Einführung in die moderne Archivarbeit 3534181905, 9783534181902


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German Pages 151 [149] Year 2006

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft
1. Was ist ein Archiv?
2. Mittelalter und Frühe Neuzeit
3. Die deutsche Archivlandschaft seit dem 19. Jahrhundert
4. Die deutsche Archivlandschaft – monstro simile?
II. Leitfaden für die Praxis
1. Vor dem Archivbesuch
2. Im Archiv
3. Rechtsfragen
4. Quellenkunde
5. Restaurierung und Bestandserhaltung
III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften
1. Wozu Archivarbeit?
2. Mittelalter: Deutscher Orden
3. Frühe Neuzeit: Schwäbischer Reichskreis
4. Das 19. Jahrhundert: Der Aufstand der Schlesischen Weber
5. Zeitgeschichte: Industrielle in Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland
IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften
1. Zur wissenschaftlichen Aktualität von Archiven
2. Schlüsselkompetenzen
V. Berufsperspektiven
1. Das Berufsbild des Archivars
2. Ausbildungssituation in Deutschland
Glossar wichtiger Fachbegriffe
Literatur
Internetadressen
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Einführung in die moderne Archivarbeit
 3534181905, 9783534181902

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Sabine Brenner-Wilczek/Gertrude Cepl-Kaufmann/Max Plassmann

Einführung in die moderne Archivarbeit

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Alle Abbildungen: Universitätsarchiv und Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2006 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Umschlaggestaltung: schreiberVIS, SeeheimPeter Lohse, Büttelborn Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de

ISBN-13: 978-3-534-18190-2 ISBN-10: 3-534-18190-5

Inhalt Einleitung

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft . . . . . . 1. Was ist ein Archiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mittelalter und Frühe Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . 3. Die deutsche Archivlandschaft seit dem 19. Jahrhundert 4. Die deutsche Archivlandschaft – monstro simile? . . . .

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II. Leitfaden für die Praxis . . . . . . . . . . 1. Vor dem Archivbesuch . . . . . . . . 2. Im Archiv . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfragen . . . . . . . . . . . . . 4. Quellenkunde . . . . . . . . . . . . 5. Restaurierung und Bestandserhaltung

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften . . . 1. Wozu Archivarbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mittelalter: Deutscher Orden . . . . . . . . . . . . . . . 3. Frühe Neuzeit: Schwäbischer Reichskreis . . . . . . . . . 4. Das 19. Jahrhundert: Der Aufstand der Schlesischen Weber 5. Zeitgeschichte: Industrielle in Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften . 1. Zur wissenschaftlichen Aktualität von Archiven . . . . . . . . 2. Schlüsselkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Berufsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Berufsbild des Archivars . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausbildungssituation in Deutschland . . . . . . . . . . . . .

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Glossar wichtiger Fachbegriffe

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Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur

Einleitung Das Interesse an Archiven datiert nicht erst aus jüngster Zeit. Schon Novalis wusste: „Archive sind das Gedächtnis der Nation“. Damit spielt er auf zwei der möglichen Leistungen von Archiven an, die Sicherung von Daten der Vergangenheit und ihre identitätsstiftende Funktion. In den letzten Jahrzehnten hat Novalis’ Erkenntnis an Gewicht gewonnen. Archive erwiesen sich als Gewissensinstanzen, gar so etwas wie moralische Einrichtungen. Dies zeigte sich nach der Wende: Das von den Amerikanern gehütete Berlin Document Center wurde frei zugänglich und erlaubte einen ungehinderten Einblick in Personalakten der Nationalsozialisten. Die Gauck-Behörde übernahm die einer schnellen Vernichtung entgangenen Stasi-Unterlagen und machte damit die Aufarbeitung der politischen Praxis der DDR und der mit ihr verwobenen Lebensgeschichten ihrer Bürger möglich. Günter Grass hat dies in seinem Roman „Ein weites Feld“ thematisiert und damit die Ambivalenz verantwortungsvoller akribischer Recherche im Dunstkreis eines autoritären politischen Systems reflektiert. Es gelingt ihm, das System des Staatssicherheitsdienstes durchschaubar zu machen. Die Menschen, die darin arbeiten, verstehen sich als Kollektiv, bezeichnen sich selbst als „Wir vom Archiv“. Grass zeigt diese Menschen als Funktionäre, die die Hermetik der Institution nutzen, um sich zu tarnen. Es gelingt ihm aber auch, sie als sehr lebendige Figuren in ihrer jeweiligen Eigenart zu beschreiben. Archive enthüllen ebenso wie sie verhüllen. Die realen Vorgänge um die beiden genannten Archive und die literarische Aufarbeitung durch den Nobelpreisträger Grass wurden in der Presse gleichermaßen ausgiebig kommentiert. Entdeckungen, Wiederentdeckungen, auch Fälschungen sind der Stoff, aus dem nicht nur Geschichte, sondern auch Geschichten gemacht werden. Dass der Alltag eines Archivs in der Regel weitaus weniger spektakulär aussieht, mag man allenfalls ahnen. Es wäre reizvoll, der aktuellen Diskussion über einzelne Archive und ihren Einfluss auf die gegenwärtige Politik und Gesellschaft nachzugehen, doch diese Einführung folgt vor allem einem pragmatischen Auftrag. Als archivpraktischer Begleiter wendet sie sich vor allem an Studierende, Examenskandidaten und Berufseinsteiger der verschiedensten geisteswissenschaftlichen und historisch arbeitenden Disziplinen. Der Diskurs über die Aktualität von Archiven in der heutigen wissenschaftstheoretischen und kulturphilosophischen Diskussion soll deshalb nur am Rande thematisiert werden. Ein Blick auf die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel zeigt, dass diese Einführung in die Archivarbeit in der Tat ein Desiderat ist. Quellenkunden, also Einführungen in die verschiedenen Arten von historischen Quellen und ihre Interpretation, existieren vielfach im Rahmen von Einführungswerken zum Studium einer bestimmten Fachdisziplin. Nur selten wird dort aber eine Brücke zu Archiven und anderen verwahrenden Institutionen geschlagen, d. h. der Leser erfährt zwar, wie eine mittelalterliche Urkunde oder wie

Archive – Gedächtnis der Nation?

Ziele der Einführung

Abgrenzung zu Quellenkunden

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Einleitung

Unübersichtlichkeit der Archivlandschaft

ein Foto zu interpretieren ist, er erfährt aber nicht, wo er solche Quellen unter welchen Bedingungen finden kann. Vorhandene Überblicksdarstellungen zum Archivwesen richten sich in der Regel an Archivare oder an erfahrene Benutzer, vermitteln jedoch gerade Anfängern kein Grundlagenwissen zur deutschen Archivlandschaft und zu den wichtigsten Problemen und Fragen der Benutzung. Bisweilen handelt es sich auch um bloße Adressverzeichnisse mit wenigen ergänzenden Informationen bzw. um Beständeübersichten, die wiederum nur dem nutzen, der sich schon mit Archiven auskennt. Nur wenige Werke wenden sich an Laien bzw. potenzielle Archivbenutzerinnen und -benutzer, die sich in der Ausbildung befinden und erfahren möchten, was sie erwartet, was sie erwarten können und wie sie vorgehen müssen, damit sich ihre Erwartungen bezüglich der Leistungsfähigkeit und Praktikabilität von Archiven und ihrer Auswertung erfüllen. Diese Hilflosigkeit gegenüber der Institution Archiv, die sich bei Studierenden im ersten Semester ebenso feststellen lässt wie bei examinierten Historikern, Philologen und Kulturwissenschaftlern, steht im Gegensatz zur quantitativen und qualitativen Bedeutung, die Archive für diese Disziplinen haben. Das Problem lässt sich aber nicht mit der Vermittlung einiger Tipps und Hinweise bewältigen, denn dies würde der tatsächlichen Komplexität des Archivwesens nicht gerecht. In dieser Einführung werden deshalb außer der Benutzung auch die Geschichte des Archivwesens und seine Rolle in der derzeitigen Wissenschafts- und Berufslandschaft berücksichtigt. Wo setzen die mit dieser Einführung vermittelten Überlegungen und Informationen an? Archive sind mehr als der der endgültigen Verstaubung entgangene Rest der Jahrhunderte, wiewohl sich mit diesem Bild trefflich spielen lässt. Sie sind die gesicherte, in der Materialität von zumeist Papier und Schrift niedergelegte kollektive Erinnerung. Dies legitimiert zur Beschäftigung mit der Geschichte des Archivwesens. Mit einem Einblick in die Genese von deutschen Archiven und ihre strukturellen Grundlagen wird zunächst die Basis geschaffen für ein angemessenes Verständnis eines Archivs, in gewisser Weise auch besänftigend einer Erfahrung vorgebeugt, die alle, die in einem Archiv arbeiten möchten, machen werden: Archive richten sich zwar nach bestimmten Normen aus, diese aber haben im Laufe der Zeit einige Wechsel erfahren, so dass nur bedingt von feststehenden und allgemein verbindlichen Normen ausgegangen werden kann. Stattdessen spiegelt sich in den divergierenden Erscheinungsformen der Archive und ihrem Mangel an Einheitlichkeit ihre eigene, seit Jahrhunderten andauernde Entwicklung. Die deutsche Archivlandschaft ist mit einer unüberschaubaren Zahl von Archiven derartig heterogen strukturiert, dass ein gezieltes Auffinden von Quellen zu einem bestimmten Forschungsvorhaben oder Informationszweck nur dem möglich ist, der die Entwicklung des Archivwesens in Grundzügen kennt und daher einzuschätzen weiß, auf welche Weise ein bestimmter Archivbestand wo überliefert sein könnte. Da die Zahl der deutschen Archive, rechnet man neben den großen auch die mittleren, kleinen und kleinsten, oft nur nebenamtlich betreuten Einrichtungen mit ein, mehrere tausend überschreitet und es keinen allgemein anerkannten Standard zur Erschließung und Quellenpräsentation gibt, bleibt auch im Zeital-

