die Vermüllung der Landschaft mit einer Strafzahlung belegt wird, dann nicht nur deshalb, um die Kosten des Aufräumens zu decken, sondern um die Einstellungen der Menschen zu verändern. 39. Wer sein Auto unberechtigterweise auf einem Behindertenparkplatz abstellt, mag zwar bereit sein, ein Bußgeld in Kauf zu nehmen. Dennoch lässt er es an Respekt fehlen – gegenüber den Behinderten sowie gegenüber den Vorkehrungen der Gemeinde. 40. In der gesellschaftlichen Praxis kann der Unterschied zwischen Geldbuße und Gebühr verschwimmen. Beispiel China: Insbesondere reiche Eltern, die gegen die Ein-Kind-Politik verstoßen, interpretieren die Strafzahlung oft als Preis für ein zusätzliches Kind. 41. Um den Strafaspekt wieder in den Vordergrund zu rücken, wurden die Geldbußen für reiche Chinesen angehoben; prominente Chinesen wurden öffentlich angeprangert und aus dem Fernsehen verbannt; Unternehmer erhielten keine staatlichen Aufträge mehr. 42. Die chinesische Regierung will das Stigma aufrechterhalten. Sie will verhindern, dass aus einer Geldbuße eine Gebühr wird. Andernfalls würde der Staat sich auf das heikle Geschäft einlassen, ein Recht auf zusätzliche Kinder an diejenigen zu verkaufen, die willens und in der Lage sind, den Preis dafür zu zahlen. VI. Handelbare Fortpflanzungslizenzen 43. Der Ökonom Kenneth Boulding hat in den 1960er Jahren als Lösung für das Problem einer Übervölkerung ein System handelbarer Lizenzen für das Recht auf Kinder vorgeschlagen. Jede Frau, die mehr Kinder bekommen möchte, als es ihrer Rechtszuteilung entspricht, könnte dann jenen Frauen Lizenzen abkaufen, die bereit sind, auf Kinder zu verzichten. 44. Im Vergleich zu fixen Quoten, die nicht handelbar sind – wie bei der chinesischen Ein-Kind-Politik –, ist der staatliche Zwang geringer. Handelbare Lizenzen erhöhen die Effizienz. Zudem erschließen sich für die Armen neue Einkommensquellen. 45. Gesetzt, es würde allgemein als legitim erachtet, das individuelle Fortpflanzungsverhalten durch eine rigide Geburtenkontrolle 92 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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politisch zu regulieren: Was wäre moralisch weniger bedenklich? Ein System fixer Quoten oder ein Markt handelbarer Lizenzen? Aus ökonomischer Sicht ist das Marktarrangement eindeutig vorzuziehen, weil hier auf freiwilliger Grundlage wechselseitig vorteilhafte Tauschakte ermöglicht werden. Dennoch hat der Markt etwas Verstörendes. Gegen ihn sprechen das Fairness- und das Korruptions-Argument. (a) Kinder werden zum Luxusgut, das sich nur Reiche leisten können. (b) Der Markt verändert die Normen für elterliches Verhalten. Ein Markt löst die Tendenz aus, Kindern gegenüber eine Geschäftsmentalität an den Tag zu legen und die Norm elterlicher Kindesliebe zu unterminieren. Will man entscheiden, ob ein Gut vermarktet werden soll, dann reichen Effizienz- und Fairness-Überlegungen nicht aus. Zusätzlich ist zu prüfen, ob der Markt nicht-wirtschaftliche Normen verdrängt.
VII. Bezahlte Walrossjagden 50. In Kanada ist die Walrossjagd seit 1928 generell verboten. Eine Ausnahme gibt es nur für die Inuit – einheimische Subsistenzjäger, deren Lebensweise sich seit 4.500 Jahren um die Walrossjagd dreht. 51. In den 1990er Jahren stimmte die kanadische Regierung dem Anliegen der Inuit zu, die ihnen zugewiesene Abschussquote an Großwildjäger zu verkaufen. 52. Heute kommen Trophäenjäger aus aller Welt nach Kanada, um Walrosse zu schießen. Der Marktpreis liegt bei ca. $ 6.000. 53. Diese Form der Jagd ist schwer nachzuvollziehen: Walrosse abzuschießen stellt keine besondere Herausforderung dar. Es handelt sich weniger um Sport als vielmehr um Tötungstourimus. Noch nicht einmal die Trophäe darf man mit nach Hause nehmen. 54. Bei der Walrossjagd geht es wohl vornehmlich darum, ein Exemplar aller Tierarten zu erlegen, die auf den Listen von Jagdvereinen stehen – zum Beispiel die Afrikanischen »Big Five« (Leopard, Löwe, Elefant, Nashorn und Büffel) oder den Arktischen »Grand Slam« (Rentier, Moschusochse, Eisbär und Walross). 55. Aus ökonomischer Sicht spricht viel für diesen Markt: Die Inuit erhalten eine zusätzliche Einkommensquelle, die Trophäenjäger
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befriedigen ihr Bedürfnis, und dabei bleibt die Gesamtzahl der getöteten Tiere aufgrund der Quote unverändert. 56. Dennoch gibt es zwei moralische Einwände: (a) Zum einen könnte man argumentieren, dass das Bedürfnis der Trophäenjäger, ohne Mühe und Gefahr ein wehrloses Säugetier zu töten, den Jagdgedanken pervertiert und deshalb nicht erfüllt, sondern geächtet werden sollte. (b) Zum anderen könnte man argumentieren, dass der Sinn des den Inuit gewährten Privilegs zunichte gemacht wird, wenn sie mit der ihnen zugewiesenen Quote nicht ihren traditionellen Lebensstil pflegen, sondern stattdessen den Geschäftszweig des Jagdtourismus eröffnen. 57. Natürlich sind die moralischen Werturteile, die diesen Einwänden zugrunde liegen, ihrerseits offen für Einwände. Man kann entgegnen, dass man das Tötungsinteresse der Trophäenjäger für legitim hält oder dass man es den Inuit selbst überlassen sollte, darüber zu befinden, wie sie mit ihren Quoten umgehen wollen. Der entscheidende Punkt jedoch ist: Die politische Regelung, die es den Inuit erlaubt oder verbietet, ihre Abschussquoten zu verkaufen, macht es unausweichlich, diese konfligierenden moralischen Argumente offen zu debattieren und letztlich zwischen ihnen zu entscheiden. VIII. Die Verdrängung nicht-wirtschaftlicher Normen 58. Unabhängig von Effizienzüberlegungen kann die Einrichtung von Märkten fragwürdig sein, und zwar nicht nur wegen des Fairness-Arguments, sondern vor allem auch wegen des Korruptions-Arguments. 59. Wenn Märkte in Lebensbereiche vordringen, die traditionell von nicht-wirtschaftlichen Normen reguliert waren, kann es zur Verdrängung dieser Normen kommen, wie zahlreiche Studien belegen. 60. Aufgrund dieses Verdrängungseffekts sind Märkte nicht wertneutral. 61. Für den Verdrängungseffekt gibt es in der Literatur zahlreiche Belege. (a) Lagerstätten für nuklearen Abfall 62. In einer Schweizer Stadt fiel die Zustimmung zu einer nuklearen Lagerstätte von 51 % auf 25 %, als man den Anwohnern eine monetäre Kompensationszahlung anbot. 94 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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63. Das lässt sich wie folgt erklären: Für viele Bürger war die Zustimmung zunächst eine Frage des Gemeinwohls. Sie waren bereit, ein für ihre Gemeinwesen notwendiges Opfer zu bringen. Aber sie waren nicht bereit, ihre Sicherheit und die ihrer Familien gegen eine Geldzahlung aufs Spiel zu setzen. (b) Spendentag 64. In einem Experiment wurden drei Gruppen israelischer Schüler beauftragt, für einen guten Zweck Spenden einzusammeln. Die erste Gruppe wurde nur moralisch motiviert, die zweite Gruppe bekam eine Bonuszahlung in Höhe von 1 %, die dritte in Höhe von 10 %. 65. Zwei Ergebnisse sind festzuhalten: (a) Die Gruppe mit hohem Bonus sammelte mehr Spenden ein als die Gruppe mit niedrigem Bonus. (b) Aber letztere sammelte weniger Spenden ein als die Gruppe ohne Bonus. 66. Wahrscheinlich lässt sich das damit erklären, dass die Einführung der Bonuszahlung den Charakter der Aktivität veränderte: Aus einer Bürgerpflicht wurde eine Geschäftshandlung. 67. Es gibt zwei Gründe, sich um diesen Verdrängungseffekt Sorgen zu machen: (a) Wenn man anfängt, ehrenamtliches Engagement zu entlohnen, gehen fiskalische Einsparungen verloren. 68. (b) Der intrinsische Wert gesellschaftlicher Normen wird missachtet. Es ist eine Form von Korruption, wenn man Leuten ihre Zustimmung abkauft, anstatt sie im Diskurs zu überzeugen. IX. Der Kommerzialisierungseffekt 69. Bereits in den 1970er Jahren – also zu Zeiten eines ökonomischen Imperialismus à la Gary S. Becker – hat der Ökonom Fred Hirsch mit dem Begriff »Kommerzialisierungseffekt« darauf aufmerksam gemacht, dass die Einführung von Marktmechanismen und monetären Anreizen die Einstellung der Menschen verändern und nicht-wirtschaftliche Werte verdrängen kann. 70. Sozialpsychologische Arbeiten verweisen auf eine mögliche Erklärung: Eine vorhandene intrinsische Motivation wird geschwächt, sobald extrinsische Anreize in Form einer Geldzahlung angeboten werden. 71. Die Standardökonomik geht davon aus, dass sich Handlungsmotive addieren. Aber das ist falsch. Motive können verdrängt werden. Solche Verdrängungseffekte sind wichtig, wenn man 95 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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überlegt, finanzielle Anreize zur Leistungsmotivation einzuführen – etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Freiwilligenorganisationen und in anderen Bereichen, in denen es auf intrinsische Motivation oder moralisches Engagement ankommt. (a) Blut zu verkaufen 72. Die wohl bekannteste Studie, die belegt, dass Märkte nicht-wirtschaftliche Handlungsmotive verdrängen können, stammt von Richard Titmuss. Er hat Anfang der 1970er Jahre gezeigt, dass ein nationales Blutspendesystem besser funktioniert, wenn man auf monetäre Anreize verzichtet und stattdessen ganz auf moralisches Engagement setzt. 73. Titmuss vertrat die Auffassung, dass die Menschen ihre Einstellung ändern: Sobald Blut als Ware betrachtet wird, verflüchtigt sich das Verantwortungs- und Pflichtgefühl, mit dem zuvor kostenlos gespendet wurde. 74. Ökonomen haben auf Titmuss mit zwei Argumenten reagiert. (a) Wenn ursprünglich nicht-handelbare Güter handelbar werden, ändert das ihren Charakter nicht. 75. Dieses Argument ist falsch. Es ignoriert den Verdrängungseffekt. 76. Das zweite Argument der Ökonomen lautete wie folgt: (b) Moralisch motiviertes Verhalten ist ein knappes Gut, mit dem möglichst sparsam umgegangen werden sollte. 77. Das zweite Argument befürwortet eine Marktausdehnung: Wenn Großmut und Tugend knappe Güter sind, sollte man sie als knappe Ressourcen schonen, indem man wo immer möglich auf Märkte setzt. (b) Liebe – sparsam zu verwenden 78. Ein Klassiker dieser Auffassung ist Dennis H. Robertson. Er vertrat Mitte der 1950er Jahre die These, dass Ökonomen einem moralischen Anliegen dienen. 79. Sein Argument: Indem Ökonomen Anreizarrangements empfehlen, die auf Eigeninteresse setzen anstatt auf Altruismus und moralische Motivation, helfen sie der Gesellschaft, mit knappen Tugendressourcen schonend umzugehen. 80. Für Nicht-Ökonomen ist ein solches Argument abwegig: Die Fähigkeit zu Liebe und Großmut wird nicht schwächer, sondern stärker, sobald man sie in Anspruch nimmt. Man denke nur an 96 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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ein Liebespaar: Wie würde es ihm ergehen, wenn beide Seiten ihre Liebe für einen zukünftigen Notfall aufsparten, anstatt sie im Alltag zu leben? Ähnliches gilt für Solidarität und Tugend. Bereits Rousseau sah das ähnlich. Bürgertugend wird nicht abgebaut, sondern aufgebaut, wenn man sich ehrenamtlich für das Gemeinwesen engagiert. Aber Ökonomen sind immer noch stark dem Gedanken verhaftet, dass Liebe und Großmut knappe Ressourcen sind, die man nur sparsam einsetzen sollte. Ein Beispiel bietet der Ökonom Lawrence Summers. Er wendet sich gegen Aufrufe, Produkte zu boykottieren, die in Sweatshops hergestellt wurden. Sein Argument: Die Armen arbeiten dort freiwillig. Wenn man ihren Handlungsraum nun durch Boykott einschränkt, zeuge dies weder von Respekt noch von Nächstenliebe oder Anteilnahme. Ferner vertritt Summers folgende Auffassung: Wo immer möglich seien Märkte einzusetzen, die das Eigeninteresse in Dienst nehmen, um den Altruismus für die Familie, den Freundeskreis und all jene sozialen Problemen zu reservieren, die man mit Märkten nicht lösen kann. Dies ist eine aktuelle Version der klassischen Auffassung von Robertson. Und sie propagiert eine Marktausdehnung auch in jene Bereiche hinein, wo Märkte nichts zu suchen haben. Aber sind Altruismus, Großmut, Solidarität und Bürgersinn wirklich knappe Ressourcen, die sich durch Inanspruchnahme aufbrauchen? Oder sind sie nicht vielmehr wie ein Muskel, der stärker wird, wenn man ihn nutzt?
X. Marktdenken als Moraldenken 87. Die Ökonomik basiert auf zwei Annahmen, die höchst fragwürdig sind: (a) dass die Vermarkt(lich)ung eines Gutes seinen sozialen Sinn nicht ändert, und (b) dass Tugend eine Ressource ist, die man durch Inanspruchnahme aufbraucht. 88. Wo Märkte nicht-wirtschaftliche Normen zersetzen, müssen wir die Frage stellen, ob das einen Verlust bedeutet, um den man sich Sorgen machen sollte. Deshalb lässt sich das Marktdenken vom Moraldenken gar nicht mehr trennen.
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89. Gerade als Ökonom muss man explizit moralische Fragen stellen: Welchen Wert haben die Einstellungen und Normen, die durch Märkte verdrängt werden? 90. Wenn die Ökonomik als Wissenschaftsdisziplin eine Orientierung geben will, wo Märkte das Gemeinwohl fördern können, dann kann sie sich nicht länger als wertfrei verstehen, sondern muss an ihre Wurzeln in der Ethik und der Politischen Philosophie wiederanknüpfen.
Schritt II Auch wenn ich kritisch bzw. selbstkritisch feststellen muss, dass es mir angesichts der Materialfülle vieler Beispiele nicht recht gelungen ist, die wesentlichen Gedanken der Absätze in wirklich kurzen Sätzen zusammenzufassen, so wird es durch die dennoch erreichte Verdichtung möglich, eine makroskopische Perspektive einzunehmen und gleichsam aus der Vogelschau ein Gesamtbild zu entwerfen, das die Argumentationsstruktur des Textes ins Blickfeld rückt und den roten Faden sichtbar werden lässt. Ich orientiere mich zunächst an der formalen Gliederung des Textes und schreibe die Überschriften, die der Autor selbst gewählt hat, zusammen mit der von mir eingeführten ersten Überschrift einfach hintereinander auf: 0. Einleitung (1–5) I. Moralische Verstrickungen (6–19) II. Das Geschäft mit dem Schlangestehen (20–28) III. Wie Märkte ihre Spuren hinterlassen (29–31) IV. Flüchtlingskontingente und Abholung aus dem Kindergarten (32–37) V. Geldbußen versus Gebühren (38–42) VI. Handelbare Fortpflanzungslizenzen (43–49) VII. Bezahlte Walrossjagden (50–57) VIII. Die Verdrängung nicht-wirtschaftlicher Normen (58–61) (a) Lagerstätten für nuklearen Abfall (62–63) (b) Spendentag (64–68) IX. Der Kommerzialisierungseffekt (69–71) (a) Blut zu verkaufen (72–77) (b) Liebe – sparsam zu verwenden (78–86) X. Marktdenken als Moraldenken (87–90) 98 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Geht man nun die Inhalte durch, so fällt sofort auf, dass die Abschnitte II. bis VIII. eine Sonderstellung einnehmen. Deshalb sind sie in meiner Auflistung eingerückt: In ihnen wird eine Kaskade von Beispielen diskutiert, mit denen Sandel immer wieder von neuem zu illustrieren versucht, dass der Markt unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden kann. • Sandel zufolge sind Ökonomen mit dem ersten Gesichtspunkt bestens vertraut. Es handelt sich um den Aspekt der Effizienz bzw. eines Mangels an Effizienz. Ineffizienzen werden typischerweise durch Tatbestände des Marktversagens ausgelöst, also etwa durch Marktmacht, externe Effekte, unvollständige Eigentumsrechte, öffentliche Güter oder Informationsasymmetrien. • Sandel zufolge ist Ökonomen der zweite Gesichtspunkt ebenfalls wohlbekannt, auch wenn sie tendenziell versuchen, ihn aus ihren Betrachtungen auszuklammern. Es handelt sich um den Gesichtspunkt der Gleichheit oder Fairness. Hier ist systematisch die Frage zu stellen, inwiefern es gerecht bzw. ungerecht ist, dass sich Reiche von einem Gut mehr leisten können als Arme, sobald dieses Gut auf einem Markt käuflich erworben werden kann. Letztlich verweist diese Frage auf die Notwendigkeit, über die (Um-)Verteilung der Einkommen und Vermögen gesellschaftlich zu diskutieren und zu entscheiden. • Sandel stellt jedoch einen anderen, dritten Gesichtspunkt ins Zentrum seiner Überlegungen zur Kritik der Ökonomik. Es handelt sich um das von ihm so genannte »Korruptions-Argument« (MS 12, 26). Hiermit bezeichnet er die Gefahr, dass Märkte zur Verdrängung und Erosion von moralischen Wertorientierungen beitragen können. Ihm geht es hier also nicht um die Bestechung von Akteuren, sondern um die »Korrumpierung« normativer Standards: Sandels Sorge gilt der Entfremdung, Entwürdigung, Entehrung, Entwertung, der Verdinglichung, Profanierung und Vulgarisierung, die menschliche Beziehungen erfahren können, sofern sie Marktprinzipien unterworfen werden. Anhand zahlreicher Beispiele versucht Sandel, den Lesern immer wieder von neuem vor Augen zu führen, dass selbst dann, wenn Märkte effizient sind und wenn man das Fairness-Argument nicht für durchschlagend hält, das Korruptionsargument zumindest ernsthaft erwogen werden muss. Gemessen an der Kohärenz dieser Gedankenkette, fällt Abschnitt IX. aus der Reihe. Zwar werden auch hier wiederum Beispiele 99 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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diskutiert. Doch richtet sich die Stoßrichtung von Sandels Kritik nun weniger gegen die Ökonomie als vielmehr gegen die Ökonomik, also weniger gegen den Markt als vielmehr gegen die fachwissenschaftliche Literatur zur Analyse von Märkten. Dies ist ein wichtiger Ebenenwechsel. Er ist erforderlich, um von den illustrierenden Buch-Beispielen wieder zur eigentlichen Aufsatz-These zu gelangen. An dieser Übergangsstelle ist von den Lesern besondere Aufmerksamkeit gefordert: Obwohl die lange Kaskade der Buch-Beispiele diesen Eindruck hervorrufen könnte, geht es Sandel im Aufsatz erklärtermaßen (MS 3!) nicht darum, seine Buch-These zu vertreten, dass der von ihm beklagten Ausdehnung des Marktes aus moralischen Gründen Grenzen zu ziehen sind. Hierfür müsste er argumentieren, dass das Korruptions-Argument in der Tat stichhaltig ist. Für seine Aufsatz-These hingegen kommt Sandel damit aus, eine sehr viel leichtere Argumentationslast zu schultern. Hier lautet seine Überlegung: Selbst wenn das Korruptionsargument im konkreten Fall nicht stichhaltig sein sollte, so muss es doch kritisch geprüft werden, und das geht nur, wenn man sich auf die normative Frage der Moralerosion explizit einlässt, d. h. die Selbstbeschränkung der Ökonomik als einer wertfreien Wissenschaft sprengt. In Abschnitt IX. versucht Sandel, zwei an die Ökonomik als Wissenschaftsdisziplin gerichtete Vorwürfe zu belegen. Der erste Vorwurf lautet, dass namhafte Ökonomen das Korruptions-Argument ignoriert bzw. geleugnet haben. Hierfür steht paradigmatisch die Reaktion von Kenneth Arrow auf Richard Titmuss (MS 74). Der zweite Vorwurf lautet, dass Ökonomen eine falsche Tugendvorstellung hegen, die sie dazu verleitet, bedenkenlos die Ausdehnung von Märkten zu propagieren (MS 77 und 86). Hierfür steht paradigmatisch die Auffassung von Dennis Robertson, Kenneth Arrow und Lawrence Summers, dass Liebe, Großmut und Altruismus knappe Ressourcen sind, mit denen man möglichst sparsam umgehen sollte (MS 76–85). Der Schluss-Abschnitt X. resümiert die Schlussfolgerung, die Sandel als Aufsatz-These formuliert: Die Ökonomik muss ihr Selbstverständnis ändern. Sie kann sich nicht länger als wertfreie Wissenschaft gerieren, sondern muss sich darauf einlassen, normative Fragen zu beantworten, d. h. explizit moralische Bewertungen – genauer: moralische Bewertungen explizit – vorzunehmen. Vor diesem Hintergrund würde ich den roten Faden des Aufsatzes, seine Argumentationsstruktur, überblicksartig wie folgt kennzeichnen (siehe Abbildung 1). 100 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik 0. Einleitung (SM 1–5): Buch-These versus Aufsatz-These 1. Problemstellung (SM 6–19): Argumente entwickeln gegen Ökonomik als wertfreie Wissenschaft 2. Kaskade von Beispielen zur Kritik der Ökonomie (SM 20–68): Hier wird anhand zahlreicher Fälle illustriert, dass Märkte aus drei Blickwinkeln diskutiert werden können: – Effizienz bzw. Effizienzmängel (Marktversagen) – Mangelnde Gleichheit (Fairness-Argument) – Erosion moralischer Werte (Korruptions-Argument) Sandel rückt den dritten Aspekt ins Zentrum der Kritik und versucht zu zeigen, dass sich die zeitgenössische Ökonomik mit diesem moralischen Einwand gegen den Markt bislang nicht angemessen auseinandergesetzt hat. 3. Zwei Argumente zur Kritik der Ökonomik (SM 69–86): Namhafte Ökonomen ignorieren das Korruptions-Argument. Namhafte Ökonomen haben eine falsche Vorstellung von Tugend (und propagieren deshalb eine Ausdehnung des Marktes). 4. Schlussfolgerung zur Kritik der Ökonomik (SM 87–90) Wenn die Ökonomik ihrer gesellschaftlichen Funktion kompetent nachkommen will, muss sie sich explizit mit normativen Fragen der Moral(erosion) beschäftigen.
Abbildung 1: Eine Skizze der Argumentationsstruktur 4
Zur Erläuterung: • In der Einleitung (MS 1–5) wird deutlich unterschieden zwischen der These des Buches und der These des Aufsatzes: Die These des Buches formuliert eine Kritik an der Ökonomie, am Vordringen des Marktes (MS 2). Demgegenüber formuliert die These des Aufsatzes eine Kritik an der Ökonomik, also an der Fachwissenschaft, die Märkte analysiert (MS 3). • Die Problemstellung (MS 6–19) erläutert die These, die Sandel in seinem Aufsatz vertreten will: Hier geht es ihm darum, das Selbst(miss)verständnis der Ökonomik zu kritisieren, um sie davon abzubringen, sich für eine wertfreie Wissenschaft zu halten. • Der lange Mittelteil des Aufsatzes – die Abschnitte II. bis VIII. umfassend (MS 20–68) – diskutiert eine ganze Kaskade unter4
Quelle: Eigene Darstellung.
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schiedlichster Einzelfälle, um immer wieder von neuem zu illustrieren, dass das Korruptionsargument stichhaltig sein könnte, so dass sich die ökonomische Analyse pro oder contra Markt nicht nur auf Effizienz- und Fairness-Überlegungen beschränken darf, sondern explizit normative Erwägungen einschließen muss. • Für die Aufsatz-These zentral ist Abschnitt IX. (MS 69–86). Hier kritisiert Sandel die Ökonomik mit zwei Argumenten. Das erste Argument besagt, dass namhafte Ökonomen das KorruptionsArgument ignoriert haben. Das zweite Argument besagt, dass namhafte Ökonomen einer falschen Vorstellung von Tugend anhängen, die sie dazu verleitet, die immer weitere Ausdehnung von Märkten zu propagieren. • Der Schluss-Abschnitt X. fasst die Aufsatz-These zusammen: Die Ökonomik muss ihr Selbstverständnis ändern. Sie kann sich nicht länger als wertfreie Wissenschaft begreifen, sondern muss sich auf historische Wurzeln in Ethik und Politischer Philosophie zurückbesinnen und endlich wieder anfangen, sich mit normativen Fragen moralischer Wertung explizit auseinanderzusetzen, vor allem im Hinblick auf das Phänomen einer marktlichen Erosion von Werten und Normen. Damit gelange ich zu folgendem Zwischenergebnis: Der Aufsatz von Sandel birgt ein enormes Rezeptionshindernis. Seine formale Gliederung entspricht nicht dem Gang der Argumentation! Angesichts der vielen Beispiele im Mittelteil kann es deshalb leicht passieren, dass man den roten Faden aus den Augen verliert. Doch eine genaue Text-Analyse zeigt: Sandel argumentiert auf zwei Ebenen, die man nicht vermischen darf. Die erste Ebene betrifft die Ökonomie, die zweite die Ökonomik. Auf der ersten Ebene will Sandel zeigen, dass Märkte gelegentlich zur Erosion von Werten und Normen beitragen, also gesellschaftliche Auswirkungen nach sich ziehen können, die moralisch fragwürdig sind. Gestützt auf dieses mit zahlreichen Beispielen illustrierte Korruptions-Argument will Sandel auf der zweiten Ebene zeigen, dass die zeitgenössische Ökonomik dieser normativen Fragestellung nicht länger ausweichen darf (MS 19). Sein im Text oft wiederholtes Petitum lautet (MS 8–13, 19, 29 f., 34 f., 48 f., 57, 60, 71, 86–90): Selbst wenn man das Korruptionsargument ablehne, müsse man es doch in jedem Einzelfall prüfen! – Insofern erweist sich immerhin der von Sandel gewählte Aufsatz-Titel als programmatisch: Das ökonomische Marktdenken soll sich als Moraldenken entfalten, es soll an seine historischen Wurzeln in Ethik und Politischer 102 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Philosophie wieder anknüpfen und sich endlich wieder auf normatives Terrain wagen, also der Herausforderung stellen, Fragen der Moral explizit in Angriff zu nehmen.
Schritt III Ich komme nun zur internen Kritik, beschränke mich aber notgedrungen auf einige sehr knapp gehaltene Punkte, die ausreichen mögen, um die Methode zu illustrieren. Sämtliche Punkte beziehen sich auf die Aufsatz-These bzw. auf das Verhältnis zwischen BuchThese und Aufsatz-These, nicht aber auf die Buch-These selbst. Deren Erörterung erfolgt erst im nächsten Schritt als externe Kritik. (1) Zunächst zum Verhältnis zwischen Buch-These und AufsatzThese: Unbefangenen Lesern fällt sofort auf, dass Sandels Argumentation eine interessante Asymmetrie aufweist. Seine Ökonomie-Kritik, dass Märkte einen Wertewandel auslösen können, diskutiert nur Negativ-Beispiele. Dabei wäre es durchaus auch möglich, Positiv-Beispiele ins Feld zu führen, was übrigens Sandels Aufsatz-These nicht schwächen würde: Wenn, wie Sandel fordert, die Ökonomik statt impliziter Werturteile (stillschweigend zugunsten des Marktes) offen das Für und Wider ausweisen soll, das es bei der Einführung von Märkten gesellschaftlich zu bedenken gilt, dann gehören ja nicht nur die Nachteile des Wertewandels auf den Tisch, sondern genauso gut die Vorteile des Wertewandels. Insofern wäre es Sandels AufsatzThese in der Tat nicht abträglich, sondern sogar zuträglich, wenn sich die Ökonomik mit diesen normativen Fragen wirklich umfassend auseinandersetzen würde. Hier stimme ich Sandel ausdrücklich zu: Aus meiner Sicht ist es aller Anstrengungen wert, die Wissenschaftsdisziplin der Ökonomik in die Lage zu versetzen, auf gesellschaftliche Anfragen an die Möglichkeiten und Grenzen des Marktes mit umfänglicher wissenschaftlicher Kompetenz zu antworten, und zwar nicht nur in ihrer eigenen Fachterminologie, sondern auch in jener oft normativen Sprache, in der solche Anfragen formuliert werden. Ich will in diesem Kontext nun kurz acht Hinweise geben: • Positiv-Beispiele für einen durch Märkte ausgelösten Wertewandel haben eine lange Tradition, die mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. 5 Bereits im Jahr 1704 findet man eine 5
Für einen Überblick vgl. Hirschman (1977, 1987) sowie Muller (2002). Vgl. ergän-
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außerordentlich bemerkenswerte Analyse des durch marktwirtschaftlichen Handel ausgelösten Wertewandels. Samuel Ricard (* 1637; † 1717) schreibt der Marktwirtschaft moralisch zivilisierende Wirkungen zu. 6 Diese sog. »Doux-Commerce«-These, dass der marktwirtschaftliche Handel sich wohltuend auf die Manieren auswirke, wurde prominent von Montesquieu (* 1689; † 1755) vertreten. Aus seiner Sicht kuriert der Handel insbesondere Vorurteile, die sich gesellschaftlich destruktiv auswirken. Den Hintergrund dieser These bilden ganz offenkundig die Religionskämpfe des 17. Jahrhunderts. 7 Auch bei Adam Smith (* 1723; † 1790) finden sich solche Überlegungen. 8
zend Kahan (2010). Für einen umfassenden Überblick vgl. die Trilogie von McCloskey (2006), (2010) und (2016). Immer noch informativ ist auch die monumentale Studie von Baurmann (1996, 2000). 6 Ricard (1704, 1781; S. 463): »Commerce attaches [men] one to another through mutual utility. Through commerce the moral and physical passions are superseded by interest … Commerce has a special character which distinguishes it from all other professions. It affects the feelings of men so strongly that it makes him who was proud and haughty suddenly turn supple, bending and serviceable. Through commerce, man learns to deliberate, to be honest, to acquire manners, to be prudent and reserved in both talk and action. Sensing the necessity to be wise and honest in order to succeed, he flees vice, or at least his demeanor exhibits decency and seriousness so as not to arouse any adverse judgement on the part of present and future acquaintances; he would not dare make a spectacle of himself for fear of damaging his credit standing and thus society may well avoid a scandal which it might otherwise have to deplore.« – Dieses Zitat findet sich bei Hirschman (1982; S. 1465). 7 Montesquieu (1748, 2010; S. 258) schreibt in seinem Werk »Über den Geist der Gesetze« gleich zu Beginn des ersten Kapitels von Buch 20: »Commerce is a cure for the most destructive prejudices; for it is almost a general rule that wherever we find agreeable manners, there commerce flourishes; and that wherever there is commerce, there we meet with agreeable manners.« 8 Adam Smith (1776, 1981; S. 338 f.) schreibt im Wealth of Nations gleich zu Beginn des vierten Kapitels von Buch drei, dass der marktwirtschaftliche Handel zu Entwicklung und Emanzipation beigetragen habe: »[C]ommerce and manufactures gradually introduced order and good government, and with them, the liberty and security of individuals, among the inhabitants of the country, who had before lived almost in a continual state of war with their neighbours, and of servile dependency upon their superiors.« – Bereits in der Theory of Moral Sentiments hatte sich Smith (1759, 2000; S. 336) zur Konkurrenzsituation zwischen Frankreich und England wie folgt geäußert – gleich zu Beginn von Part VI, Section II, Chapter II: »France and England may each of them have some reason to dread the increase of the naval and military power of the other; but for either of them to envy the internal happiness and prosperity of the
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Im 18. Jahrhundert führen sogar Karl Marx (* 1818; † 1883) und Friedrich Engels (* 1820; † 1895) eine beeindruckende Liste zivilisatorischer Errungenschaften, die sie der bürgerlichen Gesellschaft und hier insbesondere der Bourgeoisie zuschreiben. Diese Liste reicht von der welthistorisch einmaligen Steigerung der Produktion und des durch sie ermöglichten Bevölkerungswachstums 9 über die kosmopolitischen Wirkungen von Weltmarkt und Weltliteratur 10 bis hin zur Emanzipation der Landbevölkerung von den – auch mentalen – Fesseln des Feudalismus. 11 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schreibt der Soziologe Georg Simmel (* 1858; † 1918) der marktwirtschaftlichen Konkurrenz die wichtige Eigenschaft zu, die Anbieter für die Bedürfnisse der Nachfrager zu sensibilisieren. Und im Hinblick auf diese Eigenschaft und ihre Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammen-
other, the cultivation of its lands, the advancement of its manufactures, the increase of its commerce, the security and number of its ports and harbours, its proficiency in all the liberal arts and sciences, is surely beneath the dignity of two such great nations. These are all real improvements of the world we live in. Mankind are benefited, human nature is ennobled by them. In such improvements each nation ought, not only to endeavour itself to excel, but from the love of mankind, to promote, instead of obstructing the excellence of its neighbours. These are all proper objects of national emulation, not of national prejudice or envy.« 9 Marx und Engels (1848, 1972; S. 466): »Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.« 10 Marx und Engels (1848, 1972; S. 466): »Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. … An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.« 11 Marx und Engels (1848, 1972; S. 466): »Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen.«
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halt erklärt er die marktwirtschaftliche Konkurrenz sogar zu einem funktionalen Äquivalent für Liebe. 12 Auch zeitgenössische Autoren nehmen diesen Faden wieder auf. Steven Pinker beispielsweise verbindet das Aufkommen der Marktwirtschaft mit einer Umstellung von Konstantsummenspielen (»Win-Lose«) zu Positivsummenspielen (»Win-Win«) und sieht eine kausale Verbindung zu der in den letzten Jahrhunderten beobachtbaren säkularen Abnahme gewalttätiger Handlungen. 13 In die gleiche Richtung weist die unter dem Titel »Weltgeschichte von Sitten und Moral am Beispiel der Arenenspiele« vorgelegte Analyse von Georg Oesterdieckhoff. Sie belegt, dass es eine von der Antike bis in die Neuzeit reichende Traditionslinie der öffentlich zur Schau gestellten Grausamkeit gegeben hat und dass diese Traditionslinie erst um 1800 abbricht. 14
In seinem Aufsatz über die »Soziologie der Konkurrenz« schreibt Simmel (1903, 2008; S. 206 f.): »Indem der Zielpunkt, um den innerhalb einer Gesellschaft die Konkurrenz von Parteien stattfindet, doch wohl durchgängig die Gunst einer oder vieler dritter Personen ist – drängt sie jede der beiden Parteien, zwischen denen sie stattfindet, mit außerordentlicher Enge an jene dritten heran. Man pflegt von der Konkurrenz ihre vergiftenden, zersprengenden, zerstörenden Wirkungen hervorzuheben … Daneben aber steht doch diese ungeheure vergesellschaftende Wirkung: sie zwingt den Bewerber, der einen Mitbewerber neben sich hat und häufig erst hierdurch ein eigentlicher Bewerber wird, dem Umworbenen entgegen- und nahezukommen, sich ihm zu verbinden, seine Schwächen und Stärken zu erkunden und sich ihnen anzupassen, alle Brücken aufzusuchen oder zu schlagen, die sein Sein und seine Leistungen mit jenem verbinden könnten.« Und dann heißt es weiter, ebd., S. 207, über die Konkurrenz: »Ihr gelingt unzählige Male, was sonst nur der Liebe gelingt: das Ausspähen der innersten Wünsche eines anderen, bevor sie ihm noch selbst bewusst geworden sind. Die antagonistische Spannung gegen den Konkurrenten schärft bei dem Kaufmann die Feinfühligkeit für die Neigungen des Publikums bis hin zu einem fast hellseherischen Instinkt für die bevorstehenden Wandlungen seines Geschmacks, seiner Moden, seiner Interessen; und doch nicht nur bei dem Kaufmann, sondern auch bei dem Zeitungsschreiber, dem Künstler, dem Buchhändler, dem Parlamentarier. Die moderne Konkurrenz, die man als den Kampf aller gegen alle kennzeichnet, ist doch zugleich der Kampf aller um alle.« 13 Vgl. Pinker (2011) bzw. die deutsche Übersetzung (2011, 2013). 14 Vgl. Oesterdieckhoff (2012; Kapitel 4, S. 369–434). – Zum empirisch nachweisbaren Moralwandel könnte man ergänzend darauf hinweisen, dass in neuerer Zeit nicht nur der Grausamkeit gegenüber Menschen, sondern mittlerweile auch der Grausamkeit gegenüber Tieren zunehmend – und zunehmend wirksam – Einhalt geboten wird. Vgl. hierzu Oesterdieckhoff (2012; S. 416): »Die Entwicklung des menschlichen Geistes seit der Aufklärung in Europa, mehr oder weniger seit Beginn der Industriemoderne, ist die Ursache der Weiterentwicklung des … moralischen Denkens. Diese Wei12
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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
Im Hinblick auf die Emanzipation der Frau – also einen im historischen Maßstab wirklich außerordentlich bedeutenden Wertewandel – hat der Ökonom Ludwig von Mises (* 1881; † 1973) die These vertreten, dass diese Emanzipation ganz wesentlich durch die Entwicklung der Marktwirtschaft befördert wurde. 15 Zeitgenössische Sozialwissenschaftler stützen diese Sichtweise. 16 (2) Nun zur Aufsatz-These selbst. Hier will ich fünf Punkte ansprechen. • In ihrer abstrakten Fassung kann ich Sandels These nur aus ganzem Herzen zustimmen: Auch aus meiner Sicht – zugegeben: der Perspektive eines Wirtschaftsethikers – muss sich die Ökonomik darauf einlassen, die normativen Einwände gegen die Marktwirtschaft ernstzunehmen – was freilich auch bedeuten kann, ihnen argumentativ entgegenzutreten. • In ihrer konkreten Fassung jedoch muss ich Sandels These meine Zustimmung verweigern. Dies betrifft zum einen seinen Vorwurf an die Ökonomik, das Korruptions-Argument zu ignorieren. Doch das will ich nicht als interne, sondern als externe Kritik formulieren und folglich erst im nächsten Schritt abhandeln. Zum anderen aber – und dies ist nun wirklich eine interne Kritik – halte ich Sandels Vorwurf für grundlegend verfehlt, die Ökonomik habe eine falsche Vorstellung von Tugend, von Liebe, Großmut und Altruismus. • Um es kurz machen: Sandel missinterpretiert den ökonomischen Begriff des »sparsamen Umgangs mit einer knappen Ressource«. Wie sein Beispiel des Liebespaars deutlich macht (MS 80), nimmt •
terentwicklung und Veredelung der sittlichen Standards hat zur Abschaffung von Folter und Marter, der peinlichen Strafen, sukzessive auch zur Abschaffung der Todesstrafe, zur Beseitigung der letalen Kämpfe zwecks Volksbelustigung und zunehmend auch zum Ende der Tierhetzen geführt. Humanisierung des Strafrechts, Resozialisierung statt sadistische Verstümmelungen und Liquidationen, friedlichere Sportarten und Zunahme des Tierschutzes bilden unterschiedliche Facetten dieser Entwicklung des menschlichen Geistes im Laufe der Entwicklung der Industriezivilisation.« 15 Vgl. Mises (1922; S. 68–92). In seltener Übereinstimmung mit Mises handelt es sich auch für Joseph Schumpeter (1942, 2008; S. 127) beim Feminismus um ein »essentially capitalist phenomenon«. 16 Bowles (1998; S. 76): »The rapid rise of feminist values, the reduction in family size, and the transformation of sexual practices coincident with the extension of women’s labor force participation … suggest that changes in economic organization may foster dramatic changes in value orientations.«
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er die Metapher des Sparens zu wörtlich. In der Tat wäre es absurd, wenn ein Paar im zwischenmenschlichen Umgang miteinander die Ressource der Liebe für die Zukunft aufsparen würde. Allerdings kenne ich keinen einzigen Ökonomen und keine einzige ökonomische Textpassage – schon gar nicht bei Robertson, Arrow oder Summers –, welche die von Sandel favorisierte Interpretation rechtfertigen würde, dass Ökonomen einen intertemporalen Tradeoff vor Augen hätten, wenn sie auf Marktarrangements zur gesellschaftlichen Indienstnahme individuellen Eigeninteresses setzen, um mit moralischen Ressourcen sparsam umzugehen. Die hier zugrunde liegende ökonomische Vorstellung vom »sparsamen« Umgang besagt nicht, dass die Nutzung knapper Ressourcen von der Gegenwart in die Zukunft verschoben werden soll. Stattdessen geht es den Ökonomen vielmehr darum, die Option zu schaffen, eine solche Nutzung aus dem sozialen Fernbereich in den sozialen Nahbereich zu verlagern. Insofern ist es kein Zufall, dass ausnahmslos alle Textstellen, die Sandel selbst anführt, ganz offenkundig gemäß Wortlaut und gemeintem Sinn so zu interpretieren sind, dass die Ökonomen hier einen inter-personalen Tradeoff vor Augen haben. Sie plädieren schlicht und ergreifend dafür, die Notwendigkeit einer praktizierten Fernstenliebe institutionell zu reduzieren zugunsten der Möglichkeit, mehr Nächstenliebe praktizieren zu können. Metaphorisch ausgedrückt: Ökonomen geht es nicht darum, den normativen Muskel erschlaffen zu lassen, sondern vielmehr darum, ihn dort zu gebrauchen, wo er den höchsten Nutzen verschafft. Ökonomen plädieren also nicht für das Brachliegen der Liebes-Ressource, sondern vielmehr dafür, Marktarrangements gesellschaftlich einzurichten, damit diese wertvolle Ressource nicht überbeansprucht wird. Sie soll nicht ungenutzt bleiben, sondern vor Übernutzung (und Ausnutzung) geschützt werden. Die elaborierteste Analyse dieses Problemkomplexes stammt übrigens von Gary S. Becker 17 – den Sandel offensichtlich nicht sonderlich schätzt, während ich ihn unumwunden für einen der bedeutendsten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts halte. 18 Unter dem programmatischen Titel »Altruism in the Family
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17 18
Vgl. Becker (1981). Vgl. nur die bahnbrechenden Aufsatzsammlungen von Becker (1976, 1982) und
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and Selfishness in the Market Place« argumentiert Becker wie folgt – und zwar im Rahmen einer nicht normativen, sondern einer strikt positiven Analyse zur Erklärung menschlicher Verhaltensmuster: Menschen streben nach psychischem Einkommen sowie nach monetärem Einkommen. Ihre natürliche Neigung zum Altruismus entfaltet innerhalb der Familiensphäre eine größere Effizienz als innerhalb der Marktsphäre. Deshalb wird diese Ressource für das Privatleben »aufgespart«, während das öffentliche Leben in der Sphäre des Marktes primär vom Eigeninteresse geleitet wird. 19 Dahinter steckt folgende Überlegung: Der Anbieter auf einem Markt hat prinzipiell zwei Möglichkeiten, seinen Altruismus gegenüber den Kunden zu zeigen. Zum einen kann er sein Produkt verbilligt anbieten. Und zum anderen kann er sein Produkt zu Wettbewerbspreisen anbieten und den Kunden per Spende eine Direktzahlung zukommen lassen. Letzteres ist wesentlich effizienter, sofern man es mit einer negativ geneigten Nachfragekurve zu tun hat, wovon im Allgemeinen auszugehen ist. 20 Karl Homann folgend, kann man diese Analyse noch einen Schritt weiter treiben. 21 Er argumentiert so: Menschen kommt es vor allem darauf an, dass ihr Altruismus nicht ausgebeutet wird. Deshalb schränken sie altruistisches Verhalten vor allem auf solche Interaktionsumwelten ein, in denen sie mit Reziprozität rechnen können. Dieses Argument verschiebt den Fokus der Analyse vom vergleichsweise effizienteren Gebrauch moralischer Ressourcen innerhalb der Familie zum vergleichsweise
(1996). Vgl. ferner Pies und Leschke (1998) sowie neuerdings Lazear (2015), Heckmann (2014) und (2015) sowie Murphy (2015). 19 Becker (1981; S. 10 und S. 11): »I believe that altruism is less common in market transactions and more common in families because altruism is less »efficient« in the market place and more »efficient« in families. … Altruism is uncommon not because altruists receive psychic income in place of money income, but because altruism in market transactions is an inefficient way to produce psychic income.« 20 Zu den technischen Details dieser Argumentation vgl. Becker (1981; S. 11). Dort liest man auch folgende Schlussfolgerung: »Although participants in market transactions may be highly altruistic, they act as if they are selfish and maximize their money incomes. They express their altruism through cash transfers not tied to market transactions, as dramatically illustrated by the enormous charitable contributions by allegedly selfish captains of industry in the United States at the end of the nineteenth and the beginning of the twentieth centuries.« 21 Vgl. Homann (2014; Fn. 447, S. 249).
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unwahrscheinlicheren Missbrauch moralischer Vorleistungen in Face-to-Face-Beziehungen. Damit wird die Stoßrichtung ökonomischen Denkens nochmals forciert: Es geht darum, die Moral zu stärken, nicht darum, sie zu schwächen.
Schritt IV Ich komme nun zur externen Kritik, beschränke mich aber auf einen einzigen Aspekt, der freilich ausreichen möge, um die Methode zu illustrieren. Dieser Aspekt bezieht sich auf Sandels Buch-These und hier insbesondere auf sein Korruptions-Argument, dass die Ausdehnung der Marktwirtschaft die Gefahr heraufbeschwört, moralische Wertorientierungen erodieren zu lassen. Ich stelle nun einfach die Frage: Wie argumentiert jemand, wenn er so argumentiert, wie Sandel dies tut? Mit dieser – seit Immanuel Kant als »transzendentalphilosophisch« ausgewiesenen – Frage wechsle ich von der Binnenperspektive zur Außenperspektive und reflektiere als externer Beobachter auf den Denkrahmen, innerhalb dessen sich Sandels Argumente bewegen. Hier gilt es nun, kurz einige wenige Punkte zu markieren: • Zunächst möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass Sandel für seine Aufsatz-These nur eine leichte Argumentationslast schultert. Das Korruptions-Argument muss nicht richtig sein, es kann sogar falsch sein, und dennoch stützt es seine Aufsatz-These, dass es für die Ökonomik unausweichlich ist, sich mit diesem Korruptions-Argument ernsthaft auseinanderzusetzen. • Die Buch-These hingegen schultert eine sehr schwere Argumentationslast – eine Last, die, wie ich meine, das Korruptions-Argument nicht wirklich zu schultern vermag. Um dies zu zeigen, möchte ich im Hinblick auf ihre diskursive Leistungsfähigkeit zwei Arten von Argumenten unterscheiden. In Ermangelung besserer Bezeichnungen differenziere ich zwischen »Bekundungs-Argumenten« und »Überbietungs-Argumenten«: Ein Bekundungs-Argument meldet gegenüber den Adressaten des Diskurses ein eigenes Interesse an, während ein ÜberbietungsArgument genau umgekehrt ansetzt und nicht die eigenen Ziele, sondern die Ziele der Adressaten in den Mittelpunkt rückt. Bekundungs-Argumente stellen die Forderung auf, dass andere Rücksicht auf mein Befinden bzw. Unbehagen nehmen sollen, 110 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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während Überbietungs-Argumente das diskursive Gegenüber wirklich davon zu überzeugen versuchen, welches Mittel angesichts relevanter Alternativen am besten geeignet ist, die – und sei es nur »for the sake of argument« – akzeptierten Ziele der Adressaten am besten zu verwirklichen. Nur ein ÜberbietungsArgument, nicht aber ein Bekundungs-Argument lässt sich auf den intellektuellen Wettbewerb ein, im Diskurs mit anderen um die bessere Idee zu konkurrieren. Demgegenüber enden Bekundungs-Argumente im bloßen Appell. Wenn man fragt, ob eine Gesellschaft Märkte in Kraft oder außer Kraft setzen soll, ob sie die Ausdehnung von Märkten institutionell fördern oder stattdessen rigide beschränken soll, dann führt man – ob es einem gefällt oder nicht – einen politischen Diskurs. Es ist legitim, in diesen politischen Diskurs auch moralische Argumente einzubringen. Aber hier macht es nun wirklich einen fundamentalen Unterschied, ob die moralischen Aspekte, die man berücksichtigt sehen möchte, in der Form eines Bekundungs-Arguments oder in der Form eines Überbietungs-Arguments vorgebracht werden. Und Sandels Überlegungen zur marktlichen »Korruption« individueller Wertorientierungen kommen nun einmal über den Status eines bloßen BekundungsArguments nicht hinaus. In diskursiver Hinsicht verharren sie auf dem denkbar niedrigsten Leistungsniveau, persönliches Missbehagen mitzuteilen. Hierfür gibt es einen systematischen Grund: Sandel argumentiert tugendethisch. Er geht aus von einer gesellschaftlichen Praxis, die ihm dann einen Maßstab dafür liefert, was als moralische Exzellenz anzusehen ist. Diese Vorgehensweise hat eine lange Tradition, die sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen lässt. Das an sich ist unproblematisch. Problematisch aber wird es, wenn die tugendethische Denk- und Vorgehensweise nicht in einem pädagogischen Diskurs zur Anwendung kommen soll, sondern in einem politischen Diskurs. Im pädagogischen Diskurs können tugendethische Überlegungen den Status eines Überbietungs-Arguments erlangen. Genau das aber ist ihnen im politischen Diskurs systematisch verwehrt. Im pädagogischen Diskurs wird die gesellschaftliche Praxis als gegeben angenommen, und dann geht es um alternative Überlegungen, wie sich eine konkrete Person am besten an diese Praxis anpassen – und gerade dadurch Tugenden erwerben – kann. Im politischen Diskurs aber 111 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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geht es genau umgekehrt darum, die gesellschaftliche Praxis in Frage zu stellen, um sie mit guten Gründen entweder beizubehalten oder aber zu verändern und konstruktiv weiterzuentwickeln. Wer sich hier tugendethisch positioniert, stellt sich damit – ob es ihm nun bewusst ist oder nicht – auf einen von vornherein strukturkonservativen Standpunkt, der jede Veränderung – auch die segensreichste – als Abweichung vom Status quo delegitimiert. In diesem Denkrahmen ist vorprogrammiert – und folglich nicht mehr Gegenstand einer freien Wahl, sondern (als »bias«) methodisch vorentschieden! –, dass man die von Märkten ausgehende Gesellschaftsdynamik als Störung der vorgängigen Praxis wahrnehmen und folglich als Gefährdung traditioneller Wertorientierungen und als Verfall der Moral ablehnen muss. Insofern ist es aus meiner Sicht kein Zufall, sondern systematisch dem Denkansatz geschuldet, dass Sandel seine Ökonomik-Kritik einseitig nur auf Negativ-Beispiele gründet, wo doch zumindest ein einziges Positiv-Beispiel seine Aufsatz-These gestärkt hätte. Ich will nun abschließend noch zeigen, wie wenig überzeugend einige der Negativ-Beispiele sind, die Sandel ins Feld führt: • Beim Walross-Beispiel argumentiert Sandel signifikanterweise nicht mit dem (uns Menschen am Herzen liegenden) Tierwohl, sondern mit dem archaisch anmutenden Einwand, dass sich die Jäger nicht in Gefahr bringen, anstatt einen fairen Zweikampf zu führen (MS 52 f.). Zweifellos liegt hier ein Verstoß gegen das antike Heldenethos vor. Aber die moralische Missbilligung dieses Verstoßes als Argument im politischen Diskurs einer modernen Gesellschaft vorzubringen, ist schon einigermaßen kurios. • Beim Flüchtlings-Beispiel setzt Sandel stillschweigend voraus, dass es eine funktionierende Praxis gibt, Flüchtlinge freiwillig aufzunehmen, wenn er argumentiert, dass man diese Praxis gegen eine Korruption durch Marktanreize schützen sollte (MS 33 f.). In der Europäischen Union sieht die Realität anders aus. Seit Jahren scheitern die Versuche, für jeden Mitgliedsstaat eine Quote festzulegen – von handelbaren Quoten ganz zu schweigen. Dabei ist offenkundig, dass es für zahlreiche Flüchtlinge einer existenziell bedeutsamen Verbesserung gleichkäme, wenn Kommunen mit finanziellen Anreizen ausgestattet wären, sie aufzunehmen und menschenwürdig zu versorgen. Mit einer menschenunwürdigen Behandlung der Flüchtlinge ist nicht dann zu rechnen, wenn Hoteliers und Hauseigentümer mit ihrer Unter112 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
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bringung ein auskömmliches Geschäft machen können, sondern vielmehr dann, wenn es an einer angemessenen Kostenerstattung mangelt. Marktliche Arrangements sind hier nicht das Problem, sondern die Lösung. Beim Beispiel der chinesischen Ein-Kind-Politik (MS 40–42) erstaunt, dass Sandel das Legitimationsproblem nicht beim autoritär intervenierenden Staat, sondern bei den Eltern verortet, die eine extrem rigide Einschränkung ihrer privaten Freiheitssphäre zu umgehen versuchen. Ebenfalls erstaunt, dass für Sandel etwaige Legitimationsprobleme des Staates offenkundig erst dann anfingen, wenn die bereits eingeführten Quoten handelbar gemacht würden. Fast sieht es so aus, als zöge Sandel es vor, dass alle Chinesen möglichst gleichmäßig leiden, anstatt einem Arrangement moralische Qualität zuzugestehen, das dieses Leiden zumindest für einige mindert.
