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German Pages 120 [128] Year 1963
RICHARD R. POKORNY DIE M O D E R N E H A N D S C H R I F T E N D E U T U N G
F ü r Bözsi!
DIE MODERNE HANDSCHRIFTENDEUTUNG VON
DR. R I C H A R D R. P O K O R N Y MIT 4 HANDSCHRIFTENPROBEN
W A L T E R DE G R U Y T E R & C O . V O R M A L S G. J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G · J . G U T T E N T A G V E R L A G S B U C H H A N D L U N G · GEORG R E I M E R · KARL J. T R Ü B N E R • V E I T & COMP.
BERLIN
1963
© Copyright 1963 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiaer Straße 13 · Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen und der Übersetzung, vorbehalten · Printed in Germany · Archiv-Nr. 5421631 · Satz und D r u c k : Franz Spiller, Berlin 36 · Einband : Ulrich Hanisch, Berlin 62
Vorwort Es muß im Jahre 1910 gewesen sein, als idi, nodi Gymnasiast, ein kleines Buch von H A N S BUSSE über „Handschriftendeutung" in die Hände bekam und damit zum ersten Male etwas von der Graphologie erfuhr. Seither habe ich einen weitgespannten Studienbereich und ein recht wechselvolles Leben durchschritten. Aber das starke Interesse an der Graphologie hat mich niemals mehr verlassen. Immer während all dieser langen Zeit habe ich midi mit ihr lesend, lernend, forschend, lehrend und praktisch beschäftigt. Als ich mit der hebräischen Handschrift zusammentraf, deren Probleme ich zunächst durch jahrelange Arbeit forschend zu klären midi bemühte, gab es für midi viele Schwierigkeiten, aber nach einigen Jahren stellte sich der Erfolg ein. Meine unablässigen Bemühungen um die Graphologie haben in zahlreichen Veröffentlichungen ihren Niederchlag und audi ihre Anerkennung gefunden. So ist dieses Buch nidit nur ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Graphologie. Es ist audi in einem gewissen Sinn ein Rückblick auf den Weg, den ich als tätiger Graphologe zurückgelegt habe. Idi möchte meiner Frau, die in schweren Zeiten treu neben und zu mir stand, danken und ihr audi dieses Budi widmen. Für die Mühe des Korrekturlesens danke idi auch meiner Schülerin, Frau K Ä T H E SAUER, deren Schriftanalysc von RAINER MARIA R I L K E hiermit veröffentlicht wird. Tel Aviv, Frühjahr 1963 D R . RICHARD R . POKORNY
Inhaltsübersicht Vorwort Einleitung I. Die Methoden der Graphologie
5 9 11
1. Zeichendeutung und Ausdrucksdeutung
11
2. Analyse
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3. Synthese
20
4. Graphologische Forschung
26
5. Zum Problem der wissenschaftlichen Exaktheit der Psychologie . .
31
II. Die Physiologie des Schreibens
38
1. Die Richtungen der Schreibbewegung
38
2. Die Arten der Bewegung
42
3. Der Schreibdruck
44
4. Die Schreibeile (Geschwindigkeit)
48
5. Die Hirnschrift
50
6. Die Vitalität
53
7. Die Graphotherapie
53
III. Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
56
1. Ausdrucks-Psychologie a) Der Ausdruck b) Das im Ausdruck erscheinende Seelische c) Leib-Seele d) Der Sinn des Ausdrucks e) Eindruck, Ausdrucksverständnis und Ausdrucksdeutung
56 56 57 59 63 66
2. Die Charakterkunde in der Graphologie a) Der Charakter b) Typen und Typensysteme c) „Humorale" Typen
67 67 71 74
d ) D i e KRETSCHMERschen T y p e n
e) Die analytischen Typen ( F R E U D , J U N G ) f) Die Lebensformen nach S P R A N G E R - P O P H A L 3. Schreibvorlage und „Schreibreife"
76 77 78
80
Inhaltsübersicht
8
IV. Die praktische Anwendung der Graphologie
83
1. Charakterologisch-psydiologische Graphologie
83
2. Forensische Graphologie
84
3. Medizinische Graphologie
85
4. Die Voraussetzungen graphologischer Berufsarbeit a) Ausbildung b) Verantwortlichkeit c) Diskretion d) Objektivität e) Wirklichkeitsnähe
88 88 89 90 91 92
V . Proben von Schriften und Schriftanalysen
94
1. Graphologischer Bericht über die einjährige Entwicklung einer Jugendlichen (hebräisch)
94
2. Graphologisches Charakterbild: LESSER URY 3. Graphologisches
Charakterbild:
RAINER MARIA RILKE
4 . Graphologisches C h a r a k t e r b i l d : THOMAS MANN
100 101
102
Literaturverzeichnis
104
Sachregister
114
Einleitung Seit BALDO ( 1 6 2 2 ) und seit LAVATER ( 1 7 7 2 ) die ersten Schritte machten, um Handschriften systematisch zu deuten, haben sich viele Köpfe fruchtbar mit dieser Aufgabe befaßt. Im Verlauf der rund 100 Jahre, seit denen man von einer wissenschaftlichen Graphologie sprechen darf und seit die Handschriftendeutung diesen Namen durch M I C H O N erhalten hat, hat sich die Graphologie stark sowohl in die Tiefe als auch in die Breite entwickelt. In die Tiefe, indem sie die theoretischen Grundlagen durch Forschung -und Erkenntnisintensivierung baute und die Fortschritte der Psychologie, der Psychoanalyse, der Physiologie für sich verarbeitete. In die Breite, indem ihre Anwendungsmöglichkeiten und ihre Bewährung sich vermehrt und gesichert haben. Die Geschichte der Graphologie findet sich in fast allen Hand- und Lehrbüchern. Sie wird daher nicht, als systematische Darstellung, Aufgabe dieses Buches sein. Auch ist es nicht unser Anliegen, ein neues Lehrbuch der praktischen Graphologie der Zahl der vorhandenen anzufügen. Hier soll unternommen werden, den heutigen Besitzstand der Graphologie an Wissen und Erkenntnissen, ihre vielfachen verschlungenen und gegenseitigen Beziehungen zu den Nachbarwissenschaften, ihre methodischen Möglichkeiten und ihre wissenschaftlichen Grundlagen und schließlich ihre praktischen Anwendungsmöglichkeiten übersichtlich darzustellen. Die Entwicklung der Graphologie verläuft im Ganzen durchaus parallel der ganzen europäischen Geistesgeschichte in der gleichen Zeit. Man kann in ihr ein Spiegelbild des weiträumigeren Geschehens sehen. Im ahnungsreichen, suchenden 18. Jahrhundert beginnt der „Seher" LAVATER, aufgeschlossen, gefühlsmäßig und einzig dem Eindruck folgend, die Handschrift so zu deuten, wie er die menschliche Physiognomie zu deuten bemüht ist. Pathos, Ethos, Thymos: Gefühl, Gewissen und Gemüt sind seine Ausgangs- und Endpunkte. Aus seinem Versuch entsteht, um die Jahrhundertwende, als das rationale Jahrhundert der Naturwissenschaft beginnt, durch die hingebungsvolle Arbeit der Franzosen (FLANDRIN, MICHON) ein empirisches Grundlagengebäu, die Feststellung, Prüfung und Sammlung der „signes fixes", noch ohne alle theoretische Fundierung und ohne daß — der Zeit entsprechend — eine Wissen-
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Einleitung
Schaft vom Charakter zur Verfügung stünde. Bald aber fordert das wissenschaftliche Gewissen der Zeit eingehende Forschung, die durch Hypnose, Schreibexperiment, physiologische Untersuchungen um echte Einsichten in das Wesen des Schriftausdrucks erfolgreich bemüht ist. Die Graphologie entsteht als Wissenschaft im engeren Sinn. Von da ab beginnt die immer mehr gesicherte Möglichkeit und Fähigkeit, die Schrift und ihre Erscheinungen aus ihrem (Ausdrucks-)Wesen zu verstehen, statt bloß äußerlich, summativ die einzelnen Zeichen zu deuten. In einer Gegenreaktion gegen die allzu rational-analytisch arbeitende Psychologie wird, durch KLAGES, dieses Schrift-Verständnis in das erlebensmäßige, intuitive, unmittelbare Verstehen verlegt. Damit folgt die neue Wissenschaft dem neuen Ganzheitsgedanken, der im 20. Jahrhundert in Europa allenthalben das rein analytische Denken abzulösen beginnt. Sie kommt aber zugleich in die Gefahr, die wissenschaftliche Exaktheit zugunsten der (an sich freilich unvermeidbaren und notwendigen) „Einfühlung" aufzugeben und aus einer Wissenschaft eine Kunst zu werden. In unserer Zeit wird die fruchtbare Vereinigung beider Erkenntnis-Prinzipien, der exakten Analyse und der einfühlenden Synthese begonnen, wenn auch noch nicht beendet. Die Graphologie gewinnt und baut aus den produktiven Anschluß an die Psychologie, Charakterologie und auf höherem Niveau als vorher an die Physiologie. Das ist der Punkt, an dem wir rückschauend und zusammenfassend einen Überblick und eine Rechenschaft geben wollen.
I.
Die Methoden der Graphologie 1. Zeichendeutung und Ausdrucksdeutung Am Anfang ihrer Entwicklung zur Wissenschaft, die mit dem Namen des Abbé JEAN-HIPPOLYTE MICHON ( 1 8 0 6 — 1 8 8 1 ) u n t r e n n b a r v e r k n ü p f t ist, b e s t a n d die
Arbeit der Graphologie fast nur in dem rein empirischen Feststellen und Sammeln von einzelnen Schriftmerkmalen, von „signes" = „Zeichen". Darin unterscheidet sie sich kaum von den Frühstufen anderer Wissenschaften. Die ungeheure Hingabe der ersten Graphologen an ihre selbstübernommene Aufgabe und ihre überraschend große Wirkung führte zu einer sehr bemerkenswerten Erscheinung. Nicht nur die Graphologen — die es damals freilich als Beruf kaum noch gab —, sondern sehr weite Kreise wurden in diesem „naturwissenschaftlichen" 19. Jahrhundert durch die Möglichkeit fasziniert, aus winzigen aber erkennbaren Eigentümlichkeiten von Schrifttbuchstaben die Eigenschaften, ja den Charakter des Schreibenden zu erkennen. Kurz vorher hatte Dr. GALL mit seiner Phrenologie ähnliche Einsichten durch die Untersuchung der Schädeloberfläche versprochen und ein ähnliches Aufsehen erregt. Das Streben, den menschlichen Charakter von außen her zu ergründen, ist ja uralt. Im Zeitalter der unaufhaltsam vorschreitenden rationalen Vernunft mußte das Versprechen, Menschenkenntnis durch die Unterscheidung einfach feststellbarer Äußerlichkeiten am Menschen zu erwerben, ein sehr starkes Interesse erwecken. Tatsächlich waren sehr viele Menschen mit Feuereifer daran, nicht nur die schon gefundenen und mitgeteilten „Zeichen" zu studieren und anzuwenden, um den eigenen Charakter oder den der Liebsten zu erkennen, sondern neue Merkmale hinzuzufinden. Das führte um die Jahrhundertwende zu geradezu grotesken Auswüchsen. Die „Graphologischen Monatshefte", das Organ der Deutschen Graphologischen Gesellschaft, schwoll um diese Zeit von Einsendungen, die die Zahl der „Zeichen" ins Absurde vermehrten. Solche Zeichen hatten einen festen Deutungssinn. Die graphologischen Bücher dieser Z e i t , besonders e t w a v o n MICHON, HANS BUSSE, CESARE LOMBROSO u n d
auch noch die frühen Auflagen der Werke von CRÉPIEUX-JAMIN waren geradezu Wörterbücher, Lexika, Code-Verzeichnisse der Handschrift-Merkmale. MICHON ging so weit, daß er lehrte, das Fehlen eines „Zeichens" zeige an, daß die
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D i e M e t h o d e n der G r a p h o l o g i e
betreffende Eigenschaft diesem Charakter abgehe. Beispiele aus MICHONS Willensschwäche:
„système de graphologie" mögen dies illustrieren:
„ D i e Schwachen lassen sich leicht b e h e r r s c h e n . "
Graphisches Zeichen: Fehlen des Zeichens der Kraft und Festigkeit, sehr bequeme Querstriche, manchmal t ohne Querstrich. Eigensinn: Die Eigensinnigen lassen nicht von ihren Ideen ab. Das graphische Zeichen besteht in zurückgeführten Querstrichen des f und des t. Geiz: „ E s ist k l a r , d a ß G e i z n u r d e r ins E x t r e m e g e s t e i g e r t e S i n n f ü r S p a r s a m k e i t ist." „ W i r h a b e n also n u r zu p r ü f e n , o b die S p a r s a m k e i t s - Z e i c h e n
mit Intensität,
mit
Übertreibung ausgeführt werden."
Zeichen der Sparsamkeit: „ p l ö t z l i c h e r A b s c h l u ß d e r E n d s t r i d i e ; m ö g l i c h s t viele W o r t e in eine Zeile, m ö g l i c h s t viele Z e i l e n auf eine Seite b r i n g e n ; R ä n d e r v e r m e i d e n ; A l i n e a s u n t e r l a s s e n ;
keine
B u c h s t a b e n m a c h e n , die viel T i n t e e r f o r d e r n . "
Eine Theorie der Zeichen kannte M I C H O N noch nicht. Erst C R É P I E U X - J A M I N begann sich erfolgreich mit der theoretischen Grundlegung zu beschäftigen. Damals begannen experimentelle Untersuchungen in Frankreich durch Hypnose, in Deutschland durch Produktion von Linkshand-, Fuß-, Mundschriften, die die zentrale Leitung des Schreibaktes erwiesen (SCHWIEDLAND, M E Y E R , P R E Y E R , vorher schon HENZE). Übrigens gab es ja damals noch so gut wie keine brauchbare Charakterkunde. Denn die psychologische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich fast ausschließlich mit sinnesphysiologischen Untersuchungen und mit der Aufstellung seelischer Kategorien, war aber von einer verstehenden Erfassung der Persönlichkeit sehr weit entfernt. Die Besinnung auf die theoretischen Grundlagen der Handschrift ebenso wie der Charakterdeutung brachte bald die entscheidenden Gedanken und führte zu der Zurückleitung der Handschriftmerkmale auf die allgemein-psychologische Erscheinung des „Ausdrucks". Schrift ist Bewegung und Bewegung zeigt Ausdruck. Das ist in wenigen Worten der Kern der allmählich wachsenden neuen Auffassung, die durch die schon erwähnten Forscher G E O R G M E Y E R , WILHELM PREYER, C R É P I E U X - J A M I N und dann vor allem und mit glänzender Formulierung durch LUDWIG K L A G E S gefunden und gelehrt wurde. K L A G E S zufolge liegt jeder Bewegung, also auch jeder Schrifterscheinung, ein seelisches „Antriebserlebnis" zugrunde, das mit dem Zweck der Bewegung nichts zu tun hat und das aus der Bewegung, also aus der Handschrift, erschlossen werden kann.
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Zeidiendeutung und Ausdrucksdeutung
Neben diesem Ausdrucksfaktum im engeren Sinn, in dem Seelisches eine sinnlich w a h r n e h m b a r e Erscheinungsform erhält, unterscheidet KLAGES noch das Darstellungs-Faktum. D e n n gewisse Leitvorstellungen, die v o n der Fertigschrift her entstehen und wirken, können ihrerseits das Schriftbild beeinflussen. KLAGES sagt ζ. B . „über den Sinn der Ausgiebigkeit" der Handschrift: „Weshalb wollen wir große Bewegungen machen? Offenbar, um ein räumlich entferntes Ziel zu erreichen. Wir neigen demnach zur Größe der Bewegung zunächst einmal um so mehr, je räumlich entfernter das innerlich erstrebte Ziel ist . . . Die Ausgiebigkeit unserer unwillkürlichen Bewegungen hängt daher vom Grade der Verwirklichungsnähe
unserer Ziele ab. . . .
In einer willensbetonten
Handschrift
rührt . . . die Größe der Federzüge positiv her von der Stärke des Tatendranges, negativ vom Mangel an Konzentrationsvermögen; die Kleinheit positiv vom Konzentrationsvermögen, negativ von der Engherzigkeit." (75 f.) O d e r über den „ S i n n des N a c h d r u c k s " : „Wir neigen zur Wucht des Ausdrucks, wenn die auf das Ziel gerichtete Tätigkeit Hemmungen erleidet. . . . In der Wucht der Bewegung bekundet sich die Energie der inneren Tätigkeit." (83 f.) U n d über den „Sinn der Linksläufigkeit und der Rechtsläufigkeit" : „Symbolisieren wir das Ich durch einen Punkt und die verschieden gearteten Strebungen durch richtungsverschiedene Linien, deren jede vom Ichpunkt ausgeht, so bedeutet der Drang nach rechts (wir sagen angesichts der Ergebnisse an der umgekehrt laufenden hebräisdien Handschrift besser: nach vorwärts) und die aus ihm unter anderem hervorgehende Behandlung der Endstriche offenbar den Zustand des Strebens schlechthin, der linksläufige (besser rückläufige) Zug aber den eines solchen Strebens, das auf das Ich zurückführt, oder kürzer gesagt, den Zustand des nehmenden Strebens. Das wäre die Herleitung aus dem persönlichen Leitbild." (147) U n d für die leitbildliche Gestaltungsweise sei als Beispiel wieder KLAGES zitiert, wenn er über die Teigigkeit (Pastosität) des Strichs, also die in der Strichbreite gleichbleibende, leicht zerfließende Strichart, sagt: „Die Teigigkeit ist entweder unmittelbarer Ausdruck oder Verwirklichung des seelischen Leitbildes. Leitbildlich entsteht sie aus der Wahlverwandtschaft des Schrifturhebers zu jener gleichsam farbigen Sattheit des Tones, die nur der teigigen Schrift eigentümlich ist. Diese wiederum beruht auf einem Anschauungsvermögen, das nach kräftigen Reizen verlangt, und zeigt daher sinnenfreudige Ursprünglichkeit (bisweilen insonderheit Farbensinn) an, welchem gemäß die zu ihr gegensätzliche Schärfe eine vergeistigte Reizsamkeit und Sensibilität bekundet. Die Kehrseite jener wäre Mangel an Geistigkeit, dieser gedankenblasse Begrifflichkeit aus Mangel an Anschauungskraft." (102) M a n lernt, wenn m a n sich an KLAGES' eigenwilligen Stil gewöhnt hat, daß ihm jede Schreibbewegung als unmittelbarer Ausdruck persönlicher Grundeinstellungen erscheint. D a m i t ist die R e l a t i o n v o n „Zeichen" und Sinn a u f höherer Stufe
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Die Methoden der Graphologie
verstehend erfaßt und zugleich über die bloß registrierende Empirie zur Wissenschaftlidikeit hinausgewachsen. Nicht in allen Fällen gelingt es aber, ausdrucksmäßig-verstehend an den Sinn eines Schriftmerkmales heranzukommen. Das blieb audi
KLAGES
selbst nicht
verborgen. So wird ζ. B. von ihm selbst der „Besitzpunkt", wie die alte Graphologie den mehr oder minder kräftigen Punkt nannte, mit dem manche Anfangszüge, besonders beim M
ausgestattet werden, angeführt. Dieser ist aus-
drucksmäßig nicht weiter reduzierbar. Findet er sich aber, dann ist er in der weitaus größten Zahl der Fälle ein sicheres Indiz für „Freude am materiellen Besitz" und wird denn auch fast immer durch gleichsinnige andere Merkmale (etwa Anzeichen von analem Charakter) unterstützt und bestätigt. Ein anderes Beispiel einer ausdrucksmäßig ungeklärten, aber doch erfahrensmäßig klar deutbaren Schriftform ist die sogenannte „Doppelkurve" (IVANOVIC), ein (meist als Bindungsform) erscheinendes, dem griechischen Zirkumflex ähnliches welliges Strichlein
S)·
Es verrät — was jedes Mal natür-
lich immer noch zu prüfen ist, aber meist an sich zutrifft — Neigung und Begabung in produktiver oder künstlerischer Hinsicht. Die Erkenntnis, daß die ausdrucksmäßige Deutung ihre Grenzen hat, hat dem sog. „Michonismus" (W. HEGAR) in unserer Zeit einen neuen Aufschwung gegeben. In Frankreich und in Amerika, soweit in diesem technisierten Lande nicht durch einige aus Europa stammende Graphologen wie K L A R A G. R O M A N , Dr. F R A N K V I C T O R , T H E A S T E I N L E W I N S O N U. a. die neuere Entwicklung „importiert" wurde, ist die Neigung, nach einzelnen Zeichen zu deuten, immer nodi im Vordergrund der Literatur und Praxis. In Frankreich ist dies durch die Tradition, namentlich der von M I C H O N noch gegründeten Société de graphologie, verständlich. Daneben ist übrigens eine fruchtbare Zuwendung zu moderneren Gesichtspunkten und besonders zu einer ernsthaften Heranziehung psychologischer und diarakterologischer Lehren aus Frankreich zu berichten. In Amerika hingegen muß man in der Bevorzugung einer manchmal geradezu primitiven Zeichendeuterei eine Wirkung und Folgeerscheinung der technisierten „Psychologie" sehen, die verstehendes Eindringen nicht kennt und nicht kennen will. Es ist kein Zufall, daß die Graphologie in den Vereinigten Staaten so wenig angesehen ist, und daß dort bedauerlicherweise die wenigen wirklich allseitig ausgebildeten und auf hoher Stufe arbeitenden europäischen Graphologen einen so schweren Stand haben. Immerhin ist der namentlich von W. H E G A R vorgeschlagene und selbst einführend beschriebene Weg der „Grundlagenforschung" auch von dem Gesichtspunkte zu begrüßen, daß empirische „Zeichen" in jedem Fall eine methodische, ja sogar eine grundsätzliche Bedeutung behalten können, ohne daß sie ausnahmslos ausdrucksmäßig, also theoretisch fundiert erscheinen. Diese Grund-
Zeichendeutung und Ausdrucksdeutung
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l a g e n f o r s d i u n g sucht, unter H e r a n z i e h u n g statistischer Methoden, die faktische Obereinstimmung v o n graphischen M e r k m a l e n m i t charaktermäßigen schaften (unter H e r a n z i e h u n g v o n Testergebnissen) festzustellen.
Eigen-
(Vorsichtig
arbeitet in dieser Richtung neuerdings TEUT WALLNER.) M a n d a r f nicht erwarten, d a ß hundertprozentige P a r a l l e l i t ä t zwischen „Zeichen" u n d Eigenschaft konstatiert werden würde. A b e r u n z w e i f e l h a f t k a n n die Sicherheit der g r a p h o logischen D i a g n o s e auf solche Weise v e r s t ä r k t u n d verbreitert werden. Freilich w i r d auch d a n n und insoweit, als die einzelnen M e r k m a l e der Schrift f ü r sich in ihrer D e u t u n g gesichert sind oder werden, immer nur in der Gesamtsicht, in der
„anthropologischen"
Erfassung
diese S o n d e r d e u t u n g
ihren
Ort
finden
können. Frühzeitig steht neben u n d v o r der ausdrucksmäßigen D e u t u n g v o n Schriftm e r k m a l e n die symbolische A u s d e u t u n g derselben. D i e G r e n z e zwischen S y m b o l und Ausdruck ist nicht immer k l a r z u ziehen. D a s ist verständlich, wenn m a n bedenkt, d a ß auf dem kleinen R a u m der Schreibfläche Einstellungen, Z u - und A b w e n d u n g e n , Beziehungen ausgedrückt werden, die sich auf den L e b e n s r a u m in seiner weitesten Möglichkeit beziehen: menschliche Beziehungen, religiöse, geistige, triebliche, g e m ü t h a f t e Z u w e n d u n g e n , Aggressionen u n d
dergleichen
mehr. D a m i t w ä r e ja eigentlich jeder Schriftausdruck ein S y m b o l jener lebens-, j a weltweiten Beziehungsweise. F a ß t m a n aber, was richtig ist, als S y m b o l eine Erscheinung a u f , die an Stelle einer andern a u f t r i t t , d a diese nicht selbst erkennb a r werden kann oder d a r f , d a n n muß m a n sich entschließen, den Schriftmerkmalen im allgemeinen den C h a r a k t e r v o n S y m b o l e n abzusprechen. D e n n sie symbolisieren nicht, weil sie nicht an Stelle, sondern als Erscheinungsform direkt auftreten jener seelischen G r u n d f o r m e n u n d H a l t u n g e n , die m a n eben deshalb erdeuten k a n n . Ein T r a u m - S y m b o l ist grundsätzlich etwas anderes w i e ein Schriftmerkmal (wobei nicht an echte S y m b o l e gedacht w i r d , die gelegentlich auch in der Schrift auftreten können, ζ. Β das v o n SCHERMANN gezeigte Schiff als S y m b o l der Reise usw.). Eine besondere u n d anerkennende
Erwähnung
aber verdient die von MAX PULVER gelehrte „ S y m b o l i k des Schriftfeldes". D a s Oben, Unten u n d die Mitte sowie die Richtungen V o r w ä r t s - R ü c k w ä r t s (RechtsL i n k s ) sind hier v o r allem gemeint. W i r k o m m e n d a r a u f in späterem Z u s a m menhange zurück. Allgemein jedoch ist der z u häufigen u n d zu weitbegrenzten A n w e n d u n g des Begriffes „ S y m b o l " auf die Schriftmerkmale entgegenzuhalten, d a ß es sich hier nicht u m „ V e r t r e t u n g " handelt. D i e „ A u s g i e b i g k e i t " e t w a der Schrift ist nicht ein S y m b o l des weitzielenden Strebens, sondern unmittelbar eine Erscheinungsform dieser rein seelischen u n d daher an sich nicht merkbaren Lebenseinstellung. Diese k a n n sich zugleich oder zu andern Zeiten u n d Gelegenheiten in H a n d l u n g , Benehmen, Planen u. dgl. äußern. D i e Schriftgröße also ist kein S y m b o l , sondern eine nicht z u r realen H a n d l u n g gewordene Ausdrucksf o r m , wie jede andere körperliche M o t o r i k auch.
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D i e M e t h o d e n der G r a p h o l o g i e
Dabei wirken vielerlei sehr tiefliegende, zum Teil unbewußte, wohl auch „kollektiv-unbewußte" Faktoren mit, so besonders in der durch P U L V E R erstmals (und dann durch A N J A M E N D E L S S O H N und ELISABETH F L A T O W ) gelehrten Gleichsetzung des Geistigen mit der „Oberzone", des Materiellen mit der „Unterzone" der Handschrift. Rein physiologische Gesichtspunkte zur Deutung von Schriftmerkmalen sind geradezu aufdringlich seit jeher vorhanden. Schon B A L D O ( 1 6 2 2 ) führt eine Handschrift, die langsam und durch einen starken Federdrude gebildet ist, „auf die schwerfällige plumpe und träge Hand" des Schreibers zurück und folgert dann allerdings (nicht ganz gerechtfertigt) daraus, daß dieser „ w e d e r sehr s c h a r f s i n n i g n o d i t r e f f e n d u n d rasch i m U r t e i l "
sei. Die Annahme, daß physiologische Einflüsse an der Gestaltung der Handschrift mitbeteiligt sind, führt seit jeher und immer wieder zu Versuchen, die Sdirift für die ärztliche Diagnose mit heranzuziehen — was, wie wir später zeigen werden, nur in begrenztem Maße möglich ist. Andererseits haben physiologische Umstände, wie Müdigkeit, Erschlaffung, körperlicher Verfall, Verstümmelung, Lähmung, ferner in subtilerer Weise vegetative und endokrine Zustände zweifellos großen Einfluß auf die Handschrift. Die Differenzierung von rein seelischen Faktoren ist nicht immer ohne weiteres möglich. Die physiologische Betrachtungsweise der Handschrift hat in der neuesten Zeit durch P O P H A L und in anderer Weise durch die große Bedeutung der leib-seelisdien Konstitutionstypen E R N S T KRETSCHMERS eine Entwicklung genommen, auf die später ausführlicher eingegangen wird. Ebenso ist das physiologische Moment der Schreibdruck- und der Griff-Druck-Gestaltung Gegenstand sehr fruchtbarer Untersuchungen geworden, die für die moderne Schriftdeutung von sehr großer Wichtigkeit sind ( R . P O P H A L , K. G. R O M A N , L U T H E , STEINWACHS usw.).
2. Analyse Aufgabe der systematischen Schriftuntersuchung ist es zunächst, die Handschrift nach ihren zahlreichen einzelnen Merkmalen auseinanderzulegen. Merkmale der Handschrift sind etwa: die Breite und die Gestaltung der Ränder am Anfang und am Ende der Schreibzeile; der Abstand zwischen den Zeilen (vertikale Gliederung) und zwischen den Worten (horizontale Gliederung); der Verlauf der Zeilen; die Form und der Grad der Verbindung zwischen den Buchstaben innerhalb des Wortes; die Stärke, Art und Richtung des Schreibdrucks; die Ausdehnung der Buchstaben nach Weite und Größe (Höhe); die Verhältnisse der oberen, der mittleren und der unteren „Zone"; die Schriftlage (rechtsschräg, steil, linksschräg); der sog. „Richtungscharakter", also die je vor-
Analyse
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herrschende Richtungstendenz der Schreibbewegung nach vorwärts oder nach rückwärts; Besonderheiten der Formbildungen, so der Schleifen und noch manches andere. Die Erfassung dieser morphologischen Einzelmerkmale der Handschrift ermöglicht deren Einteilung nach verschiedenen Form-Gesiditspunkten. Es gibt ζ. B. eine große, mittlere oder kleine, eine weite, mittelweite oder enge Schrift, eine mehr nach oben (Oberzone) oder nach unten (Unterzone) ausgedehnte Schrift; es gibt hohen, mittleren oder niedrigen Verbundenheitsgrad; es gibt bogige oder geradlinige Formen, Winkel, Girlanden, Arkaden, Faden- und andere Schriften; es gibt starken, mittleren und schwachen Schreibdruck und so fort. Dabei ist es üblich geworden, Wertskalen anzuwenden, die nach K L A G E S fünf, nach SAUDEK zehn, nach S T E I N - L E W I N sieben Abstufungsgrade umfassen. Solche Skalen haben den Vorteil, daß sie eine Differenzierung gestatten, aber audi den Nachteil, daß sie eine Exaktheit vortäuschen, die doch weit entfernt von der einer absoluten Messung ist. Denn, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die morphologischen Schriftmerkmale nicht in absoluten Maßen meßbar. Nur bei der Schriftgröße und bei der Sdiriftlage kann man mit Maßstab und Winkelmaß wirklich messen, allerdings bei der Variabilität der Merkmale innerhalb jeder individuellen Schrift nur nach Durchschnitt oder durch die Schwankungsbreite. Die Schriftweite ist ein Verhältniswert, der sich aus der Relation der Abstrichlänge und der Buchstabenbreite ergibt. Die Qualifizierung der einzelnen Merkmale bezieht sich bei den morphologischen Erscheinungen immer auf die Standardvorlage. So ist für die lateinische und beinahe ebenso für die moderne hebräische Handschrift eine „i-Höhe" (sog. Mittelband) von etwa 3 mm „normal", dagegen gilt über 4 mm als „groß" und unter 2 mm als „klein". Auch die „Längenunterschiedlichkeit", also das Verhältnis der Ober- und der Unterzone zu der Mittelzone wird nach der Standardvorlage beurteilt. Diese nimmt als „normal" die Relation der „1"-Länge und der „g"-Länge zur „i"-Länge ungefähr wie 2 : 1 an, und zwar für die lateinische Schreibschrift und auch für die hebräische Schrift, während dieses Verhältnis bei der „gotischen" Kurrentschrift ungefähr 4 :1 beträgt. Durch die Feststellung und, wo sie möglich ist, Messung werden Details der Handschrift erfaßt, die sehr vieles von der individuellen Struktur der Handschrift zeigen. Viele Graphologen sichern ihre Schriftanalyse durch die sehr empfehlenswerte Führung von „Merkmalsprotokollen", die manchmal in Form von Diagrammen hergestellt werden und dann richtige Kurven oder Profile aufweisen ( R O M A N , M Ü L L E R - E N S K A T ) . Mit den morphologischen Schriftmerkmalen und ihrer Erfassung aber ist erst ein Teil der Analysearbeit geleistet. Außer ihnen gibt es noch andere, komplexe 2 Pokoray, Handschriftendeutung
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Die Methoden der Graphologie
Merkmale der Handschrift, so das Regelmaß, das Ebenmaß, der „Rhythmus", die Schnelligkeit, die Bewegungs- oder Strichführung, die Spannungszeidien, das „Form-Niveau". Diese Merkmale sind nicht meßbar. Sie sind nur einer mehr oder weniger unmittelbaren „Einfühlung" vermittelst des Eindrucksvermögens, das durch große Erfahrung geschult und entwickelt werden kann, zugänglich. Gerade diese „Eindrucks-Merkmale" sind es, die die Strukturerkenntnis, die Synthese des Charakterbildes wesentlich und lebendig sichern. Sie sind mit dem Erlebnis der „Evidenz", also dem subjektiven Gefühl der Richtigkeit, verbunden, aber trotzdem nicht unbedingt objektiv-richtig, namentlich wenn sie vor der morphologischen Analyse, oder ohne diese zu berücksichtigen, gewertet werden. Auch diese Eindrucksmerkmale sind abstufbar und abgestuft. Der Bezugspunkt der sie betreffenden Wertskala ist nicht die Standard-Schriftvorlage, sondern eine angenommene Mittel- oder Normalgestalt. Hier können und sollen von Wichtigkeit sein für die praktische Graphologie die experimentellen Untersuchungen, die etwa prüfen, wie Druck, Schnelligkeit, Spannung die Handschrift beeinflussen. Manche dieser „Eindrucksmerkmale", so besonders der „Strich" (die Bewegungsführung), lassen keine Abstufung zu, sondern fordern sehr subtile beschreibende Unterscheidungen, so etwa „schlaff", „unsicher", „flott", „zügig", „weich", „federnd" usw. (Vgl. hierzu G. GRUNEWALD, Graphologische Studien, 1954, POPHAL, passim, MÜLLER-ENSKAT, Theorie und Praxis.) Eindruckscharaktere Die eindrucksmäßige Ermittlung der Sdiriftqualität, die seit KLAGES und durch ihn in den Mittelpunkt der graphologischen Arbeit gestellt wurde, und die sich gerade auf die wesentlich entscheidenden Ganzheits-Qualitäten der Handschrift beziehen, ist namentlich in den letzten Jahren in der Fachliteratur besonders gepflegt und betont, differenziert und vertieft worden (ROBERT HEISS, RODA W I E S E R , M Ü L L E R - E N S K A T , GRÜNEWALD, POPHAL u s w . ) .