Einleitung

ter der Online-Recherche eine praxisbezogene, für alle möglichen Benutzer geeignete Einführung in das Archivwesen notwendig. Der vorliegende Band versucht, die genannten Lücken zu schließen, ohne so sehr ins Detail zu gehen, dass der Einführungscharakter verloren gehen würde. Er dient vor allem zur Vorbereitung von Archivstudien. Auch während der Benutzung soll er zur Hand genommen werden können, um auf auftretende Probleme eine schnelle Antwort zu geben. Dem dient zum einen das Glossar wichtiger Fachbegriffe und zum anderen die Struktur des Bandes. In einem umfangreichen praxisorientierten Teil werden der Umgang mit einem Archiv vorbereitet und Hinweise für diese Vorbereitung gegeben. Hierbei geht es um handfeste Regeln, um Arbeitshilfen und Check-upListen, mit denen der Gang ins Archiv zu einer positiven Erfahrung für Studium und Beruf wird. Das Arbeitsfeld für Studierende der Geisteswissenschaften reflektiert das nachfolgende Kapitel. Es sensibilisiert für einen reichen Anwendungsbereich, der sich mit der Archiverfahrung und -kompetenz schon während des Studiums eröffnet. Dabei werden insbesondere auch die Archivbenutzerinnen und -benutzer eines neuen Typs im Auge behalten, nämlich Kulturwissenschaftler, deren Interesse an archivischen Quellen in den letzten Jahren sprunghaft ansteigt und die daher zunehmend neben die traditionelle Benutzerklientel der Historiker treten. An Fallbeispielen aus der philologischen Praxis, aus dem klassischen Aufgabenfeld der Historiker und zur personen- und ereigniszentrierten Recherche und wird der Informations- und Erkenntnisgewinn verdeutlicht, den die Archivarbeit mit sich bringt. In einem weiteren Kapitel werden Hinweise für die Berufspraxis gegeben, die aufzeigen, dass der Archivbesuch nicht nur für diejenigen lohnend ist, die eine wissenschaftliche Laufbahn in einer historisch arbeitenden Disziplin anstreben. Genauere Informationen zu den derzeitigen Möglichkeiten, ein qualifizierendes Archivstudium zu absolvieren und Angaben zu Kenntnissen und Schlüsselqualifikationen, die dort vermittelt werden, stehen dabei im Vordergrund. Ein Überblick über das breite Spektrum von Berufsperspektiven, die von der Archivkompetenz eröffnet werden, schließt dieses Kapitel ab. Abschließend sei darin erinnert, dass Hochschullehrer, die in besonderer Weise die Vermittlung von Archivkompetenz in ihrer Lehre berücksichtigen, sich noch immer mit dem zumindest latent vorhandenen Vorurteil auseinandersetzen müssen, eine leblose Materie zu vermitteln. Doch der heutige Wissenschaftsdiskurs belegt das Gegenteil: Archivarbeit hat an den aktuellen geschichtsphilosophischen Reflexionen einen besonderen Anteil. Demnach sind Archive nicht nur als Zeugen von Vergangenheit zu bewerten, sondern auch als Teilhaber an der Konstruktion von Gegenwart. Es ist deshalb wichtig zu fragen, welche Rolle die Arbeit im Archiv zur Erkenntnis der Gegenwart leistet. Die Spurensuche dort unterstützt das Erinnerungsund Gedächtnisvermögen. Beide sind wichtig für unsere Identität. Aspekte dieser anhaltenden lebhaften Reflexion über Identität, Gedächtnis und Erinnerung verbinden den Blick in die Archivgeschichte mit dieser gegenwärtigen Diskussion. Zu einem differenzierteren Blick auf das Wesen von Archiven selbst trugen vor allem Philosophen bei. Michel Foucaults „Archéologie du savoir“

Aufbau der Einführung

Aktualität der Archivarbeit

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Einleitung

Archive in Kunst und Literatur

Erinnerungskultur

(1969) und Jacques Derridas „Mal d’archive“ (1995) hatten zur Folge, dass jedes bis dahin geltende naive Vertrauen in eine positivistische Leistung von Archiven hinterfragt wurde. Die „Archäologie des Wissens“ erschien 1973 auf Deutsch, wodurch sich Foucaults Auffassung von Geschichte auch im deutschen Sprachraum verbreitete. In seinem geschichtstheoretischen und diskurshistorischen Ansatz betrachtet Foucault Geschichte selbst als „Archiv“, versteht sie als Gesetz, das Aussagen konstituiert und zugleich als System, das deren Erscheinen beherrscht. Damit wird unser Interesse auf neue, differenzierte Zusammenhänge gelenkt, denn unsere Kenntnis von der Geschichte ist zugleich die kritische Geschichte von der Entstehung dieses Wissens, d. h. seiner Generierung und Formierung und deren Regeln. Hieran hatten und haben Archive mit ihrer spezifischen Sammelpraxis in besonderer Weise teil. Die Kulturwissenschaften sind als erste diesen Anregungen gefolgt, hatten sie doch zur Folge, dass Archive nun erst recht ihre Bedeutung und Aussagekraft im aktuellen Diskurs sichern und zugleich die Funktion, lediglich Zeuge zu sein, eintauschen konnten gegen den Rang einer Partizipation an der Konstruktion von Sinnentwürfen. Neben den Kulturphilosophen haben auch Schriftsteller und Künstler die Faszination am nicht mehr Gebrauchten, am Abgelegten, Vergessenen empfunden und verarbeitet. Archive sind nicht die klischeehaft imaginierten grauen Orte, verwaltet von ebenso grauen Archivaren, sondern Orte des Geheimnisses, das hatte schon Franz Kafka in seinen Texten vermittelt. Der italienische Schriftsteller, Linguist und Ästhetiktheoretiker Umberto Eco bietet mit seinem Roman „Der Name der Rose“ ein aktuelles Erfolgsbeispiel für die Brisanz des Themas, das hat nicht zuletzt die nachfolgende Verfilmung Kassen füllend gezeigt. Mit der kriminalistischen Neugier eines Archivars hat Eco einem der fundamentalen antiken Mythen nachgespürt und einem christlich vereinnahmten, in der Tragödie theatral inszenierten Leidensmythos sein potenzielles Pendant wiederentdeckt. Die gesuchte, gefundene und im apokalyptischen Inferno der brennenden Bibliothek abermals vernichtete Handschrift der aristotelischen Komödientheorie wird zum virtuellen Weltentwurf, zu einer Gegenwelt, zum ewigen Lachen der Götter. Über die thematische Aneignung hinaus finden wir in der Kunst auch das Spielen mit dem Wissensspeicher Archiv. Zugleich ist aber hier in besonderer Weise gesehen worden, dass das, was ein Archiv zu sichern vorgibt, extrem gefährdet ist. Für Aleida Assmann, die der Erinnerungskultur in der Forschung einen besonderen Platz sicherte, haben Archiv und Mülldeponie eine gemeinsame Grenze, sind ihr umgekehrtes Spiegelbild. Zwischen beiden verläuft der schmale Grat, der die Existenz von Archivalien sichert oder einem unbestimmten Schicksal preisgibt. Als Embleme und Symptome für das kulturelle Erinnern und Vergessen haben sie aber zuweilen überlebt, wenn sie auch ihr vorläufiges Ende in einem Papierkorb gefunden hatten. Der Dadaist Hans Arp hat seine Ästhetiktheorie des Zufalls geradezu im Papierabfall seines Schreibtisches entdeckt: Papierschnitzel und ihre Transformation zur Collage gaben nicht nur ihm neue Impulse, sondern wurden symptomatisch für die Kunsttheorie und künstlerische Praxis der Moderne. In gemeinsamer Produktion von Arp und Max Ernst entstanden die „Fatagagas“, als „FAbrication de TAbleaux GAsométriques GArantis“, mit Ernst Schwitters, der mit seinen „Merz“-Bauten eine aus der Müllhalde gespeiste

Einleitung

Gegenwelt geschaffen hat, weitere Arbeiten. Erst in den siebziger Jahren entdeckte der Kunsthistoriker Werner Spies, dass Max Ernst seine frühen Collagen aus den abgelegten Heften einer Kölner Lehrmittelfabrik zusammengesetzt hatte. Sie verloren zwar zunächst ihre Funktion als Verkaufskatalog, dann auch als potenzielle Archivalien und als historische Quellen, wurden aber quasi als Kunst wiedergeboren. Nicht umsonst finden wir bei dem herausragenden Zeugen seiner Zeit, Walter Benjamin, eine Faszination für den „Lumpensammler“. Dem Reiz, den die praktischen Seite der Archivarbeit auf die Metadiskurse in Kunst und Wissenschaft immer wieder ausübt, möchte sich der vorliegende Band nicht gänzlich verschließen, sondern zum Zwecke eines nachdenklichen Umgangs mit dem Thema Archiv zumindest andeuten. Der Band entstand als Gemeinschaftsarbeit eines Historikers und Archivars, einer Kulturwissenschaftlerin und einer unmittelbar mit der Praxis eines Literaturarchivs vertrauten Literaturwissenschaftlerin. Er vereinigt so die Benutzerperspektive mit derjenigen der archivischen Arbeit. Die Vielzahl der auf diese Weise beteiligten Perspektiven wurde als Chance gesehen, breit und für eine weit gefasste Zielgruppe in die Archivbenutzung einzuführen. Die überwiegende Bearbeitung des archivgeschichtlichen Rückblicks und der historischen Recherchebeispiele lag bei Max Plassmann, die der Einführung in die Benutzungspraxis und das Berufsbild des Archivars bei Sabine Brenner-Wilczek. Die praktische Archivarbeit in den Literatur- und Kulturwissenschaften stellte Gertrude Cepl-Kaufmann dar. Autorinnen und Autor haben ihr archivpraktisches Konzept in einer Vielzahl gemeinsamer Seminare erprobt und die Ergebnisse in Ausstellungen und Studierendenkolloquia in Zusammenarbeit mit den Seminarteilnehmern der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Erfolg, die große Freude und nicht zuletzt die Fülle an reizvollen Erkenntnissen, die diese archivorientierten Aktivitäten allen Beteiligten bescherten, waren Motivation genug, diese Erfahrungen weiterzugeben. Düsseldorf, im Februar 2006

Sabine Brenner-Wilczek, Gertrude Cepl-Kaufmann und Max Plassmann

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft 1. Was ist ein Archiv? Archivstruktur und Föderalismus