Fazit Die methodischen Hinweise zur Textlektüre, Textbearbeitung und Textkritik sowie ihre beispielhafte Illustration sollen vor Augen führen, wie man sich in die formale Struktur und inhaltliche Argumentation eines anspruchsvollen Aufsatzes einarbeiten kann. Hierbei kommt es allerdings nicht so sehr auf die Lösung als vielmehr auf das Problem an: Es geht vor allem darum, zunächst einmal überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Lesegewohnheiten des Alltags nicht ausreichen, um einem akademischen Text gerecht zu werden, der auf mehreren Ebenen argumentiert und so eine enorme Komplexität entfaltet. Hat man dieses Problem erst einmal klar im Blick, gibt es durchaus unterschiedliche Möglichkeiten zur Problemlösung. Insofern ist das hier durchlaufene Verfahren keineswegs alternativlos. Zudem ist es auch in einem weiteren Sinne nur als exemplarisch zu verstehen, denn es lässt Raum für subjektive Differenzierungen, die vom eigenen Erkenntnisinteresse und Bildungshintergrund geprägt sind und insofern helfen, sich nicht nur über die eigene Interpretation des Textes, sondern auch über die dabei in Anspruch genommene Perspektive – mitsamt ihrem spezifischen Fokus und ihren blinden Flecken – intellektuell Rechenschaft abzulegen. Wer die vier Schritte gewissen-
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haft absolviert, kann also auch zu durchaus anderen Schlussfolgerungen gelangen. Insgesamt sollte gezeigt werden, dass die Erarbeitung eines eigenständigen und inhaltlich fundierten Urteils über die Argumentation des Textes nicht nur (a) Mühe erfordert, sondern auch (b) der Mühe wert ist. Ich jedenfalls darf freimütig mitteilen, dass ich den Aufsatz von Michael Sandel (z. B. als Mitübersetzer) mehrfach besonders intensiv gelesen hatte und dass sich mein Verständnis dieses Aufsatzes durch den nachträglichen Vollzug der vier Schritte dieser methodischen Handreichung zur Textinterpretation gleichwohl nochmals gründlich weiterentwickelt und stellenweise sogar gewandelt hat. Das liegt auch daran, dass die sorgfältige Trennung von interner und externer Kritik dazu anregt, nicht nur auf den Text zu reflektieren, sondern auch auf die eigenen Beurteilungsmaßstäbe, die man an den Text heranträgt. Um es bildlich auszudrücken: Die methodische Handreichung leitet dazu an, nicht nur das beleuchtete Objekt besser zu erkennen, sondern auch sich des eigenen Scheinwerfers deutlicher bewusst zu werden sowie der alternativ möglichen Blickwinkel, welche Licht und Schatten der zu analysierenden Argumentation jeweils unterschiedlich hervortreten lassen. Vor diesem Hintergrund gelange ich zu folgender subjektiven Einschätzung: Für mich persönlich gehört der Aufsatz von Michael Sandel zu den faszinierendsten Schriftstücken, die ich in den letzten Jahren in die Finger bekommen habe. Ich lese ihn als eine reichlich sprudelnde Inspirationsquelle – auch wenn ich nicht verhehlen will, dass ich mich nach gründlicher Lektüre primär nicht zum Zuspruch, sondern zum Widerspruch angeregt fühle. Aber genau das ist produktiv. Denn es zwingt dazu, sich zunächst einmal selbst in Frage zu stellen und die eigenen Anschauungen auf etwaige Vor-Urteile und Kurzschlüsse zu überprüfen. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Michael Sandel ist etwas gelungen, was im interdisziplinären Diskurs sonst eher selten gelingt. Sein Aufsatz ist außerordentlich gut geeignet, Ökonomen zum Nachdenken zu bringen. Im konkreten Fall hat das etwas Subversives. Denn indem man als Ökonom überlegt, wie man Sandels Einwänden und Vorwürfen angemessen begegnen kann, betreibt man bereits jene moralische Reflexion, die Sandel einfordert: Widerlegungen seiner Buch-These stützen seine Aufsatz-These! Doch auch jenseits dieser Spitzfindigkeit ist Sandel das wichtige Verdienst zu bescheinigen, einen originellen und anregenden Beitrag 114 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
geleistet zu haben, der der Diskussion um die moralische Legitimation der Marktwirtschaft wichtige Impulse zu geben vermag. Besonders interessant finde ich, dass sein Aufsatz geeignet ist – sei es unmittelbar, sei es mittelbar: durch die Gegenargumente, zu denen er provoziert –, das Niveau der Diskussion in Wissenschaft und Öffentlichkeit anzuheben. Unabhängig davon, ob sie zum Zuspruch oder zum Widerspruch motivieren: Von Sandels provozierenden Überlegungen können beide Seiten lernen – die Befürworter ebenso wie die Kritiker der Marktwirtschaft, so dass diese gesellschaftspolitisch höchst relevante Auseinandersetzung in Zukunft intelligenter, sachlicher und ertragreicher geführt werden kann.
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III. Kommentare
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Johannes Fioole
Sandels republikanische Kritik der Marktmoral
Einleitung Bevor Michael Sandel mit seinen jüngsten ökonomiekritischen Texten international Furore machte, hatte er sich in der politischen Theorie als Autor von verdienstvollen Texten zum Republikanismus 1 etabliert. 2 Mehr noch, schon ein flüchtiger Blick in sein Œuvre zeigt, dass Sandel sich in den ersten 30 Jahren seiner Forschungstätigkeit kaum einem anderen Thema widmen mochte. In meinem Beitrag will ich argumentieren, dass auch das Gedankengut aus Was man für Geld nicht kaufen kann und Marktdenken als Moraldenken in einer republikanischen Tradition steht. Sandels republikanische Idee schlummert in diesen Texten zwar nur unterschwellig und opak. Republikanische Begriffe – das ist ein erstes Indiz für meine These – wie Tugend, Staatsbürgertum, Gemeinwohl, Deliberation oder Pflichterfüllung sind aber auch dort Legion. Wie ich zeigen werde, sind das keine beiläufigen oder austauschbaren Bekundungen, die Sandels Denkanstößen einen demokratischen Anstrich geben sollen: Sie sind die unumgänglichen Ingredienzien für das republikanische Gemeinwesen. Die Analyse erhellt hoffentlich, dass Sandels neuere Thesen – vom Fairness-Argument über den Korrumpierungseffekt hin zum crowding-out-Effekt – die Oberfläche einer tiefer gelagerten, durchaus fundamentalen Kritik der Marktmoral sind. In meinem Beitrag leuchte ich Sandels Lehrgebäude vordergründig deskriptiv-analytisch aus. Republikanische Theorien, die die Ökonomie halbwegs elaboriert in den Blick nehmen, sind zwar unGemeint ist weder die US-amerikanische Partei, noch der Staat ohne Monarch, sondern die politiktheoretische Konzeption, wie ich sie im ersten Kapitel erläutere. 2 Oft bezeichnet man Sandel auch als Exponent des Kommunitarismus, der vielschichtigen philosophischen Reaktion auf einen als ausufernd diagnostizierten Individualismus. Sandel selbst betont gerne, dass es eine teils unzutreffende Fremdzuschreibung sei, ihn als Kommunitarier zu klassifizieren. Vgl. Sandel (2005; S. 252–255). 1
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Sandels republikanische Kritik der Marktmoral
gebräuchlich und erfordern schon deshalb normative Diskussionen – die Aufgabe der kritischen Analyse übernehmen jedoch bereits die anderen Beiträge dieses Bandes in lohnbringender Manier. Ich beginne meine Untersuchung mit der Darstellung der republikanischen Ideale, die Sandel verteidigt. Diese politische Theorie ergründe ich in der gebotenen Ausführlichkeit, damit es im nächsten Kapitel ein Leichtes ist, aus ihr die republikanische Marktkritik abzuleiten. Anschließend erörtere ich die Konsequenzen der Untersuchung für die von Sandel aufgeworfene Frage, wo die moralischen Grenzen des Marktes zu verorten sind.
I.
Republikanismus nach Sandel
Leitende Annahme Sandels ist die apriorische Vorstellung, dass der Mensch ein primär soziales Wesen ist. Noch vor jeder anderen Eigenschaft, die der Mensch haben könne, sei der Mensch (oder, mit Sandel gesprochen: das Selbst) immer in Abhängigkeit zu anderen Menschen zu denken. 3 Es sei schwierig, sich ein erstrebenswertes Leben ohne Verbindlichkeiten zu anderen Menschen vorzustellen. 4 Der situierte Mensch finde sich denn auch nicht in beliebigen, nicht in irgendwelchen Gruppen ein, sondern in einer besonders engen Gemeinschaft: Das Selbst begreife diese Gemeinschaft sogar als Teil seiner Identität. 5 Auch umgekehrt vertritt Sandel die These, wir gehörten uns nicht selbst, sondern der Gemeinschaft. 6 Für ihre Mitglieder sei die Gemeinschaft daher kein Beziehungsmuster, das sie sich freiwillig aussuchen, sondern eines, das sie entdecken: »Für sie beschreibt Gemeinschaft nicht nur, was sie als Bürger haben, sondern was sie sind […].« 7 Anders als bei der (interessengeleiteten, temporären) Kooperation oder der Assoziation versammeln sich die Menschen in der Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 11–14). Vgl. Sandel (2009; S. 240 f.). 5 Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 181). 6 Vgl. Sandel (2009; S. 69). Übrigens ist mir kein Passus bekannt, in dem Sandel das Verhältnis von individueller und gemeinschaftlicher Identität austariert. Nur in einem Verweis auf die Rousseau’sche Republik verbirgt sich dazu ein Hinweis, denn diese hält Sandel für übermäßig zwangsgeleitet. Mit der Annahme einer strikt gemeinschaftlichen Identität ließe sich diese Kritik aber nicht aufbauen. Vgl. Sandel (1996; S. 319 ff.). 7 Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 150). H. i. O. Hinweis: Alle direkten Zitate sind Übersetzungen des Verfassers. 3 4
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Johannes Fioole
Gemeinschaft aber nicht, um zusammen etwas zu erreichen, zu schaffen oder zu erzielen. Stattdessen ist das Gemeinsame der Ausgangspunkt, die Prämisse. 8 Für Sandel ist die Gemeinschaft sinnstiftend: »Die politische Gemeinschaft ist an die Geschichten gebunden, mit deren Hilfe sich die Menschen ihren Zustand erklären und die Idee des guten Leben, die sie teilen, interpretieren; […] Menschen sind narrative Wesen.« 9 Diese tradierte Geschichten sind also Voraussetzung für Moral, einem weiteren Eckstein der Theorie. Sie ist nicht nur das Fundament einer lebensanschaulichen Grundhaltung, sondern ebenso der soziale Kitt, der die Menschen verbindet. Das Selbst achtet andere Menschen der Gemeinschaft als ebenbürtige Mitglieder dieser (und keiner anderen) Familie, dieser Nachbarschaft, dieser Nation, als Söhne und Töchter dieser Revolution – und als Bürger i. S. v. Citoyen dieser Republik. 10 Der Bürger ist im Republikanismus mehr als nur ein Träger von Rechten.Vielmehr fördert er die Gemeinschaft, kultiviert sie, gestaltet sie aus und reproduziert sie. 11 Tugenden wie Loyalität, Patriotismus sowie Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein sind gefragt. 12 Die herausragende Bürgertugend ist bei Sandel die aktive politische Partizipation: Wenn der Mensch nicht nur Politik delegiert, d. h. politische Repräsentanten wählt, sondern selbst politisch ist, dann ist er ein Bürger. Die Selbstregierung des Bürgers versteht Sandel durchaus substantiell; er stellt sich vor, dass der Bürger politisch informiert ist und sich in die Öffentlichkeit begibt, um mit anderen Bürgern über politische Angelegenheiten zu debattieren – und zu entscheiden. 13 Dabei versuchen die Bürger nicht, ihre subjektiven Präferenzen argumentativ durchzusetzen. Vielmehr begeben sie sich gemeinsam auf die Suche nach intra- oder intersubjektiv geteilter Normativität 14 oder, klassisch republikanisch ausgedrückt: auf die Suche nach dem guten Leben und dem Gemeinwohl. 15 Nach Sandel macht dieses Idealbild – für den Liberalen ist das eine schwer verdauliche Vorstellung – sogar das Wesen der Freiheit aus. Während Freiheit im Liberalismus Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 151 f.). Sandel (1996; S. 350 f.). 10 Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 179). 11 Vgl. Sandel (2005; S. 178). 12 Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 192), (1996; S. 5 f. und 54) sowie (2005; S. 3 und 79). 13 Vgl. Sandel (1996; S. 5 f., 126). 14 Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 62 f., 79 ff., 132 und 144). 15 Vgl. Sandel (1996; S. 5, 7). 8 9
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Sandels republikanische Kritik der Marktmoral
gemeinhin als die Abwesenheit äußerer Hindernisse, Zwänge oder Barrieren verstanden wird, ist Sandels republikanische Freiheit eine Souveränität, nämliche die politische Selbstregierung. 16 Die hier vorgestellte Politikkonzeption ist frappierend aristotelisch, und Sandel verbirgt oder entschuldigt diese ideengeschichtliche Nähe keineswegs, wenngleich sie – trotz der Arbeiten etwa von Hannah Arendt oder Martha Nussbaum – in diesem Grade doch recht ungewöhnlich ist. 17 Ein Epigon ist Sandel aber nicht, entdecken wir bei ihm doch darin eine ganz wesentliche Innovation, dass er seinen Republikanismus als geeignete Korrektur eines vorgeblich schmerzlichen Makels des liberalen Staats versteht. 18 Diesem weltanschaulich neutralen Staat sei es weitgehend gelungen, moralische Debatten und Vorstellungen des guten Lebens aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. 19 Für Sandel aber steht – ich spreche hier kein Geheimnis aus – unumstößlich fest, dass die Politik gerade an einem Mangel an moralischer Diskussion darbe. 20 Diese These wiederholt Sandel blaupausenartig in diversen Publikationen. Die wichtigsten Gründe, die die These stützen sollen, will ich dem Leser nicht vorenthalten, da sie mustergültig unterstreichen, welchen Wert die moralische Deliberation in Sandels Republikanismus hat: 1. Für Sandel steht fest: Diskutieren wir nicht über Moral, dann erodiert sie – und mit ihr die Gemeinschaft, die von ihr zusammengehalten wird. 21 2. Für ihn gibt es eine handfeste Nachfrage nach Moral. Bediene die Politik dieses Verlangen der Bürger nicht, dann füllten engstirnige und intolerante Moralisten und Fundamentalisten das Vakuum. 22 3. Wenn es stimme, dass Menschen gemeinschaftlich-situierte Wesen sind, dann ließe sich Moral nicht subjektiv-monologisch, sondern nur diskursiv denken. Aufgrund ihrer verfehlten Annahme über die Natur der Moral sei dann jegliche Ambition, PoVgl. Sandel (1996; S. 5 f. und 126). Sandel (2009; S. 184–207) schwärmt in nahezu kniefälligem Ton von der aristotelischen Lehre. 18 Das ist natürlich eine dezidiert neuzeitliche Wende, die Aristoteles noch nicht hatte vollziehen können. 19 Vgl. Sandel (1996; S. 6 f.) sowie (2012; S. 13). 20 Vgl. Sandel (2012; S. 13). 21 Vgl. Sandel (1996; S. 3, S. 323). 22 Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 217). 16 17
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Johannes Fioole
litik ohne Moral zu begründen, zum Scheitern verurteilt – das gelte selbst für die feinsinnigen Theorien von Kant und Rawls, so Sandel. 23 Den liberalen Denkern hält Sandel entgegen: »Um eine gerechte Gesellschaft zu erzielen, müssen wir die Bedeutung des guten Lebens gemeinsam erörtern […].« 24 Ohne konjunktive Moral als integratives Bindemittel sei der Mensch auf sich gestellt. Ganz richtig, so Sandel, spüre der Bürger, dass er in seiner Isolation großen, zentralisierten und unpersönlichen Institutionen machtlos ausgeliefert sei. Zu diesen Institutionen zählt Sandel zuvörderst (bundes-)politische Bollwerke, durchaus aber auch die globale Ökonomie, die sich wenig um Nationen und Nachbarschaften schere. 25
4.
II.
Die Trennung von Gemeinschafts- und Marktmoral: ein Ergründungsversuch
So viel zur politischen Theorie. Der Weg von Sandels Problematisierung des politischen Liberalismus hin zu dessen Ökonomiekritik besteht nunmehr nur noch aus simplen Deduktionsleistungen. Bevor ich mich ihnen widme, sei aber noch auf eine andere wichtige Erkenntnis des vorangehenden Kapitels hingewiesen. Sandel, und das ist heute nicht mehr selbstverständlich, denkt die Wirtschaft und die Politik nicht als gleichwertige Sphären oder Systeme, sondern nimmt einen Primat der Politik an. Die Politik sei schließlich unentbehrlich für ein glückliches und geglücktes Leben, mehr noch: Wie wir gesehen haben, ist die Politik bei Sandel durchaus konstitutiv für das Mensch-Sein schlechthin. Folgerichtig fragt Sandel häufig, unter welchen ökonomischen Arrangements die Selbstregierung und die Bürgertugenden optimal florieren können. 26 In seiner Monographie Democracy’s Discontent und in den Essays on Morality in Politics zeigt Sandel deshalb anhand von historischen US-amerikanischen Debatten, dass diese Frage nach der richtigen Marktordnung einst allgegenwärtig war – durchaus präsentiert er uns diese Debatten mit der
23 24 25 26
Vgl. Sandel (2009; S. 240–243). Sandel (2009; S. 261). Vgl. Sandel (1996; S. 339). Vgl. Sandel (1996; S. 6) und (2005; S. 58).
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Sandels republikanische Kritik der Marktmoral
Absicht, den uns vertrauten Fokus auf Größe und Verteilung des BIP als kontingent erscheinen zu lassen. 27 Doch was genau macht den Markt aus Sandels Sicht so bedrohlich? Ich denke, es lassen sich zwei Wesensunterschiede zwischen der Gemeinschaftsmoral und der Marktmoral identifizieren. Zunächst ist hier, analog zum politischen Liberalismus, der subjektive Charakter der Marktmoral zu erwähnen. Tauschhandlungen am Markt sind auf subjektive Entscheidungen von Individuen zurückzuführen, sind Ergebnisse individueller Kosten-Nutzen-Abwägungen auf Grundlage von subjektiven Präferenzen. Schon aufgrund dieser Grundkonstellation muss es aus Sandels Sicht als intrinsisches Manko des Marktes gelten, kein geeigneter Ort für republikanische Deliberation, geschweige denn fruchtbarer Boden für bürgerliche Tugendpflege zu sein. Das erklärt, weshalb wir bei Sandel keine positiven Beispiele eines werteproduzierenden Marktes finden. Wie sollte der Markt auch normativ hochgradig anspruchsvolle Bürgertugenden liefern können? »Wer annimmt, alle Werte seien bloß subjektive Präferenzen, die vernunftgeleiteter Erörterung nicht zugänglich sind, mag die Behauptung als abwegig ansehen, einige Verfahren zur Bewertung von Gütern seien angemessener, passender oder moralisch vertretbarer als andere. Aber entsprechende Beurteilungen sind unvermeidlich«, schreibt Sandel (MS 14). Nun muss natürlich auch bei Sandel nicht jede Tauschhandlung die Republik retten. 28 Sobald jedoch die gemeinschaftliche, nur diskursiv verhandelbare Moral auf dem Spiel steht, fällt der Kontrast zwischen Markt- und Gemeinschaftsmoral ins Gewicht. Angemessen wäre hier nach republikanischer Logik ein kollektiv-deliberativer Entscheidungsmodus unter Bürgern, die, in Sandels Worten, eine Art Freundschaft verbindet. 29 Die Marktmoral aber sieht für möglicherweise moralisch sensible Güter keine solche Deliberation vor; nach ihr kann der Markt Menschen isolieren und sie in die Lage versetzen, subjektive Entscheidungen über etwas zu treffen, was laut Sandel gar nicht subjektiver Natur ist. Da die Marktmoral aber selbstredend eine empirische Relevanz hat, kann Sandel nur
Vgl. Sandel (2005; S. 7). Einen Markt etwa für Luxusgüter hält Sandel (2012; S. 8) für unbedenklich. 29 Vgl. Sandel (1982, 1998; S. 180). Nebenbei bemerkt: Das ist eine Feststellung, die durchaus im Einklang mit der These steht, es sei gerade ein Vorzug des Marktes, Fremde zusammenzubringen. Vgl. Pies (2015). 27 28
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leidvoll beklagen: »Wir erreichten diesen Zustand [der Marktgesellschaft, JF] nicht aufgrund einer wohlüberlegten Entscheidung. Fast wirkt es so, als sei er über uns gekommen.« 30 Die zweite Lücke zwischen Markt und Gemeinschaft ist der Prozeduralismus (synonym auch: Verfahrensethik). Der Kerngedanke prozeduralistischer Ethiken ist der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Alles, was konform zu bestimmten Regeln und Verfahren ist, gilt als recht oder richtig. Viele zeitgenössische Theorien des politischen Liberalismus unterstellen, dass Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Moral (des Guten) haben. Damit trotzdem ein konfliktfreies Zusammenleben möglich ist, müssen sich, so der Gedanke, die Menschen an ein Mindestmaß an Regeln halten. Tun sie das, handeln sie richtig und gelten ihre Vorstellungen aus Sicht des liberalen Staats als akzeptabel, aber nicht als moralisch gut oder schlecht. Der aufmerksame Leser ahnt bereits die Position Sandels: Die hier dargestellte Distanz zur Moral ist mit dem Appell unvereinbar, über das gute Leben zu diskutieren. Mehr noch, Sandel ist Anfang der 1980er Jahre mit einem eleganten Argument gegen die Verfahrensethik berühmt geworden, das das Rawls’sche Differenzprinzip als unvollständig erscheinen ließ. Menschen, die gemäß den Regeln des Differenzprinzips etwas von ihrer Macht oder ihrem Reichtum abgeben müssen, bedürfen dazu eines Motivs. Die philosophische Begründung von Rawls – sei sie noch so stichhaltig – hält Sandel für wenig motivierend, und Zwang staatlicher Institutionen sei mit den Grundsätzen des Liberalismus unvereinbar (Zweck-Mittel-Problem). Ergo stütze sich Rawls’ liberale Theorie auf den moralischen Bürger, der es als seine Pflicht ansieht, auf unberechtigte Privilegien Verzicht zu tun. Mit einem Wort: Das klaffende Motivationsproblem zeige, dass der Prozeduralismus entgegen seiner eigenen Prämissen auf Vorstellungen des Guten angewiesen sein könnte. 31 Dieses Argument überträgt Sandel nicht verlustfrei auf den Markt. Eine Umsetzung der Rawls-Kritik im Maßstab eins-zu-eins hätte Sandel wohl zur hayekianischen Schlussfolgerung gezwungen, von Marktteilnehmern, die liebgewonnene Privilegien abgeben müssen oder im Spiel des Markts verlieren, Moral einzufordern. 32 Zu Sandel (2012; S. 5). Vgl. ausführlicher Sandel (1984). 32 Vgl. Hayek (1966, 1969; S. 122): »Die aggregierten Resultate dieses Spiels [der Marktordnung, JF] und die Anteile jedes einzelnen an diesen Resultaten sind nur 30 31
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Sandels republikanische Kritik der Marktmoral
dieser reizenden Verflechtung höchst divergierender Theoriestränge lässt Sandel sich jedoch nicht verleiten. Gleichwohl erkennt er, dass Ethiken des Markts regelmäßig prozeduralistischen Logiken folgen. Eine Transaktion gilt demzufolge dann als recht oder richtig, wenn Regeln wie Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft, Freiwilligkeit der Transaktion, Mündigkeit der Marktteilnehmer und dergleichen mehr gewährleistet sind – und doch könne ein solcher Tausch Sandel zufolge zu beanstanden sein. 33 Zum einen, so argumentiert er, könnten die Regeln der Verfahrensethik sich einer Wertedebatte nicht verschließen, weil sie nicht wertneutral und folglich jederzeit anfechtbar seien. 34 Zum anderen sei der prozeduralistische Blick im Falle moralisch heikler Transaktionen zu distanziert, um sie adäquat bewerten zu können. Aufgrund dieser moralischen Enthaltsamkeit gängiger Marktethiken – es muss kaum mehr erwähnt werden – bedürfe es einer Diskussion über die moralischen Grenzen des Markts – das ist ein Plädoyer, das Sandels Texte wie ein roter Faden durchzieht. So schreibt er: »Heute beschränkt sich die Logik des Kaufens und Verkaufens nicht länger auf materielle Güter allein […]. Es ist an der Zeit zu fragen, ob wir so leben möchten.« 35
III. Die republikanischen Grenzen des Marktes Nun deutet Sandel in nahezu jeder Kasuistik zu Markt und ökonomischem Denken eine mögliche moralische Grenze an, und nur selten verrät der Autor uns seinen eigenen Standpunkt ausdrücklich. Doch der Sandel’schen Mäeutik, also dem sokratischen Fragespiel, das den Leser gleich einer Geburtshilfe zur Erkenntnis führen soll, zum Trotz: Ich denke, eine moralische Grenze des Markts verortet Sandel in aller Deutlichkeit. Sie dürfte Sandel auch gleich die bedeutsamste sein: die politische Selbstregierung des Bürgers. Was spricht für diese These? Erstens haben wir festgestellt, dass Sandel die republikanisch verstandene Politik von diversen Marktmechanismen bedroht sieht. deswegen so groß, wie sie sind, weil wir uns darauf geeinigt haben, dieses Spiel zu spielen. Und nachdem wir uns einmal auf dieses Spiel eingelassen haben und aus ihm Gewinn zogen, sind wir moralisch verpflichtet, Änderungen auch dann hinzunehmen, wenn sie sich gegen uns richten [Hervorh. JF].« 33 Vgl. Sandel (2012; S. 28–32). 34 Hier scheint mir der Keim von Sandels Ökonomik-Kritik zu verorten zu sein. 35 Sandel (2012; S. 6).
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Zweitens steht, auch das haben wir rekonstruiert, die Politik im Mittelpunkt von Sandels Aufmerksamkeit. Drittens ist die politische Selbstregierung Voraussetzung für das Diskutieren über jede andere moralische Grenze des Marktes. Schließlich finden wir bei Sandel, anders als bei anderen möglichen moralischen Grenzen des Markts, vergleichsweise konkrete Vorstellungen darüber, wie sich sein republikanisches Freiheitsideal revitalisieren lasse. 36 Da ist etwa von einer Gleichheit der Bürger als Bürger die Rede: »Die Demokratie verlangt keine perfekte Gleichheit. Sie bedingt jedoch sehr wohl, dass die Bürger an einem gemeinsamen Leben teilhaben.« 37 Einerseits schließt dieses gemeinsame Leben eine extreme ökonomische Ungleichheit aus, da diese den Charakter sowohl der reichen als auch der armen Bürger korrumpiere und eine Gesellschaft der Extreme den Geist der Freundschaft zwischen den Bürgern unterminiere. Auch bedürfe es eines Mindestmaßes an ökonomischer Sicherheit, damit der Bürger mit seiner Freiheit auch bedeutungsvolle Entscheidungen treffen könne. 38 Andererseits heißt es: »Je mehr man für Geld kaufen kann, desto seltener werden die Gelegenheiten, in denen sich Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten begegnen.« 39 Es spalte die Gemeinschaft, wenn öffentliche Räume wie Verwaltungen, Schulen, Parks, Büchereien oder öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr von allen Bürgern genutzt würden. 40 Die neue Souveränität des Bürgers will Sandel lokal eingerichtet wissen – zerstreut und dezentralisiert, aber wirkungsmächtig. Schließlich zeigten uns transnationale Großprojekte wie die EU eindrucksvoll, dass sich bürgerliche Souveränität nicht ohne weiteres nach oben verlagern lasse, weil parallel zu jeder Abstraktion von republikanischer Freiheit die Bindungskraft der gemeinsamen Identität abnehme. 41 Doch auch die US-amerikanische Gesellschaft bestehe aus lauter Individuen, die zwar Träger von Rechten sind und sich moralisch ungebunden fühlen, aber im Laufe des 20. Jahrhunderts all ihre demokratischen Partizipationsmöglichkeiten zugunsten von juristischen und bürokratischen Großinstitutionen aufgegeben hätten. 42 36 37 38 39 40 41 42
Vgl. Sandel (1996; S. 317). Sandel (2012; S. 203). Vgl. Sandel (1996; S. 329–332). Sandel (2012; S. 202). Sandel (1996; S. 333). Vgl. Sandel (1996; S. 339 und 345). Vgl. Sandel (1984; S. 94).
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Sandels republikanische Kritik der Marktmoral
Weitere Konkretisierungsvorschläge, die diese etwas nebulöse Grundposition präzisieren (etwa mit Ideen über Diskursmodi oder über materielle wie formale Entscheidungskompetenzen), suchen wir bei Sandel vergebens. Sandel lässt dadurch recht offensichtliche Anwendungsprobleme seiner hier als Hochglanzversion resümierten Theorie unkommentiert. Er immunisiert sich so gegen mancherlei philosophische Rätsel, die mit jedem noch so zaghaften Vorschlag für die Praxis vorprogrammiert wären. Die Umsetzung republikanischer Theorie ist gleichwohl nicht nur ein blinder Fleck Sandels – sie gehört zu den zahlreichen Standardaporien der Konzeption per se, die auch andere republikanische Denker von Ansehen wie Charles Taylor, Quentin Skinner oder Philip Pettit wenig überzeugend in den Griff bekommen haben (und Jürgen Habermas nur mit einer Institutionenethik, die nach Sandel’schem Maßstab undemokratisch sein müsste). Indes, dem Nimbus republikanischer Theorie hat das bislang noch keinen Abbruch tun können, gilt doch der Republikanismus in politik-theoretischen Kreisen längst als intellektuell akzeptable Alternative zum Liberalismus – aus Gründen, die nicht die meinen sind.
Literatur Hayek, Friedrich A. von (1966, 1969): Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: Ders.: Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen, S. 108–125. Pies, Ingo (2015): Solidarität unter Fremden, in: Ders. (Hrsg.): Der Markt und seine moralischen Grundlagen, Freiburg und München: Karl Alber, S. 111– 122. Sandel, Michael J. (1982, 1998): Liberalism and the Limits of Justice, 2. Aufl., Cambridge. Sandel, Michael J. (1984): The Procedural Republic and the Unencumbered Self, in: Political Theory 12 (I), S. 81–96. Sandel, Michael J. (1996): Democracy’s Discontent. America in Search of a Public Philosophy, Cambridge, London. Sandel, Michael J. (2005): Public Philosophy. Essays on Morality in Politics, Cambridge, London. Sandel, Michael J. (2009): Justice. What’s the Right Thing to do?, London. Sandel, Michael J. (2012): What Money Can’t Buy. The Moral Limits of Markets, London. Sandel, Michael J. (2013, 2016): Marktdenken als Moraldenken. Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten, in diesem Band.
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Marktdenken und Politikdenken
1.
»Marktdenken« und »Kommerzialisierung«
Sandel sieht im Marktdenken (Market Reasoning) Defizite beim Moraldenken. Er sucht nach einer Alternative, die mehr oder anderes Denken aus der Politischen Philosophie (Political Philosophy) einbringen soll. Marktdenken beruht auf folgenden Festlegungen, die für die weiteren Überlegungen wichtig sind: Güter sind Waren, also käufliche und verkäufliche Dinge. Die Kooperation zwischen den Personen im Markt findet durch ihre eigenen autonomen Entscheidungen statt, und zwar im Wettbewerb über Angebot und Nachfrage der Waren. Die Bereitstellung des Angebots ist gekoppelt an Eigentum, Produktionsentscheidungen und Produktionskosten. Die Nachfrage hängt ab von individueller Kaufkraft und individuellen subjektiven Nutzenkriterien, letztlich also vom Geschmack der Personen. Auf der Angebots-Seite suchen die Personen Gewinnmaximierung, auf der Nachfrage-Seite Nutzenmaximierung. Die Resultate sind effizient. Die ethischen Maßstäbe lauten: Das Eigentum anderer wird respektiert; Verträge kommen freiwillig zustande und sollen erfüllt werden; die Art der Verteilung – egalitär oder unterschiedlich – unterliegt keinen ethischen Kriterien einer distributiven Gerechtigkeit 1. Das Problem des Marktdenkens, das Sandel beschreibt, liegt in der Kommerzialisierung bestimmter Güter, die nicht Waren sein sollten: Persönliche Beziehungen wie Freundschaft und Liebe etwa sollten ebenso wenig zur Ware werden wie Bildung, öffentliche SicherDie Terminologie von Aristoteles aus der Nikomachischen Ethik ist nach wie vor zentral: Distributive Gerechtigkeit bezeichnet die Verantwortung des Staates gegenüber den Bürgern. Wem soll was gegeben werden und warum? Sie ist eine asymmetrische Angelegenheit. Kommutative Gerechtigkeit hingegen ist eine symmetrische Angelegenheit, sie fragt danach, wie sich Personen gegenüber ihresgleichen verhalten sollen. Im Markt geht es um kommutative Gerechtigkeit.
1
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Marktdenken und Politikdenken
heit oder Rechtsprechung. Derartige Güter sollten Sandel zufolge nicht käuflich werden, zumindest nicht völlig. Es geht in seiner Kritik der Kommerzialisierung sowohl um die Gründe der Bereitstellung solcher Güter als auch um den Zugang zu ihnen und um ihre Verwendung. So sieht es Sandel, wenn er den »Kommerzialisierungseffekt« bei Hirsch zustimmend anführt als »Wirkung auf die Merkmale eines Produkts, wenn seine Bereitstellung ausschließlich oder vorwiegend unter kommerziellen Bedingungen erfolgt und nicht auf einer anderen Basis beruht« (MS 69). Der alternative Blick, in dem Güter nicht Waren sein sollen, ist am extremsten und bekanntesten in der Darstellung von Karl Marx. In einer ethisch akzeptablen, nicht kommerzialisierten Gesellschaft gilt: Jeder soll nach seinen Fähigkeiten Güter produzieren bzw. bereitstellen, und jedem sollen nach seinen Bedürfnissen Güter zugeteilt werden. 2
2.
Sandels Einschränkung auf das Thema
Sandels Thema in dem zu kommentierenden Artikel ist vor allem der Zugang zu kommerzialisierten Gütern, ihre Abhängigkeit von Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit und die daraus erwachsenden ethischen Probleme der Zuteilungsverfahren. Die Bereitstellung der Güter hingegen, wo sie herkommen und wie etwa ihre Produktionsentscheidung sein könnte, ist bei ihm kein Thema. Zumindest ist das für ihn nicht so bedeutsam wie das Thema des Zugangs. Seine Beispiele zeigen es: Ob es um die Zuhöreranzahl in Ausschuss-Sitzungen des Senats geht, um die Quote der Walrosse, die erlegt und verbraucht werden dürfen, um Nieren, die ersetzt werden, oder um die Zahl der Kinder, die Eltern haben dürfen – Sandel spricht nicht darüber, wie, warum und in welchem Umfang die Güter bestehen Den weiteren Zusammenhang mit einer gewollten Rechtsordnung beschreibt Marx (1875, 1974; S. 21) so: »Das gleiche Recht ist hier [in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, R. Z.] … immer noch das bürgerliche Recht. […] Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. […] Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. […] Um alle diese Missstände zu vermeiden, müsste das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein. […] In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft […] – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«
2
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oder entstehen (technisch, individual-ethisch, politisch etc.). Für ihn ist allein ausschlaggebend, wer wie viel von ihnen bekommt bzw. bekommen soll. Damit schaut Sandel also nicht auf die Kommerzialisierung des gesamten Wirtschaftsprozesses, sondern nur auf die eine Hälfte, die Nachfrage, nicht auf das Angebot. Nun ist diese Fokussierung unproblematisch, wenn eine vollständige Kommerzialisierung stattgefunden hat, der dieselbe Ethik zugrunde liegt, bei der also überall der Preismechanismus wirkt. Aber wie ist es, wenn das nicht der Fall ist? Können die ethischen Fragen des Zuteilungs-Prozesses, der bei Sandel hier untersucht und kritisiert wird, einseitig bleiben? Kann etwa dort, wo es nicht von Haus aus um den Markt geht, das Moraldenken über Bereitstellung und Verwendung als entweder komplett gleichartig oder aber als komplett separat angesehen werden? Oder gibt es nicht vielleicht unterschiedliche ethische Maßstäbe, zwischen denen Wechselwirkungen wünschenswert wären? Zunächst wird betrachtet, welche Aspekte der Bereitstellung jenseits des Marktes vorstellbar sind.
3.
Woher kommt die Bereitstellung der betrachteten Güter?
Drei Prozesse der Bereitstellung lassen sich unterscheiden: 1. Manche Güter sind einfach vorhanden, gewissermaßen naturgegeben: die vorhandene Menge der Walrosse beispielsweise oder ein schöner Sandstrand. Falls diese Güter von Menschen gefunden oder bewirkt wurden, standen am Anfang zunächst keine zielorientierten Entscheidungen über Einkommen oder Nutzen. 2. Andere Güter kommen aus individuellen Entscheidungen mit aggregierten Folgen (in »spontaner Ordnung« 3) zustande: die Anzahl der Kinder oder die Anzahl gesunder Nieren beispielsweise. 3. Schließlich können Güter aus expliziten kollektiven Entscheidungen (»Planung«) entstehen, wobei unterschiedliche Gründe wirksam werden: die Größe des Raums der Senatssitzung, die Abschussquote der Walrosse beispielsweise. Die expliziten kol»Spontane Ordnung« ist ein Aggregat individueller Entscheidungen – Arbeitslosigkeit, Inflation, Stau morgens und abends; »Planung« ist demokratische oder autokratische Entscheidung über Krieg, Frieden, Steuern. Vgl. Hayek (1960, 1971; vor allem die Kapitel 2 und 10).
3
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Marktdenken und Politikdenken
lektiven Entscheidungen über ihre Bereitstellung sind offensichtlich im Kern politische Entscheidungen. Betrachtet wird zunächst die dritte Sorte, die politischen Entscheidungen: Bei solchen Entscheidungen der Bereitstellung wird unvermeidlich darüber nachgedacht, welches die ethischen Maßstäbe sind. Dabei geht es um die direkte Wirkung der Güter auf Personen; die Kriterien sind hier vor allem Notwendigkeit, Bedarf, Mindestniveau, Fairness, Belohnung, Anerkennung. Darüber hinaus können auch die externen Effekte der Güter ethische Gesichtspunkte haben. Die positiven externen Effekte (etwa: die individuelle Bildung trägt zur Produktivität der Gesellschaft bei) wie die negativen externen Effekte (etwa: das individuelle Auto trägt zum morgendlichen Stau bei) können politisch unterstützt oder beschränkt werden. Alle Kriterien können in unterschiedlichen Verbindungen und Gewichtungen angesetzt werden. Auch die Meinungen der entscheidenden Personen über all das können unterschiedlich sein. Daraus entstehen dann u. a. politische Diskussionen, Konflikte und Kompromisse. Kostenüberlegungen sind für die Bereitstellungs-Entscheidungen durchaus relevant. Es gibt nur sehr wenige Situationen, in denen eine Bereitstellung ohne jede Begrenzung der Kosten entschieden wird. Bei diesen Grenzfällen – »Koste es, was es wolle« – handelt es sich um singuläre »Tragic Choices« 4. In jedem sonstigen Fall ist den Beteiligten bekannt, dass die verfügbaren Mengen endlich sind, und sie müssen entscheiden, welche Prioritäten gelten sollten und warum. Kosten – etwa die Produktionskosten – sind ein denkbarer Gesichtspunkt. Sie sind aber nicht der allein entscheidende Grund. Bei den politischen Entscheidungen sind also nicht nur die ethischen Überlegungen über die Maßstäbe des Zuganges wichtig, sondern auch solche über die Maßstäbe der Bereitstellung. Hier kann sehr wohl die Zugangsethik verknüpft sein mit der Bereitstellungsethik, einfach oder kompliziert. Wie steht es bei den beiden anderen Bereitstellungen – durch Natur und durch spontane Ordnung? Bei den Gründen dieser Bereitstellung wird die politische Ethik sich eher zurückhalten. Bei der Natur ist das sowieso klar, und bei der spontanen Ordnung sind zunächst die Rechte der Individuen zu respektieren. Aber die Konsequenzen beider Sorten von Bereitstellungen können die politische Ethik betreffen. Es kann ja auch bei solchen Gütern Gesichtspunkte von Fair4
Vgl. Calabresi und Bobbit (1978; S. 19 ff.).
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ness geben, und die externen Effekte könnten auch dort wichtig sein. Gelegentlich wird man sicherlich entscheiden, dass die jeweiligen individuellen Entscheidungen komplett unbehelligt bleiben sollen und keine politische Einmischung über Bereitstellung oder Zugang erfolgt. Aber auch diese Entscheidung ist eine politische Entscheidung. Immer wird also politisch entschieden, ob, wie und wann Restriktion, Subvention, Unterstützung, Kostenersatz notwendig und durchzusetzen ist – sei es bei Fragen der Luftqualität oder Verkehrsdichte, bei der Regelung des Fischfangs oder der Kinderzahl. Wenn es also bei den Gütern, die Sandel beschreibt, ethische Gesichtspunkte auf der Seite der Bereitstellung gibt, dann gibt es keinen guten Grund, sie aus den Fragen des Zugangs zu Gütern auszublenden. Die ethischen Grundlagen der Bereitstellung sind nicht ethisch irrelevant für die Ethik des Zugangs: Einerseits haben die Eigenschaften der Bereitstellung Folgen für die Auswahl des Zugangsverfahrens, andererseits haben die Eigenschaften des Zugangsverfahrens Folgen für die Bereitstellung. Also weiter, zur Seite des Zugangs:
4.
Der Zugang und die Zuteilung bereitgestellter Güter
Die politische Entscheidung über die Zuteilung von Gütern kann auf unterschiedliche Weise stattfinden. Das Verfahren kann abhängig sein vom Bedarf, von der Kaufkraft, von ehrenvollem Verdienst, von persönlichen Beziehungen und schließlich unpersönlichen Mechanismen wie einer Warteschlange oder Lotterie anheimgestellt sein. Die Auswahl ist ein Thema der Gerechtigkeit, der distributiven Gerechtigkeit. Sie kann nur im Rahmen einer politischen Entscheidung erfolgen. Welches Verfahren man am besten bei einem bestimmten Gut auswählt, ist nicht evident. Und keinesfalls ist ein bestimmtes Verfahren grundsätzlich das beste oder schlechteste. Bei der Entscheidung über das Zugangsverfahren werden Gründe der Bereitstellung sicher auch eine wichtige Rolle spielen, aber eben nicht die einzige. Und oft genug mag es auch so sein, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Kriterien wichtig finden und zu ganz unterschiedlichen Rangordnungen der Verfahren kommen. Speziell zum Thema Kommerzialisierung lässt sich sagen: Der Preismechanismus mag manchmal am besten sein, aber manchmal 132 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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auch inakzeptabel. Es wäre kaum plausibel, den Preismechanismus immer als das beste und gerechte Verfahren zu betrachten, egal um welches Gut es geht – das wäre dummes Marktdenken. Inakzeptabel wäre es ebenfalls, den Preismechanismus niemals als gerechtes Verfahren anzusehen, bei keinem denkbaren Gut – das könnte man dummen Kommunismus nennen. Besser ist es, auf die Vielschichtigkeit des Problems einzugehen: Gegenüber der Gruppe der diversen Zugangsverfahren ist eine zweite Dimension zu berücksichtigen, nämlich die der denkbaren Folgen wie Effizienz, Fairness, Korruption, externe positive Effekte (Wachstum, Umweltschutz, Gemeinwohl), externe negative Effekte (vor allem: moralische Erosion). Die zweidimensionale Matrix von Verfahren und Folgen sollte auf das jeweilige Gut angewendet werden. Das Bild wird dann bei unterschiedlichen Gütern unterschiedlich aussehen. Das beste Verfahren wird nicht immer leicht zu identifizieren sein. Wenn beispielsweise ein bestimmtes Gut durch den Preismechanismus hohe Effizienz, großes Wachstum, wenig Fairness und zugleich hohe negative externe Effekte mit sich bringt, und wenn dasselbe Gut durch das Warteschlangeverfahren wenig Effizienz, wenig Wachstum, hohe Fairness und keine negative externe Effekte aufweist – dann fällt die Entscheidung nicht leicht. Bei manchen Gütern wird man dann den Preismechanismus verwerfen, obwohl ihn einige Preisoptimisten wünschen. Bei anderen Gütern wird man ihn zulassen oder unterstützen, obwohl ihn einige Preispessimisten ablehnen. Die politische Entscheidung muss abwägen. Ihre Qualität besteht nicht darin, inhaltlich »richtig« zu sein, sondern darin, im Abwägen die Argumente transparent zu machen.
5.
Sandels Ausschnitt
Sandels Beispiele zeigen, dass der politisch gewählte Preismechanismus wichtige ethische Probleme aufwerfen kann, die man oft übersehen hat. Was Sandel vor allem leistet, ist eine Erweiterung des Blickes: Es geht nicht nur um die Beurteilung der Nutzung der Güter, sondern auch um den Umgang mit ihnen. Die eigentliche Verwendung der erlegten Walrosse, die bei den Inuit bleiben, ist unabhängig davon, ob die Eskimos selbst gejagt haben oder ob jemand Walrosse jagte, der nur töten wollte und nur das bezahlte. Aber die Art des Erlegens könnte die Kultur der Inuit verändern. 133 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Was Sandel anspricht, ist wichtig und auch einleuchtend. Was aber in seiner Argumentation fehlt, ist die Betrachtung oder der Vergleich, wann welches Verfahren bei einem Gut welche Auswirkungen auf die beteiligten Personen hat. Solange diese Analyse ausbleibt, kann nicht behauptet werden, dass der Preismechanismus immer schädlich ist – folglich bleibt die Kritik der Kommerzialisierung unvollständig. Ein Beispiel ist etwa Sandels Beschreibung des Verbrauchs und der Übernutzung der Moral selbst (vor allem MS 78 ff.). Es gibt einen solchen Fall, aber er bedeutet nicht, dass die Moral überall zu einer Ware geworden ist. Vielmehr wäre es nötig zu diskutieren, ob und aus welchen Gründen und in welchen Situationen die Kommodifizierung geschieht. Passiert etwa im Habitus der Personen immer ein Trade-off von intrinsischer Moral und externen Anreizen, wenn man einen Preismechanismus anwendet? Sind nicht auch komplementäre Beziehungen denkbar – je nachdem, welches die speziellen ethischen Bereitstellungsgründe der politischen Entscheidungen sind? 5 Gelegentlich unterschätzt Sandel auch die Überlegungen, die zu politischen Entscheidungen führen, oder nimmt sie nicht ernst. Seine Betrachtung über Geldbußen und Gebühren zeigt das deutlich (MS 38 ff.): Geldstrafen gab es immer schon, Verbrecher wurden nicht nur körperlich bestraft, in den Kerker geworfen oder an den Galgen gehängt. Geldstrafen bestanden mit und ohne Markt oder Marktdenken. Politisch wurden Geldbußen nicht als Preismechanismus angesehen, sondern als Einschnitt oder sogar Vernichtung des Wohlstandes und als Pranger. Und wenn nun das neue Marktdenken in einer schlecht überlegten normativen Ökonomik – »smart« – dazu führt, dass etliche Personen nur rechnen, ob es sich lohnt oder nicht, und dass solche Gebühren keinesfalls ein Pranger sind, sondern eher das Gegenteil: Dann überlegt sich der politische Prozess ja durchaus, wie man die Regeln so umgestalten kann, dass wieder besser erkennIm Sinne von Adam Smiths Betrachtung: Aus seiner Sicht bedarf es des Zusammenspiels von interner Kontrolle (impartial spectator) und externer Kontrolle der Moralität. Wenn es keinen inneren Schiedsrichter mehr gibt, funktioniert der Markt nicht mehr – zu oft kann man Regeln verletzen, wenn man nicht gesehen wird. Aber wenn jemand Selbstkontrolle besitzt, muss er dennoch erwarten können, dass eine externe Instanz die Gewissenlosen sanktioniert. Nur dann kann man sich moralisch selbst zähmen und muss sich nicht als naiv ansehen. Vgl. zuerst Smith (1759, 1977) und erst danach (1776, 1974).
5
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Marktdenken und Politikdenken
bar ist, worum es geht. 6 Das Denken der Politik über Geldbußen war und ist kein Marktdenken, sondern ein philosophisches Denken. Die Kritik an Sandel kann vielleicht so zusammengefasst werden: Sein eindringlicher Blick auf Probleme ist überzeugend, seine impliziten theoretischen Verallgemeinerungen des größeren Kausalzusammenhangs sind es jedoch noch nicht.
6.
Marktdenken und Politische Philosophie
Am Ende noch einige grundsätzliche Überlegungen: Wie steht es mit dem Moraldenken des Marktdenkens als Alternative zur Politischen Philosophie? Es ist unbestreitbar, dass es einen Tunnelblick auf den Wettbewerb gibt, der unsäglich dumpf ist. Es gibt eine breite Zustimmung, auch unter Ökonomen, dass ein differenzierter Blick nötig und wünschenswert ist. Zugleich besteht aber das Risiko skeptischer Reaktionen, sobald die kritischen Konsequenzen so verstanden werden, dass es nun »gegen den Markt« geht und »für die Politik«, die alles besser machen soll und kann. Stellenweise klingt auch Sandels Argumentation danach. 7 Man kann seinen Text aber auch so verstehen, dass in ihm zwei Dimensionen von Politik zur Sprache kommen: Zum einen die der verbindlichen Kollektiventscheidungen einer Gesellschaft, demokratisch oder nicht. Die Alternative zu dieser Sorte von Entscheidungen sind die Entscheidungen der Individuen, allein oder freiwillig gemeinsam. Sie betreffen im Wesentlichen die gesellschaftlichen Kernbereiche Politik und Wirtschaft, den Markt. Neben und über diesen beiden Feldern existiert aber eine weitere Ebene – die der Gestaltung der Spielregeln des Zusammenlebens. Auch das ist Politik, aber eine andere Sorte. Hier geht es um die Rechtsgrundlagen – denen die Entscheidungen des Willens zu folgen haben. Rechts-, Verfassungs- und Ordnungspolitik muss ethischen Vorrang vor den gesellschaftlichen Kernbereichen haben. 8 Adam Smith würde sich die Haare raufen bei dem, was da »smart« genannt wird. Und er hat ja ganz gut gewusst, was Marktdenken sein könnte und sollte. Siehe u. a. Herman, A. (2001); McCloskey, D. (2006); Rothschild, E. (2001). 7 Vgl. hierzu den Beitrag von Fioole (2016) in diesem Band – über liberale versus republikanische Maßstäbe bei Sandel. 8 Vgl. auch Zintl (2006/2007). 6
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Reinhard Zintl
Wenn man Sandel so liest, geht es weniger um die »Ökonomisierung der Politik« oder die »Politisierung der Ökonomik«. Es geht ihm dann nicht um ein ökonomisches Denken als Alternative zum politischen Willens-Denken, sondern um die Einbettung des ökonomischen Denkens in das politische Rechts-Denken – um politische Philosophie.
Literaturhinweise: Aristoteles (o. J.): Nikomachische Ethik, Buch V (beliebige Ausgabe). Calabresi, G., Bobbitt, Ph. (1978): Tragic Choices, New York. Elster, J. (1990): »Local Justice« in: Arch. Europ. Sociol. Vol. 31, S. 117–140. Fioole, J. (2016): »Sandels republikanische Kritik der Marktmoral«, in diesem Band. Hayek, Friedrich A. von (1960, 1971): Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Herman, A. (2001): How the Scots Invented the Modern World, New York, Three Rivers Press. Hirsch, F. (1980): Die sozialen Grenzen des Wachstums, Reinbek. Kliemt, H. (1993): »Gerechtigkeitskriterien« in der Transplantationsmedizin – Eine ordoliberale Perspektive in: E. Nagel, Ch. Fuchs (Hrsg.), Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, Berlin/ Heidelberg, S. 262–283. Marx, K. (1875, 1974): Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer Programms) Berlin. In: MEW, Bd. 19, S. 15–32. McCloskey, D. (2006): The Bourgeois Virtues: Ethics for an Age of Commerce, Chicago, University of Chicago Press. Rothschild, E. (2001): Economic Sentiments: Adam Smith, Condorcet, and the Enlightenment. Cambridge, Harvard University Press. Scanlon, T. M. (1998): What We Owe to Each Other, Cambridge. Smith, A. (1759, 1977): Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg, Meiner. Smith, A. (1776, 1974): Der Wohlstand der Nationen – Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München, Beck. Zintl, R. (2006/2007): Das Verhältnis von Markt und Politik. In K. Graf Ballestrem et al. (Hrsg.), Jahrbuch Politisches Denken 2006/2007, Berlin: Duncker & Humblot, S. 79–95.
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Ingo Pies
Michael Sandels Fairness-Argument, sein Korruptions-Argument und die Kategorie ökonomischer Effizienz In seinem Aufsatz vertritt Michael Sandel die These, die Ökonomik solle sich ihrer historischen Wurzeln besinnen, die im Bereich der Ethik und der Politischen Philosophie liegen. Sie solle sich nicht nur (vermeintlich wertneutral) mit Fragen der Effizienz, sondern auch wieder mit explizit normativen Fragen beschäftigen, und dies gleich aus zwei Gründen. Den ersten bezeichnet er als Fairness-Argument, den zweiten als Korruptions-Argument. • Das Fairness-Argument besagt, dass bei der marktlichen Allokation von Gütern mittels Preismechanismus ein Gerechtigkeitsproblem auftreten kann, weil reiche Personen sich von diesem Gut mehr leisten können als arme Personen. Faktisch bestehe dann Ungleichheit (MS 11). • Das Korruptions-Argument besagt, dass die Einführung von monetären Preisen negative Auswirkungen auf die Wertorientierung von Bürgern auszuüben vermag und dass es infolgedessen zu einer Erosion moralischer Normen kommen kann (MS 12). Ferner vertritt Sandel die Auffassung, diese beiden unliebsamen Sachverhalte seien zu Lasten des Marktes gegen die ökonomische Effizienz aufzurechnen (MS 10, 13, 49). Zu diesem Problemkomplex will ich hier Stellung nehmen.
I.