Sie steht, da sie bildhaft auffassen muß und will, im engsten produktiven Zusammenhang mit der graphologischen Terminologie, mit den sie ausdrückenden Worten, mit der Verbalisierung. Diese ist durchweg nach materiell-körperlichen Modellen gebildet: „spröde", „flüssig", „elastisch" usw. Die nicht immer genug beachtete verführerische Macht des Wortes und der Analogie zwischen dem leiblich vorgestellten „Denk-Modell" und dem vorliegenden, an sich psychischen Tatbestand kann dabei recht gefährlich werden. Denn sie kann als objektive Realität annehmen, was doch nur subjektiver Eindruck ist. Und beides soll und kann zwar zusammentreffen, muß es aber nicht, namentlich dann
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nicht, wenn nicht Verantwortlichkeit und Erfahrung die an sich oft trügerische „innere Evidenz" des Eindrucks kontrolliert und sichert. An diesem Punkt setzt denn auch der entschlossene Verruf der psychologischen und besonders der graphologischen „Unexaktheit" ein, der hauptsächlich von der sich „exakt" dünkenden, experimentell und „psychotechnisch" arbeitenden „Psychologie" der anglo-amerikanischen und sowjetischen Wissenschaftsbereiche ausgeht. Doch teilt die Graphologie diese scheinbare Unexaktheit mit allen Wissenschaften, deren Gegenstand das lebendige Leben ist. Und dennodi hat noch niemand den Wissenschaftscharakter der Medizin bestritten, obgleich der Arzt seine Diagnose keineswegs nur auf exakt meßbare Symptome begründet, sondern eindrucksmäßige Erscheinungen, wie das Aussehen des Patienten, seine Erregung oder Schlaffheit, Rötungen und dergleichen mehr in entscheidender Weise diagnostisch verwendet. Sidier ist es, daß eine Graphologie (und eine Psychologie), die sich nur auf Eindrücke gründen wollte, nicht nur keine Wissenschaft wäre, sie wäre zudem verhängnisvollen und unübersehbaren Fehlerquellen ausgesetzt. Tritt aber die Eindrucksverwertung zu einer gewissenhaften Merkmalsanalyse hinzu und beruht sie auf sorgfältiger Ausbildung und verantwortungsbewußtem Einsatz des umfangreichen Fachwissens, dann ist weder praktisch noch wissenschaftsmethodisch gegen die „Eindruckscharaktere" ein Einwand zulässig. Die Gewöhnung des Graphologen an das „Merkmalsprotokoll", also an die systematische Konstatierung und Notierung der einzelnen Merkmale der Sdirift erweist sich als ein sehr wichtiges Korrektiv gegen unkontrollierte und unkontrollierbare reine Eindrucksbilder. Der wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungsgang der Graphologie geht von rein eindrucksmäßiger (LAVATER, HENZE) zu rein empirischer (MICHON) Arbeitsweise und von da zu theoretischer Unterbauung und Sicherung durch die Physiologie ( M E Y E R , P R E Y E R , C R É P I E U X - J A M I N ) und die je zur Verfügung stehende Psychologie und Charakterologie ( M E Y E R , P R E Y E R , C R É P I E U X - J A M I N , KLAGES). Auf dieser Stufe wandte sich die Schriftdeutung unter dem Einfluß KLAGES' zu der spekulativ-einfühlungsmäßigen Methode, gegen die in den letzten Jahrzehnten ein Wiederaufleben der physiologisch fundierten Betrachtungsweise in neuer Form und auf höherem Niveau (POPHAL) einsetzt. Nun machen manche unter dem starken Einfluß der herrschenden naturwissenschaftlich-technischen Orientierung aller, auch der biologischen und der psychologischen Wissenschaften den Versuch, auch in der Graphologie „exakte", sogar messende und rechnende Methoden einzuführen. Zu nennen ist da T H E A S T E I N L E W I N S O N in Amerika, J U L I U S H E I D E R , ein Schweizer Ingenieur, mit einem allerdings seiner eigenen Bezeichnung „Exakte Graphologie" kaum entsprechenden Ansatz und neuestens die „Graphometrie" (G. G R Ü N E W A L D , S. V. M A R G A 2*
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Alle Anstrengungen, die Graphologie und ihre Methoden einer nur eindrucksmäßigen, also unwissenschaftlichen Betätigung zu entreißen, sind zu begrüßen. Aber alle Versuche, die Psyche messend, wägend, rein zahlenmäßig zu erfassen, müssen daran scheitern, daß das lebende Leben, im besonderen das seelische Leben als Untersuchungsgegenstand in einem anderen Sinne „exaktheitsfähig" ist als die Objekte der Physik und der Chemie und daher deren Methoden am lebenden Objekt versagen müssen.
DANT, T . W A L L N E R ) .
3. S y n t h e s e Auf die schließliche Erfassung des einmaligen individuellen („unteilbaren") Ganzen des Schriftcharakters kommt es dabei an. Diese Gesamterfassung, das eigentliche „Verstehen" ist weit entfernt von der Deutung nur einzelner Merkmale, so verblüffend diese oft für den (ausübenden oder zuhörenden) Laien sein mag. Die Schrift wirklich zu „verstehen", erfordert eine sehr gründliche Ausbildung auf dem Gebiete der Schrift-Morphologie, der Schreibmaterialkunde, der Schriftkunde und Schriftgeschichte, darüber hinaus der Schreib-Physiologie, der Ausdrudtskunde, der Charakterkunde, der allgemeinen und der Tiefenpsychologie, der Psychiatrie, der Berufskunde. Zudem und vor allem bedarf es einer großen Genauigkeit der Erfassung, ausgedehnter Erfahrung und eines entwickelten Verantwortungsbewußtseins. Begabung ist Voraussetzung. Aber Begabung allein wäre nicht ausreichend. Hier muß, immer wieder, davor gewarnt werden, die sogenannte „Intuition" (die richtiger, aber anspruchsloser „Einfühlung" genannt werden sollte) für die graphologische Arbeit zu überschätzen. Gewiß, jeder geistig-wissenschaftliche Beruf, ob er nun Graphologie oder Psychologie oder Medizin oder Technik wäre, erfordert die Fähigkeit zu einer gut funktionierenden Synthese. Aber nur damit und ohne ausreichende Ausbildung, Erfahrung und Verantwortlichkeit wäre keine verläßliche Arbeit denkbar. Auch die oft angerufenen Leistungen etwa des Schriftdeuters R A F A E L S C H E R M A N N widerlegen das nicht. Sie seien an sich unbestritten, obgleich ihre genaue Prüfung immerhin nur in 71 °/o der Fälle wirklich zutreffende Deutungen erwies (Prof. O . FiscHER-Prag). Aber S C H E R M A N N funktionierte auch, wenn die Schriftprobe in einem verschlossenen Umschlag war, also oft ohne jede Besichtigung, geschweige denn Prüfung der Schrift. D a ß er über Zukunft, Vergangenheit, Schicksal Auskünfte gab, beweist, daß es sich bei ihm nicht um eine graphologische Erkenntnis handelt. Übrigens wußte er nichts von Graphologie als Wissenschaft und brauchte davon wohl auch nichts zu wissen. Denn seine Begabung war eine unzweifelhaft „mediale" („psychometrische" oder „parapsychologische"), also in einer besonderen Sensibilität begründet, die es ihm ermöglichte, in anderer Weise als mit den uns bekannten Sinnen wahrzu-
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nehmen (extrasensorial perception). Solche Begabungen finden sich manchmal und sind eine wunderbar scheinende Besonderheit, die an sich nidit angezweifelt werden darf, wenngleich nicht selten Schwindel dabei vorkommt. Mit Graphologie oder mit Wissenschaft aber hat dies so wenig zu tun wie die Naturdiagnosegabe etwa des H Ö L L E R - H A N S L mit Medizin. S C H E R M A N N konnte audi keine Schüler belehren und ausbilden. Es war seine höchstpersönliche Begabung, die kometenartig mit ihm auftrat und mit ihm unterging, die ihm übrigens nicht während seines ganzen Lebens zur Verfügung stand, sondern sich erst relativ spät bemerkbar machte und vor seinem Tode versagte. „Intuitive"
Graphologie
Die Graphologen als Menschen sind einander nicht ähnlicher als Menschen sonst. Es gibt extravertierte und introvertierte Graphologen; es gibt solche, die begrifflich-rational, und andere, die anschaulich-bildhaft funktionieren, es gibt „einfühlende" („intuitive") und systematisch-analytische Arbeiter unter ihnen, solche, die etwa mit einem genauen „Merkmals-Protokoll" arbeiten, und andere, die dazu einfach nicht imstande sind. Es gibt forschende Theoretiker und ausübende Praktiker. Es ist aber Menschenart, seine eigene persönliche Art für richtig oder wenigstens für richtiger als andere Arten anderer anzusehen. Damit hängt es wohl zusammen, daß der eine oder andere Graphologe, seiner persönlichen Eigenart und Arbeitsweise entsprechend, etwa die Graphologie zur „Kunst" erklärt und damit sagen will, daß sie nur von einem „Intuitiven" ebenso wie Kunst im engeren Sinn getrieben und ausgeübt werden dürfe. Es ist wahr, daß die Graphologie wie jede andere Wissenschaft, einschließlich der sogenannten „exakten" Wissenschaften, eine unfruchtbare Stümperei bleiben müßte, wenn sie sich bloß auf das Nebeneinanderreihen und das Sammeln und schematische Deuten von Einzelerkenntnissen und Einzelsymptomen beschränken würde. Jede Wissenschaft, mag sie nun theoretisch oder angewandt sein, muß die disjecta membra der Einzelheiten, die analytisch ausgesondert wurden, in einer Synthese vereinigen, wieder vereinigen. Dazu bedarf es einer Synthesearbeit und für diese einer Synthesebegabung, die auf niedrigeren Stufen als Assoziationsund Kombinationsfähigkeit, auf der höchsten aber als „Intuition" angesprochen wird. In irgendeinem sehr verschieden abgestuften Maße besitzen alle Menschen diese irrationale Begabung. Genauere Überlegung zeigt auch, daß schon die einfachste Wahrnehmung niemals eines irrationalen Faktors („Gestaltbildung") en tra ten kann; daß sogar der einfachste logische Syllogismus: „Aus A und Β folgt C " unter unbewußter Mitwirkung eines vorgefaßten Zielmodells, eines „Vor-Urteils", also irrational zustande kommt (vgl. hierzu: POKORNY, „Intuition" [Acta psychol. 1953] und: ders. „Einfühlung" [Schweiz. Ztschr. Psychol. 1959]).
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Daß „Intuition" — wenn man diesen so viel mißbrauchten und so vieldeutig gewordenen Ausdruck hier gebraudien soll — ausnahmslos in jedem Menschen und in jeder Geistestätigkeit mitenthalten ist, wenngleich sie für ihr alltägliches Erscheinen nicht mit dem Adelsprädikat „Intuition" genannt wird, würde ihr keineswegs das Privileg geben können, auch in der wissenschaftlichen Arbeit und Denkweise die Hegemonie, geschweige denn das Monopol innezuhaben. Es ist die Aufgabe der wirklich wissenschaftlichen Methodik, die unentbehrlichen irrationalen Faktoren des menschlichen Denkens, die auch in der wissenschaftlichen Arbeit nicht ausgeschaltet werden können noch sollen, sorgsam und systematisch in bezug auf ihre Objekttreue zu kontrollieren und zu sichern. Das ist der Sinn der unermüdlichen systematischen Arbeit des wissenschaftlichen Beobachtens, Experimentierens, Sichtens und Sammeins. Das ist die Grundlage der Theorien- und der Hypothesenbildung, die auf dem Wege jeder Synthese zwischen der Tatsadienkonstatierung und der endgültigen Erkenntnis liegt. Es erweist sich, daß der erfahrene, mit dem Kenntnis- und Wissensschatz seines Fachgebietes wirklich ausgestattete Fachmann, auch auf dem Gebiete der Graphologie, ohne dominierenden Einsatz der „Intuition" ebenso zu synthetischen Diagnosen kommt, meist sogar anscheinend blitzartig, wie der, der sich als „intuitiv" ansieht und bezeichnet. D a ß also die Wirkung des Wissens und der Übung eine Intensivierung und Beschleunigung, vielleicht auch Verkürzung des Synthesevorganges ist, die äußerlich dem „unmittelbaren Erfassen" gleich, im Wesen aber doch von ihm verschieden sein wird. Die von KRETSCHMER sogenannte „formelhafte Verkürzung" bezieht sich auf jedes Lernen und erscheint nicht nur im Tun, sondern auch im Wahrnehmen und im Denken, ohne daß man dabei an Intuition im engeren Sinn denken dürfte. Die Medizin wird sehr oft in bezug auf die praktische ärztliche Diagnose und Therapie als „Kunst" bezeichnet. Genau das trifft für die Graphologie auch zu. Aber so wenig der Arzt wirklich nur „künstlerisch" funktioniert, so wenig muß, ja soll das der Graphologe. Um bei dem Vergleichsbeispiel der Medizin zu bleiben, so steht der Arzt ebenso wie der Graphologe vor der immer wiederkehrenden Aufgabe, aus einzelnen Symptomen die Diagnose („Synthese") zu bilden. Jedes einzelne der Symptome aber kann, da wie dort, an sich recht Verschiedenes bedeuten, verschieden im Sinn und verschieden audi im Vorzeichen, im Wert. So etwa kann das Schriftmerkmal der „Winkelbildung" (also der Verbindung des Aufstriches mit dem Abstrich oder des Abstriches mit dem Aufstrich in scharf gebrochener, „winklig" gebildeter Form, deren Gegensatz bogig wäre) an sich bedeuten: Härte, Willenskraft, Kühle, Wachheit, aber auch Reizbarkeit, Zerrissenheit, Unspontaneität. Was es im besonderen Falle, als Strukturelement, aussagen kann, das richtig zu finden und aus der Zahl der gegebenen Deutungs-
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möglidikeiten zutreffend zu wählen, ist das alte Problem der Graphologie, sobald sie einmal aus dem rein empirischen Stadium hinausgediehen war. D a ß es dazu nötig ist, sich von den einzelnen Merkmalen zu der gesamten Sdirift urteilend zu erheben, war schon M E Y E R und C R É P I E U X - J A M I N klar und wurde von ihnen audi schon deutlich ausgesprochen. Sicherlich von diesen ausgehend, freilich ohne dies zuzugeben, hat dann L U D W I G K L A G E S das Prinzip des „FormN i v e a u s " aufgestellt und in die Graphologie eingeführt.
Das
„Form-Niveau"
unterschied je nach der Gesamthöhe der Formbildung und der Schriftgestaltung, die wieder die Gestaltungskraft des Schreibers zeigen, das positive oder negative Vorzeichen, das jeder Handschrift eigen ist. Dadurch klassifizierte er die Handschrift. Zugleich gab das „ F o r m - N i v e a u " , nach KLAGES' Lehre, die Möglichkeit, unter den vielen und vielfältigen Bedeutungen jedes Schriftmerkmales die dem Positivum oder dem Negativum des Schriftganzen zugehörigen Inhalte auszuwählen. Positives Formniveau gestattet die positiven Deutungen, negatives Formniveau läßt nur die negativen zu. D a s Formniveau wäre also die graphische Erscheinung des „Wesensgehaltes" der Schrift und des Schreibers. Es ist eine komplexe, weder meßbare noch eindeutig rational abgrenzbare Tatsache, die von K L A G E S aber aus technischen Gründen in fünf Skalengrade geteilt wurde. Es ist ein sehr allgemeiner „Eindruckscharakter" der Schrift, der allgemeinste und daher auch der bedeutsamste. Diese Eindrucksmäßigkeit und der Mangel an Determinierungs- und Einweisemöglichkeit, ebenso aber die entscheidende Rolle, die die richtige Erfassung des „Formniveaus" für die Schriftklassifizierung und Deutung, also für die Synthese, haben soll, sind Umstände, die hinsichtlich der praktischen Anwendung desselben bedenklich machen müssen, um so mehr als nach K L A G E S das Formniveau einer Schrift im vorhinein vor jeder analytischen Untersuchung schon erkannt sein soll. KLAGES
unterließ es, ja er weigerte sich, genauere diagnostische Anweisungen zu geben, wie das Formniveau erfaßt und klassifiziert werden könne. Er sagt vielmehr, es könne nur „erlebt", „erfühlt" werden, und wer das nicht vermöchte, der könne eben die Handschrift nicht verstehen. Die graphologische Deutungsarbeit wird damit grundsätzlich und a priori auf der „Intuition" aufgebaut. D a s entspricht der KLAGEs'schen Metaphysik, die das Leben, den Bios, als die wichtigste Tatsache der Natur, dem Geist, dem LOGOS, der ihm eine Entartungserscheinung ist, gegenüberstellt. KLAGES
Ebenso wie das Formniveau sind nach K L A G E S auch die anderen sehr komplexen Eindrucksmerkmale der Schrift, ihr „Rhythmus" und ihr „Ebenmaß" nur erlebbar oder erfühlbar und können nicht beschrieben werden.
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hat mehr die Formulierung als die Erstfindung dieser Erkenntnis geleistet. Aber seine Autorität und sein Einfluß haben, audi ohne daß er die Priorität hätte beanspruchen können — was er freilich dennoch tat! —, diesem Gedanken allgemeine Geltung gesichert. Es ist ja in der Geistesgeschichte öfter der Fall, daß Ideen oder Entdeckungen unter einem andern Namen Geltung erhalten als dem Namen dessen, der sie zuerst fand, ohne daß deshalb der heros eponymos Geringeres geleistet hätte, geschweige denn als Plagiator angesehen werden dürfte. Der irrationale Faktor ist weder in der graphologischen nodi in einer anderen wissenschaftlichen Arbeit ganz vermeidbar. Aber die Irrationalität in den Vordergrund zu stellen und ihr allein alle Leistung und Verantwortung aufzuladen, ist im höchsten Grade bedenklich. KLAGES
In dem „Erleben", das der einzige Zugang zur Erfassung des „Form-Niveaus" wäre, steckt unverhüllt, schrankenlos, ja sogar betont die Persönlichkeit des Erlebenden. Es ist sein Bild und nur das seine, das er so erhalten kann. Seine Erfahrungen (die objektiv sein können), seine Erinnerungen (die sehr subjektiv wirken können), seine unbewußten Regungen (die im äußersten Maße subjektiv und objektfremd sind) gestalten das Bild. Es ist sehr interessant und wichtig zu bemerken, daß der Graphologe Dr. MAX PULVER, der selbst ausgesprochen „intuitiv" funktionierte, im Gegensatz zu KLAGES, der das Formniveau ganz am Anfang feststellen läßt, die Erfassung des „Wesensgehaltes" — eines inhaltlich ähnlichen Begriffes — an den Schluß der Analyse stellen läßt. Bei einem im Jahre 1949 in Deutschland abgehaltenen Graphologen-Kongreß stand die Frage: „Pro oder contra Form-Niveau" im Mittelpunkte der Referate und der Diskussion. Im Zusammenhange damit wurden dem sachverständigen Auditorium in Lichtbildprojektion zwei nicht benannte Handschriften nacheinander gezeigt und die Frage nach dem Formniveau jeder der beiden Handschriften gestellt. Die Mehrzahl der Fachleute sprach der ersten Schrift ein niedriges, der zweiten ein hohes Formniveau zu. Als dann die Anonymität der Schriften gelüftet wurde, erwies es sich, daß die erste Schrift von Prof. SIGMUND F R E U D , die zweite von einem Nazigeneral stammte. — Es muß allerlei gegen diese Versuchsanordnung eingewandt werden. Aber bei allem Vorbehalt ist hier deutlich ersichtlich, wie sehr subjektiv, wohl auch von unbewußt („kollektiv-unbewußt") wirkenden Einflüssen abhängig, solches „Erfühlen" ist oder sein kann, wie unwissenschaftlich seiner Natur nach also das „Form-Niveau" ist und sein muß. Dennoch darf kein ernsthafter Graphologe ohne dieses Richtprinzip arbeiten, aber mit Vorbehalten, kritisch zurückhaltend und immer in Gegenüberstellung zu den analytischen Befunden, mögen diese vor oder nachher gewonnen sein.
Synthese
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Zu bedenken ist hierbei, daß gerade in der graphologischen Praxis die Menschen mittleren Niveaus in jeder Beziehung die Regel und die Helden wie die Teufel die verschwindende Minderzahl bilden. Gerade aber ein mittleres Formniveau ist nicht nur schwieriger zu erfassen, sondern auch weit weniger richtungweisend als extrem hohe oder niedrige Stufen desselben. Außerdem ist das Formniveau keineswegs für alle Eigenschaften gleich richtunggebend. So kann der Intelligenzgrad positiver oder negativer sein als etwa die gesellschaftliche Anpassung desselben Menschen. Die bedeutende Graphologin Dr. R O D A W I E S E R hat, aus ihrer wegweisenden Arbeit an Verbrecherhandschriften heraus, die Schwierigkeit des Formniveaus und seiner Feststellung, ohne es abzulehnen, erkennend, den fruchtbaren Hilfsbegriff des „Grund-Rhythmus" eingeführt, der nach ihrer zum Teil sehr konkreten Einweisung mit großer, fast objektiver Sicherheit erkannt werden kann und der auch deshalb die Gefahr autistischer Abirrungen von der Realität sehr verringert. Andererseits hat ein ausgesprochener Gegner des KxAGESsdien Formniveaus, M A X P U L V E R , obgleich er selbst zweifellos sogar eine mediale Begabung besaß, an Stelle des Formniveaus konkret erfaßbare Richtungsmerkmale in der Handschrift angegeben. Ganz besonders hat er gegen Ende seines fruchtbaren wissenschaftlichen Lebens eine „Strich-Analyse" gelehrt. Zwar ging er dabei in hohem Maße eindrucksmäßig vor. Aber es gelang auch ihm schon — was dann später durch W I E S E R , P O P H A L und andere erfolgreich, wenn auch noch nicht abschließend fortgeführt wurde — am Strich, dem Schriftelement, objektiv erfaßbare Kriterien aufzuweisen, die in ihrer grundlegenden Bedeutung für die graphologische Synthese die gleiche Funktion erfüllen wie K L A G E S ' Formniveau es sollte. Die Diskussion über die Rolle der „Intuition" in der Graphologie ist noch nicht abgeschlossen. Es kann bezweifelt werden, daß es da jemals zu einer einheitlichen und endgültigen Stellungnahme kommen wird. Denn hier liegen weniger sachliche wie psychologische, ja charaktermäßige Faktoren zugrunde. Auch wenn man die Intuition nicht als eine so grundlegende „Funktion" ansieht, wie es die C. G. JuNGsdie Typenpsychologie lehrt, so entspringt die Neigung zu einer „einfühlenden" Wahrnehmungsweise ebenso einer persönlich verankerten Grundeinstellung wie die entgegengesetzte analytisdi-diskursive. Da die Grundlagen je persönlich gegeben sind, läßt sidi eine fruchtbare Diskussion darüber kaum führen. Etwas anders ist es freilich, wenn die Wertung vom wissenschaftlich-methodischen Gesichtspunkte eingesetzt werden soll. Von diesem Standpunkte ist für die wissenschaftliche Arbeit, und zwar in jeder Wissenschaft, zu fordern, daß sowohl der „Intuitive" wie der Analytiker ihre je persönliche Eigenart im Dienste der Wahrheitsfindung streng kontrollieren, überwachen,
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zügeln müssen und daß beide dazu die äußerste Anstrengung machen, die Objekttreue durch gewissenhafteste Fachausbildung und sichere Fachbeherrsdiung und durch sorgfältige systematische Untersuchung und Prüfung des Objektes zu wahren. Im Grunde ist durch die in unserer Zeit so fortgeschrittene gründliche Fachausbildung des Graphologen in dieser Hinsicht das wichtigste bereits getan. Wer das Fach der Graphologie von Grund auf studiert hat und innehat, der mag dann immerhin, wie M A G N A T einmal sagt, dieses Wissen während der Arbeit an der Schrift „vergessen". Es wird dennoch entscheidend an dem Ergebnis und an dessen Richtigkeit mitwirken, weil es eben da ist.
4. Graphologische Forschung Zwischen dem naiven und dem wissenschaftlichen Erfassen der Wirklichkeit sind immer und in jeder Wissenschaftsgeschichte zwei Stadien eingeschaltet: die eine ist das systematische Sammeln von Tatsachen, um das persönliche Wissen des einzelnen zu korrigieren und zu sichern, eine Arbeit, die an und für sich empirisch ist. Dabei spielt immer schon eine richtungweisende, meist auch selektiv wirkende Tendenz des Empirikers mit, sein Vor-Urteil. Darin ist entweder der Keim eines Systems oder der einer Hypothese, also der Ordnung, oder gar schon des Verstehens im höheren Sinnzusammenhang vorhanden. Die zweite Stufe ist eben die, auf der das bloße Erfassen zum lebenden Beziehen wird, und wo es darum geht, die disjecta membra der Einzelheiten zu einer Struktur, in einen Zusammenhang geistiger oder formaler Art zu verarbeiten, sie also wirklich zu verstehen. In der Graphologie ging der Weg, wie ähnlich auch anderswo, von B A L D O S ' empirisch-nachdenklicher Zusammenstellung seiner Beobachtungen und Vermutungen über die rein intuitive, eindrucksmäßige und unsystematische Darstellung L A V A T E R S ZU der entschlossen-systematischen Sammlung von Schriftzeichen, die in Frankreich einsetzt und an die Namen F L A N D R I N und vor allem M I C H O N gebunden ist. Diese suchten in den Bibliotheken und Handschriftensammlungen in den Handschriften berühmter Menschen Merkzeichen, die ihren (mehr oder weniger bekannten) Charakter kennzeichnen konnten, und verglichen dann die so gefundenen „Zeichen" mit den Handschriften von jenen Bekannten, von denen sie wußten, daß sie eben diese Eigenschaften aufwiesen. Der Fortschritt der Schriftdeutung von der nur „gefühlsmäßigen" Erfassung der Handschrift durch L A V A T E R und dann von der rein empirischen Ausgliederung und Deutung der einzelnen Schrift-,.Zeichen" durch M I C H O N ist auf mehrere Umstände zurückzuführen. Am wenigsten bedeutungsvoll ist dabei die einfache Erfahrung der Praxis, die dem ausübenden Schriftdeuter wie jede Übung eine gesteigerte Sicherheit und Unterscheidungsfähigkeit bringen muß. Immerhin ist die rein erfahrungsmäßige Erweiterung, Vertiefung und Ver-
Graphologische Forschung feinerung der graphologischen Erfassungsweise hervorzuheben, Namen
BRIDIER
in
Frankreich,
IVANOVIC
27 die an
( M . THUMM-KINTZEL),
die
WILHELM
LANGENBRUCH in Deutschland und viele andere geknüpft ist. Wichtiger aber, namentlich vom Standpunkt der Wissenschaft, ist die theoretische Unterbauung und Sicherung des Erfahrungs- und Wissensstoffes. Denn echtes Verstehen, soweit ein solches uns Menschen überhaupt erreichbar ist, namentlich wissenschaftliches Verständnis, kann unter keinen Umständen darauf verzichten, die bekannten Tatsachen und Einzelheiten unter einem höheren, allgemeineren Gesichtspunkt zu erfassen und sie damit erst in einem übergeordneten Sinnzusammenhang zu erkennen (DILTHEY, SPRANGER). Dazu ist der Weg einesteils die gedankliche Abstraktion. Dieser ist in der Graphologie durch die Erkenntnis wichtig geworden, daß die Schrift im wesentlichen Persönlichkeitsausdruck ist. Hier setzte mit Erfolg und Vertiefung die Ausdrucksforschung ein, so etwa die Experimente von R . KRAUSS über „das Erzeugen und Ausdeuten von gegenstandsfreien Linien" (1930). D a die Handschrift eine Körperbewegung ist oder besser gesagt auf eine solche zurückgeht, so beschäftigte sich die experimentelle Forschung schon frühzeitig mit physiologischen Untersuchungen. Schon A. HENZE stellte Versuche an, indem er seine Versuchspersonen mit der linken Hand, mit dem Fuß, mit dem Mund schreiben ließ. Das wurde später namentlich durch E. SCHWIEDLAND und PROF. PREYER fortgesetzt. So konnte festgestellt werden, daß die Handschrift eigentlich eine Hirnschrift ist. Damit ist die enge Relation zwischen Schrift und Persönlichkeit zumindest von der physiologischen Seite her unbezweifelbar geworden. Die französische Schule machte in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, offenbar unter dem Eindruck der durch JANET und CHARCOT damals betriebenen Hypnose-Forschung, hypnotische Experimente, indem man den Versuchspersonen suggerierte, sie seien ein schlauer Bauer, ein Geizhals, ein ganz alter Mann oder gar Napoleon. Diese für unsere heutige Anschauung etwas merkwürdigen Versuche ergaben Veränderungen in der Handschrift. Die ursprüngliche Handschrift wurde keineswegs beseitigt. Vielmehr zeigte die Hypnosehandschrift solche Veränderungen, welche in der Meinung und nach dem Wissen der Versuchsperson der ihr auferlegten Persönlichkeit entsprochen hätten. Also nur halbe Ergebnisse, aber immerhin solche, welche auch von dieser Seite her den engen Zusammenhang der Handschrift mit der Persönlichkeit zeigten. Subtiler und förderlicher sind dann die Experimente, die durch ROBERT SAUDEK und von ihm veranlaßt durch FREEMAN und DOWNEY in Bezug auf die Schreibgeschwindigkeit angestellt wurden. Sie gestatteten die Merkmale eindeutig und objektiv zu erfassen, die durch Schnelligkeit oder — was wichtiger
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Die Methoden der Graphologie
ist — durch Beschleunigung des Schreibens die Handschrift modifizieren und kennzeichnen. Auf diesem Wege wurde, überraschenderweise, festgestellt, daß die Neigung der Schrift nach rechts, die als Sciinelligkeitsmerkmal sogar noch von KLAGES in den ersten Auflagen seines Buches „Handschrift und Charakter" angegeben worden war, nur wenig durch die Schnelligkeit beeinflußt wird. In neuerer Zeit sind die sorgfältigen und sehr wichtig gewordenen Untersuchungen des Schreibdruckes und später auch des Griffdruckes für die praktische Graphologie ungemein förderlich geworden. Mit sinnreichen Instrumenten (KRAEPELIN'sdie Schriftwage, ROMAN'S Graphodyne, elektrische Apparate von W . LUTHE, F. STEINWACHS U. a.) wurde der Druck und Druckverlauf gemessen und registriert, der durch den Schreibgriffel auf das Papier und der durch die Haltefinger auf den Griffel ausgeübt wurde. Die Ergebnisse sind so bemerkenswert, daß sie, zugleich als Beispiel graphologischer Forschung hier näher vorgeführt werden sollten. Beim Schreiben wird das Schreibgerät von den haltenden Fingern auf die Schreibunterlage (Papier, Tafel usw.) gedrückt (Schreibdruck). Sonst würde ja die Strichführung keine Spur hinterlassen, es würde also keine Schrift entstehen. Der auf diese Weise ausgeübte Druck ist, wie schon lange bekannt ist, individuell verschieden. Wird stark gedrückt, dann entsteht ein dicker („Schatten"-)Strich. Meist wird auf der Papier-Rückseite eine Druckspur merkbar. Unter dem Druck spreizen sich die Federspitzen auseinander. Gleichzeitig ritzen sie an den Strichrändern das Papier leicht auf. Die Folge davon ist, daß an den Strichrändern die Tinte mehr aufgesaugt wird, daß also dunklere Ränder entstehen, während die Strichmitte, auf die unmittelbar die Federspitzen nicht aufdrücken, aufgehellt erscheint (sog. „MEYER'sche Rinne"). Wird hingegen schwach aufgedrückt, dann gleitet die Federspitze über die Papieroberfläche und hinterläßt nur eine Farb-(Tinten-)Spur, aber keine Druckspur. Seit langem deutete man solche individuellen Unterschiede des Schreibdrucks als persönlichen Ausdruck der je persönlichen Energie, Willenskraft, Widerstandsfähigkeit, aber auch Härte, Eigensinn u. a. Im Zornaffekt kann übrigens ebenfalls eine Druckverstärkung eintreten, die nicht unbedingt mit charakterlicher Energie zu tun haben muß. Neuerdings faßt man den Schreibdruck auch als die dritte Schriftdimension auf, indem dadurch die Bewegungsrichtung auch in die Tiefe, sozusagen durch das Papier hindurch, einzudringen scheint, und sieht darin den Ausdrude von Gründlichkeit, aber auch von Extraversion. Nun ist aber die Diagnose des Schreibdrucks an der fertigen Handschrift nicht immer so einfach, wie sie eben angedeutet wurde. Eine „harte" Feder, die keine Spitzenspreizung zuläßt, oder eine „weiche" Feder, die sich schon unter leichtem Druck auseinanderspreizt, stellt besondere Probleme. Ferner gibt es breit geschnittene Federspitzen mit verschiedener Abschrägung, die, auch ohne Druck,
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einen dicken breiten Stridi liefern können. Man hat festgestellt, daß lange oder kurze Federhaltung verschiedene Stridibreiten erzeugen kann, indem bei „langer" H a l t u n g nicht die Federspitze, sondern auch ein Teil der Unterseite der Feder T i n t e liefert, was „teigigen" Strich ergeben kann. Bei einiger Übung und Erfahrung fällt es aber nicht schwer, der Schrift anzusehen, mit welcher Art von Feder und mit welcher Federhaltung (frontal oder sagittal) sie hergestellt wurde. Auch bei den in der letzten Zeit so ungeheuer verbreiteten Kugelschreibfedern (Biro, Globus), an deren Spitze eine rollende Kugel zur Ubertragung der Farbe eingebaut ist, und die keine Elastizität besitzen, läßt sich mit einiger Schwierigkeit, aber mit zulänglicher Sicherheit erkennen, ob sie mit starkem oder schwachem Druck geführt wurden (Druckspur bei auf- oder durdifallendem Licht, oder auf der Papierrückseite). Der Schreibdruck ist nicht gleichbleibend. In einer und derselben Schrift finden sich stärkere oder schwächere Druckunterschiede, ja sogar im Verlauf eines Striches, etwa beim An- oder Ausstrich wechselt die Druckstärke merklich. Diese diagnostischen Schwierigkeiten, besonders aber die unzweifelhafte Beziehung zwischen Schreibdruck und Vitalkraft haben schon vor langer Zeit dazu geführt, daß man sidi experimentell mit dem Schreibdruck zu befassen begann. Der berühmte Psychiater K R A E P E L I N ließ vor etwa 3 5 Jahren eine „Schriftwage" konstruieren, die es gestattet, den jeweils und jeorts ausgeübten Schreibdruck zu registrieren u n d Druckkurven herzustellen, welche den Druckverlauf beim Schreiben erkennen ließen. Seither wurden diese Apparate verbessert und verfeinert ( K L A R A R O M A N ' S Graphodyne, die Elektroapparate von F R I E D R I C H STEINWACHS, Tübingen und W O L F G A N G L U T H E , Hamburg-Montreal) und liefern subtile Druckkurven, nunmehr auch solche, die zugleich den sog. „Griffdruck", den die Haltefinger auf den Schreibgriffel ausüben, feststellen und messen lassen. Die Ergebnisse dieser Forschungen — die der praktische Graphologe an der ihm vorliegenden fertigen Schrift nicht anstellen kann — sind erstaunlich weit- und tiefweisend. Die Druckkurven gestatten unter anderem auch die klare Unterscheidung von Charaktertypen, namentlich der Kretschmer'schen Konstitutionstypen. Schon im Jahre 1 9 3 0 veröffentlichte W I L L Y E N K E solche „Druckkurven" im Rahmen seiner Untersuchungen über „die Psychomotorik der Konstitutionstypen". Obgleich die fertige Handschrift, die zur graphologischen Untersuchung eingereicht wurde, solche Untersuchungen nicht mehr zuläßt, setzen die experimentellen Feststellungen den praktischen Graphologen in die Lage, aus dem Schreib- und Griff-Druck, der an der vollendeten Sdirift, wenn auch natürlich nicht messend, verläßlich erkennbar ist, wichtige Schlüsse zu ziehen. Besonders wichtig dabei ist die namentlich von K L A R A R O M A N gelehrte Möglichkeit, aus der Besonderheit des Schreibdrucks, aus dem typischen Verlauf der
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Druckkurve den Biotonus, den Spannungsgrad des Individuums zu konstatieren. Bei der Handschrift des „Pyknikers", also des wohlbeleibten, rundlich ausgepolsterten extravertierten Typus, zeigt sich im Experiment eine Schreibdruckkurve, die anfänglich langsam bis zu einem Maximum ansteigt, dann hinunterfällt, meist bis zum Nullpunkt, also bis zur vollständigen Drucklosigkeit und Entspannung, und dann wieder, im ganzen mehr oder weniger rhythmisch ansteigt und wieder fällt. Vergleicht man damit die Sdireibdruckkurve des typischen „Leptosomen", also des mageren, grazil gebauten schmalgliedrigen, introvertierten Menschen, so zeigt diese anfangs ein sehr rasches Ansteigen. Dann aber fällt die Kurve nicht, sondern schwankt in engen Grenzen nahe am Maximum, zeigt also, daß keine wirkliche Entspannung erreicht wird. Schon die Beschreibung dieser unterschiedlichen Druckkurven-Typen zeigt beinahe unmittelbar, daß es sich um Lebens- und Charaktertypen handelt, die solchen Drudi-, also Energie-Manifestationen psychologisch entsprechen (W. E N K E , ROMAN,
STEINWACHS).