Bedeutung der Verwaltungstraditionen

Berufsbild des Archivars

Die Prozesse, die seit dem Mittelalter zur Entstehung des deutschen Archivwesens im heutigen Sinne geführt haben, sind alles andere als zielgerichtet verlaufende Entwicklungen. Sie sind vielmehr Teil der wechselvollen deutschen Geschichte und können daher nicht angemessen ohne Berücksichtigung dieses Zusammenhangs beschrieben werden. Schon die diversen Bezeichnungen für Archive wie zum Beispiel von Staats-, Landes-, Stadt-, Kreis-, Kirchen- oder Wirtschaftsarchiven verweisen auf ein Grundthema, das die deutsche Archivgeschichte mit der allgemeinen deutschen Geschichte teilt: Der Föderalismus führte zu Vorgehensweisen in den einzelnen Staaten, die sich zwar überall der Natur der Sache nach ähnelten, die aber nicht immer gleich waren und sind. Man mag daher einen Mangel an Koordination beklagen, der bisweilen die Benutzung historischer Quellen erschwert. Auf der anderen Seite hat die Vielfalt jedoch auch immer befruchtend gewirkt und manche Idee gefördert, die es in einem strikt zentralistischen System schwer gehabt hätte. Die Wurzeln und die weitere Entwicklung des Archivwesens sind eng verknüpft mit der der jeweiligen öffentlichen Verwaltung und ihrer speziellen Traditionen, etwa bei der Art und Weise der Aktenbildung: So, wie die Unterlagen in den Verwaltungen angelegt worden waren, so gelangten sie in der Regel auch in die Archive. Entsprechend mussten hier für Erschließung und Aufbewahrung Arbeitsweisen gefunden werden, die zum jeweiligen Archivgut passten. So erfordert eine chronologisch geordnete Serie von Sitzungsprotokollen einer kollegial verfassten Behörde ein anderes Herangehen als eine nach sachlichen Rubriken geordnete Registratur. Unterschiedliche Arbeitsweisen ergaben sich jedoch auch daraus, dass sich das Berufsbild des Archivars und das Selbstverständnis der Institution im 19. Jahrhundert erst entwickeln mussten. Es macht schon einen Unterschied aus, ob sich der Archivar als Hüter der verlängerten Altregistratur der Verwaltung im engeren Sinne versteht, also in Denken und Handeln verwaltungsnah ist, oder ob er sich als Historiker oder Wissenschaftler versteht, der sich den Unterlagen eher unter dem Aspekt der Auswertung nähert. Im 19. Jahrhundert war nach einer gewissen Anlaufzeit v. a. dieser zweite Typ des Archivars verbreitet, was zu einer deutlichen Bevorzugung der mittelalterlichen Bestände führte, denen man als Historiker eine höhere Wertigkeit einzuräumen geneigt war. So prägte bis in das späte 20. Jahrhundert hinein ein deutliches Übergewicht an Mediävisten das staatliche Archivwesen. Es gehört zum Wesen der Wissenschaft und damit auch zum wissenschaftlichen Archivwesen, dass keine allgemeingültigen, ewigen Gesetze herrschen, sondern dass ein stetiger Wider- und Wettstreit der Meinungen

1. Was ist ein Archiv?

vorherrscht, dass jeder letztlich so arbeitet, wie er es als Wissenschaftler vor sich selbst und der Fachwelt verantworten kann. So war von Beginn des modernen Archivwesens an eine Vielfalt der Methoden und der Terminologie angelegt, die sich nicht wesentlich von der vergleichbaren Vielfalt in anderen wissenschaftlichen Arbeitsgebieten unterschied und unterscheidet. Diese Vielfalt ergab sich nicht nur zwischen den Archiven, sondern manchmal auch innerhalb eines Hauses etwa in seinen Abteilungen oder nach personellen Wechseln. Potenzielle Archivbenutzer sind mit dieser historisch gewachsenen Vielfalt konfrontiert und müssen sich mit ihr auseinander setzen, um sinnvoll arbeiten zu können. Was ein Archiv genau ist und was dem zufolge ein Archivbenutzer dort erwarten kann, ist nicht ganz leicht zu definieren. Denn der Begriff „Archiv“ wird im Sprachgebrauch so vielfältig verwandt, dass keine einheitliche, griffige Formel gefunden werden kann, ihn zu beschreiben. Das gilt sogar dann, wenn man alle Zeitschriften, die sich etwa „Archiv für Kulturgeschichte“ oder „Archiv für Begriffsgeschichte“ nennen, und alle Computerprogramme, die eine „Archivfunktion“ anbieten, außer Betracht lässt. Denn ein Staatsarchiv ist doch etwas ganz anderes als ein „freies Archiv“ einer lokalen Geschichtswerkstatt oder eine „Archiv“ genannte Sammlung eines Forschungsinstituts. Und umgekehrt gibt es Archive, die dieses Wort nicht im Namen führen – zu erinnern ist da nur an zahlreiche Handschriftenabteilungen großer Bibliotheken. Der Archivbenutzer steht so vor dem gleichen Problem wie die Verfasser einer kurzgefassten Einführung in die Archivbenutzung: Die Facetten des deutschen Archivwesens sind so schillernd, dass es nicht möglich ist, alle Feinheiten zu berücksichtigen. Auch kann man nicht den Überblick über dieses sich aller Homogenität entziehende Feld behalten, wenn man nicht weiss, wie, warum, wann und mit welchen Zielen das unsystematische Netz von tausenden von Archiven in Deutschland entstanden ist. Allein eine Stadt wie Düsseldorf zählte im Rahmen einer spartenübergreifenden archivischen Zusammenarbeit im Jahr 2003 19 Archive, die am „Tag der Archive“ teilnahmen, wozu noch ein gutes Dutzend hinzugekommen wäre, wenn sich denn alle Archive und archivähnlichen Institutionen der Stadt beteiligt hätten. So soll hier einleitend nur eine ganz vage Definition von „Archiven“ angeboten werden, die im Folgenden durch eine Beschreibung der Entstehung und Ausformung der deutschen Archivlandschaft präzisiert wird: Archive sichern, verwahren, ordnen, erschließen Unterlagen (v. a. Schrift, aber auch Bild- und Tonträger sowie neuerdings digitale Daten) und stellen sie für eine Benutzung bereit. Das Benutzungsinteresse ist so vielschichtig wie die Art der verwahrten Unterlagen. Gemeinhin wird es mit historischer Forschung im weitesten Sinne (unter Einschluss der stets boomenden Genealogie) gleichgesetzt, doch auch andere Nutzungsformen spielen im Arbeitsalltag eine große Rolle, etwa die Erbenermittlung oder andere praxisbezogene bzw. rechtssichernde Anliegen, aber auch die nichtwissenschaftliche journalistische Recherche. Der Unterschied zu Bibliotheken und Museen, die auf verwandten Feldern tätig sind, liegt neben den zum Teil stark unterschiedlichen Methoden v.a. in der Art der verwahrten Medien: Während Bibliotheken haupt-

Definition des Archivbegriffs

Benutzerperspektiven

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft

Strukturgenese der Archivlandschaft

sächlich Druckschriften verwahren, die in mehr oder minder großen Auflagen entstanden sind, verwahren Archive in der Regel Unikate oder in kleinsten Auflagen entstandene Vervielfältigungen. Das teilen sie mit vielen Museen, die jedoch oft dingliche Gegenstände und/oder Kunstobjekte aufbewahren, während es sich bei klassischem Archivgut um „Flachware“ handelt, d. h. um Schriftstücke, die von einer Verwaltung, einer Institution oder einer Privatperson verfasst worden sind. Auch die Ziele unterscheiden sich stark: Während Museen präsentieren, stellen Archive für die Benutzung bereit. Wenn im Folgenden also ein historischer Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung des deutschen Archivwesens genommen wird, so handelt es sich um keine institutionengeschichtliche Nabelschau, sondern um eine Möglichkeit der Systematisierung: Aus ihrer Genese heraus lassen sich die Arbeitsweisen und Funktionen der verschiedenen Archivtypen oft besser erklären und verstehen als aus ihren heutigen Aufgaben. Es geht dabei jedoch ausdrücklich nicht darum, Archivgeschichte im engeren Sinne zu betreiben. Das heißt, es werden keine Daten aneinander gereiht, und es wird auch kein einzelnes Archiv mit seiner speziellen Entwicklung präsentiert. Stattdessen wird idealtypisch die Entwicklungsgeschichte des deutschen Archivwesens beschrieben. Dass die Verhältnisse im Einzelfall ganz anders lagen, der Entwicklung vorauseilten oder hinterherhinkten, das wird nicht mehr im Einzelnen erwähnt, sollte aber immer berücksichtigt werden. Einen wichtigen Grundgedanken sollte man dabei nicht aus den Augen verlieren: Die Struktur des Archivwesens korrespondiert immer mit der der Verfassung der Gesellschaften, Staaten oder Körperschaften, die Archive einrichten und unterhalten. Eine dezentralisierte Verfassungsstruktur verträgt sich nicht mit einem zentralisierten Archivwesen und umgekehrt.

2. Mittelalter und Frühe Neuzeit 2.1 Das Archiv im Urkundenzeitalter: Mittelalter Wurzeln im Verwaltungshandeln

Das Wort „Archiv“ leitet sich ab vom Wortstamm arché bzw. archeion, dem griechischen Wort für „Verwaltungsgebäude“. Dieser Befund begleitet die Entwicklung des Archivwesens durch die Jahrhunderte und wird erst in der Frühen Neuzeit langsam, seit dem 19. Jahrhundert dann immer schneller durch neue Funktionen und Themenstellungen ergänzt. Der Hauptstamm der Archiventwicklung lag jedoch zunächst bei Funktionen im Rahmen eines „Verwaltungsgebäudes“, und dieser Stamm ist bis heute so stark, dass er nach wie vor die Wurzel und den Bezugspunkt des gesamten Archivwesens darstellt und die einzig brauchbare Typologie, die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Archiven, hervorgebracht hat. Die ursprünglichen archivischen Funktionen im Rahmen eines Verwaltungsgebäudes bzw. der Verwaltung eines Herrschaftsträgers, gleichgültig ob weltlich, geistlich, kommunal usw., sind schnell umrissen. Sobald Verwaltung mit Schriftlichkeit verbunden wird, müssen die entstehenden Schriftstücke wenigstens so lange aufbewahrt werden, wie sie einen prakti-