Effizienz versus Fairness? Oder Fairness durch Effizienz? – Warum die moderne Gesellschaft gut beraten ist, eine marktkonforme Sozialpolitik zu betreiben
Historisch betrachtet, sind alle modernen Gesellschaften aus vormodernen Gesellschaften hervorgegangen, in denen fast alle Menschen im Agrarsektor beschäftigt waren. Die dominante Form der Lebensvermittelversorgung war die der Subsistenzwirtschaft, und
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Ingo Pies
auch sonst gab es nur wenig Arbeitsteilung: Die meisten Menschen produzierten ihre Konsumgüter selbst. In der modernen Gesellschaft mit ihren ausgeprägten Industrieund Dienstleistungssektoren ist das grundlegend anders. Die Produktion ändert ihren Ort und wandert vom Land in die Stadt sowie vom Haus in die Fabrik oder ins Büro. Hier produziert man kaum noch für sich selbst, sondern vorwiegend für andere. Die meisten Menschen arbeiten als Angestellte für Organisationen. Sie erhalten einen Lohn, und als Konsequenz können sie sich am Markt mit ihrem Geld weitaus mehr Güter weitaus höherer Qualität kaufen, als ihnen in der Subsistenzwirtschaft jemals verfügbar waren. Zudem verfügen sie über Freizeit und über die Möglichkeit, ihr Geld (und beträchtliche Teile ihrer Lebenszeit) auch für Kunst und Kultur zu verwenden, für Bildung und Reisen, für die Pflege ihrer Gesundheit sowie für die Pflege sozialer Beziehungen zu Verwandten und Bekannten. Die moderne Gesellschaft ist reicher, weil sie produktiver ist, und diese Produktivität ermöglicht allen Bürgern einen höheren Lebensstandard und damit eine weitaus bessere Befriedigung ihrer materiellen und immateriellen Bedürfnisse. Hier leben die Menschen gesünder und länger als früher. Und zudem ist das Niveau der Ungleichheit deutlich reduziert, weil der Prozess gesellschaftlicher Modernisierung dazu tendiert, feudale Standesprivilegien abzuschaffen, Frauen und Männer gleichzustellen, die Diskriminierung von Minderheiten zu beenden und allen Bürgern einen Zugang zu politischer Mitbestimmung, zu Bildung und beruflichen Karrieren zu eröffnen. In der Subsistenzwirtschaft ist reich, wer viel Boden besitzt. (Deshalb wurden damals so viele kriegerische Auseinandersetzungen um Boden geführt.) Einigermaßen auskömmlich zu leben vermag, wer arbeiten kann. Und Personen, die alters- oder krankheitsbedingt nicht arbeiten können, sind darauf angewiesen, dass andere sie vorm Hungertod bewahren. Die dafür nötige Solidarität wird zumeist auf niedriger Ebene organisiert: in Familien und Dorfgemeinschaften. In der modernen Gesellschaft hingegen wird das Spektrum zwischen arm und reich zunehmend eindimensional und verengt sich allein zu einer Frage des Geldes. Ohne Geld bleibt einem der Kosmos der auf Märkten angebotenen Güter und Dienstleistungen verschlossen. Wer kein eigenes Geld erwirtschaften kann – sei es in Form von Kapitalerträgen oder Lohneinkommen oder unternehmerischen Umsätzen –, ist auf Naturalgeschenke und vor allem auf Geldtransfers angewiesen. Letztere werden zumeist auf nationaler Ebene organi138 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael Sandels Fairness-Argument, sein Korruptions-Argument
siert, indem ein Sozialstaat eingerichtet wird, der die Aufgabe sozialer Sicherung übernimmt, etwa in Form von Kreditierungshilfen für Bildungsinvestitionen (= inter-temporale Transfers) oder durch die Unterstützung von Versicherungslösungen für gesundheitliche Risiken (= inter-personale Transfers). Abbildung 1 hilft, sich die Konsequenzen dieses Sachverhalts vor Augen zu führen. Abgebildet ist die über mehrere Personenhaushalte aggregierte Nachfragekurve für ein beliebiges Gut x. Die Kurve ist negativ geneigt, weil die Haushalte nach ihrer marginalen Zahlungsbereitschaft (MZB) angeordnet sind, und zwar so, dass die MZB von links nach rechts abnimmt. €
MZB
X
Abbildung 1: Die Nachfragekurve auf dem Markt für Gut x
Die marginale Zahlungsbereitschaft gibt an, wieviel Geld eine Person für genau eine Gütereinheit zu zahlen bereit ist. Die MZB ist als vertikale Strecke unter der Nachfragekurve ablesbar. Sie berechnet sich nach folgender Formel: MZB ¼
Grenznutzen des Konsums von Gut x Grenznutzen des Geldeinkommens
Hierbei ist unterstellt, dass der Grenznutzen des Konsums mit steigendem Konsum sinkt, weil jede zusätzliche Konsumeinheit weniger Nutzen verschafft. (Am Beispiel: Das erste Glas Bier löscht den Durst stärker als das zweite, dieses stärker als das dritte usw.) Analog ist unterstellt, dass der Grenznutzen des Geldeinkommens mit jedem zusätzlichen Euro sinkt. 139 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Ingo Pies
Wenn nun zwei Personen A und B für das Gut x unterschiedliche marginale Zahlungsbereitschaften aufweisen (mit MZBA < MZBB), so kann dies (1) zum einen daran liegen, dass A aus dem Konsum einer Einheit des Gutes x weniger Nutzen zieht als B, oder (2) zum anderen daran, dass A im Vergleich zu B weniger Geldeinkommen zur Verfügung hat. Am Beispiel: (1) Selbst wenn A und B über das gleiche Geldeinkommen verfügen, kann sich ihre marginale Zahlungsbereitschaft für eine Händel-Oper unterscheiden, weil A lieber in Rockkonzerte geht, als sich klassische Musik anzuhören, so dass B aus dem Besuch der Händel-Oper einen vergleichsweise größeren Grenznutzen zieht. Und umgekehrt: (2) Selbst bei gleichem Grenznutzen des Konsums kann die marginale Zahlungsbereitschaft für einen Ferrari bei A deutlich niedriger ausfallen, weil er über sehr viel weniger Geldeinkommen als B verfügt. In beiden Fällen ist es möglich, dass die marginale Zahlungsbereitschaft von A nicht ausreicht, um den Marktpreis (px) abzudecken (Abbildung 2). Dann kauft nur B das Gut, während A es sich entweder nicht leisten will (Fall 1: zu niedriger Grenznutzen des Konsums) oder nicht leisten kann (Fall 2: zu hoher Grenznutzen des Geldeinkommens). €
MZBB
pX MZBA xS
X
Abbildung 2: Nicht immer kann man sich leisten, was man dringend benötigt
Nun mag ein solches Ergebnis für alle Beteiligten (sowie für ihre gesellschaftlichen Mitbürger) als einigermaßen erträglich gelten, solange es sich bei den in Frage stehenden Gütern um Opern und Ferraris handelt. Mit Sicherheit unerträglich jedoch wird es, sobald es 140 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael Sandels Fairness-Argument, sein Korruptions-Argument
sich um lebensnotwenige Güter handelt, also etwa um Trinkwasser, Lebensmittel, Kleidung, Wohnraum, elektrischen Strom usw. Der Markt als gesellschaftliche Institution befriedigt die Bedürfnisse der Bürger nicht nach deren Dringlichkeit, sondern nach der marginalen Zahlungsbereitschaft, die die Bürger als Nachfrager an den Tag legen. Inwiefern sich die subjektiv empfundene Dringlichkeit des Bedürfnisses – z. B. die Intensität des Wunsches, mit der ein Dürstender nach Wasser verlangt – objektiv als marginale Zahlungsbereitschaft widerspiegelt, hängt von der Einkommenssituation des Nachfragers ab. Ohne Kaufkraft gibt es keine Kaufbereitschaft: Ist das Geldeinkommen zu gering, dann übersetzt sich die Intensität des Konsumwunsches nur unzureichend in marginale Zahlungsbereitschaft, selbst wenn das eigene Leben davon abhängt. Politisch gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten, auf dieses Problem zu reagieren. Die erste besteht darin, die Preise administrativ auf niedrigem Niveau festzusetzen – zumindest für jene Güter, von denen man will, dass auch Arme sie sich leisten können. Die zweite besteht darin, die Preise auf jenem Niveau zu belassen, das sich auf wettbewerblich verfassten Märkten einstellt, und stattdessen aus Steuermitteln so viel Einkommen an die Armen zu transferieren, dass sie jenen Lebensstandard erreichen, den man im politischen Diskurs als kulturell definiertes Existenzminimum für angemessen hält. Beide Lösungen sind gleichermaßen geeignet, die Armen am Leben zu halten, schaffen aber ihrerseits – in je unterschiedlicher Weise – neue Probleme. Geht man den ersten Weg, ziehen sich immer mehr Anbieter aus dem Markt zurück, so dass letztlich der Staat selbst einspringen muss – indem er entweder die Produktion übernimmt oder als Zwischenhändler auftritt, also das Gut zu Marktpreisen aufkauft, um es zu administrativ gesetzten Niedrigpreisen zu verkaufen bzw. zum Preis von null zu verschenken. Aber selbst dann bleibt ein gravierendes Problem, das man als ein Problem unerwünschter Gleichbehandlung bezeichnen kann: Wenn der Preis so niedrig gesetzt wird, dass sogar die arme Person A in den Genuss des Gutes kommen kann, profitiert auch Person B, obwohl diese durchaus willens und fähig wäre, den höheren Marktpreis zu zahlen. Dies ist um so misslicher, als ja irgendjemand für die Kosten der Produktion aufkommen muss. Hier entstehen enorme Effizienzeinbußen, die sich auch nicht dadurch vermeiden lassen, dass der Staat für unterschiedliche Bürger unterschiedliche Preise einführt, denn B würde das Gut dann einfach von 141 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Ingo Pies
A erwerben. Am Beispiel (Abb. 2): Wird das Gut kostenlos abgegeben, wird es bis zur Sättigungsmenge xs nachgefragt, ohne dass die Nachfrager einen einzigen Euro dafür zahlen, die Kosten der Produktion abzudecken. Dies muss der Steuerzahler übernehmen. Geht man hingegen den zweiten Weg, bleibt der Preismechanismus als solcher intakt. Weder kommt es zur Verschwendung, weil zu viel produziert wird. Noch bleibt jemand un(ter)versorgt, weil es ihm an Geld mangelt. Allerdings muss der Einkommenstransfer finanziert werden. Der Staat hat also auch hier ein Besteuerungsproblem. Doch ist das für den Einkommenstransfer an die Armen benötigte Steueraufkommen geringer als jenes, das der Staat aufbringen muss, wenn er für alle Bürger den Marktpreis senkt und dann die Produktionskosten übernimmt. Insgesamt sind die Effizienzeinbußen einer staatlichen Preisintervention wesentlich größer als die Effizienzeinbußen staatlicher Einkommenstransfers. Deshalb sprechen sich Mainstream-Ökonomen grundsätzlich für den zweiten Weg aus: für eine marktkonforme Sozialpolitik, die den Preismechanismus wettbewerblich verfasster Märkte in Kraft lässt und das soziale Anliegen einer Versorgung der Armen mittels Transfereinkommen verwirklicht, was freilich bedeutet, immer von neuem politisch zu diskutieren und zu entscheiden, ob die Grenze des kulturell definierten Existenzminimums angepasst werden muss. Man sieht: Wenn man ein moralisches Anliegen verwirklichen – z. B. Ungleichheit reduzieren – will, dann setzt man besten das effizienteste Verfahren dafür ein. Hier gilt das wirtschaftliche Prinzip: Geht man effizient vor, kann man mit gegebenem Aufwand den Zielerreichungsgrad verbessern, und umgekehrt kann man ein vorgegebenes Zielniveau mit weniger Aufwand erreichen.
II.
Zeit ist Geld! – Zur Effizienz alternativer Rationierungsverfahren
Wie Fairness und Effizienz dynamisch zusammenhängen, lässt sich auch anhand eines anderen von Sandel diskutierten Beispiels (MS 20–28) in aufschlussreicher Weise zeigen. Wenn ein Staat seinen Bürgern die Dienstleistung anbietet, an Parlamentsanhörungen teilzunehmen, entstehen hierdurch keine Grenzkosten. Gegeben eine bestimmte Aufnahmekapazität, verläuft 142 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael Sandels Fairness-Argument, sein Korruptions-Argument
die Angebotskurve vom Nullpunkt aus entlang der Abszisse horizontal bis zur Kapazitätsgrenze und ab dort senkrecht. Nun ist die Frage: Soll der Staat einen Eintrittspreis fordern, oder soll er stattdessen per Warteschlangenmodell rationieren? Wir wissen bereits: Selbst wenn der Staat von jedem Bürger den gleichen Preis fordern würde, gäbe es hier ein Restelement von Ungleichheit, weil die Bürger ja über unterschiedliche Geldeinkommen verfügen und schon allein deshalb unterschiedliche marginale Zahlungsbereitschaften an den Tag legen. Nun sollte man aber nicht glauben, die Bürger würden gleich behandelt, wenn man anstelle von Geldpreisen das Rationierungsmodell der Warteschlange einsetzt, also etwa freien Eintritt gewährt und dann anstehen lässt. Denn genauso, wie sich der Wert eines Euro für Bürger mit unterschiedlichen Geldeinkommen subjektiv unterscheidet, so unterscheidet sich für die Bürger jede Stunde Wartezeit, weil sie die Zeitkosten subjektiv unterschiedlich wahrnehmen. Dies liegt vor allem daran, dass in der Bevölkerung die Lohnhöhe variiert. Wer viel verdient, hat höhere Opportunitätskosten der Zeitverwendung als Niedrigverdiener, Arbeitslose oder Rentner und Rentiers (= Bezieher von Kapitaleinkünften, die sog. »idle rich«). Hinzu kommt die unterschiedliche physische Konstitution der Bürger. Manche bekommen z. B. Rückenschmerzen oder Schwindelanfälle oder Panikattacken, wenn sie lange in einer dichten Menschenmenge stehen müssen. Aus der Sicht eines strikten Egalitaristen vergleicht man also notgedrungen Pest und Cholera, wenn man entscheiden will, ob man die Zulassung zur Anhörung im Parlament an die Zahlung eines Eintrittspreises oder stattdessen lieber an das geduldige Anstehen in einer Warteschlange knüpfen sollte. Eine absolute Gleichbehandlung aller Bürger ist prinzipiell unmöglich. Deshalb bietet es sich an, auch noch andere Kriterien heranzuziehen. Hierbei hilft Abbildung 3. Links abgebildet ist der Fall, dass auf Eintrittspreise gesetzt wird. Person A bewegt sich mit ihrer marginalen Zahlungsbereitschaft (MZB) im mittleren Bereich der Nachfragekurve. Rechts abgebildet ist der Fall, dass die Bürger in einer Schlange anstehen müssen, um zur Anhörung zugelassen zu werden. Die marginale Wartebereitschaft (MWB) der Person A liegt aufgrund ihres ungünstigen Lohnniveaus (= niedrige Zeitopportunitätskosten) deutlich im oberen Bereich. In beiden Fällen bildet die senkrechte Angebotskurve einen Schnittpunkt mit der Nachfragekurve, und zwar unabhängig davon, 143 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Ingo Pies
ob die Nachfrager in der Währung »Geld« oder stattdessen in der Währung »Wartezeit« zahlen müssen. Dieser Schnittpunkt bildet das Gleichgewicht und legt damit den »Preis« – in Euro bzw. Stunden – fest, zu dem sich die Nachfrager den Zugang »erkaufen«. Zeit
Geld
AngebotsMenge
AngebotsMenge
MWBA
MZBA
X
xS
X
Abbildung 3: Zwei alternative Allokationsmechanismen im Vergleich
Wichtig ist nun folgender Unterschied: Wird in Euro bezahlt, dann entspricht die grau eingezeichnete Fläche nicht nur dem Geldbetrag, den die Nachfrager entrichten, sondern auch den Geldeinnahmen, die der Staat als Anbieter verbucht. Wird hingegen der Preis in der Währung »Wartezeit« entrichtet, dann entspricht die grau eingezeichnete Fläche einer Inanspruchnahme von Zeitressourcen der Nachfrager, der allerdings kein Ressourcenzuwachs auf der Angebotsseite gegenübersteht! Hier liegt eine ineffiziente Zeitver(sch)wendung vor. Das Resultat ist ein gesellschaftlicher Wohlfahrtsverlust signifikanten Ausmaßes. Dies ist nicht nur in statischer Hinsicht bedauerlich, sondern auch in dynamischer Hinsicht bedenklich. Denn nun haben staatliche Akteure keinen monetären Anreiz, über die Quantität (und Qualität) ihres Angebots nachzudenken. Insbesondere im Fall einer Kapazitätsausweitung hätten sie nur zusätzliche Kosten zu tragen, ohne damit zusätzliche Umsätze zu erwirtschaften. Das Zerschneiden des Feedback-Mechanismus vom Nachfrager zum Anbieter hat zur Folge, dass es dem Staat an Anreizen mangelt, seine Dienstleistungen stärker an den Bedürfnissen der Bürger auszurichten. (Am Beispiel: Der Skandal um die Eröffnung des NSU-Prozesses hätte leicht vermieden werden können, wenn das Gericht frühzeitig in einen größeren Saal umgezogen wäre.) 144 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael Sandels Fairness-Argument, sein Korruptions-Argument
III. Werteverfall oder Innovation? Die folgende Erkenntnis gehört seit langem zum Standardrepertoire der neoklassischen Mainstream-Ökonomik: Wenn ein Prinzipal (= Auftraggeber) einen Agenten (= Auftragnehmer) dazu bewegen will, mehrere unterschiedliche Aufgaben sorgsam auszuführen (»multi-tasking«), dann darf er seine Entlohnungsanreize nicht nur auf einzelne isolierte Aufgaben richten, sondern muss das gesamte Aufgabenspektrum abdecken. Andernfalls ist damit zu rechnen, dass der Agent aufgrund verzerrter Anreize jene Aufgaben vernachlässigt, für die er nicht eigens entlohnt wird. Unabhängig davon, ob man dies nun als Verdrängung intrinsischer durch extrinsische Motivation bezeichnen mag oder als Erosion einer Wertorientierung – eines sollte klar sein: Wenn der Agent Aufgaben vernachlässigt, die dem Prinzipal am Herzen liegen, dann liegt hier eine Ineffizienz vor: Prinzipal und Agent könnten sich wechselseitig besserstellen, wenn der Prinzipal ein besser durchdachtes Anreizschema anwenden würde. Was das bedeutet, lässt sich am besten erklären, indem man Sandels Beispiel der Kinderbetreuung (MS 36 f.) genauer analysiert. Dabei hilft Abbildung 4. Sie übersetzt Sandels Überlegungen in die Kategorien des ökonomischen Rational-Choice-Ansatzes – und entwickelt dann auf dieser Grundlage eine völlig andere Sichtweise für die von Sandel unverändert übernommene Faktenlage, so dass der Rekonstruktion eine Dekonstruktion seines Arguments folgt. €
€
D C B N0,2
N0 g
N1 S
X
N1
E
A X
S
Abbildung 4: Die Nachfragekurve mit und ohne Schamkosten
145 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Ingo Pies
Links abgebildet ist zunächst eine ganz normale Nachfragekurve N0. Sie bildet den gedanklichen Ausgangspunkt unserer Analyse: Das Gut x ist zu interpretieren als die Anzahl der Verspätungen pro Monat, die Eltern sich leisten, wenn sie ihre Kinder aus dem Kindergarten abholen. Der Kindergarten fordert jedoch kein Geld, sondern setzt stattdessen auf informale Sanktionen, um Eltern zur Pünktlichkeit anzuhalten: Wer sich verspätet, muss sich schämen! Schon allein deshalb, weil er den Kinderbetreuern unbezahlte Mehrarbeit aufbürdet. Aber auch, weil es unhöflich ist, zu spät zu kommen. Und weil es den Kindern signalisiert, dass sie nicht so wichtig sind, da andere Angelegenheiten Vorrang genießen. Die Folge: Verspätete Eltern stehen moralisch am Pranger. Ökonomisch rekonstruiert, entstehen in einem solchen Anreizarrangement Schamkosten, die von der marginalen Zahlungsbereitschaft abzuziehen sind. Sofern man unterstellt, dass sich reiche Eltern ebenso wie arme Eltern gleichermaßen schämen (müssen), verschiebt sich die Nachfragekurve parallel nach unten von N0 zu N1. Das Ergebnis: Eltern fragen Verspätungen bis zur Sättigungsmenge nach. Deshalb ist Punkt S das Gleichgewicht, bevor der Kindergarten seine Politik ändert und eine Strafgebühr einführt. 1 Im rechten Teil der Graphik kann man nachvollziehen, was daSchamkosten ähneln Wartekosten in der wichtigen Hinsicht, dass in beiden Fällen die Nachfrager eine Last tragen, ohne dass diese Last als gesellschaftliche Ressource wiederverwendet werden kann. Die Last führt nirgendwo sonst zu Erleichterungen: Die Wartezeit ist ebenso unwiederbringlich verloren wie die psychische Anstrengung des Schämens. Aus dieser Warte betrachtet, zeigt sich ein wichtiger Vorzug einer Rationierung über Preise. Hier stehen den Geldausgaben der Nachfrager Geldeinnahmen der Anbieter gegenüber. Damit sind zwei dynamische Anreizwirkungen verbunden, die auch in moralischer Hinsicht wichtig sind: Zum einen tragen die Nachfrager die letztlich von ihnen verursachten Produktionskosten (idealerweise vollumfänglich) selbst; zum anderen wird das Eigeninteresse der Anbieter aktiviert, sich in sämtlichen Dimensionen ihres Verhaltens – vor allem im Hinblick auf Quantität und Qualität der Produkte – an den Wünschen der Nachfrager zu orientieren und hierbei innovativ zu werden. In Sandels Schriften hingegen, die sich vornehmlich auf Verteilungsfragen kaprizieren, bleibt die – gerade auch in normativer Hinsicht – enorme Bedeutung funktionaler Produktionsanreize notorisch unterbelichtet. Hier liegt ein blinder Fleck vor, der mit folgender Formel aufgehellt zu werden verdient: Produktion und Distribution sind interdependent! Folglich ist es ein Qualitätsmerkmal jedweder Ethik, ob sie in angemessener Weise dem Umstand Rechnung trägt, dass die erwartete Verteilung das individuelle Anstrengungsniveau bestimmt, was nun einmal bedeutet, dass man Verteilungsfragen nicht isoliert betrachten kann.
1
146 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael Sandels Fairness-Argument, sein Korruptions-Argument
nach passiert. Die Eltern interpretieren die Strafgebühr g als Marktpreis. Diese (Fehl-)Interpretation zieht eine wichtige Konsequenz nach sich: Die Eltern hören auf, sich zu schämen. Damit verlagert sich die Nachfragekurve in Pfeilrichtung parallel wieder nach oben von N1 zu N0,2. Anstatt, wie vom Kindergarten erwartet, aufgrund der Gebühr weniger Verspätungen pro Monat nachzufragen (Punkt E), fragen sie mehr nach (Punkt A). Soweit zur Rekonstruktion des Sachverhalts. Michael Sandel würde nun wohl nicht widersprechen (MS 65), wenn die ökonomische Analyse zu dem Schluss gelangt, dass mit höheren Gebühren – die weiterhin nicht als Strafgebühren, sondern als Nutzungsgebühren interpretiert werden – auch die Punkte B, C oder D hätten angesteuert werden können: Mit einer wirtschaftlich versierten Gebührenpolitik hätte der Kindergarten rein quantitativ den alten Status quo beibehalten können (Punkt B). Alternativ hätte er auch sein Ziel erreichen können, die Anzahl der Verspätungen auf das Niveau von Punkt E zu reduzieren, indem er Punkt C ansteuert. Und schließlich wäre es sogar möglich gewesen, die Eltern noch stärker zur Pünktlichkeit anzuhalten und Punkt D zu realisieren. Wenn man davon ausgeht, dass der Kindergarten die Höhe der Strafgebühr so festgesetzt hat, dass er die Kinderbetreuer für anfallende Überstunden kompensieren kann, wäre mit einer Nutzungsgebühr, die die Zahl der Überstunden auf das angestrebte Ausmaß reduziert, ein die Kompensationskosten übersteigender Ertrag zu erwirtschaften, der der grau eingezeichneten Fläche entspricht. Hiermit verbindet sich folgende Pointe: Ließe die Leitung des Kindergartens von dem pädagogischen Furor ab, neben den Kindern auch noch die Eltern (zur Pünktlichkeit) erziehen zu wollen, und ließe sie sich stattdessen auf die ökonomische Logik eines Dienstleisters ein, dann würde sie ihren Kunden nicht Schamkosten aufbürden. Schon gar nicht würde sie sich über einen vermeintlichen Werteverfall ihrer Kunden beschweren, sondern sie würde sich freuen, einen neuen Markt mit lukrativem Win-Win-Potential entdeckt zu haben, also mit dem Potential, die Eltern (mitsamt ihren Kindern) und die eigene Organisation (mitsamt ihren Angestellten) wechselseitig besserzustellen!
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Ingo Pies
Ausblick Wir leben in einer modernen Gesellschaft. Durch progressive Effizienzentfaltung ist sie so produktiv geworden, dass sich viele Menschen im Alltag Luxusgüter leisten können. Zu dem heute möglich gewordenen Luxus gehört freilich auch, die Vergangenheit zu verklären, die Gegenwart als Verfall zu deuten und die Zukunft schwarzzumalen. Man kann das so sehen. Aber man muss es nicht so sehen. Natürlich waren die antiken Ideale der Polis auf eine gewisse Art schön – wenn man nicht gerade das Pech hatte, eine Frau, ein Sklave oder ein Fremder zu sein. Ich will damit sagen: Wertewandel muss nicht mit Rückschritt gleichgesetzt werden; er kann auch Fortschritt bedeuten. Ein nüchterner Blick auf die historische Entwicklung legt folgenden Schluss nahe: Modernisierungsprozesse erzeugen Strukturwandel. Da gibt es immer Gewinner und Verlierer. Deshalb trifft grundsätzlich jede Innovation zunächst einmal auf moralische Bedenken. Recht bedacht, wäre es aber ebenfalls moralisch bedenklich, deshalb jedwede Innovation unterbinden zu wollen, denn viele moralische Anliegen lassen sich allenfalls mit Hilfe von Neuerungen zur Geltung bringen. Was also ist zu tun? Gesellschaftspolitisch hat es sich bewährt, die Verlierer nicht ins Bodenlose fallen zu lassen, sondern ihnen solidarisch zu helfen, die Zumutungen des Strukturwandels zu meistern. Historisch betrachtet wird wichtig bleiben, die Chancen des Strukturwandels zur weiteren gesellschaftlichen Modernisierung zu nutzen, und zwar auch gerade dann, wenn er sich als Wertewandel bemerkbar macht. Ohne die – vor allem wissensgetriebenen – Innovationen, die uns die Marktwirtschaft beschert hat, wäre die große Mehrheit von uns immer noch Bauern, betriebe Subsistenzwirtschaft, wohnte ärmlich auf dem Dorf und hätte wenig Zeit, Geld und Verständnis für all jene materiellen und immateriellen Interessen, die uns heute wichtig sind.
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Michael Schramm
Michael Sandels »Punkt«. Anmerkungen aus der Sicht einer Business Metaphysics Die These meines Beitrags lautet: Michael Sandel macht seinen Punkt – tatsächlich im Wortsinn einen »Punkt«. Er liefert kein umfassendes Theoriekonzept (keine Gesellschaftstheorie, keine Organisationstheorie usw.), sondern thematisiert in seinem Aufsatz einen bestimmten einzelnen Punkt: nämlich dass auch die Ökonomik nicht um die Frage herumkommt, was für Geld auf Märkten zu kaufen sein sollte und was nicht. Und meines Erachtens kann Sandel mit diesem Punkt durchaus punkten.
Eine Gelegenheit Über Michael Sandels sonstige Auffassungen, etwa über seine »kommunitaristischen« Tendenzen oder seine bioethischen Ansichten, kann man füglich streiten. Ich bin da auch selber in mehrfacher Hinsicht skeptisch. Doch trotz solcher konzeptioneller Unterschiede kann die Konfrontation mit Sandel durchaus eine nützliche Angelegenheit sein: »Ein Widerstreit von Lehrmeinungen ist keine Katastrophe, sondern vielmehr eine Chance [an opportunity].« 1
Man kann möglicherweise etwas von ihm lernen. Das ist die »Gelegenheit«, die ich hier ergreifen möchte.
Ein Ausgangspunkt: die »Polydimensionalität« der Wirklichkeit Ein grundlegender Ausgangspunkt meiner eigenen Sichtweise besteht in der Behauptung, dass das, was wirklich und konkret ge1
Whitehead (1925, 1984; S. 215).
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Michael Schramm
schieht, »polydimensionaler« Natur ist. Bereits eine einfache Analyse eines schlichten Zahlungsvorgangs an der Supermarktkasse zeigt (mindestens) folgende Dimensionen: • Es handelt sich um einen ökonomischen (Zahlungs)Vorgang im Rahmen der Spielregeln einer wirtschaftlichen Marktlogik (Marktcode: » Zahlen«). • Der Zahlungsvorgang weist jedoch auch eine juristische Dimension auf, nämlich die Strafbarkeit von Ladendiebstahl. • Schließlich zeigt sich aber auch eine ethische Dimension: es gibt eine moralische Verpflichtung zum Bezahlen der Ware. Diese Polydimensionalität von Transaktionen hat der Ökonom John R. Commons schon vor Jahrzehnten hervorgehoben: »Die ultimative Einheit der Aktivität, welche das Gesetz, die Ökonomik und die Ethik in eine Wechselbeziehung setzt, […] ist eine Transaktion.« 2
Blendet man etwa die ethische Dimension aus, dann »ab-strahiert« man von der wirklichen, der konkreten Wirklichkeit (»ab-strahieren« wörtlich: etwas »weg-ziehen«). Natürlich kann man das machen – und die ausgefächerten Einzelwissenschaften tun das auch fortwährend, um eine spezifische Analyse einer spezifischen Problemstellung vorzunehmen. Gleichwohl muss man sich immer gegenwärtig halten, dass man dann diese anderen wichtigen Dimensionen (also etwa die ethische Dimension) ausgeblendet hat. Und das ist genau der »Punkt«, auf den Sandel hinweist: eine rein ökonomische Analyse ohne Berücksichtigung der ethischen Dimension ist eine Abstraktion – eine für eine spezifische Problemstellung möglicherweise nützliche Abstraktion, aber gleichwohl eine Abstraktion. Und vielleicht ist diese Ausblendung ein Problem. Auch Ökonomen haben bereits darauf hingewiesen, dass man auch in der Ökonomik mit einer polydimensionalen »Buntheit« oder »messiness« (»Schmutzigkeit«, »Unordentlichkeit«) der konkreten Wirklichkeit rechnen sollte: »So wie ich es sehe, ist der Berufsstand der Ökonomik auf Irrwege geraten, weil Ökonomen, als eine Gruppe, die Schönheit, umkleidet mit beeindruckend aussehender Mathematik, mit der Wahrheit verwechselt haben. […] [Ö]konomen werden lernen müssen, mit Schmutzigkeit [»messiness«] zu leben.« 3 2 3
Commons (1932; S. 4), dt. Übers.: M. S. Krugman (2009), dt. Übers.: M. S.
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Michael Sandels »Punkt«
Genau diese Polydimensionalität (oder: »messiness«) ist Sandels »Punkt«. Eine Ökonomik, die die ethische Dimension ausblendet, ist eine Abstraktion von der konkreten Wirklichkeit. Und möglicherweise – nicht in jedem Fall – liegt darin ein Problem (vgl. MS 5). Eine wirklichkeitsgerechte Ökonomik, so Sandel, könne sich gar nicht »sauber« halten von den »Verschmutzungen« durch moralische Fragen, sie müsse vielmehr »moralischen Verstrickungen« (MS 6) und der Unumgänglichkeit ethischer Bewertungen (MS 14) Rechnung tragen.
Zwei Fehlschlüsse (aus Sicht einer »Business Metaphysics«) So wenig wie die Ethik von der ökonomischen Dimension konkreter Transaktionen abstrahieren kann, so wenig kann auch die Ökonomik von der ethischen Dimension der konkreten Wirklichkeit abstrahieren. Man kann methodische Abstraktionen vornehmen, muss dabei aber immer wissen, dass man dann eben nicht die gesamte (relevante) Wirklichkeit im Blick hat. Vergisst man Letzteres, unterliegt man einem Trugschluss. Grundsätzlich sind in diesem Zusammenhang zwei Fehlschlüsse von Bedeutung: zum einen der »Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit« und zum anderen der »Trugschluss der ausgeblendeten Abstraktheit«. Die Thematisierung und Formulierung des »Trugschlusses der unzutreffenden Konkretheit« stammt von dem Philosophen Alfred North Whitehead. (»Fallacy of Misplaced Concreteness«). Es ist genau dieser »Trugschluss«, um den es in Sandels »Punkt« geht. Ich will diesen Trugschluss zunächst anhand eines schlichten Beispiels illustrieren: Die Verkehrsregel »Stop bei Rot!« ist als solche noch abstrakt. Sie gewinnt erst und nur dann konkrete Wirklichkeit, wenn sich die Leute in ihrem konkreten Verhalten tatsächlich daran halten, wenn sie sich das Stehenbleiben tatsächlich zur Gewohnheit machen. Das ist faktisch jedoch beileibe nicht immer der Fall: Da bleiben manche tatsächlich stehen. Andere übersehen das Rot, weil sie gerade träumen. Wieder andere ignorieren es wissentlich, weil ihr Eigennutzinteresse, jetzt schnell von A nach B zu kommen, in der Situation überwiegt. Hat man aber nur die abstrakte Verkehrsregel »Stop bei Rot!« im Blick, so hat man vom Rest der vielen konkreten Dinge, die faktisch auch eine Rolle spielen in der Welt, wie sie wirklich funktioniert, eben »ab-strahiert«. Wenn man nun meint, die abstrakte 151 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael Schramm
Regel sei die konkrete (polydimensionale) Wirklichkeit, dann macht man einen Fehler: »Hier liegt ein Irrtum vor; […] es handelt sich […] um den […] Fehler, das Abstrakte mit dem Konkreten zu verwechseln. Es ist ein Beispiel für das, was ich den ›Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit‹ nennen werde.« 4
Die vielen Dinge, die an der wirklichen Ampel eine effektive Rolle spielen, bleiben aber in der abstrakten Welt der bloßen Verkehrsregeln unsichtbar. Das Problem bei einer »ausschließlichen Konzentration auf eine Gruppe von Abstraktionen besteht […] darin, dass man […] vom Rest der Dinge abstrahiert […]. Soweit die ausgeschlossenen Dinge […] wichtig sind, bleiben unsere [abstrahierten; M. S.] Denkweisen unangemessen.« 5
Abstraktionen können außerordentlich nützlich sein. Aber sie können – »soweit die ausgeschlossenen Dinge wichtig sind« – auch suboptimale Ergebnisse produzieren, wenn die vereinfachenden Abstraktionen der Wirklichkeit nicht hinreichend angemessen sind und daher das Problem verfehlen. Jedenfalls darf man das Abstrakte nicht mit dem Konkreten (der Wirklichkeit) verwechseln. Daran zu erinnern, ist der Job von Philosophie bzw. Metaphysik. 6 Wenn man mithilfe dieser Unterscheidung zwischen dem »Abstrakten« und dem »Konkreten« nun wirtschaftliche oder ökonomische Probleme analysiert, kommt das heraus, was ich als Forschungsprogramm einer »Business Metaphysics« bezeichnet habe. 7 Folgende Differenzierung steht im Hintergrund: Auf der Seite des Abstrakten (Ideellen, Konzeptionellen) ist da die zunächst abstrakte Idee des Marktsystems (von Adam Smith oder wem auch immer erfunden), auf der Seite des Konkreten ist das wirkliche Geschehen, sind die konkreten Transaktionen vom simplen Einkauf an der Supermarktkasse bis hin zur Markteinführung des Apple iPhones im Jahr 2007. Konkrete Wirklichkeit gewinnt das abstrakte Konzept des Marktsystems erst dann, wenn sich die wirklichen MenWhitehead (1925, 1984; S. 66), Hervorhebungen: M. S. Whitehead (1925, 1984; S. 75). 6 Vgl. Whitehead (1925, 1984; S. 75) und (1929, 1984; S. 184). 7 Die »Metaphysik« dreht sich – kurz gesagt – um das ganz grundsätzliche Problem, »wie die Welt (im Prinzip) funktioniert«, »how the world works (in general)«. Die Frage, »wie die Wirtschaftswelt (im Prinzip) funktioniert«, steht folgerichtig im Mittelpunkt des Forschungsprogramms einer »Business Metaphysics«. Hierzu vgl. mittlerweile etwa Schramm (2014) und (2015a) sowie (2015b). 4 5
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Michael Sandels »Punkt«
schen in ihren wirtschaftlichen Transaktionen nach dieser zunächst abstrakten Idee tatsächlich richten und nach dessen Spielregeln spielen – und sich nicht etwa durch Mord, Raub oder Betrug bereichern. (Für Fußballspiele gilt Ähnliches.) So wie man das abstrakte Verkehrsregelsystem (z. B. die Spielregel »Stop bei Rot!«) vom konkreten Geschehen an der wirklichen Ampel unterscheiden muss, so muss man auch im wirtschaftlichen Bereich die Abstraktheit von Spielregeln von der Konkretheit der Spielzüge oder Transaktionen unterscheiden. Mit Blick auf den »Fallacy of Misplaced Concreteness« ist zu betonen, dass konkrete Wirklichkeit nur den tatsächlichen Spielzügen bzw. Transaktionen zukommt. Die an sich abstrakten Marktregeln gewinnen erst in den konkreten »Gewohnheiten« (den Spielzügen) der Unternehmen oder Konsumenten empirische Wirklichkeit. Gleichwohl ist die Erfindung des abstrakten Marktsystems eine gesellschaftliche Errungenschaft ersten Ranges. Denn dass es die Menschheit fertig gebracht hat, den engen Rahmen der antiken Idee von »Hauswirtschaft« (οἰκονομία) zu verlassen und sich einem (an sich) abstrakten Marktmechanismus anzuvertrauen, sich also in den wirklichen Spielzügen oder Transaktionen von den Spielregeln dieses (an sich) abstrakten Wirtschaftssystems (Marktwettbewerb) wenigstens partiell leiten zu lassen 8, hat als »Entdeckungsverfahren« (von Hayek) ein enormes Wirtschaftswachstum hervorgebracht. 9 An dieser Stelle kommt der zweite der oben genannten Fehlschlüsse ins Spiel: der »Trugschluss der ausgeblendeten Abstraktheit« (»Fallacy of Disregarded Abstractness«) 10. Hier wird nicht die konkrete Wirklichkeit ausgeblendet (wie im »Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit«), sondern umgekehrt nicht gesehen, dass zum Beispiel diese enormen und hunger-überwindenden Wachstumsprozesse produktive Wirkungen des (an sich) abstrakten Marktsystems sind. (Michael Sandel neigt zu diesem Fehlschluss, weil er die produktiven Effekte eines geldvermittelten Marktes weitgehend außen vor lässt.) Der »Punkt«, um den es Michael Sandel in seiner Kritik an der traditionellen (neoklassischen) Ökonomik geht, ist der »Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit«. Er thematisiert die (oftmals unterSo kommt auch ein gutes Fußballspiel nur dann zustande, wenn sich die Fußballer in ihren konkreten Spielzügen von den an sich abstrakten Fußballregeln leiten lassen. 9 Vgl. die eindrückliche Abb. in Clark (2007, S. 2). 10 Diese Formulierung verdanke ich meinem Mitarbeiter Christoph Wagner. 8
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Michael Schramm
schwelligen und unbemerkten) Effekte, die dieser Trugschluss mit sich bringt.
Sandels »Korruptionsargument«. Oder: »Geldbuße« »Gebühr« Die empirischen Effekte des »Trugschlusses der unzutreffenden Konkretheit« sind der Inhalt des »Korruptions-Arguments«, das Michael Sandel der Mainstream-Ökonomik entgegenhält (MS 13). Falls die moralische Dimension im Hinblick auf ein bestimmtes Thema wichtig ist, sollte man laut Sandel die Gefahr ernst nehmen, dass die Abwicklung eines bestimmten Problems über Geld und Markt die moralische Dimension erodieren lässt oder zerstören kann (MS 26). Als Beispiel nennt Sandel hier einen Markt zum An- und Verkauf von Kindern (MS 12 f.). Die mögliche Entscheidung, Kinder als (ver-) kaufbares Wirtschaftsgut zu behandeln, würde die für die allermeisten von uns moralisch wichtige Dimension der Menschenwürde dieser Kinder korrumpieren, herabwürdigen oder zerstören. »Bei der Entscheidung, etwas als Wirtschaftsgut zu handeln, müssen wir […] auch fragen, ob Marktnormen nicht-wirtschaftliche Normen verdrängen, und wenn dem so ist, ob das einen Verlust bedeutet, um den man sich sorgen sollte.« (MS 49)
Wohlgemerkt: ein ethisches Problem stellt dieser Verdrängungseffekt nur dann dar, wenn er »einen Verlust bedeutet, um den man sich sorgen sollte«. Wenn die verdrängte Moral eine schlechte Moral war (wie zum Beispiel die jahrtausendealte »Moral« einer Benachteiligung der Frauen), dann hat auch Sandel kein Problem mit einer Verdrängung, die dann ja einen moralischen Fortschritt darstellt. Ziehen wir nun exemplarisch den Fall der Kindertagestätte heran, den Sandel als Beleg für den Verdrängungseffekt erwähnt (vgl. etwa MS 36 f. und 60). Offensichtlich hatten die Eltern die »Geldbuße« als eine »Gebühr« oder einen Preis interpretiert. Sie mussten sich nicht mehr moralisch für das Zuspätkommen schämen, sondern konnten es sich auf dem Markt der Kinderbetreuungsangebote mit Geld kaufen. Ingo Pies (2016) argumentiert nun in seinem Beitrag (in diesem Band), dass der »Preis« für das Zuspätkommen schlicht und ergreifend zu niedrig bemessen war und dass man mit einem professionelleren Preismanagement das Problem leicht in den Griff 154 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael Sandels »Punkt«
bekommen könne. Von den beiden Abbildungen, die er zu diesem Problem an die Hand gibt (Abb. 1), zeigt die linke Abbildung die Situation vor Einführung der Geldstrafe – hier hält nur die moralische Scham der Eltern das Zuspätkommen halbwegs im Zaum (der absenkende Effekt dieser moralischen Schamkosten wird durch die abwärts gerichteten Striche dargestellt) –, während die rechte Seite das seines Erachtens sowohl leicht machbare als auch effektivere Preismanagement abbildet (zur näheren Erklärung siehe dort). €
€
D C B N0,2
N0 g
N1 X
S
N1
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A X
S
Abbildung 1: Die Nachfragekurve mit (links) und ohne Schamkosten (rechts) 11
Ich möchte hierzu folgende Punkte anmerken: 1. Moral kann effektiv sein. Wie die linke Abbildung zeigt, senkt das Vorhandensein von moralischen Interessen das Zuspätkommen deutlich. Moralische Erwartungen sind also nicht immer nur fromme Wünsche, sondern können als moralische Anreize durchaus nennenswerte reale Folgen haben. Man sollte sich also genau überlegen, ob man diese Effektivität von Moral einfach »verschenken« und nicht vielmehr nutzen sollte. 2. Der Situationswechsel von der linken zur rechten Abbildung bestätigt Sandels »Korruptions-Argument«, also die Vernichtung (»Crowding Out«) der effektiven Moral. In der rechten Abbildung gibt es keine »Schamkosten« und damit keine moralische Dimension mehr. Die Situation wird ausschließlich über ein Preis- oder Markt-Management reguliert. Zwei systematische Anmerkungen hierzu: 11
Quelle: Pies (2016; Abb. 4, S. 145).
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Michael Schramm
a) Wie bereits erwähnt, muss eine solche Verdrängung (»Crowding Out«) von Moral nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Die Verdrängung der jahrtausendealten »Moral« einer Benachteiligung der Frauen ist moralisch begrüßenswert. Wenn es sich jedoch um eine »gute« (wünschenswerte) Moral handelt, dann ist deren Vernichtung durchaus ein Problem. b) Der Situationswechsel von der linken zur rechten Abbildung bestätigt zudem die von Sandel kritisierte Einebnung des Unterschieds zwischen einer »Geldbuße« und einer »Gebühr« (vgl. MS 38 ff.). Die Welt einer »Geldbuße« impliziert eine konstitutive moralische Dimension, während es diese moralische Dimension in der Welt der »Gebühren« nicht (mehr) gibt: in der Welt der rechten Abbildung wird das Zuspätkommen einfach gekauft. Die Differenz zwischen »Geldbuße« und »Gebühr« lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Um das Leben von Schulkindern nicht zu gefährden, legen wir fest, dass man im Umfeld einer Schule nicht mehr als 30 km/h fahren darf. Zuwiderhandlungen belegen wir mit einer »Geldbuße«. Interpretiert nun ein vermeintlich besonders smarter Typ (ein »Smartie«) diese »Geldbuße« als »Gebühr« (»Ich kaufe mir einfach das Recht, schneller zu fahren, und zwar dadurch, dass ich diesen Preis bezahle!«), dann ignoriert er die moralische Dimension der Situation. Denn die moralische Verwerflichkeit, das Leben von Schulkindern zu gefährden, verschwindet nicht dadurch, dass Geld gezahlt wird. Eine solche begriffliche Einebnung des Unterschieds zwischen einer »Geldbuße« und einer »Gebühr« ist nichts anderes als ein »Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit«. 3. Der am Ende des Tages entscheidende und von Sandel aufgeworfene »Punkt« lautet, ob die mit »der Entscheidung, etwas als Wirtschaftsgut zu handeln« (MS 49), möglicherweise verbundene Vernichtung (»Crowding Out«) der moralischen Dimension in den jeweils unterschiedlichen Situationen »einen Verlust bedeutet, um den man sich sorgen sollte« (MS 49), oder nicht. Ich möchte mit einem Beispiel schließen, von dem Sandel in der Diskussion nach einem seiner Vorträge erzählt hat und das diese Frage meines Erachtens sehr gut auf den »Punkt« bringt. Es geht hier um eine Diskussion, die Sandel als Anhänger des »Moraldenkens« ein156 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Michael Sandels »Punkt«
mal mit zwei führenden Vertretern des »Marktdenkens« (vgl. MS Titel) geführt hat: »Zwei der führenden Denker auf diesem Gebiet der leidenschaftlichen Verteidiger freier Märkte und freiwilligen Tauschs sind Gary Becker, ein Ökonom an der Universität von Chicago, der den Nobelpreis gewonnen hat, und Richard Posner, der der Begründer der Ökonomischen Theorie des Rechts ist, die diese Ideen des freien Marktes auf die Jurisprudenz anwendet. Also begann ich mit privaten Gefängnissen, und dann brachen wir das je nach Funktion herunter. Sie hatten keine Einwände gegen private Gefängnisse. […] Nun, wenn die Essensverpflegung, das Catering, in einem Gefängnis privat bereitgestellt wird – das erscheint wirklich nicht furchtbar beunruhigend, nicht einmal für mich. Was ist mit der Gesundheitsklinik? Das ist vielleicht eine schwierigere Entscheidung, aber im Prinzip könnte die Gesundheitsklinik ausgelagert werden. Was ist mit den Gefängniswärtern? Nun, unter der Voraussetzung, dass sie durch Regeln geleitet würden, die von öffentlichen Autoritäten festgelegt wurden, und dass sie die Gefangenen nicht missbrauchen würden, dann würde die bloße Tatsache, dass sie von privaten Firmen angeheuert worden sind, nicht als verwerflich erscheinen. […] Was ist mit dem Gefängnisdirektor? […] Um es kurz zu machen – ich fand einen Fall […]: In Texas haben sie die Todesstrafe. Nun, nehmen Sie den Job des Typs, der den Schalter am elektrischen Stuhl umlegt. Vom Standpunkt des Marktdenkens aus würde dieselbe Logik, die für die Privatisierung der anderen Funktionen im Gefängnis spricht, auch für die Privatisierung dieser Funktion sprechen: die des Henkers. Aber stellen Sie sich vor, wie dieser Markt in der Praxis funktionieren würde, in Texas. Nun, Sie würden es ausschreiben. Der […] Stundenlohn würde vermutlich [sinken], die Leute würden es für immer weniger machen. […] Stellen Sie sich die Auktion vor – ich nehme an, man könnte das über eBay oder so machen. Was jedoch würde passieren, wenn einige Leute es umsonst machen würden? Aber diese würden wiederum, fürchte ich, unterboten von Leuten, die für das Privileg zahlen würden. Nun, diese Zahlung könnte man in die Verbesserung des Gesundheitswesens im Gefängnis stecken, oder um die Bedingungen menschenwürdiger zu machen. Aus utilitaristischen Gründen und aus Marktgründen gäbe es kein Argument, prinzipiell etwas gegen die Versteigerung des Privilegs, das es ja dann wohl wäre, einzuwenden. Ich habe ihnen das vorgetragen. Einer der beiden sagte: ›Von mir aus!‹ […] Ich sollte die beiden vielleicht nicht darüber hinaus identifizieren. Und der andere der beiden sagte: ›Nein, das wäre ja fürchterlich!‹ Also hoben sich meine Augen und ich sagte: ›OK, warum?‹ […] Und er sagte […]: ›Wegen Ihrer Sorte von Gründen.‹« 12
12
Sandel (2009), ab 01h : 07min : 58sec. [dt. Übersetzung durch M. S.]
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Michael Schramm
Das Beispiel zeigt die Relevanz der Frage, ob mit »der Entscheidung, etwas als Wirtschaftsgut zu handeln« (MS 49) eine unerwünschte Verdrängung einer moralischen Dimension verbunden ist oder nicht. Während im Fall der privaten Bereitstellung des Caterings kein Problem vorliegt, ist mit der marktförmigen Versteigerung des Privilegs, einen Mörder just for fun zu killen, durchaus »ein Verlust« verbunden, »um den man sich sorgen sollte« – nämlich der Verlust unserer moralischen Identität als Menschen.
Literatur Clark, Gregory (2007): A Farewell to Alms. A Brief Economic History of the World, Princeton / Oxford: Princeton University Press. Commons, John R. (1932): The Problem of Correlating Law, Economics, and Ethics, in: Wisconsin Law Review 8 (1932), S. 3–26. Krugman, Paul (2009): How Did Economists Get It So Wrong?, in: The New York Times Magazine (September 6th, 2009). Download: http://www. nytimes.com/2009/09/06/magazine/06Economic-t.html?_r=1&pagewante= &pagewanted=print Pies, Ingo (2016): Michael Sandels Fairness-Argument, sein Korruptions-Argument und die Kategorie ökonomischer Effizienz, in diesem Band. Sandel, Michael J. (2009): Justice and the Moral Limits of Markets [Vortrag an der London School of Economics and Political Science (LSE) vom 12. Oktober 2009]. Download: https://www.youtube.com/watch?v=nhvH0WbZl9o oder https://www.youtube.com/user/lsewebsite/search?query=sandel Schramm, Michael (2014): Business Metaphysics, in: forum wirtschaftsethik. online-zeitschrift des dnwe 22. Jg., 1/2014, S. 2–6. Download: http://www. dnwe.de/forum-wirtschaftsethik-online-1–2014.html Schramm, Michael (2015a): Die Ethik der Transaktion. Warum eine Business Metaphysics im operativen Management nützlich ist, in: Maring, Matthias (Hg.): Vom Praktisch-Werden der Ethik in interdisziplinärer Sicht. Ansätze und Beispiele der Institutionalisierung, Konkretisierung und Implementierung der Ethik (Schriftenreihe des Zentrums für Technik- und Wirtschaftsethik am Karlsruher Institut für Technologie, Bd. 7), Karlsruhe: KIT Scientific Publishing, S. 173–191. Schramm, Michael (2015b): Business Metaphysics. Konturen eines Forschungsprogramms, in: Neck, Reinhard (Hg.): Wirtschaftsethische Perspektiven XI (Schriften des Vereins für Socialpolitik), Berlin: Duncker & Humblot. (im Druck) Whitehead, Alfred North (1925, 1984): Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt (M.): Suhrkamp. Whitehead, Alfred North (1929, 1984): Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, 2. Aufl., Frankfurt (M.): Suhrkamp.
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Tugend, Wissen und Moralin. Was sparen Märkte ein?
Einleitung (1) Sandel (MS 87) stützt seine Hauptaussage auf zwei Thesen: Erstens handele es sich bei Tugend nicht um eine Ressource, welche durch tugendhafte Akte aufgebraucht werde, sondern tugendhaftes Verhalten führe vielmehr zu einer Verstärkung der intrinsischen Motivation. Zweitens würden auf Tausch und Preismechanismen beruhende Lösungen für Allokationsprobleme die zugrunde liegenden sozialen Beziehungen entzaubern und so wünschenswerte intrinsische Anreize vernichten. (2) Die erste These geht am Kern des Problems vorbei, denn Tugend ist weder eine Bestandsgröße noch, wie MS meint, einem Muskel vergleichbar. Eine angemessene Modellierung von Tugend besteht in einer Formulierung als Merkmal der Präferenzordnung oder als »mental model« für die Analyse gesellschaftlicher Probleme. Die zweite These lässt sich auf den Kopf stellen: diese Entzauberung ist wünschenswert, weil sie eine Einigung auf objektive moralische Standards vermeidet. Das ist nämlich der Pferdefuß von Sandels Ansatz: Er setzt voraus, dass man sich (a) auf eine absolute Norm einigen und (b) deren Erfüllung auch intersubjektiv messen kann. (3) Und schließlich greift Sandel zu kurz, weil er zwei weitere Gründe für die Nutzung des Marktes als Allokationsverfahren bei moralisch umstrittenen Gütern übersieht. Es geht nämlich nicht in erster Linie darum, Tugend zu sparen, sondern 1. Informationen und Kenntnisse (»Wissen«) sowie 2. Transaktionskosten persönlicher und emotionaler Betroffenheit (»Moralin«). (4) Zur Erläuterung und Begründung dieser Einschätzung werde ich zunächst die dogmengeschichtlichen Hintergründe von Sandels Argument umreißen (Abschnitt I). Anschließend führe ich Kommentare zum Wissensproblem (Abschnitt II) und zur Frage der Einsparung 159 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Klaus Beckmann
von »Moralin« hinzu (Abschnitt III). Die lohnende ausführliche Auseinandersetzung mit Michael Sandels Gesamtwerk und insbesondere seiner Version des Kommunitarismus (Sandel 1982) unterbleibt hier; dafür wird ganz frech auf das Bändchen verwiesen, welches der Verfasser gemeinsam mit Thomas Mohrs und Martin Werding herausgegeben hat (Beckmann, Mohrs und Werding 2000).
I.
Tugendsparende Institutionen und der Ansatz von Sandel (2013)
(5) In seinem Beitrag knüpft Sandel insbesondere an ein Topos in der Ökonomik an, nämlich das Argument, Märkte und Institutionen mit dezentralen Entscheidungen seien vorteilhaft, weil sie das knappe Gut Tugend 1 (oder »Liebe«) einzusparen hülfen. 2 Es besteht nicht die Absicht, die komplette Dogmengeschichte dieses Disputs nachzuvollziehen. Das Hauptaugenmerk soll dem Hintergrund des Sandelschen Arguments gelten. (6) Sandel (MS 78) nennt die Ansprache Robertsons (1954) als früheste Quelle für die Analogie zwischen Liebe bzw. Moral und einem knappen Gut. Ein wesentlicher Zweck von Institutionen, die auf das Selbstinteresse der Menschen abstellen und für ihr Funktionieren keine Bürgertugenden benötigen, bestünde demnach darin, knappe und wertvolle Nächstenliebe und Tugend – die beiden werden kaum unterschieden – für andere Zwecke frei zu machen. (7) Diese Ansicht wurde allerdings schon recht schnell kritisiert. Hirschman (1985) verglich Tugend mit einem Muskel, den man durch Gebrauch trainieren könne – die Nutzung von Tugend führt also gerade nicht dazu, wie es bei einem gegebenen Bestand eines Gutes oder auch bei einer (mit einer exogenen Rate) regenerativen Ressource der Fall ist, dass »weniger« davon vorhanden wäre. Wollte man diese Analogie wörtlich nehmen, so müsste man allerdings auch die Möglichkeit berücksichtigen, dass
Ich verzichte in diesem kurzen Kommentar auf eine Diskussion des Tugendbegriffs. Siehe dazu Pinzani (2000). 2 Dies ist übrigens das Hauptargument des Aufsatzes, der im vorjährigen Band der Schriftenreihe »Markt und Moral« analysiert wurde. Vgl. Pies (2015). 1
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Tugend, Wissen und Moralin. Was sparen Märkte ein?