Beinahe noch bedeutsamer für die Charakterdiagnose ist der Griffdrude, der besonders durch POPHAL, wenn auch nicht erstmals aber doch fruchtbar untersucht wurde, und von dem im Zusammenhange der Physiologie noch gehandelt wird. Die experimentellen Forschungen, die das Phänomen des Schreib- und des Griffdrucks zu klären bemüht sind, gehen naturgemäß außerhalb des unmittelbaren Arbeitsbereiches des praktischen Graphologen vor sich. Er kann an den Schriften, die er zu untersuchen hat, den Druck nicht messen. Es gibt aber genügend Merkmale, um die Stärke und die Veränderungen des Druckes an der fertigen Handschrift so sicher einzuschätzen, daß es dann keine Schwierigkeit mehr bereitet, die Forschungsergebnisse in der Praxis anzuwenden. Sogar der Griffdruck, der ja eine besondere Form der Spannung ist, kann, was anfangs überraschend erscheint, an der vorliegenden Schrift konstatiert und nach Spannungsgraden abgestuft und klassifiziert werden. Die von P O P H A L mitgeteilten und von M Ü I . L E R - E N S K A T etwas vereinfachten Tabellen der Spannungsmerkmale können dabei wichtige Hilfe leisten. Es gibt beinahe in ganz Europa akademische Lehr- und Forschungs-Institute für die Graphologie und die Möglichkeiten eindringlicher, experimenteller Untersuchungen sind daher ungleich reicher als dies jemals der Fall war. Zu nennen wären vor allem: Universität Freiburg i. Breisgau (Direktor Prof. Dr. R O B E R T H E I S S ) , Universität Mainz (Direktor Prof. Dr. A L B E R T W E L L E K ) , Universität München (Prof. Dr. P H I L I P P L E R S C H ) , Universität Hamburg (Direktor Prof. Dr. R U D O L F P O P H A L ) USW. In Amerika ist hervorzuheben die unermüdliche
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Arbeit von KLARA GOLDZIHER-ROMAN (New School for Social Research, New York), die 1962 starb. Wichtig geworden sind die großangelegten Untersuchungen, die Dr. RODA W I E S E R an mehr als 800 Verbrecher-Handschriften systematisch und unter immer neuen Gesichtspunkten seit Jahren durchführte, die, aus der Nachfolge KLAGES' hervorgehend, eine sehr wesentliche Klärung, Sicherung, DiagnoseErleichterung und Vertiefung des Begriffes „Form-Niveau" und „Schriftrhythmus" gefördert haben. CARL GROSS (Berlin) stellte an der Charité, Berlin, wichtige Untersuchungen über die Erscheinung der Vitalität in der Handschrift an, indem er die Schriften von sehr zahlreichen Hypophysenkranken untersuchte und verglich. W A L T E R H E G A R (Salzberg-Baden) bemühte sich, durch eingehende Grundlagenforschungen die Beziehungen zwischen Schrift-Zeichen und Charaktereigenschaft zu prüfen und zu sichern. (Düsseldorf) hat sich vor allem der Aufgabe gewidmet, den Einfluß von Drogen und von Wetter auf die Handschrift aufzuklären. Hinzuweisen ist auch auf die nie aufhörenden Untersuchungen über die medizinische Diagnose aus der Handschrift, sowohl in Bezug auf somatische wie auch auf seelisch-geistige Pathologie (A. ERLENMAYER, G. LOMER; A . KANFER über Krebs, ebenso E. V E R T E S S Y ; M . DUPARCHY-JEANNEZ; J . W E I S S , W . SCHÖNFELD, Κ. MENZEL über Tuberkulose; P. WORMSER, M . A. BREIL, U. SONNEMANN, R. K Ö S T E R , Κ. GROSZ über Geisteskrankheiten usw.). Neuerdings werden auch die Beziehungen zwischen Endokrinium und Handschrift, nicht ohne interessante vorläufige Ergebnisse, untersucht (STRELETZKI, POKORNY USW.). GERHARD GRÜNEWALD
5. Zum Problem der wissenschaftlichen Exaktheit der Psychologie Damit gelangen unsere Überlegungen zu einem grundsätzlichen Problem, in dem sich zwei Einstellungen innerhalb der Wissenschaft konträr entgegenstehen. Die eine, die bemerkenswerterweise auch geographisch-kulturell gebunden scheint, und zwar in der Hauptsache in Mitteleuropa, geht an die Aufgaben psychologischer, also auch graphologischer, Forsdiung und Arbeit mit der Sicherheit heran, daß in der deutenden, also synthetischen Leistung ein Irrationales nie vermieden werden kann, aber audi nicht ausgeschaltet werden muß. Die andere Grundeinstellung, die wiederum in Amerika und — beachtlicherweise — im sowjetischen Kulturbereiche herrscht, begrenzt Wissenschaft, auch jede Lebenswissenschaft auf die rein empirische, experimentelle, ja positivistische Methode. Am klarsten wird dies am Beispiel des amerikanischen „behaviorism", der insoferne der sowjetischen „Reflexologie" entspricht: beide kennen und anerkennen beim lebendigen Wesen, Tier wie Mensch, nur Verhalten, Reflexe, aber keine Seele. So grob diese summarische Charakterisierung dieser
32 beiden methodischen gegenüber.
Die Methoden der Graphologie Extreme
ist,
so wesentlich
zutreffend
ist sie ihnen
LERSCH (Das Problem des Aspektes in der Psychologie, 13. Internat. Psychol. Kongreß, Stockholm, 1951) hat diesen Gegensatz gekennzeichnet, indem er die amerikanisch-sowjetische Betrachtungsweise als extravertiert, die mitteleuropäische dagegen als introvertiert bezeichnet. Es sind also charakterlich fundierte, persönlich begründete Gegensätze, die damit einer fruchtbaren wissenschaftlichen Argumentation pro und contra eigentlich entzogen sind. Auf dieser Gegensatzlinie werden die extremen Stellungen etwa repräsentiert einerseits durch den Amerikaner THORNDIKE: „Everything, that exists, exists in some amount, and if it exists in some amount, it can be measured" (Alles, wa>s besteht, besteht in irgend einem Ausmaß, und wenn es in einem Ausmaß besteht, kann es gemessen werden). Auf der anderen Extremseite steht C. G. JUNG, wenn er neben der äußeren (objektiven) Wahrheit eine „psychologische Wahrheit" anerkennt (ζ. B . : „Symbole der Wandlungen", S. 390). Sehen wir davon ab, daß diese Gegensätze nicht nur in der Natur des Objekts, der Sache, liegen, sondern mehr nodi in der Persönlichkeit des Beurteilers, und daß daher bisher alle Versuche und Vorschläge, sie durch einen Mittelweg zu überbrücken, erfolglos geblieben sind (LERSCH, HOFSTETTER, LUTHE usw.). Versuchen wir, zunächst darüber Klarheit zu gewinnen, was wissenschaftliche Exaktheit bedeutet, ferner ob und inwieweit sie im Bereiche der charakterologischen Diagnostik (Ausdrucksforschung, Teste, Graphologie) erreichbar ist. Wir dürfen Einigkeit darüber voraussetzen, daß es sehr verschiedene Betrachtungsweisen der Wirklichkeit, des Seins gibt. Nur eine davon ist die wissenschaftliche. Diese ist zwiefach gekennzeichnet: einesteils dadurch, daß sie ihr Objekt systematisch und exakt zu erfassen sucht, und andernteils dadurch, daß sie die Einzelerkenntnisse zu verbinden, zu „verstehen" trachten muß, d. h. sie auf allgemeinere, einfachere, „höhere", schon erkannte oder wenigstens bekannte Zusammenhänge zurückführt. Wir wollen hier nicht vom Sinn und Zweck der Wissenschaft an sich handeln, namentlich nicht darüber, ob sie überhaupt einen Zweck außer dem Selbstzweck haben oder ob sie nur durch utilitaristische Erwägungen, etwa die Möglichkeit, zukünftige Entwicklungen vorauszubestimmen, gerechtfertigt ist. Es geht uns hier nur um die Methodenfrage und auch hierbei nur um die durch die Eigenart der Psychologie (einschließlich der Graphologie) im besonderen, der Wissenschaft vom Lebendigen im allgemeinen gegebene Problemstellung. Dabei folgen wir hauptsächlich dem Gedankengange, den WELLEK (Studium Generale, 1952) in vorbildlich klarer, wenn auch zuletzt allzu skeptischer Weise entwickelt hat (vgl. POKORNY, Schw. Zschr. Psychol. 1961, Heft 2).
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Zunächst ist, entgegen Thorndike's soeben zitiertem Satze, festzustellen, daß nicht alle existierenden Gegenstände gleichartig „exaktheitsfähig" sind. Soweit Exaktheit in Meßarbeit — im Sinne Thorndike's und der von ihm repräsentierten Anschauung — besteht, ist zu betonen, daß nur körperliche Gegenstände und sonst nur physikalische Kräfte wirklich genau gemessen, also mit einer Maßeinheit verglichen werden können. Auch diese Meßfähigkeit ist selbst bei genauester Apparatur niemals vollkommen genau, erreicht aber die maximale Exaktheit immerhin in einem sehr hohen Maße. Nicht-körperliche Gegenstände, die nicht unmittelbar wahrnehmbar, sondern nur mittelbar durch Begleit- oder Folgeerscheinungen und Wirkungen erschlossen werden können, sind prinzipiell nicht mehr in gleichem Maße maß-, also exaktheitsfähig. Die „Größe" eines Körpers oder Körperteils oder die Länge einer Welle ist, was Meßbarkeit anlangt, etwas anderes als die Intensität einer Erregung oder als die Stärke eines Triebes. Wenn man es audi unternehmen kann, soldie nidit-körperlichen seelischen Objekte zu messen, so ist dieses Messen grundsätzlich und methodisch verschieden von dem Abmessen eines physischen Objekts. Schon die Maß-Einheit, die der unentbehrlichen „Eichung" zugrundegelegt wird, kann für ein psychisches Objekt unter keinen Umständen absolut, eindeutig, objektiv einheitlich sein, sondern kann nicht anders wie mehr oder weniger „durchschnittlich" gewonnen wenden. Das gilt in besonderem Maße bei psychischen Qualitäten. Auf psychologischem Gebiete muß also an Stelle des direkten Messens ein Vergleichen treten, und zwar zudem nicht das der psychischen Phänomene, sondern ihrer körperlichen Begleit- oder Ausdruckserscheinungen. Dazu kommt aber noch ein anderer entscheidender Umstand: eine exakte Messung muß wie jede exakte Feststellung grundsätzlich beliebig oft wiederholbar sein, und zwar unter gleichen Voraussetzungen und mit gleichem Ergebnis. Das kann, mit gewissen Einschränkungen, am anorganischen unbelebten Objekt erreichbar sein. Niemals aber kann es wirklich am lebendigen Gegenstand gelingen. Denn dieser ist nicht nur in jedem kleinsten Z.eitteilchen anders als vorher und nachher. Er ist zudem immer und unter allen Umständen ein einmaliges, einziges, nie wiederkehrendes Objekt. Eine zu Versuchen benutzte Ratte ist heute verschieden von gestern und ist anders als ihre Käfiggenossin. Nodi unvergleichlich bedeutsamer ist diese Variabilität und Unikalität bei entwickelter Individualität des Versuchsobjekts, also besonders beim Menschen und seinem Seelenleben. Diese Überlegung gilt keineswegs nur für die Psychologie, sondern für jede „Lebenswissenschaft", deren Gegenstand Lebendiges ist, also auch für die Biologie, Medizin, Soziologie, Geschichte und so fort. Nur die reinen Naturwissenschaften, also Physik, Chemie vielleicht, und die Mathematik bieten die Exaktheitsvoraussetzung in diesem Sinn. 3 Pokomy, Handschriftendeutung
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Ansonsten aber sucht man die mangelnde Wiederholbarkeit der Versuchssituation durch Massenhaftigkeit der Untersuchungen und Teste, die unerreichbare Gleichheit des Untersuchungsgegenstandes in Art und Zeit durch Ähnlichkeit zu ersetzen — was ein löbliches, notwendiges und an sich richtiges Unternehmen ist, aber etwas gänzlich anderes als die wirklich exakte Methode des Physikers. Intelligenzhöhe, Assoziationsvermögen, Anpassungsfähigkeit, AfFektivität, Güte, Energie, Willen, all das zum Beispiel kann niemals so gemessen werden wie das Gewicht, die Größe eines Körpers, die Wucht einer Bewegung eines anorganischen Objektes und so fort. Und dazu kommt noch, daß die „exakte" Untersuchung eines Einzelfaktums des Lebens, besonders des Seelenlebens, dieses aus dem lebenden unteilbaren „in-dividu-ellen" Da- und So-sein des Versuchsobjektes heraus-präparieren, isolieren, analytisch erfassen und somit unter lebens- und wirklichkeitsfremden Umständen betrachten muß. Dies kann durch eine spätere Synthese oder ihren Versuch nie gänzlich wieder normalisiert werden. Die Selbsttäuschung über „Exaktheit" im psychologischen Test und Experiment wird durch die Anwendung mathematischer und statistischer Methoden verstärkt. Die Exaktheit der Mathematik an sich kann nicht bezweifelt werden. Die angewandte Mathematik, also audi die Statistik aber setzt, obgleich sie mit Ziffern und Größen operiert, an nicht-mathematischen Objekten an. Das lebende Versuchs- oder Test-Objekt wird durch meist geistreiche, aber immer irgendwie willkürlich gewählte, unnatürliche und zudem niemals absolut eindeutig zu wertende Reaktionen oder Situationen angegangen. Diese werden dann gezählt, klassifiziert, gewertet, und dann statistisch verarbeitet. Diese Verarbeitung ist exakt. Ihr Gegenstand und dessen Bereitstellung aber ist, vom Standpunkt der Exaktheit, äußerst fragwürdig. Zum Beispiel kann eine direkte Befragung: „Regen Sie sich leicht auf?", „Können Sie Ihren Vorgesetzten widersprechen?" oder eine zur Beantwortung formulierte Annahme, wie: „Menschen wie HENRY FORD oder J . P . MORGAN, die alle Konkurrenz auf dem Wege zum Erfolg überholten, sind für junge Menschen Vorbilder zur Bewunderung und Nachahmung" (HOFSTETTER) ebenso auch einen andern Gegenstand, eine andere Formulierung haben, enthält also eine außerordentlich hohe „Unbestimmbarkeitsrelation". Wie sich der Befragte mit der Frage und der ganzen Situation auseinandersetzt, kommt nicht nur in der Formulierung seiner Antwort zum Ausdruck, sondern in ganz anderen unexakten, imponderablen Verhaltensformen. Werden diese nicht beachtet, dann wird die Antwort unvollständig gewürdigt. Werden sie aber beachtet, dann ist damit von selbst die Unzulänglichkeit der Antwort die aber gleichwohl klassifiziert wird, zugegeben. Zudem ist die Situation der Versuchsperson oder des Ver-
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suchstieres vollkommen unnatürlich. Das hat einen gestaltenden, meist entstellenden Einfluß auf die Antwort, der gar nicht richtig erfaßt, geschweige denn exakt gewertet werden kann. (Vgl. D. WYSS, Psyche 1951/8; WELLEK a.a.O.) Audi die große Zahl der Testantworten oder der Teste selbst kann diese von Grund auf bestehende Unexaktheit nicht wirklich beseitigen, sondern nur mehr oder weniger verringern. Die Exaktheit psychologischer Teste und Versuche kann daher der von physikalischen, chemischen oder mathematischen grundsätzlich nicht gleichgesetzt werden. Bei dieser kritischen Überlegung drängt sich von selbst der Gedanke auf, daß die spontan zustande gekommene Handschrift weit mehr eine natürliche, also psychologisch maßgebliche Äußerung der Persönlichkeit ist als die geistreichsten Teste. Die dritte Erforderung wirklicher Exaktheit ist, wie WELLEK ausführt, die „Irrelevanz des Beobachters". Als Beobachter ist zunächst im Test die Versuchsperson, der „Proband" selbst, gemeint. Dieser aber ist keineswegs irrelevant, ist nicht durch jeden beliebigen andern ohne weiteres ersetzbar. Vielmehr ist seine Besonderheit von wichtigstem Einfluß auf das Testergebnis, das ja diese Eigenart feststellen soll. Die Unmöglichkeit einer wirklich exakten Äußerung wird daran unbestreitbar klar. Denn das Testergebnis soll ja die Relation zur „Normal"-Persönlichkeit zeigen. Diese aber, gesetzt es gäbe sie wirklich und sie wäre wirklich zur Eichung verwendet worden, hat das an ihr vorgenommene Experiment in irgendeinem Grade ver„persönlicht". Das kann jedoch auch durch massenhafte „Wiederholung" nur zum Teil, sicher aber nicht im Wesen wieder entpersönlicht und verabsolutiert werden. Dies soll nun geschehen durch die Herstellung eines Durchschnitts, die ihrerseits eine Vereinfachung, jedoch keine absolute, also keine mathematisch exakte Wertung liefert. Aber auch der „Versuchsleiter", also der, der den Test leitet und durchführt, der aus den Beobachtungen die Schlußfolgerungen zu ziehen hat, ist nicht irrelevant. Ganz abgesehen von seiner Begabung und beruflichen Fähigkeit, von seiner Erfahrung, von der ganz persönlichen Art der Begegnung mit der Versuchsperson wird der Verlauf und die Auswertung des Testes von seiner persönlichen Einstellung notwendig mitbeeinflußt. Nicht jeder Test wird von jedem Testologen in gleicher Weise, in gleicher Einschätzung angewendet. Wirkliche Unvoreingenommenheit wird, strenge beurteilt, nur die Ausnahme sein können. Ist dies doch auch bei den so sehr zahlreich und wichtig gewordenen medizinischen Testen des Hämatologen, Endokrinologen, Elektrokardiographen usw. trotz aller Standardisierung der Apparatur und der Methoden nicht anders. Zuletzt entscheidet, richtigerweise, der behandelnde Arzt über die Testbefunde und ihre Bedeutung im Rahmen des Gesamtbefundes. D a ß medizinische Diagnosen im gleichen Fall von verschiedenen 3*
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Beurteilern verschieden sein können, kann nicht bestritten werden. A. WELLEK erweist übrigens die Richtigkeit seiner These, daß Exaktheit in der Charakterologie nur relativ möglich ist, durch seine eigenen Erfahrungen mit dem Rorschach-Versuch. Der Grund der eingeschränkten „Exaktheitsfähigkeit" lebender Objekte läßt sich so formulieren: das Kausal-Prinzip ist auf sie nicht unbedingt anwendbar. Das soll nun nicht besagen, daß die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung auf dem Gebiete des Lebens nicht oder nicht im gleichen Maße bestehen wie im Reiche des Unbelebten. Es zieht nur die Konsequenz daraus, daß der menschliche Geist, daß die menschliche Wissenschaft am Lebendigen diese Zusammenhänge nicht immer und nicht eindeutig erkennen kann. Das hängt damit zusammen, daß das Lebende eine Veränderlichkeit und eine Vielfältigkeit innerer Faktoren und ihrer Korrelationen nach außen aufweist, die unübersehbar, also die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit übersteigend, sein kann. Anders gesagt: Ursache und Wirkung, als absolute Faktoren, werden nicht immer als Grund und Folge, als Erkenntnisfaktoren, erscheinen. Daher muß ein irrationales Moment zur Oberbrückung der erkenntnismäßigen Spannung eintreten. Das geschieht durch die Funktion der Intuition, der Einfühlung und auch durch die Einführung eines (nur scheinbar akausalen) finalen, teleologischen Momentes als Bildungsfaktor. Dieser letzteren Hypothese bedient sich, nebenbei bemerkt, die Zoologie und Biologie, die sich, wenn auch nicht ganz mit Recht, zu den exakten Naturwissenschaften zählt, schon lange (Vitalismus, Neovitalismus, organismische Auffassung: JOHANNES REINKE, H A N S DRIESCH, K U R T GOLDSTEIN, LUDWIG
VON BERTALANFFY, A . P O R T M A N N
usw.). Hier darf man daran erinnern, daß keine Wissenschaft gänzlich der vis intuitiva entraten darf nodi kann. Mehr noch: gerade die modernste Entwicklung der neuen Physik führte in unseren Tagen dazu, daß erkannt und ausgesprochen werden mußte: das Geschehen im Mikrokosmos unterliege nicht einer strengen Kausalität im Sinne der klassischen Physik, sondern nur einer Wahrscheinlichkeit, die sich auf statistische „Gesetze" gründe. Und weiter mußte sich die modernste Physik entschließen, finale, teleologische Faktoren anzunehmen, die die absolute Gültigkeit der reinen Kausalität einschränken. Die exakte Naturwissenschaft nähert sich also heute, da sie einsehen muß, genaue Beobachtung sei nicht mehr immer möglich, dem Zustand der Lebenswissenschaften, die ihrerseits sich nicht entschließen kann, die Unmöglichkeit wirklich exakter Feststellungen auf ihrem Gebiete zuzugeben. D a ß die unvollständige Exaktheitsfähigkeit lebender Objekte keineswegs dazu nötigt, den Lebenswissenschaften, also auch der Psychologie, Wissenschaftscharakter abzusprechen, liegt nicht nur auf der Hand. Sondern eine solche radikale Anschauung müßte den Erkenntnisbereich der Wissenschaft in einer
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untragbaren Weise einengen und verarmen, so sehr, daß die unstillbare Erkenntnisnötigung sich an ein solches intolerantes Dogma nicht halten konnte. So wie vor 500 Jahren der menschliche Geist gegen die Einengung seines Bereiches durch das kirchliche Dogma erfolgreich revoltierte, so würde dies auch mutatis mutandis geschehen, wenn Wissenschaftlichkeit, also vertiefte und gesicherte Erkenntnisfähigkeit nur den exakten Wissenschaften vorbehalten werden sollte. Da aber unser Erkennen allenthalben und allerwegen immer nur relativ sein kann, so kann den Lebenswissenschaften aus dieser Begrenztheit grundsätzlich weder ein Vorwurf noch eine capitis diminutio erwachsen. So wenig wie die moderne Physik aus ihren Einsichten in die Relativität ihrer Erkenntnis solche Konsequenzen für sich ziehen wird noch muß. Vorausgesetzt bleibt, daß jede Lebenswissenschaft, die Wissenschaft sein will, in der Forschung wie in der Anwendung, die ihr erreichbare Genauigkeit als Grundprinzip ihrer Arbeit anerkennen und festhalten muß. Exaktheitsfähigkeit erweist sich als ein relativer Faktor, der gegenüber lebenden Gegenständen anders sein muß als gegenüber Anorganischem. Das Prinzip aber wird dort wie da unbedingt gelten müssen. Erst der Verzicht auf echte, sei es audi relative, Exaktheit würde den Verlust des Wissenschaftsdiarakters begründen. An Stelle der Wissenschaft müßte dann treten, je nach dem Niveau, Unverantwortlichkeit oder eine Art von „Kunst".
II.
Die Physiologie des Schreibens 1. Die Richtungen der Sdireibbewegung Schreiben ist Bewegung. Bewegung ist, physiologisch betrachtet, die Änderung der räumlichen Lage von Körpern, Körperorganen und Körpergliedern, die durch Spannung und Lösung von Muskeln in komplizierter Koordination zustande kommt. Bewegung ist, ganz allgemein, ein zeitlich-räumliches Phänomen. Zeitlich verläuft sie vom Jetzt zum Später, und vom Später aus ist das Jetzt ein Früher. Räumlich verläuft sie vom Hier zum Dort oder auch vom Dort zum Hier oder vom Dort zum Dort. Das „Hier" ist ebenso wie das „Jetzt" der räumliche und zeitliche Ort des Ich. Die Bewegungsrichtungen, die in der Handschrift erscheinen, sind, den drei Dimensionen des Raumes entsprechend, dreifältig: von oben nach unten (und umgekehrt); von rechts nach links (und umgekehrt) und in die Tiefe (der Schreibfläche). Die Vertikalriditung „oben-unten" erscheint zwar objektiv und real nur, wenn man auf einer vertikalen Schreibfläche, also etwa einer Schultafel, schreibt. Subjektiv aber wird sie auch an einer horizontal gelagerten Schreibfläche erlebt. Die obere (l-)Zone der Schreibfläche ist eigentlich nicht oben, sondern vom Körper entfernter, die untere (g-)Zone in Wirklichkeit nicht unten, sondern näher zum Schreibenden gelegen. (Ob die Fiktion des Oben-Unten an der Schreibflädie auf eine Projektion des „Körpersdiemas" oder auf eine urbildmäßige Verteilung des Oben-Unten oder, wie POPHAL annimmt, auf das physiologisdie Faktum der drei im Labyrinth des Ohres befindlichen „Bogengänge" (canales semicirculares) zurückgeht, ist hier nicht zu untersuchen.) Sicher ist, daß die Herstellung eines nadi aufwärts verlaufenden Striches eine andere Federführung, eine andere Innervation erfordert und von einem anderen Bewegungsgefühl geleitet ist wie die Strichführung nadi unten. Jene ist mit Streckbewegungen, also mit vorherrschender Innervation der Streckmuskeln (m. extensores), diese mit Beugebewegungen, also mit dominierender Funktion der Beugemuskeln (m. flexores) verbunden. Strecken ist, grob gesprochen, anstrengender, spannungsreicher als Beugen. Daher ist die Körperbewegung und
D i e Richtungen der S c h r e i b b e w e g u n g
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die Körperhaltung bei Ermüdung mehr zentripetal, im ganzen mehr gebeugt, „nieder-gedrückt", „de-primiert". Deshalb senkt sich der Verlauf der Schreibzeile, wenn der Schreiber müde oder überhaupt bewegungsunlustig, passiv ist, während sie sich hebt, wenn er frisch oder aktiv ist. Denn die Zeilenrichtung folgt dem Streckungsgrade der Finger-, Hand-, Unterarm-Muskeln. Übrigens ist die dazu nötige Koordinationsleistung so schwierig, daß sie ohne optische Kontrolle nicht gelingt. Jeder kann an sich beobachten, daß er bei geschlossenen Augen die horizontale Zeilenrichtung nicht einhalten kann. Kinder erlernen diese erfahrungsmäßig am schwersten. Daneben sind die „symbolischen" Deutungen, die namentlich auf M A X PULVER zurückgehen, und die doch auch psychophysiologisch mit dem „Körperschema" zusammenhängen, parallel gerechtfertigt. Oben: intellektuell, geistig, ideal; unten: Trieb, wirtschaftlich, materiell, realistisch. Nicht nur das Körperschema, also die uns ständig begleitende unklare Vorstellung unserer körperlichen Architektur, begründet diese „symbolischen" Ausdeutungsmöglichkeiten. Sie sind zudem audi in der Aufteilung unserer Welt; oben: in den Himmel, das Göttliche, unten: in die Erde, den Boden, die Stand- und Tragfläche unseres Lebens, ja sogar die Unterwelt, psychologisch, oder, wie J U N G es ausdrückt, „archetypisch", urbildmäßig fundiert. Recbts-Links Die Horizontalrichtung der Schreibzeile verläuft in den abendländischen Schriften von links nach rechts, in der hebräischen und arabischen Schrift umgekehrt von rechts nach links. Zu unrecht wurde, seit ERLENMEYER ( 1 8 7 0 ) bis PULVER (1929) die Richtung, in der die Buchstaben beim Schreiben nadieinandergereiht wurden, als psychologisch maßgebend für den Charakter der Schrift, sogar der nationalen Schriftvorlage, angesehen. Nach dieser Meinung wäre daher die abendländische Schrift, die nadi rechts und nach außen führt, Ausdruck einer extravertierten Einstellung, die morgenländische hingegen, die nadi links und daher nach innen (so wurde behauptet) leitet, als Bewegungsausdrude der Introversion angesehen. Vor allem stimmt daran nicht, daß die abendländisdie Zeilenriditung, nadi rechts hin, abduktiv, die umgekehrte Richtung aber als adduktiv erklärt wird (ERLENMEYER USW.). Angesidits der hebräisdien H a n d sdirift erwiesen die Untersuchungen (POKORNY), daß bei der von rechts nach links geschriebenen Zeile nur der Oberarm adduziert wird, nicht aber die Schreibhand, und daß die Richtung am Körper vorbei nadi außen führt oder wenigstens zielt. Übrigens ist die Zeilenrichtung nadi den Zeugnissen der Schriftgeschichte ethnisch nidit primär, nicht ursprünglich, sondern veränderlich und hat sich bei manchen Völkern mehrmals verändert, so bei den alten Persern und wahrscheinlich auch
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Die Physiologie des Sdireibens
bei den Hebräern (POKORNY). Ein Autor (M. MIESES) sucht zu beweisen, daß solche Änderungen mit religiösen Umwälzungen verbunden sind und bringt zahlreiche historische Belege für seine Behauptung. In diesem Zusammenhange sei, nebenbei, angemerkt, daß die altgermanische Runenschrift, die von links nach rechts gelesen wird, wahrscheinlich nicht in dieser Richtung, sondern in den beim Schreiben senkrecht gehaltenen Runenstab von oben nach unten eingeritzt wurde, worauf der Stab dann horizontal gedreht wurde. Beobachtungen, die von KLARA G. ROMAN (Handwriting, p. 144) zitiert werden, scheinen darauf hinzudeuten und geben Anlaß zu Zweifeln, ob die Zeilenrichtung eine so wesentliche psychologische Bedeutung haben kann. Manche amerikanische Autoren (HEWES) vermuten, ohne daß bisher dafür eine maßgebliche Bestätigung erbracht werden konnte, daß die Links-Rechts-Zeile dem Rechtshänder gemäß sei, und daß daher die umgekehrte Zeilenführung die darin aufgezogenen Kinder zu psychischen Schwierigkeiten bringen müsse — was durch die Erfahrung etwa an hebräisch schreibenden Schulkindern in Israel nicht bestätigt erscheint. O b nun die Zeile nach rechts oder nach links leitet, entscheidend ist, daß sie in jedem Falle nach außen führt. Innen ist ich-nahe, außen ist ich-ferne oder du-nahe. Die Außenrichtung erfordert Streckung, also Energieeinsatz, und die darauf aufgebaute Deutung „Extraversion" ergibt sich von selbst. Zeitlich fällt das Innen mit dem Jetzt, daß Außen mit dem Später zusammen, was die Deutungsinhalte bereichert. Aber Bedeutung kommt weit weniger der Zeilenrichtung zu, obgleich sie (oder weil sie) so augenfällig ist, sondern der der Graphologie schon lange bekannten, weniger auffälligen Richtung der Striche und Strichteile in den Buchstaben selbst. J e nachdem dabei eine Tendenz vorwiegt, die Strichbewegung mehr nach vorwärts (abendländisch rechts) oder nach rückwärts (abendländisch links) zu betonen, spricht man von Rechtsläufigkeit und von Linksläufigkeit und gewann (KLAGES) aus dieser Schreibrichtungsäußerung sehr tiefreichende Deutungsmöglichkeiten, die im wesentlichen mit der Extra- beziehungsweise Introversion zusammenhängen. Dieser sogenannte „Richtungscharakter" der Schrift hat mit der allgemeinen Zeilenrichtung wenig oder nichts zu tun. Es gibt in den abendländischen Schriften Linksläufigkeiten und in der hebräischen Schrift Rechtsläufigkeiten. Und gerade diese individuellen Abweichungen sind für die graphologische Deutung von größtem Wert. Die Richtung der Schreibbewegung in der Horizontalen verläuft, ganz allgemein gesprochen, immer auf der Linie zwischen dem Ich und dem Du. Statt „Linie" muß man allerdings richtiger „Ebene" sagen. Denn das „Du", das in dieser allgemeinen Anschauung dem Ich gegenübersteht, ist nicht nur gegenüber,
Die Richtungen der Sdireibbewegung
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sondern überall. Es ist übrigens, so betrachtet, nicht das persönliche, geschweige denn das menschliche Du des Nebenmenschen, sondern alles, was Nicht-Ich, Außer-Ich ist. Es ist Welt. Und die Art, wie die beim Ich beginnende Bewegung, die in der Schrift fixiert wird, vom Idi weg als Ausgangspunkt verläuft, gibt ein klares Bild der Du- oder der Welt-Beziehung (POKORNY, Schw. Zschr. Psychol. 1958/2). In der abendländischen Schrift ist der Anfang, also das Idi und Jetzt immer links, das Ende, also das Du, das Später, immer redits. Und genau umgekehrt ist es in der hebräischen Schrift. D a ist der Anfang, das Ich, das Jetzt immer rechts, und das Ende, das Du, das Später immer links. Diese 180gradige Drehung der Ich-Du-Linie gilt nur für die Schriftlage nicht, aus Gründen, auf die wir später zurückkommen. Und sie gilt ferner nicht für die Lage des Mutterund des Vaterprinzips in dem Schriftfelde, die offenbar archetypisch, allgemein menschlich und daher ausnahmslos links unten beziehungsweise rechts oben zu suchen sind (POKORNY, Graphologia I I I , und aus: Zsdir. Menschenk., 1962, Heft 2). Die Schrifilage Ein interessantes Problem, das sich zuletzt als ein physiologisches herausstellt, bietet die Schriftlage, also der immer von rechts her gemessene Neigungswinkel der Abstriche zu der Grundlinie. Die Graphologie unterscheidet die Lagen: rechtsschräg, wenn der Neigungswinkel spitz ist, also weniger als 90 Grad; steil, wenn die Neigung einen rechten Winkel von 90 Grad bildet, und linksschräg, wenn der Winkel mehr als 90 Grad beträgt, also stumpf ist. Das Sdiriftmerkmal der Lage ist sehr auffällig. Daher wird auch allermeistens dann, wenn einer seine Schrift verstellen will, die Lage geändert, was merkwürdig leicht geht, wenn man absichtlich steil schreiben will, weniger leicht, wenn man absichtlich schräg zu schreiben beabsichtigt. Der alte Graphologe (SCHWIEDLAND) hat für die einfache Deutung dieses Merkmales eigene „Graphometer" hergestellt, an denen statt der Gradzahl des Neigungswinkels schon die durch ihn vermeintlich ausgedrückten Eigenschaften abgelesen werden konnten. Heute ist die Bedeutsamkeit der Schriftlage weit weniger hoch eingeschätzt. Sie gehört zu den Merkmalen, die zu augenfällig sind und, besonders zur Steilund Linkslage hin, zu den am leichtesten absichtlich veränderbaren Schriftzeichen gehört. Auch als Merkmal der Schreibgeschwindigkeit hat man sie früher überschätzt, während man, seit SAUDEKS Untersuchungen, sie heute fast ausnahmslos nur als ein Nebenmerkmal der Schnelligkeit ansieht (anderer Ansicht R . H E I S S ) .