2. Mittelalter und Frühe Neuzeit

schen Nutzen haben. Das wiederum erfordert nicht nur eine Sicherung gegen Diebstahl und schädliche Umwelteinflüsse, sondern auch eine Ordnung, die bei wachsenden Mengen von Schriftstücken im Bedarfsfall ein Wiederauffinden ermöglicht. Diese Erkenntnis versetzt in die Problemlage der Herrschaftsträger des Mittelalters, um antike Vorläufer einmal außer Betracht zu lassen. In diesen Jahrhunderten ist bekanntlich auch in den vormals romanisierten Gebieten die Schriftlichkeit stark zurückgegangen. Vieles wurde hier wie in ehemals ,barbarischen‘ Gegenden mündlich verhandelt und tradiert. Auch dazu gab und gibt es kulturelle Techniken des Erinnerns und Weitergebens, doch haben diese wenig mit den Vorstadien des heutigen Archivwesens zu tun. Hier handelt es sich um zwei Stränge der gesellschaftlichen Organisation des Erinnerns, um den mündlichen und um den schriftlichen Zweig. Dass Letzterer sich in Mitteleuropa und mitteleuropäisch beeinflussten Kulturen durchgesetzt hat, hat dazu geführt, dass Schriftgut verwahrende Institutionen wie Archive und Bibliotheken zu den zentralen Orten des Erinnerns geworden sind, während mündliche Traditionen mehr und mehr ein Schattendasein führen. Das ist aber auch der Grund dafür, dass heute alle Disziplinen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen wollen, um den Gang in Archiv und Bibliothek nicht herumkommen. Auch wenn die Schrift in der mittelalterlichen Lebenswirklichkeit eine weitaus geringere Rolle als in der Antike spielte, wurde sie immer, auch in den „dunkelsten“ Zeiten, genutzt, um wichtige Texte von langfristiger Bedeutung festzuhalten. Das sind zum Einen religiöse, wissenschaftliche oder auch literarische Texte in den Codices, aus denen sich letztlich die gedruckten Bücher entwickelt haben und für die sich daher heute die Bibliotheken verantwortlich fühlen. Auf der anderen Seite entstanden v. a. rechtssetzende oder -fixierende Texte, also die Urkunden des Mittelalters, in denen Privilegien, Belehnungen, Urteile oder sonstige Rechte schriftlich aufgezeichnet und beglaubigt wurden. Viele dieser Urkunden hatten eine langfristige praktische Funktion für ihre Empfänger. Wegen des Fehlens eines übergeordneten Registerwesens, etwa für Grundbesitz oder Zollrechte, musste im Konfliktfall die Urkunde vorgelegt werden, mit der die umstrittenen Rechte erworben wurden. Ein weltlicher oder geistlicher Herrschaftsträger musste demnach peinlich genau darauf achten, alle seine Urkunden parat zu haben, und das über Jahrhunderte hinweg, denn Rechte, die im Frühmittelalter erworben wurden, konnten durchaus noch im 15. Jahrhundert angezweifelt werden. Die mittelalterlichen „Archive“ waren also vielfach nichts anderes als Speicher von Beweismitteln für rechtliche oder sonstige Konfliktfälle, die jeder Herrschaftsträger benötigte, letztlich also ein Herrschaftsinstrument zur Sicherung von Herrschaftswissen. Sie hatten damit eine rein praktische Funktion. Wenn Urkunden über Jahrhunderte sorgfältig verwahrt wurden, so geschah das nicht wegen ihres kulturellen Wertes oder für die Zwecke der historischen Forschung (beides sind moderne Erfindungen), sondern aus handgreiflichen Bedürfnissen der Politik, der Wirtschaft oder des Rechts heraus. Das bedeutet gleichfalls, dass solche Urkunden, die doch irgendwann ihren praktischen Wert verloren, auch vernichtet werden konnten und daher häufig der Forschung nicht mehr zur Verfügung stehen.

Schriftlichkeit – Mündlichkeit

Rechtssetzende und -sichernde Texte

Sicherung von Herrschaftswissen

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft

Mittelalterliche Archive?

Den Umfang mittelalterlicher Archive darf man sich nicht allzu groß vorzustellen. Die Anzahl der aufzubewahrenden Urkunden war natürlich abhängig von der Größe und Bedeutung des jeweiligen Archivträgers. Doch auch bei größeren Herrschaften wurde nicht unbegrenzt und beliebig beurkundet. Dazu war angesichts des teueren Beschreibstoffs Pergament die Ausfertigung von Urkunden zu kostspielig. Von der Ordnungsstruktur mittelalterlicher Archive hat man nur vage Vorstellungen. Nicht selten finden sich zwar auf den Urkunden oder ihren Rückseiten Einträge von ,archivischer‘ Hand wie Signaturen oder Rubrizierungen (d. h. Kurzangaben zum Inhalt). Doch es fällt schwer, daraus ein klares Bild von der Ordnung der Stücke zu zeichnen. Bei kleineren und kleinsten Archiven liegt ohnehin die Vermutung nahe, dass das Wiederauffinden einzelner Stücke auch in einem weitgehend ungeordneten Zustand möglich war. Bei größeren Urkundenspeichern lässt sich eine chronologische Reihung und/oder eine Trennung nach Ausstellern, Rechtsgegenständen, betroffenen Orten usw. oft eher vermuten als beweisen. Die Stücke wurden in Truhen, Kisten oder Kästen gelagert, die bei örtlich stabilen Herrschaftsträgern einen festen Platz etwa in einem Gewölbe hatten, bei wandernden auch transportabel waren – ein weiteres Argument dafür, die Archive klein zu halten. In unserem Zusammenhang, nämlich bei der Frage der Benutzung mittelalterlicher Urkunden, ist es jedoch letztlich belanglos, wie genau ein mittelalterliches Archiv ausgesehen hat. Zahlreiche grundlegende Veränderungen in den Jahrhunderten seitdem haben das Bild ohnehin verändert. Wichtig ist der Grundgedanke des mittelalterlichen Archivwesens, der in veränderter Form noch immer fortlebt: Archive dienten als Speicher von Herrschaftswissen mit zunächst praktischen, rechtssichernden Zwecken und hatten sehr wenig mit Bestrebungen zu tun, Quellen für eine historische Forschung im modernen Sinne zu sichern. Herrschaftswissen war Macht, und daher waren die Archive in der Regel geheim in dem Sinne, dass sie nur dem jeweiligen Herrschaftsträger selbst bzw. seinen Vertretern offen standen, während Fremde keinen oder nur stark beschränkten Zugang hatten. Daran änderte sich lange Zeit nichts.

2.2 Das Archiv im Aktenzeitalter: Spätmittelalter und Frühe Neuzeit Ausweitung der Schriftlichkeit durch Papier

Zu tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitsweise und in den verwahrten Materialien kam es im Spätmittelalter. Seit dem 14. Jahrhundert löste in Deutschland das billigere Papier das Pergament als Standard-Beschreibstoff ab. Erst jetzt war es wirtschaftlich, mehr und mehr Informationen über die Urkunden und Verträge hinaus schriftlich zu fixieren und einer stetig wachsenden und sich stetig differenzierenden Verwaltung für ihre tägliche Arbeit bereitzustellen. Es entstanden sowohl Amtsbücher wie Protokolle, Register oder Rechnungsbücher, in denen systematisch Daten und Angaben gesammelt wurden, als auch Akten, in denen die internen Schriftstücke und die Schriftwechsel mit auswärtigen Stellen zusammengefasst wurden, die z. B. zu einer Entscheidung, einer Urkunde oder einem Vertrag geführt hatten und daher zu deren Verständnis wenigstens potenziell wichtig waren. Beides hatte wie die Urkunden einen praktischen Wert über die unmittelbare Entstehungszeit hi-

2. Mittelalter und Frühe Neuzeit

naus, etwa indem nicht nur eine Urkunde vorgelegt wurde, die eine bestimmte Abgabe konstituierte, sondern auch die Rechnungen, die belegten, dass diese Abgabe auch tatsächlich geleistet wurde. Solche Beweismittel spielten nicht zuletzt bei der Verbreitung des Römischen Rechts eine große Rolle, bei dem die Prozessführung vollständig auf Schriftlichkeit beruhte. Die Funktion der Archive der Herrschaftsträger änderte sich durch die vermehrte Entstehung von Schriftgut nicht wesentlich, sehr wohl aber ihr Aussehen. Immer weniger reichte ein Kasten oder eine Truhe zur Verwahrung eines vollständigen Archivs, so dass an die nun ortsfesten Verwaltungen ganze Archivräume angeschlossen werden mussten, die auch je nach Größe mit eigenem Personal versehen wurden. Hier setzen auch umfassende Ordnungssysteme und Erschließungsarbeiten ein, die zur Wahrung der Übersicht bei wachsenden Beständen unabdingbar waren. Um Archive im modernen Sinne handelte es sich indes immer noch nicht, denn sie bestanden nicht als eigenständige Institutionen, sondern als Teil der Verwaltung mit einer dieser unmittelbar dienenden Funktion. Erst langsam im Verlaufe der Frühen Neuzeit trat mit der Entwicklung eines historiographischen Interesses ein weiterer Aspekt hinzu, der die Auswertung für die Herrschaftspraxis zunächst vorsichtig ergänzte, später dann mehr und mehr überlagerte und heute dominiert. Die Erkenntnis, dass aus überkommenen schriftlichen Quellen Geschichte geschrieben werden kann, diente zunächst vielfach dem gleichen Zweck wie das Handeln einer Verwaltung eines Herrschaftsträgers, nämlich der Legitimierung oder Absicherung von dessen Stellung etwa in Form einer dynastischen Historiographie, deren Verfasser zu diesem Zweck einen privilegierten Zugang zu dem ansonsten für Fremde geschlossenen Archiv erhielten. Erst nach und nach regte sich dann so etwas wie eine unabhängige oder auch unmittelbar zweckfreie Forschung. Auch wenn fast alle Archive der Frühen Neuzeit Herrschaftsarchive waren, die als Privatbesitz der Herrschaft behandelt wurden, so gewann doch nicht zuletzt durch das Gedankengut der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Idee der Verwahrung historischer Quellen aus rein kulturellen Zwecken mehr und mehr Raum. Der Zugang zu Archivalien blieb aber nach wie vor von obrigkeitlicher Genehmigung abhängig, und Schriftgut, das keinen Wert mehr zu haben schien, konnte nach Belieben vernichtet werden (etwa um Platz für jüngere Akten zu schaffen).