»Muskeln durch ausgedehnte Betätigung müde werden und Ruhe benötigen. Langfristig mag der Vorrat an Tugend positiv vom Umfang tugendhaften Handelns in vorangegangenen Perioden abhängen, doch bleibt er kurzfristig gegeben und erschöpflich.« (Brennan und Hamlin 1995, 39, meine Übersetzung)
(8) Für einen Ökonomen kann diese Debatte nur eigentümlich erscheinen. Liegt es doch nahe, Tugend nicht als (soziale) Ressource, sondern als Eigenschaft handelnder Individuen zu modellieren. Dafür kommen vor allem zwei Ansätze in Frage: Erstens eine Abbildung über die Präferenzordnung. Handelt ein Individuum a altruistisch, indem es die Lebensqualität eines anderen b in seinen Entscheidungen berücksichtigt, ließe sich dies über Nutzeninterdependenzen etwa in der Form ua = u(ca, ub) berücksichtigen. (Der Konsum c steht hier für das Selbstinteresse im engeren Sinne eines Individuums.) Tugend im Sinne der Orientierung des Handelns an einem absoluten Ziel bzw. einem moralischen Wert z wäre über eine Nutzenfunktion ua = u(ca, z) zu erfassen (Beckmann 1998). Tugend, Moral, Liebe usw. werden so als Teil der Disposition des Entscheiders begriffen (Brennan und Hamlin 1995). (9) Beobachtungen wie das Verhalten von Eltern in einem isrealischen Kindergarten, das Gneezy und Rustichini (2000) beschreiben, wären bei diesem Ansatz über Kreuzpreiseffekte zu erklären – genauer: Tugend (bzw. die Lebensqualität der Anderen bei der altruistischen Formulierung) müsste dann ein so genanntes Giffen-Gut sein, von dem man mehr konsumiert, wenn es teurer wird. Denn wenn Pünktlichkeit als absolutes Ziel eingeht, so stellt die Einführung einer Strafzahlung für verspätete Abholung eine Preissenkung für Tugend dar, welche mit einem verminderten Konsum des absolut und relativ billigeren Gutes einhergeht. Dass die Nachfrage nach Tugend mit steigendem Einkommen derart stark fällt, erscheint allerdings nicht sehr plausibel. (10) Daher bietet sich eine alternative Modellierungsstrategie an, welche auch mit einer sehr umfangreichen experimentellen und empirischen Literatur vereinbar ist. Danach wird Moral oder Tugend nicht als ein Argument der Nutzenfunktion abgebildet, sondern als Eigenschaft des »mental model«, mit dem eine Entscheidungsträgerin die vorliegende Entscheidungssituation betrachtet. Dieses aber ist kontextabhängig und kann insbesondere
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–
von dem Gegenstand des Entscheidungsproblems (schlichtes Handeln, Regelsetzung oder das »mental model« selbst, siehe Beckmann (1998)), 3 – von der Darstellung des Entscheidungsproblems (»Framing«, siehe Traub (1999)) und – von bestimmten Eigenschaften des Entscheidungsproblems abhängen, welche die Nutzung typischer Heuristiken für die Entscheidung auslösen (Kahnemann und Tversky 1974). (11) Dieser Ansatz liefert eine besonders elegante und theoretisch sparsame Erklärung der »Entzauberung«. Sandel ist zuzustimmen, dass es ausreichend empirische Evidenz für die Verdrängung intrinsischer Präferenzen durch extrinsische Anreize gibt (siehe etwa Frey 1997).
II.
Altruismus, Tugend und das Wissensproblem
(12) Systematisch Gutes zu tun, setzt zweierlei voraus: Man muss das Gute kennen, und man muss das Gute wollen. 4 Sandel (2013) konzentriert sich auf den Motivationsaspekt, also das Wollen. Das Hayeksche Wissensproblem tritt bei ihm dagegen zurück. Letztlich kommt es beim konstitutionellen Design von Institutionen aber nicht in erster Linie darauf an, Tugend zu sparen (was Sandel hinterfragt), sondern darauf, Wissen zu sparen sowie die Erzeugung und Nutzung neuen Wissens anzuregen. (13) Im Falle altruistischer Präferenzen wird der zusätzliche Informationsbedarf besonders offensichtlich. Jedes zusätzliche Individuum, dessen Interessen in die Nutzenfunktion des Altruisten eingehen, führt zu ebenso vielen zu berücksichtigenden Externalitäten, wie die betreffende Nutzenfunktion Argumente hat. Weitere Komplikationen entstehen, wenn beidseitige Nutzeninterdependenzen entstehen. (14) Harsanyi (1975, 604, meine Übersetzung) brachte dieses Informationsproblem auf den Punkt: Siehe Sandmo (1990, 56) für eine Erklärung, warum ethische Argumente in der Nutzenfunktion – also die z-Variable in der obigen Formulierung – unter sonst gleichen Bedingungen ein höheres Gewicht erhalten, wenn die Entscheidungsträgerin statt über schlichte Handlungen auf der Regelebene entscheidet. 4 Brennan und Hamlin (1995, S. 37) schreiben dieses Argument Niccolò Machiavelli zu. 3
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Tugend, Wissen und Moralin. Was sparen Märkte ein?
»Eine gesunde Gesellschaft scheint eines angemessenen Ausgleichs zwischen egoistischer und altruistischer Motivation zu bedürfen. (…) Andererseits stellen politische Initiativen, welche großenteils oder gar insgesamt auf einem wohlverstandenen Selbstinteresse beruhen, ebenso einen wesentlichen Teil jedes politischen Systems dar. Bürger, die Druck für ihre spezifischen ökonomischen Interessen ausüben, mögen über Informationen in verzerrter Weise urteilen, werden aber in den meisten Fällen über gute Informationen verfügen. Im Gegensatz dazu treten stark altruistisch motivierte Bürger häufig unter eine Fahne, von der sie sehr wenig wissen, oder von der sie nur über erstaunlich einseitige Informationen verfügen.«
(15) Ein ähnliches Argument gilt für die Schaffung von Vorhersehbarkeit (Heiner 1983) bezüglich der Aktionen anderer. Wenn Akteure bekannte und umgrenzte Ziele verfolgen, lässt sich ihr Verhalten ceteris paribus leichter prognostizieren und Verantwortung leichter zuweisen. Lässt man z. B. bei der Bewertung der Leistung von Managern neben der Gewinnmaximierung noch »Tugend« als Kriterium zu, können diese Führungskräfte ihr Verhalten mit sonstigen Rücksichten exkulpieren. (16) Moralisten, welche ein absolutes Ziel verfolgen, haben hinsichtlich der Zahl der zu berücksichtigenden (externen) Effekte ein geringeres Informationsproblem als Altruisten. Gleichwohl stellt das absolute Ziel nicht nur ein weiteres Argument im Präferenzfunktional dar, sondern bedarf tendenziell anderer (wenn auch nicht unbedingt mehr) Informationen als zum Beispiel der eigene Konsum. Das Kernproblem besteht aber darin, dass ein solches Ziel nicht mehr in den Interessen der Anderen verankert ist. Für unseren Moralisten müssen nämlich eine Reihe theoretischer und praktischer Voraussetzungen gegeben oder zumindest prinzipiell erreichbar sein (für eine ausführliche Diskussion siehe Beckmann 1998, Abschnitt 3.1). Damit stellt sich eine andere Art von Informationsproblem, dessen erste drei Dimensionen (erkenntnis-) theoretischer Natur, deren letzte zwei eher pragmatischer Natur sind. (a) Der verfochtene objektive Wert muss (definitionsgemäß) unabhängig von individuellen Wünschen existieren. (b) Zudem müssen denkende Wesen zumindest grundsätzlich in der Lage sein, ihn zu erkennen. (c) Und diese Erkenntnis muss sich im Prinzip intersubjektiv überprüfen lassen. (d) Eine solche Erkenntnis und Überprüfung muss von Menschen auch tatsächlich zu erwarten sein. Akzeptiert man demokratische 163 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Basisnormen (die ihrerseits Werturteile darstellen), ließe sich diese Anforderung so interpretieren, dass der objektive Wert einem zufällig herausgegriffenen Durchschnittsmenschen als solcher vermittelbar sein muss. (e) Es sollte hinlänglich erschwert sein, sich durch strategische (Fehl-)Angabe ethischer Erkenntnisse besser zu stellen. Das schließt das Erlangen rein materieller Vorteile ebenso ein wie die nutzenstiftende Durchsetzung bloß subjektiver Werte, gleich ob der jeweilige Akteur von der mangelnden objektiven Gültigkeit seiner Werte weiß oder guten Glaubens handelt (und sich damit schlicht irrt). (17) Die Erfüllung dieser Bedingungen erscheint mir extrem unplausibel. Anekdotische Evidenz über Gutmenschentum, Moraldebatten und politische Propaganda lässt den Verfasser jedenfalls zweifeln. In den Worten Kliemts (1990, 25–27, meine Übersetzung): »[D]ie Annahme, dass nur die objektive Wahrheit Menschen dazu veranlasst, bestimmte Meinungen zu vertreten, ist sehr stark und mitnichten selbstverständlich. Wir haben gute Gründe, andere Individuen zu loben oder zu tadeln, wenn wir wissen, dass dies unser langfristiges Eigeninteresse befördert. Dies gilt sogar dann, wenn wir wissen, dass das Verhalten dieser Individuen nicht auf objektive Wahrheit gestützt werden kann.«
(18) Damit sind wir bei einer dritten Sache, die sich durch den Markt zum allgemeinen Vorteil sparen lässt: »Moralin«.
III. Legislating morality – moralinsparende Institutionen (19) Sandel (MS 45) beginnt ein Argument mit der Aufforderung »lassen wir diese prinzipielle Uneinigkeit einmal beiseite«. Wenn wir seiner Argumentation ernsthaft folgen, können wir das aber nicht mehr tun. Denn die am Ende des letzten Abschnittes genannten Probleme erschweren dies erheblich. (20) Sandels Aufsatz kann als Fallbeispiel dienen. Beispielsweise findet sich in der Passage über die Walrossjagd der nachfolgende Satz (MS 56): »Erstens kann man der Auffassung sein, dass dieser Markt einen perversen Wunsch bedient, welcher bei der Abwägung eines gesellschaftlichen Nutzens nicht ins Gewicht fallen sollte.« Diese Formulierung erscheint doch deutlich durch Sandels persönliche Werturteile geprägt. Der Verfasser gesteht, dass ihm die Formulierung 164 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Tugend, Wissen und Moralin. Was sparen Märkte ein?
»perverser Wunsch« ganz unabhängig davon, was der Gegenstand dieser Präferenzen ist, Schauer über den Rücken treibt. (21) Nun könnten diese persönlichen Werturteile Sandels oder Beckmanns eigentlich dahinstehen. Aber eben nicht, wenn man moralische Aspekte zu Kriterien für alltägliche Allokationsentscheidungen erheben will. Dann spielt die Färbung unserer Meinung, spielt der moralische Duktus der Argumentation eine große Rolle. Für liberale Denker ist dies ein wesentliches Argument. So heißt es bei Hayek (1994, 80): »In unseren Neigungen und Interessen sind wir alle Spezialisten, und wir alle glauben, dass unsere persönliche Wertskala nicht rein persönlich ist, sondern dass wir in einer freien Diskussion unter vernünftigen Menschen die anderen davon überzeugen könnten, dass unsere die richtige ist.«
Und Tullock (1987, 3, meine Übersetzung) verweist auf Fehler in der Argumentation philosophischer Klassiker, welche er auf eben diese persönliche Färbung des Moralischen zurückführt: »Jede kritische Beschäftigung mit diesen Werken verdeutlicht, dass die Autoren logische Fehler begangen haben, die sie aufgrund ihrer moralischen Überzeugung von der Wahrheit ihres Arguments übersahen. Ein Mensch, der fest daran glaubt, dass Töten unerwünscht ist, wird einer Argumentationskette mit diesem Ergebnis nicht gerade kritisch gegenüberstehen.«
Machen wir ein Gedankenexperiment: Nehmen wir einmal an, die geneigte Leserin fände die Vorstellung einer Walrossjagd abstoßend, könnte aber akzeptieren, dass jemand die Präferenzen einer Anderen als »pervers« bezeichnet. Beeinträchtigt das ihre Bereitschaft, meiner Argumentation zu folgen? Falls ja – warum eigentlich? (22) Die Ökonomik begann als Sozialphilosophie, und nach Ansicht des Verfassers, der insoweit mit Sandel völlig übereinstimmt, ist sie dies auch immer noch. Will man die Ökonomik verstehen, so muss man allerdings die besonderen Bedingungen ihres Entstehens und damit den Ursprung dieser spezifischen sozialphilosophischen Tradition reflektieren. Hintergrund ist die Ära der Aufklärung, also jene Zeit, in welcher der Gebrauch des menschlichen Verstandes und die Rolle des Individuums gegenüber sozialen Organisationen (etwa der Kirche) in den Vordergrund traten. Die kontinentaleuropäische Aufklärung war wesentlich geprägt von der Überzeugung, normative Aussagen (Moral) seien der Logik zugänglich und unversalisierbar (Kant). Dazu trat die Auffassung, der Mensch könne sich durch Er165 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Klaus Beckmann
ziehung bessern und sich in Richtung der Verfolgung absoluter Ziele weiter entwickeln (Rousseau). Die soziale Wohlfahrt in Gestalt der »volonté générale« bestand völlig unabhängig von individueller Erkenntnis und menschlichen Meinungen – eine Denktradition, die sich geradlinig zu Plato zurückverfolgen lässt. Das politische Ergebnis war ein Philosophenkönig von eingeschränkter Haltbarkeit: Robbespierre. (23) Die Ökonomik ist ebenso ein verstandesgeprägtes, individualistisches Kind der Aufklärung. Aber sie entstand nicht auf dem Kontinent, sondern im Vereinigten Königreich, in wesentlichen Teilen in Schottland. Wer mit offenen Augen durch Edinburgh gewandert ist und den Genius loci dieser Stadt aufgenommen hat, kann den Unterschied fühlen: Neben den Verstand treten Pragmatismus und Skeptizismus – menschliche Erkenntnis ist beschränkt, Erziehung kann den Menschen nicht schnell, planvoll und tiefgreifend verändern, und der Gebrauch von Macht ist gefährlich. Dieser pragmatische Ansatz steht in einer Tradition, die bei Aristoteles begann. (24) Eine wesentliche Eigenschaft ökonomischer Überlegungen zur »guten« Ordnung der Gesellschaft ist daher Toleranz. Den Grund hat Rosenberg (1985, 66, meine Übersetzung) auf den Punkt gebracht: »Toleranz als eine Tugend beruht zum Teil auf einer Skepsis bezüglich der Möglichkeit, die Interessen Anderer zu kennen. Ohne Gründe für solchen Skeptizismus fällt es leicht, Toleranz wie Komplizenschaft im Bösen erscheinen zu lassen.«
(25) Betrachten wir zum Schluss drei (Gruppen von) Gründe(n), warum der Markt möglicherweise trotz Sandels Bedenken auch außerhalb des Bereichs »unschuldiger« Konsum- und Investitionsgüter verwendet werden könnte, also in Bereichen, in denen Sandels moralbezogene Argumente einschlägig sind. (26) Wer schon einmal als Dozentin eine Klausureinsicht durchgeführt oder als Schiedsrichter ein Wargame geleitet hat, kennt die Folgen der emotionalen Bindung an das eigene Elaborat und die Überschätzung der eigenen Leistung. Menschen neigen dazu, die Ursachen für Versagen extern, die für Erfolge intern zu attribuieren. Bei der Zumessung von sozialen Belohnungen gibt es aber nur drei Ansatzpunkte: nach dem bewerteten Output, nach dem bewerteten Input, oder nach individuellen Eigenschaften, u. a. der Lebensqualität. In jedem Fall bedarf es eines Bewertungsverfahrens; ist dabei aber die
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Meinung des Individuums gefragt, um dessen Belohnung es geht, sind die zuvor angesprochenen Effekte programmiert. 5 (27) Marktpreise haben zwei Eigenschaften, die vor diesem Hintergrund besonders attraktiv erscheinen. Erstens wird die Leistung eines Individuums – im Idealfall, also insbesondere bei wirksamer Konkurrenz – danach entlohnt, was sein marginaler Output den Tauschpartnern / anderen Individuen wert ist. Auch wenn wir die hohe Entlohnung von »Stars« monieren mögen, so kommt sie letztlich doch dadurch zustande, dass eine große Zahl von Menschen den Beitrag dieser Personen wertschätzen. Zweitens vollzieht sich die Bewertung am Markt in der Großgesellschaft weitgehend anonym. Die Ressentiments und die Häme, welche mit einem persönlichen Urteil – auch über die moralischen Eigenschaften eines Outputs – verbunden wären, werden dabei vermieden. In der Tat deutet Sandel (MS 30) dieses Argument auch an, verfolgt es aber nicht konsequent weiter. (28) Auf weitere ethische Schwierigkeiten, welche sich durch ein moralinsaures Beiseiteschieben von Märkten ergeben können, sei nur nebenbei hingewiesen: Ist es moralisch, von jemandem ständig zu verlangen, gegen seine Interessen zu handeln? Ist es nicht anmaßend zu behaupten, »der Staat« (oder man selbst) wisse besser, was im Interesse eines Anderen liegt? Ist es zulässig, dem Anderen paternalistisch die Grundlage zur Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs zu entziehen, indem man seine Wünsche für gesellschaftlich unbeachtlich erklärt? 6
Zusammenfassung: Ökonomik als Sozialphilosophie (29) Sandel ist dahingehend zuzustimmen, dass ein Insistieren auf »Wertneutralität« am Ziel vorbei geht. Ökonomik ist Sozialphilosophie, und darum muss sie sich moralischen Fragen stellen. Ihr Beitrag ist auch von Wert, weil ihre Methoden eine besondere Perspektive auf die Probleme eröffnen, die sich in der Tradition von Aristoteles bewusst von objektivistischen Ethiken abhebt. Der besondere Beitrag Es ist ja wohl klar, dass der Aufsatz, den Sie gerade lesen, ein Musterbeispiel für exzellente Forschung darstellt – noch dazu im vernachlässigten Bereich »Economics and Philosophy«! Ob dieser Beitrag referiert wurde oder nicht, kann für seine Würdigung wohl keine Bedeutung haben, und auch nicht, wo er erschienen ist. 6 Kritisch zum Paternalismus äußern sich Tietzel und Müller (1998). Zur neueren Variante des so genannten »Nudging« siehe Schnellenbach (2011). 5
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Klaus Beckmann
der Ökonomik als Disziplin liegt so betrachtet genau in dem, was Sandel kritisiert: der »Entzauberung« von Moral. (30) Sandel erweist sich letztlich als Kind der kontinentalen Aufklärung: ein Kantischer Objektivismus gepaart mit einem Rousseauschen Optimismus über die Möglichkeit, den Menschen zu erziehen. Die Ökonomik dagegen entstammt der schottischen Aufklärung, die durch einen gehörigen Skeptizismus hinsichtlich dieser beiden Faktoren geprägt ist. Kein Wunder, dass es zu einem Konflikt kommt. (31) Die Verkürzung auf den Argumentationsstrang, der Markt diene der Einsparung der knappen Ressource »Tugend«, lenkt von zentralen Fragen einer rationalen Gesellschaftsordnung ab. In erster Linie wird das Wissensproblem ignoriert, daneben bietet aber auch die Anonymität der marktlichen Bewertung von Leistungen durch deren Empfänger gesellschaftliche Vorteile im Vergleich zu einer öffentlichen Debatte über die Bewertung oder zu einem paternalistischen Ansatz. (32) Und nichts davon ist neu.
Literatur Beckmann, Klaus B. (1998): Analytische Grundlagen einer Finanzverfassung. Frankfurt: Peter Lang. Beckmann, Klaus B., Thomas Mohrs und Martin Werding (Hrsg.) (2000): Individuum versus Kollektiv. Der Kommunitarismus als »Zauberformel«? Frankfurt: Peter Lang. Brennan, Geoffrey und Alan Hamlin (1995): »Economizing on Virtue« Constitutional Political Economy 6, S. 35–56. Frey, Bruno S. (1997): Not Just for the Money. Cheltenham: Edward Elgar. Gneezy, Uri, and Aldo Rustichini (2000): »A Fine is a Price.« Journal of Legal Studies 29(1), S. 1–17. Hayek, Friedrich A. von (1994): Die Verfassung der Freiheit. 2. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck. Heiner, Ronald A. (1983): »The Origin of Predictable Behavior«. The American Economic Review 73, S. 560–595. Hirschman, Albert O. (1985): »Against Parsimony« Economics and Philosophy 1, S. 1–18. Robertson, Dennis H. (1954): »What Does the Economist Economize?« Speech delivered at Columbia University, May 1954. (Reprinted in 1956 in Dennis H. Robertson, Economic Commentaries, Staples Press, London, S. 147–54.) Rosenberg, Alexander (1985): »Prospects for the Elimination of Tastes from Economics and Ethics«, in: Ellen Frankel Paul, Fred D. Miller und Jeffrey Paul (Hgg.), Ethics and Economics. Oxford: Oxford UP.
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Tugend, Wissen und Moralin. Was sparen Märkte ein? Sandel, Michael J. (1982): Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge: Cambridge UP. Sandel, Michael J. (2013, 2016): Marktdenken als Moraldenken. Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten, in diesem Band. Schnellenbach, Jan (2011): »Wohlwollendes Anschubsen. Liberaler Paternalismus und seine Nebenwirkungen«. Perspektiven der Wirtschaftspolitik 12, S. 445–459. Stigler, George J. (1976): Do Economists Matter? Southern Economic Journal 42 (3), S. 347–354. Tietzel, Manfred und Christian Müller (1998): »Noch mehr zur Meritorik«. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 118, S. 87–127. Traub, Stefan (1999): Framing Effects in Taxation. An Empirical Study Using the German Income Tax Schedule. Physica: Heidelberg. Tullock, Gordon (1987): The Logic of the Law. 2. Aufl. Fairfax: George Mason UP. Tversky, Amos und Daniel Kahneman (1974): »Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases« Science 185 (4157), S. 1124–1131.
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Die moralischen Grenzen der Moral 1
1.
Märkte und Externalitäten
Gehen wir aus von dem am wenigsten problematisch erscheinenden Modellfall eines zweiseitigen Tausches. (1) A tauscht mit B ein Gut X1 oder eine Dienstleistung Y1. Auch für Sandel (MS 22; 46) stehen sich beide Tauschpartner nach vollzogenem Tausch besser als vor dem Tausch: A möchte X1 von B, und B möchte dafür von A eine Kompensation – entweder Geld oder (wenn es sich um eine wenig entwickelte Wirtschaft handelt) ein anderes Gut X2 oder eine andere Dienstleistung Y2. Man sieht es der in (1) beschriebenen Situation nicht an, dass ein derartiger ›simpler‹ Markttausch zum gegenseitigen Vorteil bereits äußerst voraussetzungsreich ist. Zum einen setzt er bei den Tauschpartnern Freiwilligkeit voraus. Wenn A das Gut X1 von B haben möchte, es sich aber lieber mit vorgehaltener Waffe oder durch Trickbetrug aneignete, würden wir nicht von ›Tausch‹ sprechen, sondern von Raub oder Betrug. Wenn A (etwa als Katastrophenopfer) überhaupt nichts zahlen könnte, B (etwa als Katastrophenhelfer) ihm aber dennoch etwas zukommen ließe, würden wir ebenfalls nicht von einem ›Tausch‹ sprechen, sondern von ›Versorgung‹. 2 Und wenn A das Gut X1 ganz dringend bräuchte (etwa Wasser oder ein Dach über dem Kopf) und daher ›jeden Preis zahlen würde‹, um es zu bekommen, würden wir A eine Situation wünschen, in der er Alternativen zum Anbieter B hat, um nicht dessen Bedingungen zustimmen zu
Klaus Beckmann, Markus Beckmann, Stefan Hielscher, Ingo Pies und Alexandra von Winning danke ich für wertvolle kritische Hinweise. 2 Dankbare Blicke mögen in einer Versorgungssituation für alle Beteiligten hilfreich sein, aber sie stellen keine Gegenleistung dar, denn bei ihrem Ausbleiben geht die Versorgung dennoch weiter. 1
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müssen – so dass der Begriff ›Freiwilligkeit‹ reale Bedeutung gewinnen kann. Zum anderen setzt der in (1) beschriebene Markttausch die gesellschaftliche Übereinkunft voraus, dass die Güter und Dienstleistungen X1, Y1, … überhaupt auf einem Markt gehandelt werden dürfen. Das ist nicht selbstverständlich: Beispielsweise ist der ›Austausch‹ von Zärtlichkeiten zwischen zwei Personen ja gesellschaftlich und juristisch durchaus streng geregelt – von Vorschriften, die selbst noch in den fortgeschrittenen OECD-Gesellschaften von einer ›Erregung öffentlichen Ärgernisses‹ handeln, bis hin zu Todesdrohungen und sogar Todesurteilen für homosexuelle Paare in weniger entwickelten Gesellschaften. Auch der Handel mit Drogen und Organen ist fast überall verboten. Aber warum lassen wir die Leute nicht einfach tauschen, was und wo sie wollen? Warum geben wir da nicht alles ›frei‹ ? Das hängt mit einer Eigenschaft der Tauschsituation zusammen, die nicht so ohne Weiteres von der Hand zu weisen ist: Jeder Tausch übt externe Effekte (Wirkungen auf Dritte) aus. Auch diese Situation wollen wir etwas formaler ausdrücken: (2) A tauscht mit B ein Gut X1 oder eine Dienstleistung Y1. Davon sind C, D, … negativ betroffen. Wenn ein Autokäufer im Hochgefühl des Neuwagenbesitzes sein Fahrzeug vom Hof des Autohändlers steuert, und wenn sich umgekehrt der Autoverkäufer zur gleichen Zeit schon auf seine Verkaufsprovision freut, stehen sich beide Tauschpartner nach dem Tausch zwar ganz offensichtlich besser. Das gilt aber beispielsweise nicht für den Fußgänger C, der hinter dem Fahrzeug seinen unterbrochenen Weg fortsetzt und in eine mehr oder weniger gut gereinigte Abgaswolke gerät. Warum sollte C unter diesen Umständen dann überhaupt dem Tausch zwischen A und B zustimmen, obwohl er doch von ihm negativ betroffen ist? Er selbst steht sich doch danach keineswegs besser! Es gibt prinzipiell drei Möglichkeiten, wie wir auf diese Situation reagieren können. (a) Wir untersagen grundsätzlich alle Tauschhandlungen, von denen Dritte negativ betroffen sind. Dieser Weg der Weltverbesserung ist allerdings deshalb nicht gangbar, weil jeder Tausch von externen Ef-
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fekten begleitet ist. Einige Beispiele müssen hier genügen. C kann sich ärgern, – weil er auf A und B eifersüchtig ist, – weil er vom relativ knappen Gut Xi nicht in genügendem Maße oder nicht in der genügenden Qualität etwas erhalten konnte, – weil nach dem Abschluss bestimmter Baumaßnahmen ›das Landschafts- oder Stadtbild gelitten‹ hat, – weil Ressourcenverbrauch ›Schadstoffe‹ produziert, die sich auf dem Umweg über ökologische Regelkreismechanismen bei C, D, … negativ auswirken, – weil die externen Effekte die Risiken für Gesundheit oder Leben von C, D, … steigen lassen – wie es etwa unter bestimmten Umständen bei einem Revolverkauf der Fall wäre, – weil die externen Effekte einer Tauschhandlung nach Ansicht von C Gesundheit oder Leben von Tieren bedrohen. Externalitäten sind also überall anzutreffen, und wir können sie nicht beseitigen, ohne das menschliche Leben selbst zu beseitigen, das ja ohne Tauschhandlungen nicht möglich ist. (b) Wir legen in einem gesellschaftlichen Diskurs, an dem sich jedermann beteiligen können soll, die Rechte für den Tausch und die Regeln für den Gebrauch von Gütern fest und lassen sie systematisch für eine Neufestlegung offen. Wir fassen diese Bestimmung wieder etwas formaler: (3) A tauscht mit B ein Gut oder eine Dienstleistung. Davon sind C, D, … negativ betroffen. Daher kommt die Gesellschaft (A – Nx) überein, dass C, D, … (also alle in vergleichbaren Fällen Betroffenen) für die erlittenen Schäden kompensiert werden sollen. Diese Kompensation kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Ein oft beschrittener Weg sei am Beispiel des Autokaufs erläutert: A, B, C, … kommen überein, sich gegenseitig das Recht zuzugestehen, ein Auto zu kaufen und zu fahren, wobei sie dabei Grenzen der bestimmungsgemäßen Herstellung und des bestimmungsgemäßen Gebrauchs festlegen, die den dann entstehenden Massenverkehr für alle erträglich machen. Sie kommen zu dieser komplexen Übereinkunft, weil sie auf diese Weise auch die jeweils individuellen Vorteile des Autoverkehrs genießen können – etwa Reisen, größere Einkäufe, Besuche bei schlecht erreichbaren Freunden und Verwandten oder Zeitersparnis; und darüber hinaus gibt es auch positive externe Effekte wie ein grö172 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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ßeres Steueraufkommen aufgrund hochwertiger Arbeitsplätze und damit ein höheres Angebot an kollektiven Gütern, die nicht nur den vielen Einzelnen, sondern allen zugutekommen – sogar denen, die überhaupt kein Auto besitzen. (c) Wir kommen überein, dass alle Bürger die negativen externen Effekte von Tauschhandlungen Dritter einfach tolerieren – im Interesse der eigenen ›Freiheit‹. Schlechte Luft? Atemmasken helfen und schaffen Arbeitsplätze. Zu viele Waffen unterwegs? Kauf dir deine eigene. Pech gehabt auf dem Heiratsmarkt? Nette AusländerInnen stehen bereit. Vergeblicher Kinderwunsch? Die Agentur ›Pausbäckchen‹ hilft gerne weiter. Es ist nun interessant, ja geradezu verblüffend, dass innerhalb dieses von (a) bis (c) aufgespannten Möglichkeitsraumes für den Ausgleich von Externalitäten weder mit Hilfe der Ethik noch mit Hilfe der Wissenschaft entschieden werden kann, welche Lösungen wir jeweils bevorzugen sollten. Die Wissenschaft kann das nicht leisten, da sie empirische Zusammenhänge beschreibt und erklärt, aber keine Normen vorgibt; und die Ethik kann das nicht leisten, da wir nicht wissen, welche der verschiedenen konkurrierenden normativen ethischen Systeme wir akzeptieren sollten (um die empirischen Folgen solcher Akzeptanz 3 gar nicht erst zu problematisieren). Außerdem sehen wir gerne über die Tatsache hinweg, dass in pluralistischen Gesellschaften die Bürger selbst schon einander widersprechende moralische Forderungen stellen. Die daraus folgenden Dilemmata lassen sich nicht dadurch beseitigen, dass man der einen Seite sagt, sie habe unrecht. 4 Ihre Beseitigung ist dann, systematisch gesehen, eine Sache gesellschaftlicher Übereinkunft und gelingenden Interessenausgleichs. 5 Und es ist durchaus denkbar, dass wir in modernen Gesellschaften der philosophischen Reflexion der Moral nicht mehr als nur eine beratende und klärende Funktion zugestehen können. 6 Die empirischen Folgen einer moralischen Praxis sind für die moralische Beurteilung dieser Praxis nicht unerheblich. Vgl. dazu Engel (1999). 4 In dieser Situation geht es zunächst darum, den Konfliktparteien ein MediationsAngebot zu unterbreiten: »Wenn die Fronten zwischen zwei streitenden Parteien verhärtet sind, steht der Ethik-Experte vor einer wichtigen Vermittlungsaufgabe – nämlich die Meinungen und Sichtweisen der einen Seite für die andere nachvollziehbar zu machen.« (Birnbacher, 2012; S. 246. Meine Übersetzung.) 5 Zum Vorrang der Demokratie vor der Philosophie vgl. auch Rorty (1988). 6 Vgl. dazu Romfeld (2010; insbes. S. 147). 3
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2.
Sandels moralische Begrenzungen des Marktes »Doch selbst wenn man von solchen Externalitäten absieht, sind manche Markttransaktionen als moralisch anstößig zu beanstanden.« (MS 10).
Obwohl es bei einer Tauschhandlung also immer Externalitäten gibt, und obwohl daher immer wieder Regelungen gefunden werden müssen, wie wir in der jeweiligen Gesellschaft mit ihnen umgehen wollen, sind Externalitäten im üblichen Sinne nicht die einzige Quelle der Regulierung oder gar des Verbots von Markttransaktionen. Eine weitere Quelle ist ›die Moral‹. Auch hier stellen wir wieder eine etwas formalere Fassung des Arguments an den Anfang. (4) A tauscht mit B ein Gut X1 oder eine Dienstleistung Y1. Davon sind C, D, … negativ betroffen. Doch sie erheben nun eine Art von Einwänden, die gar nicht zu bestimmten Kompensationen führen können, da sie prinzipieller Natur sind: Man hätte ›aus moralischen Gründen‹ gar nicht tauschen dürfen. Man beachte, dass wir nicht erst mit diesem Schritt das unwegsame Gelände moralischer Diskussionen betreten haben. Auch die Maxime, unbeteiligte, aber betroffene Dritte für erlittene Schäden zu kompensieren, ist ja bereits moralischer Natur: Wir erwarten voneinander (denn es liegt in unserem eigenen Interesse), dass wir nicht systematisch die Folgen von Handlungen und Regeln erdulden müssen, die nur im Interesse von Wenigen sind; darum ist es ein wichtiger moralischer Grundsatz, dass bei der gesellschaftlichen Regelsetzung die Interessen aller und nicht nur die Interessen der Meisten (oder gar nur von Wenigen) Berücksichtigung finden sollen. Diese Auffassung findet sich daher auch in einem Grundlagentext der liberalen Sozialphilosophie, nämlich in John Stuart Mills ›Über die Freiheit‹. Danach darf der Staat Tauschhandlungen regulieren oder sogar verbieten, wenn ihre (empirisch nachgewiesenen!) Folgen Gesundheit und Leben von Dritten gefährden. 7 Wenn wir hier also Sandels Argumenta-
Vgl. dazu Mill (1859, 2009). Man beachte, dass Mill in diesem Buch die Grenzen sehr eng zieht, wenn es darum geht, objektiv schädigende externe Effekte zu definieren: Bloßes Beleidigtsein oder ›verletzte moralische Gefühle‹ gehören nicht dazu. Vgl. Kap. IV und V, bes. S. 309: »Das Problem ist nicht, die Handlungen der Individuen einzuschränken, sondern sie zu unterstützen.«
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tion kritisieren, so tun wir das nicht von einem Standpunkt außerhalb ›der Moral‹, sondern im Namen einer konkurrierenden Moral. Der Grund, warum nach Sandel manche Tauschhandlungen moralisch zweifelhaft sind, liegt auf einer anderen Ebene. Ihm geht es nicht um die üblichen Externalitäten, sondern um die Gefährdung der ›moralischen Grundlagen der Gesellschaft‹ durch die um sich greifende Neigung, Märkte zu sehen, wo es eigentlich um moralische Entscheidungen gehe. Das Problem der verspäteten Eltern (MS 36– 37) ist dafür ein aufschlussreiches Beispiel. Die Eltern hatten sich bei der Anmeldung per Vertragsabschluss verpflichtet, ihre Kinder bis zu einem bestimmten Termin vom Kindergarten abzuholen. Nun gilt der moralische Grundsatz: Versprechen müssen gehalten, Verträge eingehalten werden! Daher scheint es auch legitim zu sein, sie moralisch unter Druck zu setzen, wenn sie diesen Vertrag nicht einhalten – vor allem dann, wenn die Angestellten zu spüren glauben, dass die Eltern sie aus nichtigen Gründen warten lassen oder nach Einführung der moralisch motivierten Strafgebühren ungerührt Geld auf den Tisch legen. Wäre es denn für eine Gesellschaft nicht verderblich, wenn wir zuließen, dass Menschen die Axt an eine der Wurzeln menschlichen Zusammenlebens legen – an die Regel, dass Absprachen einzuhalten sind? Zwei Anmerkungen sind hier angebracht. Erstens werden hier nicht die zahlreichen möglichen Motive und Umstände betrachtet, die dazu führen können, dass Eltern zu spät kommen. Ihre Sicht der Dinge kommt in Sandels Argumentation systematisch nicht vor. Doch es gibt durchaus nicht nur nichtige Gründe, warum Eltern sich verspäten. Dies setzt ihn einmal mehr dem Verdacht aus, nicht symmetrisch zu argumentieren. 8 Zweitens wird hier der Markt als Konfliktlösungsmittel unterschätzt. Setzt man ihn dagegen zu diesem Zweck ein, muss man (auch) in diesem Fall nicht moralisieren, sondern man kann Märkte schaffen: Eltern würden dann einfach Verspätungszuschläge zahlen (und nicht ›Strafgebühren‹ !) oder sogar gleich die teurere ›Spätbetreuung mit Zeitpuffer‹ buchen, so sie denn verfügbar ist; und die Angestellten würden dann nicht mit gerunzelten Stirnen, sondern mit geöffneten Portemonnaies in aller Ruhe die Ankunft der Eltern abwarten – was natürlich voraussetzt, dass sie an den Mehreinnahmen auch angemessen beteiligt werden. Wenn Sandel also schreibt: »Wir müssen auch fragen, ob Markt8
Vgl. dazu die Argumentation von Pies (2016, S. 103 und S. 112).
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normen nicht-wirtschaftliche Normen verdrängen, und wenn dem so ist, ob das einen Verlust bedeutet, um den man sich sorgen sollte« (MS 49), so stelle ich umgekehrt die Frage, ob man sich nicht viel mehr darum sorgen sollte, dass ›moralische‹ Normen immer wieder beginnen, Marktnormen zu verdrängen – und mit ihnen das konfliktlösende Potenzial, das den letzteren, aber nicht den ersteren innewohnt. Der Soziologe Niklas Luhmann schreibt mit Recht: »Empirisch gesehen ist moralische Kommunikation nahe am Streit und damit in der Nähe von Gewalt angesiedelt. Sie führt im Ausdruck von Achtung und Missachtung zu einem Überengagement der Beteiligten.« 9 Man kann es mit dem Hume-Forscher Gerhard Streminger auch noch etwas unfreundlicher ausdrücken: Moralische Kommunikation, die nach Sandel (MS 3; 57; 87; 90) ja auf längere Sicht auf die ›Domestizierung der Märkte‹ hinauslaufen soll, führt eher zu moralisch »erhitzter Halbbildung« 10 als zu Problemlösungen, die den Interessen aller Beteiligten dienen. Und da Märkte allgemein für die verteilungspolitische Frage von großer Bedeutung sind, wer wieviel bekommt, sind sie für ›moralische‹ Kritik besonders anfällig. Das gilt auch deshalb, weil für jede Tauschhandlung zwischen Menschen ein sich als ›moralisch‹ verstehendes Argument gefunden werden kann, das diese Handlung stigmatisiert und dann zu Versuchen führen kann, sie politisch zu unterdrücken – von den Käufen an der Fleischtheke und in den Autohäusern angefangen über menschliche Freizeitgestaltung (sollte man angesichts des Zustandes der Welt überhaupt Freizeit haben dürfen?) und die Art der Intimbeziehungen bis hin zu den Tauschhandlungen in einer Geburtsklinik: Wäre es ›aus ökologischen Gründen‹ nicht sogar ›für die Erde besser, wenn es kaum oder sogar überhaupt keine Menschen gäbe‹ ? 11 Kurz: Dem moralisch verbrämten Willen zur Macht eröffnet sich hier ein weites Feld.
3.
Märkte und ethischer Objektivismus
Woher rührt diese krypto-autoritäre Tendenz von Sandels Argumentation? Sie unterstellt ja nicht nur, dass die von ihm dringend empLuhmann (1990; S. 26). Vgl. dazu Streminger (2002). 11 Zu solchen antihumanistischen Vorstößen vgl. Verbeek (1990, 1994) und Horstmann (1985). 9
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fohlenen moralischen Auseinandersetzungen mit einer einvernehmlichen Lösung enden können, zu denen es dann nur noch ›unmoralische‹ Alternativen gibt, sondern sie legen vielen Beteiligten ein Verhalten nahe (oder sie erlegen es ihnen sogar auf), das sie freiwillig nicht gewählt hätten. Die Grundlage seiner Argumentation ruht dabei auf einer metaethischen Entscheidung, die Sandel zwar trifft, aber nicht diskutiert: die Entscheidung für einen ethischen Objektivismus. Ethische Objektivisten glauben, dass man moralische Streitigkeiten mit dem gleichen Grad an Zuverlässigkeit entscheiden kann, wie man, sagen wir, die Anzahl der Personen im Raum feststellen kann, in dem Sie sich gerade befinden. Kurz: Moralische Werte sind Tatsachen – und Tatsachen lassen sich ja, ›Gesundheit‹ und ›guten Willen‹ vorausgesetzt, nach verbreiteter Auffassung auf einfache Weise feststellen. Und ebenso, wie man beim Grand Canyon dessen Größe, Länge und Tiefe ›objektiv feststellen‹ kann, 12 lässt sich nach Sandels Auffassung auch dessen ›Wert‹ wahrnehmen – und wir können höchstens dabei versagen, das ›wertangemessen‹ zu tun. In Sandels Worten: »Indem er [der ebenso wohlhabende wie frivole Wanderer, G. E.] den Grand Canyon wie einen kostspieligen Müllcontainer behandelt, hat er dabei versagt, ihn [!] in angemessener Weise wertzuschätzen.« (MS, 38) Sandel übersieht dabei allerdings, dass nicht der Grand Canyon Ansprüche stellt, sondern andere Menschen: Wir verlangen in Ansehung des Grand Canyons etwas voneinander – so dass die ›Objektivität‹ zur Intersubjektivität schrumpft und damit das Problem des zwischenmenschlichen Interessenausgleichs wieder zurückkehrt, das man mit der Einführung ›objektiver Werte‹ eigentlich gelöst zu haben hoffte. 13 Aber Sandel hat in einem Punkt recht: Es gibt in seiner Problemdarstellung tatsächlich irgendwo ein ›Versagen‹ – nämlich in der von ihm skizzierten Sanktionierung müllerzeugender Aktivitäten. Wenn wir darin übereinkommen, dass uns der Grand Canyon in unberührtem Zustand besonders wichtig ist, dann sollten wir diesem Gefühl nicht mit einer Geldbuße von lediglich 100 Dollar, sondern mit einer einkommensabhängigen Gebühr Ausdruck verleihen, die dann Diese abkürzende Redeweise sieht von den Schwierigkeiten bei den Messverfahren und den notwendigen definitorischen Festlegungen ab (wo beginnt, wo endet er?). 13 Das empirisch bedeutsamste Müllproblem dürfte übrigens nicht von den Gutsituierten ausgehen, die in der linken Hand einen Hundertdollarschein für die zu erwartende Geldbuße und in der rechten Hand eine leere Bierdose halten, sondern von denjenigen, die in beiden Händen eine leere Bierdose halten. 12
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durchaus 1.000.000 Dollar betragen kann. Und wer zahlungsunfähig ist, leistet dann eben ersatzweise einige Monate ehrenamtliche Arbeit für ökologische Belange. So können wir moralische Ansprüche durch Regeln institutionalisieren – und moralisch erhitzte Halbbildung durch ökonomisch informierte Institutionenanalyse abkühlen. Ein Punkt muss hier noch hervorgehoben werden. Der Markt fußt nicht auf dem ›objektiven Wert‹, sondern auf der subjektiven Wertschätzung von Dingen, Vorgängen, Aktivitäten und Personen. Für das Zustandekommen eines Markttauschs genügen also schon zwei Personen, die der Meinung sind, dass ihnen das die Sache wert ist. Zwei Menschen können sich unter Marktbedingungen also besserstellen, ohne jedes Mal Dritte, Vierte und Fünfte fragen zu müssen; und damit sind Märkte nicht nur Orte standardisierter Austauschbeziehungen (oft als ›Kommerzialisierung‹ verunglimpft), sondern auch eine erstrangige Quelle von Innovation, Produktivität und Freiheit. 14
4.
Märkte und Freiheit »Geld bedeutet doch geprägte Freiheit und hat darum für einen jeder Freiheit beraubten Menschen den zehnfachen Wert.« Fjodor M. Dostojewski Aufzeichnungen aus einem toten Hause
In diesem Abschnitt gehe ich auf zwei weitere Beispiele Sandels ein, die mich ebenfalls nicht davon überzeugen, dass wir es bei ihm mit einer zukunftsträchtigen Weise zu tun haben, an die Ursprünge der Ökonomik »in Ethik und Politischer Philosophie« (MS 90) in angemessener und moralisch zu rechtfertigender Weise anzuknüpfen. Im Gegenteil: Seine Argumentationsweise stärkt bei seinen Lesern und Zuhörern nur allzu leicht ein paternalistisches Grundgefühl. 15 Wenn man sich als Paar einig ist, kann man gewissermaßen ›die Welt aus den Angeln heben‹. Diesem Gefühl gab Richard Wagner am Ende des Ersten Aufzugs der ›Walküre‹ unvergesslichen Ausdruck: Siegmund und Sieglinde erkennen sich hier als eines Geistes (und sogar, um die Frivolität jeder moralischen Innovation hervorzuheben, sogar als eines Blutes) – und stürmen begeistert hinaus in die Sommernacht (»Winterstürme wichen dem Wonnemond«). 15 Der Ausdruck ›Paternalismus‹ hat seine Wurzel in der römischen Familienrechtsordnung. Heute bezeichnen wir mit ihm vormundschaftlich geprägte politische Beziehungen auch außerhalb des familiären Bereichs. 14
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Die moralischen Grenzen der Moral
Es besteht darin, dass moralphilosophisch Versierte schon wissen, was den Leuten zusteht und was nicht, und dass sich das dann in rechtsethischen Diskussionen 16 auch durchsetzen wird. Meine Beispiele sind die bezahlten Walrossjagden und die Ökonomik des Schenkens. (a) Die bezahlten Walrossjagden (MS 50–57) erwähne ich nicht, um die befremdlich anmutenden heldischen Tugenden aufzugreifen, die von Sandel hier offensichtlich beschworen werden. Es geht mir vielmehr um das, was aus seiner Kritik empirisch folgen würde, könnte er sich mit seinen Ansichten durchsetzen. Dazu gehört, dass die Inuit wegen ausbleibender Kunden größere Schwierigkeiten haben, die von ihnen ›seit Tausenden von Jahren eingeübte Lebensweise‹ zu verändern und damit im Grunde daran gehindert werden, Anschluss an die moderne Zivilisation zu finden. Sandel argumentiert hier also entwicklungspolitisch strukturkonservativ. 17 Interessanterweise kommt dieser Zusammenhang auch hier wieder nur dann in den Blick, wenn man den empörten Blick von den ›Tötungstouristen‹ und ihren ›Helfershelfern‹ auf die Inuit selbst lenkt. Denn es ist ja denkbar und sogar zu erwarten, dass einige von ihnen dann in diesem Geschäft sogar als Unternehmer auftreten und mit Hilfe von Geldeinkommen allmählich die Voraussetzungen für eine Erweiterung ihrer zivilisatorischen Möglichkeiten schaffen werden. Ein moralisierend vorgetragener Angriff auf ihre Austauschbeziehungen lässt sich daher nicht nur als Durchsetzung eines ›höheren moralischen Prinzips‹ deuten, das wir ›dem Markt endlich entgegensetzen müssen‹, sondern ebenso gut und noch viel besser als ein Anschlag auf ihre moralische Selbstbestimmung. Ich jedenfalls kann nicht erkennen, dass es einen moralischen Fortschritt bedeutet, wenn wir Menschen daran hindern, ihren Ausgang aus einer steinzeitlichen Lebensweise zu finden. (b) An einer anderen Stelle seines Aufsatzes spricht sich Sandel dafür aus, das Schenken von Geld »zumindest zwischen Liebenden, Ehepartnern und anderen Nahestehenden« weiterhin zu stigmatisieren, da die Verwechslung der Institution ›Geldtransfer‹ mit der InstiDie Rechtsethik diskutiert moralische Probleme mit Blick auf juristische Regeländerungen. 17 Vgl. hierzu auch Pies (2016; S. 112). Nicht zufällig mündet die Erwähnung traditioneller Tugenden oft in konservative Vorschläge: »Letztlich bringt der Rückgriff auf eine überkommene Sittlichkeit nicht nur die Gefahr ethischer Fremdbestimmung mit sich, sondern auch die eines unhaltbaren moralischen Konservativismus.« (Birnbacher, 2012; S. 245. Meine Übersetzung.) 16
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Gerhard Engel
tution ›Schenken‹ Normen schwäche, »die es wert sind, bewahrt und gestärkt zu werden – etwa Achtsamkeit und Rücksichtnahme« (MS 15). An diesem Beispiel zeigt sich zweierlei: Zum einen verblüfft es, dass hier moralische Verurteilungen auf der Grundlage mangelnder situativer Detailgenauigkeit ausgesprochen werden. Zum anderen scheint es mir beim Moralphilosophen Sandel an einem angemessenen Verständnis der Institution ›Geld‹ zu mangeln. Um damit zu beginnen: Auch hier wird wieder einseitig argumentiert und die Situation nicht aus der Sicht des Beschenkten gesehen. Denn warum ist Geld »geprägte Freiheit«? Weil es dem Beschenkten maximale Wahlfreiheit gibt – nämlich die Freiheit, selbst zu bestimmen, auf welche Weise das Geld ausgegeben oder vielleicht sogar gespart wird. Diese Wahlfreiheit wird durch Sachgeschenke extrem eingeschränkt. Nahezu jeder wird schon einmal erlebt haben, dass gut gemeinte Sachgeschenke mit höflicher Begeisterung quittiert werden mussten. 18 Gewiss – ein achtlos hingeworfener 500-Euro-Schein wird ebenfalls nicht ungeteilte Begeisterung entfachen; aber das liegt nicht am Geldgeschenk als solchem, sondern an seiner Flankierung, am framing: Es kommt hierbei darauf an, mit Hilfe geringwertiger überraschender Kleinigkeiten zu signalisieren, dass man sich durchaus viele Gedanken um den Beschenkten gemacht hat. Und das legt die optimale Vermeidungsstrategie der weihnachtlichen Nutzeneinbuße von Sachgeschenken nahe, die sehr nahe an der von Sandel kritisierten Position ist: Viele liebevoll zusammengesuchte Kleinigkeiten signalisieren, dass einem der Beschenkte wichtig ist, und ein ordentlicher Geldbetrag signalisiert, dass einem auch die Entscheidungsfreiheit des Beschenkten wichtig ist – der ja auch in letzter Minute seine Meinung darüber geändert haben kann, was er sich eigentlich wünscht. Zum anderen gilt: Es kommt in moralphilosophischen Erörterungen immer auf die Details der Situation an. Geldgeschenke zwischen Paaren mit gemeinsamer Kasse sind nicht unmoralisch und gefährden auch nicht die Grundlagen der Beziehung oder gar der Gesellschaft, denn sie sind sinnlos; doch schon bei getrennter Kasse kann das anders aussehen. Kinder und Jugendliche freuen sich auf die Sachen, die sie sich gewünscht haben, zumal sie selbst nicht in jedem Alter über das Know-how oder das Recht verfügen, sie einzukaufen. Moralisch aufgeklärte Konsumenten heben daher sicherheitshalber die Kaufquittungen auf, damit sich der Beschenkte notfalls in den nachweihnachtlichen Umtauschtrubel einreihen kann.
18
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Die moralischen Grenzen der Moral
Aber auch ihnen kann man mit kleineren Geldbeträgen signalisieren, dass es nicht nur Papa und Mama sind, die letztlich bestimmen, was gut für das Kind ist, sondern dass sie eine entsprechende Entscheidung in altersangemessenem Rahmen auch ihnen selbst zutrauen. Sachgeschenke an Erwachsene wiederum können dem Beschenkten in bestimmten Fällen dringend benötigte Zeit sparen, die er höher gewichtet als Geld. Kurz: Es kommt immer darauf an – und ohne eine präzise Erörterung der in moralphilosophischen Zusammenhängen entscheidenden situativen Details erscheint mir Sandels pauschale und (damit oft und gern verbundene) moralisierende Kritik an Geldgeschenken wenig überzeugend.
5.
Abschließende Überlegungen
Meine moralische Kritik an Sandels moralischer Kritik des Marktes lässt sich in folgenden beiden Thesen zusammenfassen. Erste These: Sandels Argumentationsstrategie verstößt gegen ein wichtiges moralisches Prinzip – nämlich gegen den schon im Römischen Recht bekannten Grundsatz, auch die andere Seite zu hören. Doch erst wenn die Interessen aller Beteiligten und Betroffenen auf den Tisch kommen und die Funktionsweise von Märkten verstanden wird, kann man seriös über Vorzüge und Nachteile des Marktes debattieren. Dies unterlässt Sandel sowohl im Grundsätzlichen (weisen Märkte nicht auch wichtige Vorteile auf?) als auch bei den meisten seiner Beispiele. So muss der Eindruck entstehen, dass er für verbreitete Ressentiments lediglich einen Resonanzboden liefert – statt solche Ressentiments zu kritisieren und damit einen Beitrag zur Aufklärung zu leisten. Zweite These: Sandels Argumentationsstrategie verstößt gegen ein wichtiges intellektuelles Prinzip, das schon in der Scholastik bekannt war: Wenn du eine Position kritisieren und gleichzeitig intellektuell ernst genommen werden möchtest, dann darfst du das erst dann tun, wenn du die kritisierte Position in ihre stärkste Form bringst und dich selbst zu ihrem Anwalt gemacht hast. Dass Märkte hingegen vom Wohlwollen des Nächsten befreien können; dass sie Alternativen bieten, wenn Menschen traditionaler Beziehungen überdrüssig sind; dass sie Neuerungen fördern; dass sie Macht begrenzen helfen; dass sie den Menschen einen ungeahnten Wohlstand und eine ungeahnte Entscheidungsfreiheit brachten; dass es letztlich 181 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Gerhard Engel
Märkte sind, denen wir die gewaltige Zunahme der Anzahl der Menschen verdanken und damit unserer potenziellen Tausch- und Sexualpartner – all dies findet bei Sandel kaum Erwähnung. Doch funktionierende Märkte sind Agenturen der Freiheit; darum ist es auch so schwer, sie zu etablieren und zu schützen – nicht nur vor Versuchen, sie zu monopolisieren, zu behindern und zu vermachten, sondern auch vor Versuchen, sie mit zunächst plausibel wirkenden ›moralischen‹ Argumenten einzuschränken oder gar wieder abzuschaffen. Und deshalb ist eine moralische Kritik der gängigen ›Moral‹ kein Paradox, sondern eine Notwendigkeit.
Literatur Birnbacher, Dieter (2012): Can There Be Such a Thing as Ethical Expertise? In: Analyse & Kritik 34, Heft 2, S. 237–249. Engel, Gerhard (1999): Pragmatische Moralskepsis. Zum Verhältnis von Moral, Moralphilosophie und Realität. In: Klaus Peter Rippe (Hrsg.): Angewandte Ethik in der pluralistischen Gesellschaft. Freiburg/Schweiz, S. 161–200. Horstmann, Ulrich (1985): Das Untier. Frankfurt am Main. Luhmann, Niklas (1990): Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Frankfurt am Main. Mill, John Stuart (1859/2009): Über die Freiheit. Hrsg. von Bernd Gräfrath. Stuttgart. Pies, Ingo (2016): Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik: Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Michael Sandel, in diesem Band. Romfeld, Elsa (2010): Über die Rolle des Moralphilosophen in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien. In: Jungert, Michael et al. (Hrsg.): Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme. Darmstadt, S. 143–156. Rorty, Richard (1988): Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie. In: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays. Stuttgart, S. 82– 125. Sandel, Michael J. (2013, 2016): Marktdenken als Moraldenken. Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten, in diesem Band. Streminger, Gerhard (2002): Die Alternative zur erhitzten Halbbildung. Gedanken zu Georges Minois, Geschichte des Atheismus. In: Aufklärung und Kritik 9, Heft 1, S. 191–194. Verbeek, Bernhard (1990/1994): Die Anthropologie der Umweltzerstörung. Die Evolution und die Schatten der Zukunft. Darmstadt. 2. Auflage.