Bildmäßig entspricht die Rechtsschrägheit in der abendländischen Sdirift der „Zuneigung" zum Du, die linksschräge Lage hingegen der „Ablehnung" des
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D i e P h y s i o l o g i e des Schreibens
Du. Das ist symbolisch und audi sprachlich sehr einfach und sehr einleuchtend. Aber überraschenderweise erwies sich an der hebräischen Handschrift, bei der das Du links erscheint, daß dennoch die gleichen Neigungswinkel wie in der europäischen Schrift erscheinen, nicht nur in den Fällen, wo eine Person beide Schriften beherrscht, sondern allgemein in der untersuchenden Praxis. Was deutungsmäßig unterhalb der „Zu- und Abneigung", gemeinsam ist, ist für die Rechtsschrägheit das Vorwiegen des Gefühlsmäßigen, für die Linksschrägheit und Steilheit das Vorwalten der Vernünftigkeit. Jenes ist also eine natürliche, diese eine bewußt-gelenkte Reaktionsart. Nun schreibt ein normaler Rechtshänder, sich selbst überlassen und schulmäßig nicht beeinflußt, reditsschräg; aus dem gleichen Grunde, weshalb er ein Profil immer mit der Nase nach links zeichnen wird. Die körperwärts gerichteten Abstriche, die solcherart hergestellt werden, entsprechen physiologisch der Rechtshändigkeit. Hingegen findet sich bei Linkshändern meist, wenn audi nicht ausnahmslos, die entgegengesetzte Schreibtendenz. Es bedarf also beim normalen Rechtshänder einer gewissen Spannung, die charakterlich, erziehungsmäßig, weltweit gebunden sein mag, um ihn zum Steil- oder Linksschrägschreiben zu bringen und dabei zu halten. Diese Spannung ist es, die die Steil- oder Linksschrägschrift erkennen läßt, und ihr Gegenteil, die Lösungsfähigkeit, spricht aus der Rechtsschrägschrift. Die Abstufungen von Spannung bis Verkrampfung einerseits, von Impulsivität und Spontaneität bis Hemmungslosigkeit andererseits liegen auf dieser Deutungslinie. Die Soziabilität, die Zu- und Abneigung im geselligen Sinn, ist also nur ein Verhalten, das aus der Wurzel Lösung-Bindung erwächst (vgl. P O K O R N Y , Tijdschrift/Grafologie, Sept. 1953).
2. Die Arten der Bewegung Die Bewegungs-Physiologie unterscheidet zwei Bewegungsarten, die „Hin- und Her-Bewegung" und die „Einzelbewegung". POPHAL, dem die Anwendung der bewegungsphysiologischen Erkenntnisse auf die Schreibbewegung, also ihre Nutzbarmachung für die graphologische Diagnose, zu danken ist, sagt darüber: „ I n d e r H i n - u n d H e r b e w e g u n g b i e t e t s i d i u n s die U r f o r m d e r B e w e g u n g s a u s f ü h r u n g , o d e r , a n d e r s a u s g e d r ü c k t , d e s Z u s a m m e n w i r k e n s der ( q u e r g e s t r e i f t e n ) M u s k e l n d a r . . . Ihr liegt als eines d e r w i c h t i g s t e n P r i n z i p i e n des B e w e g u n g s z u s a m m e n s p i e l s d i e s o g e n a n n t e r e z i p r o k e I n n e r v a t i o n z u g r u n d e . D a r u n t e r v e r s t e h t m a n j e n e s Wechselspiel der z e n t r a l e n B e w e g u n g s i m p u l s e , das z u einer E r s c h l a f f u n g d e r A n t a g o n i s t e n f ü h r t , s o b a l d die A g o n i s t e n in T ä t i g k e i t g e r a t e n . " (POPHAL, H i r n s c h r i f t , S. 51.) „Sollen H i n - und H e r b e w e g u n g e n wirklich
fließend
u n d f o r t l a u f e n d v o r sich g e h e n ,
s o m ü s s e n b e s o n d e r e B e d i n g u n g e n e r f ü l l t sein. E i n m a l d a r f die B e w e g u n g nicht zu l a n g s a m w e r d e n , weil d a n n der B e w e g u n g s f l u ß U n t e r b r e c h u n g e n e r l e i d e t u n d E i n z e l -
Die Arten der Bewegung
43
bewegungen resultieren, zum andern darf aber auch eine gewisse Geschwindigkeit nicht überschritten werden, damit es nicht zur Verkrampfung kommt. Weitgehende Lockerheit der Bewegungsausführung ist überhaupt die erste Voraussetzung. Schließlich dürfen auch Reibungskräfte keine beherrschende Rolle spielen, mit andern Worten: die Hin- und Herbewegung darf nicht, wie das etwa bei erheblichem Schreibdruck der Fall wäre, von einer allzu harten Haltungsinnervation überlagert sein." (POPHAL, Spannungserscheinungen, S. 11.) D i e „ H i n - und H e r b e w e g u n g "
in der Schreibbewegung zeigt nach POPHAL
hauptsächlich folgende Schriftmerkmale: fließende, schwingende, glatte, elastische, rhythmische Bewegungsführung (die durch genaue Inspektion des Strichs festgestellt werden kann), „ v i t a l e " ( — natürliche) Verbundenheit oder U n v e r bundenheit (es scheint überraschend, daß die rhythmische, fließende H i n - und Herbewegung
nicht durchwegs verbundene Schrift liefern soll), weiche B i n -
dungsformen, und z w a r meist Girlanden oder weiche Winkel, selten A r k a d e n und keine scharfen Winkel, keine erhebliche Druckstärke oder Versteifung u. a. m. (POPHAL, Spannungserscheinungen,
127).
Diese Bewegungsform ist eine ursprüngliche, eine U r f o r m der Bewegung, hirnphysiologisch als „ H i r n s t a m m b e w e g u n g " (subkortikal) angegeben. Sie l ä ß t d a her erkennen „Lebensgebundenheit, Triebabhängigkeit, Einheitlichkeit, seelische Elastizität und Ökonomie, Gemeinsinn, ja Herdennatur, andrerseits Mangel an Geistigkeit, U n selbständigkeit des Urteils, Gedankenarmut, Mangel an Einfallen und an Intuition, Unachtsamkeit usw." „Im Gegensatz zur Hin- und Herbewegung . . . wird bei der Einzelbewegung das bewegte Glied . . . aus einer Ruhelage heraus in eine andere Ruhelage gebracht." „Das periodische Abwechseln zwischen Wirker- und Gegenwirkertätigkeit kann unterdrückt werden außer durch Überlagerung mit einer stärkeren Haltungsinnervation, außer durch Herabsetzung der Bewegungsgeschwindigkeit (bei Lockerheit) bei schnellen Bewegungen durch eine begleitende Versteifung, welch ein reziprokes Verhalten der Antagonisten mehr oder weniger erschwert, nämlich dadurch, daß sie zu einer gleichzeitigen krampfhaften Kontraktion der Wirker und Gegenwirker f ü h r t " (POPHAL, Spannungserscheinungen, 13). D i e „Einzelbewegungen" zeigen in der H a u p t s a c h e die folgenden Schriflmerkm a l e : flußlose, schwunglose, unelastische, ja brüchige, starre, spröde, u n r h y t h mische Bewegungsführung (Strich), vorlagemäßige oder auch stilisierte Buchstabengestaltung, Doppelwinkel, A r k a d e n oder schulmäßige
Bindungsformen,
(kortikale) Verbundenheit oder Unverbundenheit. Diese Bewegungsform ist eine entwicklungsgeschichtlich jüngere als die „ H i n und H e r b e w e g u n g e n " , entspricht also einer vorgeschrittenen Entwicklungsstufe und w i r d v o n der H i r n r i n d e ( c o r t e x ) innerviert. Sie kann anzeigen:
44
D i e P h y s i o l o g i e des Schreibens
„ H e r r s c h a f t des G e i s t e s , des ,Ich', E i g e n a r t , U n e i n h e i t l i c h k e i t , Z w i e s p ä l t i g k e i t ^ M a n g e l an
seelischer
Ökonomie,
Selbstbehauptungstendenz,
m a n g e l . " (POPHAL, S p a n n u n g s e r s c h e i n u n g e n
Vitalitätsmangel,
Anpassungs-
128.)
Die Anwendung dieser Bewegungstypen auf die Graphologie und auf die Charakterlehre ist von grundsätzlich großer Wichtigkeit. Es darf nicht übersehen werden, daß POPHALS neuer Weg einer bewegungsphysiologischen Graphologie erst ein Beginn ist, daß manches daran nodi nicht wirklich geklärt und gesichert ist, daß die Diagnose immer noch sehr auf „Eindruck" und weniger auf klarer objektiver Symptomatik beruht, als es gerade von einer physiologisch fundierten Typenlehre erwartet würde. D a ß nicht alle Schriften sich eindeutig einordnen lassen, ist dieser Typenlehre gemeinsam mit allen sonst gelehrten und geübten. Es gibt kaum reine Typen. Es gibt Mischungen und unklare Formen, überall. D a s ist nicht entscheidend für den Wert der Lehre. Aber sie bedarf erst noch der Vertiefung, der Erweiterung, der Anpassung an die Tatsachen. Denn gerade die Anwendung der PoPHALschen Theorie in der graphologischen Praxis erweist, daß sie, obgleich sehr oft überraschend, ja überwältigend klärend und tiefgreifend in ihren Befunden, doch zu sehr auf spekulativer Grundlage aufruht, die erst noch durchforscht werden muß. Allgemein betrachtet ist es für den Charakter- und den Schriftdeuter von geradezu erschütternder Bedeutung, hier zu erkennen, wie sehr an so verhältnismäßig unscheinbaren, nebensächlich scheinenden Ausdrucksphänomenen, wie „Art der Bewegung", die Möglichkeit hängt, ganz tief in das typische und darüber hinaus in das individuelle Wesen der Persönlichkeit einzudringen. Die untrennbare, unaufhebbare Ganzheitlichkeit des Leib-Seelischen ebenso wie der Persönlichkeit wird hier immer wieder zum unmittelbaren Erlebnis, zu einem Erlebnis, dessen Wucht durch noch so große Routine nicht abgeschwächt wird.
3. Der Schreibdruck Die dritte Richtung, die in der Schrift vorhanden und erkennbar ist, die dritte Dimension in einer scheinbar flächigen, zweidimensionalen Ebene, geht in die Tiefe, senkrecht zum Koordinatensystem: „Oben-Unten" und „Rechts-Links". Es ist der Schreibdruck, der damit gemeint ist. Jener Druck, den die Schreibhand mit dem Schreibgerät auf die Schreibunterlage ausübt. Die produktiven Druckmessungen und geistreichen Experimente ( R O M A N , L U T H E , STEINWACHS, E N K E USW.) zeigen eine Seite des Druckproblems, nämlich die Druckstärke, also die Q u a n t i t ä t in ihren typischen Abstufungen und Verläufen. Aber es gibt noch andere nicht minder bedeutsame Gesichtspunkte. Wieder wollen wir POPHAL sprechen lassen, und zwar über seine der Bewegungsphysiologie entnommenen Grundformen der „ H a l t u n g " und der „Versteifung".
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D e r Schreibdruck
Die Versteifung
(Spannung)
„Bei der (aktiven) B e w e g u n g k o m m t es i m M u s k e l z u r Spannungsentwicklung V e r e i n m i t L ä n g e n ä n d e r u n g , bei der a k t i v e n H a l t u n g liegt
im
Spannungsentwicklung
o h n e L ä n g e n ä n d e r u n g v o r . E i n Glied k a n n n u n auf zwei grundsätzlich verschiedene A r t e n durch M u s k e l s p a n n u n g .gehalten' w e r d e n : einmal nämlich dadurch, d a ß n u r der
M u s k e l in T ä t i g k e i t , also in a k t i v e A n s p a n n u n g
gerät, der der v o n
außen
angreifenden K r a f t , die das Glied andernfalls aus seiner L a g e bringen, also seine H a l t u n g v e r ä n d e r n w ü r d e , e n t g e g e n w i r k t . E i n e solche A u f r e c h t e r h a l t u n g einer stellung n e n n t die Bewegungsphysiologie eine H a l t u n g s i n n e r v a t i o n Graphologie
ungemein
wichtige
Abwandlung
der
Glied-
E i n e f ü r die
Haltungsinnervation
liegt
im
Sdireibdruck v o r . " (POPHAL, Hirnsdirift, 50.) „ D e r R e i b u n g s d r u c k (-Schreibdruck) ist bewegungsphysiologisch aufzufassen als eine Ü b e r l a g e r u n g einer B e w e g u n g s i n n e r v a t i o n v o m T y p einer H i n - und H e r b e w e g u n g o d e r aber einer E i n z e l b e w e g u n g m i t einer abgewandelten H a l t u n g s i n n e r v a t i o n , w o bei das schreibende O r g a n sich Reibungskräfte an der Schreibfläche erzeugt." (POPHAL, Grundlegung, 6 3 . ) „ W i r d ein Glied aber dadurch ,gehalten', daß nicht n u r die W i r k m u s k e l n , sondern W i r k e r u n d G e g e n w i r k e r gleichzeitig in a k t i v e A n s p a n n u n g versetzt werden, so liegt eine V e r s t e i f u n g s i n n e r v a t i o n
v o r . D a s ist beispielsweise der Fall, wenn m a n
die
Muskeln k r a m p f h a f t anspannt, ,sich zusammennimmt', um sich etwa einen Schmerz zu verbeißen. . . . Diese zweite U n t e r a r t der . H a l t u n g ' h a t biologisch ganz andere A u f g a b e n als die zuerst genannte H a l t u n g s i n n e r v a t i o n . D a d u r c h , d a ß bei ihr, n ä m lich bei der V e r s t e i f u n g s i n n e r v a t i o n ,
sämtliche das betreffende Glied
umgebenden
M u s k e l n , also W i r k e r und G e g e n w i r k e r , in gleichzeitiger m e h r oder m i n d e r starker Anspannung sind, wird das Glied z w a r auch .gehalten', aber diese A r t von I n n e r v a t i o n will nicht eine v o n einer Seite auf das Glied tatsächlich w i r k e n d e A u ß e n k r a f t k o m pensieren
bzw. wie
im Schreibdruck
aktiv
nach außen
tätig werden, sondern
ihren) Wesen nach dazu ausersehen, das Glied gegen mögliche E i n w i r k u n g e n allen
n u r d e n k b a r e n R i c h t u n g e n zu sichern u n d zu schützen. D i e
ist aus
Versteifungs-
i n n e r v a t i o n m a c h t also das Glied . . . m e h r oder m i n d e r steif dadurch, daß sie zu G e l e n k f e s t s t e l l u n g e n f ü h r t . . . " (POPHAL, H i r n s c h r i f t , 50). „ V e r s t e i f t e Bewegungen unterscheiden sich v o n u n v e r s t e i f t e n , lockeren, dadurch, daß sie v o n der geringsten bis zur höchsten Geschwindigkeit u n t e r a k t i v e r M i t w i r k u n g der G e g e n w i r k e r v o r sich g e h e n " (POPHAL, Spannungserscheinungen,
15).
D i e h i e r w i e d e r g e g e b e n e n D a r l e g u n g e n POPHALS sind, w i e o h n e w e i t e r e s ein-
leuchtend ist, grundsätzlich von höchster Bedeutung für das Verständnis des psydiophysischen Spannungsproblems. Die Anwendung auf die Graphologie wird uns noch zu beschäftigen haben. Z u n ä c h s t a b e r v e r f o l g e n w i r , w i e d e r a n d e r H a n d POPHALS, i h r e A u s w i r k u n g e n a u f d a s b e s o n d e r e u n d w i c h t i g e G e b i e t des b e i m S c h r e i b e n a u s g e ü b t e n
Drucks.
„ B e i m Schreibdruck, i n s o f e r n er eine H a l t u n g s i n n e r v a t i o n darstellt, h a t der w i r k e n d e Muskel (Agonist) . . . nicht eine v o n einer Seite w i r k e n d e A u ß e n k r a f t
abzugleichen,
sondern v i e l m e h r eine gegen die Schreibfläche gerichtete K r a f t h e r v o r z u b r i n g e n und
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Die Physiologie des Schreibens
somit bei der Schreibbewegung einen Reibungswiderstand zu überwinden . . „ D e r Druckspannung als einer abgewandelten Haltungsinnervation steht die Versteifungsspannung der Versteifungsinnervation gegenüber . . „ D i e einzig zutreffende Deutung der Druckstärke ist — im Gegensatz zur Versteifung als Gespanntheit — Spannkraft." „Eine Haltungsinnervation spielt beim Schreibvorgang in mehrfacher F o r m eine Rolle. Einmal zur Haltung aller der Gliedabschnitte des Schreiborgans, die nicht ausreichend gestützt oder unterstützt sind, zum andern zur Haltung des Schreibwerkzeuges selbst (Griffdruck oder Fingerdruck), und vor allem, wenn auch in abgewandelter Form, beim Schreib- oder Reibungsdruck." „. . . Was die Versteifungsspannung anlangt, so kann die versteifte Haltung, soweit sie am Schreibakt teil hat, aiuch die sozusagen gelenkige Verbindung zwischen den Fingern (Daumen, Zeige- und Mittelfinger) und dem Schreibstift betreffen, also das, was als Fingerdruck bezeichnet wird. Insofern vermag also die Art und Weise des Griffdrucks auch Kunde zu geben von der mehr lockeren oder mehr versteiften Führung des Schreibwerkzeuges" (POPHAL, Spannungserscheinungen, 16, 17).
Wir haben also mit Zuhilfenahme der Physiologie entscheidende Einblicke in das Phänomen des Schreibdrucks gewonnen. Nidit die symbolische Deutung allein, die den Schreibdruck als in den Schreibraum eindringende Tendenz versteht, sondern auch die Analyse der ihm zugrundeliegenden Haltungs- und Bewegungsphysiologie eröffnet, sichert, verbreitert und vertieft die Deutungsbereiche dieses Schriftmerkmals. Die zugleich von P O P H A L behandelte Versteifungs-Innervation erweist sich am deutlichsten an dem sogenannten „Finger- oder Griff-Druck". Diesen hat schon S A U D E K erkannt, ohne aber daraus entscheidende Folgerungen zu ziehen. Deutungsmäßig steht die ganz besonders von K L A G E S an die Grundlage seiner graphologischen und diarakterologischen Systematik gesetzte Gegenüberstellung von „Lösung-Bindung" in der nächsten Nähe. Sie wurde aber, wenigstens zunächst, von dem physiologiefeindlichen K L A G E S nur psychologisch gemeint und „erlebend" und morphologisch erfaßt. K L A G E S begnügte sich mit einer zweipoligen Diagnose „Lösung" oder „Bindung" und mußte Zwischenstufen zumindest diagnostisch beseite lassen. P O P H A L baut auf seiner Haltungs-Versteifungs-Lehre und den von ihm sehr verfeinert angegebenen Merkmalen der Haltung bzw. Versteifung eine nach sechs Graden abgestufte Versteifungsskala auf, die für die graphologische Arbeit sehr wichtig geworden ist.
Wir müssen uns hier damit begnügen, die einzelnen Spannungsstufen und Spannungstypen nadi P O P H A L mehr allgemein darzustellen. Die Abstufungen bewegen sich zwischen dem Minimum an unzureichender „Versteifung", die als „Haltlosigkeit" gekennzeichnet wird (I), bis zum Maximum an „überstarker" Versteifung (V), die als „Verkrampftheit" angesprochen wird. Dazwischen liegen die Stufe II mit „schwacher" Versteifung — „Lockerheit", die
Der Schreibdruck
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Stufe III mit „mittlerer" Versteifung —„Gehaltenheit", die in zwei Unterstufen eingeteilte Stufe IV, der „starken" Versteifung — „Gespanntheit". Diese Stufen zeigen an graphischen Merkmalen vor allem verschiedene Formen der „Bewegungsführung und Strichbeschaffenheit", welches Merkmal als komplexes und als Eindrucksmerkmal angesehen werden muß. Die diagnostische Schwierigkeit der Differenzierung wird durch vielfältige sprachliche Ausdrücke, also im Wege der subtilen Verbalisierung, etwas erleichtert. Die Stufe I der „Haltlosigkeit" und „mangelhaften Hemmung" soll zeigen: schlaffe, unelastische, spannungslose, saloppe, lasche, fahrige, sdilampige, ungezügelte, hemmungslose, ausfahrende, unsichere Strichführung. Stufe II der „Lockerheit" hätte als eigentümlich: fließenden, flotten, flüssigen, schlanken, glatten, geschmeidigen, elastischen, sdiwingenden, vibrierenden, graziösen, runden, weichen, biegsamen, anmutigen Strich — es ist die Grazie des jugendlichen Weibes, die in solchen (und in anderen) Merkmalen der zweckmäßigen Enthemmung in der Handschrift merkbar wird. — Beiden Stufen I und II ist eigentümlich Hyperkinese (Bewegungsreichtum). In der Stufe I I I der „Gehaltenheit und „zweckmäßigen Hemmung" wäre der Strich und die Bewegungsführung: zügig, fest, gehalten, gezügelt, bestimmt, straff, federnd, schnellend, dynamisch. Hier wird die Bewegung dem Umfange nach eingeengt und gedämpft (Hypokinese). Stufe IV a der „Gespanntheit" und „unzweckmäßigen Hemmung" wie auch der „mangelhaften Enthemmung" soll haben: einen straffen, gespannten, unelastischen, harten, eckigen, starren, monotonen, unlebendigen Stridi und ebenfalls (hypokinetische) Bewegungseinengung. Der Stufe IV b, die audi, aber in höherem Grade als IV a, Gespanntheit und „Gehemmtheit" aufweist, wäre adäquat: steifer, spröder, flußloser, unschlanker, brüchiger, lahmer, gestauter, adynamischer, „gefrorener", „klebriger", „viskoser", unsicherer, kraftloser, toter, „verglaster" Stridi. U n d schließlich hätte der Stridi der Stufe V, der „Verkrampftheit" und der „unzweckmäßigen Enthemmung", der „allgemeinen Bewegungsentgleisung" (Dyskinese) die Merkmale: zerstückt, zerhackt, zerbrochen, zittrig, ausfahrend, torkelnd, abrupt, springend, eckig, spitz. Es muß hier darauf verzichtet werden, näher in diese Versteifungsdiagnose einzuleiten. Auch einzelne Schriftproben könnten den noch nicht näher mit der Graphologie Vertrauten kaum weiter bringen. Es gehört eine große Erfahrung durch Beschäftigung mit sehr vielen und verschiedenen Handschriften und eine gut geschulte und zugleich gezügelte Eindrucksfähigkeit dazu, um die Versteifungsgrade richtig zu klassifizieren. Dies hat P O P H A L auch veranlaßt, eine noch gesichertere Methode zu suchen, um das „Strichbild" unterschiedlich
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II. Die Physiologie des Schreibens
zu erkennen. Leider ist seine darauf bezügliche Veröffentlichung (Das Strichbild, Stuttgart 1950) der großen Schwierigkeiten trotz ausgezeichneter Ansätze nicht wirklich Herr geworden. Es bleibt also in dieser bedeutungsvollen neuen Methode, die Schreibphysiologie, von der Strichführung her, in den Dienst der graphologischen Charaktererkenntnis zu stellen, nodi eine weitere, zum Teil technische Entwicklung abzuwarten. Zu erwähnen ist, daß neuestens ein interessanter Versuch veröffentlicht wurde, das Strichbild von Schizophrenen und von Epileptikern zu untersuchen (M. A . BREIL, Zschr. Menschenk. 1 9 5 9 , Heft 2 ; Psychiatrie et Neurologie, vol. 1 4 0 , Nr. 3 / 4 , 1 9 6 0 ) . Da das Strichbild graphisch die Bewegungsführung zeigt, diese aber auch noch in vielen andern Merkmalen der Handschrift erkennbar werden kann, die zum Teil durchaus konkreter Art sind (Bindungsformen, Schriftlage, Verbundenheitsgrad, Größe, Druck usw.), so helfen diese bei der Strichdiagnose mit. Andrerseits finden sich bei den von P O P H A L herausgearbeiteten Typen der Spannung und auch bei den von ihm angegebenen und beschriebenen Hirnschrifttypen charakteristische Strichformen. Mit diesen kann die moderne Graphologie sehr wohl arbeiten und darf auf sie nicht mehr verzichten. Nur das „Strich-Bild" im engeren Sinn, die innere Struktur des (vergrößert zu prüfenden) Strichs, seine Randgestaltung, seine „Durchsichtigkeit" usw. bedürfen noch einer technischen Sicherung und Vervollkommnung. Die Versteifungsabstufungen, die P O P H A L zu danken sind, sind also eine wichtige, vielleicht die wichtigste Vorwärtsentwicklung der modernen Graphologie. Sie werden denn auch in weitem Maße angewandt, manchmal etwas vereinfacht ( M Ü L L E R - E N S K A T ) , und gestatten bei Erfahrung und Sorgfalt, die diagnostische Arbeit mit weit größerer Sicherheit als bisher zu leisten.
4. Die Schreib-Eile (Geschwindigkeit) Die Schnelligkeit, mit der der Schreibakt durchgeführt wird, ist für die Deutung sehr interessant. und namentlich seine Schüler haben die Schreibgeschwindigkeit sogar als das entscheidende Grundfaktum der Schrift erklärt, von dem ausgehend die Natürlichkeit und Spontaneität beurteilt werden könne. SAUDEK
verdanken wir die ersten genauen Untersuchungen über die graphischen Merkmale der Schreibgeschwindigkeit. Denn an der fertig vorliegenden Handschrift kann diese ja nicht direkt gemessen werden. SAUDEK konnte z. B. die widitige Tatsache ermitteln, daß die Herstellung von kurvigen Verbindungen zwischen Auf- und Abstrich (bzw. zwischen Ab- und Aufstrich), also Arkaden, Girlanden, Doppelbogen, etwa ein Drittel der Zeit in Anspruch nehmen wie die Ausführung von scharf-winkligen Bindungen. Neuere UnterSAUDEK
Die Sdireibeile (Geschwindigkeit)
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suchungen haben allerdings gezeigt, daß ζ. B. gerade bei höchster Geschwindigkeit eckige scharf zugespitzte Rückstöße der Schreibbewegung auftreten können. Das graphologische Problem der Schnelligkeit wird dadurch besonders kompliziert, daß die physikalische Schnelligkeit (Maß des Schreibweges in der Sekunde) nicht nur nicht an der vorliegenden Schrift gemessen werden kann, sondern daß dieser Sachverhalt auch offenbar nicht zusammenfällt mit der persönlichen, der psychologischen Schnelligkeit. Denn diese ergibt sich eher aus dem Verhältnis der Hemmungen zu den Antrieben als aus absolut meßbaren Maßen. Amerikanische Untersuchungen (ALLPORT-VERNON) haben zudem nunmehr gezeigt, daß Sprech- und Zeichengeschwindigkeit (die auch das Schreiben umfassen würde) unabhängig sind von der durch das Klopfexperiment feststellbaren persönlichen, rhythmischen Geschwindigkeit, woraus gefolgert wurde, daß es überhaupt keinen Beweis für ein einziges durchgehendes „persönliches Tempo" gäbe — das doch von MEUMANN, namentlich aber von E. KRETSCHMER, als Typenmerkmal angenommen wird. In der Graphologie wurde, besonders von MAX PULVER, dann auch von POPHAL, unterschieden zwischen der subjektiven, einer Person eigentümlichen Schreibgeschwindigkeit, und der etwa dem ungefähren allgemein vorkommenden Durchschnitt entsprechenden Geschwindigkeit. Jeder kann sein eigenes Durchschnittstempo nach tatsächlichen besonderen Umständen steigern oder mäßigen, was dann für die Deutung wichtig wäre. POPHAL hat folgerichtig, auch was die Schnelligkeit anbetrifft, unterscheiden müssen zwischen Hin- und Herbewegungsschriften und Einzelbewegungsschriften. Dabei kommt er zu einer ungemein wichtigen Feststellung, daß nämlidi die Hin- und Herbewegung, die an sich elastisch verläuft und mit lockerer Haltung hergestellt wird, bei stärkstem Geschwindigkeitsimpuls zu Versteifungen und damit zur Verlangsamung kommt. Audi starker Reibungsdruck, also hoher Schreibdruck, beeinflußt die Elastizität und Lockerheit der Schrift wesentlich (nicht so sehr, wie KLAGES früher annahm, infolge der erhöhten Reibungswiderstände, sondern wegen der der Elastizität widerstrebenden Versteifung, die damit verbunden ist). Andererseits führt auch Langsamkeit der Schrift zur Versteifung und macht Hin- und Herbewegungen unmöglich. Vielmehr ergeben sich daraus Ungleichmäßigkeiten, unökonomische und schlecht koordinierte Bewegung, scharfe Winkelformen und Einzelbewegungen. Man kann unterscheiden zwischen der Verkürzung des Schreibweges (also kleine Schrift ohne große Längenunterschiedlichkeit, Enge usw.) und Strichgeschwindigkeit an sich, welch letztere das primäre Merkmal wäre (MÜLLER-ENSKAT). Es sei bemerkt, daß an der fertigen Schrift die Geschwindigkeit, mit der sie hergestellt wurde, zwar natürlich nicht gemessen, aber sehr wohl geschätzt 4 Pokorny, Handschriftendeutung
50
Die Physiologie des Schreibens
werden kann. Dabei soll man nicht den Eindruck an sich werten. Denn ζ. B. erscheint eine rechtsschräge Schrift schneller als eine linksschräge, was sich aber, besonders durch SAUDEKS Untersuchungen, als unrichtig erwies. (Soweit wir sehen, wird dies nur mehr von R . HEISS angenommen, während KLAGES davon in den späteren Auflagen seines Buches abgegangen war.) Denn gerade an der rechtsschrägen Schrift zeigt sich der Einfluß des sog. Leitbildes (KLAGES POPHAL) des Schreibers, also, grob gesprochen, sein Bestreben, schnell zu scheinen, was aber nicht immer mit dem wirklich Schnell-Sein zusammenfallen muß. Die graphologische Geschwindigkeitsschätzung erfordert sehr genaue Untersuchungen einer ganzen Reihe von Merkmalen, wie Strichflüssigkeit, Richtungskontinuität, Weite, Vorwärtsläufigkeit, Verkleinerung der Wortenden, Bindungsformen, Setzung der Oberzeichen usw. Erst auf Grund solcher Einzeluntersuchungen darf dann der Schnelligkeitsgrad angenommen werden, wobei entsprechend zu berücksichtigen ist, daß regelmäßig nicht alle Merkmale einheitlich für Schnelligkeit (oder Langsamkeit) sprechen.
5. Die Hirnschrift D a ß die Schrift nicht ein Erzeugnis der Schreibhand ist, sondern von zentralen Stellen, im Sinne der Physiologie, gesteuert wird, wurde schon im vorigen Jahrhundert erkannt, auf Grund von Schreibversuchen, bei denen mit der linken Hand, mit den Füßen, mit dem Munde Schriften hergestellt wurden, die, bei nur einiger Übung, den gleichen Grundcharakter zeigten wie Normalschriften. Dabei geht es nicht so sehr um die Funktion des schon lange lokalisierten „Schreibzentrums" in der Hirnrinde, das sozusagen nur Werkzeugcharakter hat. Es geht um kompliziertere Organe und auch um die eine wichtige Rolle spielende Miterregung (Irradiation) — welch letztere auch in der PAWLOWschen Lehre vom „bedingten Reflex" eine große Bedeutung hat (PFANNE, Zschr. Menschenk., 1954). Die Hirnrinde (cortex) hat in bezug auf die Schreibbewegung (und die Bewegung überhaupt) zunächst die Funktion, den Entwurf der Bewegung zu dirigieren. Die von der Hirnrinde geleitete und dieser eigentümliche Form der Bewegung ist nach POPHAL durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: differenzierte Einzelbewegungen, die unrhythmisch verlaufen, starke Versteifung, Regelmaß, Langsamkeit, Druckschwäche, gute Gliederung unid Vorliebe für Stilisierung der Schriftformen. (All diese Eigentümlichkeiten verweisen, in psychologischer Anschauung,auf das vonKxAGES als „Geist",logos, dem „Leben", bios, entgegengesetzte spezifisch-menschliche Prinzip, so daß sich hier, ungewollt oder sogar gegen den Willen, eine Koinzidenz eines rein physiologischen Gesichtspunktes mit einem rein psychologischen ergibt.)