Wachsender Umfang von Archiven

Kulturelle Zwecke

2.3 Archive zu Beginn des 19. Jahrhunderts Am Ende der Frühen Neuzeit, in der Zeit der Französischen Revolution und in den Napoleonischen Kriegen, kreuzten sich dann mehrere Entwicklungen, die der Entstehung des modernen Archivwesens im engeren Sinne den Weg ebneten. Dass im Zuge von Unruhen oder Aufständen Untertanen herrschaftliche Archive stürmten oder auch vernichteten, um die Möglichkeiten des Herrschers einzuschränken, im Rechtsstreit durch das Vorlegen oder Zurückhalten schriftlicher Beweise im Vorteil zu sein, war schon lange zu beobachten. In der Französischen Revolution wurde – obschon viele Archive auch gezielt vernichtet wurden – dieser herrschaftliche Vorteil erstmalig in Frankreich mit einem Gesetz unterlaufen, das allen Bürgern Zu-

Französische Revolution

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft

Neue Sichten auf alte Quellen

Mediatisierung

gang zu den ehemals herrschaftlichen und staatlichen Archiven garantierte, nicht zum Zwecke der historischen Forschung, sondern zur Sicherung eines gleichen Informationsstandes und damit gleichen Rechts. Archivbenutzung als Bürgerrecht ist tatsächlich bis heute eine wesentliche Säule der Demokratie, da auf diese Weise staatliches Handeln überprüfbar und transparent wird. Es kann daher kaum verwundern, dass die Archivöffnung nur von kurzer Dauer war und im Zuge der Restauration des 19. Jahrhunderts schnell wieder rückgängig gemacht wurde. Die Idee des freien Archivzugangs als Bürgerrecht allerdings war in der Welt und begleitete die weitere Entwicklung des Archivwesens. Gleichzeitig entstand der Gedanke der unmittelbar zweckfreien Archivierung historischer Quellen – nicht als Wissensspeicher der Verwaltung, sondern für die Forschung bzw. in Verfolgung kultureller Ziele. Auch dieser moderne Benutzungszweck begleitete die weitere Entwicklung des deutschen Archivwesens. Er schuldet sich nicht zuletzt der Romantik des 19. Jahrhunderts, die die Vergangenheit und ihre Zeugnisse verklärte. Die Entwicklung wurde jedoch zunächst von weitaus praktischeren Problemen bestimmt. Schriftlichkeit und Umfang der Verwaltung hatte seit dem Spätmittelalter immer weiter zugenommen, so dass ernsthafte Platzprobleme in den Archiven die Folge waren. Gleichzeitig betrachtete der Rationalismus der Aufklärung überkommene, im Mittelalter fußende Rechte zunehmend als alte Zöpfe, die eine Modernisierung behinderten. Daher nahm auch die Wertschätzung bzw. die praktische Bedeutung eines Beweises an Hand von mittelalterlichen Diplomen ab, von denen überdies zahlreiche mit modernen hilfswissenschaftlichen Methoden als Fälschungen entlarvt wurden. Auch die praktische Bedeutung von älteren Akten oder Amtsbüchern sank mit dem Verstreichen von Jahrhunderten seit ihrer Entstehung, so dass große Teile der Archive praktisch wertlos waren und daher aus Verwaltungssicht hätten vernichtet werden können. Diese Entwicklung beschleunigte sich durch die politischen Veränderungen. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verlor die Masse der traditionellen Herrschaftsträger in Deutschland ihre Selbständigkeit an ihre größeren Nachbarn, die schließlich die Staaten des Deutschen Bundes stellten. Diese Staaten übernahmen mit Land, Leuten und Besitz der aufgelösten Herrschaftsträger auch die Archive, die dadurch vielfach endgültig ihre praktische Bedeutung einbüßten. Nach der Säkularisation war es für die Verwaltung meist unerheblich, ob ein Kloster einst Abgaben von einem bestimmten Dorf eingezogen hatte oder nicht. Die neuen Staaten hatten also ein doppeltes Problem sowohl mit ihren wachsenden eigenen Archiven als auch mit den zahlreichen kleineren Archiven übernommener Herrschaftsträger. Aus denen konnten die laufenden oder jüngsten Vorgänge herausgezogen und in der eigenen Verwaltung untergebracht werden. Der Rest war indes überflüssig und kostete Geld, indem er Räume belegte und Personal zu seiner Verwaltung benötigte. Für das weitere Vorgehen entscheidend waren dann die Verhältnisse vor Ort, nicht selten auch der Zufall. Vieles wurde direkt vernichtet, nicht anders übrigens als bei den Bibliotheken der Klöster, die die Stürme der Jahrhunderte überstanden hatten, um nun zum Teil öffentlich verbrannt zu werden, da man der Büchermassen nicht mehr Herr wurde.

3. Die deutsche Archivlandschaft seit dem 19. Jahrhundert

Wo sich indes Persönlichkeiten fanden, die den kulturellen Wert der Überlieferung zu würdigen wussten, sicherte man zumindest Teile der nur noch unter historischen Aspekten bedeutsamen Überlieferung. In welchem Umfang dies geschah und anhand welcher Kriterien die Auswahl durchgeführt wurde, war wiederum abhängig von den örtlichen Verhältnissen. Als Ergebnis besaßen die Staaten im frühen 19. Jahrhundert mehr oder minder große Bestände von Urkunden, Amtsbüchern und Akten, die nur noch der historischen Forschung im weitesten Sinne dienten. Es lag daher nahe, die die Verwaltungen davon zu entlasten und sie in eigene Institutionen zu überführen. So entstand das moderne Archivwesen durch die Trennung zwischen Registratur, d. h. der Stelle einer Verwaltung, die deren laufende Vorgänge führt, und Archiv, d. h. der Stelle, die diese Vorgänge übernimmt, wenn sie geschlossen wurden und allenfalls noch sporadisch für Verwaltungszwecke benötigt werden.

Trennung von Registratur und Archiv

3. Die deutsche Archivlandschaft seit dem 19. Jahrhundert 3.1 Öffentliche Archive Der Archetyp eines modernen Archivs ist das staatliche Archiv, denn es waren die Staaten, die als erste im früheren 19. Jahrhundert systematisch historische Archive einrichteten und unterhielten. Alle jüngeren Archivtypen leiten sich entweder von diesem Vorbild ab oder sind später in Abgrenzung von diesem als nicht-staatliches oder sogar sogenanntes „freies“ Archiv entstanden. Die Funktions- und Arbeitsweise der Staatsarchive ist jedoch in der Regel für die meisten Archivtypen Vorbild, oder sollte es wegen ihrer langjährigen Bewährung zumindest sein. Die Frühgeschichte der staatlichen Archive steht in enger Verbindung mit ihrer Vorgeschichte. Sie verwahrten nach wie vor Unterlagen im Besitz und Eigentum des Staates oder – als sogenanntes Hausarchiv – der herrschenden Dynastie. Staatsarchive blieben deshalb geheim, waren also mit Zugangsbeschränkungen versehen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand ein flächendeckendes Netz staatlicher Archive, indem jeder der neuen Bundesstaaten sein Territorium in sogenannte Archivsprengel unterteilte: Ein territorial fest umrissenes Gebiet, etwa ein Regierungsbezirk, wurde einem Staatsarchiv zugeordnet, das fortan für die Übernahme aller historisch wertvollen Unterlagen aller staatlicher Behörden und Stellen in diesem Sprengel zuständig war und dem alle älteren mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Archivalien aus älteren Territorien innerhalb des Sprengels übergeben wurden. Die Größe der Archivsprengel bzw. die Zahl der staatlichen Archive richtete sich jeweils nach den örtlichen Verhältnissen. Bei kleineren Staaten reichte auch ein einziges Archiv für das ganze Land aus. Ansonsten musste immer auch ein Archiv als Haupt-Archiv dienen, das die Unterlagen der zentralstaatlichen Ebene, also der Regierung und der Ministerien übernahm. Die Benennung dieser Archive schwankt bis heute zwischen „Hauptstaatsarchiv“, „Landeshauptarchiv“ oder auch „Generallandesarchiv“. Ein deut-

Staatsarchive

Archivsprengel

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft

Theorie und Praxis

Ausbildung weiterer Archivtypen

Beleg für Autonomie

sches Nationalarchiv konnte naturgemäß erst nach der Reichsgründung 1871 entstehen, allerdings vollzog sich seine Gründung erst 1919 mit Einrichtung des Reichsarchivs, das 1945 mit dem Reich unterging. Die Bundesrepublik richtete dann wieder ein Bundesarchiv ein, während die Deutsche Demokratische Republik ein Zentrales Staatsarchiv unterhielt. Die Abgrenzung regionaler Sprengel dient in den meisten Fällen als Rechercheinstrument erster Ordnung, das dem Benutzer auch ohne zusätzliche Hilfsmittel erlaubt, vom heimischen Schreibtisch her das staatliche Archiv zu bestimmen, in dem die gesuchten Unterlagen verwahrt werden. Es können sich dann gezielte Anfragen anschließen, die ihn unmittelbar zu den einschlägigen Beständen führen. Voraussetzung dafür ist eine gewisse Kenntnis der Archiv- und der Verwaltungsgeschichte. Wenn bekannt ist, welche Behörde oder staatliche Stelle zu welchem Zeitpunkt welche Aufgabe hatte (was einer guten Verwaltungsgeschichte zu entnehmen ist), ist wenigstens der Theorie nach automatisch auch bekannt, in welches Archiv diese Stelle abgeliefert hat, wo die Akten zu der Aufgabe, die untersucht werden soll, also zu finden sind. Dies beschreibt natürlich einen Idealfall, während sich in der Praxis die Grenzen der älteren Territorien (etwa der geistlichen Herrschaften, die nun in den neuen Staaten aufgegangen waren) häufig nicht mit den neu geschaffenen Verwaltungsgrenzen in Deckung bringen ließen. Auch eine mittelalterliche Grafschaft, deren Territorienbündel sich quer zu modernen Grenzen erstreckte und die vielleicht in der Frühen Neuzeit wegen Aussterbens der Familie geteilt wurde, hat oft keine direkte Entsprechung in heutigen Archivsprengeln. Vielmehr wurden nach dem Prinzip der Archivfolge bei Untergang des Fürstenhauses die Archivalien auf verschiedene Erben verteilt oder einem belassen, wo sie dann dem eigenen Archiv zugeschlagen wurden, in dem sie wiederum bis heute verwahrt werden, auch wenn die politischen Ereignisse, die einst zur Übernahme des Archivs geführt hatten, nur kurzfristiger Natur waren. Auf diese Weise gelangten nicht selten Archivalien in Archive, in denen man sie nicht vermuten würde. Bei den Altbeständen aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert ist auf diese Weise immer mit einem erhöhten Rechercheaufwand zum Verbleib von Archivgut zu rechnen, und auch die festen Zuordnungen zu Archivsprengeln sind bisweilen durch die politischen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts obsolet geworden. Die Entwicklung der deutschen Archivlandschaft war jedoch mit Ausbildung der Staatsarchive seit dem früheren 19. Jahrhundert noch nicht beendet. Sie wurde vielmehr durch diese erst eingeleitet. Denn Staatsarchive übernehmen ja nur Akten staatlicher Stellen, nicht jedoch die kommunaler oder sonstiger Körperschaften des öffentlichen Rechts. Auch diese standen also vor der Aufgabe, ihre eigenen historisch wertvollen Unterlagen zu sichern und benutzbar zu machen, also für eine Archivierung zu sorgen. Von größter Bedeutung waren dabei in Deutschland föderale oder auch dezentrale politische und administrative Traditionen. Ein eigenes Archiv zu unterhalten wird zwar heute bisweilen eher als lästige, weil teuere Pflicht angesehen. Doch im Lichte der deutschen Verfassungsstrukturen ist das Recht, ein öffentliches Archiv zu betreiben, ein tatsächliches Privileg, das Autonomie dokumentiert. Wer selbst für die Sicherung der bei ihm erwach-