182 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Markus Beckmann
Wollen – Können – Sollen: Normativer Pluralismus und Michael Sandels Kritik der Ökonomik im Spiegel des praktischen Syllogismus Sollen menschliche Organe handelbar sein? Sollen Inuit ihr Recht auf den Abschuss von Walrössern an Sportjäger verkaufen können? Oder allgemein: Sollen Marktmechanismen auf Bereiche ausgedehnt werden, die bislang außerhalb des Marktes lagen? Während der Philosoph Michael Sandel (2012) in seinem Buch »What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets« Gründe dafür betrachtet, diese Fragen mit einem Nein zu beantworten, geht es ihm in seinem Aufsatz »Marktdenken als Moraldenken« (Sandel 2013, 2016) gar nicht um eine konkrete Antwort, sondern darum, auf die besondere Art dieser Fragen hinzuweisen und zu reflektieren, inwiefern die Ökonomik zur Bearbeitung dieses Fragetyps angemessen aufgestellt ist. Der vorliegende Beitrag nutzt die Figur des praktischen Syllogismus, um zunächst die Art der hier betrachteten Fragestellung näher zu bestimmen und sodann Sandels Kritik an der Ökonomik zu rekonstruieren und mit eigenen Überlegungen fortzuführen. Die These lautet: Die von Sandel in seinem 2013er Aufsatz aufgeworfene Problemstellung reicht weit über die in seinem Buch behandelten Grenzen des Marktes hinaus. Sie verweist vielmehr auf das grundsätzliche Verhältnis von positiver Analyse und moralischem Pluralismus in der Gesellschaft. Es geht um die Frage: Wie kann die Wissenschaft (oder: Wie können die Wissenschaften) in der Gesellschaft konstruktiv zur Verständigung moralisch strittiger Zielkonflikte beitragen?
I.
Der praktische Syllogismus und Sandels Kritik an einer wertfreien Ökonomik
Sollen Sexarbeitende ihren Körper auf dem Markt anbieten dürfen? Oder: Sollen Blutspenden bezahlt werden? – Die hier interessierende Gemeinsamkeit dieser Fragen ist es, dass sie auf die Generierung von 183 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Markus Beckmann
Entscheidungs- oder Sollens-Aussagen abzielen. Bei der Entscheidung zwischen verschiedenen an sich möglichen Optionen ist eine Option auszuwählen und die Frage zu beantworten: Was soll ich tun? Bzw. gesellschaftlich formuliert: Was sollen wir tun? In der Philosophie bringt die Figur des praktischen Syllogismus 1 den Gedanken zum Ausdruck, dass die Generierung einer solchen Sollens-Aussage nur als eine Art Wenn-wenn-dann-Dreischritt möglich ist, der zwei Arten von Aussagen miteinander verknüpft (Abb. 1). 1. Normative Prämissen
1. Wollen
+ 2. Positive Prämissen
+ 2. Können
+ 2. Mittel
+ 2.
= 3. Urteil
= 3. Sollen
= 3. Entscheidung
= 3. Folgerung
1. Ziele
1. Werte, Ideale Restriktionen, empir. Bedingungen
Abbildung 1: Der praktische Syllogismus in verschiedenen Variationen
Die erste Kategorie von Aussagen [1] bezieht sich auf die sogenannten normativen Prämissen. Hier geht es um die Fragen: Was wollen wir? Was ist uns in einer Entscheidungssituation wichtig? Was sind unsere Werte? Welche Ziele verfolgen wir mit einer Handlung? Die zweite Kategorie von Aussagen [2] bezieht sich auf die positiven Prämissen. Hier geht es um die Fragen: Was können wir? Welche Mittel stehen für eine Handlung zur Verfügung? Was sind die Restriktionen und Möglichkeiten einer Entscheidung inklusive ihrer Konsequenzen? Der praktische Syllogismus macht nun darauf aufmerksam, dass sich gehaltvolle Sollens-Aussagen erst durch die Wenn-wenn-dannVerknüpfung von normativen und positiven Prämissen ableiten lassen. Illustriert am Beispiel: Um die Frage zu beantworten, ob ich beim Fahrradfahren einen Helm tragen soll [3], benötige ich sowohl normative [1] als auch positive Prämissen [2]. Eine normative Prämisse (Was will ich? Was ist mir wichtig?) wäre z. B., dass die Erhaltung der Ein »Syllogismus« bezeichnet das Schema einer logischen Schlussfolgerung: Aus Aussage A und Aussage B folgt Aussage C. Für eine Diskussion des praktischen Syllogismus und weitere Anwendungen in der Literatur vgl. grundlegend Homann (1985; S. 53 f.), ferner Gerecke (1998, S. 291 ff.) sowie ausführlich Suchanek (2015).
1
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Wollen – Können – Sollen
eigenen Gesundheit ein Ziel ist [1]. Eine positive Prämisse (Was kann ich? Was ist möglich?) wäre etwa, dass ein Fahrradhelm bei Unfall vor Gesundheitsschäden schützt [2]. Erst beide Prämissen zusammengenommen machen eine valide Schlussfolgerung möglich: [1] Wenn Dir Deine Gesundheit wichtig ist und [2] wenn ein Helm die Gesundheit schützt, [3] dann solltest Du beim Fahrradfahren einen Helm tragen. 2 Das Beispiel verdeutlicht, dass der praktische Syllogismus ein alltagsweltlich recht triviales Entscheidungsschema ist. Für die Wissenschaft ergeben sich jedoch nicht-triviale Implikationen, und zwar aufgrund der unterschiedlichen Qualität normativer und positiver Prämissen. Positive Prämissen beruhen auf Beschreibungen von Fakten, empirischen Zusammenhängen, etc. Hier lautet die Frage: Was ist der Fall? Die Bearbeitung dieser Frage ist einer wissenschaftlichen Methode zugänglich. Ob ein Fahrradhelm die Gesundheit schützt, lässt sich beforschen: durch Crash-Tests, Computer-Simulationen oder die statistische Auswertung von Unfalldaten. Durch wissenschaftliche Methoden lassen sich alternative positive Prämissen erstellen, überprüfen und vor allem auch wissenschaftlich widerlegen. 3 Normative Prämissen hingegen beruhen nicht auf Fakten, sondern auf Werturteilen. Werturteile aber lassen sich mit dem eben genannten wissenschaftlichen Instrumentarium weder begründen noch überprüfen oder gar falsifizieren. Ob die Gesundheit ein normativ gesehen hohes Gut ist, lässt sich nicht per Röntgenaufnahme untersuchen und kann nicht ohne Rückgriff auf andere normative Prämissen begründet werden. 4 Weder die normative noch die positive Prämisse reichen allein – rein isoliert betrachtet – für eine solche Schlussfolgerung aus. Die Gesundheit mag wichtig sein; ist indes nicht klar, ob ein Helm die Gesundheit schützt, bleibt offen, ob man einen Helm tragen soll. Umgekehrt mag ein Helm die Gesundheit schützen; wenn Gesundheit für einen Lebensmüden aber kein Ziel darstellt, ist die positive Prämisse für ihn auch kein Grund, mit Helm zu fahren. 3 Gerade diese Möglichkeit der Falsifizierung (Widerlegung) und Kritik macht zum Beispiel für Popper (1934, 1989) ein Merkmal von Wissenschaftlichkeit aus. 4 Die Wissenschaft mag zum Verständnis der Konsequenzen von guter oder schlechter Gesundheit beitragen. Die normativen Kriterien zur Bewertung dieser Konsequenzen lassen sich jedoch nicht durch die gleiche Forschung wissenschaftlich letztbegründen. Zwar kann man statistisch belegen, dass eine gute Gesundheit zu höherer Lebenszufriedenheit von Menschen beiträgt. Aber nur wenn Lebenszufriedenheit wiederum als normativ wünschenswert gilt, folgt im Modus des praktische Syllogis2
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Markus Beckmann
Angesichts ihrer unterschiedlichen Zugänglichkeit zur wissenschaftlichen Bearbeitung hat Max Weber mit seinem berühmten Werturteilsfreiheitspostulat eine analytische Trennung zwischen positiven und normativen Prämissen angemahnt. 5 Michael Sandel verweist nun darauf, dass diese analytische Trennung sich in der Wissenschaft in eine Art Arbeitsteilung übersetzt habe (Abbildung 2 a und b). Auf der einen Seite sehe sich die Ökonomik als eine werturteilsfreie Wissenschaft, die sich dem Rückgriff auf Werturteile enthalte und auf die Analyse positiver Prämissen spezialisiere (MS 5 f.). Auf der anderen Seite betreibe die Ökonomik eine Art »Outsourcing«, indem sie die Zuständigkeit für die Diskussion normativer Fragen wie etwa von Gleichheit oder Fairness in die Philosophie und Ethik verweise (MS 7). 1. + 2.
Normative Prämisse Positive Prämisse
= 3. Urteil
1. »Ethik« + 2.
wertfreie Ökonomik
= 3.
= 3. (a)
1.
Ziel: Nutzen erhöhen und Besserstellung der Menschen
+ 2.
Märkte sind das effizienteste Mittel zur Nutzenmehrung
= 3.
Märkte einrichten; Marktversagen beseitigen; Effizienz erhöhen
(b)
(c)
Abbildung 2: Praktische Syllogismus und Sandels Kritik an der (wertfreien) Ökonomik
Mit Hilfe des praktischen Syllogismus ist es nun möglich, sowohl Sandels Kritik an der Ökonomik zu rekonstruieren als auch weiterreichende Implikationen zu verdeutlichen: • Der praktische Syllogismus zeigt, dass eine Diskussion über gesellschaftliche Entscheidungen – ob z. B. Marktmechanismen angewendet werden sollen – sowohl normative als auch positive Prämissen erfordert. Eine Ökonomik, die sich selbst als rein positive Wissenschaft (miss-)versteht, sich also nicht mit normativen Prämissen beschäftigt, kann somit zu gesellschaftlichen Entmus, dass die Gesundheit gefördert werden sollte. Wenn Lebenszufriedenheit nicht wünschenswert ist – etwa für jemanden, der im Diesseits möglichst leiden möchte, um im Jenseits dafür belohnt zu werden –, lässt sich das Argument zugunsten der Gesundheit nicht mehr begründen. 5 Vgl. Weber. Für eine Darstellung und konstruktive Kritik Webers vgl. Pies (1993, Kapitel 1).
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Wollen – Können – Sollen
•
•
II.
scheidungsfragen keinen umfassenden Beitrag leisten und gibt somit ihren gesellschaftlichen Diskursanspruch auf (Abbildung 2a). Dies gilt spiegelbildlich freilich auch für die Ethik! Denn wenn diese sich als rein normative Wissenschaft (miss-)versteht, sich also nicht mit den Möglichkeiten und Folgen (positiven Prämissen) von gesellschaftlichen Entscheidungen beschäftigt, kann auch sie keinen eigenständigen umfassenden Diskursbeitrag leisten (Abbildung 2b). Die Diskussion über Ziele und Mittel lässt sich somit nicht dauerhaft trennen. Eine wie auch immer verstandene »Arbeitsteilung« zwischen positiver Analyse (hier: Ökonomik) und normativer Analyse (hier: Ethik) mag zu Spezialisierungsgewinnen führen. Diese Arbeitsteilung ist aber nur dann wirklich fruchtbar, wenn die Teilergebnisse am Ende auch wieder integriert werden. Arbeitsteilung erfordert Integration.
Sandels Kritik am impliziten normativen ›Monismus‹ der Ökonomik
Sandels erste Kritik an der Ökonomik lautet, dass diese sich selbst als wertfreie Wissenschaft (miss-)verstehe und dadurch rein logisch gar nicht in der Lage sei, zu gesellschaftlichen Entscheidungsfragen mit eigenen Positionen Stellung zu nehmen. Ebenfalls mit Hilfe des praktischen Syllogismus lässt sich Sandels zweite Kritik interpretieren. Die Tatsache, dass Ökonomen fortlaufend Sollens-Aussagen zu gesellschaftlichen Entscheidungsfragen machen, zeige auf, dass die Ökonomik doch auf normative Prämissen zurückgreife – ohne diese jedoch offen und reflektiert auszuweisen. Für Sandel ist die Ökonomik damit gar nicht wertfrei, sondern eine im Kern normative Wissenschaft (MS 8). Worin besteht nun dieser implizite normative Kern? Sandel sieht hier den Ansatz des Utilitarismus, der den Nutzen – gemindertes Leid und erhöhtes Wohlergehen – der Menschen als normatives Leitkriterium sieht. Nimmt man diese normative Prämisse (die Mehrung von Nutzen und die Besserstellung der Beteiligten ist das Ziel) zum Ausgangspunkt, lässt sich die von Sandel unterstellte Tendenz der Ökonomik, reflexartig eine Ausweitung von Marktmechanismen zu fordern, ihrerseits im Schema des praktischen Syllogismus darstellen (Abbil187 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Markus Beckmann
dung 2c). Hier lautet der Wenn-wenn-dann-Dreischritt: Wenn das Ziel die Mehrung von Nutzen ist [1] und wenn vollkommene Märkte die Eigenschaft haben, den Nutzen der Beteiligten zu maximieren [2], dann sollten Marktprinzipien ausgeweitet werden [3]. Aufgrund dieser Ausrichtung auf effiziente Nutzenbefriedigung ist es nicht überraschend, dass die ökonomische Forschung auf jene Marktversagensbestände fokussiert, die – gemessen am Ziel der effizienten Nutzenmehrung – von Relevanz sind, weil sie auf unausgeschöpfte Verbesserungspotentiale verweisen. 6 Mit dem praktischen Syllogismus ist es nun erneut möglich, Sandels Ökonomik-Kritik zu rekonstruieren und weiterreichende Überlegungen herzuleiten: • Indem die Ökonomik ihre normativen Prämissen nicht offen ausweist, sondern stillschweigend voraussetzt, sind diese einer kritischen Reflexion (auch innerhalb der Ökonomik) nicht zugänglich. • Im praktischen Syllogismus kommt es damit zu einer Asymmetrie: Die positiven Prämissen werden einer Analyse, Überprüfung und Kritik zugänglich gemacht. Die normativen Ziele gelten hingegen als gesetzt. Damit verengt sich die Ökonomik auf eine reine Mittelanalyse und folgt einem »instrumentalistischem« Wissenschaftskonzept (Homann, 1980): Die Wissenschaft kann zwar instrumentell der gesellschaftlichen Debatte über die bestmögliche Zielerreichung zuarbeiten; aber sie kann nicht zur Verständigung darüber beitragen, welche Ziele überhaupt möglich und wünschenswert sind. • Damit verbunden ist eine zweite Asymmetrie. Während auf der Ebene der Mittel alternative Möglichkeiten analysiert werden, zieht die von Sandel kritisierte Ökonomik nur eine Zieldimension in Betracht, nämlich die der utilitaristischen Nutzenmehrung. Diese Fokussierung auf ein normatives Bewertungskriterium sei als normativer Monismus (im Gegensatz zu Pluralismus) bezeichnet. Die Folge: Da eine Reflexion über alternative Ziele oder über das Verhältnis unterschiedlicher Ziele zueinander unterbleibt, verharrt der Fokus auf der Mittelebene. Denn wenn es Normative Prämissen und positive Analyse stehen somit nicht isoliert voneinander, sondern befinden sich in Wechselbeziehungen. So beeinflusst die normative Ausrichtung am Nutzenkriterium ([1] effiziente Wohlfahrtsmehrung) systematisch die Stoßrichtung der positiven Forschung ([2] Analyse der Effizienzbedingungen von Märkten). Die Ökonomik als rein positive Wissenschaft zu verstehen, wäre auch in dieser Hinsicht ein Trugschluss.
6
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nur ein mögliches Ziel gibt, ist eine Zieldiskussion zur Verhältnisbestimmung pluraler Ziele nicht erforderlich. Übrig bleibt nur noch eine instrumentalistische Analyse der Mittel zur Zielerreichung.
III. Vom normativen Monismus zum normativen Pluralismus Sandel stellt seiner Kritik an ›normativen Monismus‹ der Ökonomik einen Gegenentwurf gegenüber, den man als normativen Pluralismus bezeichnen könnte. Will die Ökonomik zu gesellschaftlich relevanten Entscheidungsdiskursen gehaltvoll beitragen, dann benötigt sie neben einer fundierten positiven Analyse auch eine gezielte, offene und reflektierte Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten normativen Prämissen: also mit unterschiedlichen Zielen, Werten und Moralvorstellungen, mit denen eine konkrete Entscheidung bewertet wird. Bezüglich der Frage nach den relevanten Kriterien für die moralische Bewertung des Marktes führt Sandel neben dem Besserstellungskriterium (Nutzen) zwei weitere normative Prüfdimensionen ein, nämlich das Kriterium der Fairness sowie das Kriterium der Korruption. 7 Wie genau das Fairness- und Korruptions-Argument zu verstehen und bewerten sind, sei an dieser Stelle nicht weiter verfolgt. 8 Relevant ist vielmehr, dass mit der Nennung dieser drei Kriterien Nutzen, Fairness und Korruptionsvermeidung drei eigenständige Zieldimensionen vorliegen, die sich nicht wechselseitig ineinander übersetzen lassen. Übertragen in das Schema des praktischen Syllogismus ergibt sich nun eine Betrachtung, bei der multiple Ziele [1] mit vielfältigen Mitteln [2] abgewogen werden (Abbildung 3). Dies hat folgende Implikationen:
Fairness umfasst für Sandel etwa Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und Ungleichheit. Das Korruptionsargument hingegen bringt den Gedanken zum Ausdruck, dass die Einführung von Marktprinzipien die intrinsisch wertvollen Charaktereigenschaften einer Handlung, von Menschen, Beziehungen, Gegenständen oder Institutionen ändern oder gar zerstören kann. Normativ wünschenswert sei aus dieser Perspektive dann der Schutz dieser wertvollen Eigenschaften gegen die drohende Korruption durch beispielsweise den Markt. 8 Vgl. hierzu den Beitrag von Pies (2016a) in diesem Band. 7
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Markus Beckmann
1.
Normative Prämissen
Ziele im Plural: Nutzen, Fairness, Vermeidung von Korruption
Was können wir wollen?
+ 2.
Positive Prämissen
Mittelanalyse auf plurale Ziele ausrichten
Was wollen wir können?
= 3. Urteil
Was sollen wir tun?
Abbildung 3: Normativer Pluralismus und die Interdependenz von Zielen und Mitteln
•
•
•
Normativer Pluralismus auf der Zielebene [1] hat heuristische Auswirkungen auf die positive Analyse [2]: Die Forschung wird durch ein differenziertes Erkenntnisinteresse gesteuert. Wenn die Vermeidung von Ungleichheit ein Ziel ist [1], können verschiedene Mittel wie etwa Marktanreize gezielt auf ihre Verteilungswirkung hin analysiert werden [2]. Ist analog die Vermeidung von korrumpierendem Wertewandel ein normatives Ziel [1], können genau diese Effekte analysiert werden. Kurz: Die Anerkennung von Ziel-Pluralismus auf der normativen Ebene erlaubt eine leistungsstärkere Ausrichtung des positiven Forschungsprogramms. 9 Umgekehrt ergeben sich Rückwirkungen von der Mittelanalyse auf die normative Zielebene. Diese kann nicht mehr als fix vorausgesetzt werden. Denn wenn es nicht nur ein Ziel, sondern multiple normative Ziele gibt, müssen diese Ziele untereinander abgewogen, reflektiert und hinsichtlich ihrer (relativen) Bedeutung hinterfragt werden. Hierzu benötigt man Erkenntnisse aus der positiven Analyse (etwa wie eine Umverteilung zugunsten von mehr Gleichheit das Ziel der Effizienz beeinflusst). Die Ökonomik (oder Wissenschaft allgemein) verlässt auf diese Weise das lineare Instrumentalismuskonzept und bewegt sich hin zu einer Perspektive, die Ziele und Mittel als interdependent ver-
Interessanterweise macht Sandel der Ökonomik auch genau den Vorwurf, auf der Ebene der positiven Prämissen von unterkomplexen oder falschen Annahmen auszugehen. So kritisiert er, die Ökonomik habe kein Verständnis für den durch Anreize auslösbaren Wertewandel oder dass sie den »Verbrauch« von Altruismus sozialpsychologisch falsch einschätze – zwei Kritiken, die ihrerseits mit Blick auf ihre faktische Geltung kritisiert werden können (vgl. Pies, 2016b). Etwas schärfer interpretiert, lautet Sandels impliziter Vorwurf: Die normativ eindimensionale Ökonomik bleibe auch in der Qualität ihrer positiven Analyse unter ihren Möglichkeiten.
9
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steht (Homann, 1980). Aus der Frage »Was wollen wir?« [1] wird im Lichte dessen, was möglich ist [2], die Frage »Was können wir wollen?«. Analog wird aus der Frage »Was können wir?« [2] im Lichte dessen, was uns wichtig ist, die Frage »Was wollen wir können?«. 10 Damit beschränkt sich die Ökonomik nicht auf eine instrumentalistische Mittelanalyse, sondern versetzt sich in die Lage, auch zur gesellschaftlichen Diskussion über Ziele und Werte einen Beitrag leisten zu können. 11
IV. Drei Möglichkeiten zum Umgang mit normativem Pluralismus Nimmt man die Idee des normativen Pluralismus ernst, lautet die Folgefrage: Welche Möglichkeiten bestehen, um mit pluralen und möglicherweise widersprüchlichen Zielen in der Gesellschaft umzugehen? Im Sinne des Konsens-Gedankens – also dass sich verschiedene Perspektiven auf eine wie auch immer geartete Lösung einigen –, lassen sich, so die These, drei Formen des Umgangs mit Wertepluralismus unterscheiden.
Statische Perspektive: Konsens als Ausgleich Wenn in einer gesellschaftlichen Debatte plurale Ziele – wie die von Sandel genannten Ziele »Nutzen«, »Fairness« und »Korruptionsabwendung« – zum Ausdruck kommen und sowohl diese Ziele (Ebene [1]) als auch die zur Verfügung stehenden Mittel (Ebene [2]) als gegeben betrachtet werden, dann bleibt zum Umgang mit diesem Pluralismus nur der Weg eines deliberativen Ausgleichs: also eines gesellschaftlichen Abwägens zum Zweck von Kompromissbildung. Diese Formulierungen stammen von Ingo Pies. Vgl. hierzu Pies und Sardison (2006). 11 Für das von Sandel kritisierte normativ-monistische Ökonomikverständnis galt: Der praktische Syllogismus wird von den fix gegebenen normativen Prämissen auf Ebene [1] linear über die positive Analyse [2] zur Entscheidung abgearbeitet (Abb. 2). Mit dem Wechsel zu einem normativen Pluralismus wechselt die Entfaltung des praktischen Syllogismus nun von einer linearen zu einer zirkulären Logik. Multiple Ziele führen zur Prüfung verschiedener Mittel, was ihrerseits die Abwägung und Bewertung der Ziele untereinander informiert (Abb. 3). 10
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Keine wissenschaftliche Theorie kann in dieser Situation den Anspruch vertreten, als »neutraler Schlichter« der Gesellschaft vorschreiben zu können, welche Werte oder welche Entscheidung zu bevorzugen sind. Wird das Set von Zielen und Mitteln als gegeben betrachtet, ist es der Wissenschaft – wie allen anderen Diskursbeteiligten auch – somit nur möglich, ihre jeweiligen normativen Vorstellungen als »Bekundungsargument« (Pies 2016b; S. 110 f.), also als Ausdruck eines gleichermaßen partikularen Interesses, in den Diskurs über einen möglichen Ausgleich einzubringen. Anders formuliert: Die Wissenschaft hat in diesem Modus des Ausgleichs keine gesellschaftliche Sonderstellung neben anderen Beiträgen. 12 Konsens bezeichnet dann die Zustimmung zu einer diskursiv erreichten Kompromisslösung.
Dynamische Perspektive 1: Konsens durch Innovation auf der Mittelebene Eine dynamische Lösung zur Überwindung vermeintlicher Wertkonflikte auf der Ebene der normativen Prämissen (Ebene [1]) liegt darin, die Restriktionen einer Entscheidungssituation und damit die positiven Prämissen (Ebene [2]) zu erweitern. Das Stichwort lautet: Innovation – im Sinne einer technologischen, organisatorischen oder institutionellen Neuerung. Illustriert am Beispiel: In der Ökonomik wird häufig von einem Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit gesprochen, der suggeriert, man müsse zwischen der Förderung wirtschaftlicher Produktivität und der Besserstellung von Benachteiligten wählen. Innovative Ansätze in der Sozialpolitik können jedoch die Möglichkeit eröffnen, beispielsweise durch Investitionen in Bildung sowohl Benachteiligung abzubauen und Effizienz zu erhöhen. Gelingt es durch Innovationen auf der Mittelebene, vormals konkurrierende Ziele mit Blick auf eine bestimmte Fragestellung komplementär zueinander zu machen, ist Konsens möglich, ohne dass die verschiedenen Beteiligten ihre unterschiedlichen individuellen Zielvorstellungen aufgeben oder verändern. Ein kompromisslerischer »Ausgleich« zwischen verschiedenen Werten ist nicht nötig. Mit Rorty (1988) gesprochen, gilt gleichsam der Vorrang der Demokratie vor einer (monistischen) Philosophie. Vgl. hierzu auch Engel (2016).
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Wollen – Können – Sollen
Argumentativ geht es bei einer solchen dynamischen Lösung nicht um Bekundungsargumente, sondern um »Überbietungsargumente« (Pies 2016b, S. 110 f.). Zwar kann die Wissenschaft auch hier nicht als externe Entscheidungsinstanz einen gesellschaftlichen Diskurs im Alleingang entscheiden. Durch ihre methodisch kontrollierte positive Analyse hat sie jedoch einen Spezialisierungsvorteil, um nicht nur zur Analyse der Restriktionen, sondern auch zu den Möglichkeiten ihrer Erweiterung konstruktive Einsichten zu generieren.
Dynamische Perspektive 2: Konsens durch Lernen auf der Zielebene Eine zweite Möglichkeit der Auflösung von Wertkonflikten liegt darin, dass auf der normativen Zielebene Lernprozesse geschehen und sich entweder die relative Bewertung untereinander oder die jeweilige Interpretation der einzelnen Werte ändern (Ebene [1] der normativen Prämissen). Hier geht es weder um Bekundungsargumente noch um technische Überbietungsargumente, sondern um einen Lernprozess von Selbstaufklärung und Wertewandel. Ein solcher Lernprozess rückt erneut die Interdependenz von Zielen (Ebene [1]) und Mitteln (Ebene [2]) in den Blickpunkt. Denn die Bewertung und Interpretation unterschiedlicher Ziele setzt ein Verständnis der zur Verfügung stehenden Mittel und möglicher Konsequenzen voraus. Dass es auf der normativen Ebene zu Wertewandel kommen kann, illustriert das Beispiel des Amtsmissbrauchs. In vielen traditionellen Kulturen besteht die moralische Erwartung, dass ein Funktionsträger (sei dies ein Manager oder ein Beamter) Familienmitglieder bevorzugt behandelt (und ihnen beispielsweise einen Job verschafft). Gegen diese Erwartung zu verstoßen, wird dann als unmoralisch betrachtet. In westlichen Ländern hat sich hingegen ein Verständnis dafür entwickelt, dass ein solches Loyalitätsverständnis sowohl wichtige Systemfunktionen (Effizienz) als auch die Gleichheit der Rechte anderer (Fairness) unterminiert – und daher nicht moralisch eingefordert, sondern als »Vetternwirtschaft« moralisch verurteilt wird. Das Ziel der Familienloyalität wird somit heute in bestimmten Kontexten anders interpretiert als früher. Wie das Beispiel zeigt, brauchen solche semantischen Lernprozesse (Was heißt Familiensolidarität?) Zeit. Dennoch können der öffentliche und der wissenschaftliche Diskurs zu solchen Lernprozessen beitragen – und zwar besonders durch die interdisziplinäre Zusam193 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Markus Beckmann
menarbeit von Philosophie und Ethik (Semantik; Ebene [1]) mit den Sozialwissenschaften (Sozialstruktur, Ebene [2]). Als Ergebnis können semantische Lernprozesse vermeintliche Zielkonflikte auflösen, indem sie zu einem differenzierteren Verständnis möglicher Ziele beitragen.
V.
Schlussbemerkung
Michael Sandel polarisiert. Der vorliegende Beitrag aber zeigt: Man muss Sandels konkreten Antworten und den Details seiner Argumentation gar nicht folgen – was ich persönlich übrigens in sehr vielen Punkte auch nicht tue –, um dennoch von der von ihm aufgeworfenen Fragestellung zu lernen. Welche Art von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Verständigung brauchen wir, um gesellschaftliche Sollens- und Entscheidungsfragen konstruktiv bearbeiten zu können? Die Figur des praktischen Syllogismus zeigt: Die Ökonomik hat hier nicht nur viel zu bieten, sondern auch viel zu gewinnen, und zwar insbesondere dann, wenn sie sich für normative Fragen und interdisziplinären Austausch öffnet.
Literatur Engel, Gerhard (2016): Die moralischen Grenzen der Moral, in diesem Band. Gerecke, Uwe (1998): Soziale Ordnung in der modernen Gesellschaft. Ökonomik – Systemtheorie – Ethik, Tübingen. Homann, Karl (1980): Die Interdependenz von Zielen und Mitteln, Tübingen. Homann, Karl (1985): Legitimation und Verfassungsstaat, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 4, S. 48–72. Pies, Ingo (1993): Normative Institutionenökonomik. Tübingen. Pies, Ingo und Markus Sardison (2006): Wirtschaftsethik, in: Nikolaus Knoepffler, Peter Kunzmann, Ingo Pies und Anne Siegetsleitner (Hrsg.): Einführung in die Angewandte Ethik, Freiburg und München, S. 267–298. Pies, Ingo (2016a): Michael Sandels Fairness-Argument, sein Korruptions-Argument und die Kategorie ökonomischer Effizienz, in diesem Band. Pies, Ingo (2016b): Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik: Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Michael Sandel, in diesem Band. Popper, Karl (1934, 1989). Logik der Forschung (9. Aufl.). Tübingen. (Erstdruck: 1934, 8. Aufl. 1984).
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Wollen – Können – Sollen Rorty, Richard (1988): Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays. Stuttgart, S. 82– 125. Sandel, Michael (2012): What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets, London u. a. O. Sandel, Michael J. (2013, 2016): Marktdenken als Moraldenken. Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten, in diesem Band. Suchanek, Andreas (2015): Unternehmensethik. In Vertrauen investieren, Tübingen. Weber, Max (1985): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 6., erneut durchgesehene Auflage, Tübingen (1. Auflage 1922)
195 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Birger P. Priddat
Effizienzfreie Zonen? Michael Sandels moralische Ökonomie
›Kommerzialisierung‹ bedeutet, so vermuten viele, dass tendentiell alle gesellschaftlichen Bereiche marktlich bewertet werden. Der Philosoph Michael J. Sandel besteht darauf, gemeinschaftliche Bereiche von der ökonomischen Betrachtung auszuschliessen; er nennt moralische Gründe – vgl. Sandel (2012) sowie (2013, 2016). Sandel bewegt sich im Kern einer Diskussion, die seit langem geführt wird (vgl. z. B. Tönnies 1887, 2005): inwieweit es gesellschaftliche Zonen gebe, die vom Markt nicht übernommen werden sollen, weil dann der bürgerschaftliche Zusammenhalt gefährdet sei.
Warteschlangenoptimierung Eugen Morozov macht darauf aufmerksam, dass effiziente Marktregelungen gesellschaftlich gewollte Gleichbehandlungsgrundsätze aushebeln: wenn man z. B. die Warteschlange bei der Taxibestellung optimiert, so dass der, der es eilig hat, mehr zu zahlen bereit ist (Morozov 2013: Sp. 3). Er setzt kritisch dagegen: »Dass Fahrgäste von analogen, unintelligenten Taxis allesamt gleich behandelt werden … ist das logische Ergebnis der Tatsache, dass staatlich zugelassene Beförderungsunternehmen gesetzlichen Bestimmungen unterliegen. Niemand darf beispielsweise diskriminiert werden. Für jeden Fahrgast, ob schwarz oder weiß oder homosexuell oder stinkreich, gilt der gleiche Tarif« (Morozov 2013: Sp. 3). Der so neu installierte Markt teilt die Nachfrager in erste und zweite Warteklassen. Für die, die nicht zahlen wollen oder nicht zahlen können, verschlechtert sich der Nutzen; sie müssen länger warten. Effizienz ist hier der Name für zahlungsbewehrte Vorteilnahme vor anderen. Wenn Effizienz aber nur die Effizienz ist, die sich einige leisten können, haben wir es nicht nur mit einer Regeländerung zu tun, sondern – gemessen an der (politischen) Nichtdiskriminierungs196 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Effizienzfreie Zonen? Michael Sandels moralische Ökonomie
regel – mit einer Verteilungsverschlechterung. Die Wohlfahrt, die durch ökonomisch-effiziente Allokation erzeugt wird, realisiert sich als Option der Zahlungsfähigen, nicht aber für die anderen Wartenden. Wenn die, die zahlen, Zeit sparen und anderswo produktiv werden können, zahlt sich das für die Wartenden nicht aus. Die Warteschlange ist eines der Beispiele, die auch M. J. Sandel aufführt (zur ›Ethik der Warteschlange‹ vgl. Sandel 2012: S. 41 ff. und 52 ff., vgl. auch MS 29–31). Er argumentiert ähnlich wie Morozov. Warteschlangen sind gesellschaftliche Institutionen, die jedermann unabhängig von seinem Einkommen und seiner Zahlungsbereitschaft gleich stellen. Ökonomisch betrachtet sind sie ineffizient. Aber Institutionen sind Regelsysteme, keine Märkte. Wenn wir Regeln folgen, gilt die Regel für jeden gleich, und Konkurrenz ist ausgeschlossen (Priddat 2013a). Sandel nennt ein solches Verhalten moralisch; darüber kann man streiten. Ich schlage vor, es als eingeübte (konventionale) soziale Praxis zu beschreiben. Es gibt nun keinen Grund, soziale Praxen einfach beizubehalten (außer blinder Konservatismus). Die Ökonomie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie effizientere Arrangements ersinnen kann. Aber Sandel richtet seine Argumentation auf etwas anderes: was er als moralische Instanzen bewahrt wissen will, sind wettbewerbsfreie gesellschaftliche Felder, die kooperatives Verhalten fördern. Man könnte auch von social capital sprechen (Putnam 2000; Burt 2005; Bude/Fischer/Huhnholz 2010). Aus der Perspektive der social capital-Konzepte geht es um kooperative Arrangements, die die Basis eines sozialen Vertrauens ausbilden, das wechselseitige Leistungen ohne unmittelbare Gegenleistungen ermöglicht (Reziprozitätsnormen; joint utility). Sandel sieht die Leistung der Wartschlangen in ihrem sozialen Arrangement als Lerngruppen für kooperatives Verhalten, in dem sich die Anwesenden gegenseitig als gleichwertig respektieren. Denn wenn die Schlange durch Kauf von Plätzen modernisiert würde, hätten die Zahlungsfähigen einen sozialen Vorteil, der die anderen, die deshalb dann länger warten müssten, sozial abwertet (depraviert). Die Vermarktlichung der Warteschlangen beschere eine andere Soziologie, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der das Maß an wechselseitiger Anerkennung (vgl. Ricœur 2006) durch soziale Differenzierung aufgelöst wird. Die Einführung von Marktformen in die Warteschlangen lockert die Institution, da nun niemand mehr weiß, welchen Platz er einnimmt (wenn während des Schlangestehens viele vordere Plätze kau197 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Birger P. Priddat
fen könnten). Die soziale Positionierungsmatrix verschiebt sich, und zwar ohne gemeinsame Abstimmung. Aus politischer Perspektive aber ist ein Abstimmungsausschluss eine nicht-demokratische Intervention. Die Entscheidung, dass die Warteschlange marktförmig würde, liegt außerhalb des Zustimmungsbereiches und -willens des Großteils ihrer Teilnehmer. Damit ist diese neue Institution nicht legitimiert, sondern ›irgendwie‹ gebildet. Die ganze soziale Ontologie der bisherigen relationalen Ordnung von Politik, Institutionen, Soziologie und Ökonomie ändert sich, nun aber nach der Norm der Ökonomie. Natürlich können Ökonomen vernünftige Effizienzlösungen vorschlagen, aber erst die Zustimmung derer, die in praxi damit leben müssen, legitimiert den institutionellen Wandel. Denn die neu eingeführte Effizienz entwertet das vordem geltende social capital bürgerschaftlicher Gemeinschaftlichkeit. Der Verlust an sozialer Positionierung für viele Warteschlangenteilnehmer sind soziale Kosten, die in einer politischen Ökonomie nicht ignoriert werden können. Aus ökonomischer Sicht der Vermarktlichung der Warteschlange hat Status nun allerdings seinen Preis. In einer Gesellschaft, in der teure Statusgüter häufig gekauft werden, entwickelt sich längst eine neue soziale Praxis bzw. Marktkultur. Aber man sollte, als Ökonom, die Transaktionskosten rechnen, die der ›neue Sozialvertrag‹ anfallen lässt. Für die nichtzahlungsbewehrten Teilnehmer der Wartschlangen erhöhen sie sich. Sandel würde solche Überlegungen teilen, aber fordern, jeweils situational und kontextuell genau zu werden. Sein Hauptargument aber bleibt: Der Statuskauf (in der Warteschlange vordere Plätze kaufen zu können) erodiert das social capital wechselseitiger Anerkennung der bürgerschaftlichen Gemeinschaftlichkeit als citizens – statt gemeinschaftlicher Regeln (commons) gilt jetzt das reine Konsumverhalten. Das wäre ein kultureller Wandel, den man natürlich in der Gesellschaft erörtern muss; deshalb Sandels Plädoyer für Normenpluralität.
Soziale Dynamik statt moral rules Sandels Beispiele bewegen sich in Übergangsbereichen, in denen Institutionen und Normen dynamisch gehandhabt werden (›das Geschäft mit dem Schlangestehen‹ (MS 29–31), ›Flüchtlingskontingente‹ (MS 32–34), ›Geldbußen versus Gebühren‹ (MS 38–42); ›handel198 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Effizienzfreie Zonen? Michael Sandels moralische Ökonomie
bare Fortpflanzungslizenzen‹ (MS 43–49); ›bezahlte Walrossjagden‹ (MS 50–57), etc.). Es ist unklar, ob diese Übergänge von Regelungen zu Bepreisungen relevante moralische Probleme betreffen. Sandel unterschätzt die Dynamik gesellschaftlicher Beziehungsänderungen, die in hypermodernen Gesellschaften nicht mehr nach älteren Normen und Standards bemessen werden. So erinnert er sich zwar, dass vor dreißig Jahren das käufliche Überspringen von Warteschlagen kaum vorstellbar war (Sandel 2012: 55); 2013 hält er das line-standing business aber unter gewissen Bedingungen bereits für effizient (MS 29–31). Die social standards haben sich geändert. Natürlich haben zahlungsfähige Warteschlangenbeteiligte Vorteil davon, dass evtl. Obdachlose sich für sie gegen Bezahlung in die Warteschlange einreihen. Es sind Dienstleistungen wie viele andere auch, und wir haben uns längst daran gewöhnt, Dinge, die wir früher selbstverständlich selber taten, als service zu kaufen (wie z. B. sich den Einkauf im Supermarkt liefern zu lassen). Hier haben sich die social attitudes verändert, z. B. in dem Sinne, dass die Menschen heute z. T. ihre Tage bewusster bzw. effizienter einteilen. Sich eine Arbeit, einen Weg, einen Transport durch Zahlungen an Dienstleister abnehmen zu lassen, wird selbstverständlicher. Die Warteschlange bzw. ihre Regel, um in Sandels Beispiel zu bleiben, verschwindet nicht, sondern ergänzt sich um einen ›Stellvertreterkauf‹. Dadurch wird niemand aus seiner erreichten Stellung in der Warteschlange verdrängt: die Regelleistung bleibt vollständig bestehen. Niemand der Wartenden hat dadurch einen Nachteil. Eine solche Form der ›Kommerzialisierung‹ des Wartens lässt die Institution intakt, und führt dennoch innovativ ein Marktmoment ein, aber nicht substitutiv, sondern komplementär – eine Art matching von Institution und Teilmarkt (erst wenn man tatsächlich vordere Plätze kaufen kann, ›vermarktlicht‹ die Schlange). Erst wenn eine neue Marktform ältere Leistungen auflöst und viele deshalb ausgeschlossen werden, sollte politisch über Kollektivgüterstandards nachgedacht und entschieden werden. Dass man heute für das Blutspenden eine Entschädigung erwartet (Sandel 2013: 135 f.; MS 72–77), ist nicht gleich ein Zeichen für gesunkenen Gemeinsinn, sondern Kompensation für einen Zeitverlust: eine Art von Opportunitätskostenerstattung. Für diejenigen, die noch in älteren Kategorien denken, erscheint das als ungehörig, aber die smart actors der Hypermoderne finden es normal, kompensiert zu werden. Ihre Motivation, etwas für andere zu tun – die Nei199 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Birger P. Priddat
gung zu spenden –, bleibt weiterhin bestehen, denn die Entschädigung ist weder Preis noch Anreiz (dafür ist sie zu gering), sondern eine symbolische Zahlung für die Anerkennung des Zeitopfers. Man darf das monetäre Zeichen nicht mit einer Markthandlung verwechseln; es ist eher von der Art des ›symbolischen Tausches‹ (Baudrillard 2011). Wir haben es mit einer anderen ökonomischen Soziologie zu tun, die Sandel unterschätzt: mit einer hybriden Form von Gemeinschaftshandeln (sozial anderen Blut zur Verfügung zu stellen) und gleichzeitiger Anerkennung für die dafür geopferte Zeit. Es ist ein Hinweis darauf, dass sich die Form des social capital wandelt, darin auch das Verhältnis von Moral und Nutzen. Jetzt haben wir schon drei Ordnungsmuster aufgezählt: die klassische kooperative Variante der Gleichbehandlung und wechselseitigen Anerkennung (1), die Vermarktlichung von Institutionen (2), und eine dritte Variante: eine neue Marktkulturform, die die Nutzung von Zeitressourcen in den Vordergrund fährt (3). Ich schlage vor, die Verhalten, die Sandel kritisch abwägt auf ihren Moralverlust, erst einmal auf Gegebenheiten neuer Marktkultur abzuprüfen. Wir sind in hypermodernen Gesellschaften eher als früher geneigt, Kosten und Nutzen abzuwägen – grob und ungenau, also nicht eindeutig ›effizient‹, und ohne deswegen in eine strenge ›Ökonomisierung‹ abzugleiten (Priddat 2013b). Diese Regelverschiebung (rule shifting) kann nicht ignoriert werden. Im Kontext hypermoderner Marktkultur wandeln sich verschiedentlich die gemeinschaftlichen Bereiche – professionelle Angebote des car-sharing z. B. verdrängen die umständlichen Gruppenprozesse eigeninitiativer Autonutzungsgemeinschaften (Priddat 2015). Die Internetmärkte als großflächige economies of scale senken die Preise und erweitern damit den allgemeinen Zugriff auf die Güterwelten zuungunsten des beschaulichen Einzelhandels. Wir sollten inzwischen anerkennen, dass Märkte eine eigene Kulturform sind, deren Nutzen und Leistungen wir genießen dürfen, ohne dass wir notwendig auf die wechselseitigen Anerkennungen verzichten. Worin wir uns wechselseitig anerkennen, ändert sich dabei. Im Internet z. B. bilden sich communities of friends, die neue Anerkennungen verteilen, die nicht mehr den alten Formen entsprechen müssen. Sandels Anmutung, dass der Markt die Gemeinschaftlichkeit auflöst, ist ein Schematismus, der die Tatsachen des gesellschaftlichen Wandels unterschätzt. Ich schlage vor, beide Bereiche nicht als substitutiv anzusehen, sondern als komplementär. Viele Gemeinschaftsgüter und -regeln bleiben bestehen; manche Normen und Traditionen 200 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Effizienzfreie Zonen? Michael Sandels moralische Ökonomie
aber werden durch neue, manchmal nur andere, manchmal bessere Leistungszuteilungen gewandelt. Die Wirtschaft bleibt ein heterogenes Feld, aber die alte Semantik der Opposition ›Kultur versus Markt‹ gilt nicht mehr durchgehend. Wir übersehen sonst, dass die Märkte inzwischen selber zu kulturbildenden Instanzen geworden sind, die unser Verhalten stärker animieren, als es in den älteren Stadien des Kapitalismus möglich war, in denen noch traditionelle Institutionen dominierten. Die Moral, die Sandel in Beschlag nimmt, ist kein zuverlässiges Auskunftsorgan. Denn das, was wir ›Moral‹ nennen, ändert sich in dieser Dynamik mit; wir befinden uns in der hypermodernen Gesellschaft in einem fortlaufenden institutionellen Wandel, ohne den generellen Verlust der Gegenseitigkeiten und Reziprozität befürchten zu müssen. Die gemeinschaftlichen Arrangements bilden neue Arenen, verlagern sich (open net space, shared economy, joint utility, Zunahme der Stiftungen und charity etc.). Wenn wir die Beispiele genauer betrachten, die Morozov und Sandel beibringen, zeigen sie eine Ersetzung von Gleichbehandlungsinstitutionen durch marktnähere Verfahren, ohne gleich streng zu Märkten zu werden: Gebühren (fees) und Entschädigungen (beim Blutspenden) sind keine Preise. Im Grunde werden Kollektivgüterinstitutionen in Beitragsinstitutionen gewandelt: jede Handlung wird als Leistung betrachtet, die – zumindest symbolisch – entgolten werden soll. Der Modus der Anerkennung wechselt, ohne gleich zu einem Markt zu werden. Kulturell weist das auf ein zunehmendes ökonomisches Kontext-Bewusstsein, in dem gesellschaftlich mehr als früher anerkannt wird, dass Leistungen Aufwendungen haben, an denen man sich beteiligen soll.
Die Uber-Lösung Betrachten wir eine Marktlösung genauer. Morozov sieht das beschriebene neue Warteschlangenplatzbezahl-System als Übergang zur Uber-Fahrdienst-Plattform (Morozov 2013: Sp. 3), was er mit vollständiger Vermarktlichung ineinssetzt. Doch hat Uber eine andere Dimension. Es werden keine Warteschlagen optimiert, sondern neue gesellschaftliche Ressourcen für den Markt genutzt: private Fahrdienstkapazitäten. D. h. der Ressourcenzugriff wird ausgeweitet, entknappt. Das behördlich limitierte Taxi-Gewerbe – die alte Institution – öffnet sich einer Konkurrenz privater Anbieter, die durch eine 201 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Birger P. Priddat
Plattform koordiniert werden, die Vermittlungsgebühren kassiert. Die Ungleichverteilung der Warteschlagen aus Morozovs Beispiel entfällt: jeder kann sogleich Zugang zu einem Uber-Fahrdienst bekommen (wenn überhaupt, dann gibt es ein vorübergehendes Kapazitätsproblem, das aber alle Nachfragenden wiederum gleich trifft). Der positive Wohlfahrtseffekt – für alle Fahrdienstnutzer – besteht in der Senkung der Kosten und Preise (neben Anfahrts- und Wegeanzeigen auf der App etc.). Die Gebietsoligopole der Taxiverbände werden aufgelöst. Dass wir es mit neuen Märkten zu tun haben, die private Ressourcen mobilisieren, die bisher nicht marktfähig waren (auch die Mitfahrerzentralen reüssieren wieder), ist eine andere, neue Line der ›Kommerzialisierung‹. Hierfür werden keine non-marketRegeln gebrochen, sondern nur intelligente Lösungen eingeführt, die den Arbeitsmarkt partiell erweitern. Das Argument, dass Taxifahrer ihren Job verlören, gilt nicht, weil jeder Taxifahrer auch für Uber fahren kann. Ob die Löhne für die Taxifahrer sinken, bleibt offen; auf jeden Fall verlieren die Taxiunternehmer ihre speziellen claims und Gewinnoptionen. Morozovs Probleme (und damit implizite auch Sandels) werden durch Uber gelöst. Im Uber–business gibt es keine Warteschlagenprobleme mehr (in San Francisco machen Kunden die Erfahrung, dass die Uber-Fahrzeuge schneller kommen als ehedem die Taxis), also auch nicht das Ungleichverteilungsproblem. Zudem sinken die Preise. Was Morozov als Vermarktlichung zuungunsten der Zahlungsunfähigeren kritisiert, würde als Übergangsphänomen in einer Uber-Lösung verschwinden. Wir haben es dann mit einer Kommerzialisierung2 zu tun, die negative Effekte einer Kommerzialisierung1 aufheben würde. Sandel ist dort Recht zu geben, wo die Kommerzialisierung ungleiche Verteilungen von Zugängen verursacht, d. h. Ausschlüsse generiert (Paretoverschlechterung). Aber dort, wo die Wohlfahrtszunahme für alle gewährleistet ist, sind Märkte eine angemessene Lösung. So betrachtet müssen wir uns nicht mehr auf die Sandel’sche Engführung der Kontrastierung Gemeinschaftlichkeit/Markt einlassen.
Zum Schluss: eine andere Marktlösung Wenn wir nicht von den Normen (der Regel bzw. der Effizienz) ausgehen, sondern von den tatsächlich sich durchsetzenden Verhaltens202 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Effizienzfreie Zonen? Michael Sandels moralische Ökonomie
änderungen, sind die alten Ordnungsgefüge der Warteschlange z. B. längst aufgeweicht. Am Fahrkartenschalter lässt man jemanden vor, dessen Zug bald fährt. Oder Schwangere und ältere gebrechliche Personen. Die frühere Rigidität der Ordnung der Schlange wird schon heute von einem moderaten goodwill durchflochten. Doch sind das Änderungen innerhalb des reziprozitären Rahmens, keine neuen Effizienzregime. Wenn jemand sich vordrängt, weil er ›bedeutsam‹ ist oder sich rauh vordrängelt, reagiert der Gemeinschaftssinn der Schlange aversiv. Die Vermarktung der Schlange hingegen handelt aber nicht vom ›Vordrängen‹, sondern vom Zeit-Kaufen. Nun kann man so argumentieren: Diejenigen, die keine Zeit haben, weil sie eigentlich in produktivere Geschäfte eingebunden sind, werden durch die tradierte Form der Warteschlange benachteiligt. Die Schlange ist selbst bereits schon asymmetrisch angelegt, ignoriert partiell die Interessen einzelner Teile: die Eiligen sind benachteiligt, wie aber auch die, die ihnen den Vorrang lassen (die klassische Warteschlange ignoriert, dass ihre Teilnehmer unterschiedliche Zeitressourcen haben). Für die weniger Produktiven, die mehr Zeit haben, ist es möglicherweise ein geringerer Verlust als für die, deren Zeit kostbar ist. In einer Gesellschaft, in der Zeit-Ressourcen bedeutsamer werden (Rosa 2005), werden Marktlösungen zunehmen. Was aber heißt hier ›Marktlösung‹ ? Wer macht welche Transaktionen? Wer bekommt das Geld? Wenn einige vordere Plätze kaufen können, werden die anderen benachteiligt. Sandels Argument, dass sie faktisch depraviert werden, können wir nicht übergehen: sie werden in der sozialen Positionierung entwertet. Hier entstehen negative externe Effekte, die für Märkte im Grunde gar nicht typisch sind. Wir haben es mit einer Dimension zu tun, die Rechte und Verfügungsmacht neu verteilt (das ist die implizite politische Dimension). Aber dennoch gibt es auch hier Lösungen (wie die Kommerzialisierung2 im Uber-Fall). Als tatsächlicher Markt müssten die Plätze der Schlange untereinander verhandelbar sein. Wer einen vorderen Platz erwirbt, zahlt an wen? An die hinter ihm Stehenden. So hätten beide Nutzerklassen Vorteile, und die fundamentale Asymmetrie der Schlange wäre aufgehoben. 1 Daran ersehen wir letztlich, dass die Sandel selber redet von Gutscheinen, die für die weniger Zahlungskräftigen Gebührennachlässe bei wichtigen Warteschlangen (z. B. vor US-Parlamentsausschüssen) erbringen (MS 29–31). In seinem Text erscheint das als eine mögliche Lösung; Sandel hält nur noch dagegen, dass durch diese deals die Würde des hohen Hauses nicht
1
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Birger P. Priddat
Warteschlange tatsächlich ein ineffizientes Konzept ist, das bessere Lösungen verdient. Aber wir sehen es erst, wenn wir die Fragen, die Sandel thematisiert, erwogen haben. Ob er dieser Lösung zustimmt, muss offen bleiben, aber ich schlage vor, ihm deutlich zu machen, dass diese ›echte‹ Marktlösung kooperativer einherkommt als die alte Regellösung, die die Eiligen benachteiligt. Die Marktlösung benachteiligt keinen, indem sie die Eiligen bedient und die, die (länger) warten, monetär kompensiert. Die Pointe des neuen Arrangements besteht darin, dass dieser Markt die Interessen der Warteschlangenteilnehmer besser bedient als die klassische Warteschlange, deren Regelgeltung darauf beruht, alle differenten Nutzungsinteressen einfach auszuschließen.
Literatur Baudrillard, J. (2011): Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: Matthes & Seitz. Bude, H. / Fischer, K. / Huhnholz, S. (2010): Vertrauen. Die Bedeutung von Vertrauensformen für das soziale Kapital unserer Gesellschaft. Gedanken zur Zukunft 19, Herbert Quandt-Stiftung, Bad Homburg. Burt, Ronald S. (2005): Brokerage & Closure. An Introduction to Social Capital, Oxford University Press. Morozov, E. (2013): Ihr wollt immer nur Effizienz, und merkt nicht, dass dadurch die Gesellschaft kaputt geht, in: FAZ Nr. 83/2013, S. 27. Priddat, B. P. (2013a) (Hrsg.): Institutionen, Regeln, Ordnungen; Marburg: Metropolis. Priddat, B. P. (2013b): Bevor wir über ›Ökonomisierung‹ reden: was ist ›ökonomisch‹ ? in: Soziale Welt Nr. 4 / 2013, S. 417–434. Priddat, B. P. (2015): Share Economy: mehr Markt als Gemeinschaft, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg., H. 2, Februar 2015, S. 98–101. Putnam, R. D. (2000): Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, Diane Pub. Co. Ricœur, P. (2006): Wege der Anerkennung: Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt 2006. Rosa, H. (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Ffm.: Suhrkamp. Sandel, M. J. (2012): Was man für Geld nicht kaufen kann, Berlin: Ullstein.
gewahrt sei. Das mag dahingestellt bleiben. Eigentlich müsste er sagen, dass die Würde der Demokratie, jedem gleichen Zugang zu politischen Prozessen zu ermöglichen, in Frage steht. Dieses Argument gilt aber kaum für normale Warteschlangen. Man sieht, wie es bei der Analyse auf den Kontext ankommt.
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Effizienzfreie Zonen? Michael Sandels moralische Ökonomie Sandel, M. J. (2013): Market Reasoning as Moral Reasoning: Why Economists Should Re-engage with Political Philosophy, 121–140 in: Journal of Economic Perspectives, vol. 27, nr. 4, Fall 2013. Sandel, Michael J. (2013, 2016): Marktdenken als Moraldenken. Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten, in diesem Band. Tönnies, F. (1887, 2005): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005.
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Andrea Maurer
Der spontane Charme normativer Marktkritik
1.