D i e Hirnschrift
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Die dem Hirnstamm (subcortex) eigentümliche Form der Bewegung kennzeichnet sich, nach POPHAL als Schreibbewegung, u. a. durch: Gleichmäßigkeit, gute Verbundenheit, mittlere Längenausdehnung und mittlere Größe bei Betonung der Unterlängen, elastische Hin- und Herbewegungen usw. Dem Hirnstamm (Basalganglion) gehören mehrere Zentralorgane zu, die für die Bewegung und im besonderen für die Schreibbewegung wichtig werden können: das corpus striatum (Streifenkörper) und der globus pallidus. Das Striatum funktioniert bewegungshemmend und bewegungseinengend (Hypokinese), das Pallidum dagegen bewegungsvermehrend (Hyperkinese). Diese unterschiedlichen Einflüsse ließen sich in Fällen feststellen, in denen je eine dieser Zentralstellen funktionell oder anatomisch ausfiel oder Unterfunktion zeigte (Syndrome). Hand in Hand mit der spezifischen Bewegungsweise gehen auch Unterschiede der Spannung (tonus). Bei striärer Hypokinese ist die Spannung gesteigert (Hypertonie), bei pallidärer Hyperkinese hingegen herabgesetzt (Hypotonie). Die hyperkinetische, also bewegungsreiche und mittelpunktsflüchtige Pallidumschrift hat, nach POPHAL, hauptsächlich die folgenden graphischen Merkmale: Bewegungsvermehrung, Bewegungsunruhe; Größe, oft im Verein mit Enge (also Zentrifugalität in der Vertikalrichtung), Schnelligkeit, Weite, oft im Verein mit Kleinheit (also Zentrifugalität in der Horizontalrichtung), unrhythmische Hin- und Herbewegung, Verbundenheit, steigende oder schwankende Zeile, Verlängerung der Anfangs- und Endstriche, vergrößerte Längenuntersdiiedlichkeit, Schrägheit, Druckverstärkung oder unregelmäßiger Druck, Ungleichmäßigkeit, aufgelöste Buchstabenformen, niedrigster Versteifungsgrad (I), aber im Wechsel mit dem höchsten (V), flott-schwungvollen oder aber ausfahrendsdiwunglosen Stridi (je nachdem es sich um ein „biologisch starkes oder schwaches" Pallidum handelt). Die psychologischen Inhalte eines pallidären Typs sind, je nach dem biologischen (hohen oder niederen) Wert, u. a. : Lebhaftigkeit, Beweglichkeit, Antriebslebhaftigkeit, Spontaneität, Initiative, Triebabhängigkeit, Instinktgebundenheit; Unmittelbarkeit, Unbewußtheit, Unwillkürlichkeit, Primitivität, Natürlichkeit, Extraversion, gesteigerte Emotionalität, „Weg der Musik und des Tanzes". Oder: Unruhe, Ungeduld, Aufgeregtheit, Reizbarkeit, Infantilismus, Konzentrationsmangel, Formlosigkeit, Aufmerksamkeits- und Merkschwäche, Inkohärenz des Denkens, Zerfahrenheit, Willensschwäche, Vitalschwäche, Anpassungsmangel. Die hypokinetische Striatum-Schrift weist auf: Bewegungsverminderung, Kleinheit, Langsamkeit, Enge, erschwerte „abgebaute" Hin- und Herbewegungsformen (deren Diagnose ebenso schwierig ist wie diese komplizierte, mehr spekulativ erdachte als beobachtete Kategorie selbst es ist!), Magerkeit der 4»
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D i e Physiologie des Schreibens
Formen, Mittelpunktsstrebigkeit (Zentripetalität), verminderte Rechtsläufigkeit, Druckschwäche, fallende Zeile, steifer, spröder, flußloser Stridi, starke Versteifung (IV), unscharfe Winkel und Arkaden, Steilheit usw. Psychologisch ist der Striatum-Typus wie folgt charakterisiert: Mangel an Spontaneität und Initiative, an Frische, geringe geistige Regsamkeit, Verflachung der Interessen, ertragsarmes Denken, Entschlußschwierigkeiten, seelische Schwerfälligkeit, Tätigkeitsunlust, Langweiligkeit, Geduld, Vitalschwäche, Triebschwäche, Introversion, allgemeine Gehemmtheit, Anpassungserschwerung usw. Um dem Niditfachmann eine Enttäuschung zu ersparen, muß wieder hinzugefügt werden, daß diese Merkmale, die POPHAL anführt, kaum jemals in einer Handschrift vereinigt und unwidersprochen durch abweichende oder gegensätzliche Merkmale vorkommen. Das ist auch nicht möglich und darf nicht erwartet werden. Denn jedem „Typus", den die menschliche Wissenschaft oder Überlegung gefunden und gezeichnet hat, haften unbedingt Unvollkommenheiten an. In der Praxis, beim jeweilig untersuchten Individuum erweisen sich die Typen aller Systeme, also auch des PoPHALsdien Hirnsdirift- oder Versteifungstypen-Systems niemals als rein und vollständig. Sie sind immer entweder Ideal- oder Durchschnittstypen, und damit muß man sich grundsätzlich abfinden. Aber sie sind heuristisch, als „Such-Modell" f ü r die charakterologische Diagnosearbeit von hohem unentbehrlichem Wert. Das gilt f ü r die PoPHALschen Typen ganz besonders. Es ist Sache des Forschers gewesen, die physiologischen Bewegungstypen zu erkennen und zu beschreiben. Ebenso ist es Forschungsaufgabe, die ihnen entsprechenden psychologischen Typen zu finden und zu sichern. Diese Aufgabe ist nur grundsätzlich als gelöst anzusehen. Es bleibt weiter der Forschung auferlegt, das bisher Erkannte weiterhin zu kontrollieren, zu sichern, zu erweitern, zu vertiefen und nötigenfalls zu modifizieren. Inzwischen aber sind die Forschungsergebnisse der praktischen Arbeit an der Schrift zur Verfügung gestellt worden und sie werden vom Graphologen angewandt. Er ist naturgemäß weniger am „Bewegiungs-" oder „Spannungstyp" an sich interessiert, als an der psychologischen Seite desselben. Aber, wie immer, ist das Psychologische niemals an sich, sondern immer nur an dem Körperlichen merkbar und erkennbar. Daher muß der gewissenhafte Graphologe die physiologischen Schrift-Typen genau kennen, was natürlich ebenso f ü r alle anderen seriösen Systeme gilt. Das Zentralphänomen der PoPHALschen Typen ist das der Spannung, des Tonus. Dieser ist auch sonst unter wechselnden Bezeichnungen (Vitaltonus, Biotonus [EWALD], Vitalität, tension) in den Mittelpunkt der psychophysischen wie der „anthropologischen" Anschauungs- und Arbeitsweise gestellt.
Die Vitalität. Die Graphotherapie
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6. Die Vitalität Über die Vitalität und ihre Beziehung zur Handschrift hat der Berliner Graphologe CARL GROSS (F 1943) an der Berliner Charité wichtige Untersuchungen angestellt. E r untersudite d o n zahlreiche Handschriften von sog. „HypophysenSchwächlingen", also von Kranken, deren Hypophyse in reduziertem Maße funktionierte und bei denen dies einwandfrei medizinisch festgestellt war. Es kam GROSS dabei nicht auf die Hyophyse an sich an, sondern darauf, daß solche „Hypophysenschwächlinge" das zeigten, was man „Vitalschwäche" nennt. Seine Forschungen ergaben eine ganze Reihe von Schriftmerkmalen der Vitalschwäche, z. B. die Neigung zur Verlängerung von Anstrichen, Druckunregelmäßigkeiten, teilweise Schriftverkümmerungen, Kontinuitätsstörungen, Strichunterbrechungen, Tremor, unrhythmische Schwankungen usf. Es ist interessant, daß GROSS von seinem physiologisch-medizinisch fundierten Ausgangspunkt zu ganz ähnlichen morphologischen Befunden kam wie RODA WIESER, die aus der Untersuchung und Vergleichung von Hunderten von Verbrecherhandschriften den Begriff und die Erscheinungsform des graphischen „Grundrhythmus" aufstellte und beschrieb. Hier sei hinzugefügt, daß Vitalschwäche sowohl hirnphysiologisch (vegetativ) als auch endokrin begründet sein kann. Nicht nur die Hypophyse als endokrines Organ, sondern auch andere Drüsen innerer Sekretion, vor allem die Schilddrüse, die Keimdrüse, die Nebenniere, können mit Vitalschwäche in Zusammenhang stehen. Aber auch das Zentralnervensystem (Thalamus) wird als damit verbunden angesehen.
7. Graphotherapie Die Erkenntnis der großen Bedeutung, die das Phänomen Spannung (tension, stress, tonus) für die Lebensanpassung und die Charakterbildung hat, ist allmählich von der diagnostischen zur therapeutischen Stufe gediehen. Spannung ist nicht nur ein vitales, sondern auch ein expressives (Ausdrucks-) Faktum. Denn psychische Spannung erscheint in erkennbaren körperlichen Symptomen. Bildhaft richtig, könnte man sagen, daß die Spannungssymptome, die am Leib sichtbar und wirkend werden, von der Seele ausgehen. Die Umkehrung dieses (fiktiven) Wirkungsweges versucht nun, durch die Beeinflussung der somatischen Spannungserscheinungen vom Körper aus auf die Seele zurückzuwirken. Das ist Sinn und Weg der verschiedenen Methoden, die als Entspannungstherapie, autogenes Training, Atmungstherapie, Meditation, Yoga, Zen immer und überall geübt wurden und die in unserer überspannten Zeit besonders stark gesucht und gepflegt werden. Man wird dabei nicht übersehen dürfen, daß alle diese Methoden nicht an der Oberfläche der direkten Wirkung eines umschriebenen Einflusses bleiben, etwa
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Die Physiologie des Schreibens
Atmung, Lösung eines Muskels. Vielmehr zielen sie, bewußt und planmäßig, auf einen Ausnahmezustand hin, innerhalb dessen erst die gewünschte U m stellung gelingt. Es geht also wirklich und wahrhaftig um einen Angriff auf die ganze Lebenshaltung. Aber dieser geht von einer sehr umschriebenen Stelle aus und das gerade ist offenbar eine der Hauptursachen der großen Wirkung. Es ist nicht verwunderlich, daß neuerdings mit Erfolg eine „Graphotherapie" gelehrt und geübt wird. Namentlich der französische Graphologe R . TRILLAT hat durch systematische Beeinflussung und Übung der Schreibbewegung Heilung oder doch Erleichterung von psychisdien Schwierigkeiten bei Kindern und bei Erwachsenen erzielen können. Durch sorgfältig gewählte und angepaßte Schreibund auch durch Kritzelübungen wird die H a n d , der Leib und damit die Persönlichkeit wirksam beeinflußt. In der Schreibpädagogik ist dieser Gedanke schon seit längerer Zeit bekannt und gepflegt. Ein vielleicht nicht ganz klar durchdachtes, aber eindrucksvolles Beispiel ist die Umstellung des Schreibunterridites von der Rechtsschräglage zur Steilschrift, die nach dem ersten Weltkrieg in einem großen Teil von Europa durchgeführt wurde. D i e Mißlichkeiten und Untugenden, die bei den Schreibkindern vorher auftraten, die schlechte Haltung des Körpers und des Kopfes sind seither wesentlich gebessert worden. Sicherlich hat dabei die von der Steilschrift nicht zu trennende Spannungshaltung durch Ausstrahlung die schlaffe Bequemlichkeit, die mit der „natürlichen" Schrägschrift verbunden ist, gemildert und gebessert. Systematische Beeinflussungen der Kinderschrift beschäftigen immer wieder eins i c h t s v o l l e P ä d a g o g e n (LEGRÜN, SCHWUNG, DAIM USW.). I n d i e s e m
Zusammen-
hange sei auch auf den sehr ungünstigen Einfluß hingewiesen, den die Verb r e i t u n g d e r u n e l a s t i s c h e n K u g e l s c h r e i b e r ( B I R O , GLOBUS, R O L L E X USW.) f ü r d i e
Schulkinder haben. Sorgfältige Untersuchungen lassen keinen Zweifel darüber, daß Fahrigkeiten, Ungenauigkeiten, Laxheit, mangelnde Spannungsanpassung mit dem Gebrauche dieser Schreibgeräte durch Kinder im
Zusammenhange
stehen (Iserlohner Schreibkreis, Mai 1958). Zum Schluß sei noch auf ein altes, einfach scheinendes Experiment hingewiesen, das vor rund 60 Jahren der Wiener Physiologe und Otologe Prof. D r . VIKTOR URBANTSCHITSCH machte und veröffentlichte. Er ließ, während seine Versuchspersonen auftragsgemäß etwas schrieben, einmal einen hohen, dann einen tiefen T o n erzeugen. Es erwies sich, daß während der Dauer des hohen Tones die Schrift die Tendenz zu steigender Zeilenrichtung, Verkleinerung
und Verengerung
der Buchstaben
und zu Verstärkung
des
Muskeltonus zeigte. Umgekehrt traten in Begleitung des tiefen Tones die Neigungen auf, fallende Zeilen, große Buchstaben herzustellen, und die Unsicherheit der Federführung vermehrte sich bei gleichzeitiger Verminderung
des
Die Graphotherapie
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Muskeltonus. Der hohe Ton begünstigte also Versteifungserscheinungen, der tiefe Ton dagegen Lösungsersdieinungen. Dabei muß man bedenken, daß das „hoch" und „tief" des Tones nichts mit räumlicher Höhe zu tun hat, ebenso aber audi, daß das Steigen oder Fallen der Zeile bei horizontaler Schreibflädie nicht mit einem Oben oder Unter verbunden ist. Es handelt sich also um erlebnismäßige Korrelationen, die sicher mit dem „Körperschema" in Zusammenhang gebracht werden können. Es gibt wenige, nodi dazu so einfache und einsichtige Experimente, die die unlösbare Einheit von Leib und Seele so deutlich machen, wie dieser leider in Vergessenheit geratene Versuch U R B A N T S C H I T S C H S .
III.
Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie Die Graphologie ist eine psychologische Wissenschaft. Sie ist psychologisch in einem zwiefachen Sinn: zunächst liegt ihr Ausgangspunkt als Wissenschaft in der Psychologie des Ausdrucks, also des körperlich erkennbaren Erscheinens seelischer Fakten. Die Graphologie gehört daher in den weiteren Rahmen der Ausdruckswissenschaft, neben der Physiognomik und Mimik, welch letztere allerdings noch weit unter der durch die Graphologie erreichten Entwicklungsstufe stehen. Sodann mündet die Graphologie aus in die Persönlichkeitspsychologie. Das, was der Graphologe aus der Handschrift über die Eigenschaften des Schreibenden erkannt hat, muß er nun psychologisch und charakterologisch richtig verarbeiten. Seine Synthese muß die graphischen Merkmale und ihre Deutungsinhalte zu einem geschlossenen Charakterbild vereinigen.
1. Ausdrucks-Psychologie Die Ausdruckswissenschaft ist noch jung, ungefähr gleichen Alters wie die Graphologie als Wissenschaft. Sie hat sich etwa parallel mit der Graphologie entwickelt, was bemerkenswert und verständlich ist. Denn die Handschrift als Träger seelischen Ausdrucks ist weit besser als der physiognomische oder mimische Ausdruck zur sorgfältigen Untersuchung geeignet. Die „fixierten" Ausdrucksbewegungen der Schrift können ohne Schwierigkeit sorgfältig unter Zuhilfenahme technischer Hilfen (Lupe, Maßstab, Beleuchtung usw.) untersucht werden. a) Der Ausdruck Ausdruck im allgemeinen Sinn umfaßt alle Bewegungen und Veränderungen des Körpers oder am Körper, durch die seelische Vorgänge, Veränderungen oder Zustände nach außen merkbar werden. In diesen weiten Begriiïsumfang gehören hierher alle unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen und Veränderungen am Körper, also auch alle durch Übung oder Konvention zweckmäßig, durch „Zweckbewegungen" produzierten Mitteilungstätigkeiten, wie Sprechen, Sprache, Gebärden, Gesten und Schrift.
Ausdruckspsychologie - Das im Ausdruck erscheinende Seelische
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I m engeren Sinn versteht m a n unter Ausdruck jene u n b e w u ß t u n d unwillkürlich oder automatisch zustandekommenden Veränderungen u n d Bewegungen am Körper, die, ohne d a ß ein Mitteilungszweck beabsichtigt ist, seelische Vorgänge zeigen, wie etwa Lachen, Weinen, ferner ganz allgemein die körperlichen Begleiterscheinungen aller Affekte, wie Steigerung oder Herabsetzung der H e r z t ä t i g k e i t (Puls), der Atmung, der D r ü s e n f u n k t i o n (Schweiß, Speichel, T r ä n e n usw.). Auch alle Zweck'bewegungen, wie Gehen, Schreiben, Sprechen, Sich-Halten usw. tragen, sofern sie automatisiert ablaufen, immer ein ganz persönliches Timbre, einen persönlichen Ausdruck an sich. Das trifft in besonderem Maße f ü r die Handschrift zu, obgleich sie nach Vorlagen erlernt u n d z u m Zwecke der Mitteilung hergestellt wird. Ausdruck enthält begrifflich das M o m e n t der Bewegung im zwiefachen leibseelischen Sinn. E r ist körperliche Bewegung. U n d er steht im untrennbaren Zusammenhang mit seelischen Vorgängen, vor allem mit „Antriebserlebnissen". D i e körperliche Statik, die Architektur u n d die Form des Leibes, die Gegenstand der Physiognomik im engeren Sinn ist, also Wuchs, Fettpolster, Skelettbau, K ö r p e r - u n d Gesichtsform, H a n d f o r m usw. ist nicht Ausdruck, ist nicht einm a l ausdruckerzeugend, w o h l aber in eminentem M a ß e ausdrucklenkend. D a der K ö r p e r b a u nach den heutigen Erkenntnissen konstitutionell mit dem C h a rakter ( „ T e m p e r a m e n t " ) zusammenhängt, läßt er z w a r in gewissem U m f a n g e psychologische Folgerungen zu, aber nicht als Ausdruck, sondern als K o n stitutionsform. D e r Typus wie die Individualität h a t immer eine je besondere, individuelle oder typische Ausdrucksform, die in hohem G r a d e individuell kons t a n t ist (ALLPORT).
b) Das im Ausdruck erscheinende
Seelische
N u r im körperlich erscheinenden u n d somit sinnlich w a h r n e h m b a r e n Ausdruck ist Seelisches erkennbar. Das, was körperlich ausgedrückt wird, m u ß unterschieden werden: in seelische Grundtatsachen, wie Charakteranlagen, Fähigkeiten, Eigenschaften, Temperament, Spannungszustand, also den seelischen Status der Persönlichkeit; und in seelische Veränderungen, wie Gemütsbewegungen, Gemütsstimmungen, Affekte, Gefühle, Wollen, Begehren, Denken, also seelische Bewegungen. (Hierbei ist „seelisch" in dem allgemeinsten, auch das Geistige u n d Triebliche umfassenden Begriffsumfang, also als Nicht-Körperliches, verstanden.) D a ß der seelische „Status" nur relativ stabil und nicht etwas wirklich R u h e n des, Bleibendes ist, sei betont.
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Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
„Man kann Seelisches niemals erfassen, wenn m a n übersieht, daß im seelisdien Leben ein Ablauf, ein Fließendes, ein Leben in der Zeit liegt!"
(SCHILDER, Medizinische
Psychologie, S. 9.)
Der Charakter verändert sich im Laufe des Lebens, als Folge der Entwicklung von innen, wie unter dem Einfluß äußerer Umstände. Was an ihm bleibend ist, was hinzuerworben, was wesentlich und was nur oder mehr nach außen gerichtet ist, ist eine reiche Problematik, die die Psychologie, besonders die Tiefenpsychologie, die Biologie (Vererbungslehre), die Pädagogik immer neu beschäftigt. Mit dem allgemeinen Vorbehalt, daß auch der seelische „Status" nur relativ stabil ist, kann man immerhin ein statisches und ein bewegliches Seelenleben unterscheiden. Der seelische „Status" wird sowohl im stabilen Körperbau, in der Ardiitektonik des Leibes, wie audi in allen körperlichen Bewegungen offenbar. Beispiel: der wohlbeleibte Pykniker lacht, geht, sitzt, schreibt anders als der magere Leptosome, und jeder von beiden anders als der muskulöse Athletiker. Seelische Veränderungen und Bewegungen hingegen drücken sich nur durch körperliche Veränderungen und Bewegungen aus, nicht aber im Körperbau. Anders ausgedrückt: Der körperliche Status offenbart nur den seelischen Status. Die körperlichen Veränderungen aber erweisen zugleich den seelischen Status wie die seelischen Veränderungen. Status in diesem Sinn bedeutet immer audi Ganzheitlidikeit, nicht etwa bloß die Summe von Teilen oder Einzelheiten. Diese Ganzheitserkenntnis wird um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert Allgemeinbesitz der Wissenschaft vom Menschen, in der Konstitutionslehre, in der „verstehenden" (DILTHEY), in der „personalistischen" (W. STERN) Psychologie, in der Psychoanalyse und von da aus in der Tiefenpsychologie überhaupt, in der Charakterologie, neuerdings in der modernen philosophischen Anthropologie, in der Psychosomatik, in der Lehre vom „Organismus" (K. GOLDSTEIN USW.). Es ist gewiß kein Zufall, daß der bedeutsame Aufschwung der Graphologie in der gleichen Periode der Geistesgeschichte und parallel mit der Entwicklung der Psychologie und der Charakterologie einsetzt. Denn nur unter dem epochalen Gedanken der Integration in der Seelenkunde und nur im Zusammenhange mit einer Persönlichkeitspsydiologie kann eine diagnostische Psychologie, kann im besonderen die Graphologie gedeihen. Die Handschrift als Bewegungsniederschlag drückt also zweierlei aus: die individuelle Eigenart der Gesamtpersönlichkeit und ihren gegenwärtigen Gemütszustand.
Ausdruckspsychologie - Leib-Seele
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Die Persönlichkeit bestimmt dabei sozusagen die Tonart, in der die besondere Melodie des Affektes oder der Gemütsbewegung vernehmbar wird. Und ebenso wie ein musikalisches Thema je nach der Tonart, heiter in Dur, ernst in Moll, wirkt, so erhält die persönliche Reaktion ihre besondere individuelle Nuance durch die Persönlichkeit als Ganzes. Zorn sieht in der Mimik und Pantomimik eines Cholerikers anders aus als bei einem Sanguiniker und ist doch bei beiden der gleiche Affekt. Anders und allgemeiner ausgedrückt: Die Psychomotorik ist typisch und individuell verschieden und unterscheidbar. Das wurde ganz besonders augenfällig am Schriftdruck durch die Druckkurven des Pyknikers, des Leptosomen und des Athletikers (zuerst durch ENKE gezeigt) und gilt durchaus und allgemein. Ebenso ist der leib-seelische Tonus, die Spannung (tension), typisch und individuell verschieden und unterscheidbar. c)
Leib-Seele
Der Ausdruck ist ein leib-seelisches Phänomen. Seine Betrachtung kann an der uralten Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen Leib und Seele nicht vorbeigehen. Viele sehen den Körper als das primäre, als das führende Prinzip an und manche finden im körperlichen Ausdruck die Ursache, ja das Wesen der seelischen Affekte. W. JAMES sagt geradezu: " . . . the m o r e rational Statement is that we feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble, and n o t that we cry, strike or tremble, because we are sorry, angry or fearful, as the case may be." (Richtiger ist es zu sagen, daß wir betrübt sind, weil wir weinen, böse, weil wir schlagen, ängstlich, weil wir zittern, und nicht, daß wir, je nach dem Fall, weinen, schlagen oder zittern, weil wir betrübt, böse oder ängstlich sind.) (The principles of psychology, vol. II, p. 4 5 0 . ) Ä h n l i c h sagte, f a s t gleichzeitig, a b e r u n a b h ä n g i g v o n J a m e s C . LANGE: „ D e m vasomotorischen System haben wir die ganze emotionale Seite unseres Seelenlebens zu danken" (Die Gemütsbewegungen, 2. Aufl., S. 89). Noch
drastischer
drückt
den
gleichen
Gedanken
der berühmte
Hirnforscher
T . MEYNERT aus : „Affekte sind eine W a h r n e h m u n g der Ernährungszustände
unseres Gehirns"
(Die
Mechanik der Physiognomik, 1888).
Für die scheinen Alkohol, logischen
physische Begründung von Affekten und seelischen Veränderungen die Wirkungen unterschiedlicher Drogen zu sprechen, wie Coffein, Nikotin, Opium, Meskal, Haschisch und die neuen pharmakopsydioPräparate, wie Benzendrine, Largactil usw.
Die Experimente von W.R.HESS (Helv. Acta Physiolog.Basel, 1947) an Katzen ergaben, daß durch elektrische Reizung bestimmter Stellen des Zwischenhirns
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D i e Psychologie des Schreibens und der Graphologie
sehr komplexe psychische Reaktionen, wie Aggression, Schlaf usw. hervorgerufen werden können, die mit Aufhören des elektrischen Reizes unvermittelt abbrechen. Auch die Lehre von den endokrinen (Blut-)Drüsen zeigt sehr differenzierte und verwickelte leib-seelisdie Zusammenhänge (vgl. POKORNY, Acta graphologica, Heft 1, 1 9 6 2 ) . Ein Beispiel, das aber weiter f ü h r t als zu einer einfachen Ableitung einer seelischen Tatsache aus somatisch-endokriner Wirkung, ist ein Beridit von E. B L I C K E N S T O R F E R (Psyche, Heidelberg, 1 9 5 2 , VI, H e f t 6 ) über den Einfluß hypophysärer Mutterschaftshormone: Körperlich zeigen sich dabei u. a. stärkere Entwicklung der Brustdrüsen und der Laktation, auch bei einem männlichen Patienten. Zusammen damit tritt eine gesteigerte Vorliebe für Kinder und weibliche Betätigungen auf, ebenfalls audi bei dem Mann. Der Autor aber macht nicht die physiologische Seite dieser Entwicklung, also die hypophysäre Wirkung f ü r die beobachteten seelischen Veränderungen verantwortlich. Vielmehr formuliert er seine Auffassung so: „Die Kranken hätten ihre krankheitsbedingte H o r m o n l a g e dazu ,benutzt', aus einer ,defiziären' Welt eine solche v o n tragender Geborgenheit, erfüllt v o n mütterlichem Empfinden, Wünsthen und Handeln zu konstituieren."
Die an sich physiologische Tatsache ist also nidit absolut als Verursachung wirkend, sondern nur im Ganzen des gegebenen Charakters und seiner Umweltbeziehung, somit relativ final, individuell und durchaus leib-seelisch. Auch das Endokrimium, die Gesamtheit der Drüsen innerer Sekretion, also ein physiologischer Faktor, werden nicht zufällig „ personality-glands" genannt. Denn sie stehen in einem ungeheuer wichtigen und einsichtigen Zusammenhang mit psychologischen und charakterologischen Fakten. Die „Umkehrung" des Ausdrucksprozesses, wie er in den Entspannungstherapien, in der Graphotherapie erfolgreich geübt wird, indem vom körperlichen Fakt der Spannung ausgehend auf die seelische Situation Einfluß gewonnen wird, liegt ebenfalls auf der Ebene dieser Anschauung. In den gleichen Zusammenhang gehören auch die absiditlich-bewußt herbeigeführten und gestalteten Ausdrucksbewegungen, durch die sich der Schauspieler, der Mimiker, aber auch der einfühlende Psychologe in den Seelenzustand zu setzen sucht, den er erleben oder verstehen will. Freilich wird dabei immer nur ein Ausschnitt der körperlichen Ausdrucksbewegung erfaßt werden können (JAMES). Aber das genügt im allgemeinen. Der „äußeren" Nachahmung folgt die innere, folgt Einfühlung und Mitschwingung. Und sogar, wenn das versagt, weil angesichts irgendwelcher absichtlicher oder hysterischer Übertreibungen auf der anderen Seite ein gemütlicher Rapport, ein Verständnis nicht erzielbar ist, wird die versuchte „äußere" Nachahmung verständnismäßig weiterführen und die Lüge, Verstellung, Simulation oder anormale Situation erkennen helfen.
Ausdruckspsychologie - Leib-Seele
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Aber alle diese Tatsachen beweisen nicht, d a ß die seelischen Veränderungen nur körperlich bedingt sind. Sie zeigen nur, d a ß sie a u c h körperlich bedingt sein können, u n d erweisen damit gerade die psychophysische Einheit, die reversibel, korrelat, aber nicht durchaus kausalverbunden ist. D e r eben vorgeführten physiologisch-materialistischen Auffassung des LeibSeele-Problems entgegengesetzt ist die spiritualistische, die an dem Beispiel des Psychiaters P A U L S C H I L D E R , eines der bedeutendsten K ö p f e der modernen medizinischen Psychologie, auseinandergesetzt werden soll. Schilder betrachtet als das Wesentliche der leibseelischen Relation die Triebenergien, also etwas Nicht-Körperliches. E r sagt: »Wir kommen zu der Anschauung, der Körper sei ein Form gewordener psychischer Vorgang, der in seiner Struktur die innere Verwandtschaft zur Psyche zum Ausduck bringt. In der Hirnorganisation tritt diese Verwandtschaft am klarsten hervor" (Medizinische Psychologie, S. 59). E r weist hin auf die Veränderung der feinen Blutgefäße (Capillaren) bei N e u r o t i k e r n , auf psychogene Durchfälle, Verstopfungen, Menstruationsbeschwerden, auf die psychische Genese von K r ö p f , von BASEDOW, von Lungenblutungen usw., besonders aber auf die Beziehung zwischen A f f e k t i v i t ä t und Blutdrüsen (Drüsen innerer Sekretion) usw. Was aber soll man wohl anfangen mit einem „Form gewordenen psychischen Vorgang"? Ist diese Form, also der Körper, n u n etwas Psychisches oder etwas Physisches? Andererseits sind die von Schilder aufgezeigten Beziehungen, die heute unter dem Begriff der Psychosomatik zusammengefaßt u n d erweitert sind, keineswegs ein schlüssiger Beweis f ü r die Priorität des Psychischen, sondern viel eher neuerlich, aber von der anderen Seite her die Bestätigung einer leib-seelischen Einheit, in der es keine D o m i n a n z eines der beiden Teile, sondern eine Korrelation, eine Gleichberechtigung, eine Unzerteilbarkeit gibt. Übrigens ist Schilder trotz seiner ausgesprochenen Betonung des Primates der Triebenergien im Leib-Seele-Komplex keinsewegs einseitig. Manche seiner Äußerungen können auch eine ausgleichende andere Auffassung bei ihm zeigen. Wenn er sagt: „Gefühle sind der Spiegel der Zuwendungen zu den Gegenständen. Gefühle haben eine körperliche Resonanz" (S. 66), so ist das nicht mehr ausgesprochen spiritualistisch zu verstehen. U n d weiter: „Mit den Gefühlen gehen infolge ihrer nahen Verbindung zum Körper eine Reihe körperlicher Veränderungen einher . . . wir können mit gleichem Recht von körperlichen Äußerungen der Triebeinstellungen sprechen, ζ. B. Puls, Atmung, Speidiel-, Schweiß- und Verdauungsdrüsen, Motilität des Magen-Darm-Traktes, das Gesamtgebiet des Vasovegetativen. Der Gesamtorganismus steht in unmittelbarer Abhängigkeit vom vasovegetativen System. Aber es gibt auch unmittelbare Beeinflussung
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Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
der Muskulatur durdi die Haltungen und Affekte. . . . Der ganze Körper erscheint schließlich nur als Instrument der Gesamthaltung . . . " D a s klingt stellenweise an einen mehr somatischen Aspekt an, scheint sich aber im Ganzen der organismischen Auffassung der J e t z t z e i t , wie sie v o r allem auch durch BUYTENDIJK vertreten wird, sehr zu nähern. D e r K a m p f dieses besonders klaren unvoreingenommenen Kopfes, der Schilder auf höchstem N i v e a u ist, mit dem Leib-Seele-Problem und seine fast auffällige Vorliebe
für metaphorische Ausdrücke lassen
erkennen,
wie schwierig
das
Problem ist, besonders, wenn die unbekannten, aber offenbar wesensverschiedenen Prinzipien „psychisch" und „physisch" in eine kausale Beziehung zueinander gesetzt werden sollen. KLAGES hat aus dieser Schwierigkeit eine radikale Konsequenz gezogen und lehnt es ab, eine kausale Beziehung zwischen K ö r p e r und Seele anzunehmen. „Der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele der Sinn des lebendigen Leibes", sagt er. Diese Formulierung kann nicht anders als brillant bezeichnet werden und ist ungeheuer eindrucksvoll, seit sie ausgesprochen wurde. Aber nähere Betrachtung zeigt, daß es dodi nicht ganz so blendend einfach damit bestellt ist. D a wäre einmal zu bedenken, daß „ L e i b " j a auch die statisdie architektonische Tatsache des Körperbaus u m f a ß t , die aber KLAGES gar nicht meint. D e n n er hat nur die ausdrucks-tragenden Veränderungen des Leibes im Auge. „ S i n n " , ferner, der die Seele in Bezug auf den lebendigen Leib sein soll, ist etwas Zweckgerichtetes, was KLAGES wiederum gar nicht meint. D a h e r spricht er andernorts besser und gehörigen
leiblichen
richtiger
Ausdruck
vom „Antriebserlebnis", das sich im zu-
verwirkliche.
Doch
audi
„Antriebserlebnis"
stimmt nicht ganz, denn audi ζ. Β . der Intellekt, an sich und in seiner B e t ä t i gung, kann ausdrucksbestimmend werden und ist gewiß kein „Antriebserlebnis". KRONFELD ( J a h r b . d . C h a r a k t e r o l o g i e 1 9 2 7 ) ironisiert dieKLAGESsdieGleichung: „. . . Man denke an den Trieb, sich bei einem Juckreiz zu kratzen, und sehe, wie wenig bei der ausdruckspsychologischen Formulierung herauskommt: das Kratzen ist der Ausdrude oder die symbolische Funktion oder der Hinweis des Triebes zum Kratzen und dieser ist der Sinn des Kratzens". T r o t z mancher Bedenken aber ist die KLAGESsche Formel ein großer Fortschritt, im besonderen deshalb, weil er damit eine Kausalbeziehung und einen Dualismus „Leib-Seele" abtut. Diese anzunehmen, ruht offenbar immanent als Denkkategorie in dem menschlichen Denken. HANS KUNZ spridit mit Recht von dem Leib-Seele-Dualismus unseres D e n k e n s " .