3. Die deutsche Archivlandschaft seit dem 19. Jahrhundert

senen historischen Quellen verantwortlich ist, demonstriert Eigenständigkeit, schafft ein eigenes historisch-kulturelles Gedächtnis und ist so in der Lage, seine verfassungsmäßige Autonomie dauerhaft im Bewusstsein zu halten. Gerade in jüngerer Zeit haben verschiedene Disziplinen mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Nationen und Regionen keine naturgegebenen Größen sind, sondern dass es sich um Konstrukte handelt, die u. a. durch ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein etwa der Bewohner einer Region konstituiert werden. Dieses Geschichtsbewusstsein erfordert die Pflege der Quellen, die es (vermeintlich) dokumentieren – und dazu ist ein eigenes Archiv als Institution und als Ort, als Fixpunkt des Bewusstseins der Gemeinsamkeit wichtig. Auf das Privileg, eigene Archive zu unterhalten, verzichteten daher auch nach Schaffung der Staatsarchive andere potenzielle öffentliche Archivträger nicht. Eine ehemalige freie Reichsstadt, die in der Napoleonischen Zeit zwar ihre politische Unabhängigkeit, nicht aber die Erinnerung an in diesem Sinne bessere Zeiten kommunaler Freiheit verloren hatte, hatte daher durchaus Interesse daran, wenigstens die Restbestände der früheren Selbständigkeit und mit diesen ein eigenes Stadtarchiv zu verteidigen. So entstand nach und nach als Ergänzung zu den Staatsarchiven ein weiterer Typ öffentlicher Archive, die Stadtarchive, die analog den Staatsarchiven jeweils für die Behörden ihres Sprengels, der Stadtverwaltung, die Zuständigkeit übernahmen. Später kamen in einem bis heute noch nicht abgeschlossenen Prozess Kreisarchive, Parlamentsarchive und die Archive verschiedener Körperschaften des öffentlichen Rechts wie etwa Universitäten oder Rundfunkanstalten hinzu, die ebenfalls Wert darauf legen, ihre Autonomie durch eigene Archive zu unterstreichen. Grundsätzlich arbeiten alle diese Typen öffentlicher Archive nach den gleichen Grundsätzen und ähnlichen gesetzlichen Bestimmungen. Die Abgrenzung der Zuständigkeit nach Sprengeln wird hier durchgängig beachtet, so dass sich die Suche nach bestimmten Beständen hier genauso gestaltet wie bei den Staatsarchiven. Es ist vor allem wichtig zu wissen, wann und wo welche Aufgaben von Kommunen, Ländern, Gesamtstaat oder Körperschaften des öffentlichen Rechts wahrgenommen wurden, um die Akten der entsprechenden Behörden und Stellen zu finden. Allerdings hinkte die tatsächliche Entwicklung der Theorie oft hinterher. Die Autonomie der Kommunen und Körperschaften hat auch zur Folge, dass staatliche Eingriffe in die Art und Weise, wie mit dem Archivprivileg umgegangen wird, nicht ohne weiteres möglich waren. Es konnte also nicht einfach verordnet werden, dass Städte und andere Körperschaften des öffentlichen Rechts sich im gebotenen Maß um die bei ihnen entstehenden Kulturgüter kümmerten. Daher verlief die Entwicklung des deutschen öffentlichen Archivwesens uneinheitlich und keineswegs gradlinig. Noch immer verfügen nicht jede Stadt und nicht jede Universität über ein professionell geführtes Archiv. Im 19. Jahrhundert und beschleunigt ab dessen Ende entstanden diese Archive erst nach und nach hier und dort, je nach den lokalen Verhältnissen bzw. wenn sich eine Persönlichkeit fand, die eine Archivgründung mit Nachdruck verfolgte. Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben waren, blieb es bei frühneuzeitlichen Verhältnissen: Alte Akten blieben in irgendeiner Weise den Verwaltungen angeschlossen oder wur-

Stadtarchive und weitere öffentliche Archive

Weitere Archivgründungen

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft

Arbeitsteilung öffentlicher Archive

den ohne fachgerechte Bewertung vernichtet. Zahlreiche schwer wiegende Quellenverluste waren die Folge, die das Fehlen moderner professioneller Archive aus dem Blickwinkel des Erhalts von Kulturgut zu einer ebensolchen Katastrophe machten, wie sie später der Zweite Weltkrieg mit seinen zahlreichen Bombenschäden sein sollte. Beide Phänomene zusammen und zahlreiche kleinere Vorfälle wie Brände oder Überschwemmungen sorgten dafür, dass Quellen, die theoretisch verfügbar sein müssten, nicht mehr vorliegen. Umgekehrt blieben aber auch Quellen erhalten, die eigentlich nach den Kriterien des 19. Jahrhunderts kassiert worden wären, es aber nicht wurden, weil noch genug Platz da war und sich niemand um sie kümmerte. Da es kein zentralisiertes deutsches Archivwesen gab und gibt, wurden nicht selten an einer Stelle Unterlagen erhalten, die an anderer vernichtet wurden, da sie erst im Abstand von mehreren Jahrzehnten als wertvolle Quellengruppe erkannt wurden. Solche Zufälle sollen heute mehr und mehr durch eine wissenschaftliche Bewertungsdiskussion zwischen Archiven ausgeschlossen werden, doch muss man kein Prophet sein um zu erkennen, dass sie weiter stattfinden werden, wenn vielleicht auch in geringerem Umfang als noch im 19. Jahrhundert. Für den angehenden Benutzer öffentlicher Archive ist es also wichtig zu wissen, dass es eine flächendeckende Arbeitsteilung zwischen Archiven gibt, die sich an der Trägerschaft von Behörden eines bestimmten Sprengels orientiert (Kommune – Land – Gesamtstaat – Körperschaft des öffentlichen Rechts). Dies lässt theoretisch bei guter Kenntnisse der Verwaltungs- und Archivgeschichte auch ohne zusätzliche Hilfsmittel das Finden der für eine Fragestellung einschlägigen Archivalien zu. Dennoch ist immer mit Quellenverlusten oder auch mit einer inkonsequenten Handhabung der Arbeitsteilung zu rechnen, die die verschiedensten Ursachen haben können und die oft Zufällen geschuldet sind.

3.2 Das Archivwesen der DDR Archivwesen der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik ging auch im Archivwesen andere Wege als die Bundesrepublik, so dass es ratsam ist, ihr Archivwesen in einem besonderen Abschnitt zu behandeln. Sie baute ein zentralisiertes Archivwesen auf, das nach der Wiedervereinigung wieder demontiert wurde, so dass es heute in der Archivorganisation der alten und neuen Bundesländer keine grundsätzlichen Unterschiede gibt. Der Benutzer wird jedoch dem Archivwesen der DDR bei der Einsichtnahme in viele Altbestände in den neuen Bundesländern begegnen. Entgegen der allgemeinen deutschen Tradition arbeitete das Archivwesen der DDR nach einheitlichen, teilweise ideologisch begründeten Richtlinien und Vorgaben – wobei fraglich ist, ob sich die Archivare in der Praxis immer strikt an die Vorgaben gehalten haben. Daneben war die Unterscheidung zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen Archiven in einem sozialistischen System nicht sinnvoll, in dem Parteien, Verbände oder Unternehmen eng mit dem Staat verzahnt waren. Das hat zum einen zur Folge, dass man in den staatlichen Archiven der ehemaligen DDR auf Bestände beispielsweise von Wirtschaftsunternehmen stoßen kann, dass also der „öffentliche“ Archivbestand in gewisser Hinsicht reicher sein kann als im Westen.

3. Die deutsche Archivlandschaft seit dem 19. Jahrhundert

3.3 Nicht-öffentliche Archive Im 19. Jahrhundert begann also der Aufbau eines flächendeckenden öffentlichen Archivwesens. Öffentliche Archive enthalten jedoch zunächst und ihrer Hauptfunktion nach nur die Akten der Behörden ihres Sprengels. Historisch arbeitende Disziplinen benötigen jedoch neben den Archivalien der öffentlichen Archive auch den Zugriff auf Schriftgut und andere Quellen nicht-öffentlicher und privater Herkunft. Zu denken ist dabei nicht nur an die Nachlässe bedeutender Persönlichkeiten, sondern auch an die Unterlagen von Vereinen, Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsunternehmen, Familien bzw. Adelshäusern und Kirchen. Der Staat und die Kommunen konnten im 19. Jahrhundert wie heute jedoch nur über die Unterlagen frei verfügen, die sich in ihrem Eigentum befanden und befinden. Das heißt, dass etwa der Auftrag von Staatsarchiven nicht dahin gehen konnte, alles historisch interessante Quellenmaterial aus ihrem Sprengel zu sammeln und zu verwahren, sondern ihr primärer Auftrag konnte es nur sein, sich um die bei staatlichen Stellen entstehende Überlieferung zu kümmern. Um andere Unterlagen privater Herkunft konnten sie sich zwar bemühen, nämlich um sie als sogenannte Ergänzungsdokumentation neben den eigentlichen staatlichen Beständen zu verwahren. Aber der Staat hatte und hat keine Rechte an solchen privaten Unterlagen. Die Staatsarchive konnten das Eigentumsrecht privater Archive oder Archivalienbesitzer nicht einschränken. Der grundsätzliche Respekt vor Privateigentum, der in Deutschland aus guten Gründen auch im restaurativen 19. Jahrhundert herrschte, verhinderte direkte Eingriffe in den Umgang mit privatem Archivgut bzw. potenziellen Archivgut privater Herkunft. Privatleuten, Vereinen, Unternehmen usw. stand und steht es frei, mit ihren Unterlagen nach Gutdünken zu verfahren, inklusive der Vernichtung oder der Verwehrung jeden Zuganges. Dies behindert zwar die Forschung bisweilen stark, doch ist dies Teil einer Verfassung, die die elementaren Rechte des einzelnen schützt, zu denen das Eigentumsrecht nun einmal gehört. Das ist unter dem Strich bei aller Einschränkung von Forschung im Einzelfall positiv zu bewerten. Allerdings gibt es angesichts des hohen kulturellen und historischen Wertes vieler nicht-staatlicher Bestände ausreichend gute Gründe dafür, private Archivalien nicht nur zu schützen und zu erhalten, sondern sie auch frei zugänglich zu machen. Deshalb ist immer anzustreben, sie professionell zu betreuen, entweder in eigenen Archiven oder als Hinterlegung in einem anderen Archiv. Diese Erkenntnis ließ schon im 19. Jahrhundert zahlreiche private bzw. nicht-öffentliche Archive entstehen. Wichtig sind in diesem Bereich die Adelsarchive, die Kirchenarchive und später auch die Wirtschaftsarchive in den Formen als Konzernarchiv, das auf ein Unternehmen bezogen ist, und als regionales Wirtschaftsarchiv, das Unterlagen von Unternehmen aus einem bestimmten Sprengel übernimmt. In der weiteren Entwicklung treten dann Partei- und Vereinsarchive hinzu sowie all die anderen Typen von Archiven, die mittlerweile zu finden sind. Nicht-öffentliche Archive lassen sich grob in zwei Gruppen teilen, nämlich in solche, die analog öffentlichen Archiven organisiert sind, und andere. Die erste Gruppe ist einfacher zu beschreiben: Es handelt sich um Ar-