Was Märkte nicht können und was Ökonomen falsch machen
Michael Sandel (2013, 2016) hebt in seinem Aufsatz »Marktdenken als Moraldenken« wie schon in seinem Bestseller »What money can’t buy« (Sandel 2012) die prekären Folgen einer zunehmenden Marktkoordination hervor. Daraus folgert er, dass es nicht ausreiche, Märkte ausschließlich über Nutzen- und Effizienzargumente zu bewerten, sondern dass umfassendere normative Begründungen zu entwickeln wären. Das bedeutet einerseits, normative Bewertungskriterien für Abstimmungsmechanismen auszuarbeiten und darüber auch Märkte zu legitimieren. Das heißt andererseits auch, das in den modernen Sozialwissenschaften heute weitgehend vertretene Prinzip der »Werturteilsfreiheit« (Weber 1917, 1988) in Frage zu stellen. Das Anliegen von Sandel ist daher nicht nur eine normative Marktkritik zu etablieren, sondern darüber hinaus auch die ökonomische Theorie an moralphilosophische Debatten anzuschließen und ihr Selbstverständnis als werturteilsfreie Sozialwissenschaft zu hinterfragen. Damit wird auch implizit dafür eingetreten, die Analyse des Marktes nicht allein der Ökonomik zu überantworten, sondern für eine soziologische, politische und ökonomische Aspekte umfassende Analyse verschiedener Koordinationsmechanismen einzutreten und damit letztlich Moral, Normen, Hierarchien usw. als Alternativen zum Markt anzusehen. Solche Analysen sollten nach Sandel dann nicht mehr auf Nutzen- und Effizienzargumenten aufbauen, sondern andere Bewertungskriterien einführen und begründen: die Sicherung demokratischer Strukturen, Reduktion von Ungleichheit, die Stärkung bewährter sozialer Praktiken usw. Diese Bewertungskriterien möchte Sandel in einem normativ-philosophischen Diskurs gewinnen und sieht dafür die Rückbindung der Ökonomik an die Moralphilosophie vor (MS 30 f. und 64). 206 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Der spontane Charme normativer Marktkritik
2.
Marktkonzept und Marktanalyse bei Sandel
Marktkoordination wird bei Sandel nur implizit als ein durch Preise und Geld vermitteltes soziales Handeln definiert und er betrachtet auch allein die Verteilungseffekte des Marktes und vernachlässigt Effizienz und Nutzenüberlegungen. Insbesondere beeindruckt Sandel durch die Darstellung sozial negativer Folgen von Marktverteilungen. So beklagt er die Verdrängung traditionaler Vorstellungen, sozialer Werte und Praktiken wie des reziproken Tausches oder der Gabe und vor allem die Dominanz der Marktlogik über Gemeinschaften. »We live at a time when almost everything can be bought and sold. Over the past three decades, markets – and market values – have come to govern our lives as never before. We did not arrive at this condition through any deliberate choice. It is almost as if it came upon us […] No other mechanism for organizing the production and distribution of goods had proved as successful at generating affluence and prosperity […] Market values were coming to play a greater and greater role in social life. Today the logic of buying and selling no longer applies to material goods alone but increasingly governs the whole of life. It is time to ask whether we want to live this way.« (Sandel 2012, S. 5)
Michael Sandel bietet denn auch eine Analyse von Märkten, welche Wohlstandssteigerungen ignoriert und dagegen negative soziale Begleiterscheinungen wie insbesondere das Zurückdrängen »erwünschter« sozialer Praktiken und Ungleichheitseffekte betont. Dass es bereits umfassende Debatten über die Notwendigkeit einer sozialinstitutionellen Rahmung von Märkten gibt (vgl. Maurer 2008), die deren durchaus voraussetzungsreiche Entstehung und deren komplexe Wirkungsweisen aufzeigen, entgeht ihm ob der starken Bezugnahme auf die politische Philosophie. Dennoch ist seine Analyse auch für die Sozialwissenschaften anschlussfähig, weil mit ihm die Durchsetzung des Marktes als ein sozial ungeregelter Prozess beschrieben werden kann, der andere Beziehungs- und Ordnungsmuster in modernen Gesellschaften beeinflusst und damit einen starken sozialen Prozess darstellt, indem neue Akteure und Beziehungsmuster entstehen. Mit Sandel sind die Prozesse von Deregulierung und Vermarktlichung nicht individual-psychologisch als Folge individueller Gier, sondern als ein sozialer Prozess zu erklären, der sich in neuen sozialen Handlungs- und Beziehungsformen ausdrückt, welche unter Umständen auch komplexe institutionelle Muster prägen. Seine Beispiele
207 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Andrea Maurer
reichen von Veränderungen in modernen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen (MS 78 ff.) über den Rückgang der Gabe (MS 74 ff.) bis hin zum Kauf und Verkauf sozialer Rechte und sogar zum Freikaufen von Normbrüchen. Das macht den spontanen Charme seiner Darstellung dann auch aus: Es werden negative Begleiterscheinungen einer über Geldpreise organisierten Verteilung nicht nur materieller Güter, sondern auch und vor allem sozialer Regeln und Teilhabechancen besprochen. Warum ein Zustand, in dem alles für Geld zu haben ist und Tausch dominiert, schlechter ist als ein durch moralische Regime oder soziale Regeln bewirkter Zustand, wird ausschließlich an selektiven Beispielen erläutert. Diese Beispiele verbindet, dass »unser« soziales Richtigkeitsempfinden verletzt wird. Dafür stehen der Verkauf von Blut und Organen, Zahlungen für demokratische Rechte oder eben der Freikauf von Sanktionen bei Normbruch (Schießen bedrohter Tierarten, Ein-Kind-Politik usw.). 1 Offen bleibt aber, warum sie Richtigkeitsgefühle verletzen und vor allem, ob und welche anderen Prinzipien das Handeln besser regeln könnten. Trotz des kurzen Hinweises auf Adam Smith übersieht Michael Sandel, dass Adam Smith drei Vorteile des Markttausches expliziert: Motivationsanreize, die Umsetzung der positiven Effekte von Arbeitsteilung und Spezialisierung und eben auch die koordinativen Wirkungen von Marktpreisen. Diese Effekte haben Smith veranlasst, die Bereitstellung von Gütern eher den Märkten anzuvertrauen als den Gefühlen von Freundschaft (Smith 1776, 1978). Das hilft zu diskutieren, ob und wann der Markt »berechtigt« zur Koordination der Warenproduktion eingesetzt wird. So hat etwa Max Weber auch die Vorteile einer bürokratischen Struktur und von Massenverbänden in deren formaler Rationalität gesehen und daher am Beispiel des Gesinnungsethikers eindrucksvoll darlegen können, dass ein wertgeleitetes Handeln eben eine solche formale Rationalität verfehlt (Weber 1919, 1973). Damit liegt ebenfalls ein Kriterium für die Wahl des Abstimmungsmechanismus vor: formale oder materiale Rationalität. Sandel unterlässt es sowohl, die notwendigen Grundlagen und negativen Begleiterscheinungen anderer Koordinationsformen wie etwa demokratischer Verfahren oder sozialer Normen zu diskutieren, und er blendet auch die Effizienz von Marktkoordination aus (vgl. Weber 1922/1985). Für einen Systematisierungsversuch der bei Sandel aufgeführten Beispiel vgl. Besley (2013).
1
208 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Der spontane Charme normativer Marktkritik
Das Hauptanliegen von Michael Sandel ist es, die Wahl von Koordinationsmechanismen über normative Kriterien und Diskussionszusammenhänge zu führen und nicht über Funktionsvorteile wie Koordinationseffekte, Effizienzargumente und individuelle Nutzenüberlegungen. Dafür sind normative Begründungen für bestimmte Kontexte zu entwickeln (MS 10 ff.). Die Aufgabe der Ökonomik wäre dann eben nicht mehr, effiziente Marktgleichgewichte zu finden, sondern danach zu fragen, wann der Markttausch – also Preise und Geld – und wann soziale Regeln und Praktiken bei der Verteilung von Waren (commodities) eingesetzt werden sollen, weil damit näher zu bestimmende normative Aspekte besser erfüllt werden. Die Begründung dafür ist, dass die Marktkoordination die Qualität der getauschten Güter beeinflusst und dass Märkte nicht nur positive Allokationseffekte haben. 2
3.
Märkte als soziale Abstimmungsmechanismen: zwei Positionen
Die antike Haushaltsökonomie ebenso wie die feudale Gutswirtschaft waren in ethisch-moralische Vorstellungen eingebunden (Polanyi 1995), und die Staats- und Sozialphilosophie stellte normativ begründete Gestaltungsempfehlungen der Wirtschaft vor (vgl. Aristoteles o. J., 2004). Mit der klassischen politischen Ökonomik und später dann mit der neo-klassischen Ökonomik wird seit dem 17. Jahrhundert das Wirtschaften als ein wertschaffender Prozess vor dem Hintergrund subjektiver Bedürfnisse und einer grundsätzlichen menschlichen Vernunftfähigkeit behandelt. Das hat prominent Adam Smith in seiner Analyse positiver Motivations-, Produktivitäts- und Abstimmungsvorteile der Marktkoordination getan, die er deshalb gegenüber einer staatlichen Lenkung der Wirtschaft (Merkantilismus) und privaten Beziehungen als überlegen ansieht (Smith 1776, 1978). In dieser Tradition behandeln die Sozialwissenschaften allgemein und die Ökonomik insbesondere Abstimmungsmechanismen im Hinblick auf deren Fähigkeiten zur Bewältigung der Probleme sozialen Zusammenlebens. Die klassische und die neo-klassische Ökonomik setzen dafür mit dem Effizienzargument auch einen normativen Bezugspunkt ein. Es ist das Problem formal freier Individuen, 2
Vgl. hierzu auch Sandel (2012, S. 138).
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Andrea Maurer
ihre unendlichen materiellen Bedürfnisse angesichts knapper Ressourcen bestmöglich befriedigen zu wollen. Viele gehen dabei auch von der Vernunftfähigkeit des Menschen aus und suchen entsprechend die jeweils »beste« Lösung. In diesem Sinne gelten David Hume, Adam Smith u. a. als Begründer einer erfahrungswissenschaftlich fundierten Sozialwissenschaft, die Abstimmungsprobleme des sozialen Zusammenlebens behandelt und dafür mit Bezug auf individuelle Motive und Fähigkeiten praktikable Abstimmungsmechanismen vergleichend ausweist. Damit sind Aussagen darüber möglich, welcher Abstimmungsmechanismus wann zu bevorzugen ist, weil er bestimmte problemlösende Qualitäten hat, die angesichts der Problemlage wichtig sind. Dieses Programm hat auch Max Weber in seinen vielfältigen Analysen über die formale Rationalität von sozialen und wirtschaftlichen Institutionen vertreten. Hans Albert (1976) hat daran anknüpfend herausgearbeitet, dass »Werturteile« dann keinen Erkenntniszuwachs bringen und daher vermieden werden sollten, dass aber die Sozialwissenschaften sehr wohl praxisrelevante Gestaltungsvorschläge durch Institutionenanalysen vorlegen können, welche Folgen und Nebenfolgen abwägen (Maurer 2014). Ein solches der Aufklärung verpflichtetes sozialwissenschaftliches Programm (Zintl 1993; Maurer 2011 u. a.) kann auch im Rahmen einer wertfreien Erfahrungswissenschaft die von Sandel aufgeworfenen Themen bearbeiten. Das geschieht entweder, indem die in der Neoklassik ausgeblendete Frage, was zulässige bzw. unzulässige Markttransaktionen sind, aufgegriffen und darüber hinaus auch die Verteilungseffekte der Marktkoordination diskutiert werden. Dann ist zu fragen, wie bislang nicht marktgängige Güter wie z. B. Organe, soziale Rechte, Normverletzungen usw. sozial bewertet und im Rahmen von Märkten auch anerkannter Weise gehandelt werden können und wie sich deren Zuteilung dadurch verändert. Nicht nur neuere wirtschaftssoziologische Studien untersuchen in diesem Rahmen, wie Bildung, Liebe, Freundschaft, gesellschaftliche Teilhaberechte oder Anerkennung durch soziale Setzungsprozesse »marktgängig« gemacht werden (vgl. etwa Schimank und Volkmann 2008), auch renommierte Ökonomen tun dies längst. Der Nobelpreisträger Alvin Roth (2007) sieht die soziale Konstitution von menschlichen Organen als ökonomisches Gut als einen wichtigen Aspekt ihrer verbesserten Verfügung durch Märkte und untersucht Marktpreise als Zuteilungsmechanismus. Ob und von wem etwas als ökonomisches Gut gehandelt werden darf, ist nicht nur Gegenstand normativ-philosophischer 210 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Der spontane Charme normativer Marktkritik
Abhandlungen, sondern kann auch als Resultat sozialer Aushandlungs- und Deutungsprozesse verstanden werden, die einer erfahrungswissenschaftlichen Analyse zugänglich sind. Vielmehr noch kann die Thematisierung der sozialen Konstitution von Dingen und Handlungen als handelbare und in Preisen bewertbare Güter entscheidend dabei helfen, Marktanalysen realistischer anzulegen und damit Märkte »besser« zu gestalten. Anerkennungsprozesse sind dann auch ein Argument ökonomischer Analysen (Roth 2007) und weisen auf soziale und historische Besonderheiten einzelner Märkte hin. Ob etwas als Gut gehandelt und mit Preisen bewertet werden kann, wer als Marktakteur zugelassen ist und welche Prinzipien den Markttausch ausmachen, variiert zwischen Gesellschaften. Diese wichtige Einsicht ist für Marktanalysen wichtig, wenn davon die Effekte und entsprechend die Wahl des Marktes als Koordinationsmechanismus abhängen. Genau dies meinen Wirtschaftssoziologen, wenn sie von Märkten im Plural sprechen und die konkrete historisch-soziale Entstehung von Märkten erforschen (Maurer 2008; Aspers und Beckert 2008). Durch die zusätzliche Berücksichtigung sozialer Definitionen von Gütern, Marktakteuren oder Preisen werden realistischere und vergleichende Funktionsanalysen einzelner Koordinationsmechanismen möglich. Sie helfen dann auch, die relativ bessere Lösung mit Blick auf bestimmte Kriterien zu identifizieren (Greif 1994; Hirschman 1982; Ostrom 1999). Und nicht zuletzt verfügt die Ökonomik mit der Neuen Institutionenökonomik seit langer Zeit über ein methodologisches Werkzeug und ein Programm, das es ihr erlaubt, die Wahl zwischen Marktabstimmung und Herrschaft und auch Normen zu theoretisieren. Dabei hilft das Argument der Transaktionskosten, bestimmte Effekte von Abstimmungsmechanismen hervorzuheben (zentrale Lenkung, spontane Anpassung usw.) und darüber die verschiedenen Mechanismen vergleichend zu analysieren. Auch die Transaktionskostentheorie behandelt ja die Frage, wann der Markt der Herrschaft als Abstimmungsmechanismus vorzuziehen sei. Transaktionskostentheoretiker entscheiden diese Wahl über die Minimierung von Transaktionskosten. Ein solches theoretisches Argument bietet Sandel nicht an, er verweist stattdessen darauf, dass für konkrete empirische Kontexte normative Kriterien benannt und angewandt werden müssen. Das kann aber nur bedeuten, für konkrete Handlungszusammenhänge zu erfassen, welche Leitprinzipien für die Wahl von Abstimmungsmechanismen gültig sein sollen, weil diese den Individuen bei der 211 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Andrea Maurer
Bewältigung bestimmter Probleme helfen. Entfällt ein solcher Bezug auf empirisch erforschbare reale Probleme des sozialen Handelns, bleibt in der Tat nur der Rat von Philosophen.
4.
Die Wahl der Qual: Weitergehende Perspektiven für eine sozialwissenschaftliche Debatte um die Marktkoordination und ihre Alternativen
»Marktdenken als Marktmoral« (Sandel 2013, 2016) ist ein wichtiger Anstoß zu einer umfassenderen sozialwissenschaftlichen Analyse von Märkten. Wichtig ist vor allem der Hinweis von Sandel, dass der Markt nicht einfach nur ein Abstimmungsmechanismus ist, der ohne weitergehende soziale Konstitutionsprozesse und Folgen Effizienz erhöht. Die Bedeutung seines Diskussionsbeitrags sehe ich darin, deutlich zu machen, dass die Marktkoordination eine mögliche Lösung für soziale Abstimmungs- und Handlungsprobleme neben anderen ist, die aber auf vorgängigen sozialen Definitions- und Deutungsprozessen aufsitzt und umfänglich soziale Konsequenzen haben kann (Offe 2000). Welche das konkret sind, lässt er aber offen. Solche Analysen setzen voraus, soziale Handlungs- oder Abstimmungsprobleme zu identifizieren, auf die hin die Stärken und Schwächen verschiedener Koordinationsmechanismen allgemein oder konkret erschlossen werden können. Das wird in Teilen der modernen Sozialwissenschaften und der Ökonomik auch längst getan. Wo noch weitergehender Diskussionsbedarf besteht, ist hingegen die Ausarbeitung von Beurteilungskriterien, wenn die gängigen Wohlfahrtskriterien als nicht hinreichend angesehen werden. Um die Wahl und Begründung von Abstimmungsmechanismen zu diskutieren, sind hier zwei grundlegend unterschiedliche Vorgehensweisen vorgestellt worden. Der eine Zugang sieht eine problemgeleitete von individuellen Motiven und Fähigkeiten ausgehende Analyse der Folgen und Nebenfolgen möglicher institutioneller Lösungen vor, die ohne Werturteile auskommen kann. Der zweite Zugang, dem Michael Sandel zuzuordnen ist, will dagegen normative Kriterien entwickeln, die einen moralischen Bezugspunkt etwa in sozialen Vorstellungen und bewährten sozialen Praktiken finden sollen. Für Sandel geht damit auch einher, keine allgemeine Theorie sozialer Abstimmung zu entwickeln, sondern für konkrete Situationen normativ begründete Kriterien für die Wahl von Abstimmungslösungen 212 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Der spontane Charme normativer Marktkritik
zu gewinnen. Sein grundsätzliches Unbehagen gegenüber der Ausbreitung der Marktkoordination folgt aus der generellen Einschätzung, dass diese als irgendwie besser bewertete Handlungsformen untergräbt. Sein normativ-philosophischer Ansatz verpasst freilich das Problem der Güterbereitstellung völlig, und es fehlt ihm auch der Bezug zu klar benenn- und diskutierbaren individuellen Handlungs- und sozialen Abstimmungsproblemen. Für die Ausarbeitung einer neuen Perspektiven auf Märkte bietet Michael Sandel trotzdem wichtige Anschlusspunkte, die vor allem darin zu sehen sind, dass »Marktpreise«, »Geldvermittlung« und »Wettbewerb« als universelle Koordinationsmechanismen hinterfragt und ihre soziale Akzeptanz thematisiert werden. Damit gelangen alternative Abstimmungsmechanismen und deren Grundlagen und Funktionsweisen in den Blick. Zudem kann der implizite Marktimperativ vieler Ökonomen offengelegt und hinterfragt werden. Das schließt gleichermaßen an neuere wirtschaftssoziologische Analysen wie auch an heterodoxe Positionen der Ökonomik an. Auch dort wird gezeigt, dass Marktpreise, Geld und Wettbewerb von sozialen Beziehungen, Vorstellungen und Praktiken gestützt werden (müssen) und dass soziale Erwartungen für die Konstitution von Märkten wichtig sind, weil Tausch die Anerkennung von Gütern, Partnern und Regeln voraussetzt. Auf der anderen Seite knüpft dies aber auch an soziologische und sozialwissenschaftliche Analysen an, die den Marktwettbewerb auch in sozialen oder politischen Konstellationen als wichtige soziale Abstimmungsform ansehen, vor allem dann, wenn moralische Bindungen nicht tragen (s. etwa Offe 2000). Es ist das Verdienst von Michael Sandel, auf das nachgelagerte Problem hingewiesen zu haben, wann und mit welchen Gründen der Markt als Abstimmungsform anderen Mechanismen vorgezogen werden kann und welche gesellschaftlichen Konsequenzen damit verbunden sein können, wenn die Marktkoordination unbemerkt zum dominanten Mechanismus wird. Für Soziologinnen bedeutet dies, den Siegeszug des Marktes in modernen Gesellschaften genauer auf seine Hintergründe und Folgen zu untersuchen.
213 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Andrea Maurer
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215 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Robert Skok
Die soziale Einbettung von Märkten und die Frage nach den moralischen Grenzen des Marktes – Michael Sandel und die Erklärungsschwächen moralbasierter Gesellschaftsanalysen Einleitung Michael Sandel geht von der Zeitdiagnose aus, dass sich in den modernen Gesellschaften zunehmend Marktlogiken in wirtschaftsfremde Sphären ausdehnen und marktwirtschaftliche Imperative das Handeln der Menschen bestimmen. Die mit der Ökonomisierung einhergehenden Transformationsprozesse stellen, so Sandel, moderne Gesellschaften vor die entscheidende Frage, wie Menschen zusammenleben möchten. Gesellschaften haben, Sandel folgend, die Wahl zwischen einer marktgeprägten Gesellschaftsform, »in der alles käuflich ist« (Sandel 2012; S. 250) oder einer, die sich den moralischen und staatsbürgerlichen Werten verpflichtet sieht (ebd.; S. 250). Er stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass marktwirtschaftliche Werte, wenn sie sich auf nicht-ökonomische Sphären ausdehnen, sich zersetzend auf deren institutionellen Regelungsmuster auswirken und sich im Gegenzug neue, marktwirtschaftlich geprägte Normen etablieren, die sich negativ auf die nicht-marktlichen Gesellschaftsbereiche auswirken. Setzt man sich mit Sandels theoretischen Argumentationslinien auseinander, dann fällt auf, dass er, trotz seiner fundamentalen Kritik am ökonomischen Denken, implizit der Erklärungslogik der Neo-Klassik folgt, wenn er Märkte und ihre Wirkungsweisen aus einem sozialen und normativen Blickwinkel problematisiert. Im Gegensatz zu Sandel wird, mit Bezug auf die Neue Wirtschaftssoziologie, die Position vertreten, dass wirtschaftliches Handeln und somit auch Märkte immer sozial eingebettet sind und dass nur unter Berücksichtigung sozialer und normativer Faktoren, die in der Relation »Wirtschaft und Gesellschaft« gedacht werden, sich Sandels einseitige Erklärungen marktwirtschaftlicher Abläufe vermeiden lassen. Es zeigt sich zudem, dass die von Sandel aufgestell216 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Die soziale Einbettung von Märkten
te, negativ gerichtete, makrostrukturelle Kausalaussage zwischen Märkten und nicht-marktwirtschaftlichen Bereichen sich nicht halten lässt und seine Gesellschaftsdiagnose somit eingeschränkt ist.
1.
Sandel und die Neoklassik
Zunächst geht es um die Frage, auf welchen theoretischen Grundlagen Sandels Marktverständnis beruht. Es kann schon an diesem Punkt vorweggenommen werden, dass Sandels Marktzugang auf den Grundprämissen der Neoklassik aufbaut. Und so verwundert es nicht, dass Sandels Marktzugang nur eingeschränkte Erklärungen marktwirtschaftlicher und somit auch wirtschaftlicher Phänomene anbietet. Von Brisanz ist der Umstand, dass Sandel auf Grundlage eines Marktmodells, das die Wirkungskräfte von Märkten nur unzureichend wiedergibt, normative Werturteile und politische Forderungen verlautbart und sich in der aktuellen politischen Diskussion in Stellung bringt. Vor diesem Hintergrund wird in einem ersten Schritt aufgezeigt, dass Sandel implizit der Neoklassik folgt, wenn er die Wirkungsweisen von Märkten aufzeigt. Aus diesem Grund werden die neoklassischen Argumente wiedergegeben, auf die sich Sandels Marktzugang zurückführen lässt. Der Nachweis, dass Sandels Marktverständnis von neoklassischer Natur ist, ist von Relevanz, weil es das neoklassische Denken ist, welches Sandel letztendlich zu argumentieren erlaubt, dass Märkte wertfreie Sphären sind, die soziale Mechanismen in nicht-ökonomischen Sphären zerstören. In einem zweiten Schritt wird auf die einbegriffenen Erklärungsschwächen des von Sandel vorgelegten Marktkonzepts eingegangen und gezeigt, dass Sandel aufgrund seines neoklassischen Marktverständnisses nur ein unzureichendes Bild von Märkten zu zeichnen vermag. Es scheint auf den ersten Blick zu verwundern, dass Sandel implizit der Erklärungslogik der Neoklassik folgt, obwohl sich das Buch Was man für Geld nicht kaufen kann (2012) als auch sein Aufsatz Marktdenken als Moraldenken (2013, 2016) explizit gegen das Theoriegebäude der Ökonomik richtet (Sandel 2012; S. 107 ff.). Trägt man die wenigen im Buch und Aufsatz verstreuten Argumente zusammen und setzt sie mit der Theoriearchitektur der Neoklassik in Verbindung, so bildet die Annahme, dass Märkte Allokations- und Distributionsmechanismen sind (ebd.; S. 22), die in der Hauptsache durch Preise und Wettbewerb und nicht auch durch soziale Beziehungen 217 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Robert Skok
sowie moralische Momente gesteuert werden, den zentralen Bezugspunkt beider Ansätze. So wird in der Neoklassik der Preismechanismus als der Prozess beschrieben, der Angebot und Nachfrage in Übereinstimmung bringt. Oder anders formuliert: Über den Preismechanismus erfolgt dezentral die Allokation der Ressourcen, die für die Bereit- bzw. Erstellung der nachgefragten Güter benötigt werden sowie für die Distribution bzw. Zuteilung der nachgefragten Güter bzw. Dienstleistungen. Setzt man am Punkt an, der besagt, dass Preise aggregierte Wertschätzungen und Bedürfnisse individueller Akteure sind (Buß 1985; S. 159), dann wird aus neoklassischer Sicht klar ersichtlich, dass allein der Preismechanismus dafür sorgt, dass Ressourcen den Verwendungszwecken zugeführt werden »in denen sie den größten Nutzen stiften« (Berger 2009: S. 20; siehe auch Swedberg 2007: S. 12). Der Preismechanismus trägt neben der Koordinationsfunktion die des Anreizes mit sich. Anreiz meint den Umstand, dass Preise nicht nur Informationen aussenden bzw. Orientierungshilfen bieten, sondern auch Anreize marktwirtschaftlichen Handelns in sich bergen. So etwa signalisieren hohe Preise die Möglichkeit, dass sich auf einem bestimmten Markt für ein bestimmtes Gut voraussichtlich Gewinne erwirtschaften lassen und sich als Effekt bspw. die Produktion für ein nachgefragtes Gut ausweitet. Der Funktionsmechanismus von Preisen resultiert daraus, dass der Markt »sends prices up when demand increases, and down when supply is in excess« (Bunge 1997; S. 414). Folglich leistet der Markt eine Abstimmung von Angebot und Nachfrage dezentral »über bewegliche Preise« (Berger 2009; S. 20). Im Idealzustand, in welchem sich Angebot und Nachfrage treffen und sich ein Gleichgewichtspreis einstellt, unterstellt die Neoklassik weiterhin, dass es »zur optimalen Erfüllung der wirtschaftlichen Aufgabe: der Maximalbefriedigung« (Albert 1963; S. 88) kommt. Genauer: Die individuelle Nutzenmaximierung ist wie auch der gesamtgesellschaftliche Wohlstand in diesem statischen Zustand maximal (Baur 2008; S. 274). Die Frage, die sich an dieser Stelle auch in Bezug auf Sandel stellt, ist: Wie vollzieht sich die Steuerung von Märkten, ohne »Zentrum und Spitze« (Berger 2009; S. 22)? Die Neoklassik argumentiert, dass Märkte über finanzielle Sanktionsmechanismen verfügen, die, der sich eben hier entfaltenden Logik entsprechend, dezentral ablaufen und Belohnung sowie Bestrafung sich in Gewinnen und Verlusten niederschlagen (Albert 1967; S. 399). Die positiven wie auch negativen Sanktionsmechanismen steuern das Handeln der Marktakteure, und in Konsequenz kann sich 218 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Die soziale Einbettung von Märkten
eine selbsttragende, marktwirtschaftliche Ordnungsform dauerhaft etablieren, die frei von hierarchischen Strukturen, bürokratischen Verwaltungsstäben und sozialen Beziehungsmustern ist. Aus neoklassischer Sicht lässt sich dann der Schluss ziehen, dass Märkte selbstregulierend operieren und weder auf sozialen Strukturen noch auf moralischen Fundamenten fußen und ebendaher in Märkten nicht anzutreffen sind (siehe auch Berger 2009: S. 24). An diesem Punkt ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, dass die Neoklassik eine Theorie der Preisbestimmung ist, deren Analyserahmen ein hypothetischer Markt mit vollkommener Konkurrenz ist, in dem ein selbstregulatorischer Marktmechanismus ohne soziale und moralische Bezüge den Markt steuert (Albert 1979; S. 20). Hans Albert spricht in Bezug auf die Neoklassik folgerichtig von einer »Ökonomie im sozialen Vakuum« (ebd.; S. 19). In diesem Fahrwasser bewegt sich auch Sandel, da er implizit dem Marktkonzept der Neoklassik folgt, insofern er annimmt, dass Märkte nur über Preise und Wettbewerb gesteuert werden, die unabhängig von sozialen Beziehungen und moralischen Momenten operieren. Wichtig ist, dass die Koordinations- und Steuerungsfunktion des Preismechanismus als solche hier nicht in Abrede gestellt wird. Jedoch muss die Überbetonung des Marktmechanismus als zentrale Steuerungsgröße marktwirtschaftlicher Abläufe, also dessen Konzeptualisierung in einem sozialen Vakuum, zur Folge haben, dass die Bedeutung von sozialen Strukturen und Wertvorstellungen innerhalb von Märkten durch Sandels Marktverständnis erklärungstechnisch negiert wird. Und ebendaher muss Sandel übersehen, dass »[d]as Preissystem […] nur ein Teilsystem der Kontrolle im wirtschaftlichen Bereich [ist]« (Albert 1960; S. 39). Die erklärungstheoretische Reichweite von Sandels Marktkonzeption ist mit Bezug auf soziale und normative Aspekte folglich verkürzt, da es Sandel, ähnlich wie der Neoklassik, nicht möglich ist, zu erkennen, dass Märkte »auf einer Mannigfaltigkeit nicht-kommerzieller (kooperativer, politischer, familiärer […] usw.) Beziehungen [aufbauen]« (Albert 1967; S. 226). Es lässt sich somit nur schwer argumentieren, dass Märkte weder über soziale Strukturen noch moralische Momente verfügen, vielmehr muss unterstellt werden, dass Märkte über ein Mindestmaß an sozialen Grundlagen wie etwa normativer Anerkennung oder Einbettung verfügen müssen, damit sie als zentrale Steuerungsinstanzen moderner Gesellschaften funktionieren können. Im nächsten Abschnitt wird daher Mark Granovetters Konzept der sozialen Einbettung wiedergegeben 219 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Robert Skok
und gezeigt, dass Märkte – im Gegensatz zu Sandels Marktverständnis –, als soziale Strukturen zu denken sind, die auch normative Größen in sich tragen.
2.
Die Neue Wirtschaftssoziologie und das Konzept der sozialen Einbettung
Ausgehend von der soziologischen Annahme, dass marktwirtschaftliches Handeln soziales Handeln ist, bilden Märkte einen der Objektbereiche der Neuen Wirtschaftssoziologie. Obwohl bereits soziologische Klassiker, wie etwa Max Weber, das Forschungsfeld der Wirtschaftssoziologie vor fast 100 Jahren abgesteckt haben, bildet die kritische Auseinandersetzung mit der Neoklassik eine der zentralen theoretischen Referenzen der Neuen Wirtschaftssoziologie, welche in den 1980er Jahren allen voran durch US-amerikanische Soziologen wie etwa Harrison White oder Mark Granovetter ins Leben gerufen wurde. Ein zentrales Anliegen der Neuen Wirtschaftssoziologie besteht darin, theoretische wie auch empirische Ansätze auszuarbeiten, um realistischere Erklärungen wirtschaftlicher Abläufe als die Neoklassik anzubieten. Im Zentrum des neuen wirtschaftssoziologischen Denkens steht das Konzept der sozialen Einbettung (Maurer 2012; S. 478), mit dem die Neue Wirtschaftssoziologie antritt, ihr Versprechen einzulösen. Einbettung besagt, dass Menschen nicht, wie die Neoklassik unterstellt, in der Hauptsache selbstbezogen und egoistisch handeln, um allein ihren ökonomischen Nutzen zu maximieren. Vielmehr wird auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass auch wirtschaftliches Handeln auf sozialen und kulturellen Grundlagen beruht (Deutschmann 2007; S. 79). Bezieht man sich im weiteren Verlauf auf den Soziologen Mark Granovetter, auf den das Konzept der Einbettung zurückgeht, dann meint Einbettung, jegliches marktwirtschaftliches Handeln sei »embedded in concrete, ongoing systems of social relations« (Granovetter 1985; S. 487). Ganz allgemein kennzeichnet Granovetter mit Einbettung den Umstand, dass wirtschaftliches Handeln – wie aber auch jegliches anderes menschliche Handeln – sich innerhalb sozialer Interdependenzen abspielt (ebd.; S. 490). So lässt sich schlussfolgern, dass wirtschaftliches Handeln immer in einem Netzwerk persönlicher Beziehungen vonstattengeht (Granovetter 1992; S. 25). Das Argument der Einbettung ist für die weitere Argumentation grundlegend, da aus ihr netzwerk220 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Die soziale Einbettung von Märkten
theoretisch geschlossen wird, dass soziale Netzwerke das Handeln der in den Netzwerken eingebundenen Akteure erkennbar beeinflussen. Und so folgert Granovetter, dass die sozialen Interdependenzen den Akteuren entweder als Handlungsrestriktionen entgegen treten, die die Akteure bei ihrer Zielverfolgung zu berücksichtigen haben, oder aber sich Möglichkeitsräume eröffnen, in denen sich die angestrebten wirtschaftlichen Zielsetzungen verwirklichen lassen. Denn wie sich leicht folgern lässt, setzen Netzwerke Wirtschaftsakteure in Verbindung, die wiederum im unterschiedlichen Umfang über Handlungsressourcen wie etwa Macht oder Reputation verfügen können (ebd.; S. 25). Die unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten der Akteure auf Handlungsressourcen bestimmen somit das eigene als auch das Handeln der Anderen, da Handlungen in Netzwerken zwischen den Akteuren wechselseitig ausgerichtet sind. Es sind aber nicht nur unterschiedliche Handlungsressourcen, über die Akteure in Netzwerken verfügen, die in Konsequenz Handlungsmöglichkeiten eröffnen oder verbauen. Auch die Art der sozialen Beziehungen, die ein Netzwerk auszeichnet, kann marktwirtschaftliches Handeln beeinflussen. So eröffnen Freundschaftsnetzwerke unter mächtigen Unternehmensführern, die bspw. auf Vertrauen aufbauen, andere Handlungsoptionen als ein loses Netzwerk von Standbetreibern eines regionalen Wochenmarktes für Lebensmittel. Aus dem bisher Gesagten lässt sich der vorläufige Schluss ziehen, dass Märkte soziale Strukturen sind und Netzwerke Handlungen koordinieren und von ordnungsstiftender Natur sind. Netzwerke lassen sich aber auch in Bezug auf Institutionen denken. Institutionen sind ganz allgemein formuliert »eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen« (Esser 2000: S. 2, H. i. O.). Ruft man sich in Erinnerung, dass Institutionen auch in Form von moralischen Regeln in Erscheinung treten können (Mantzavinos 2007; S. 123 ff.), dann lässt sich das Argument vorbringen, dass in Märkten moralische Größen anzutreffen sind. Betont man dann noch die regulierende Wirkung von Netzwerken, so kann gefolgert werden, dass soziale Interdependenzen die Verbindlichkeit von Institutionen und somit auch moralische Regeln absichern helfen. Granovetter gibt hierfür als Begründung an, Netzwerke seien »an important source of reward and punishment« (Granovetter 2011; S. 46). Dass Netzwerke Institutionen stabilisieren, ermöglicht den Akteuren wiederum, dass sowohl auf der Basis sozialer Beziehungsmuster wie auch der von Institutio-
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Robert Skok
nen »die Durchsetzungschancen der Eigeninteressen der Marktakteure« (Mikl-Horke 2011; S. 77) gesichert werden. Granovetters Netzwerkansatz ist aber keine strukturdeterministische Theoriekonzeption, die vorgibt, dass soziale Strukturen das Handeln der Akteure vorschreiben. Denn neben der handlungsleitenden Wirkungsmacht von sozialen Beziehungen sind es die ökonomischen und nicht-ökonomischen Handlungsmotive der Akteure, die das Markthandeln auf der individuellen Ebene bestimmen (Maurer 2012; S. 485). Auch wenn Granovetter das Handlungsmodell des Homo oeconomicus der Neoklassik in seiner Argumentation als kritische Referenz miteinbezieht, zeigt sich, dass Granovetter die neoklassische Theoriearchitektur als solche nicht fundamental in Frage stellt. Mehr noch stellt das Konzept der Einbettung eine Erweiterung des neoklassischen Modells dar (Deutschmann 2007; S. 83) bzw. ist die hier skizzierte Netzwerkvariante eine soziologische Version des Rational-Choice. Denn Granovetter geht, wie auch die Neoklassik, von einem rationalen Menschenbild aus, das unterstellt, dass Akteure intentional handeln und bestrebt sind, ihren Nutzen zu maximieren. In Erweiterung zur Neoklassik unterstellt jedoch Granovetter, dass Akteure begrenzt rational handeln und nicht nur nach der Verwirklichung ökonomischer Motive streben. Ein weiterer, jedoch wesentlicher Unterschied zur Neoklassik ist, dass Granovetter die Kollektiveffekte des individuellen Handelns – wie bereits problematisiert –, nicht allein aus den individuellen Präferenzen ableitet, die in der Neoklassik allein durch ökonomische Motivlagen bestimmt sind, sondern neben den individuellen Motiven auch die kontextuellen sozialen Rahmenbedingungen in Rechnung stellt (Schmid 2008; S. 81). Granovetter zufolge handeln Akteure in Rahmen von sozialen Beziehungen, die diese auch in ihrem Handeln mitberücksichtigen müssen. Aus einer soziologischen Netzwerkperspektive sollte somit deutlich geworden sein, dass Märkte soziale Strukturen sind, in denen auch Institutionen und moralische Größen beheimatet sind. Hierauf wird im nächsten Abschnitt in Unterscheidung zu Sandel dargelegt, dass selbst der Preismechanismus sozial eingebettet ist, und aufgezeigt, dass den Preismechanismus sowohl soziale als auch normative Größen beeinflussen können. Es wird der Schluss gezogen, dass sich Sandels These, dass Märkte unweigerlich Werte und Institutionen nichtökonomischer Sphären zerstören und sich negativ auf nicht-wirtschaftliche Lebensbereiche auswirken, aus einer wirtschaftssoziologischen Sichtweise nicht halten lässt. 222 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Die soziale Einbettung von Märkten
3.
Die sozialen und normativen Grundlagen des Preismechanismus
Aus der Annahme, dass Märkte allein über den Preismechanismus gesteuert werden (Sandel 2012; S. 41–44) 1, folgert Sandel, dass Märkte nicht in der Lage sind, moralische Urteile über die durch sie abgewickelten Markttransaktionen abzugeben (ebd.; S. 22). Sandel räumt an anderer Stelle wiederum ein, dass Märkte »bestimmte Normen reflektieren und fördern« können und unterscheidet in Folge zwischen »Normen des Marktes« und nicht-marktlichen Normen (ebd.; S. 100). Eine Antwort auf die Frage, was Marktnormen sind bzw. was marktliche Normen auszeichnet, bleibt Sandel den Lesern schuldig; vielmehr spricht Sandel lapidar von »bestimmte[n] Arten« von Normen, die scheinbar aus einer Marktlogik heraus »die dort ausgetauschten Güter« (ebd.; S. 100) bewerten. Die Entgegnung ist aus einer theoretischen Sicht unzureichend, und es erscheint plausibel, sich Sandels theoretischem Verständnis von marktlichen Normen in der Art und Weise anzunähern, dass aus einem geeigneten Beispiel ein theoretischer Zugang zu seinem Normenverständnis aufgebaut wird. Mit Bezug auf das von Sandel aufgezeigte Beispiel, welches die Möglichkeit der Steigerung der Lesefähigkeit von leseschwachen Kindern thematisiert (ebd.; S. 100), zeigt sich, dass Sandel davon ausgeht, dass marktwirtschaftliche Normen in der Regel ein Handeln abverlangen, das durch monetäre Größe hervorgerufen wird. Weiter lässt sich folgern, dass marktliche Normen ihre handlungsregulierende Kraft genau dann entfalten, wenn sie sich in nicht-ökonomische Sphären ausdehnen. Innerhalb von Märkten sind jedoch keine marktlichen Normen anzutreffen. Vielmehr, so lässt sich aus dem hier wiedergegebenen Beispiel ablesen, operiert in den marktlichen Welten lediglich der sich selbst regulierende Preismechanismus. Mit Bezug auf das Konzept der sozialen Einbettung wurde hingegen aufgezeigt, dass Märkte sozial eingebettet sind. Der Preismechanismus, der aus dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage wirkt, wird, nimmt man das Einbettungsargument ernst, auch durch In dem Paradebeispiel »Märkte vs. Warteschlangen« wird deutlich, dass Sandel implizit der neoklassischen Argumentationsstruktur folgt, da er in dem Beispiel stellvertretend für alle anderen Fallbeispiele zeigt, dass Angebot und Nachfrage über Preise gesteuert werden. Darüber hinausgehend tritt deutlich hervor, dass Sandel annimmt, dass Märkte ohne soziale Voraussetzungen und moralische Grundlagen operieren, weil, so Sandel, Märkte allein nach dem Preismodus verfahren.
1
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Robert Skok
soziale Wirkungsgrößen beeinflusst, da er innerhalb sozialer Beziehungen operiert und durch soziale Beziehungsmuster beeinflusst wird. So argumentiert Granovetter (2011; S. 50) mit Bezug auf empirische Studien, dass bspw. Unternehmen, die persönliche Kontakte zu Bankern unterhalten, sich günstigere Zinsen auf Darlehen verschaffen als Unternehmen ohne persönliche Bindungen zu entsprechenden Kredithäusern. In einer weiteren von Granovetter zitierten Studie (ebd.; S. 50) zeigt sich, dass sich aufgrund von persönlichen Beziehungen für die Kreditgeber das Risiko der Vergabe eines Kredites minimiert und Kreditnehmer somit günstigere Darlehenszinsen erlangen. So zeigt Granovetter auch auf, dass die Durchsetzung von Preisen innerhalb von Kartellen nicht nur auf ökonomischen Größen beruht. Kartelle verfügen über ökonomische wie auch nicht-ökonomische, positive wie auch negative Anreize, mit denen sie ihre Mitglieder zur Kooperation bewegen können. Granovetter selbst stellt ökonomische Ansätze, die sich Kartellen widmen, nicht grundsätzlich in Frage, nur stellt er in Rechnung, dass Kartellmitglieder neben ökonomischen Zielen auch nicht-ökonomische Ziele haben können, wie etwa Freundschaft oder Status. Und somit folgt, dass die unterschiedlichen Zielsetzungen innerhalb von Kartellen gleichzeitig Stabilität und die Durchsetzung des im Kartell festgelegten Preises garantieren können (ebd.; S. 51). In einer selbst durchgeführten Studie von Granovetter und Kollegen zum Entstehungsprozess des US-amerikanischen Strommarkts (Yakubovich et al. 2005; S.) können die Verfasser der Studie aufzeigen, dass selbst das Preissetzungssystem für den Strommarkt eine höchst voraussetzungsvolle soziale Konstruktion darstellt. Granovetter und Kollegen zeigen, dass die Durchsetzung des Strommarktes und des damit zusammenhängenden Preissystems unter anderem von politischen wie auch organisationalen Verfahrensweisen abhängig ist und darüber hinaus die Mobilisierung entsprechender sozialer, politischer wie auch finanzieller Netzwerke für die Etablierung des Strommarktes wesentlich ist (ebd.; S. 580). Wenn sich – wie gezeigt – argumentieren lässt, dass selbst der Preismechanismus auf soziale wie auch normative Grundlagen angewiesen ist, lässt sich wirtschaftssoziologisch nur bedingt argumentieren, dass Märkte zwangsweise Normen nicht-marktlicher Welten zerstören müssen und somit einen negativen Effekt auf nicht-marktliche Welten ausüben. Daher muss Sandels These an diesem Punkt von einem wirtschaftssoziologischen Standpunkt aus in Frage gestellt werden.
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Die soziale Einbettung von Märkten
Fazit Dass Märkte einen negativen Effekt auf nicht-marktliche Welten haben, lässt sich auch aus wirtschaftssoziologischer Sichtweise gut nachvollziehen. Aber ebenso lässt sich wirtschaftssoziologisch aufzeigen, dass Märkte friedlich mit nicht-marktwirtschaftlichen Welten koexistieren und darüber hinaus Märkte positive Effekte auf nichtwirtschaftliche Sphären haben können. Dass ausgerechnet Sandel dem Marktverständnis der Standardökonomik aufsitzt, muss aus einer soziologischen Sicht verwundern. Denn Sandel erkennt nicht, dass sein Marktverständnis im Ganzen gesehen nur auf einer Theorie der Preisbildung beruht und im Übrigen nur für einen sehr speziellen und hochvoraussetzungsvollen Markt gilt. Und so muss Sandel übersehen, dass Märkte nicht allein über Marktpreise und Wettbewerb funktionieren. Um die Funktionsweise von Märkten zu erklären sowie Fragen problematisieren zu können, die sich den Zusammenhängen zwischen Märkten und nicht-marktlichen Welten widmen, bedarf es hingegen einer angemessenen Sozialtheorie, die auch im Stande ist, soziale wie auch moralische Erklärungsvariablen miteinzubeziehen. Zu klären bzw. zu präzisieren wäre im Anschluss an Sandels These, ob solche extremen Märkte real vorzufinden sind. Das heißt dann aber auch, dass Sandels Gesellschaftsdiagnose nur sehr eingeschränkt gültig ist, nämlich nur auf solche Konstellationen zutrifft, wo solche reinen Märkte wirken.
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Christian Rennert
Ökonomik und moralischer Wandel
Die von Adam Smith in der »Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker« 1 beschriebene Marktgesellschaft und deren zugrundeliegende Handlungslogik als emanzipatorisches und gesellschaftsformierendes Projekt hat den gesellschaftlichen Diskurs vorübergehend, nicht aber dauerhaft geprägt. Bereits wenige Jahre nach Smiths Veröffentlichung leiteten die Frühsozialisten und später Karl Marx eine erste Welle wissenschaftlicher Marktkritik ein, die der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Markt und Gesellschaft bis heute Energie verleiht. In diesen Diskurs reiht sich der Text von Michael Sandel ein. Einmal kritisiert er die Ausdehnung der Marktgesellschaft in bisher nicht marktförmig organisierte Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens. Sein Grundtenor: Moral und bürgerliche Tugenden erodierten, wenn dieser Vermarktlichung oder Kommodifizierung keine Grenzen gesetzt würden. Sandel hält eine öffentliche Debatte für notwendig, um diese Grenzen zu bestimmen (MS 3). Nun geht er in seiner Kritik noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Ökonomik als ungeeignete Inspirationsquelle für diese Debatte. Um Grenzen für Kommodifizierung finden zu können, sei eine moralische Argumentation notwendig. Und diese sei nicht Gegenstand einer heutigen neoklassischen Mainstream-Ökonomik, die sich ausschließlich als positive Wissenschaft versteht. »Moralität steht für die Art und Weise, wie wir die Welt gerne hätten, während die Wirtschaftswissenschaft sich damit befasst, wie sie tatsächlich ist.« 2 Mit diesem Zitat aus dem Bestseller »Freakonomics« beschreibt Sandel den Ausgangspunkt seiner weiteren Erörterung. Wo die Grenzen der Marktlogik liegen (sollen), sei folglich eine Frage der Moral-
1 2
Smith (1776, 1999). Levitt und Dubner (2006), zitiert nach MS 5.
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Christian Rennert
philosophie oder politischen Philosophie, aber keine der Ökonomik (MS 4, 5). Die Erkenntnisse, die Sandel aus dem Blickwinkel eines politischen Philosophen zutage fördert, lesen sich aus ökonomischer Perspektive gewinnbringend. Ökonomen sind aufgrund ihrer kognitiven Spezialisierung 3 ebenso dem Risiko ausgesetzt, problemlösungsrelevante Phänomene zu übersehen wie Wissenschaftler anderer Fachdisziplinen. Dies wirft zunächst die Frage auf, wie sich Ökonomik durch Erkenntnisse anderer Wissenschaften inspirieren lassen kann, ohne ihre von Sandel kritisierten »guten Ideen« 4 aufgeben zu müssen. Ökonomik sieht die Welt durch eine den Blick höchst selektiv schärfende Linse ebenso wie die anderen von Sandel erwähnten Wissenschaftsdisziplinen. Je verschiedener die Linsen, desto verschiedener die jeweilige Beschreibung der Welt und desto konfliktreicher der Austausch mit anderen Wissenschaften über mögliche Lösungen für Probleme in der Welt. Interdisziplinarität im Dienste des Erkenntnisfortschritts erfordert daher eine methodische Kontrolle, um wissenschaftsinterne Konflikte für die Suche nach den im Moment möglichen, besten Problemlösungen produktiv schalten zu können. Das Urteil Michael Sandels über die fehlende Eignung der Ökonomik als Ratgeber für die Suche nach Grenzen der Kommodifizierung wirkt insofern vorschnell. Noch gewinnbringender für eine Auseinandersetzung mit dem Aufsatz erscheint jedoch, dass Sandel genau jenes Wesensmerkmal einer von Adam Smith auf den Weg gebrachten Ökonomik einer pointierten Kritik unterzieht, das meines Erachtens gerade deren emanzipatorischen Charakter ausmacht, und dies ist der inhaltlich unbestimmte und moralisch indifferente Vorteilsbegriff. 5 Ökonomisch rekonstruiert lässt sich kognitive Spezialisierung als eingeschränkte Rationalität bezeichnen. Vgl. Williamson (2000; S. 600). 4 Ebenda. 5 Smith (1776, 1999; S. 98) konzipiert den inhaltlich unbestimmten Vorteilsbegriff im Rahmen der Erörterung des Ursprungs der Arbeitsteilung. Erst durch Entscheidungen der handelnden Akteure wird dieser inhaltlich aufgeladen (normativer und methodologischer Individualismus). Damit ermöglicht Smith die Entwicklung einer modernen Ökonomik als einer »ethisch nicht länger kontaminierte[n] ökonomische [n] Theorie« (Plumpe 2007; S. 337); vgl. ebenso Issing (1991; S. 5) sowie Weber (1922, 1985; S. 383). Mit dieser konstitutiven Unbestimmtheit des Menschen entsteht für die moderne Ökonomik unmittelbar die Aufgabe, über die vernünftige und unvernünftige Konditionierung des Eigeninteresses sowie Konsequenzen daraus nachzudenken. Insofern ist Sandels Problemstellung, für deren Lösung er die Ökonomik 3
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Ökonomik und moralischer Wandel
Michael Sandel ist also ausdrücklich zuzustimmen, dass die von ihm kritisierte Ökonomik in der Tat keine Aussagen über moralischen Inhalt und moralische Konsequenzen marktförmig organisierter Handlungen zulässt. In dem ökonomischen Theorierahmen, den Sandel kritisiert, gibt es keine Moral jenseits der normativen Vorstellungen der am Markt tauschenden Akteure. Und selbst diese individuellen normativen Vorstellungen bedürfen keiner weiteren Betrachtung. Es reicht aus, dass die Inuit ihre Rechte am Abschuss von Walrössern verkaufen wollen, um Einkommen zu erzielen, und Personen, die sich als Jäger bezeichnen, diese Rechte erwerben wollen, um ihren Spaß am Abschuss träger Tiere aus nächster Nähe ausleben zu können (MS 50 ff.). Sandel hätte diese von ihm als moralfrei kritisierte ökonomische Logik weiter entfalten und sein Argument schärfer konturieren können. Sollte sich die Nachfrage nach Walrossabschuss stabilisieren, tritt mit der Betriebswirtschaftslehre jene Fachdisziplin auf den Plan, die für die Professionalisierung – in einer Sandeltypischen Diktion hieße dies wohl: Ökonomisierung – dieses Gewerbes sorgt und die Inuit mit technischem Wissen aus z. B. Strategie, Organisation oder Marketing versorgt, welches sie zur Maximierung der Gewinne benötigen, die sie durch die Vermarktung der Walrossjagd erwirtschaften. 6 Wie müsste eine Ökonomik konzipiert sein, die am inhaltlich unbestimmten Vorteilsbegriff axiomatisch festhält, die aber dennoch von Sandel als anregender Sparringspartner empfunden werden könnte für den von ihm geforderten öffentlichen Diskurs um Grenzen der Marktlogik und über die »Art und Weise, wie wir die Welt gerne hätten« (MS 5)? Anders ausgedrückt: Wo entsteht und wie kommt Normativität in ein Spiel von Akteuren, die dieses mit dem Zweck spielen, langfristig Vorteile zu erlangen, die sie höchstpersönlich selbst definieren? Um einer Antwort auf diese Frage auf die Spur zu kommen, lohnt sich ein historisch-empirischer Blick auf das Verhältnis von ökonomischer Rationalität und Moral.
ausdrücklich nicht in Anschlag bringen will, ein – vielleicht sogar das – Ur-Problem der Ökonomik. 6 Kommodifizierung wird als Begriff und Phänomen in der Betriebswirtschaftslehre nicht behandelt. Das zeigt, dass man sich einig ist, dass es in dieser Wissenschaftsdisziplin um nichts anderes als um Kommodifizierung und deren effiziente Organisation (Ökonomisierung) geht.