„tiefeingewurzelten
Ausdruckspsychologie - Der Sinn des Ausdrucks
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A b e r „alle A n w e n d u n g der Kategorie der Kausalität auf die reine Ausdrucksfunktion v e r m a g sie nicht zu erklären, sondern nur zu verdunkeln, weil sie ihr den C h a r a k t e r des
editen
,Urphänomens'
raubt"
(E. CASSIRER,
Phänomenologie
der
Erkenntnis,
S. 108).
Übrigens kommt der leib-seelischen Einheit, die den lebenden Organismus bildet, ein final wirkendes Element zu, eine „Gerichtetheit" (directivenes), eine in der Existenz, im Dasein des Organismus vorhandende steuernde Wirkung, der die Konstanz seiner Reaktionen und deren uns immer wieder überwältigende Sinn-Erfiilltheit zugeschrieben werden muß. Das Leib-Seele-Ganze existiert nicht nur, es wirkt audi an sich. Es ist nicht bloß da, sondern es ist auch so. Es bewegt sich nicht nur, sondern seine Reaktionen sind „gezielt" ( L . BERTALANFFY, Das biologische Weltbild). d) Der Sinn des
Ausdrucks
Ausdruck ist das OfFenbarwerden des Seelischen in körperlichen, also merkbaren Erscheinungen. Ausdruck liegt auf der Seite des Ich. Ihm entspricht auf der Seite des Gegenüberbefindlichen, des Du, der Eindruck. Diese Beziehung Ich-Du, AusdruckEindruck ist eine rein tatsächliche, eine an sich gegebene. Sie besteht eben. Beim echten unmittelbaren Ausdruck liegt keine Absicht, kein Wille, keine Zielsetzung zugrunde. Es gibt Ausdruck verschiedener Art. Es gibt einen Ausdruck an sich (den W E L L E K den intraindividuellen Ausdruck nennt). Beispiel: der Tierlaut, wie ihn vor allem K . L O R E N Z beobachtet und beschrieben hat, oder das Lächeln des Säuglings, das freilich einem Traumpartner zugedacht sein kann, oder der eine Zweckbewegung begleitende, unwillkürliche, vielleicht sogar unerwünschte Bewegungs-Timbre, der aus Erschrecken, Vorsicht, Angst erfolgen kann. Solcher Ausdruck repräsentiert schlechthin eine Emotion, ist aber weder der Anfang noch der Rest (wie DARWIN meinte) noch auch ein Teil einer realen Reaktion (BUYTENDIJK, Schmerz, S. 76). Dieser Ausdruck an sich kann, sozusagen nachträglich und von selbst, eine soziale Funktion erhalten, die man als „Kundgabe" bezeichnet. An sich liegt keine Absicht, auch keine kommunikative Tendenz zugrunde. Gleichwohl aber kann der Ausdruck innerhalb der gleichgestimmten Gemeinschaft vermöge seiner Erkennbarkeit und infolge der „gleichen Stimmung" mitteilend und mitführend wirken. Dieser Kundgabe-Ausdruck findet sich schon auf der Ebene des Tieres und ist von K. LORENZ und anderen modernen Verhaltensforschern vielfach und eingehend geschildert und untersucht worden. Er findet sich aber auch auf der höchsten Ebene menschlich-schöpferischer Werktätigkeit und wird da als „Stil" bezeichnet. Dies ist auch der Ort des persönlichen Schrift-Ausdrucks, der
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Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
unbeabsichtigt, unwillkürlich, aber mitteilend — wenn man seine Mitteilungssprache versteht — ist. Weiter gibt es einen gewollten, zielgerichteten und bewußt auf Mitteilung an andere, auf Verständigung eingesetzten Ausdrude, der in Sprache, Sprechen, Schrift und Schreiben, Gestik, Mimik erscheint. (WELLEKS inter-individueller Ausdruck.) Schließlich gibt es Ausdruck, der etwas gestalten, darstellen will. E r ist bewußt angewandt, gelenkt, geformt und ebendeshalb nur mehr zum geringen, vielleicht zum geringsten Teil spontan, mag er auch dem spontanen Darstellungs- und Gestaltungsdrang entstammen. Dieser Ausdruck, der spezifisch menschlich ist, wird von KLAGES auf die von ihm degradierte Wirkung des „Geistes" zurückgeführt, während dem „Leben", nach KLAGES, der unmittelbare, unreflektierte, naive (Gegensatz bei SCHILLER: „sentimental"!) Ausdruck entwächst. Nach POPHAL könnte man an Stelle von „Geist" die physiologische Qualifizierung „cortical", und statt „Leben" „subcortical" anwenden. Als „Material" der Darstellung können (nach WELLEK) dienen: Ausdrucksbewegungen überhaupt, die zu Gesten modelliert sind; ferner Willkür- und Zweckhandlungen, die nach ihrem ursprünglichen Sinngehalt, oder in symbolischer Verkleidung und Überhöhung in die darstellende Geste übernommen werden; z. B. militärisch-stramme Haltung, sportlich-kraftvolle Bewegungen, Würde-Haltung, die sog. „Zuchtschrift", die stilisierte Formen pflegt, usw. und alle schöpferische Tätigkeit. Am Beispiel der Handschrift könnten diese verschiedenen Ausdrudesformen, unter Beiseitelassung des Mitteilungszweckes der Schrift, etwa folgendermaßen exemplifiziert werden: Der Ausdruck an sich wäre in der ungekünstelten, spontanen, „natürlichen" Schrift gegeben. Der „kundgebende" Ausdruck erschiene in der „persönlichen" Handschrift, die, ohne Absicht des Schreibers, seine individuelle Eigenart zeigt, so daß diese, mindestens eindrucksmäßig, erkannt oder verspürt werden kann. Der „mitteilende" Ausdruck wäre durdi die Pflege oder Betonung besonderer Deutlichkeit und Lesbarkeit gegeben, also durch sorgfältige Gliederung, durch Absätze, Unterstreichungen u. dgl. Der»„darstellende" Ausdruck wäre in den stilisierten Schriften zu finden, wie s i e v o n STEFAN G E O R G E o d e r v o n R A I N E R M A R I A R I L K E v o r l i e g e n , o d e r i n d e r
wie mit einem Pinsel hergestellten Handschrift des Bildhauers BERNHARD REDER oder in Schnörkel-Schriften (POPHAL'S Selbstdarstellungs-Typ). Ausdruck an sich ist nichts als eine Lebensäußerung des Da-Seins, zugleich aber auch die Äußerung des augenblicklichen artgemäßen und individuellen So-Seins.
Ausdruckspsychologie - Der Sinn des Ausdrucks
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Ausdrude ist eine der mehreren möglichen „responses" (Reaktionen) auf einen von außen oder von innen kommenden „stimulus" (Reiz). Die Ausdrucksbewegung, sagt BUYTENDIJK, „repräsentiert die Absicht der Aktivität". Sie als Symbol der Handlung anzusehen, erscheint zwar handlich und praktisch brauchbar. Aber da Symbol etwas anderes vertritt, das nicht auftreten kann, Ausdruck aber autonom ist, darf man ihn begrifflich nicht als Symbol ansprechen. Denn die Aktivität muß nicht immer zum Handeln werden. Sie kann im Ausdruck allein erscheinen, ohne daß man von Rest, Teil, Ansatz, Symbol derselben sprechen darf. Ausdruck und Handlung entspringen aus demselben Punkt, da beide Reaktionen sind. Es ist aber etwas „anderes, wenn eine Katze mit geweiteten Pupillen, gesträubten H a a r e n , erhobenem Schwanz und fauchend auf einen näherkommenden H u n d reagiert („Repräsentation einer A k t i v i t ä t " ) , als wenn eine Krabbe ihre Scheren oder eine Waldameise ihre Kiefer öffnen und sich aufrichten, falls sie angegriffen werden" („Ausgangsstellung für den Angriff") (BUYTENDIJK, S. 76).
Der mimische Ausdruck für ein bitteres Erlebnis sieht so aus, wie der, der sich nach realem Bittergeschmack in der Mund- und Lippenregion einstellt. Beide mimische Formen gehen auf die gleiche Wurzel zurück, die eine bei einem seelischen, die andere bei einem sinnlichen Widerfahrnis. Aber man darf nicht sagen, daß der „bittere Mund" des Enttäuschten eine Rückbildung, ein Rest, oder ein Symbol ist der Chinin-Reaktion. Der graphische Ausdruck für „mobiles Wesen" ist Größe, Weite, Geschwindigkeit, Vorwärtsläufigkeit, Strichverlängerungen usw., alles zentrifugale Merkmale. Aber man ist nicht berechtigt, in diesen Bewegungs-Niederschlägen Restformen oder Symbole der Aktivität zu sehen. „Ausdrucksbewegungen", sagt GRUHLE, „sind Bewegungen, in die Seelisches zwecklos eingeht."
„Zwecklos" heißt, ohne auf irgend einen Zweck hingewendet zu sein, also einfach als Lebensersdieinung. Aber obgleich körperliche Reflexbewegungen (im engeren Sinn, nicht in dem außerordentlich erweiterten Sinn, wie ihn PAWLOW seiner Reflexologie zugrundelegt) nichts enthalten, was man als „psychisch" bezeichnen könnte, kommen Reflexbewegungen doch immer aus der Ganzheit des Organismus (KURT GOLDSTEIN), sind also, in diesem Sinne, determiniert und „persönlich" oder typisch. All diese Überlegungen geben Ausdruck für einen Sinn habe. daß alles Sein und Geschehen Vor-Urteil, diese Präsumption 5 Pokorny, Handsdiriftendeutung
immer noch keine Antwort auf die Frage, was Aber diese Frage setzt ja die Annahme voraus, einen Sinn und Zweck haben müsse. Ehe dieses nicht bewiesen ist, ist die Frage nicht berechtigt
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Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
und ihre Niditbeantwortbarkeit vielleicht ein Beweis ihrer Nichtberechtigung. Aber auch ohne einen Sinn im Ausdruck erkennen zu können, darf und muß seine unüberschätzbare Bedeutung als eine der Hauptgrundlagen allen sozialen Gemeinschaftslebens, das auch Tatsache an sich ist, zugegeben werden. Denn Seelisches, das sonst unerkennbar ist, wird im Ausdruck, nur im Ausdruck, erkennbar und daher soziale Tatsadie. e) Eindruck, Ausdrucksverständnis
und
Ausdrucksdeutung
Dem Ausdruck im Wesen und der Funktion nach analog, aber ihm polar entgegengestellt ist der Eindruck, also die Aufnahme und Wirkung des Ich-Ausdrucks beim Du. So wie die Tatsache des Ausdrucks als irreduzibel, also als im Grunde nicht weiter erklärbar sich erweist, so muß man auch der entsprechenden Tatsache des Eindrucks gegenüber unser „ignoramus" bekennen. Schöner umsdirieben: Eindruck ist ebenso primär und ebenso „irreduzibel" wie Ausdruck. So viele Versuche gemacht wurden, das primäre, naive Verständnis des lebendigen Ausdrucks, bei Mensch und Tier, wirklich klar zu machen, so wenig ist dies bisher gelungen. Das „Selbstverständliche", über das man sich im täglichen Leben, weil es täglidi passiert, nicht weiter den Kopf zerbricht, ist auch hier, wie so oft, ein nicht weiter erklärbares, ein letztes Faktum, das eben „ist" und kraft seines Seins wirkt und geradeso wirkt, wie wir es sehen. Was alles wurde herbeigeführt, um „Eindruck" und Ausdrucksverstehen zu ergründen: Einfühlung, Nachahmung, Resonanz, Ergriffen werden und Überwandern der Lebenswelle, „Anpassungsphänomene" und nodi mehr. Im Grunde zeigt sich gerade angesichts der Tatsachen des Ausdrucks-Komplexes besonders deutlich, daß das psychologische Denken vorwiegend, wenn nidit gar ausschließlich nach physiologisch-körperlichen Denkmodellen arbeitet und daher Metaphern als Weg zum Verständnis bringt. Wenn man redit überlegt, erscheint in dieser immanenten dem Körperlichen anhangenden Denkweise wieder dasselbe Prinzip, das Seelisches überhaupt nur in seinem körperlichen Ausdruck und nicht anders bemerken läßt. Stellen wir also, beschreibend, fest, daß Mensch und auch Tier die Fähigkeit eigen ist, den körperlich erscheinenden Ausdruck des Gegenüber zu „verstehen". Wir wissen angesichts der Zorn-Miene oder des Freundschafls-Lädielns genau, woran wir sind. Audi das Tier und sehr früh der Säugling vermag das, offenbar ohne daß unbedingt Erfahrung dazu gehört. Daß es besondere Begabungen auch auf diesem Gebiete gibt, ist kein Widerspruch. Daß dieses naive, unreflektierte und unmittelbare Verstehen, das man audi „naive Menschenkenntnis" nennen kann, der Ausgangspunkt jedes systema-
Die Charakterkunde in der Graphologie — Charakter
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tischen, reflektierten, analytischen und wissenschaftlichen Arbeitens auf dem Gebiete der diagnostischen Psychologie und Charakterologie ist, muß festgehalten werden. Das Irrationale, das darin unvermeidbar und notwendig gesetzt ist, bleibt an der Wurzel jeder lebenswissenschaftlichen Betätigung erhalten. D a ß aber "Wissenschaft, wenn sie es wirklich sein will, also audi Seelenwissenschaft, Charakterkunde, Graphologie darüber hinaus mit allen Kräften bestrebt sein muß, das Irrationale durch besondere Bemühung um Wahrhaftigkeit, Objektivität, Sachlichkeit und durch sachlich-rationale Methoden zu fundieren, zu sichern und damit auf eine höhere Ebene zu erhöhen, wurde schon ausführlich dargetan. Das Studium der Ausdruckslehre und ihre Anwendung bedeutet für den Graphologen wissenschaftlich eine Grundlegung und eine Integrierung seiner schrift-morphologischen Ausgangsfakten. Praktisch gibt ihm das Verständnis des Ausdrucks eine nie versagende Möglichkeit, die unzähligen, immer verschiedenen Schriftmerkmale, an sich und in ihren gegenseitigen und strukturellen Beziehungen, abzuleiten und immer neu zu verstehen. An Stelle des sozusagen lexikographischen Wissens um die einzelnen Zeichen ist damit das Verstehen aus einem gemeinsamen und grundlegenden Lebensphänomen getreten, das, richtig beherrscht, eigentlich nie versagt.
2. Die Charakterkunde in der Graphologie a) Der Charakter Das Hauptanliegen der Graphologie ist die klare Erfassung des Charakters. Was man unter „Charakter" versteht, ist in den verschiedenen Lehrbüchern verschieden definiert. Eine kaum glaubliche Vielzahl von Definitionen, die mehr oder weniger von einander abweichen (G. W. ALLPORT hat deren 50 gezählt), wurden von den verschiedenen Autoren vorgelegt. Auf sie hier einzugehen, ist nicht Aufgabe dieser Arbeit. Um so weniger braucht man sich damit eingehend zu befassen, als sowohl der gesunde Menschenverstand als auch die praktisch-diagnostische Psychologie sich in der Hauptsache doch recht klar darüber sind, was sie meinen, wenn sie einen „Charakter" beurteilen. Unter Charakter versteht man die Gesamtheit aller konstanten Eigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen, die ein Individuum als solches kennzeichnen und von einem anderen Individuum unterscheiden. Charakter ist kein Wertbegriff, obgleich er, namentlich in naiver Art, als solcher gebraucht werden mag. Die bedeutsamste Frage ist dabei, ob und inwieweit der Charakter unveränderlich oder veränderlich, also beeinflußbar ist. 5'
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Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
Und die für das Verständnis nächstwichtige Frage ist die η adi dem Verhältnis der einzelnen Charakterelemente untereinander, nach dem Aufbau des Charakters. Die erste Frage nach der Veränderlichkeit des Charakters fällt zum Teil zusammen mit dem Problem, inwieweit die Vererbung f ü r die Bildung des Charakters verantwortlich ist. So merkwürdig es ist, muß gesagt werden, daß dieses Problem, an dem schon F. G A L T O N 1 8 6 9 , also vor fast 1 0 0 Jahren zu arbeiten begann, immer noch nicht vollständig geklärt ist. Durch statistische, biographische und genealogische sowie tierexperimentelle Untersuchungen ist es sicher gestellt, daß gewisse Elemente des Charakters vererblich sind. Vor allem aber, wenn nicht ausschließlich handelt es sich dabei um Fähigkeiten, um die Intelligenz, um das musikalische, das mathematische Talent, um die Lernfähigkeit (die von T O L M A N Ζ. B. auch bei Ratten als vererbbar nachgewiesen ist). Fähigkeiten aber sind Eigenschaften besonderer Art, die anders als etwa Gefühlsqualitäten, wie Güte, Kühle usw. einen peripheren O r t des Charakterganzen besetzen, akzessorisch sind und mit der Persönlichkeit im engeren Sinn nur verbunden, aber nicht ihr immanent sind. Daher der immer wieder enttäuschende Unterschied zwischen den genialen Leistungen und dem menschlichen Verhalten, etwa bei Rousseau, Voltaire, Bismarck und vielen anderen. Sogar die so aussichtsreiche Forschung an eineiigen Zwillingen ergibt trotz aller Mühe höchstens statistisch, aber bei weitem nicht unbedingt und absolut die Vererblichkeit anderer grundlegender Charakterqualitäten wie Grundstimmung, Affektivität, Antriebsspannung ( G O T T S C H A L D T , E Y S E N C K , F R I S C H E I S E N - K O E H L E R U. a.). Diese unvollständige Aufklärung über die Vererblichkeit des Charakters ist um so unbefriedigender, als sie unserer vorgefaßten Meinung, ja Überzeugung, der Charakter sei konstant und die Konstanz sei ein wesentliches Element des Begriffs „Charakter", zuwiderläuft. Immerhin dürfte sicher sein, daß die Vitalität, also die Grundenergie und ihre Grade, und daß Elemente emotionaler, willensmäßiger, und vor allem eignungsmäßiger Art vererblich sind. Ferner ist gewiß und gesichert, daß Einflüsse der Umgebung, namentlich die der frühen Kindheit (nach der Psychoanalyse vor allen andern die der ersten drei Lebensjahre) die erbmäßig gegebene Anlage des Charakters beeinflussen, formen, beeinträchtigen kann. Auf dieser Tatsache und auf dieser menschheitsweiten und menschheitsalten Überzeugung beruht das ganze System der Erziehung, der Rechtspflege und der Religion. Ungewiß ist es, ob diese von außen kommenden Einflüsse und Eindrücke das konstante, „geprägte" Wesen des Charakters oder nur das Verhalten betreffen. Für die Gesellschaft genügt, kann und muß genügen, daß sie das Verhalten ihrer Mitglieder gestalten kann. Als unvermeidlich aber hingenommen wird und muß werden, daß es trotz jahrtausend alter systematischer, oft grausamer
Charakterkunde in der Graphologie — Der Charakter
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sozialer Erziehung immer und überall Individuen gab und gibt, die aus der Reihe fallen, als Einzelgänger, als Heroen, als Verbrecher, als Asoziale. Die PAWLOWsche Lehre vom „bedingten Reflex" vermag hier, ohne freilich ethisch zu befriedigen, die Gewißheit zu sichern, daß es Veränderungen durch Erziehung, Gewohnheit, Vorbild, durch Strafe und Lohn gibt und daß diese Veränderungen das Verhalten betreffen. Die weit tiefer blickende und reichende Lehre FREUDS vom „Über-Ich" als moralische Instanz, als Gewissen, das während der Frühkindheit nach dem Imago der Erziehungspersonen gebildet wird, sagt im Grunde sehr Ähnliches. Hier gelangen wir zu der für alle diese Fragen besonders wichtigen Auffassung der Psychoanalyse und der aus ihr erwachsenen tiefenpsychologischen Schulen: zur Lehre vom Unbewußten, von dem komplizierten und komplexen Mechanismus desselben, von den Phänomenen der Verdrängung, der Kompensation, der Sublimierung, der Überkompensation, des Arrangements, des „Schattens" und der persona, von allen den seelischen Erscheinungen, die Freud als erster zu erkennen, zu werten und psychologisch zu verwerten vermocht und gelehrt hat. In solcher Betrachtungsweise erhält das Problem der Veränderlichkeit und Beeinflußbarkeit ein gänzlich anderes Bild. Sowohl vom Standpunkt des Individuums wie von dem des Kollektivums ist dadurch für die pädagogisch und sozial Verantwortlichen Bedeutsames, ja Entscheidendes an Sicherheit und an der ihnen nötigen Zuversicht, aber auch an der ebenso unentbehrlichen Bescheidung gewonnen worden. Hier muß darauf hingewiesen werden, daß die neuere, auf dem Boden der Tiefenpsychologie stehende Lehre, von Dr. L I P O T S Z O N D I , die schicksalgestaltende Bedeutung des Unbewußten (das er als „familiäres" Unbewußtes dem FREUDsdien individuellen und dem JuNGSchen kollektiven anfügen möchte) betont und zu beweisen unternahm. S Z O N D I führt die Partnerwahl in Ehe und Freundschaft, die Berufswahl, sogar die Krankheiten und die Selbstmordtendenz auf die Wirkungen des familiären Unbewußten zurück. Vor S Z O N D I und von einem ganz anderen Ausganspunkt hat Charlotte B Ü H L E R schon vor 30 Jahren auf die psychologische Bedeutung des persönlichen Lebenslaufes aufmerksam gemacht. Diese Untersuchungen, Theorien, Erwägungen und Erfahrungen, die hier, sehr summarisch, herangezogen wurden, leiten zu der Annahme einer verhältnismäßig leichten gegenseitigen Verschiebbarkeit der Persönlichkeits-Elemente und zu einer den Umwelt-Verhältnissen entsprechenden Fähigkeit des Charakters, sich äußerlich und verhaltensmäßig anzupassen. Diese Äußerlichkeit ist als solche vom Standpunkt einer Vorweg-Annahme gegeben, es bestehe ein innerster unveränderlicher Kern der Persönlichkeit.
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Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
Heute ist es kaum mehr ernsthaft bestritten, daß der Charakter kein absolut stabiles, unveränderliches Faktum ist, ohne daß man dabei an einem Wesenskern zweifeln müßte. Der „Aufbau des Charakters", der zunächst und immer noch entscheidend trotz mancher späterer Modifizierungen von F R E U D („Es"-„Ich"-„Über-Ich") als Grundlage der heutigen Seelenkunde geschaffen wurde, ist in vielen wichtigen, unentbehrlichen Untersuchungen behandelt worden. ( R O T H A C K E R , L E R S C H , H E I S S und alle tiefenpsychologischen Sdiulen.) Aus diesem, mit der Entdeckung des Unbewußten und seiner Funktion entstandenen Gedanken entwickelte sich die Lehre von den „Schichten der Persönlichkeit". Das Studium dieser reichen und bedeutsamen Literatur ist, so mühsam manche Werke sein mögen, für den Graphologen und Charakterologen unentbehrlich. Auf sie im Einzelnen hier einzugehen, ist weder möglich nodi nötig. Wichtiger aber ist es, auf die entscheidende Stellung des Selbstgefühls hinzuweisen, das in jedem individuellen Charakteraufbau und in jeder persönlichen Lebensanpassung die zentrale Instanz ist. Von F R E U D ausgehend hat namentlich A L F R E D A D L E R das „Minderwertigkeitsgefühl" in den Mittelpunkt gerückt. F R I T Z K Ü N K E L , der Berliner Individualpsychologie entstammend, hat den ungemein wichtigen und fruchtbaren Begriff der „Ichhaftigkeit" aufgestellt, der durch Idischwächung begründeten Empfindlichkeit und Egozentrisierung aller Lebensreaktionen. Die Stärke des Selbstgefühls, der inneren Sicherheit bestimmt tatsächlich die gesamte Anpassungslage des Individuums. Unzulänglichkeiten oder deren Erlebnis bewirken eine Verschiebung und einen Gleichgewichtsverlust. Nicht nur die Kompensation solcher Unsicherheitserlebnisse, die manchmal fruchtbar, meist „unecht" werden kann, ist hier gemeint. Sondern die Verschiebung des Zielpunktes in allen Aktionen und Reaktionen vom Außen, vom Du, von der äußeren Realität auf das Ich und allein auf das Ich. An die Stelle der Sachlichkeit und Sachhingabe tritt die Ichhaftigkeit und das „Persönlichnehmen". Von hier aus gehen die Spannungen des Charakters, die psychophysisdi auftreten können. Von hier aus entspringt die Aufspaltung zwischen Sein und Schein, die zunächst keineswegs mit dem Sachverhalt der „Ehrlichkeit" zu tun haben muß, „Unechtheit" wird Unehrlichkeit erst, wenn bewußte Absicht, anders zu scheinen als man ist, hinzutritt. Das kann, von der Notlüge über die persona-Bildung zur Maske und schließlich zur Verstellung und Lüge sich in vielen Abstufungen äußern. Übrigens ist Unechtheit eine primäre Tatsache, während Ehrlichkeit und Unehrlichkeit beinahe immer ein Verhalten ist, das seinerseits oft genug aus der Aufspaltung von Sein und Schein erwächst. Die innere Spannung, die etwa beim Schizothymen eine typische wesentliche Erscheinung ist, ist für die Charaktererkenntnis ein ebenso wichtiger Faktor
Die Charakterkunde in der Graphologie — Typen und Typensysteme
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wie für die Charaktererscheiming. K L AGES hat mit seiner Gegenüberstellung der Lösungs-Bindungs-Symptome in der Handschrift die dynamische Natur des Tonus im Rahmen des Charakters erstmals erkennend wie deutend ins richtige Licht gestellt. G. E W A L D , der Psychiater, hat dann im Anschluß an K R E T S C H M E R (nicht an KLAGES!) eine interessante Typenlehre entwickelt, die auf dem „ B i o t o n u s " aufgebaut ist. U n d P O P H A L hat über die psychophysischen Spannungsersdieinungen im Zusammenhang mit der Handschrift besonders Wichtiges zu sagen. Der Gesichtspunkt der „Echtheit-Unechtheit" in Charakter und Handschrift führt zum punctum saliens der Charaktererkenntnis. b) Typen und
Typensysteme
H a t der Graphologe eine Handschrift geprüft, so muß er seine Ergebnisse zusammenfassen und formulieren. O b er vor sich die analytisch erfaßten Einzelheiten der Handschrift oder vor seinen geistigen Augen den Gesamteindruck der Schrift hat, er muß das Gesamtbild in verständliche Worte fassen, es verbalisieren. D a s ist rein sprachlich gesehen eine schwierige Aufgabe. Vor allem ist es wesentlich eine Ordnungs-Aufgabe, ein Qualifizierungs- und Klassifizierungs-Anliegen. Psychologisch ist diese Synthese-Arbeit des Graphologen und des Charakterologen durchaus gleichzusetzen dem psychischen Prozeß, durch den wir eine Anzahl von Punkten oder Strichen oder ein sogenanntes Vexierbild schließlich als Figur, als „Gestalt" sehen. Nach der Lehre der „Gestalt-Psychologie" wirkt bei dieser psychischen Integration das „Prinzip der P r ä g n a n z " oder „der guten Gestalt" bestimmend mit. Die Figur, die der ungestalteten Realität am nächsten entspricht, etwa ein Kreis oder ein Viereck, formt die an sich ungegliederte Menge der Elemente zu der „Gestalt". Genau das gleiche geht auch bei der synthetisch-gestaltenden Arbeit des Graphologen und des Charakterologen vor sich. Die „gute Gestalt" ist das Such- oder DenkModell eines Charakter-Ganzen, das er kennt, und das die Gestaltung bestimmt. Es ist beachtenswert, daß jene Schriftdeuter, die sich nicht um wirkliche Fachausbildung bemühen, sondern sich ganz auf ihre „Intuition" verlassen, selbst dann, wenn sie richtig sehen, kaum jemals ein wirkliches geschlossenes Bild der Persönlichkeit angeben, sondern fast immer nur einzelne Eigenschaften, wie ehrlich, gutmütig, krank. So wie ja audi Wahrsager aller Art meist nur irgendwelche „punktförmige" Angaben machen, wie „Reise" oder „Operation" oder „Krankheit" oder eine grüne Mauer sehen, vor der irgendetwas geschieht oder sich befindet und dergleichen mehr. Oft genug macht sich später, meist viel später, wenn etwas geschehen ist, nach diesem wirklichen Geschehen als „gute Gestalt" aus diesen ungeformten Zukunftsangaben erst ein Bild, das, so zustande
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Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
gekommen, meist stimmt, ohne daß es doch von Anfang an hätte zutreffen müssen. Die „gute Gestalt" des verantwortlich arbeitenden Charakterologen aber soll und darf nicht in seiner Willkürlichkeit oder Unklarheit gegründet sein. Sie soll und muß vielmehr in solidem Wissen wurzeln, als fundierte Erkenntnis der Wissenschaft, in der sich experimentelle, klinische, persönliche, wissenschaftliche Erfahrungen konzentrieren. Natürlich kann und darf man dabei eigene sichere Erfahrung einsetzen, indem ein neuer Fall, mit nötiger Vorsicht, und mutatis mutandis an früher behandelte und durchgearbeitete angegliedert wird. D i e moderne Charakterkunde hat bisher nur wenig allgemeine Grundsätze, wohl aber
eine Reihe von Typen-Systemen
geliefert.
Das,
was
der
alte
THEOPHRAST vor fast 2 0 0 0 Jahren beschreibend gemacht hat, in dem er in seinen „Charakteren" vom Marktplatz in Athen den „Schwätzer" geschildert hat oder den „Schmeichler" oder den „Widerlichen" oder den „Nörgler", indem er diese und andere Typen mit wenigen klaren Strichen unzerstörbar und unverkennbar, auch für uns hingestellt hat, das wird heute durch die Typen geleistet. Es gibt eine ganze Anzahl verschiedener Typen-Systeme. Anfangs möchte man, ihnen gegenüber, fast verzagen, da man zweifeln muß, wer von all diesen Charakterologen und welches von ihren Systemen nun recht hat. Glücklicherweise stellt es sich bald heraus, daß die einzelnen Systeme einander meist gar nicht widersprechen, sondern sich recht gut mit einander vertragen und sogar auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. So ist ζ. B . der introvertierte Einstellungstypus nach C. G . JUNG im Wesen durchaus identisch mit
dem
schizothymen Konstitutionstypus nach E . KRETSCHMER oder auch mit dem Typus der festen Gehalte nach G . PFAHLER. U n d der JuNGsche Extravertierte ist so gut wie dasselbe wie der cyclothyme KRETSCHMERS und der Mensch der
fließenden,
G e h a l t e PFAHLERS.
D a ß der Graphologe die vorliegenden seriösen Typensysteme genau kennt, ist für ihn unumgänglich. E r soll sich auch dann, wenn er eines davon besonders bevorzugen möchte, nicht auf eines festlegen, sondern sich auch wissensmäßig die Freiheit wahren, mit der „freischwebenden Aufmerksamkeit" den besonderen Fall mit mehreren Typen-Such-Modellen zu vergleichen und den Typus, der der individuellen Wirklichkeit am nächsten kommt, anzuwenden. Sonst gerät er in die Gefahr, die Realität, die immer einmalig ist, in das ProkrustesBett eines festen Charaktersystems zu pressen und das Charakterbild zu verfälschen, es schief zu sehen und zu verkennen. Die Mehrheit der Charaktersysteme gibt andrerseits die wünschenswerte Möglichkeit eines stereoskopischen Sehens, indem verschiedene Gesichtswinkel, die sich doch nicht widersprechen, zusammenwirken können.
C h a r a k t e r k u n d e in der Graphologie - T y p e n und Typensysteme
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Die Menschen sind einander nicht gleich, sondern höchstens ähnlich. Und sie sind audi niemals nach den Vorschriften eines Typen-Systems gebaut und geartet, mögen sie auch nodi so ähnlich dem oder jenem Typus sein. Sie haben eben unwiederholbare Eigenschaften, die sich in ihrer individuellen Persönlichkeit zusammenstruktuieren und nirgends anders genau ebenso sind und wirken. Ein Typus — das muß man erst durch Erfahrung lernen — reicht im günstigsten Fall in die Nähe, nicht aber in das Zentrum der Individualität hinein. Diese Spannungs-Differenzen zwischen dem gegebenen psychologischen Tatbestand und dem Suchmodell, der „guten Gestalt" des Typus oder der Typen, werden durch einen gedanklichen Kurzschluß gelöst. Das nennen dann manche „Intuition" und sind stolz darauf. Andere sind bescheidener und nennen es „Erfahrung" und „Ergebnis der guten Ausbildung". So aber und so muß die Persönlichkeit des Charakterologen mit all seinen Erfahrungen, seinem Wissen, seinem Scharfsinn, seiner Einfühlungskraft hinter diesem „Kurzschluß" stehen, wenn anders dieser nicht ein Einfall, eine leichtfertige Willkürlidikeit und Unverantwortlidikeit ist. Die wichtigsten und maßgeblichsten Typensysteme, die heute zur Verfügung stehen, sind entweder theoretisch spekulativ gebildet, wie JUNGS Einstellungsund Funktionstypen (introvertiert, extravertiert; Denken — Intuieren — Fühlen — Empfinden) oder E. SPRANGERS „Lebensformen" oder G. PFAHLERS „Charaktere der festen und der fließenden Gehalte". Oder sie sind empirisch gewonnene, und durch sorgfältige Untersuchungen fundierte, gesicherte und überprüfte Systeme. Dazu gehört vor allem das im Laufe von drei Jahrzehnten umsichtig ausgebaute System der E. KRETSCHMER'schen Konstitutionstypen, das sowohl leibliche (pyknisch, leptosom, athletisch) als auch seelische (Temperaments-)Typen cyclothym, schizothym, viscös) dem lebenden Leben zu entnehmen und zudem die Entsprechung je eines Körperbau-Typus zu je einem Charakter-Typus weitgehend zu sichern vermochten. Audi die psychoanalytischen Entwicklungs-Typen des oralen, des analen und des genitalen Charakters dürfen, da sie auf sorgfältigen anamnetischen Erfahrungen aufgebaut sind, als empirisch angesprochen werden. Die R . POPHAL zu dankenden, unmittelbar der Graphologie zugänglich gemachten Spannungs- und Bewegungsform-Typen, und seine Hirnschrifttypen wurden schon behandelt. Sie sind, wenigstens im gegenwärtigen Stadium, eher als spekulativ anzunehmen, und sind denn audi mit den rein spekulativen „Lebensformen" von EDUARD SPRANGER in einer sehr fruchtbaren Weise, kombiniert worden. E. R . JAENSCHS Integrationstypen seien als bedeutend erwähnt. Ein graphologisches Typen-System hat Broder CHRISTIANSEN geschaffen.