Nicht-staatliches Archivgut

Entstehung nichtöffentlicher Archive

Struktur des nicht-öffentlichen Archivwesens

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft

Nebenamtlich betreute Archive

chive privater Unterhaltsträger, die sich dazu entschlossen haben, in eigenen Ordnungen oder Satzungen ihr Archivwesen so zu organisieren, wie es das öffentliche Vorbild vormachte. So verfügen die Kirchen beider Konfessionen mittlerweile über ein eigenes Archivwesen, das sich äußerlich kaum noch wahrnehmbar vom staatlichen unterscheidet. Die Landeskirchen und Bistümer unterhalten jeweils ein Archiv für ihren Bereich, während auf lokaler Ebene die oft nebenamtlich betreuten Pfarrarchive der einzelnen Gemeinden tätig sind. Ähnliches ist für große Wirtschaftsarchive festzustellen, und zwar sowohl für die einzelner Konzerne als auch für regionale Wirtschaftsarchive, die die Unterlagen von Unternehmen aus einer bestimmten Region sammeln. Auch die großen Parteien verfügen mittlerweile über fest etablierte Archive, die als Stiftungen organisiert sind. Meist kann der Benutzer in diesen Archiven mit einem guten Service und Offenheit rechnen. Die Zugangsrechte zum Archivgut sind oft ähnlich wie im staatlichen Bereich geregelt, so dass die Benutzung nicht von der Willkür eines einzelnen Archivars abhängen kann. Das trifft nicht immer für die große Gruppe der sonstigen nicht-öffentlichen Archive zu, die sich in einer bunten Vielfalt herausgebildet haben. Schon im 19. Jahrhundert gab es z. B. bei lokalen oder regionalen historischen Vereinen Sammlungsbestrebungen. Alles mögliche greifbare Material zur eigenen Region, aber auch zu einem bestimmten Thema wurde zusammengetragen, nicht nur Archiv-, sondern auch Bibliotheks- und Museumsgut. Daraus wurden zum Teil Vereinsarchive mit zwar bisweilen auch überregional bedeutsamen Beständen, die aber oft nebenamtlich und bisweilen mit mehr Eifer als Sachkenntnis geführt wurden. Mit welchen Bedingungen Benutzer hier zu rechnen haben, lässt sich nicht vorhersagen. Das gilt auch für Adelsarchive, bei denen die Zugänglichkeit oft vom guten Willen des Eigentümers, also der adeligen Familie, abhängt. Das gilt schließlich natürlich auch für all die Archive von Unternehmen oder privaten Stiftungen, die es nicht zu einer Professionalisierung gebracht haben und nebenamtlich oder gar nicht betreut in irgendeinem Keller liegen. Zugänglichkeit, Erschließung, aber auch die reine physische Erhaltung können hier stark leiden. Es sei jedoch ausdrücklich betont, dass es in diesem Bereich für jedes Negativbeispiel ein Gegenbeispiel eines vorbildlich geführten privaten Archivs gibt. Allerdings lässt sich nicht vorhersehen, wie sich ein solches Archiv im Falle einer Benutzeranfrage verhält, und oft ist die Verantwortung so stark personalisiert, nämlich an eine Person mit Interesse, Engagement und Sachkenntnis gebunden, dass Urlaub, Krankheit oder auch das Ausscheiden aus Altersgründen alles einmal Erreichte wieder zunichte machen kann.

3.4 Nicht-öffentliches Archivgut in öffentlichen Institutionen Bibliotheken

Neben diesen privaten Archiven gibt es noch zahlreiche oft auch staatliche Institutionen, die Archivalien verwahren, aber weder ein Archiv sind noch sich so nennen. Am wichtigsten sind in diesem Bereich die Bibliotheken. Diese standen im frühen 19. Jahrhundert vor dem gleichen Problem wie die Archive: Von den aufgelösten und übernommenen ehemaligen Herrschaftsgebilden übernahm der neue Staat nicht nur die Archivalien, sondern auch den Buchbesitz, der insbesondere im Falle der aufgehobenen Klöster mit

3. Die deutsche Archivlandschaft seit dem 19. Jahrhundert

ihren reichhaltigen bis in das Mittelalter zurückgehenden Bibliotheken sehr groß und bedeutend sein konnte. Die Bücher wurden genauso wie Archivgut taxiert und nicht selten vernichtet, vielfach aber auch in eine staatliche Bibliothek übernommen. Hier interessieren v. a. die mittelalterlichen Handschriften, bei denen es sich um handschriftliche Unikate handelt. Als solche sind sie streng genommen als Archivgut zu bezeichnen. Doch die bibliothekarische Tradition war schon im frühen 19. Jahrhundert ausgeprägt genug, um sich für solche nicht gedruckten Unikate zuständig zu erklären, wenn es sich um Codices etwa mit einem literarischen, wissenschaftlichen oder theologischen Inhalt handelte, also um Werke, die in späterer Zeit in gedruckter Form verbreitet wurden und deshalb als Vorstufe des modernen Buchs gelten müssen – im Unterschied zum spätmittelalterlichen Amtsbuch, das mit ihnen die äußere Form teilt, aber nach Zweck und Inhalt etwas ganz anderes ist. Zahlreiche große Bibliotheken verfügen so über eine archivähnliche Handschriftenabteilung. Hinzu trat während des 19. Jahrhunderts eine bibliothekarische Sammlungstätigkeit, die sich auf echtes Archivgut konzentrierte. Denn da staatliche Archive nicht für die privaten Nachlässe von Dichtern oder Wissenschaftlern zuständig waren, diese aber bedeutende Quellen enthielten, die zudem gewinnbringend gemeinsam mit ihren gedruckten Werken ausgewertet werden konnten, haben Bibliotheken die aus Manuskripten und Korrespondenzen bestehenden Nachlässe von „Dichtern und Denkern“ erworben, vielleicht auch aus der Verehrung der Zeit für „große Männer“ heraus. Diese Tradition wird bis heute fortgesetzt, so dass ihre Nachlässe nicht selten in den Autographenabteilungen von Bibliotheken oder von Literaturarchiven zu suchen sind. Letztere sind ihrerseits aus Bibliotheken entstanden und stehen diesen nach Selbstverständnis und Arbeitsweise näher als Archiven im engeren Sinne. Für den Benutzer ergibt sich daraus das Problem, dass er es mit zwei großen Gruppen von Institutionen zu tun hat – Archiven und Bibliotheken – , die zwar eng verwandt sind, aber völlig andere Arbeitsweisen im Umgang mit Archivgut haben. In Bibliotheken gilt das Provenienzprinzip nicht so uneingeschränkt als Norm wie in Archiven. Gravierender sind jedoch die Abweichungen bei der Bearbeitung der Bestände selbst: Während Archive möglichst die vorgefundene Struktur erhalten, sortieren Bibliotheken oft die einzelnen Schriftstücke neu, um z. B. zu einer alphabetisch-chronologischen Korrespondenzserie zu kommen, die Entstehungszusammenhänge unberücksichtigt lässt. Die Erschließung setzt dann auf der Ebene der einzelnen Schriftstücke an, die in alphabetischen Katalogen erfasst werden. Das erklärt sich zum einen daraus, dass Bibliotheken auch alle sonstigen Medien, die sie verwahren, Stück für Stück in einem gemeinsamen Verfasserkatalog erschließen und dieses Verfahren auf Autographen übertragen haben. Zum anderen ist dieses Vorgehen bei Künstler- und Gelehrtennachlässen auch sinnvoller als bei Verwaltungsakten, da die Benutzer z. B. mit wissenschaftsgeschichtlichen Fragen oft mehr die Korrespondenz zwischen zwei bestimmten Persönlichkeiten interessiert als Entstehungszusammenhänge. Wo allerdings letztere wichtig sind, ist das Verfahren von Nachteil. Dies zu wissen ist für Benutzer wichtig bei der Vorbereitung ihrer Studien. Bibliotheken fragen sie besser nach Personen, Archive nach sachlichen Gesichtspunkten.

Nachlässe in Bibliotheken

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft Wissenschaftliche Institute und Museen

Neben den Bibliotheken gibt es noch zahlreiche andere Institutionen, die aus den unterschiedlichsten Gründen Archivgut verwahren. Wissenschaftliche Institute oder Museen erwerben nicht selten Nachlässe oder Sammlungen, die für ein konkretes Forschungsvorhaben wichtig sind und dann als Eigentum dort verbleiben. Bisweilen verwahren sie auch als Form einer institutionsbezogenen Gedächtniskultur die Nachlässe früherer Mitarbeiter. Und schließlich kommt es vor, dass ihnen ungefragt Archivgut übergeben wird, für das sie keine Verwendung haben, das sie aber auch nicht weitergeben wollen. Wie in all diesen Fällen mit dem Archivgut verfahren wird und ob Dritte überhaupt Zutritt haben, hängt dann allein von der jeweiligen Institution ab.