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Christian Rennert
Die ökonomische Relevanz moralischen Wandels Sandel hält Produkte wie Organe (MS 16 ff.), Lizenzen zur Aufnahme von Flüchtlingen (MS 32 ff.), sexuelle Dienstleistungen (MS 30), Fortpflanzungslizenzen (MS 43 ff.), Zuschauerplätze für Sitzungen öffentlicher Institutionen (MS 20 ff.) und eben Rechte auf den Abschuss von Walrössern (MS 50 ff.) aus moralischen Gründen für nicht kommodifizierbar. 7 Er sieht, dass ökonomische Rationalität und moralische Vorstellungen in einem Spannungsverhältnis stehen, übersieht jedoch, dass dieses Spannungsverhältnis nicht konstant, sondern vielmehr einem steten Wandel unterworfen ist. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Märkte als Arenen sozialer Koordination überhaupt erst dann entstehen können, wenn der auf ihnen stattfindende, ausschließlich interessengeleitete Tausch als legitime soziale Beziehung anerkannt wird. In traditionalen Gesellschaften wurden Marktbeziehungen rigoros eingeschränkt und reguliert, weil man eine gesellschaftsgefährdende Wirkung befürchtete. Märkte durften nur außerhalb der Stadtmauern und zu ausgewählten Zeiten durchgeführt werden. Die Beteiligung am Markthandel war nur für bestimmte Personengruppen – häufig gesellschaftliche Außenseiter – möglich. Erst der Wandel der normativen Bewertung des Marktes von einer »Vergesellschaftung mit Ungenossen, also Feinden« 8 zu einem die gesellschaftliche Entwicklung fördernden Phänomen machte die Ausbreitung von Märkten möglich. 9 Was für die normative Bewertung des Markttauschs gilt, zeigt sich erst recht im Umgang mit Gütern und Dienstleistungen. Insbesondere in stark durch soziale Normen strukturierten, moralisch umstrittenen Problembereichen (MS 19) können Säkularisierungs-, Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsprozesse eine moralische Neubewertung von Gütern und Dienstleistungen auslösen, die ihre partielle oder vollständige Kommodifizierung – aber auch Entoder Re-Kommodifizierung – zur Folge haben. Folgende Beispiele mögen dies erläutern. Das heute im nicht-muslimischen Teil der Welt nicht mehr in Frage gestellte Verleihen von Geld gegen Zins galt über Jahrhunderte Stellvertretend für alle von Sandel diskutierten Güter und Dienstleistungen wird im weiteren Verlauf nur noch von Rechten auf Walrossabschuss gesprochen. 8 Weber (1922, 1985; S. 385). 9 Vgl. Beckert (2014; S. 553 mit weiteren Nachweisen). 7
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Ökonomik und moralischer Wandel
als sündiges Geschäft und war seit Ende des 8. Jahrhunderts nicht nur für den Klerus, sondern allgemein verboten. Begründet wurde dieses Zinsverbot mit dem Verweis auf das Wort Gottes; man solle leihen, ohne etwas davon zu erhoffen (Lukas 6, 35). Für die mit der Scholastik beginnende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Zinsverbot spielt jedoch insbesondere die aristotelische Auffassung eine bestimmende Rolle, nach der Geld ausschließlich für den Tausch entstanden und demzufolge als Gut selbst nicht kommodifizierbar ist. In aristotelischer Perspektive ist die Geldleihe zudem mit dem Naturrecht nicht zu vereinbaren. 10 So wurde der Geldhandel lange Zeit als Kapitalverbrechen behandelt und dessen Akteure »in die Gesellschaft von Brandstiftern, Räubern, Blutschändern und Huren eingereiht.« 11 Trotz dieses moralischen und juristischen Banns des Kredits, ließ sich über die Jahrhunderte hinweg dessen ökonomische Notwendigkeit nicht leugnen. Gesellschaften benötigen ein Kreditsystem. So nahm man es mit der Bestrafung von Christen, die des Zinsgeschäfts überführt wurden, nicht immer sehr genau. Ferner wurden Nichtchristen – de facto vor allem Juden – vom Verbot des Geldhandels ausgenommen, während ihnen gleichzeitig der Zugang zu anderen Tätigkeiten erschwert oder verwehrt wurde. So entwickelte sich der Geldhandel für lange Zeit zu einer wesentlichen Erwerbsquelle der jüdischen Bevölkerung. Diese Ausgrenzung aus moralisch akzeptierten Geschäften und Hineindrängung in gesellschaftlich notwendige, aber moralisch umstrittene Tätigkeiten war eine der Triebkräfte für Judenhass und Judenverfolgung. Im weltlichen Recht wurde das Zinsverbot ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts langsam entschärft. Die Verankerung des Zinsverbots im katholischen Kirchenrecht wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts formal aufgehoben. 12 Die Auseinandersetzung mit dem Zinsverbot zeigt, dass moralische Bewertungen von Gütern häufig einen religiösen Hintergrund besitzen. Diese können sich daher erst im Zuge einer Rationalisierung des Religiösen wandeln. 13 – Eine solche Umwertung lässt sich ebenso am Beispiel von Bestattungsdienstleistungen verdeutlichen. Galt die materielle Bewertung des Todes im Mittelalter noch als unmoralisch und anstößig, wird die marktförmige Organisation der To10 11 12 13
Vgl. Issing (1991; S. 17 ff.). Ebenda (S. 19). Vgl. ebenda (S. 20 und S. 22 ff.). Vgl. Weber (1922, 1985; S. 384 f.).
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desfürsorge heute als legitim angesehen. Diese Kommodifizierung von Bestattungsdienstleistungen vollzog sich im Anschluss an Reformation und Aufklärung in drei Stufen, und zwar als Entzauberung des Todes im 17. und 18. Jahrhundert, als Individualisierung der Bestattung im 18. und 19. Jahrhundert und schließlich als Kommerzialisierung der Totenfürsorge in ihrer heutigen Form. 14 Auch konnte ein Markt für Lebensversicherungen erst als Folge einer normativen Neudefinition dieser Produkte entstehen. So fanden diese Versicherungen im Amerika des 19. Jahrhunderts keine Nachfrage. Es galt als geschmacklos und unanständig, vom Tod nahestehender Menschen zu profitieren. Eine Kommodifizierung kam alsdann mit einer moralischen Uminterpretation des Abschlusses von Lebensversicherungen als verantwortlichem Handeln gegenüber Familienangehörigen in Gang. Heute zweifelt niemand mehr an der Legitimität der marktförmigen Organisation des Handels mit diesen Produkten. 15 Die Auseinandersetzung über die moralische Zulässigkeit der marktförmigen Vermittlung von Gütern kann auch in deren EntKommodifizierung einmünden. Dies lässt sich z. B. am Markt für Walerzeugnisse beobachten. Wurden Wale früher als Nutztiere bewertet, entwickelten sich aus diesen Tieren gewonnene Erzeugnisse im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu moralisch höchst umstrittenen Gütern. Wale werden heute symbolisch mit Werten wie Freiheit und intakter Natur verknüpft, was den Konsum von Produkten aus diesen Tieren als anstößig und illegitim erscheinen lässt. Interessanterweise schuf diese Ent-Kommodifizierung durch moralische Umwertung gleichzeitig die Voraussetzungen für findige Pionierunternehmer, einen mittlerweile lukrativen Markt für kommerzielle Walbeobachtung zu entwickeln. 16 Diese Beispiele machen deutlich, dass sich im Prozess des Wandels moralischer Einstellungen zeigt, ob die marktförmige oder nichtmarktförmige Organisation des Handels von Gütern und Dienstleistungen als legitim angesehen wird oder nicht. Moralische Vorstellungen können in marktförmig organisiertem Handeln aufgehen oder nicht. Moralischer Wandel entscheidet mit über die Entstehung oder den Untergang von Märkten. 14 15 16
Vgl. Akyel und Beckert (2014; S. 430 ff.). Vgl. ebenda (S. 429 mit weiteren Nachweisen). Vgl. Beckert (2014; S. 555 f. mit weiteren Nachweisen).
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Ökonomik und moralischer Wandel
Die Gründe, die Sandel für die moralische Anstößigkeit der Vermarktung der Walrossjagd anführt, klingen aus heutiger Perspektive plausibel. Das ist wohl auch die Ursache, warum ökonomisch rationale Akteure diesen Markt nur zögerlich entwickeln. Nur muss dies so bleiben? Die fortschreitende Herauslösung der Inuit aus ihren traditionalen Lebenszusammenhängen und der Trend zur Suche nach immer spezielleren Konsumerlebnissen können ebenso zu einer normativen Neudefinition dieses Gutes führen und dessen marktförmige Vermittlung legitimieren, wie dies bei Bestattungsdienstleistungen der Fall war.
Wie kommt Normativität in ein Spiel eigeninteressierter Akteure und wo entsteht diese? Die genannten Beispiele zeigen, dass individuelles Vorteilsstreben empirisch immer moralisch eingebettet ist. Zugleich ist davon auszugehen, dass Menschen insbesondere in Knappheitssituationen entlang ihrer höchstpersönlichen (und möglicherweise höchst verzerrten) Vorteils-/Nachteilsüberlegungen entscheiden. Normativ gewendet heißt dies: Sie sollen diese Entscheidungsfreiheit auch besitzen; es geht um deren individuelle Freiheit (normativer Individualismus). 17 Einige wollen Walrösser jagen, um ihren Spaß zu erhöhen. Das Entscheidungskalkül dieser Menschen wird beeinflusst durch Moral. Moral bezeichnet den Vorrat an impliziten Regeln (Bedingungen, Institutionen) einer Gesellschaft, an dem sich Akteure bei ihren Entscheidungen orientieren und mit dessen Hilfe sie bestimmen, ob Handlungen als legitim wahrgenommen werden oder nicht. 18 Moral erhöht – Verhalten führt zu sozialer Ausgrenzung – oder senkt – Verhalten führt zu sozialer Integration – die Kosten, die mit dem Spaß durch Walrossabschuss verbunden sind. Moral wandelt sich im Zeitablauf, und so wird Walrossabschuss und dessen marktförmige Organisation wahrscheinlicher oder nicht. Wie kann die von Michael Sandel kritisierte neoklassische Ökonomik diese sittliche Einbettung individuellen Handelns konstruktiv Individuelle Freiheit schließt natürlich die Freiheit zu Fehlentscheidungen ein, die dann Anlässe für individuelles Lernen bieten. 18 Vgl. in diesem Sinne z. B. Scherer und Picot (2008; S. 4) sowie grundlegend North (1991). 17
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Christian Rennert
zur Kenntnis nehmen und methodisch verarbeiten? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, bietet sich ein Blick in das von Karl Homann vor mehr als zwei Jahrzehnten auf den Weg gebrachte ordnungsethische Forschungsprogramm an. Zur Klärung des Verhältnisses von individuellem Vorteilsstreben und Moral trennt Homann zwischen Handlungen und Handlungsbedingungen. Aufgrund dieser Unterscheidung von zwei Ebenen kann Homann am inhaltlich unbestimmten und moralisch indifferenten Vorteilsbegriff der neoklassischen Ökonomik festhalten. Damit ist er jedoch gezwungen, Moral nicht in den Handlungen, sondern systematisch in den Handlungsbedingungen zu verorten. Während Sandel seine Kritik an die handelnden Akteure adressiert – die Inuit und die Walrossjäger verhalten sich unmoralisch, weil sie die Rechte der Tiere nicht angemessen berücksichtigen (MS 56) – erlaubt die Homannsche Ordnungsethik eine Kritik der Bedingungen, die eine Vermarktung des Walrossabschusses ermöglichen. Wenn die Kanadier die marktförmige Organisation der Walrossjagd mehrheitlich als legitim empfinden (und als legal konsentieren), ist es folglich nicht zulässig, die Kommodifizierung des Walrossabschusses als unmoralisch zu bezeichnen. Zugespitzt und häufig Empörung hervorrufend formuliert: Moralische Forderungen, wie etwa im vorliegenden Fall, die Rechte von Tieren zu berücksichtigen, können keine normative Gültigkeit beanspruchen, wenn deren Befolgung in der betreffenden Gesellschaft mehrheitlich auf keine positive Resonanz stößt. 19 Es sei erwähnt, dass Karl Homann mit dieser Konzeptualisierung von Moral die Akteure nicht von ihrer individuellen moralischen Verantwortung in konkreten Entscheidungssituationen freispricht. Auch bleiben Individuen weiterhin entscheidende Impulsgeber für moralische Entwicklung. 20 Die Homannsche Ordnungsethik hebt jedoch hervor, dass Normativität ins Spiel eigeninteressierter Akteure systematisch und dauerhaft nur dann kommen kann, wenn die impliziten moralischen (und expliziten, nicht zuletzt in demokratischen Prozessen gefundenen rechtlichen) Regeln einer Gesellschaft normkonfor-
In einer für seine Theorie gleichsam archetypischen Formulierung heißt es bei Homann (2001; S. 100): »Die normative Gültigkeit von moralischen Regeln hängt von der anreizkompatiblen Implementierbarkeit ab: Die Implementierbarkeit schlägt auf die Geltung durch.« 20 Vgl. z. B. Homann (2014; S. 136 ff. und S. 244). 19
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Ökonomik und moralischer Wandel
mes Verhalten stabilisieren und normabweichendes Verhalten destabilisieren. Beantwortet Karl Homann vor allem die Frage, wie Normativität gesellschaftlich zur Geltung kommt, ermöglichen die den ordnungsethischen Ansatz fortentwickelnden Arbeiten von Ingo Pies unter anderem eine Auseinandersetzung mit dem Problem, wo Normativität in einer Gesellschaft entsteht. Pies fügt dem oben beschriebenen Zwei-Ebenen-Schema eine dritte Ebene hinzu. Diese repräsentiert die Öffentlichkeit. Im öffentlichen Raum finden jene konfliktbeladenen Diskurse statt, die nicht nur zur bewussten (politische Regelsetzung), sondern auch unbewussten (moralische Regelbildung) Formierung der Bedingungen führen, die das Entscheidungskalkül der Akteure beeinflussen. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Öffentliche Diskurse sind der wesentliche Ort, an dem sich normative Vorstellungen herausbilden, die via Bedingungsgestaltung in konkreten Handlungen zum Ausdruck kommen. 21 Dieser erweiterte ordnungsethische Theorieaufriss legt nahe, dass die moralische Beurteilung der marktförmigen Organisation des Walrossabschusses unzureichend bleibt, wenn die Qualität und Dynamik der öffentlichen Diskurse in der kanadischen Gesellschaft nicht berücksichtigt wird.
Fazit Angesichts des dargestellten Stands der Theorieentwicklung kann eine zeitgemäße neoklassische Ökonomik heute keine Handlungstheorie mehr sein, die Michael Sandel zu Recht als moralisch »taub« kritisiert. Eine moderne neoklassische Ökonomik hält zwar am inhaltlich unbestimmten und moralisch indifferenten Vorteilsbegriff axiomatisch fest und verzichtet daher auf jede normative Beurteilung der Präferenzen der Akteure. Gerade dieses Festhalten macht es jedoch möglich, die Spurensuche nach Normativität systematisch im Handlungskontext der Akteure – in den Regeln und im Diskurs über die Regeln – zu beginnen. Eine derart institutionalistisch erweiterte Neoklassik wird zwangsläufig zur Gesellschaftstheorie. Sie interessiert sich gezielt für die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse, die dem moralischen Wandel – d. h. dem Bedingungswandel – zugrunde liegen 21
Vgl. z. B. Pies (2011, 2012; S. 19 ff.).
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Christian Rennert
und das Entscheidungskalkül der handelnden Personen beeinflussen. Diese Neoklassik informiert nüchtern über die Gründe, warum das Verhalten von Akteuren in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext zu kollektiv erwünschten oder unerwünschten Ergebnissen führt. Dieser gesellschaftliche Kontext kann (und muss) von Bürgern – in ihrer Rolle als Staatsbürger (citoyens) – selbst gestaltet werden. Auch diese Erkenntnis liefert eine institutionalistisch erweiterte Neoklassik. Von der Qualität der Diskurse in einer Gesellschaft, von deren Offenheit und Unverzerrtheit, hängt es ab, »welche« Normativität letztlich im Verhalten ihrer Mitglieder zum Ausdruck kommt. Das Zinsverbot, welches Judenhass und Judenverfolgung mit ermöglichte, ist ein ernüchternder und zugleich aufrüttelnder Beleg für diesen Zusammenhang. Hier schließt sich der Kreis zur Argumentation von Michael Sandel: »Wir brauchen … eine öffentliche Debatte darüber, in welchen Bereichen Märkte dem Wohl dienen und wo sie nicht hingehören« (MS 3). Diese Debatte wäre ärmer, wenn sie auf die Beiträge einer zeitgemäßen, institutionalistisch erweiterten Neoklassik verzichten müsste.
Literatur Akyel, Dominic und Jens Beckert (2014): Pietät und Profit. Kultureller Wandel und Marktentstehung am Beispiel des Bestattungsmarktes, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 66, H. 3, S. 425–444. Beckert, Jens (2014): Die sittliche Einbettung der Wirtschaft, in: Der Wert des Marktes. Ein ökonomisch-philosophischer Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. von Lisa Herzog und Axel Honneth, Berlin, S. 548–576. Homann, Karl (2014): Sollen und Können. Grenzen und Bedingungen der Individualmoral, Wien. Homann, Karl (2001): Ökonomik: Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln, in: Artibus ingenius. Beiträge zu Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Ökonomik, hrsg. von Georg Siebeck, Tübingen, S. 85–110. Issing, Otmar (1991): Minderheiten im Spannungsfeld von Markt und Regulierung. Marginalien aus theoretischer und historischer Sicht, in: Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz), Jg. 1991, Nr. 8, Stuttgart. Levitt, Steven D. und Stephen J. Dubner (2006): Freakonomics. A Rogue Economist Explores the Hidden Side of Everything, überarbeitete und erweiterte Ausgabe, New York.
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Ökonomik und moralischer Wandel North, Douglass C. (1991): Institutions, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 5, No. 1, S. 97–112. Pies, Ingo (2011, 2012): Wie kommt die Normativität ins Spiel? – Eine ordonomische Argumentationsskizze, in: Regelkonsens statt Wertekonsens: Ordonomische Schriften zum politischen Liberalismus, hrsg. von Ingo Pies, Berlin, S. 3–53. Plumpe, Werner (2007): Die Geburt des »Homo oeconomicus«. Historische Überlegungen zur Entstehung und Bedeutung des Handlungsmodells der modernen Wirtschaft, in: Menschen und Märkte. Studien zur Wirtschaftsanthropologie, hrsg. von Wolfgang Reinhard und Justin Stagl, Wien, Köln und Weimar, S. 319–352. Sandel, Michael J. (2013, 2016): Marktdenken als Moraldenken. Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten, in diesem Band. Scherer, Andreas G. und Arnold Picot (2008): Unternehmensethik und Corporate Social Responsibility – Herausforderungen an die Betriebswirtschaftslehre, in: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Jg. 60, Sonderheft 58/08, S. 1–25. Smith, Adam (1776, 1999): Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, hrsg. von Erich Streissler, 2 Bände, Düsseldorf. Weber, Max (1922, 1985): Wirtschaft und Gesellschaft, 5. revidierte Auflage, Tübingen. Williamson, Oliver E. (2000): The New Institutional Economics: Taking Stock, Looking Ahead, in: Journal of Economic Literature, Vol. 38, No. 3, S. 595–613.
237 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Richard Sturn
Werte, Anreize und die Grenzen des Marktes
I.
Markt und Politik
Der vorliegende Aufsatz Michael Sandels spitzt ein Anliegen zu, welches für moderne Marktgesellschaften von grundlegender Bedeutung ist. Das Anliegen lautet: Die Grenzen des Marktes sind eine politische Angelegenheit. Moderne Marktgesellschaften geraten in eine prekäre Schieflage, wenn verkannt wird, dass die Grenzen und Grundlagen des Marktes unauflöslich mit Politik verknüpft sind. Es gilt, dieser Einsicht wieder zum Durchbruch zu verhelfen, obwohl wirkmächtige Strömungen in der Ökonomik (und über diese hinaus) dem entgegenstehen. Der von Michael Sandel bekämpfte Ökonomismus hat die Tendenz, alle Interaktionen zwischen Menschen auf marktförmigen Tausch zurückzuführen. Politische Diskurse und Mechanismen werden zur Randerscheinung. Lebensweltliche Werte werden zu käuflichen Waren, was uns im Endeffekt ärmer macht, wenn sich dieser Prozess schrankenlos ausdehnt. Denn manche diese Werte werden im Prozess der Vermarktlichung irgendwie beschädigt. Aber bekämpft Sandel mit diesem Ökonomismus nicht einen Popanz? Ist sein Anliegen wirklich ein wichtiges und aktuell relevantes Anliegen? Antwort: Ja, es ist ein wichtiges Anliegen. Sandel kämpft nicht gegen einen Popanz. Tatsächlich gib es in der Ökonomik zumindest zwei Strömungen, die mit jenem Ökonomismus einhergehen, der Sandel ein Dorn im Auge ist. Eine dieser Strömungen stützt sich auf folgende (an sich richtige) Einsicht, die Abba Lerner (1972) anlässlich seines Vortrags als Präsident der American Economic Association unübertroffen formuliert hat: »Eine ökonomische Transaktion ist ein gelöstes politisches Problem. … Die Ökonomik wurde zur Königin der Sozialwissenschaften, indem sie gelöste politische Probleme als ihren Gegenstandsbereich wählte.« 238 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Werte, Anreize und die Grenzen des Marktes
Hier sind ein paar Überlegungen zur Erläuterung dieser zugespitzten Fokussierung der Leistungsfähigkeit von Märkten: Aus einem Interaktionsmuster, das sich zunächst als konfliktträchtiges politisches Problem darstellt (denken wir an einen Nutzungskonflikt), wird Lerner zufolge eine friedliche ökonomische Transaktion zum Vorteil aller Beteiligten. Wie wird dies bewerkstelligt? Es wird dadurch bewerkstelligt, dass Regeln entstehen, die von allen Beteiligten anerkannt werden. Diese Regeln legen beispielsweise in einem Nutzungskonflikt fest, wer welche Handlungsrechte in Bezug auf eine bestimmte knappe Ressource hat. Diese Rechte legen insbesondere auch die Eigentumsrechte und die Bedingungen, die Reichweite und die Grenzen der Handelbarkeit der betreffenden Ressource fest. Die Ressource wird ökonomisch in Wert gesetzt und zum Gegenstand allseitig vorteilhafter Tauschakte. Diese richtige Einsicht wird nun von durchaus einflussreichen Strömungen in der Ökonomik und im ökonomischen Liberalismus mit Zusatzhypothesen verknüpft. Die erste dieser Zusatzhypothesen besagt, dass das Muster dieser Handlungsrechte irgendwann (in einem konstitutionellen Akt) ein-für-allemal festgelegt wird und dass daher ab diesem Zeitpunkt keine grundlegenden politischen Diskussionen darüber mehr zu führen sind. Diese Vorstellung ist im Wesentlichen falsch. Märkte entlasten zwar in der Tat die Politik in einer Weise, die im Lerner-Zitat angedeutet ist. Dies heißt aber nicht, dass Politik überflüssig wird. Denn die moderne Marktwirtschaft beruht auf Innovation und Dynamik, ja auf schöpferischer Zerstörung (vgl. Schumpeter 1942, 2008). Rastloser Wandel führt unter anderem auch dazu, dass ökonomische Strukturen, Knappheiten und Technologien sich so verändern, dass die alten Spielregeln nicht mehr passen. Sie müssen ergänzt oder modifiziert werden, weil sie nicht mehr Grundlage eines gesamtwirtschaftlich vorteilhaften »Spiels« von Markttransaktionen sind. Heute kann man zum Beispiel fragen: Wie sehen zukunftsfähige Spielregeln für die wirtschaftliche Nutzung knapper ökologischer Leistungen aus? Oder für die Nutzung und Entwicklung neuer Technologien im Informationsbereich? Trägt das existierende Regelwerk den Möglichkeiten und Problemen der Globalisierung ausreichend Rechnung? Was folgt aus der ökonomischen Realisierung von Technologien und Geschäftsmodellen, die so große und/ oder kumulative Risiken in sich bergen, dass das bewährte Prinzip der Haftung nicht mehr zum Tragen kommt, weil die Schäden zu groß sind? 239 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Richard Sturn
Fazit: In einer dynamischen Marktwirtschaft ist zu erwarten, dass immer wieder politisch zu verhandelnde Reformen der Spielregeln anstehen werden – selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass zu irgendeinem Zeitpunkt ein ideales Regelsystem schon verwirklicht wäre. Eine zweite Strömung verkennt zwar nicht die Dynamik moderner Wirtschaften und ihre Folgen, unterstellt aber, dass Reformen des Regelwerks keine politische Angelegenheit seien. In einer freien Gesellschaft mit Privateigentum bestehe genügend Raum für problemgerechte Anpassungen, die sich entweder aus der Evolution nicht-politischer Governance-Institutionen (z. B. Firmen) oder aber aus der Rechtsprechung ergäben. Diese Argumentation hat ebenfalls einen wahren Kern. Sie unterschätzt jedoch, wie weitreichend und tiefgehend der durch Marktdynamiken ausgelöste Wandel sein kann. Weil er so tiefgehend ist, wird nicht selten die Grenze dessen überschritten, was im Wege der juristischen Prüfung privatrechtlicher Ansprüche verhandelt werden kann. Gerade wenn man die Eigenheiten des Innovationsprozesses als Prozess schöpferischer Zerstörung vor Augen hat, so wie er von Joseph A. Schumpeter (1942, 2008) dargestellt wird, dann wird eines klar: Der Innovationsprozess ist geradezu auf Grenzüberschreitungen hin ausgelegt, schließt er doch laut Schumpeter Folgendes ein: neue Güter, neue Produktionsverfahren, neue Märkte, neue Organisationsformen. Nicht alle Grenzüberschreitungen ziehen einen Bedarf nach neuen Spielregeln nach sich. Aber manche tun dies sehr wohl. Die Ökonomik besitzt heute sehr brauchbare Werkzeuge, um fundierte Urteile darüber zu treffen, in welchen Fällen eine Spielregel-Änderung angezeigt ist und in welchen nicht. Mitunter kann man zeigen, dass ohne neue Regeln soziale Dilemmata entstehen. Sei es, weil innovationsbedingt verknappte Ressourcen übernutzt werden, sei es, weil die Potentiale der Neuerungen nicht genügend genutzt werden, weil durch das herrschende alte Regelsystem künstliche Knappheiten geschaffen werden. Aber auch wenn die Ökonomik sehr nützliche Anhaltspunkte für eine problemgerechte Weiterentwicklung der Spielregeln liefert – die Weiterentwicklung ist immer auch ein politisches Problem, weil sie zunächst meist auch mit widerstreitenden Interessen und Verteilungskonflikten verbunden ist. Ohne auf der Höhe der Zeit befindliche politische Diskussionen und darauf aufgebaute politische Prozesse werden sich moderne Ge240 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Werte, Anreize und die Grenzen des Marktes
sellschaften nicht gut weiterentwickeln. Weder der Minimalstaat noch eine minimalistische Politik ist ein taugliches Rezept für das 21. Jahrhundert. Auch in einem weiteren (im Untertitel seines Aufsatzes betonten) Punkt hat Sandel Recht: Die politische Philosophie kann wichtige Beiträge zur ergebnisorientierten Strukturierung politischer Diskussionen liefern – am besten (so kann man hinzufügen), wenn sie klug Befunde und Einsichten integriert, welche die Ökonomik liefert.
II.
Markt und Moral: Zwei konträre Thesen
Also Übereinstimmung mit Sandel auf der ganzen Linie? Davon kann keine Rede sein. Denn er beschränkt sich nicht darauf, im Sinne der oben skizzierten Argumente der Politik und dem politischen Diskurs eine wichtige Funktion beizumessen. Vielmehr gibt er seinem Text zusätzliche Brisanz, indem er grundsätzlich die Grenzen der Käuflichkeit anmahnt und in seinen Beispielen die zerstörerischen Folgen anprangert, welche mit dem Überschreiten dieser Grenzen verbunden sind. Also damit, dass zur Ware gemacht wird, was nicht Ware sein kann. Ein weiterer Aspekt wird zwar nicht explizit stark gemacht, durchdringt aber den ganzen Aufsatz als Subtext: Politische Praxis hat für Sandel einen Eigenwert auch jenseits der Tatsache, dass wir eine funktionierende, aufgeklärte und diskursive Politik brauchen, um heutige Probleme zu lösen. Was ist nun davon zu halten? Genauso wie der moderne Markt ist auch die moderne Politik nicht voraussetzungslos, sondern beruht auf der Befolgung von Regeln und der Übung gewisser Tugenden. Sandel argumentiert diesbezüglich jedoch ganz asymmetrisch: Vermarktlichung führt demzufolge zu einer Erosion von Moral, wohingegen die Politik eher mit dem Üben von Tugenden identifiziert wird. Dieser Aspekt seiner Überlegungen ist leider undifferenziert und versäumt es auch, Einsichten zu nutzen, die aus der modernen Ökonomik und den modernen Sozialwissenschaften zu gewinnen sind. Denn im Lichte dieser Einsichten kann man heute zwei auf den ersten Blick völlig konträre Thesen in einen allgemeineren Theorierahmen einfügen und in der Folge ihren jeweils verschiedenen Geltungsbereich relativieren; das bedeutet, empirische Bedingungen anzugeben, unter denen entweder die eine oder die andere dieser Thesen (oder keine von beiden) zutrifft. 241 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Richard Sturn
These 1: Der Markt führt tendenziell zur Erosion von Moral. Oder in einer auf den deutschen Ordoliberalen Wilhelm Röpke zurückgehenden Variante: Wirtschaftlicher Wettbewerb ist ein Moralzehrer. These 2: Handel führt zu einer Verbesserung von Sitten und Moral, u. a. verstärkt er Tugenden, die dem reibungslosen Handel dienlich sind (Ehrlichkeit, Verlässlichkeit) und trägt dazu bei, dass Menschen sich als gleichrangig anerkennen (doux commerce-These). Beide Thesen sind Anwendungsfälle der Theorie endogener Präferenzen (Einstellungen, Handlungsorientierungen), wie sie etwa von Samuel Bowles (1998) erläutert wird. Institutionen fallen nicht vom Himmel, sondern sind das Ergebnis präferenzgetriebenen Handelns. Aber Institutionen (auch die Institution eines Wettbewerbsmarkts) wirken auf die Präferenzen zurück. In einer evolutionstheoretischen Sicht könnte man auch sagen: Institutionen und Präferenzen entwickeln sich gemeinsam in einem Prozess der Ko-Evolution. In der Perspektive einer solchen Theorie gilt es, im Einzelnen nachzuweisen, unter welchen Bedingungen die Ko-Evolution von Institutionen und Präferenzen im Hinblick auf die Präferenzen zu Einstellungsänderungen führt, die man als »Erosion von Moral« bezeichnen kann – oder aber unter welchen Bedingungen so etwas wie die doux commerce-These (vgl. Hirschmann 1982) eher zutrifft. Dass im Zuge eines solchen Forschungsprogramms theoretisch und empirisch Konstellationen diagnostiziert werden können, die auf Moral-Erosionsprozesse hinauslaufen, liegt durchaus nahe. Dafür spricht schon, dass eine Reihe ganz verschiedener Autoren und Autorinnen (u. a. der schon zitierte Röpke) solches diagnostiziert haben. Auch der im Nachgang der letzten Finanzkrise vielbeklagte »Verlust von Vertrauen«, der mit der Erosion der Tugenden des ehrbaren Kaufmanns in Teilen der Finanzwelt in Verbindung gebracht wurde, mag zu dieser Art Phänomen gehören. Indes ist wenig damit gewonnen, wenn »dem Markt« pauschal diese Tendenz zugeschrieben wird. Interessant wäre vielmehr, welche spezifischen Institutionalisierungen und Strukturen in konkreten historischen Situationen dafür maßgebend waren.
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Werte, Anreize und die Grenzen des Marktes
III. Anreize, Werte und Reformen Abschließend noch ein paar Hinweise zu jenem Beispiel Sandels, welches Pünktlichkeitsnormen im Zusammenhang mit der Zeitstruktur von Kindergärten/KiTas zum Ausgangspunkt hat. Man kann dieses Beispiel zwar à la Sandel verwenden, um die Problematik der Grenzen des Marktes zu thematisieren. Aber es ist dazu gar nicht sonderlich gut geeignet. Denn es geht dabei viel eher um die Frage der Wirkungsweise von Handlungsorientierungen, Normen und Anreizen in einer Organisation. Die neu eingeführte Strafgebühr ist ja zunächst ein neuer Anreizmechanismus, der nicht direkt mit einer Ausdehnung des Marktes in Verbindung steht. Es ist dies einer jener Fälle, in denen die Wechselwirkung zwischen institutionalisierten Anreizen, Normen und Handlungsorientierungen bzw. Präferenzen eine Rolle spielt. Als praktischer Anwendungshorizont der am KiTaBeispiel illustrierten Effekte kommt daher meines Erachtens nicht in erster Linie die politische Diskussion über die Grenzen des Marktes in Frage. Interessant ist das Beispiel vielmehr für Probleme, die mit der Reform von Organisationen verbunden sind. Es zeigt sich nämlich, dass in manchen Fällen partielle Reformen, die Organisationsprinzipien betreffen, schwierig sind. Die allgemeinen Gründe für diese Schwierigkeit seien hier kurz skizziert: Angenommen, die Strukturierung von Entscheidungsprozessen, Belohnungen und Kommunikationsformen einer Organisation unterstützt »intrinsische Motivation«; also eine Auffassung von Handlungsgründen, wonach in der Organisation Beschäftigte wegen der Aufgabe selbst motiviert sind und sich deshalb anstrengen, die Aufgabe möglichst gut zu erfüllen. Nun führt die Organisation für einzelne Aufgaben geringfügige monetäre Anreize ein. Diese passen eigentlich nicht zur herrschenden Organisationskultur. Sie werden daher vielleicht zunächst als Verhaltensgrund abgewertet. Hierfür liefern Erkenntnisse aus der Psychologie gewisse Hinweise. Sie sind folglich soweit unproblematisch, aber auch nicht besonders wirksam. Wenn allerdings diese Anreizmechanismen einen neuralgischen Punkt betreffen (was möglicherweise bei den Abholzeiten im KiTa-Beispiel der Fall ist) oder in mehreren Bereichen der Organisation eingeführt werden, kann es zu einem Kipppunkt kommen, wo ein sprunghafter Wechsel zu einem anderen Begründungsschema stattfindet. Beispielsweise könnte dann intrinsische Motivation völlig verdrängt werden (crowding out). Die 243 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Richard Sturn
Organisation hat in diesem Fall dann ein Problem, wenn die mögliche Herausforderung eines Totalumbaus der Organisationsprinzipien nicht in Rechnung gestellt worden war, die mit einer vermeintlich begrenzten »Reform« verbunden ist. Das könnte darauf hinauslaufen, dass (im reformierten Zustand) die Ziele der Organisation ausschließlich über ein entsprechendes Design von extrinsischen Anreizen erreicht werden müssten, weil das ursprünglich auf intrinsischer Motivation bauende motivationale Setting unglaubwürdig geworden und verschwunden ist. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass Designs funktionstüchtiger Anreizmechanismen vor allem dann ihre Grenzen haben, wenn die zu erbringenden Leistungen mehrdimensional sind. Organisationen, für welche das zutrifft, sollten bei Reformen daher besonders auf die skizzierte Gefahr der Verdrängung von Motivation achten. Dieses Negativ-Szenario muss nicht zwangsläufig eintreten. Die verschiedenartigen Wechselwirkungen zwischen institutionellen Anreizen und den Handlungsorientierungen der Akteure können aber ein relevantes Problem darstellen, das beispielsweise bei der Reform komplexer Institutionen (wie etwa des Sozialstaats), aber auch bei partiellen Privatisierungen im Bereich öffentlicher Aufgaben berücksichtigt werden sollte. Fazit: Märkte sind keine moralisch freie Zone, wie Daniel Hausmann (1989) zeigte. Eine angemessene sozialtheoretische Erklärung der Rolle von moralischen Normen im Gesamtgefüge moderner Koordinations- und Konfliktlösungsmechanismen vermag dreierlei: (1) Ein triftiger Kern der Sandel-Kritik, das sog. crowding-out von Moral und intrinsischer Motivation, wird als Spezialfall der Endogenität von Verhalten erklärt und im Hinblick auf seine Entstehungsbedingungen differenziert. (2) Es wird die Frage beantwortet: In welcher Weise und unter welchen Bedingungen wirken institutionalisierte Anreizmechanismen und Motivations-Settings (im Kontext von Märkten und Organisationen) so zusammen, dass sie sich wechselseitig unterstützen (crowding-in)? (3) Die von Denkern wie David Hume (1739/40) und Adam Smith (1759, 2000) sowie (1776, 1981) thematisierte Unterscheidung von sozialem Nah- und Fernbereich (vgl. auch Becker 1981) wird in weitergehenden Zusammenhängen fruchtbar gemacht, um Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage zu gewinnen: In welchen lebensweltlichen Zusammenhängen ist zu erwarten, 244 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Werte, Anreize und die Grenzen des Marktes
dass intrinsische Motivation, Tugenden und Moral eine dominierende Rolle spielen – und in welchen kommt man nicht ohne anonyme Anreizmechanismen aus?
Literatur Becker, Gary S. (1981): Altruism in the Family and Selfishness in the Market Place, in: Economica, New Series, Vol. 48, Nr. 189, S. 1–15. Bowles, Samuel (1998): Endogenous Preferences: The Cultural Consequences of Markets and other Economic Institutions, in: Journal of Economic Literature 36(1), S. 75–111. Hausman, Daniel (1989): Are Markets Morally Free Zones?, in: Philosophy & Public Affairs 18(4), S. 317–333. Hirschman, Albert O. (1982): Rival Interpretations of Market Society: Civilizing, Destructive, or Feeble?, in: Journal of Economic Literature 20(4), S. 1463–1484. Hume, David (1739/40): Treatise of Human Nature. London. Lerner, Abba (1972): The Economics and Politics of Consumer Sovereignty, in: American Economic Review 62(2), S. 258–266. Schumpeter, Joseph A. (1942, 2008): Capitalism, Socialism and Democracy, with a New Introduction by Thomas K. McCraw, Nachdruck der dritten Auflage von 1950, New York u. a. O. Smith, Adam (1759, 2000): The Theory of Moral Sentiments. New York. Smith, Adam (1776, 1981): An Inquiry Into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Vol. I, hrsg. von R. H. Campbell und A. S. Skinner. Indianapolis.
245 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Markus Beckmann
Bauch versus Kopf? Michael Sandels Ökonomik-Kritik und die Perspektive der empirischen Moralforschung Michael Sandel (2012) ist mit seinem Buch »What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets« ein ausgesprochener Publikumserfolg gelungen. Auch wenn sein Buch innerhalb der Wissenschaft zum Teil herbe Kritik erfuhr (vgl. statt vieler McCloskey 2012), scheint Sandel einen allgemeinen Nerv zu treffen. Seine Worte sprechen an. Seine Vorträge füllen die Hallen. Worin liegt nun die Besonderheit von Sandels Argumentation(sstil)? Was Sandels Argumentation angeht, ist seine These klar. Sandel räumt zwar explizit ein, dass die Ausweitung von Marktprinzipien wirtschaftliche Effizienz erhöhen und damit Menschen in ihrer Wohlfahrt besser stellen kann. Sein Einwand aber lautet, dass neben Effizienz- und Nutzenerwägungen auch noch andere Aspekte wichtig sind, wie etwa Fairness oder die Frage, ob Dinge, Institutionen oder soziale Beziehungen ihrem Charakter nach durch Vermarktlichung ›korrumpiert‹ werden, sich also in einer moralisch unerwünschten Weise verändern. Was Sandels Argumentationsstil angeht, sticht ein Muster hervor. Sandel ist ein Meister der Beispiele. Mehr noch: Er vermag es, rhetorisch brillant das Moralempfinden seines Publikums durch diese Beispiele intuitiv anzusprechen. Es mag effizienz- und nutzensteigernd sein, wenn im China der Ein-Kind-Familie die Menschen ihr Recht, ein Kind zu bekommen, auf Märkten verkaufen dürfen. Aber zugleich fühlt sich für viele diese Vorstellung moralisch verwerflich an. Ein Markt für Sexarbeit mag effizienz- und nutzensteigernd sein. Gleichzeitig empfinden viele Menschen Prostitution als inhärent unmoralisch. Sandels Beispiele sind stets hervorragend geeignet, bei seinen Lesenden ein intuitives Störgefühl auszulösen, um damit seine zentrale These zu kommunizieren: Die Beurteilung, ob die Anwendung von Marktprinzipien in einem bestimmten Kontext moralisch wünschenswert ist, erfordere mehr als reine Effizienz- oder Nutzenüber246 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Bauch versus Kopf?
legungen. In seinem Aufsatz »Marktdenken als Moraldenken« entwickelt Sandel (2013, 2016) aus diesem Gedanken eine explizite Kritik an der Ökonomik. Das Argument lautet: Marktüberlegungen haben immer vielschichtige moralische Konsequenzen. Die Ökonomik aber verstehe sich entweder als wertfreie Disziplin, die gar keine moralischen Bewertungskriterien anwendet, oder fokussiere alleinig im Sinne des Utilitarismus auf die moralische Kategorie des Nutzens. Damit sei sie nicht (mehr) in der Lage, die vielschichtige Frage nach der moralischen Wünschbarkeit ihrer eigenen Marktvorschläge zu beantworten. Der vorliegende Beitrag nutzt die Perspektive der empirischen Moralforschung für eine Analyse dieser Frontstellung zwischen Sandel und der von ihm kritisierten Ökonomik. Ziel ist es, nicht nur die Sprachschwierigkeiten zwischen beiden Positionen zu erklären, sondern auch Ansatzpunkte für eine konstruktive Kritik der Ökonomik, aber insbesondere von Sandels Position zu identifizieren. Die Argumentation geht hierzu in vier Schritten vor. Der erste Schritt betrachtet mit Niklas Luhmann Moral zunächst als eine besondere Form der Kommunikation, die zwischen »gut« und »schlecht« unterscheidet. Der zweite Schritt führt Erkenntnisse der empirischen Moralforschung ein, die belegen, dass Menschen zur Operationalisierung dieser »Gut/Schlecht«-Unterscheidung auf eine ganze Fülle von zum Teil in sich widersprüchlichen Kriterien zurückgreifen. Der dritte Schritt ordnet die Ökonomik und die Position Sandels in dieses Moral-Spektrum ein und erklärt, warum zwischen beiden Seiten bei moralischen Beurteilungsfragen strukturelle Verständigungsschwierigkeiten drohen. Der vierte Schritt entwickelt die These, dass die Ökonomik zwar einem vermeintlich verengtem Moralverständnis folgt, gerade dadurch aber zwei Probleme überwinden kann, die sich der Position Sandels vorwerfen lassen, nämlich das Problem (a) des Ethnozentrismus und (b) des Strukturkonservatismus.
I.
Moral als Kommunikation: Die Unterscheidung zwischen Code und Programm
Sollen Marktprinzipien auf bestimmte gesellschaftliche Fragen Anwendung finden, so dass zum Beispiel menschliche Spenderorgane an die jeweils Höchstbietenden verkauft werden? Sandel weist in seinem 2013er Aufsatz auf die besondere Art dieser Fragestellung hin. 247 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Markus Beckmann
Ob wir etwas tun sollen, lässt sich nie durch eine rein positive, wertfreie Analyse – also allein durch die Fakten – beantworten, sondern bedarf immer auch normativer Kriterien – also Zielvorstellungen, mit denen wir bewerten, was wünschenswert oder nicht wünschenswert ist. 1 Welche Werte oder moralische Kriterien leiten uns bei einer Entscheidung? Nun wirft Sandel der Ökonomik vor, dass sie dieser Frage nach den moralischen Bewertungskriterien und ihren Implikationen aus dem Weg geht, indem sie einerseits von sich behaupte, eine wertfreie Wissenschaft zu sein, andererseits aber ihre Analyse de facto einzig und allein an dem utilitaristischen Kriterium der Nutzenmehrung orientiere – und damit Fragen der Fairness oder der Aufrechterhaltung von Werten verdränge. Sandel fordert die Ökonomik daher auf, sich wieder mit Philosophie und Ethik zu befassen, da diese Disziplinen im Kern darüber nachdenken, wie moralische Normen und normative Kriterien zu verstehen und begründen sind. Ganz anders gelagert als diese Frage der Ethik und Philosophie ist die Fragestellung der Soziologie und Sozialpsychologie. Soziologen hinterfragen Moral nicht auf ihre theoretische Begründbarkeit, sondern untersuchen und erklären sie als ein empirisch beobachtbares Phänomen. Für den Soziologen Niklas Luhmann ist Moral »eine besondere Art der Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder Missachtung mitführt« (Luhmann 1990, 2008, S. 256). Moral scannt gleichsam die Welt mit einer Brille, die alle Handlungen und Vorgänge darauf hin befragt, ob sie sozialen Erwartungen entsprechen (was Achtung verdient) oder gegen soziale Konventionen verstoßen (was zu Ächtung führt). Die Unterscheidung Achtung/Ächtung beruht damit auf einem binären Code – nämlich der zweiwertigen Leitunterscheidung »gut/schlecht«, mit der Moralkommunikation typischerweise operiert. 2 Eine für diesen Aufsatz hilfreiche Unterscheidung aus Luhmanns Theorieapparat ist nun die Differenzierung zwischen Code und Programm. 3 Folgt die Kommunikation einem bestimmten Code, Für eine ausführliche Rekonstruktion und weiterführende Diskussion dieser Position vgl. Beckmann (2016). 2 Je nach Gesellschaft gelten für die Zuerkennung von Achtung oder Missachtung unterschiedliche Bedingungen. Deshalb präzisiert Luhmann (1978, 2008; S. 107, H. i. O.): »Die Gesamtheit der faktisch praktizierten Bedingungen wechselseitiger Achtung oder Missachtung macht die Moral einer Gesellschaft aus.« 3 Vgl. hierzu Luhmann (1986, insb. Kapitel VIII und IX). 1
248 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
Bauch versus Kopf?
bedeutet dies, dass sie sich an einer bestimmten Leitunterscheidung orientiert – etwa dem Moralcode gut/schlecht. 4 Ein solcher Code kann über viele Kontexte und Zeiträume stabil ein. So findet sich die Unterscheidung gut/schlecht in der Moralkommunikation aller Kulturen und Epochen; auch Sandel und die Ökonomik bewerten die Frage, ob eine Ausweitung von Marktprinzipien wünschenswert sei, in genau diesem Schema gut/schlecht. Während der binäre Code »gut/schlecht« somit ein gleichsam universales Merkmal zur Definition des Moralbegriffs liefert, bleibt zugleich offen, wie diese Leitunterscheidung empirisch konkret operationalisiert wird. Für dieses Abarbeiten oder Mit-Leben-Füllen eines Codes verwendet Luhmann den Begriff des Programms. Ein Programm bestimmt, wie ein Code angewendet wird – also, zum Beispiel wann genau eine Handlung als »gut« oder »schlecht« angesehen wird. Hier kann der gleiche Moral-Code je nach Gesellschaft mit ganz unterschiedlichen Programmen operationalisiert werden. Was in einer Gesellschaft akzeptiert ist (z. B. dass Frauen ihr Haar offen zeigen), löst in einer anderen Gesellschaft moralische Ächtung aus.
II.
Haidts »moral foundations theory«: Moral als multidimensionales Konstrukt
Luhmanns Moral-Theorie lädt somit zu der Frage ein, mit welchen Programmen – also wann genau bzw. anhand welcher Kriterien – Menschen eine Handlung, einen Akteur, eine Situation als moralisch gut oder schlecht erachten. Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt (2012) hat bezüglich dieser Frage das dynamische Feld der empirischen Moralforschung systematisiert und weiterentwickelt. Ausgangspunkt seiner Forschung ist eine einfache Beobachtung: Egal ob man sich auf die heiligen Texte aus Judentum, Christentum und Islam, auf die Schriften östlicher und fernöstlicher Religionen oder auf die bis in die Antike zurückreichenden Texttraditionen von Philosophie und Ethik bezieht: Die empirisch beobachtbare Moralkommunikation scheint die Grenze zwischen gut und schlecht stets mit zwar
Andere Leitunterscheidungen und damit andere Codes umfassen zum Beispiel den Code Recht/Unrecht im Rechtssystem, Zahlen/Nicht-Zahlen im Wirtschaftssystem oder Wahr/Unwahr im Wissenschaftssystem.
4
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Markus Beckmann
mehrfachen, aber zugleich immer wiederkehrenden Leitunterscheidungen zu definieren. Haidts »moral foundations theory« greift diese Beobachtung auf und zeigt durch umfangreiche empirische Daten, dass Moral in der Tat kein eindimensionales Konstrukt ist, sondern auf vielen sogenannten »Fundamenten« aufbaut. Eine Analogie hierzu bietet der Geschmackssinn. So wie uns unterschiedliche Geschmackssensoren (süß, salzig, bitter, sauer) das geschmackliche Urteil erlauben, ob eine Speise schmackhaft ist, so erlauben uns unterschiedliche moralische Bewertungssensoren das moralische Urteil, ob eine Handlung »gut« oder »schlecht« ist. 5 Im Sinne dieser »moral foundations theory« unterscheiden Haidt und seine Ko-Autoren folgende sechs Leitunterscheidungen, die allesamt dem Moralcode gut/böse zuarbeiten (können). 6 1. Care / Harm (Fürsorge (Nutzen) / Schaden): Hier geht es um die Frage, ob eine Handlung für eine (andere) Person gut ist – oder ob sie ihr Schaden zufügt. Stellt eine Handlung eine andere Person besser oder schlechter? 2. Fairness (Equality) / Cheating (Fairness (Gleichheit) / Betrug): Entspricht eine Handlung allgemein geteilten Regeln und Rechten, etwa dem Prinzip der Gleichheit? 3. Liberty / Oppression (Freiheit / Unterdrückung): Wird das Individuum vor Tyrannei geschützt? 4. Loyalty / Betrayal (Loyalität / Verrat): Bringt eine Handlung die Loyalität zur eigenen Gruppe (Familie, Stamm, Nation) zum Ausdruck? 5. Authority / Subversion (Autorität / Aufbegehren): Respektiert eine Handlung die geltenden Traditionen und Autoritäten? 6. Sanctity (Purity) / Degradation (Heiligkeit (Reinheit) / Entehrung): Erhält eine Handlung Reinheit und Heiligkeit aufrecht oder entehrt oder beschmutzt eine Handlung den Handelnden, den Handlungsgegenstand oder sein Umfeld? Die »moral foundations theory« argumentiert folglich, dass der allgemeine binäre Moralcode »gut/schlecht« auf (hier: sechs) weiteren In dieser Analogie operiert Geschmackssinn somit mit dem binären Code »lecker (genießbar)/nicht lecker(ungenießbar)« – eine Leitunterscheidung, die für die Nahrungssuche der Menschen eine wichtige evolutionäre Errungenschaft darstellt. 6 Vgl. Haidt (2012; Kap. 6). Haidt und sein Kollege Craig Joseph betrachten diese Liste nicht als abschließend, sondern sehen die Möglichkeit vor, dass sich im Zuge weiterer Forschung noch weitere Moralfundamente identifizieren lassen. 5
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Leitunterscheidungen (quasi Sub-Codes) aufbaut. Jede dieser Leitunterscheidungen beruht wiederum zweiwertig auf einem anzustrebenden Wert (Fürsorge, Fairness, Freiheit, Loyalität, Autorität, Heiligkeit) und dessen Gegenbegriff. Diese sechs Werte stehen keinesfalls immer nur in einem harmonischen Verhältnis zueinander. So kann Fürsorge für einen Fremden in Konflikt mit Gruppenloyalität stehen; Freiheit in Spannung mit Autorität, usw. Das empirische Moralempfinden einer Person ergibt sich somit gleichsam als die Resultante verschiedener Bewertungsvektoren. Die »moral foundations theory« sieht diese moralischen Resonanzkörper als menschliche Vorprägung, und zwar als ein Erbe der menschlichen Evolutionsgeschichte. 7 Diese Sicht schließt jedoch durchaus mit ein, dass diese vorgeprägten Moralintuitionen überformt werden können; nämlich durch kulturelle Sozialisation und durch reflexive Lernprozesse. Hierbei ist von Bedeutung, dass unsere westliche Bildungsbürgersicht eine historische und geographische Ausnahme darstellt, die in der Literatur auch treffenderweise als WEIRD 8 bezeichnet wird. Empirische Forschungen zeigen, dass in der westlichen Bildungskultur vor allem die ersten drei Werte (Fürsorge, Fairness, Freiheit) von allgemeiner Bedeutung sind. In nichtwestlichen Kulturen und bei konservativen Menschen im Westen erzeugen hingegen alle sechs normativen Kriterien Resonanz. Damit zeigt sich, dass es auch innerhalb einer Kultur eine große Varianz bezüglich des individuellen, vermutlich vorgeprägten Moralempfindens gibt. Worin liegt nun die Relevanz dieser empirischen Moralforschung für die Debatte zwischen Michael Sandel und der Ökonomik? Haidts Theorie der »moral foundations« liefert zunächst eine Fundierung dafür, dass sich Moral empirisch offensichtlich nicht auf einen einzigen Code reduzieren lässt. Sandels Kritik, die Ökonomik verkürDie verschiedenen Moralfundamente etablierten sich als funktional, um das erfolgreiche Zusammenleben und die Kooperation in Gruppen zu sichern – und damit auch im Wettbewerb gegen andere Gruppen zu bestehen. 8 Dass die sozialpsychologischen Prägungen der westlichen Bildungsbürger die Ausnahme und nicht den Regelfall menschlicher Dispositionen darstellen, bringt das Akronym WEIRD (Western Educated Industrialized Rich Democratic) zum Ausdruck. Für eine Kritik an der Tendenz der verhaltenswissenschaftlichen Forschung, aus Studien mit überwiegend WEIRD-Teilnehmern vermeintlich universale Aussagen über das menschliche Verhalten abzuleiten, vgl. Henrich, Heine und Norenzayan (2010). 7
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ze die Moraldebatte mit ihrem Fokus allein auf Nutzen / Nicht-Nutzen, scheint daher eine empirische Entsprechung zu finden. Sandels Auseinandersetzung mit der Ökonomik lässt sich zudem in aufschlussreicher Weise in das Spektrum der von Haidt identifizierten Moralunterscheidungen einordnen: • Der von Sandel als einseitig kritisierte Utilitarismus der Ökonomik basiert seine moralische Bewertung praktisch ausschließlich auf dem Kriterium »care versus harm«, nämlich der Frage, ob durch eine Entscheidung Menschen besser gestellt werden (care), ohne dass andere schlechter gestellt werden (harm). 9 • Sandels meisterhafte Nutzung von Beispielen, die bei seinen Zuhörenden oder Lesenden zunächst intuitive Ablehnung hervorrufen, basieren darauf, dass sie sehr effektiv weitere – von der Ökonomik scheinbar ignorierte – Moral-Geschmacksrichtungen ansprechen, die bei vielen Menschen tief verankert sind. • Beispielsweise verweist die von Sandel mit aufgeführte Frage der Fairness direkt auf das zweite Kriterium »fairness versus cheating«. Ungleichheit wird als unmoralisch empfunden; oftmals sogar dann, wenn die Ungleichheit zur absoluten Besserstellung der Schwachen beiträgt. Interessant ist nun die Verortung von Sandels originärem Standpunkt, und zwar jenes »Korruptionsargument«, das Sandel über den Gedanken von Effizienz und Fairness hinaus stark macht. Wenn Sandel von dem korrumpierenden Effekten des Marktes spricht, redet er im englischen Originaltext vier Mal von den »corrosive effects«, er verwendet acht Mal die Worte »degradation«, »degrading« oder »degrades« und verweist auf den Gedanken, der Verkauf von Organen »violates the sanctity and integrity of the human body« (MS 17). Dieser Argumentationsstrang Sandels basiert somit fast buchstäblich auf der von Haidt insbesondere Nicht-Westlichen und Konservativen zugeschriebenen moralischen Leitunterscheidung »sanctity versus degradation«. Sandel kritisiert somit, dass der Markt das Heilige zu profanisieren drohe.
Man könnte argumentieren, dass durch das freiwillige Tauschprinzip auf Märkten in der Ökonomik auch der Wert »Freiheit« als eine Art Zweitwert mitläuft.