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Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
c) „Humorale*
Typen
Charaktertypen sind für den naiven wie für den wissenschaftlich arbeitenden Menschenkenner unentbehrlich. Die Verschiedenheit der Individuen ist einerseits zu groß, zu unübersichtlich, als daß man sie ohne ein ordnendes System oder allgemeinere Gesichtspunkte wirklich verstehen könnte. Andrerseits drängen sich schon der alltäglichen Erfahrung die Ähnlichkeiten auf, die zwischen den Menschen trotz allem bestehen. So finden sich schon seit dem 5. und 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Versuche, die Menschen nach Typen zu unterscheiden. Der schon genannte THEOPHRASTOS (370—287 v. Chr.), ein Schüler des ARISTOTELES und ein vielseitiger Gelehrter seiner Zeit, schildert in seinen „Charakteren" Typen seiner Umgebung, meisterhaft und klar kennzeichnend. Man könnte seinen Versuch ein „offenes" Typensystem nennen, weil es kein System, sondern nur eine Sammlung und Zusammenstellung von lebenden Formen ist. Aber wenig später wird ein richtiges „geschlossenes" Typensystem begründet, das der (antiken) Temperaments-Typen, das von dem Arzt HIPPOKRATES zur Zeit des PERIKLES auf Grund philosophischer Lehren des EMPEDOKLES (490—430) geformt wurde, das später von dem Römer GALENUS (129—199) ausgebaut wurde und bis in unsere Zeiten bekannt, populär und anwendbar geblieben ist. Jeder kennt wenigstens ungefähr die nach den vier Elementen und Körpersäften benannten Temperamente deis Sanguinikers, des Cholerikers, des Phlegmatikers und des Melancholikers. D a ß es sich dabei um leib-seelische Typen handelt, vor allem weil sie nach den Körpersäften, im Sinne der alten bis vor ca. 100 Jahren anerkannten „Humoral"-Medizin, benannt und aufgefaßt sind, ist um so interessanter, als wir in unserer Zeit eine Rüdekehr zum humoralen System in der Medizin und nun auch in der Charakterkunde erleben, eine Rückkehr allerdings auf einer anderen, wissensmäßig wesentlich höheren Ebene als die des Hippokrates und des Galen sein konnte. Die Wissenschaft von den sogenannten Blutdrüsen (endokrinen Drüsen „personality-glands") hat nicht nur für die Medizin des Körpers, sondern auch für 'das Verständnis des Charakters und seiner Veränderungen eine sehr große Bedeutung gewonnen. KRETSCHMER erklärt, daß seine Konstitutionstypen vor allem endokrin bedingt seien. Es gibt heutzutage auch eine „endokrinologische Psychiatrie" (MANFRED BLEULER) und zumindest Ansätze einer das Endokrniium im gesunden und im gestörten Zustande beachtend e n P s y c h o l o g i e ( H . H . R U B I N , L . BERMAN U. a . ) .
So ζ. B. wird der „pituitäre" Typus, der auf der Dominanz der Hypophyse beruht, in folgender Weise umschrieben (H. H . RUBIN) : geistige Arbeitsfähigkeit, Finanz- und Industriekapitäne, Ingenieure, Staatsmänner, Philosophen, Produktive, Erfinder, wobei Herrschsucht und Angriffsfreude im Vordergrund
Charakterkunde in der Graphologie - „Humorale" Typen
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stehen. NAPOLEON sei vor dem russischen Debacle ein Pituitärer gewesen, sein Niedergang wird (von L. BERMAN) auf eine Veränderung und Störung seines endokrinen Systems zurückgeführt. Mit solchen weitgehenden Verallgemeinerungen muß man wohl sehr vorsichtig sein, zumal unser Wissen um das Endokrinium trotz der gewaltigen Fortschritte der letzten Zeit immer noch am Anfang steht, besonders was die psychologische Seite anlangt. Auch scheint es nicht berechtigt, vorbehaltlos eine der zahlreichen endokrinen Drüsen als „dominant" anzusprechen und darnach Leib oder gar Seele zu beurteilen. Das Endokrinium wird eher nach dem Bilde eines Orchesters anzusehen sein, das nur im Zusammenspiel wirken kann, als dessen Dirigent allerdings die Hypophyse, die die anderen Drüsen innerer Sekretion durch ihre Hormonsendungen beeinflußt, bezeichnet werden könnte. Es ist auch die große, nicht immer überwindbare Schwierigkeit zu berücksichtigen, daß das endokrine System trotz seiner offenbaren Bedeutung nicht autonom ist, sondern in Verbindung mit dem Zentralnervensystem steht und wirkt. So z. B. kann Vitalitätsschwäche vegetativ, also vom Zentralnervensystem und seiner Unterfunktion, aber auch endokrin, besonders hypophysär, also von der Hypophyse und ihrer Unterfunktion (C. GROSS, siehe oben), bedingt sein. Die Frage, ob das (physiologische) Endokrinium primär, also von sich aus, oder sekundär, also etwa unter psychischen Einflüssen, Über- oder Unterfunktion aufweist, muß immer mitberücksichtigt werden und ist schwer, oft gar nicht lösbar. Immerhin gibt es Fälle, auf die mit allen Vorbehalten und Vorsichten der Verfasser aus seiner Praxis hinweisen kann, in denen endokrine Störungen aus den damit verbundenen Charakteränderungen auf dem Wege graphologischer Untersuchung erkennbar werden können. Die Minderaktivität, Trägheit, Depressivität, Haltlosigkeit, Gleichgültigkeit, die oft mit Unterfunktion des Hypophysenvorderlappens verbunden ist, manchmal als Akromegalie physiognomisdi auftritt, wurde unter anderem von BLICKENSDORFER geschildert. Graphologisch sind diese Merkmale von Passivität, Trägheit, Depressivität, Apathie, Insuffizienzgefühl recht deutlich und eindeutig erkennbar. Wenn der Graphologe in solchen Fällen Handschriften aus verschiedenen Lebensaltern, womöglich aus der Zeit, ehe diese Erscheinungen auftraten, prüfen und vergleichen kann, kann er nicht selten den Patienten, der unerklärlich seelisch krank zu sein glaubt, auf den richtigen Weg und, wenn er Glück hat, zur Heilung weisen (vgl. POKORNY, Hypophyse und Handschrift, Acta Graphologica 1962, Heft 1 - 2 ) . Häufiger nodi und leichter sind die Funktionsstörungen der Schilddrüse in der Handschrift erkennbar, namentlich die basedowoide Überfunktion (Thyreotoxicose), die zu übermäßiger Spannung, Unruhe, Erregtheit, Verstimmbarkeit, Konzentrationsschwäche, Leistungssdiwäche bei Tatendrang usw. führen kann,
76
Die Psychologie des Sdireibens und der Graphologie
alles Eigenschaften, die ohne Schwierigkeit aus der Handschrift festgestellt und sogar abgestuft klassifiziert werden können. Manchmal kann aus der Besonderheit nervöser Anspannung und zugleich E r müdbarkeit die Vermutung auf Störungen der Nebennierenfunktion, etwa im Sinne der „Managerkrankheit", aufgestellt werden. Alle diese graphologischen Möglichkeiten sind noch sehr ungesichert. Aber es ist keineswegs ausgeschlossen, daß Untersuchungen an größerem ärztlich beigestelltem Schriftmaterial von endokrin Gestörten die Handsdiriftprüfung als brauchbare diagnostische Hilfe sichern können.
d) Die K-RETscHMERsefeew Typen Wesentlich
gesicherter und bewährter
ist die graphologische Diagnose
der
KjRETSCHMERschen Konstitutionstypen. Von dem ungemein merkwürdigen Ergebnis der Schreib- und Griffdruck-Untersuchungen in bezug auf die Typendiagnose wurde schon gesprochen. Aber auch die lebende Handschrift gibt ebenso oft, als es T y p e n im Leben gibt — was j a keineswegs immer der Fall ist — die Möglichkeit, diese zu erkennen. Es ist keine Schwierigkeit, die charakterlichen Merkmale jedes der drei LeibSeele-Typen, deren Erkenntnis und Feststellung wir KRETSCHMER verdanken, aus der Handschrift zu erkennen und abzugrenzen. Daraus kann sich oft die verblüffende Möglichkeit ergeben, aus der Handschrift den Körpertypus oder wenigstens hervorstechende Merkmale desselben abzuleiten, ζ. B .
Korpulenz
oder Magerkeit, große Nase (leptosom-sdiizothym) und dergleichen. Es ist nach dem Anlageplan dieses Buches nicht seine Aufgabe, hier in „leichtfaßlicher kurzer F o r m " die Anweisung zu geben, wie man einem Cyclothymen oder einen Schizothymen aus der Handschrift erkennt. Die Literatur über die K-RETsCHMERschen Konstitutionstypen ist so groß und auch in allgemein verständlicher Form so verbreitet, daß auf deren Studium hingewiesen werden kann und muß. Manche Versuche, die graphischen Merkmale dieses oder jenes KRETscHMERsdien Typus zusammenzustellen, sind ein wenig bedenklich, weil sie allzu nahe in den Bereich der alten „Zeichendeuterei" geraten. Es sind auch nicht immer die gleichen Merkmale, die in der Handschrift den Typus erkennen lassen. So darf man mit einiger Berechtigung einen guten Verbundenheitsgrad, gute, nicht zu weit bemessene Wortabstände, Bogigkeit des Stridies, eine höchstens etwa mittlere Spannung und flüssigen Strich als cyclothyme Merkmale betraditen. Weniger guter Verbundenheitsgrad, weiträumigere und unregelmäßige Raumverteilung, stärkere und stärkste Grade der Spannung, spröder, brüchiger, zittriger Strich werden andererseits den schizothymen Charakter anzeigen.
Die Charakterkunde in der Graphologie — Analytische Typen (FREUD, JUNG)
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Man darf, wie bei allen Merkmalszusammenstellungen soldier und ähnlicher Art, nie erwarten, daß man das lebende Leben so einfach in den Tabellen wiederfindet. Es gibt keine ganz reinen Typen im Leben, immer gibt es ganz persönliche, atypische Eigenschaften und Merkmale, seelisch wie graphologisch gesprochen. Die immer wieder beobachtete Affinität der Gegensätze führt auch entgegengesetzte Typen in die Ehe und zur Vermischung, und das ist gut so. Daher bleiben Typenformen, welchem System sie angehören mögen, immer mehr „Einteilungsbehelfe" und nie ganz zutreffende Abbildwiederholungen. e) Die „analytischen"
Typen
(JUNG, FREUD)
Neben den KRETscHMERschen Typen sind graphologisch am besten geprüft und — mit den schon bekannten Vorbehalten — dargestellt die JuNGschen Einstellungs- und Funktionstypen: extravertiert und introvertiert, je in K o m bination mit den Grund-Funktionen des Denkens, Intuierens, Empfindens und Fühlens. Sind aber die KRETscHMERschen T y p e n als Einteilungstypen und als empirische Lebensformen anzusehen, so sind die JuNGschen T y p e n eher Idealtypen und spekulativ gefunden, gewissermaßen dem Prinzip gemäß zusammengedacht. Es beweist die Genialität ihres Urhebers, C. G. JUNG, daß sie trotzdem sich praktisch gut bewähren. Die geistreichen Merkmalstabellen, die psychologisch von JUNG, graphologisch vor allem von ANJA TEILLARD-MENDELSSOHN stammen, sind sehr vorsichtig anzuwenden. Wenn ζ. B . TEILLARD die Merkmale des „extravertierten Empfindungstypus" so angibt: G r o ß e oder mittelgroße Schrift, kompakte wenig Luft lassende Schrift, teigiger, manchmal
verschmierter
längen,
große
finden
sich
Druck,
Rechtsschrägheit,
Längenunterschiedlichkeit,
diese
Zeichen
nicht
einmal
wenig
Betonung
Relief,
der
flache
in der zu dieser
Unter-
Schrift
Tabelle
so von
der Autorin selbst beigegebenen Schriftprobe (Fig. 39) genau so; diese zeigt weder eine „Kompaktheit" der Raumverteilung, noch Betonung der Unterlängen, noch auch ist die Längenunterschiedlichkeit wirklich groß. Das ist keine K r i t i k an der höchst wertvollen Arbeit Mme. TEILLARDS, sondern nur neuerlich die Mahnung zur Zurückhaltung bei der Anwendung und der Diagnose der Typen, welche immer sie auch sein mögen. Ohne die Absicht einer vollständigen Anführung seien auch noch die wichtigen psychoanalytischen Charaktertypenformen erwähnt, die von FREUD und seinen Schülern als „oral", „ a n a l " und „genital" bezeichnet werden. Wieder danken wir ANJA TEILLARD die graphologische Umschreibung des „Anal"-Typus, die sie anläßlich ihrer ausgezeichneten Analyse der Handschrift Prof. SIGMUND FREUDS gegeben hat (Psyche, Juliheft 1950, und „Handschriftendeutung", 1952, S. 152 ff.). V o r allem weist sie hin a u f :
78
D i e Psychologie des Schreibens und der Graphologie
„teigigen, schmierigen Druck, Merkmale der Aggressivität (scharfe
Wortwendungen,
keulenartige t-Striche, ferner oft kleine, wenig Luft lassende Schrift, oder eng, starr, übertrieben regelmäßig, übermäßig verbunden" usw. TEILLARD m a c h t hier besonders d a r a u f a u f m e r k s a m , d a ß es verschiedene g r a p h o logische T y p e n gibt, die d e m a n a l e n C h a r a k t e r entsprechen. D e r o r a l e T y p u s w u r d e ebenfalls g r a p h o l o g i s c h b e h a n d e l t (POKORNY, T i j d s d i r . v . g r a f o l o g i e 1 9 5 4 , M a i ) u n d b e s o n d e r s durch die g r a p h i s c h e n M e r k m a l e
der
s t a r k e n V o r w ä r t s l ä u f i g k e i t , der W e i t e , des E n d r a n d - D u r c h s t o ß e n s , d e r F l ü c h t i g keit, des M a n g e l s a n U n t e r l ä n g e n , d e r u n s c h l a n k e n S t r i c h f ü h r u n g u s w . g e k e n n zeichnet. f ) Die
Lebensformen
nach
SPRANGER-POPHAL
EDUARD SPRANGER h a t in seinen „ L e b e n s f o r m e n " gefundenen
Idealtypen
aufgestellt.
eine R e i h e v o n
Sie sind e r k l ä r t e r m a ß e n
spekulativ
als F o r m e n
der
verschiedenen W e r t s t a n d p u n k t e i m L e b e n u n d als in W i r k l i c h k e i t nicht v o r k o m m e n d hingestellt, a b e r n i c h t s d e s t o w e n i g e r a u d i f ü r d e n p r a k t i s c h e n P s y c h o l o g e n v o n höchster B e d e u t u n g . POPHAL h a t sie, i m R a h m e n seines „ H i r n r i n d e n " Schrifttypus g r a p h o l o g i s c h besprochen. D i e e i n z e l n e n T y p e n , die z u m T e i l v e r ä n d e r t b z w . e r g ä n z t w u r d e n , s i n d : d e r „ t h e o r e t i s c h e M e n s c h " , d e r „ästhetische M e n s c h " , d e r „ S e l b s t d a r s t e l l u n g s - M e n s c h " , der „ethische M e n s c h " , d e r „religiöse Mensch " c der „ M a c h t - M e n s c h "
und der „ökonomische Mensch". D a v o n
seien
hier als Beispiele n ä h e r g e b r a c h t : „ D e r ökonomische
Mensch: graphisch zeigt
seine Schrift die folgenden
getaktete und mechanische Bewegungsabfolgen,
mittlere
bis stärkere
Merkmale: Versteifung,
Eile, W e i t e , Schrägheit, Rechtsläufigkeit, V e r b u n d e n h e i t , Verlängerung der A n - und Endstriche,
steigende
Zeile, große
Längenunterschiedlichkeit,
Verknotungen,
Ein-
rollungen, kleiner werdende Wortenden und Zahlenzeichen." D i e e n t s p r e c h e n d e n p s y c h i s c h e n E i g e n s c h a f t e n dieses T y p u s w ä r e n : „Nützlichkeitssinn, Wirklichkeitssinn, sucht, Rechensinn,
Nüchternheit, Sparsamkeit, Eigennutz,
Egoismus, Händlergeist, Habsucht
(Geiz)
Profit-
(Philisternatur),
ständigkeit, Willenskraft, Betriebsamkeit, Durchsetzungswille, Leistungsstreben, Arbeitsamkeit,
Entschlußfähigkeit,
praktische Veranlagung,
Lebenspraxis,
Be-
Fleiß,
Voraus-
sicht, Vorausbedenken, Organisationsgabe, W e l t g e w a n d t h e i t . " D e r „ M a c h t - o d e r p o l i t i s c h e M e n s c h " h ä t t e als S c h r i f t m e r k m a l e : „ G e t a k t e t e r und mechanisierter R h y t h m u s , m i t t l e r e bis starke Versteifung, D r u c k stärke, Bewegungsregelmäßigkeit,
große Längenunterschiedlichkeit,
Überstreichungen,
V e r k n o t u n g e n , W i n k e l - A r k a d e - F a d e n , k e u l e n f ö r m i g e Verdickungen Querrichtungen, ,Säbelstriche', lineare Zeile, Eile, V e r b u n d e n h e i t , Gegliedertheit, A n f a n g s b e t o n u n g e n ,
Unterlängenbetonung,
der Schlußzüge." D i e e n t s p r e c h e n d e n psychologischen W e s e n s z ü g e
wären:
Größe,
der E n d -
und
Vereinfachungen, Enge,
Kürzung
Die Charakterkunde in der Graphologie - Lebensformen nach SPRANGER-POPHAL
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„Wille zur Macht, Herrschsucht, Durchsetzungsstreben, Selbstbehauptung, aktive und passive Willenskraft, Energie, Aktivität, Selbstdisziplin, Selbstüberwindung, Unabhängigkeitsbedürfnis, Selbstbetonung, Unduldsamkeit, Gemütlosigkeit, Härte, Kälte, Bösartigkeit, Menschen Verachtung, Immoralität, Grundsatzlosigkeit, Parteilichkeit, jesuitische Moral, Macchiavellismus, Skrupellosigkeit, Mißtrauen, Undankbarkeit, Selbstgerechtigkeit, Größenideen, Ressentiment, (Rhetorik), (vitale Kraft)". A l s weiteres Beispiel dieser A r t der „theoretische, wissenschaftliche Mensch" mit folgenden Schriftmerkmalen: „Hochdifferenzierte, beabsichtigte Einzelbewegungen, stärkere und starke Versteifungen, Formreduzierungen, Nüchternheit der Formgebung, Magerkeit, Schärfe, Kleinheit, Kürzung des Schreibweges, Ligaturen, Gegliedertheit, Binnengliederung, Klarheit des Schriftbildes und der Einzelformen, Präzision des Striches, Druckschwäche, Langsamkeit, Eile, kortikale Verbundenheit oder Unverbundenheit, Fortfall der Schlußzüge, niedrig und genau gesetzte Oberzeichen, eingebundene Oberzeichen, Winkel und Faden, Oberlängenbetonung, Unterlängenverkümmerung, der Steilheit angenäherte Schriftlage, Zuspitzung, Polymorphie der Buchstabenformen." Die Wesenszüge des theoretischen Menschen wären: „Erkenntniswille, Forschungstrieb, Wahrheitswille, Wissensdurst, Streben nach logischer Gesetzlichkeit, Begrifflichkeit, Wille zur Sachlichkeit und Objektivität, Verstandesherrschaft, theoretisches Denken, kritischer Sinn, (Lernbegier), Weisheitsfreude, (Gedankenhunger), Neugier, Dialektik, Sokratische Vernünftigkeit, Alexandrinischer Mensch, Vielseitigkeit, logischer Personalismus, Gedankenblässe, Rationalismus, Relativismus, Skeptizismus, Kritizismus, Empirismus, Phänomenalismus, vitale Schwäche, Triebschwäche, Entwurzelung, unpraktischer Sinn, Weltfremdheit." Diese Beispiele zeigen zur Genüge, d a ß POPHAL diese T y p e n als S t r u k t u r t y p e n versteht und schildert, d a ß nicht die einzelnen „Zeichen", sondern die G e s a m t heit derselben entscheiden, d a ß sogar manche M e r k m a l e der Schrift, z u m Beispiel Eile o d e r Verbundenheit, auch in der p o l a r entgegengesetzten
Erschei-
n u n g s f o r m das G e s a m t b i l d m i t f o r m e n können. B e m e r k t sei nur, d a ß sowohl die graphischen M e r k m a l e wie auch die Wesenszüge hier wie andernorts keineswegs alle im praktischen E i n z e l f a l l v o r f i n d b a r sind, noch sein müssen.
Es
k o m m t auf das Wesen an, das den T y p u s kennzeichnet, das aber R a u m und Möglichkeiten f ü r individuelle N u a n c e n und M o d i f i k a t i o n e n frei lassen muß. D i e C h a r a k t e r l e h r e von heute ist trotz vielfacher theoretischer A n s ä t z e (KLAGES, SCHILDER, SEIFERT, KRETSCHMER, ARNOLD, HEISS USW.) noch immer mehr beschreibend und eher ausschnittsweise darstellend. Dessenungeachtet hat sie sich zu einer unentbehrlichen H i l f e f ü r alle diagnostische, also auch f ü r die g r a p h o logische A r b e i t entwickelt und ist ein w i r k s a m e r Gegenwirker geworden gegen die N e i g u n g
atomistisch-analytischer
Psychologie und
Psychotechnik,
durch
Vereinzelung psychischer D i n g e die Integration derselben in der I n d i v i d u a l i t ä t u n d Persönlichkeit zu übersehen und Sinn w i e Blick d a f ü r zu verlieren.
80
Die Psychologie des Schreibens und der Graphologie
3. Sdireibvorlage und „Schreibreife" Schreiben muß nach Vorlagen erlernt und geübt werden. Das Schreibenlernen ist, ganz abgesehen von der immer mehr gewürdigten hohen pädagogischen Bedeutung des Schreibunterrichts, eine Übung der Koordination jener Muskeln, die beim Schreibakt innerviert werden und die recht zahlreich sind. Das Ergebnis dieser Übung ist die automatische flüssige Handschrift, psychologisch gesprochen die „Schreibreife". Auf dem Wege zu ihr werden die einzelnen Phasen der Koordination und Teilinnervation immer mehr abgeschliffen, „formelhaft verkürzt" (KRETSCHMER), indem immer mehr die Impulse, die dabei nötig sind, „ins Körperhafte absinken" (wie SCHILDER einmal sagt). Wird bei einem Erwachsenen eine Umstellung zu einer anderen Schrift oder zu einer wesentlich anderen Schriftvorlage nötig — was in unserem Zeitalter der neuen Völkerwanderung so oft geschieht —, dann muß die neue Schreibreife wieder erworben werden. Ist die neue Schreibschrift so verschieden von der früheren, wie es ζ. B. beim Hebräischen der Fall ist, dann kann es leicht und oft vorkommen, daß die an sich eigene Schreibreife der Mutterschrift bei der neuen Schrift nur unvollkommen erreicht wird. Dieser Umstand ist zum Beispiel für die graphologische Praxis sehr wichtig, weil er dazu nötigt, Proben soldier neuerworbener Schriften unter dem Gesichtspunkt der unvollständigen Automatisierung zu betrachten und nach Möglichkeit Proben in der ursprünglichen, echt-schreibreifen Schrift dazu anzufordern. Daß die individuelle Handschrift durch die kollektiven, meist sogar standardisierten Schreibvorlagen mitgeformt wird, kann nicht bezweifelt werden. Aber Erfahrungen mit Erstklässlern und experimentelle Untersuchungen solcher Frühschriften in ganzen Schulklassen zeigen unverkennbare individuelle Formen und Gewohnheiten des Schreibens, sogar gegen den nivellierenden Klassenzwang, schon im Stadium des Schreiblernens. Das wird bei weiterer Entwicklung der Individualität immer charakteristischer. Wer aber auch noch als Erwachsener schulmäßig schreibt, der läßt dadurch erkennen, daß er entweder nicht genügend Eigenart besitzt, um seine eigene Schrift- und Lebensform zu erreichen, oder daß er zu sehr der Konvention und ihrem inneren oder äußeren Zwang unterworfen bleibt, als daß er sich eine eigene Form leisten könnte; oder die Schulschrift ist seiner persönlichen Art so gemäß, daß er sie behält — das ist etwa der Fall, wenn man bei Erwachsenen, die die gleiche Schule besucht haben, ähnliche Schriften findet, denn immer sind es nur ganz wenige Klassengefährten, bei denen das zutrifft. So gibt es audi sog. Berufsschriften, ζ. B. die bekannte „Kaufmannsschrift" oder die „Ärzteschrift", die einesteils die innere Affinität an solche Schriftformen, anderenteils die starke Wirkung des „Leitbildes" beweisen, die durch solche Gruppengewohnheiten und kollektive Lebensformen auf manche Gruppenangehörige ausgeübt werden. Schließlich kann die
Sdireibvorlage und „Schreibreife"
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schulmäßige „Schönschrift" eine Art Maske sein, hinter der sich unkonventionelle, sogar asoziale Eigenschaften und Neigungen verbergen. Auf der anderen Seite findet man oft bei Jugendlichen, besonders im Alter der Vorpubertät oder der Pubertät, auffallende Formen, Einzelzüge, Schnörkel, Ausstriche, „ g " Schleifen, die der Schrift ein besonderes Bild verleihen und die den Unerfahrenen oft zu allerlei Sdilußfolgerungen über Charakter, Eigenart des jungen Menschen verleiten. Meistens stellt es sich dabei aber heraus, daß diese Formen durchaus unoriginell sind und irgendwo irgendwem abgeguckt oder nachgemacht, manchmal auch nur nachgefühlt sind. Es sind die graphischen Anzeichen der in solchem Alter so verbreiteten Sehnsucht des Jugendlichen, sich an irgendein Vorbild, an ein Ideal zu binden, sei es ein Bühnen- oder ein Sport- oder ein anderer „Held". Solchen Ubertragungsfiguren guckt der junge Mensch nicht nur ab, „wie er räuspert und wie er spuckt", sondern auch wie er schreibt oder — schreiben könnte. Daher schwinden solche Formen meist sehr rasch wieder aus der Schrift, um so rascher, je auffälliger sie waren. Bleibender können die Schrift-Introjektionen von Familienangehörigen werden oder von Erziehungspersonen, also von Menschen, die einen besonderen Einfluß, oft im Sinne des „ödipus"-Komplexes auf den jungen Menschen ausüben. Solche Familienschriften sind dann von einem großen psychologischen Interesse und können für die Beratung von Wichtigkeit sein. Es ist nicht einfach äußere Nachahmung, die da vorliegt. Sondern es sind viel intimere und intensivere Beziehungen, die man „Introjektion" oder „Identifizierung" oder „Leitbildeinfluß" nennt. Das „Leitbild" — das in der Vorlage oder gegen diese gegeben sein mag — ist, wie schon behandelt wurde, ein wichtiger graphologischer Faktor. „Teigigkeit", also Pastosität der Handschrift, starke Links- oder besonders ausgesprochene Rechtsschrägheit, übertriebene Größe oder Kleinheit der Handschrift kann das meist unbewußte Leitbild des Schreibers verraten. Die Schriftvorlage, die beim Schreibunterricht vorliegt, ist in den einzelnen Kulturstaaten meist verschieden, wenngleich die Unterschiede die Grundform des lateinischen Alphabetes nicht durchwegs verändern. Es gibt, teils durch Vorlage, teils auch durch allgemeine Schreibgewohnheiten, „nationale" Schriften. Der Holländer schreibt viel mehr rechtsschräg, mit größeren Längenunterschiedlichkeiten und liebt Anfangsschnörkel. Der Engländer wieder zieht eine steile oder linksschräge Schrift vor. Manche Buchstaben sind national verschieden, z. B. „ F " , „ T " , „ t " , „ I " und so fort. Der Graphologe muß wissen, daß ein Amerikaner anders schreibt als ein Schweizer. Denn weiß oder beachtet er das nicht, dann kann er leicht individuelle Züge annehmen, wo es sich, gerade im Gegenteil, um konventionelle Gewohnheiten handelt. 6 Pokorny, Handschriftendeutung
82
Die Psychologie des Sdireibens und der Graphologie
Verändert sich im Laufe des Lebens die kulturelle Umgebung und damit die Schrift der umgebenden Mehrheit, dann spielt bei der Anpassung die emotionelle Situation und die Anpassungsfähigkeit des Schreibenden eine wichtige Rolle. Mangelhafte Assimilierung der neuen Schrift muß dann nicht persönliche Eigenart oder Eigenwille sein, sondern mangelnde, oft unbewußt schwache Bereitschaft zur Umstellung. Auch das Gegenteil, nämlich auffällige Umstellung, kann beobachtet werden. Die Schrift zeigt beides an. Hingewiesen sei auf den Fall eines weltberühmten Nobelpreisträgers, der aus dem Dritten Reich verbannt wurde und der seither die früher durchaus geübte „gotische" Kurrentschrift zugunsten der lateinischen aufgab, auch wenn er in seiner deutschen Muttersprache schrieb. Umgekehrt zeigt die Mißhandlung oder mangelhafte Assimilierung der Schrift des „Emigrations"-Landes meist nicht Mangel an Intelligenz, sondern die innere Bindung an das Frühere oder — was nicht identisch sein muß — die innere Ablehnung des Jetzt. Fragt man danach, ob die „nationalen" Alphabete oder im weiteren Sinne die verschiedenen Kulturschriften aus einem Nationalcharakter der betreffenden Staats- oder Volksgruppe entspringen und darüber etwas auszusagen vermögen, so muß die Antwort sehr zurückhaltend sein. Es ist der Versuch gemacht worden (MUTHE), die altgriechischen Inschriften kollektiv-graphologisch zu deuten. Die Annahme, daß die Links-Rechts-Zeile Extraversion, die RechtsLinks-Zeile Introversion des betreffenden Volkes verriete, wurde schon besprochen und als unzutreffend bezeichnet. Welche Umstände bei der Entstehung und Veränderung von Schriftsystemen maßgebend sind, ist kaum übersehbar. In der neueren Zeit tauchen immer wieder Pädagogen und Schriftschöpfer auf, die, wie SÜTTERLIN in Deutschland oder wie die neue Schriftreform in Israel von vielen Gesichtspunkten ausgehen: Schönheit, Tradition, physiologische und pädagogische Zweckmäßigkeit und vor allem natürlich ganz persönliche Eigenschaften und Ansichten des Schöpfers der neuen Vorlage, namentlich auch seine Energie, mit der er seine Vorschläge vertreten und durchsetzen kann. Es wäre nicht berechtigt, solche Neugestaltungen der Schrift als Ausfluß und Ausdruck des Charakters des ganzen Volkes anzusprechen. Eher lassen sich solche kollektiven Vermutungen rechtfertigen, wenn eine bestimmte Schriftvorlage wirklich von dem Ganzen des Volkes dauernd akzeptiert, assimiliert und beibehalten wird. Aber die Schriftgeschichte zeigt, wie rasch und wie einschneidend die Veränderung der Schrift eines bestimmten Volksganzen vor sich gehen kann. Der Zweifel, ob es überhaupt „Volks-Charakter" gibt, sei hier nur als möglich angedeutet. Der Zweifel aber, daß eine Nationalschrift als Ausdruck eines Volkscharakters angesehen werden darf, muß hier ganz deutlich und klar ausgesprochen werden.
IV.
Die praktische Anwendung der Graphologie Die Graphologie ist ein Persönlichkeitstest:. Auf Grund der graphologischen Charakteranalyse und im Rahmen derselben können Veränderungen der Persönlichkeit erkannt werden, die im Laufe des Lebens, normal oder anormal, sich entwickelt haben. Ebenso können die Eignungen und Nichteignungen in bezug auf Studium, Beruf beurteilt werden. Die psychologischen Grundlagen und Aussichten der sozialen, familiären, ehelichen Beziehungen können abgeschätzt werden. Innerhalb gewisser Grenzen können krankhafte Störungen der Persönlichkeit und ihrer Reaktionen erkannt und umschrieben werden. Die praktische Graphologie vermag zum Unterschied von den anderen diagnostischen Methoden ihre Befunde zu finden, ohne daß der Prüfling anwesend sein muß. Die zahlreichen Aufgaben, die der moderne Schriftdeuter innerhalb unserer ratlosen und ratsudiendenZeit erfüllen kann, lassen sich einteilen in: charakteroIogisch-psydiologische, forensische und medizinische Anliegen.
1. Die diarakterologisch-psychologische Graphologie ihrerseits umfaßt mehrere Unterbereiche. Psychologische Aufgaben im engeren Sinn werden dem Graphologen gestellt, wenn er zur Aufdeckung und Aufklärung von seelischen Problemen und Konflikten, von Anpassungsschwierigkeiten und zur Beratung in solchen Fällen herangezogen wird. Im besonderen gehören hierher Probleme und Schwierigkeiten von Kindern in der Schule und bei der Entscheidung über Studienrichtung und Berufswahl. Konflikte und Erschwernisse, die vor der Eheschließung, bei der Partnerwahl, in der Ehe zwischen den Gatten nicht vom Betroffenen allein gelöst werden können (und sollen), werden durch graphologische Untersuchung geklärt, und die Schriftanalyse kann die zuverlässige Grundlage für Beratung und, wenn eine solche möglich ist, für Hilfe sein. Berufsprobleme auch bei Erwachsenen, die meist gar nicht in besonderen Eignungsschwierigkeiten, sondern in charaktermäßigen Umständen wurzeln, 6'
84
Die praktische Anwendung der Graphologie
sind dem erfahrenen Graphologen zugänglich und ihre klare Umschreibung ermöglicht Beratung und Abhilfe. Die Beratung des Arbeitgebers bei der Auswahl von Arbeitnehmern oder bei der richtigen Verwendung derselben ist eine der wichtigsten und meist geforderten Aufgaben der Graphologie. Sie wird deshalb, weil der Kandidat nicht dabei sein muß, nicht einmal davon wissen muß, bevorzugt. In einer mehr theoretisch-wissenschaftlichen Aufgabe wird die Schriftdeutung als Hilfsmittel für die historische und biographische Forschung bemerkenswert oft verwendet. Sie ermöglicht die objektive Erkenntnis von historischen Persönlichkeiten und das Verstehen persönlicher Bedingtheit im Ablauf der Geschichte.
2. Forensische Graphologie Im Zusammenhang mit dem Rechtsleben und der Rechtspflege leistet die Graphologie schon wichtige und wertvolle Dienste, und die Möglichkeiten, die sie in dieser Hinsicht besitzt, sind noch nicht allgemein ausgeschöpft. Zur Zeit des DREYFUS-Prozesses konnte durch die aufopferungsvolle und mutige Mitarbeit der französischen Graphologen, besonders CRÉPIEUX-JAMINS und BRIDIER, die Wahrheit im Verfahren um die Rehabilitierung des Verurteilten festgestellt werden. Seit damals hat sich die gerichtliche Sdiriftexpertise als eine eigene Disziplin etabliert, die ihre Arbeit mit Hilfe von sehr verfeinerten technischen, photographischen, mikroskopischen Methoden und Apparaten leistet. Dort, wo es sich um die Identitätsprüfung, also um die Echtheit etwa einer Unterschrift, handelt und nicht Radierungen, Zusätze, Verfälschungen vorliegen, wendet aber der Experte genau die gleichen Grundsätze und Merkmalsbeurteilungen an wie der charakterologische Graphologe. Der Unterschied ist nur, daß dieser die Persönlichkeit, jener die Identität zu prüfen und zu erkennen hat. Der Fortschritt der Technisierung hat namentlich in Amerika dazu geführt, daß der Gerichts-Schriftsachverständige von der Mutterwissenschaft nichts mehr wissen will. Mit Unrecht. Andererseits ist zur Ausübung jener apparatmäßigen Techniken eine sorgfältige Sonderausbildung, Übung und Erfahrung erforderlich, die ganz andere Wege und Ziele hat wie die des charakterologischen Graphologen. Die beiden Arbeitsgebiete decken sich heute nur mehr teilweise. Dort aber, wo der Jurist, der Anwalt, der Staatsanwalt, der Richter der psychologischen Beurteilung des Beschuldigten, des Angeklagten, des Verurteilten bedarf, sei es, um den Tatbestand festzustellen, sei es, um die Verantwortlichkeit genauer zu durchleuchten, sei es, um die Glaubwürdigkeit einer Aussage zu prüfen, da ist der Graphologe durchaus am Platz. Auch in zivilrechtlichen Fragen und Prozessen, namentlich etwa in Ehescheidungsverfahren, kann der Graphologe wichtige Aussagen über die Frage
Medizinische Graphologie
85
machen, ob die Scheidung derzeit oder überhaupt die ultima ratio ist oder nicht, und damit die vielen mit einer Ehe und ihrem Bestände verknüpften Probleme, besonders die der Kinder, zu lösen helfen. Die psychiatrischen Probleme der forensischen Arbeit bleiben dem Gerichtspsychiater vorbehalten. Die nicht-psychiatrischen, rein psychologischen Fragen aber vermag der gut ausgebildete und erfahrene Graphologe im Rahmen seines Fachgebietes zu behandeln und vielfach leichter und rascher klären als dies sonst möglich ist. Daß das Urteil des Schriftkundigen ohne direkte Mitwirkung und Befragung des Prüflings zustande kommen kann, ist von gewichtigem Vorteil in vieler Hinsicht. Zumindest als Ergänzung und Korrektiv anderer Befunde ist das Schriftgutachten bedeutsam. Leider ist all das nodi in sehr begrenztem Ausmaß tasächliche Übung. Daß der Graphologe zur Ausfindigmadiung eines Schuldigen, ewa bei Veruntreuungen oder Diebstählen in Banken und anderen Unternehmungen, diskret und mit Erfolg herangezogen wird, geschieht viel häufiger, namentlich dort, wo in dem Betrieb ohnehin ein Graphologe regelmäßig beschäftigt wird. Werden ihm die Schriften der Verdächtigen oder der im sogenannten „Gelegenheitsverhältnis" Befindlichen vorgelegt, dann kann er in der Regel diejenigen ausscheiden, die aus psychologischen Gründen nicht in Frage kommen, dagegen die, die aus psychologischen Erwägungen der Tat fähig wären, für die nähere eingehende Untersuchung angeben. Auch hier ist es von größtem Vorteil, daß der Verdächtige an der Untersuchung nicht persönlich teilnehmen, davon nicht einmal wissen muß, ohne daß dadurch seine Interessen verletzt oder gefährdet würden.
3. Medizinische Graphologie Von allen Anwendungsgebieten der Graphologie ist die, die sich auf die Diagnose von Krankheiten aus der Handschrift bezieht, die interessanteste, aber leider auch die problematischste. Gerade die medizinisch-diagnostischen Aussagen der Schrift wurden seit langer Zeit immer wieder untersucht. Sie schienen den Ärzten des Leibes wie der Seele immer wahrscheinlich und verlockend. Schon A. ERLENMEYER und C . LOMBROSO, beides Ärzte, beschäftigten sich damit. Und seither versuchen Mediziner und Nichtmediziner sich immer wieder an dem gleichen Problem. Daß auch Krebsdiagnose vermittelst der Handschrift versucht wird (A. K A N F E R , V E R T E ) , ist zu erwähnen. Es sei aber bemerkt, daß alle solche Versuche bisher nur teilweise befriedigende Resultate ergeben haben. Allgemein darf man sagen, daß Krankheit das allgemeine Befinden, die Reaktionen und daher auch die Handschrift beeinflußt. Man kennt eine ganze Anzahl von Schriftmerkmalen, die unzweifelhaft in Beziehung zu Krankheit gebracht werden können. Man kann also mit zulänglicher Wahrscheinlichkeit
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Die praktische Anwendung der Graphologie
aus solchen bekannten Schriftveränderungen auf Krankheit schließen, besonders dann, wenn man Schriftproben aus einem längeren Lebensabschnitt prüfen und vergleichen kann. Aber da die Krankheitsmerkmale nicht mehr spezifisch sind, gestatten sie eine différentielle Diagnose, um welche Krankheit es sich handeln mag, nur mit sehr großem Vorbehalt und oft gar nicht. Man muß dabei unterscheiden zwischen Krankheiten, die den Körper oder den Geist betroffen haben, und den Neurosen, die als Funktionsstörungen psychogener Art aufgefaßt werden. Krankheiten, ob körperlich oder seelisch, sind immer Störungen des Gesamtorganismus. Daher ist es das Schriftelement, der Stridi, also die elementare Bewegung an sich, die bei Krankheiten Störungen ausgesetzt ist und solche zeigt. Es sind Merkmale verschiedener Art, die dem geübten, oft audi durch die Lupe verstärkten Auge des Schriftkundigen erkennbar werden: Tremor verschiedener Art und Form, z. B. grob- und feinschlägig, Strichunterbrechungen, Ataxien, grob ausfahrende unbeherrschte Züge, Knickungen und Brüche der Züge. Auch die charakteristischen Unregelmäßigkeiten des Schreibdrucks, Verklecksungen und Verschmierungen gehören zur Störung der Grundbewegung. Fallende Zeilenrichtung, unnötige, nicht erklärbare Punkte, Punkte am Ende, die unter die Zeile gesetzt werden, ergeben sich aus der gesteigerten Ermüdbarkeit und verringerten Koordination, die auf Krankheit zurückgehen kann. Finden sich solche Merkmale — die hier nicht vollständig angeführt sind — in der Schrift, dann besteht der unmittelbare Verdacht, daß der Schreibende nicht gesund ist. Fragt man aber nun, welche Krankheit das sein mag, so beginnt die Unsicherheit. Schon die Differenzierung zwischen körperlichen und nichtkörperlichen Krankheiten ist sehr schwierig und nicht gewiß. Übrigens sind akute Erkrankungen, wenn überhaupt, nur durch allgemeine Zeichen der Schwäche, Ermüdbarkeit, Koordinationsbeeinträchtigungen (besonders bei hohem Fieber) erkennbar und fallen von Haus aus aus der (ohnehin begrenzten) Kompetenz der Schriftprüfung. Manchmal kann man aus der Lage der Störung, je nachdem sie der oberen, mittleren oder unteren Zone der Schrift angehört, Vermutungen hinsichtlich der topographischen Lage der Erkrankung ziehen, etwa Fuß- oder Unterleibserkrankungen aus Störungen in der Sdireibunterzone, Lungen- oder Herzleiden, wenn die Störungsmerkmale in der Mittelzone liegen. Bei Zeichen in der Oberzone ist die entsprechende Lokalisierung in Kopf oder Hals erfahrungsmäßig nicht möglich. Aber audi sonst bleibt diese Lokalisierung unsicher. Als Beispiel derartiger Untersuchungen und Ergebnisse soll auf die schon erwähnte sehr gewissenhafte und seriöse Arbeit von C A R L G R O S S „Vitalität und Handschrift" ( 1 9 4 3 ) hingewiesen werden. GROSS untersuchte zahlreiche Schriften
Medizinische Graphologie
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von Vital-Gesdiwächten und Vital-Gestörten. Es gelang ihm, aus diesen Schriften eine ganze Anzahl graphischer Erscheinungen festzustellen, ζ. B. teilweise Verkümmerung der Schrift, Ablaufstörungen, lange Anstriche, Druckstörungen, Strichunterbrechungen und -verbiegungen, Tremor, Verklecksungen, Farbtonwechsel, unrhythmische Schwankungen in der Schriftgröße usw. Diese Untersuchung ist verdienstlich und verläßlidi. Aber die meisten der aufgefundenen Merkmale kommen einzeln und sogar teilweise vereinigt bei allen möglichen anderen Krankheiten auch vor. So findet man oft bei Herzleiden : Strichunterbrechungen und Stridizitterformen; bei Lungenleiden: Zeilenschwankungen, Schleifenverklecksungen und anderes; bei Zirkulationsstörungen: plötzliche Druckanschwellungen, schmierige Schrift; bei Blutarmut: Strichunterbrechungen; bei Nierenleiden: plötzliche Druckanschwellungen, Verklecksungen, schwankenden Zeilen verlauf; bei Magen- und Darmleiden: Strichunterbrechungen, fallende Zeile, Verklecksungen in der Mittelzone; und das ließe sich noch lange fortsetzen. Auch die immer wieder in der Literatur auftauchenden Diagnosen des Krebs zeigen keine anderen Merkmale. Gelingt es das eine oder das andere Mal, eine einigermaßen zutreffende Differentialvermutung zu finden, so ist dazu die gesamte Sdirift mit von Bedeutung und nicht sind es die besonderen Krankheitsmerkmale, die eben Krankheit an sich und nicht mehr anzeigen. Angesichts dieser Erfahrungen wird sich der gewissenhafte Graphologe von einer in die Medizin einschlagenden Diagnose grundsätzlich fernhalten müssen. Etwas anderes aber ist es, daß er, wenn er unverkennbare Krankheitssymptome in der Schrift findet, die ärztliche Untersuchung des Ratsuchenden veranlassen soll. Es ist unnötig zu betonen, daß dabei mit ungemeiner Vorsicht, Schonung und Zurückhaltung vorgegangen werden muß. Aber oft genug ist auf solche Weise ein Kranker zum Arzt und zur maßgeblichen Diagnose und Therapie geführt worden, die er bis dahin zu suchen gescheut hatte. Weit sicherer ist die graphologische Krankheitsdiagnose bei seelischen oder geistigen Krankheiten, die mit Persönlichkeitsveränderungen einhergehen. Wieder sind es Graphismen, die auch sonst vorkommen und nur signalisieren, daß Krankheit anzunehmen ist. Aber erkennt der Graphologe typische und spezifische Veränderungen, etwa der Aktivität, der Soziabilität, der Konzentrationskraft, der Willenskraft, merkt er Aggressivität oder Flüchtigkeit und dergleichen mehr, dann wird er, namentlich wenn er durch Vergleich mit früheren Schriften diese Erscheinungen als Veränderungen festlegen kann, auf die entsprechenden psychischen Erkrankungen Schlüsse ziehen können. Oft sind es psychosomatische, ζ. B. endokrine Störungen, die solcherart erkannt werden können.
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Die praktische Anwendung der Graphologie
Die Feststellung des Charaktertypus wird dabei eine nicht unwichtige Bedeutung haben. Obgleich manche Untersuchungen (BREIL) ZU zeigen scheinen, daß schizophrene Erkrankungen gerade nicht bei Menschen des schizothymen Typus auftreten, so ist doch im allgemeinen der Konstitutionstypus sehr wichtig. So wird Melancholie eines Cyclothymen anders als die eines Schizothymen zu beurteilen sein, besonders im Hinblick auf die Suicid-Gefahr. Übrigens ist die Typenfeststellung audi bei körperlichen Krankheiten diagnosewichtig. Finden sich Vermutungen eines Lungenleidens bei einem Schizothymen, dann ist die Möglichkeit einer Tuberkulose größer als bei einem Cyclothymen, bei dem wieder die typisch stärkere Affinität zu Arteriosklerose oder zu Rheumatismen mitberücksichtigt werden kann. Ulcus wieder ist häufiger bei Schizothymen. Ist die diagnostische Bedeutung der Handschrift für Krankheiten begrenzt, so darf man sehr wohl sagen, daß die Schriftuntersuchung bei Neurosen aller Art sowohl konstatierend wie differenzierend wesentlich verläßlidier ist. Die Schrift gibt nicht nur über die Störungen Aufschluß, die die neurotische Funktionsbeeinträchtigung ausmachen und kennzeichnen, etwa Angst, Zwang, sexuelle Störungen, aggressive Einstellung, soziale Konflikte usw. Sie vermag audi deren Ausgangspunkt zutreffend anzugeben und die Vitalitätsstufe, die Ödipus-Erscheinungen, die größere oder geringere Sensibilität usw. kausaldiagnostisch mit den manifesten Erscheinungen zu verbinden. Es ist wirklich so, daß die Neurosen und ihre Strukturen in der Schrift für das geübte und erfahrene Auge im eigentlichen Wortsinn erschütternd sichtbar werden können. D a ß die Vitalität, ihre Schwäche und ihre Störungen verhältnismäßig sicher aus der Handschrift festgestellt werden können, wurde schon gesagt. Ebenso, daß die Schwierigkeit, vitale und endokrine Störungen dabei sicher auseinanderzuhalten, sehr bedeutend sind. Im ganzen zusammengefaßt ist die medizinisch-diagnostische Kompetenz der Schriftdeutung begrenzt und eigentlich nur bei Neurosen verhältnismäßig sicher, was Differentialdiagnose anbelangt. Krankheit an sich aber aus der Schrift zu erkennen ist unzweifelhaft möglich. Die Pflicht des Graphologen, nicht selbst Diagnose zu machen, sondern den Leidenden an die zuständige ärztliche Autorität zu verweisen, wenn er Krankheit vermutet, muß unterstrichen werden.
4. Die Voraussetzungen graphologischer Berufsarbeit a)
Ausbildung
Es gibt an zahlreichen Universitäten und Hochschulen die Möglichkeit zu graphologischer Forschung und Ausbildung in der Schweiz, in Deutschland, in Holland.
Die Voraussetzungen graphologischer Berufsarbeit — Verantwortlichkeit
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Gesetzliche Regelungen für die Berechtigung, den Beruf als Graphologe auszuüben, bestehen, soweit wir sehen, nirgends. Aber ohne Rücksicht auf die akademischen Ausbildungsmöglichkeiten muß der Graphologe außer der selbstverständlichen eingehenden und umfassenden Beherrschung der graphologischen Morphologie und Methode ein gutes, gesichertes und in lebendiger Entwicklung gehaltenes Wissen besitzen über alle Bereiche der Psychologie, der Charakterkunde, der Tiefenpsychologie, der Psychiatrie und Neurosenlehre und der Psychotherapie. Er muß Bescheid wissen über die Grundzüge des Ehe- und des Familienrechtes, über die Eigenart und die Erfordernisse der einzelnen Berufe und ihrer Ausbildungsmöglichkeiten. E r soll informiert sein über Physiologie und über das Wichtigste aus der Medizin. Er muß erfahren und geübt sein in der Art, Leidenden zu begegnen und ihnen gegenüber die professionelle Wahrheitspflicht mit dem audi für den Arzt geltenden Grundsatz: Primum non nocere! (Unter keinen Umständen schaden!) zu vereinigen verstehen. Hat er durch Ausbildung und gesetzentsprechende Berechtigung die Möglichkeit, selbst psychotherapeutische Behandlungen zu übernehmen, dann obliegt ihm besonders, Wissen und Erfahrung auch auf diesem Gebiete zu besitzen und auf dem Laufenden zu halten. b) Verantwortlichkeit Diejenigen, die sich an den Graphologen wenden, sind beinahe immer — ausgenommen bei der Arbeitgeberberatung — in irgendeinem Sinn leidend, sind ratlos, suchen Hilfe. Sie wissen das nicht immer und geben es nicht immer zu. Oft genug antworten sie, auf Frage, sie seien nur aus Neugier gekommen. Doch stellt sich auch bei solchen sehr bald heraus, daß sie irgendwo und irgendwie leiden, an sich, an den andern, an den beruflichen, familiären Verhältnissen. Daß sie also in einer Situation sind, in der sie sich nicht allein zu helfen vermögen. Gerade das ist mehr noch ein Zeichen des Leidens als ein unmittelbares Getroffensein, das den Schmerz charakterisiert. Daraus ergibt sich für den Graphologen, ob er nun beratend oder — je nach seiner Befugnis und Begabnis — behandelnd auftritt, die Pflicht besonderer Verantwortlichkeit: genaueste gewissenhafte Arbeit, Mitteilung des Befundes in einer dem Leidenden, seiner Lage und seiner Intelligenz entsprechenden Form, Wahrheitspflicht und Objektivität. Der Graphologe muß sich immer vor Augen halten, daß es nicht seine Aufgabe ist, zu verurteilen oder moralische Wertungen vorzunehmen, soweit sich solche vermeiden lassen. Er hat zu b e urteilen, nicht zu ν e r urteilen. Seine Urteilsmöglichkeit setzt eben dort ein, wo die des Ratsuchenden versagt.
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Die praktische Anwendung der Graphologie
D e r Graphologe m u ß auch immer d a r a n denken, d a ß sein B e f u n d nicht nur f ü r den Ratsuchenden selbst, sondern auch f ü r andere, die er möglicherweise gar nicht kennt, bestimmt ist. O f t genug wendet sich gar nicht der, der die Probe geschrieben hat, sondern ein anderer an den Gutachter. Diesem die Auskunft zu verweigern, ist meist nicht möglich u n d audi meist nicht nötig. Aber d a ß verurteilende Äußerungen allzu leicht mißverstanden u n d auch w e n n sie recht verstanden sind, zu irgendeiner Schädigung des Verurteilten führen können, m u ß immer berücksichtigt werden. Es geht ja auch nicht um ein Werten im moralischen Sinn, obgleich dieses audi beim objektivsten Menschen nie ganz vermieden werden k a n n . Es geht um die Klarstellung der inneren u n d äußeren Situation u n d darum, ihm nach dieser K l ä r u n g u n d auf G r u n d derselben den Weg zu weisen, der f ü r ihn richtig ist, u n d ihn vor Wegen abzuhalten, die unrichtig sind. Das hat natürlich nichts mit Prophezeiung, mit Zukunftsdeutung zu tun, vor der sich der gewissenhafte Graphologe ohnedies unter allen U m s t ä n d e n fernhält, obgleich sie immer wieder v o n ihm e r w a r t e t u n d sogar verlangt wird. Es handelt sich um die Möglichkeit, aus den Feststellungen psychologischer A r t von heute auf die Chancen und Risken der Bewährung und des Versagens von morgen u n d übermorgen die Konsequenz zu ziehen. E r f a h r u n g u n d Z u rückhaltung ist dazu in gleicher Weise erforderlich, v o r allem aber das Bewußtsein hoher Verantwortlichkeit. Übrigens h a f t e t der Graphologe juristisch f ü r sein Gutachten, insoweit er sich dabei Kunstfehler zuschulden kommen ließ, also nachlässig, unfachgemäß arbeitete. U n d er h a f t e t natürlich f ü r absichtliche Benachteiligung gegen sein besseres Wissen. Ansonsten sind Charaktergutachten, in denen Ungünstiges ausgesagt wird, sofern dies richtig u n d fachgemäß geschah, nicht Gegenstand einer zivil- oder strafrechtlichen V e r a n t w o r t u n g . Was aber nichts an dem vorher Gesagten ändert, d a ß der Graphologe gerade diesbezüglich besonders vorsichtig u n d zurückhaltend sein soll. c)
Diskretion
Auch dort, w o nicht gesetzliche Vorschriften über eine berufliche Verschwiegenheitspflicht bestehen, wie sie die Berufe des Arztes u n d des Rechtsanwalts überall regeln, ist der Graphologe k r a f t ungeschriebener Berufsethik zu absoluter Diskretion über alles verpflichtet, was ihm bei der Ausübung seines Berufes bekannt geworden ist. Als Zeuge vor Gericht w i r d er sich allerdings n u r dort auf diese Verschwiegenheitspflicht berufen können, w o sie durch positive Gesetzesnorm vorgeschrieben und geregelt ist. Aber von Mensch zu Mensch gilt sie, ungeachtet des Vorhandenseins oder Fehlens solcher N o r m e n .
Die Voraussetzungen graphologischer Berufsarbeit — Objektivität
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Es kommt sehr oft vor, daß nidit der Schrifturheber selbst, sondern ein anderer, der Gatte oder die Gattin, der Vater, der präsumptive Ehepartner, der Arbeitgeber die Handschrift vorlegen. In diesen Fällen ist der Graphologe gewiß nicht daran behindert, sein Gutachten abzugeben. Er bleibt aber seinem unmittelbaren Auftraggeber gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichtet, darf also nur diesem Auskunft geben, die Schriftprobe ausfolgen und darf nur mit seiner Zustimmung an andere, sei es auch der Sdirifturheber selbst, Bescheid oder Prüfungsunterlagen abgeben. Natürlich darf der Graphologe nicht ohne besondere Erlaubnis seine Analysebefunde der Schriftproben veröffentlichen, sei dies auch zu wissenschaftlichen Zwecken, besonders wenn dadurch die Person des Untersuchten in irgendeinem Sinn benachteiligt werden könnte. d)
Objektivität
Der Graphologe ist durch die Eigenart seiner Diagnosemethode in die Lage versetzt, in der sich etwa ein Röntgenarzt befindet. E r sieht, wie dieser, nicht die Außenseite des Patienten, kaum sein Verhalten, sondern das nackte Knochengerüst. Er könnte leicht darüber vergessen, daß es sich doch eigentlich um einen lebenden und leidenden Menschen handelt. Und er wird dadurch leicht in die gefährliche schiefe Situation gelenkt, nur negative, nur unzulängliche Seiten des Ratsuchenden zu erfassen oder diese wenigstens zu überschätzen. Namentlich Anfänger werden allzu leicht dazu verleitet, die vielleicht an sich nicht einmal unrichtig erfaßten ungünstigen Einzelheiten in den Vordergrund zu rücken. Es gehört viel Erfahrung und Fachkunde, aber vor allem auch viel Selbstzucht und Abgeklärtheit dazu, nie zu vergessen, daß es keinen Menschen gibt, der nur schlecht, aber audi keinen, der nur gut wäre. Kommt die Begutachtung einem dieser beiden Extreme zu nahe, dann liegt ganz sicher ein Fehler vor und die Prüfung muß wiederholt werden. Die andere große Gefahr für die graphologische Diagnose besteht darin, daß der Gutachter seine eigenen Konflikte auf den Prüfling hinausprojiziert oder daß er die Beurteilung durch seine Sympathie- oder Antipathiegefühle beeinflussen läßt. Von diesen ist kein Mensch frei. Es gibt Menschen, denen gegenüber auch ein sehr erfahrener Psychologie und Graphologe versagt, die „nicht sprechen", die sich ihm verschließen oder die ihn abstoßen. Manchmal sind es Erinnerungen an ähnliche Begegnungen, die irgendwie affektiv belastet sind. Manchmal liegt ein Verdrängtes oder Unbewußtes vor, das das Urteil färbt. Die Sicherung der eigenen Person des Gutachters gegen solche aus der eigenen Tiefe stammende Impulse gehört zu den höchsten beruflichen und moralischen Pflichten jedes Menschenbeurteilers. Nötigenfalls müßte er sich durch Selbstoder Fremdanalyse von seinen eigenen Konflikten ablösen und distanzieren.
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Hier muß audi nochmals die von FREUD für den Psychoanalytiker erhobene Forderung wiederholt werden, mit der „freischwebenden Aufmerksamkeit" alles, was die Handschrift sagt, zu beachten, aber nie vorzeitig Schlüsse zu ziehen. e)
Wirklichkeitsnahe
Der Graphologe muß immer der Wirklichkeit nahe bleiben. Er darf sein Urteil nicht durch schulmäßige, prinzipielle oder gewohnheitsmäßige Versteifungen und Dogmatisierungen, die sich in der täglichen Praxis allzu leicht einstellen können, einengen lassen. E r muß auch bei der Wahl der Worte, in die er sein mündliches oder schriftliches Gutachten kleidet, immer beachten, daß der andere eine Wortwendung, einen Ausdruck möglicherweise anders verstehen könnte, als es sich der Gutachter angewöhnt hat. Er muß wissen, daß jeder einzelne Fall, der vor ihn kommt, ein einmaliger, nie wiederholbarer Einzelfall ist, auch wenn er noch so „typisch" aussieht. E r muß unterscheiden können zwischen der Verhaltensfassade und dem von ihm unmittelbar erfaßten Wesen des Prüflings. Es gibt sozial und menschlich wichtige Verhaltensweisen, welche nicht mehr sind als das und doch die Anpassung aufs Entscheidendste gestalten können. Ehrlichkeit gehört meist zu den Verhaltensweisen. Das heißt, es kann einer sich korrekt und anständig verhalten (und als solcher bezeichnet und empfohlen werden), der dies doch nur tut, um keinen Nachteil zu erfahren oder um Vorteile dadurch zu erreichen. Die Unterscheidung ist natürlich wichtig, aber sie darf nicht zu doktrinären Moralismen führen. Die persönliche Einstellung des Ratsuchenden, seine Absichten und auch seine gefühlsmäßige Zu- und Abwendung gegenüber gewissen Verhaltensmöglichkeiten muß der Berater stets beachten, auch wenn er sie nicht billigt und für unzweckmäßig hält. Man kann nicht nur mit dem Kopf und noch dazu nach dem eigenen Kopf Ratschläge geben. Das Leben, um das es geht, ist das Leben des andern. Und Diskussionen über Richtig und Unrichtig führen höchstens zu einer augenblicklichen Überzeugung, die angesichts der ersten inneren oder äußeren Schwierigkeit wieder versagen wird. Oft wird der Ratsuchende, unter dem unbewußten Einfluß der „Übertragung" gegenüber dem Berater stehend, diesem recht geben, auch wenn er ihm nicht recht gibt. Und der Konflikt wird dann nicht vermieden und gelöst, sondern erschwert und wiederholt. Das Leben ist ungeheuer kompliziert. Es läßt sich nicht aus einem Gesichtspunkt heraus, sei er auch noch so weitsichtig gewählt und noch so erhöht, durchaus lösen. Es spielen immer unzählige, unübersehbare, dem Graphologen nie ganz bekannte Umstände mit, wie materielle, berufliche, wirtschaftliche, familiäre, gesellschaftliche, gesundheitliche, politische Faktoren. Daher gibt es keine Sicher-
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heit in der Voraussicht. Auch deshalb nicht, weil die seelischen Abläufe nicht mit der Präzision eines chemischen Prozesses vor sich gehen. Diese Einsicht muß festgehalten werden. Schließlich muß sich der Berater auch wohl oder übel damit abfinden, daß es immer wieder Menschen und Fälle gibt, denen keine wirkliche Hilfe und Förderung gebracht werden kann. Die Realität, mag sie psychisch oder außerweltlich sein, ist oft grausamer als die theoretische Möglichkeit. Das soll audi der Ratsuchende wissen und, im schlimmsten Fall, auf eine milde Art erfahren.
V.
Proben von Schriften und Schriftanalysen 1. Graphologischer Bericht über die einjährige Entwicklungsperiode einer Jugendlichen (hebräisch) Im Mai 1950 wurde mir in der Sprechstunde zur graphologischen Begutachtung je eine hebräische und eine deutsche Handschrift eines damals 16jährigen Mädchens übergeben. Im Mai 1951, fast genau ein Jahr später, wurde mir zur Kontrollanalyse eine weitere Handschrift des gleichen Mädchens aus dieser letzten Zeit gebracht. Beide Begutachtungen wurden ausschließlich auf Grund der Handschriftproben entwickelt. Das Mädchen selbst kenne ich bis heute nicht persönlich. Die Informationen, nach denen sich die Richtigkeit meiner Befunde ergibt, erhielt ich erst nach der Abgabe des zweiten (Kontroll-)Gutachtens. Der Sachverhalt und die Entwicklung, die hier gezeigt werden kann, ist an sich psychologisch interessant. Die Tatsache überdies, daß die Feststellungen unter Anwendung wissenschaftlich-graphologischer Methoden gewonnen werden konnten und der Umstand, daß hier zulande nur wenige Pädagogen über die moderne Graphologie etwas wußten, schien mir die Veröffentlichung dieses Falles zu rechtfertigen. I. Schriftprobe
1950
Außer der hebräischen wurde auch eine in deutscher Sprache und lateinischer Schrift hergestellte Probe vorgelegt. Die letztere erwies sich als so wenig geübt, daß sie für die Analyse im Wesentlichen nicht verwendet werden konnte und auch hier nicht abgebildet wird. Die hebräische Handschrift (Abb. 1), mit einer gewöhnlichen Füllfeder auf liniertem Papier geschrieben, zeigt wenig flüssige, wenig ausgereifte Formen, die nicht die Schreibreife einer Sechzehnjährigen zeigen, obgleich manche Formen recht gut gestaltet sind (ζ. B. sajin, manche ajin). Abgesehen davon aber entspricht die Schrift einem jüngeren Lebensalter und zeigt, daß die Schreiberin noch nicht ihr kalendermäßiges Alter geistig erreicht hat. Offenbar sind es nicht
Grapholog. Bericht ü. d. einj. Entwicklung einer Jugendlichen (hebräisch)
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so sehr physische wie psychische Hemmungsgründe, die die normale Entwicklung hier beeinträchtigt haben. Die genaue Prüfung zeigt folgendes: Der Anfangsrand ist relativ breit angelegt, verläuft aber sehr unregelmäßig. Der Endrand ist fast durchwegs eingehalten, es ist ein durchgehender unbeschriebener Rand zu sehen, der nirgends durchbrochen ist, nur einmal sehr schmal ist. Die beiden Ränder bilden, im ganzen betrachtet, einen deutlichen Rahmen um die Schrift, eine Einrahmung, die eine Absdiließung, eine Entfernung und Fremdheit des Ich erkennen läßt. Der breite, aber ungleichmäßig verlaufende Anfangsrand zeigt die Bedrängtheit dieses Mädchens, das bestrebt, eine gewisse äußere Form im Leben einzuhalten wie alle andern, aber durch Unsicherheit dabei gestört ist. Der durchlaufend eingehaltene Endrand läßt die Scheu unid Zurückhaltung erkennen, die dieses Kind vor dem Leben und vor allem, was ihm von draußen gegenüberstehen, widerfahren könnte, in drängendem Maße, wenn auch in einer recht unbestimmten Art erlebt. Der Abstand zwisdien den einzelnen Worten ist relativ groß und verrät, daß die Beziehung dieses Mädchens zu den Menschen um sie nicht so natürlich und nicht so selbstverständlich funktioniert wie dies „normalerweise" sein sollte. Das Kind steht irgendwie innerlich einsam, isoliert da und findet nicht den zwanglosen Weg zum Nächsten. Zugleich wird dadurch auch deutlich, daß der Denkablauf hier unregelmäßig, wenig logisch-systematisch vor sich geht, sprunghaft und zugleich doch auch gehemmt. Die Zeilen sind, obgleich liniertes Papier verwendet ist und obgleich die Buchstaben meist ängstlich genau auf dem Zeilenvordruck aufsitzen, oft freilich auch unter ihn hinunterfallen, nicht klar geschieden. Die überlangen Unterlängen bei ajin, kuf, nun, reichen soweit hinunter, daß sie die spätere Zeile berühren und sogar in sie eindringen. Das zeigt ebenfalls die geminderte Unbefangenheit, die verringerte Klarheit und die vorherrschende Subjektivität im Denken dieses Mädchens. Die einzelnen Worte sind nicht nur durch vergrößerte Wortabstände von einander abgehoben. Sie sind auch in sich geschlossen, sie bilden einen „Block", die einzelnen Buchstaben je eines Wortes stehen zusammen, freilich ohne daß sie durch unsichtbare „imaginäre" Verbindungen (sog. „Luftbrücken") wirklich in einem Zuge geschrieben wären. Das entspricht dem graphischen Merkmal, daß in der europäischen Schrift als „Verbundenheitsgrad" bezeichnet wird. Übrigens zeigte die — ansonsten nicht weiter verwendbare — deutsche Handschrift dieses Mädchens eine geradezu ängstliche Tendenz, die Worte in einem Zuge zu schreiben. Man muß audi angesichts der „Block"-Bildung der hebräischen Schrift
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Proben von Schriften und Sdiriftanalysen
auf die gleiche Ängstlichkeit und auf Unfrieden schließen, zugleich audi auf eine primitiv-oberflächliche einfache Art des Denkens, im Zusammenhalt mit den vergrößerten Wortabständen und der schwerfällig unentwickelten Formgebung ein wenig entwickeltes, höchst einfaches, leicht ablenkbares Denken. Man wird auch die Neigung zur sogenannten Gedankenflucht annehmen dürfen, die Tendenz also, nicht bei der Sache zu bleiben, sondern leicht vom „Hundertsten ins Tausendste" zu kommen. Darin liegt auch ein Mangel an Konzentration. Der Schreibdruck ist fast durchweg als schwach zu bezeichnen. Die verhältnismäßig dicken Federstriche an sich können nicht starken Druck der Feder gegen das Papier erweisen, da sie undifferenziert sind und keinerlei Unterschiede zwischen schwachen, dünnen und starken dicken Strichen zeigen. Auch lassen sich keine Spuren feststellen, daß die Federspitzen auseinandergedrängt waren, was beim starken Andrücken der Feder unvermeidbar und nicht zu verkennen ist. In dem also schwachen Schreibdruck erkennen wir geringe, schwache Vitalität, eine mehr passive Lebenshaltung, eine geringe Durchhaltekraft. Die gleiche innere Labilität, innere Aufgespaltenheit, reduzierte Trag- und Widerstandsfähigkeit und mangelnde innere Geschlossenheit erkennen wir auch aus der geringen Durchgestalcung der Mittelbuchstaben, aius ihrer Unvollkommenheit, nicht etwa im ästhetischen Sinne, sondern im Sinne der Formgebung. Das ist nicht nur als Vernachlässigung, sondern besonders hier vor allem als Mangel an Gestaltungskraft, an positiver Lebenskraft aufzufassen. (Diese Erscheinung ist der von R O D A W I E S E R beschriebene „schwache Grundrhythmus"). Die Schrift ist deutlich aus Merkmalen erkennbar, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden sollen, als sehr langsam zu bezeichnen. Daraus läßt sich wieder die mangelnde Unmittelbarkeit, die Schwierigkeit menschlichen Anschluß zu finden, die Ichbezogenheit, die Schwerfälligkeit im Reagieren und die innere Gehemmtheit erkennen. Dennoch aber ist diese Schrift nicht etwa locker und gelöst, sondern im Gegenteil spricht aus jedem Linienzug, aus jeder Buchstabenform, aus dem hohen Grade der „Block"-Bildung eine dauernde Anspannung, eine Versteifung, eine Unfreiheit der Gesamthaltung. Diese entspringt gerade aus der uns schon bekannt gewordenen inneren Unsicherheit und Vitalschwäche. Und sie führt verständlicherweise zur Gehemmtheit der Äußerung, zur Unruhe, Befangenheit, ja zu einer unnatürlichen Reaktionsweise, die nicht lebendig ablaufen kann und nicht etwa auf eine (hier sehr mangelhafte) Erregbarkeit, Sensibilität und Eindrucksoffenheit, sondern auf innere Un-Kraft und auf Angst zurückgeht. Z.u beachten ist eine merkwürdige Erscheinung, die sog. „Gruppenbildung", die in der Schrift deutlich ist. Ganze Gruppen von Worten, etwa in der ersten Hälfte der ersten Zeile, sind mit kleinen, weiten und dabei sehr stark rechtsschräg geneigten Buchstaben geschrieben. Hingegen zeigt die letzte Zeile größere,
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H e b r ä i s c h e Schriftprobe 1 (1950) eines 1 6 j ä h r i g e n Mädchens
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H e b r ä i s c h e Schriftprobe 2 (1951) des gleichen n u n m e h r 17jährigen Mädchens Z u „ G r a p h o l o g i s c h e r B e r i c h t . . . " S. 94 ff.
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