9
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III. Sozialer Intuitionismus: Selbstselektion und Verständnisbarrieren Um nun zu verstehen, wie sich mit Hilfe der »moral foundations« die Frontstellung zwischen Sandel und der Ökonomik besser verstehen lässt, bieten Haidts Beiträge zur Theorie des »sozialen Intuitionismus« eine wichtige Ergänzung. 10 Der soziale Intuitionismus macht geltend, dass Menschen in ihren moralischen Urteilen viel stärker von ihrer Intuition als von ihrer Vernunft geleitet werden. Stattdessen nutzen Menschen ihre Intelligenz, so Haidt, um ihre intuitiven moralischen Reaktionen post-hoc zu rationalisieren, also rückwirkend mit guten Gründen zu rechtfertigen. 11 Haidt stellt somit die rationalistische (und in der Ethik einflussreiche) Sicht auf den Kopf: Nicht die Vernunft ist Herrin der Gefühle, sondern die Gefühle haben Einfluss auf die Vernunft. 12 Für Haidt (2012) bieten diese Erkenntnisse aus der »moral foundations theory« und dem sozialen Intuitionismus eine Erklärung für die Verständigungsschwierigkeiten zwischen unterschiedlichen politischen und religiösen Fraktionen. 13 Ausgehend von unterschiedlichen Vorprägungen empfinden Menschen unterschiedliche moralische Intuitionen und wählen sich dann selektiv jene Theorien und Argumente, die ihre Gefühle rational bestätigen, während mögliche
Vgl. hierzu Haidt (2001) sowie Haidt (2012). Die Bestrebungen in der akademischen Ethik, Moral universell aus einer normativen Leitunterscheidung heraus in einem konsistenten Theoriegebäude zu begründen, lassen sich im Sinne von Haidts sozialem Intuitionismus als besonders elaborierte Post-Hoc-Rationalisierungsversuche interpretieren. Jede dieser unterschiedlichen Ethiken nimmt jeweils eine (oder eine kleinere Auswahl) der sechs intuitiven Moralfundamente zum Ausgangspunkt, um diese moralische Intuition mit guten Argumenten zu rechtfertigen und von dort ein konsistentes Theoriegebäude aufzubauen, das dann den Anspruch der Allgemeingültigkeit erhebt. Während der Utilitarismus dann sein ganzes Theoriegebäude auf der Unterscheidung »Nutzen / Schaden« gründet, basieren die Ethiktheorien der Kantischen Pflichtenethik Haidt zufolge auf dem Ausgangsprinzip unabänderlicher Rechte und Pflichten, also der Unterscheidung von »Fairness« und »Betrug«. Vgl. Haidt (2012; S. 137 ff.) 12 Illustriert am Beispiel: Nicht weil der Konservative aufgrund seines konsistenten Weltbildes Homosexualität ablehnt, empfindet er das Küssen zweier Männer als eklig. Sondern: Weil ihn das Küssen zweier Männer intuitiv abstößt, überzeugt ihn eine konservative Theorie, die dieses Gefühl rational rechtfertigen kann. 13 So lautet der Untertitel von Haidts (2012) Buch »The Righteous Mind« bezeichnenderweise: »Why Good People are Divided By Politics and Religion«. 10 11
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Gegenpositionen tendenziell ausgeblendet werden. Gleichzeitig haben wir die Tendenz, uns mit Menschen zu umgeben, die unsere eigene Weltsicht und unsere Moralempfindungen bestätigen. Echtem Lernen gehen wir damit lieber aus dem Weg. Die Folge: Es entstehen Parallelgesellschaften und Milieus, die im Brustton der moralischen Überzeugung ohne Verständnis füreinander bestenfalls aneinander vorbeireden. Dieser eher pessimistischen Implikation des sozialen Intuitionismus stellt Haidt eine optimistische Perspektive gegenüber: Individuelle Rationalität ist für ihn aufgrund der Tendenz zur Post-HocRationalisierung intuitiver Urteile zwar beschränkt. Diese individuelle Irrationalität lässt sich jedoch auf der sozialen Ebene durch einen Prozess der wechselseitigen Kritik und Reflexion durchaus überwinden. Dies gilt insbesondere für die Wissenschaft. Als Prozess institutionalisierter Kritik und Reflexion kann die Wissenschaft eine höhere Rationalität erreichen, die über die individuelle Rationalität der einzelnen Wissenschaftler hinausreicht. Diese optimistische Perspektive wird indes dadurch wieder ein Stück weit getrübt, dass sich der Selbstselektions-Gedanke auch auf die Wissenschaften selbst übertragen lässt. Auch Theorien und Methoden bieten unterschiedliche Resonanzfähigkeit für die verschiedenen moralischen Sensoren. Ökonomen arbeiten mit Modellen, die den Faktor Nutzen gut modellieren können – und rekrutieren sich folglich überdurchschnittlich aus Menschen, die dieses moralische Gefühl als besonders wichtig erachten. Umgekehrt fühlen sich Leute mit anderen moralischen Dispositionen gar nicht erst zur Ökonomik hingezogen und wählen andere Disziplinen (wie z. B. die Philosophie). Durch diese Selbstselektion erhöhen die verschiedenen Wissenschaften oder Theorieströmungen innerhalb einer Wissenschaft zwar ihre innere Konsistenz, erschweren aber zugleich die Kommunikation über diese Grenzen hinweg. Die empirische Moralforschung liefert somit nicht nur eine Erklärung für mögliche Sprachschwierigkeiten zwischen Ökonomen, die primär der »Nutzen / Schaden«-Leitunterscheidung folgen, und Sandel, der mit dem Code »Heiligkeit / Entehrung« einer Kategorie folgt, die der Ökonomik eher fremd ist. Die empirische Moralforschung unterstreicht zudem die Notwendigkeit eines breiten interdisziplinären Diskurses zwischen den Wissenschaften. In diesem Sinne ist Sandels Plädoyer für einen stärkeren Dialog der Ökonomik mit der Ethik unbedingt zuzustimmen. Der nächste Abschnitt nutzt die 254 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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Perspektive der empirischen Moralforschung indes, um Sandels Position nun auch einer konstruktiven Kritik zu unterziehen.
IV. Wie lernoffen ist Sandels Position? Versuch einer Kritik Sandel wirft der Ökonomik vor, ihre moralischen Bewertungen alleinig auf die Kategorie »Nutzen / Schaden« zu verengen. Seine Position spricht hingegen auch gezielt die Intuitionen der Kategorien »Fairness«, »Heiligkeit« und bedingt auch »Gruppenloyalität« an. 14 Bisher betrachtete dieser Aufsatz die von Haidt identifizierten Moralfundamente als prinzipiell auf einer Ebene befindlich. Sie unterscheiden sich jedoch, so die abschließende These, fundamental in ihrer Fähigkeit, Lern- und Entwicklungsprozesse in der modernen (Welt-)Gesellschaft anzuleiten. (1) Ein charakteristisches Merkmal der Moderne ist die Ausweitung funktionaler Systemzusammenhänge, die nicht an räumliche oder kulturelle Gruppen gebunden sind. Die Stichworte heißen Globalisierung oder Weltgesellschaft. Die Frage lautet dann, inwieweit der Moralcode über verschiedenen Kulturen hinweg verständlich und kompatibel sein kann. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den von Haidt identifizierten sechs Moralfundamenten. Insbesondere die »utilitaristische« Unterscheidung »Nutzen / Schaden«, die prüft, ob eine Person besser gestellt wird, ist extrem kompatibel mit einer universalen Anwendung – und zwar deshalb, weil der Nutzenbegriff inhaltlich offen ist. In Märkten oder allgemein bei freiwilligen Tauschakten bestimmen die Beteiligten selbst, worin sie ihre individuelle Besserstellung sehen. Mit den Kategorien Luhmanns formuliert, hat das Programm zur Operationalisierung des »Nutzen / Schaden«-Subcodes insofern universalen Charakter, als das Kriterium »Besserstellung« auf der Ebene des Individuums dezentral abgearbeitet wird. Anders gelagert ist der Fall, wenn man Haidts Moralunterscheidungen »Loyalität / Verrat« (Kategorie 4), »Autorität / Aufbegehren« (Kategorie 5) und »Heiligkeit / Entehrung« (Kategorie 6) be-
In Sandels Argumentation spielt immer wieder die »community« eine große Rolle, also die Gemeinschaft, zu der die Einzelnen gehören und der gegenüber sie Verpflichtungen haben. Vgl. Fioole (2016) in diesem Band.
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trachtet. Auch wenn sich laut Haidt diese Moralunterscheidungen über verschiedene Kulturen und Epochen hinweg als in gewisser Weise universaler Code finden, ist ihr Programm zur Operationalisierung des Code stets kultur- und kontextbezogen. Welche Gruppen zur Loyalität verpflichten (Familie, Stamm, Religion oder Zunft) und was diese Loyalität beinhaltet, unterscheidet sich von Kultur zu Kultur. Gleiches gilt auch für die Frage, welche Autoritäten wie zu ehren sind. Besonders deutlich zeigt sich diese kulturelle Gebundenheit im Code »Heiligkeit (Reinheit) / Entehrung«. Die unterschiedlichen Essensvorschriften in verschiedenen Religionen illustrieren, dass sehr unterschiedlich definiert wird, was gesellschaftlich als rein oder heilig gilt. Die Folge: Konkurrierende Programme zur Operationalisierung dieser Codes machen eine universale Anwendung über verschiedene Gemeinschaften hinweg schwierig, wenn nicht sogar konfliktträchtig. (2) Ein zweites Merkmal der Moderne ist ihre besondere Fähigkeit zur Innovation. Rückblickend verdanken wir gerade dieser Innovationsfähigkeit unser historisch einmaliges Niveau von Freiheit, Bildung, Lebenserwartung, Gesundheit, Sicherheit und Wohlstand. Im Sinne einer »schöpferischen Zerstörung« beinhaltet Innovation jedoch stets die Veränderung des Status quo. Hier zeigen sich erneut große Unterschiede, inwiefern die verschiedenen Moralcodes mit dieser Innovationsdynamik umgehen können. Betrachtet man insbesondere Haidts Moralintuitionen »Nutzen / Schaden« und »Freiheit / Unterdrückung«, so wird deutlich, dass diese von ihrer Struktur her prinzipiell innovationsoffen sind, weil sie beide beim Individuum ansetzen und offen für eine dezentrale Interpretation sind. Innovationen – etwa neue technologische, organisatorische, kulturelle Möglichkeiten – erfordern keine Anpassungen im Verständnis eines Nutzen-orientierten Moralcodes, wenn sie eine subjektive Besserstellung ermöglichen. Ganz anders gelagert ist der Fall erneut bei den Moralunterscheidungen der Kategorien 4, 5 und 6, also »Loyalität / Verrat«, »Autorität / Aufbegehren« und insbesondere »Heiligkeit / Entehrung«. Wenn Innovation im Modus der schöpferischen Zerstörung erfolgt, droht dies immer den Status quo mit Blick auf die Bedeutung von Gruppen(zugehörigkeit), Autoritäten und Heiligkeit bestehender Dinge zu verändern. Damit drohen, mit Luhmann gesprochen, die jeweiligen Programme zur Operationalisierung dessen, was zum Beispiel »heilig« ist, mit gesellschaftlichem Fortschritt in Konflikt zu 256 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .
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geraten. Innovation und Moralintuitionen erfahren dann ein Reibungsverhältnis. 15 (3) Damit lässt sich nun abschließend eine doppelte Kritik an Sandels Korruptionsargument entwickeln: Sandels Fokussierung auf die Bewahrung gesellschaftlich »heiliger« Bestände ist (a) wenig universalisierungsfähig. Seine Position ist ethnozentrisch und auf die Werte und Heiligkeitsvorstellungen seiner (WEIRD) Community bezogen. Gleichzeitig ist Sandels Korruptionsargument (b) inhärent strukturkonservativ und nicht offen für Innovations- und Lernprozesse. Dies birgt insofern eine gewisse Ironie, da vieles, was uns heute als heilig und schützenswert erscheint, die Innovation von gestern ist. Illustriert an Sandels eigenem Beispiel: Die Erhabenheit des amerikanischen Kongresses, die Sandel durch das »Line Standing Business« bedroht sieht (MS 20 ff.), beruht ihrerseits auf den Innovationen der amerikanischen Verfassung von 1787, die auf der schöpferischen Zerstörung der »heiligen« königlichen Ordnung im Rahmen der amerikanischen Revolution basiert.
Fazit In gewisser Weise stellt die Debatte zwischen Sandel und der Ökonomik eine Variante der Auseinandersetzung zwischen Bauch und Kopf dar. Sandels intuitive Beispiele sprechen insbesondere den Bauch an, mit wichtigen Botschaften: Gesellschaftliche Entscheidungsfragen erfordern stets moralische Bewertungen. Dabei orientieren wir uns an Bauchgefühlen, die verschiedenen moralischen Kriterien wie Nutzenmehrung, Fairness und ›Heiligkeit‹ folgen. Wollen die Ökonomik und andere Sozialwissenschaften zur gesellschaftlichen Debatte anschlussfähig sein, sollten sie diese vielfältigen moralischen Intuitionen als Ausgangspunkt ernst nehmen – und ein Verständnis auch für jene Standpunkte suchen, deren IntuiDiese strukturkonservativen Leitunterscheidungen, die sehr stark auf den Status quo fixieren, müssen nicht ausschließlich negativ betrachtet werden. Sie lassen sich auch als eine Art Regressbremse verstehen, die wichtige funktionale Errungenschaften gegen vorschnelle Veränderungen absichert. Am Beispiel: Wenn die Würde des Menschen als unantastbar definiert wird, erhält sie einen besonderen Bestandsschutz. Problematisch wird eine solche Absicherung freilich, wenn sie Dinge bewahrt, die ihre Funktionalität verloren haben oder – Stichwort: Ehrenmord – sogar höchst dysfunktional geworden sind.
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tionen sie vielleicht gar nicht teilen. Zu empfehlen ist, ökonomische Problemlösungsvorschläge zurück in die Sprache der Moral – genauer: in die verschiedenen Sprachen der Moral – zu übersetzen, um so Verständigung zwischen unterschiedlichen Standpunkten zu fördern. Gleichzeitig zeigt die empirische Moralforschung, dass ein rein intuitiver Zugang zu moralischen Fragen sowohl das individuelle Lernen wie auch die gesellschaftliche Verständigung schwierig macht. Gerade zur Diskussion moralisch strittiger Fragen brauchen wir Formen der sozialen Interaktion, die Kritik und Dialog möglich machen. Die vermeintliche moralische Engführung der Ökonomik auf die »Nutzen / Schaden«-Kategorie könnte in dieser Situation kein Nachteil, sondern im Vergleich zur Position Sandels letztlich ein Vorteil sein. Sandel fokussiert maßgeblich auf Gruppenzugehörigkeit und die »Heiligkeit« bestimmter Dinge – und argumentiert damit tendenziell ethnozentrisch und strukturkonservativ. Die Verständigung in einer dynamischen, multi-kulturellen Weltgesellschaft kann eine solche Position nur bedingt anleiten. Der ökonomische Nutzenbegriff hingegen ist sowohl für vielfältige kulturelle Bedürfnisse als auch für Veränderungen offen. Mit Hilfe von Luhmanns Unterscheidung zwischen Code und Programm lässt sich dieser Vorteil eines nutzenbasierten MoralCodes auch wie folgt beschreiben: Da der Nutzenbegriff offen ist, können im Programm zur Bestimmung dessen, was als »Besserstellung / Schlechterstellung« bewertet wird, die anderen moralischen Leitunterscheidungen gegebenenfalls wieder aufgegriffen werden. Ist uns etwa der freie Sonntag gesellschaftlich heilig, können wir dem freien Sonntag einen Nutzen zuweisen. Wir können für alle moralischen Anliegen fragen, wie wichtig sie uns sind, und diese Werte dann als einen Faktor bei der Überlegung betrachten, welche Problemlösung wir als Besser- oder Schlechterstellung bewerten. Es bleibt zwar eine offene Frage, ob es tatsächlich theoretisch und praktisch möglich ist, sämtliche Moralfragen in ein einheitliches Nutzenschema zu übersetzen. Dennoch eröffnet gerade diese vermeintliche Engführung der Ökonomik auf die Leitunterscheidung einer Besseroder Schlechterstellung zumindest die Möglichkeit, die Vielfalt gesellschaftlicher Anliegen und moralischer Intuitionen für einen rationalen Diskurs zu öffnen. 16 Entscheidend hierfür ist die Offenheit des Nutzenbegriffs. Nur deswegen lassen sich beispielsweise Argumente des Codes »Heiligkeit / Entehrung« in das Programm
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Bauch oder Kopf? Dieser Beitrag wollte zeigen: Beides ist wichtig. Ökonomen müssen erkennen, dass Intuitionen empirisch wichtig sind, und lernen, in ihrer Argumentation auf diese verschiedenen Kriterien konstruktiv einzugehen. Gleichzeitig müssen moralische Intuitionen immer auch einer rationalen Kritik zugänglich sein. Das setzt voraus, moralische Störgefühle nicht zum Nennwert zu nehmen, sondern durch Diskurs und Reflexion gegebenenfalls auch aufzulösen und unser moralisches Urteil weiterzuentwickeln. Insofern lädt Michael Sandel dazu ein, bei der Reflexion moralisch strittiger Fragen deutlich weiter zu gehen, als er es in seinen Beispielen häufig selbst tut.
Literatur Beckmann, Markus (2016): Wollen – Können – Sollen, in diesem Band. Fioole, Johannes (2016): Sandels republikanische Kritik der Marktmoral, in diesem Band. Haidt, Jonathan (2001): The Emotional Dog and its Rational Tail: A Social Intuitionist Approach to Moral Judgment, in: Psychological Review, Vol. 108(4), Oct 2001, S. 814–834. Haidt, Jonathan (2012): The Righteous Mind: Why Good People are Divided By Politics and Religion. New York: Pantheon Books. Haidt, Jonathan und Russ Roberts (2014): Jonathan Haidt on the Righteous Mind, in: Econtalk, hosted by Russ Roberts, 20. Januar 2014, http://www. econtalk.org/archives/2014/01/jonathan_haidt.html. Henrich, Joseph, Steven J. Heine und Ara Norenzayan (2010): Most people are not WEIRD, in: Nature, Vol. 466, S. 29. Luhmann, Niklas (1978, 2008): Soziologie der Moral, in: ders.: Die Moral der Gesellschaft, herausgegeben von Detlef Horster, Frankfurt a. M., S. 56–162. Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen. Luhmann, Niklas (1990, 2008): Paradigm Lost: Über die ethische Reflexion der Moral, in: ders.: Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a. M., S. 253–269. McCloskey (2012): Review of Michael J. Sandel’s What Money Can’t Buy: The Moral Limit of Markets, in: Claremont Review of Books XII(4), Fall 2012. Sandel, Michael (2012): What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets, London u. a. O. zur Bestimmung einer Besser- oder Schlechterstellung integrieren. Umgekehrt ist dies jedoch nicht möglich. Der Code einer Besser- oder Schlechterstellung lässt sich nicht einfach in das Programm zur Bestimmung dessen integrieren, was als »heilig / entwertet« zählt, weil dieses Programm nicht inhaltsoffen, sondern bereits ganz stark kultur- und kontextabhängig fixiert ist.
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Markus Beckmann Sandel, Michael J. (2013, 2016): Marktdenken als Moraldenken. Warum Ökonomen sich wieder stärker auf Politische Philosophie einlassen sollten, in diesem Band.
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IV. Ausblick
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Weiterführende Hinweise
Wer sich mit der Argumentation, die Michael Sandel (2013, 2016) vorbringt, sowie mit der Gedankenwelt, der sie entstammt, näher vertraut machen will, wird vielleicht folgende Hinweise auf weiterführende Literatur als hilfreich empfinden.
I. Von Michael Sandel sind zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema verfügbar – in englischer wie auch in deutscher Sprache. (1) Interessanterweise hat Michael Sandel bereits in den Tanner Lectures, die er im Jahr 1998 an der Oxford University gehalten hat, unter dem Titel »What Money Can’t Buy. The Moral Limits of Markets« das hier interessierende Thema behandelt. 1 Längst bevor die Internationale Finanzkrise der Jahre 2007 ff. eine fundamentale Marktkritik (wieder) populär gemacht hat, vertrat Sandel dort jene Thesen, für die er heute berühmt ist. Schon damals lautete seine Zeitdiagnose: »[T]he extension of markets and of market-oriented thinking to spheres of life once thought to lie beyond their reach« [is] »one of the most powerful social and political tendencies of our time«. 2 Und schon damals verband er das mit einer normativ eindeutigen Bewertung: »Are there some things that money can’t buy? My answer: sadly, fewer and fewer. Today, markets and market-like practices are extending their reach in almost every sphere of life.« 3
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Vgl. Sandel (1998). Sandel (1998; S. 93). Sandel (1998; S. 90).
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Weiterführende Hinweise
(2) Auch die Tanner Lecture, die Michael Sandel im Jahr 2013 an der University of Utah gehalten hat, nimmt diesen Faden wieder auf. Unter dem Titel »The Moral Economy of Speculation: Gambling, Finance, and the Common Good« setzt sich Sandel kritisch mit dem Phänomen ökonomischer Spekulation und insbesondere mit dem Glücksspielcharakter moderner Finanzprodukte auseinander. 4 Hierzu liest man: »This lecture is an attempt to make sense of the concern, widespread but inchoate, that the nature of economic activity in the United States has shifted in recent years, in ways that bode ill for civic life. Increasingly, people make money, not by producing goods and providing services but by managing risk. You might say we have been moving from an economy of production to an economy of speculation. This is a troubling development that should prompt us to reconsider the way we organize our economic life. The reason it is troubling is not primarily an economic one. I do not claim that an economy of speculation necessarily makes for a less prosperous society. But it does make for a less just society. And it promotes an ethic of speculation corrosive of moral and civic norms worth caring about.« 5
In diesem Aufsatz vertritt Sandel mehrere Argumentationslinien, die eine Auseinandersetzung lohnen. Auf zwei von ihnen sei hier explizit hingewiesen. (a) Die erste Argumentationslinie lässt sich in fünf Aussagen zusammenfassen: • Sandel unterscheidet zwischen Investition und Glücksspiel – mit folgender Überlegung: Beide sind riskant. Aber nur bei der Investition werden gesellschaftlich nützliche Güter erzeugt. Beim Glücksspiel hingegen gibt es allenfalls den Nervenkitzel desjenigen, der eine Wette abschließt. Darüber hinaus fällt kein gesellschaftlicher Nutzen an. 6 • Diese Unterscheidung ist uns verloren gegangen. 7
Vgl. Sandel (2013). Eine deutsche Übersetzung ist abgedruckt bei Sandel (2015; S. 55–92). 5 Sandel (2013; S. 335). 6 Sandel (2013; S. 336): »[I]nvestment promotes the production of useful goods and services, whereas gambling is either a form of entertainment or a way of making money without producing anything useful.« 7 Sandel (2013; S. 336): »In recent decades, we … have lost hold of the distinction between investing and gambling.« 4
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Wir haben es zugelassen, dass die Finanzwirtschaft in den letzten Jahrzehnten immer spekulativer geworden ist. Hier liegt die Ursache für die Große Finanzkrise. 8 • Neben diesen wirtschaftlichen Kosten sind aber auch moralische Kosten zu bedenken. Sie bestehen darin, dass glücksspielartige Gewinne das Arbeitsethos ruinieren und sich ganz allgemein auf Tugend und Charakter negativ auswirken. 9 • Sandel geht davon aus – und hält es für besorgniserregend –, dass die für Marktgesellschaften ohnehin typische Kluft zwischen dem durch individuelle Arbeit geleisteten Beitrag zur gesellschaftlichen Wohlfahrt und der gesellschaftlichen Gratifikation dieser individuellen Arbeit systematisch zunimmt. Aus seiner Sicht ist es außerordentlich problematisch, wenn der Verdienst (= wirtschaftliche Dimension) und das Verdienst (= moralische Dimension) immer weiter auseinandertreten. 10 Im Hinblick auf diese erste Argumentationslinie ist als Lektüre sehr zu empfehlen, was Friedrich August von Hayek über den allgemeinen Glücksspielcharakter des Marktes geschrieben hat: 11 Für ihn ist der •
Sandel (2013; S. 336): »[A]s the financial crisis of 2008 showed, an economy in which some people make a lot of money managing (and manipulating) risk is actually very risky.« 9 Sandel (2013; S. 336): »But there is a further reason to worry. Beyond the systemic risk and economic damage that reckless, rampant speculation can bring, it also carries a moral cost: heaping rewards on speculative pursuits that are untethered from socially useful purposes is corrosive of character. It is corrosive not only of individual character but also of the virtues and attitudes that make for a just society. This is the element of truth in the traditional—some would say puritanical—hostility to gambling.« 10 Sandel (2013; S. 337): »Admittedly, even the most meritocratic societies fail to align virtue with success. We need only remind ourselves of the gaping pay differentials associated with different kinds of work. Few people believe that the social contribution of a lavishly paid NBA star is really a thousand times more valuable than that of a nurse or a kindergarten teacher. Since this feature of market societies is easy to forget, we need constantly to remind ourselves that what people earn does not necessarily reflect what they morally deserve. … [A]s the speculative aspect of economic life increases, the meritocratic way of thinking about success becomes less plausible.« Und gleich danach heißt es weiter (ebd.; S. 337 f.): »This tension, between the way we regard striving and success and the way the economy actually allocates rewards, is a growing source of dissonance and frustration. We sense that working hard and playing by the rules yields less and less, especially for those who do not inhabit the uppermost reaches of the income scale. Reflexive invocations of the work ethic by politicians and editorial writers ring increasingly hollow.« 11 Vgl. von Hayek (1976, insbes. Kapitel 10) oder alternativ (1976, 1981). Er kenn8
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Weiterführende Hinweise
Markt eine zukunftsorientierte Veranstaltung, in der Preisänderungen darüber informieren, wie man sein individuelles Verhalten ändern sollte, um zur gesellschaftlichen Knappheitsbewältigung beizutragen. Die Pointe: Wer sich diesen Preissignalen verweigern wolle, tue dies – buchstäblich – auf eigene Kosten. Da die Gratifikation des Marktes strikt zukunftsorientiert sei, ist es Hayek zufolge von vornherein unmöglich, dass der wirtschaftliche Verdienst das moralische Verdienst widerspiegelt. Und das sei auch gut so! Denn die Stärke des Marktes liegt Hayek zufolge gerade darin, dass er ohne einen Wertekonsens (über moralische Verdienste) funktioniert, weil er lediglich einen Regelkonsens (über allgemeine Gerechtigkeitsnormen) voraussetzt. Insofern würde Hayek Sandels Kritik an der Praxis des Marktes mit dem Argument zurückweisen, dass dessen Kritik auf einem Kriterium beruht, welches dieser Praxis gegenüber nicht als interner, sondern nur als externer (und im vorliegenden Fall sogar nur als utopischer) Maßstab auftreten kann. 12 Vielleicht ist in diesem Zusammenhang noch ein zweiter Hinweis von Interesse: Die moralphilosophische Tradition der Tugendethik, in die auch Michael Sandel einzuordnen ist, hatte von vornherein – schon bei den alten Griechen – große Schwierigkeiten, zwischen produktiven und unproduktiven Tätigkeiten zu unterscheiden. Zeitweilig galt beispielsweise die Tätigkeit des Kaufmanns als unproduktiv, weil er (dem bloßen Augenschein nach) die Qualität zeichnet den Markt als Tauschordnung (»Katallaxie«) und bezeichnet seine ökonomische Theorie des Marktes als »Katallaktik«. 12 Dies ist mehr als nur eine bloße Vermutung. Denn bei Hayek (1976; S. 110 f.) kann man Folgendes nachlesen: »Many people regard it as revolting that the Great Society has no common purposes or, as we may say, that it is merely means-connected and not ends connected. … The prevailing moral tradition, much of which still derives from the end-connected tribal society, makes people often regard this circumstance as a moral defect of the Great Society which ought to be remedied. Yet it was the very restriction of coercion to the observance of the negative rules of just conduct that made possible the integration into a peaceful order of individuals and groups which pursued different ends; and it is the absence of prescribed common ends which makes a society of free men all that it has come to mean to us.« Und in der Tat liest es sich wie eine direkte Entgegnung auf Sandel, wenn Hayek (1976; S. 113) darauf pocht, dass der Markt aufgrund seiner zivilisatorischen Leistung so wichtig (zu nehmen) ist, dass er es verdient, an den internen Maßstäben jener kosmopolitischen Ordnung gemessen zu werden, die nur der Markt herbeiführen kann: »The truth is that catallactics is the science which describes the only overall order that comprehends nearly all mankind, and that the economist is therefore entitled to insist that conduciveness to that order be accepted as a standard by which all particular institutions are judged.«
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der Waren nicht verändert, sondern »nur« davon lebt, sie im Raum von einem Ort zum anderen zu bewegen. Heute wissen wir: Diese Arbitrage im Raum ist durchaus produktiv, weil sie aktiv zur Bedürfnisbefriedigung beiträgt. Nur deshalb ist es überhaupt möglich – und dann auch moralisch in Ordnung –, dass der Kaufmann für seine spezifische (Dienst-)Leistung bezahlt wird. Analoge Schwierigkeiten gibt es bis heute, vor allem im Hinblick auf Arbitrage in der Zeit. Ähnlich wie Kaufleute die Knappheitsverhältnisse im Raum verändern, verändern »Spekulanten« die Knappheitsverhältnisse in der Zeit. Sie übernehmen ein Risiko, das sich für sie nur dann auszahlt, wenn sie die Zukunft besser vorausgesehen haben als ihre übrigen Zeitgenossen. Aber genau hierin besteht eine wertvolle – im doppelten Sinne des Wortes: verdienstvolle – Leistung, weil sich die spekulative Tätigkeit in Preissignalen niederschlägt, von denen ein Anreiz ausgeht, Knappheit gesellschaftlich besser zu bewältigen. Wird ein Brot gebacken oder ein Haus gebaut, dann sieht man die produktive Tätigkeit mit bloßem Auge. Wird hingegen »nur« eine Transportleistung erbracht oder wird »nur« ein Risiko übernommen, dann lässt sich der damit verbundene Beitrag zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nur intellektuell erschließen. 13 Fazit: Das moralisch skandalisierte Phänomen »Einkommen ohne Leistung« ist kein Marktphänomen. Bei legalen Tauschhandlungen, die unter Wettbewerb stattfinden, tritt es typischerweise nicht auf. Insofern ist auch den Befürchtungen zur absehbaren Erosion des Arbeitsethos mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. (b) Die zweite Argumentationslinie betrifft Lebensversicherungen, Abtretungsverträge für Lebensversicherungen und andere Formen, auf den Todeszeitpunkt anderer Menschen zu wetten. Hier vertritt Sandel die These, solche Geschäfte seien per se geschmacklos und moralisch fragwürdig, weil sie Vertragspartner mit einem Interesse daran ausstatten, dass ihr Gegenüber nicht möglichst lange lebt, sondern möglichst bald stirbt. 14 Vgl. hierzu ausführlich und mit zahlreichen Belegen Pies et al. (2015). Sandel (2013; S. 341): »Rewarding speculators … with vast sums is corrosive of the work ethic because it mocks the belief that productive labor is the key to success. But it can also be corrosive in another way. Sometimes, gamblers find themselves with a rooting interest in the misfortune of others.« Ferner liest man (ebd.; S. 353): »Speculating on other peoples’ lives is morally questionable«. Und weiter heißt es (ebd.; S. 348): »The moral tawdriness of the game lies mainly, I think, in the attitude toward death it expresses and promotes.«
13 14
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Weiterführende Hinweise
Auch bei diesem Thema macht Sandel eine Grenzverletzung aus: »Life insurance has always been two things in one: a pooling of risk for mutual security and a grim wager, a hedge against death. These two aspects of life insurance coexist in uneasy combination. In the absence of moral norms and legal restraints, the wagering aspect threatens to swamp the social purpose that justifies life insurance in the first place.« 15
Die Stoßrichtung dieser Sandelschen Argumentationslinie zielt auf »attitudes and practices« 16 – also auf die Einstellung und Motivlage der wirtschaftlich tätigen Menschen einerseits sowie auf die gesellschaftliche Praxis der Wirtschaft andererseits. Beide sieht er durch Spekulation korrumpiert. Einerseits hält er es für menschenverachtend – wörtlich: »dehumanizing« 17, also sich selbst entmenschlichend –, wenn man eine Wette darauf abschließt, wann ein anderer Mensch sterben wird. Hier geht es ihm um Charakterdefizite der handelnden Akteure und darum, welche Folgen diese Defizite für sie selbst haben. Andererseits geht es ihm um die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Charakterdefizite. Hier macht er eine Erosion moralischer Werte aus. »For the gamblers themselves, a cavalier indifference to death and suffering is a mark of bad character. For society as whole, such attitudes, and the institutions that encourage them, are coarsening and corrupting.« 18 In der Tat zeichnet Sandel ein alarmistisches Bild, demzufolge wirtschaftliche Aktivitäten ihren gesellschaftlichen Nutzen deutlich – und zunehmend deutlich – verfehlen. 19 Im Hinblick auf Sandels zweite Argumentationslinie mag es hilfreich sein, die folgenden Fragen zu erörtern: Soll man Ärzte dafür loben, dass sie andere Menschen zu heilen versuchen? Oder soll man sie dafür tadeln, dass sie ihre wirtschaftliche Existenz – und damit gewissermaßen ihr Interesse – an das Vorhandensein von Krankheiten knüpfen? Soll man die Hersteller von Lebensmitteln dafür loben,
Sandel (2013; S. 348). Sandel (2013; S. 355). 17 Sandel (2013; S. 349). 18 Sandel (2013; S. 349 f.). 19 Sandel (2013; S. 355): »I’ve tried in this lecture to make sense of a growing unease with the kind of economic activity our society has come to honor and reward. Increasingly, people are rewarded less for making things than for managing and manipulating risk, less for producing useful goods and services than for speculating on future prices and events.« 15 16
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dass sie ihre Mitmenschen satt machen? Oder soll man sie dafür tadeln, dass sie ihre wirtschaftliche Existenz – und damit gewissermaßen ihr Interesse – an das Vorhandensein von Hunger knüpfen? Soll man Maurer dafür loben, dass sie ihren Mitmenschen Häuser bauen? Oder soll man sie dafür tadeln, dass sie ihre wirtschaftliche Existenz – und damit gewissermaßen ihr Interesse – daran knüpfen, dass es noch unbefriedigte Bedürfnisse nach Obdach gibt? Und analog: Soll man einen Anbieter von Lebensversicherungen (oder den Käufer von Abtretungsverträgen für Lebensversicherungen) dafür loben, dass er seinen Mitmenschen den Gefallen tut, ihre Risiken zu übernehmen? Oder soll man ihn dafür tadeln, dass er seine wirtschaftliche Existenz – und damit gewissermaßen sein Interesse – daran knüpft, dass Menschen ihren Tod als ein Risiko wahrnehmen, gegen das sie sich versichern wollen? Welchen moralischen Sinn macht es, Ärzten gegenüber den Vorwurf zu erheben, dass sie von der Krankheit ihrer Mitmenschen leben und insofern an dieser Krankheit »geschäftlich« interessiert sind? Oder gegenüber Bauern und Bäckern den Vorwurf zu erheben, dass sie vom Hunger ihrer Mitmenschen leben und insofern an diesem Hunger »geschäftlich« interessiert sind? Oder gegenüber Maurern den Vorwurf zu erheben, dass sie von der Wohnungslosigkeit ihrer Mitmenschen leben und insofern an dieser Wohnungslosigkeit »geschäftlich« interessiert sind? Und analog: Welchen moralischen Sinn macht es, den Anbietern von Lebensversicherungen (und den Käufern entsprechender Abtretungsverträge) gegenüber den Vorwurf zu erheben, dass sie vom Tod ihrer Mitmenschen leben und insofern an diesem Tod »geschäftlich« interessiert sind?
II. Sandels 2012 erschienenes Buch »What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets« wurde noch im selben Jahr in Deutsche übersetzt. International hat es viel Aufsehen erregt. Davon legen auch zahlreiche Rezensionen Zeugnis ab.20 Auf einige weitere Rezensionen sei hier ausführlicher hingewiesen. Sie sind vor allem deshalb inte-
Vgl. z. B. Ignatieff (2012) sowie Last (2012) oder Richter (2012) sowie Orzessek (2012).
20
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Weiterführende Hinweise
ressant, weil man an ihnen ablesen kann, wie ökonomisch versierte Autoren die Sandelsche Kritik aufgenommen haben. 21 (1) Die Rezension von Tom G. Palmer macht sich ein allgemein bewährtes Testverfahren zunutze, indem sie mittels Analogieschlüssen die Konsistenz und Überzeugungskraft der Sandelschen Argumente überprüft. Hier wird kritisch hinterfragt, ob es wirklich immer an Respekt mangelt, sobald Geld ins Spiel kommt, und ob monetäre Preise wirklich immer zur Erosion moralischer Normen führen. Den Sandelschen Beispielen werden einschlägige Gegenbeispiele zur Seite gestellt, so dass der gesamte Sachverhalt schließlich in einem deutlich anderen Licht erscheint: »What Sandel offers as a moral/philosophical analysis of this alleged problem amounts to little more than an exploration of his own moral intuitions, unencumbered by critical self-scrutiny. Thus, »Treating religious rituals, or natural wonders, as marketable commodities is a failure of respect. Turning sacred goods into instruments of profit values them in the wrong way.« This flat assertion may come as news to much of organized religion. Synagogues regularly sell seats for the Days of Awe, or High Holy Days, which helps finance religious activities. One of my great aunts, a conservative French Catholic, sent me cards when I was a boy that said she had given money to an order of nuns to pray for me. Sikhs pay for scholars to read from their holy book. The candles one lights in Catholic cathedrals when saying a prayer are priced (not given away free); guests at traditional Polish weddings pin paper money on the dress of the bride in exchange for a dance. Do these practices show a lack of respect for religion and the sacrament of marriage? Should the collective »we« (Sandel uses the term a great deal in all of his books) prohibit the use of money to allocate synagogue seats, prayers, holy readings, candles, and dances with the bride? Or should those decisions be made by members of the respective synagogues, churches, and temples?« 22
Zudem lässt sich Palmer nicht die Pointe entgehen, darauf hinzuweisen, dass Sandel vornehmlich »Geschmacks-Urteile« formuliert – in meiner Diktion: »Bekundungs-Argumente« –, die dann den Schluss nahelegen (sollen), es sei moralisch gerechtfertigt, bestimmte MarktTransaktionen politisch zu unterbinden. Hierzu liest man: »Among the many items Sandel believes are »degraded« when exchanged for money are human kidneys. Of course, allowing people to offer money for voluntarily donated kidneys may save lives (or »ease the gap between 21 22
Vgl. hierzu zusätzlich auch Besley (2013). Vgl. Palmer (2012).
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supply and demand« as Sandel delicately puts it), but it »taints« the goods exchanged. Making it illegal to exchange kidneys for money may be costing thousands of people their lives, but, hey, it satisfies our – which is to say, Professor Sandel’s – desire to avoid tackiness.« 23
Auch hinsichtlich der offenkundigen Asymmetrie – der extremen einseitigen Ausrichtung und argumentativen Schlagseite – der Sandelschen Überlegungen legt Palmer den Finger in die Wunde: »Sandel is surrounded by market exchanges that enhance his life, but all he can see is corruption, corrosion, and degradation. Never is the price system praised for displacing an inferior moral norm. It seems that whatever form of interaction is displaced by a price system must be better, higher, nobler. Au contraire! Markets punish and eventually push out tribalism, confessionalism, racism, cronyism, and many other traditions. And good riddance. … Prices, contra Sandel, »corrode« many nonmarket norms that we are better off without. Markets promote color blindness, punctuality, mutual respect, the »double thank you« of voluntary exchanges, and peace. Somehow those virtues don’t make it into Sandel’s musings on the moral limits of markets.« 24
(2) Diane Coyle lässt ihre Rezension wie folgt beginnen: »Michael Sandel, the superstar Harvard moral philosopher, wants people to spend more time queuing. Well, he wants people not to spend money to avoid queuing, which amounts to the same thing. Except sometimes the money option is ethical. When a bus arrives at the stop, it should be first come, first served; but he agrees I should not be under an obligation to sell my house to the first buyer who arrives at the doorstep.« 25
Sodann gibt sie wieder, dass es Sandel vor allem auf den Gesichtspunkt ankomme, dass Märkte – unabhängig von ihrer Effizienz – eine erodierende Wirkung auf Werte und Normen auslösen können. Sie beschreibt (und kommentiert) das anhand des von Sandel gewählten Beispiels, für Kohlendioxid-Emissionen zum Zwecke des Klimaschutzes Marktpreise einzuführen: »Sandel is particularly opposed to the idea, attributed to economics, that all human relations are market relations. His opposition to market relations stems not from an argument about fairness (that rich people can afford
23 24 25
Vgl. Palmer (2012). Vgl. Palmer (2012). Vgl. Coyle (2012).
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more), or about blackmail (poor people are effectively forced to make unpalatable choices because they need the money). Instead, his argument is that introducing market choices into domains where civic values ought to prevail has a degrading and corrosive effect. The fact that a market might lead to outcomes that improve welfare is irrelevant to the over-riding importance of civic virtue, he argues. Thus a global scheme for a market in carbon dioxide is morally unacceptable, even if it reduces the level of emissions, because it does damage »to two norms: it entrenches an instrumental attitude toward nature; and it undermines the spirit of shared sacrifice that may be necessary to create a global environmental ethic.« I would rather see an effective scheme to reduce greenhouse gas emissions, but then I’m an economist.« 26
Im Hinblick auf die Analyse des Marktes für Lebensversicherungen weist Coyle darauf hin, dass Sandel hier Positionen bezieht, die seit der Mitte des 19. Jahrhundert zunehmend an Boden (und Anhängerschaft) verloren haben: »[T]here are examples in this book of the expansion of markets in ways that many people, especially economists, would mostly regard as beneficial, but the author argues are degrading. Life insurance is one. Sandel describes it as a »wager on death«. He shares, it seems, the opposition of religious authorities to life insurance before it became increasingly widespread from the mid-19th century.« 27
Diane Coyle beendet ihre Rezension mit einem Hinweis auf die ehrwürdige Tradition der Harvard-Universität, die sie – anders als Sandel – keineswegs dadurch entehrt sieht, dass Gebäude nach Sponsoren benannt werden: »[I]s it really morally repugnant for educational buildings to be named after rich donors? Sandel objects to a school naming its donated gym after ShopRite. Yet he, the Anne T and Robert M Bass Professor of Government, researches in Harvard’s Harry Elkins Widener Memorial Library, named by a grieving but rich mother after a young Harvard student who died on the Titanic. Is the passage of time enough to disinfect the transaction?« 28
(3) Deirdre McCloskey spricht in ihrer Rezension nicht nur die ökonomischen, sondern vor allem auch die ethischen (= moraltheoreti-
26 27 28
Vgl. Coyle (2012). Vgl. Coyle (2012). Vgl. Coyle (2012).
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schen) Defizite an, unter denen Sandels Analyse ihrer Einschätzung nach leidet. Sie kritisiert insbesondere den mangelnden philosophischen Tiefgang seiner Argumentation: »His moral thoughts in fact are two only, and thin versions even of these: that equality is good; and that the sacred can be corrupted by the profane. »The fairness objection [to what money should buy] asks about the inequality that market choices may reflect; the corruption objection asks about the attitude and norms that market relations may damage« (p. 110). That, philosophically speaking, is it.« 29
Interessanterweise führt McCloskey ökonomische und philosophische Überlegungen zusammen, um ein Gegenargument zu formulieren, mit dem sie Sandels Ausführungen zur (angeblich) mangelnden Fairness von Märkten kritisch entgegentritt: »[T]urn to the most fundamental philosophical argument … for allowing the price system to get on with the job. It was articulated first in 1962 by James Buchanan and Gordon Tullock and popularized by Rawls in his book a decade later. Suppose that behind a veil of ignorance of where you or I would end up in some future system of markets and creative destruction, or their communitarian opposites, we are asked to decide what constitution we would agree to. Go ahead, choose: neo-liberal markets or communitarian interventions. Suppose, as in fact happened in Holland and then Britain in the seventeenth and eighteenth centuries, we pretty much agree to the Bourgeois Deal—you let me, a bourgeoise, make a fortune inventing the coffee trade or very cheap steel or a computer operating system, and in the third act of the economic drama I’ll make you (all) rich by historical and international standards: $ 129 a day per person in the United States in 2010 as against $ 6 a day in the same prices in 1800 and $ 1.40 a day now in Zimbabwe and less in North Korea. The Deal is not in the first act egalitarian, which is as far as Sandel’s economic and philosophical analysis reaches. Yet by the third act it has been powerfully enriching for the poor, satisfying a Buchananite-Rawlsian standard of improving the lot of the worst off. The daily incomes per person in the average country that has agreed to the Bourgeois Deal has risen, in real, inflation-corrected terms, from an appalling $ 3 a day in 1800 (and likewise since the caves) to $ 100 a day now (thus the UK) – and much higher if one properly allows for the much higher quality since 1800 of travel and medicine and economic analysis. The poor have benefited the most from capitalism. The sheer, first-act, unanalyzed equality that Sandel advocates would have killed the modern
29
Vgl. McCloskey (2012).
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Weiterführende Hinweise
world and kept us in the appalling poverty of the human condition down to 1800.« 30
Nach dieser Entgegnung zum Sandelschen Fairness-Argument wendet sie sich seinem Korruptions-Argument zu, und zwar mit einer Kombination von philosophischer Kritik und wirtschaftshistorischer Argumentation. Sie wirft Sandel vor, dass seine Aneinanderreihung von Beispielen ohne theoretische Strukturierung bleibt und dass sein Buch daher – gerade auch aufgrund der asymmetrischen Einseitigkeit seiner Beispiele – einer fruchtbaren Diskussion nicht wirklich förderlich ist. »Sandel offers no philosophical standard … One can readily agree that buying grades in school or buying honorary degrees, or paying for a friend’s advice or a husband’s sexual services, are viewed nowadays by »some people« as immoral. But why exactly, professor? Once upon a time all such things were for sale. In the European Middle Ages one could buy almost anything – wheat and iron, yes, but also husbands, marketplaces, kingdoms, eternal salvation. Sandel claims repeatedly that »market triumphalism« is a novelty. But that’s bad history, albeit the sort that most people believe: that in olden days we were pure and fair, and now we are capitalist and corrupt. The golden age of allocation by fairness and disgust was not olden days but 1933–1968. Before 1933 markets ruled, in China and India as much as in England and Italy. Sandel worries properly that the market can crowd out the sacred. A corporate market in, say, instruction in elementary classrooms can crowd out unbiased teaching about capitalism. Yet Sandel does not tell his own classroom that state schools can crowd out unbiased teaching about, say, the environment. And what about crowding in? A society in which goods are allocated by race or gender or Party membership is not obviously superior in moral terms to one in which prices rule. Sandel declares that »we must also ask whether market norms will crowd out non-market norms« (p. 78). But he provides no philosophical analysis of how we would answer the opposite crowding, as when non-market norms of Jim Crow in the Sandelian golden age crowded out the market norm that a black person’s money is as good at a lunch counter as a white person’s. A market society is by no means contemptible ethically, if one actually looks into the ethical effects and thinks about them. The French spoke in the eighteenth century of doux commerce, the civilizing effect of markets introduced into societies of status or isolation. What then? This: Sandel has not treated his students and his readers 30
Vgl. McCloskey (2012; H. i. O.).
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morally. He has given them many, many examples tending, he thinks, to confirm their uncritically Progressive biases. But he has withheld from the students the moral philosophy that would allow them the dignity of an intellectual choice. Over the front door of the late-medieval city hall in the Dutch city of Gouda is the motto of the first modern economy, the first large society in which commerce and innovation instead of state regulation and social status were honored. It says, Audite et alteram partem – Listen even to the other side. It’s good advice for a society of the bourgeoisie, and for a classroom for students of philosophy.« 31
III. Diese abschließenden Hinweise gelten weiteren Veröffentlichungen anderer Autoren, die sich ebenfalls mit den moralischen Grenzen des Marktes beschäftigen. Sie alle sind sehr gut geeignet, die Diskussion dieses Themas von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten und zu vertiefen. • Elizabeth Anderson hat sich in mehreren Publikationen mit dem Thema auseinandergesetzt. Bereits 1990 analysiert sie, dass der Wert von Geschenken und von Gemeinschaftsgütern unterminiert wird, wenn sie der Marktsphäre zugeordnet werden. 32 Ebenfalls 1990 spricht sie sich gegen Leihmutterschaft aus, also gegen das Vordringen von Marktmechanismen in die Sphäre familialer Reproduktion. 33 1993 legt sie ein Buch vor, das die späteren Arbeiten von Michael Sandel – auch nach dessen eigenem Bekunden (MS 26) – ganz offenkundig stark beeinflusst hat. Dort vertritt sie die These, dass unser Verhältnis zu Personen und Dingen unterschiedliche Formen annehmen kann, die sich moralisch bewerten lassen. Als niederwertig gilt ihr eine Gebrauchsorientierung, die für Märkte typisch ist, als höherwertig hingegen eine Respekthaltung, wie man sie etwa innerhalb von Familien antrifft. So weit zur Buch-These Sandels. Interessanterweise legt Anderson 2004 eine Untersuchung vor, in der sie sich explizit damit beschäftigt, was hier als Sandels Aufsatz-These bezeichnet wird. Dieser Aufsatz ist extrem lesenswert. Denn hier wird die 31 32 33
Vgl. McCloskey (2012; H. i. O.). Vgl. Anderson (1990a). Vgl. Anderson (1990b).
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übliche Sichtweise umgekehrt: Anderson kritisiert die Ökonomik nicht dafür, dass sie die moralischen Nachteile des Marktes verschweigt, sondern vielmehr dafür, dass sie über die moralischen Vorteile des Marktes nicht kompetent Auskunft zu geben vermag. Hierbei hat sie vor Augen, dass der Markt das traditionell überkommene Verhältnis zwischen Schuldner und Gläubiger radikal umgestaltet hat, mit der – moralisch begrüßenswerten – Folge, dass im Laufe der Zeit immer mehr Menschen in den Genuss einer unpersönlichen und zunehmend diskriminierungsfreien Markttransaktion gekommen sind. 34 Daniel K. Finn hat 2006 ein dem Umfang nach schmales Bändchen über das Verhältnis zwischen Markt und Gerechtigkeit veröffentlicht. Aber rein inhaltlich betrachtet ist es ein interessantes – und auch dort, wo man eher nicht zustimmen mag, durchgängig lesenswertes – Werk, das gewichtige Argumente auflistet und gegeneinander abwägt. Erwogen wird das aus moralischer Sicht artikulierte Für und Wider, welches die Literatur zum Eigeninteresse auf Märkten hervorgebracht hat. 35 Sodann werden vier Aufgaben spezifiziert, die ein Wirtschaftssystem zu bewältigen hat (Produktion, Verteilung, Nachhaltigkeit, hohe Qualität persönlicher Beziehungen). 36 Und dann wird im Hinblick auf diese Aufgaben untersucht, wo Märkte ihre Schwächen und ihre Stärken haben. 37 Debra Satz hat 2010 eine Monographie vorgelegt, in der sie die Faktoren zu identifizieren und zu klassifizieren sucht, die in der Bevölkerung zu Widerstand gegen »widerwärtige« Märkte (»noxious markets«) führen. 38 Sie sieht Grenzen des Marktes dort, wo (a) Menschen kaum in der Lage sind, für sich selbst zu handeln (»weak agency«), (b) Menschen aufgrund einer extremen Ab-
Anderson (2004; S. 347, H. i. O.): »Most critics of the normative framework of economic theory fault it for failing to recognize the vices of capitalism – for example, its inability to evaluate the inequality that capitalism generates. My thesis turns this critique on its head: the assumptions of economic theory fail to represent some of the virtues of capitalism. They fail to grasp some ways in which capitalism advanced freedom and equality. One way was by transforming the social relations of creditors to debtors. This enabled millions of people to obtain credit without having to give up their personal independence to or demean themselves before their creditors.« 35 Vgl. die tabellarischen Übersichten bei Finn (2006; S. 41 und S. 62). 36 Vgl. die tabellarische Übersicht bei Finn (2006; S. 80). 37 Vgl. die tabellarischen Übersichten bei Finn (2006; S. 92 und S. 95). 38 Vgl. Satz (2010). 34
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hängigkeit von Gütern besonders verletzlich sind (»vulnerability«), (c) Marktteilnehmer sich selbst schaden (»extreme harm for individual«) oder (d) Marktteilnehmer unbeteiligte Dritte schädigen und sogar die Gesellschaft unterminieren (»extreme harm for society«). 39 Viviana A. Zelizer hat 2011 einen Band veröffentlicht, der ihr wirtschaftssoziologisches Lebenswerk dokumentiert. 40 Besonders lesenswert sind ihre Ausführungen zur marktlichen Bewertung menschlichen Lebens (Part I), zur Ökonomie der Intimbeziehungen (Part III) 41, zur Ökonomie der Pflege (Part IV) sowie insbesondere auch die neueren Aufsätze »Beyond the Polemics on Markets: Establishing a Theoretical and Empirical Agenda« 42 und »Ethics in the Economy« 43. Im Jahr 2013 haben Luigino Bruni und Robert Sugden einen interessanten Aufsatz veröffentlicht. Einerseits kritisieren sie die auf Tugendethik basierenden marktkritischen Ansätze (von Anderson, Sandel u. a.) mit dem Argument, dass diese den Markt nicht als eigenständige Praxis ernst nehmen. Andererseits skizzieren sie eine tugendethische Rechtfertigung, die den Markt als moralische Praxis verteidigt. 44 Ein ebenfalls lesenswerter, gerade in Druck befindlicher Aufsatz stammt von Julio Jorge Elias. Er hat Überlegungen vorgelegt, die den moralischen Widerstand gegen Märkte nicht einer ihrerseits normativen, sondern stattdessen einer positiven Analyse unterziehen, welche darauf hinausläuft, moralischen Wertewandel ökonomisch erklären zu können. 45
Vgl. Satz (2010; Tabelle 1, S. 98 sowie den zugehörigen Text). Vgl. Zelizer (2011). 41 Zur Illustration: Ihren Aufsatz »Do Markets Poison Intimacy?« beginnt Zelizer (2011; S. 171, H. i. O:) mit folgendem Statement: »Myth: Economic activity corrupts intimate relations, and intimate relations make economic activity inefficient. Fact: People constantly mingle intimacy and economic activity without corruption.« 42 Vgl. Zelizer (2011; S. 363–382). 43 Vgl. Zelizer (2011; S. 440–457). 44 Vgl. Bruni und Sugden (2013). 45 Vgl. Elias (o. J.). In eine ähnliche Richtung weist auch der empirische Befund von Elias et al. (2015), dass Menschen ihren moralischen Widerstand gegen Marktarrangements tendenziell abschwächen oder gar aufgeben, sobald sie nähere Informationen über die spezifische Problemlösungsfähigkeit des Marktes erhalten. 39 40
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Weiterführende Hinweise
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Kurzangaben zu den Autoren
Prof. Dr. Klaus Beckmann ist Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Public Economics, an der HelmutSchmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg. Prof. Dr. Markus Beckmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Corporate Sustainability Management an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Dr. Gerhard Engel ist Präsident der Humanistischen Akademie Bayern in Nürnberg. Johannes Fioole ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität zu Göttingen. Prof. Dr. Andrea Maurer ist Professorin für Arbeits-, Organisationsund Unternehmenssoziologie an der Universität Trier. Prof. Dr. Ingo Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Prof. Dr. Birger P. Priddat ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaft und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Prof. Dr. Christian Rennert ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensführung am Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften der TH Köln. Michael J. Sandel ist »Anne T. and Robert M. Bass Professor of Government« an der Harvard University in den USA.
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Kurzangaben zu den Autoren
Prof. Dr. Michael Schramm ist Inhaber des Lehrstuhls für »Katholische Theologie und Wirtschaftsethik« an der Universität Hohenheim. Dipl.-Soz. Robert Skok ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Organisationssoziologie an der Universität der Bundeswehr München. Prof. Dr. Richard Sturn ist Joseph A. Schumpeter Professor für Innovation, Entwicklung und Wachstum an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie Leiter des Graz Schumpeter Centres. Prof. Dr. Reinhard Zintl ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Trimberg Research Academy der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
280 https://doi.org/10.5771/9783495818329 .