3.5 Archivgut in privaten Händen Quellen in Privatbesitz

Als letzte Gruppe nicht-öffentlicher Archive ist der Privatbesitz im engsten Sinne zu nennen. Sowohl private Sammlungen als auch Nachlässe bedeutender Familienmitglieder können sich im Besitz der jeweiligen Familie befinden, oft in einem Schrank des Privathauses oder in seinem Keller. Die Lagerbedingungen können dabei gut oder schlecht sein, eine Erschließung findet selten statt und die Zugangsmöglichkeiten oszillieren zwischen äußerster Restriktion und freimütiger Ausleihe. Daher ist auch hier keine Voraussage möglich, welche Verhältnisse angetroffen werden. Das gilt auch für Sammler, die auf dem Markt angebotenes Archivgut aufkaufen und nicht immer bereit sind, andere an ihren Schätzen teilhaben zu lassen. An dieser Stelle schließt sich wieder der Kreis hin zu den öffentlichen Archiven. Diese haben längst erkannt, dass es eminent wichtig ist, auch privates Schriftgut zu sichern und nutzbar zu machen. Sie bemühen sich daher mit unterschiedlicher Intensität darum, ergänzend zu den als Kernaufgaben verwahrten Verwaltungsakten Nachlässe und Sammlungen zur Geschichte ihres Sprengels zu erhalten. Wenn ihnen das gelingt, und das ist zum Glück nicht selten der Fall, verwahren sie jedoch Archivgut nicht-staatlicher Herkunft und vereinen die beiden Pole des Archivwesens in sich selbst, was auch bei ihnen zu mancher Inkonsequenz und überraschenden Wendung führen kann. Denn auf diese Weise kommt es vor, dass Archivalien in einem Staatsarchiv trotz dessen eigentlich benutzerfreundlichen Einstellung unter ähnlich rigiden Bedingungen zu benutzen sind, wie sie etwa in einem der Öffentlichkeit weitgehend entzogenen Adelsarchiv herrschen können.

4. Die deutsche Archivlandschaft – monstro simile? Öffentliche vs. nichtöffentliche Archive

Zusammenfassend fällt es schwer, die Grundzüge der deutschen Archivlandschaft in nur wenigen Sätzen treffend zu umreißen. Dazu ist sie zu bunt und vielgestaltig. Entscheidend bleibt die Unterscheidung zwischen einem systematisch anhand der Verfassungs- und Verwaltungsstrukturen aufgebauten öffentlichen Archivwesen, neben das ein unsystematisches, nur dort vorhersehbares nicht-öffentliches tritt, wo es sich wie bei Kirchen und Parteien dem öffentlichen in den äußeren Formen annähert. Vielfalt ist ein großer Vorteil, weil sie die Bildung einer stromlinienförmigen, nur auf einen Aus-

4. Die deutsche Archivlandschaft – monstro simile?

wertungszweck konzentrierten Gesamtüberlieferung verhindert und so das Überdauern auch solcher Quellengruppen sichert, denen der Mainstream keine Beachtung schenkt. Der Benutzer hat allerdings den bisweilen schweren Nachteil, dass Recherchen schwierig und zahlreiche Hilfsmittel zu benutzen sind, sobald der sichere Boden des öffentlichen Archivwesens verlassen wird. Insbesondere die Aufbewahrungsorte von Nachlässen sind oft nicht leicht zu ermitteln, weil es kein genuin zuständiges Archiv gibt oder das, das der Sache nach am ehesten zuständig wäre, vom Nachlasser aus welchen Gründen auch immer nicht berücksichtigt wurde. Das Beispiel des Nachlasses des Schriftstellers Heinrich Böll zeigt jedoch anschaulich die Problematik, überhaupt ein solches der Sache nach zuständiges Archiv zu ermitteln: Er war ein Literat von nationaler Bedeutung – zuständig sein könnten daher das Deutsche Literaturarchiv in Marbach oder auch das Bundesarchiv als Nationalarchiv. Er stammte aus Köln, war also Nordrhein-Westfale – zuständig sein könnte also das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf als zentrales nordrhein-westfälisches Archiv, oder das Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, das sich als rheinisches Literaturarchiv versteht. Diese Aufzählung potenziell zuständiger Archive ließe sich unter verschiedenen Aspekten fortführen. Alle diese Archive und Einrichtungen hätten gute Gründe für sich, den Nachlass zu verwahren. Unter einem übergeordneten Gesichtspunkt hätte keines den Vorzug zu erhalten. Den Ausschlag gab aber schließlich, das Böll Kölner war. Das Historische Archiv der Stadt Köln konnte den Nachlass eines bedeutenden Sohnes der Stadt erwerben. Allerdings – und das verkompliziert die Lage weiter – gegen Zahlung einer beträchtlichen Summe Geldes. Auch das muss bei Nachlässen berücksichtigt werden: dass sie verkauft werden und dort landen, wo das notwendige Geld aufgebracht wird. Weiterhin gibt die Existenz eines „Heinrich-Böll-Archivs“ bei der Stadtbibliothek Köln Anlass zur Verwirrung, da es sich um kein Archiv, sondern um eine Bibliothek und Dokumentationsstelle handelt. Zusätzlich existiert ein offenbar privates „Archiv der Erbengemeinschaft Heinrich Böll“. Die Suche nach Nachlässen und verwandten Sammlungen erfordert also mehr Beharrlichkeit als die nach anderen Archivgutarten. Oft kommt man mit einer begründeten Vermutung weiter, weil sie natürlich doch in das Archiv gelangen, das wegen seiner territorialen oder sachlichen Zuständigkeit am ehesten dafür in Frage kommt. Ansonsten sind verschiedene Hilfsmittel zu Rate zu ziehen, wie sie in dem Kapitel über die praktische Archivarbeit beschrieben werden. Dem Benutzer, der mit viel Mühe die von ihm benötigten Quellen in zahlreichen Archiven der verschiedenen Archivträger aufspüren muss, mag die Struktur des deutschen Archivwesen als irregulär, unsystematisch oder ineffizient erscheinen, als viel undurchschaubarer jedenfalls als die von Ländern mit zentralisiertem Archivwesen. Das Archivwesen ist jedoch stets abhängig von der Verfassung des Staates und der Gesellschaft, in deren Rahmen es arbeitet. So ist es legitim, das deutsche Archivwesen mit den Worten Samuel Pufendorfs als monstro simile zu bezeichnen, der so im 17. Jahrhundert die Verfassung des Alten Reiches beschrieb. Er wollte damit aber nicht die Reichsverfassung in Verruf, sondern zum Ausdruck bringen, dass sie sich nicht in gängige staatsrechtliche Klassifikationsschemata pressen ließ,

Abgrenzung von Zuständigkeiten

Probleme der Recherche

Abhängigkeit von den Verfassungsstrukturen

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I. Die Entstehung der deutschen Archivlandschaft

sondern in ihrer Einzigartigkeit gesondert zu würdigen sei. Das deutsche Archivwesen insgesamt ist wie die Reichsverfassung als Produkt einer historischen Entwicklung von Jahrhunderten, die noch längst nicht beendet ist und die nicht zielgerichtet verläuft, zu würdigen und zu erklären. Da Archive und Archivare Teil der Geschichte sind, die ihre Benutzer untersuchen wollen, kann es auch gar nicht anders sein.

II. Leitfaden für die Praxis 1. Vor dem Archivbesuch 1.1 Themenstellung Gerade Archive halten als Schatztruhe der Gesellschaft Akten, Briefe, Fotos, Zeitungsausschnitte und vieles mehr für die Erforschung der Vergangenheit bereit. Durch die Auswertung der Bestände kann es gelingen, eine andere Perspektive auf ein schon bekanntes Thema zu eröffnen oder aber gänzlich neue Erkenntnisse zu Tage zu fördern. Vorbereitet wird der Archivbesuch durch eine zielorientierte Ausarbeitung der Themenstellung. Nach der Lektüre der vorhandenen Primär- und Sekundärliteratur ist es wichtig, sich einen guten Kenntnisstand über die methodischen Prämissen, die sich an das Thema binden, zu verschaffen. Durch eine gute Vorbereitung erspart man sich eventuell mehrere zeitintensive Archivbesuche. Letzten Endes gilt nämlich auch bei Archivalien immer der Grundsatz: „Man sieht nur das, was man weiß“, das heißt, erst durch konsequente Kontexterschließung im Vorfeld fallen wichtige Sachzusammenhänge auf, und bereits bekannte Namen und Orte können bei einer Umschrift im Archiv schneller entziffert werden. Nach der Erarbeitung der Primär- und Sekundärliteratur empfiehlt es sich, das eigene Erkenntnisinteresse näher einzukreisen. Studierenden sei empfohlen, ihre Fragestellung in einem Gespräch mit dem Dozenten zu präzisieren. Zwar ergeben sich im Laufe der Archivarbeit immer wieder neue Ansatzpunkte, die eine Akzentverschiebung in der Fragestellung nach sich ziehen können, dennoch hilft ein selbst auferlegtes „Raster“, einen Weg durch den Beständedschungel zu finden. Sonst könnte die Materialfülle ablenkend wirken und man läuft Gefahr, das eigentliche Thema aus den Augen zu verlieren. Je genauer man sein Thema eingekreist hat, umso leichter fällt es, eine Anfrage (vgl. Kapitel II.1.3 Die schriftliche Anfrage) an ein Archiv zu stellen.

Zielorientierte Ausarbeitung des Themas

1.2 Welche Archive kommen in Frage? Welches Archiv ist zuständig? Diese Frage lässt sich nicht für jede Themenstellung sofort beantworten. Schließlich ist die deutsche Archivlandschaft, wie das Kapitel zur Archivgeschichte gezeigt hat, ein kompliziertes, über viele Jahrhunderte gewachsenes Gebilde mit über 3.600 staatlichen, nichtstaatlichen und privaten Archiven. Dennoch gibt es eine Recherchestrategie, an der man sich orientieren kann: Welche Behörden, Institutionen und Personen muss ich bei meinem Untersuchungsgegenstand berücksichtigen? Und in welchem Archiv oder besser gesagt in welchen Archiven können die benötigten Bestände sein? In der Regel ist es nicht zu erwarten, dass alle Archivalien zu einer Fragestellung in einem Archiv oder in einem Bestand versammelt sind. So können

Über 3.600 Archive in Deutschland

Nachlässe, Teil- und Splitternachlässe

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II. Leitfaden für die Praxis

Abgabepflicht an das zuständige Archiv

sich Nachlässe von Privatpersonen u. a. durch Aufteilung beim Erbgang an mehreren Aufbewahrungsorten befinden. Dann ist nicht mehr von einem Nachlass, sondern von Teilnachlässen die Rede. Der Nachlass von Theodor Heuss (1884 – 1963), dem Journalisten und Abgeordneten, der zwischen 1949 und 1959 Bundespräsident war, ist beispielsweise auch nicht an einem Ort versammelt. Materialien und Vorstufen zu den Autobiographien „Erinnerungen 1905 – 1933“ und „Vorspiele des Lebens“, Essays, Vorlesungen, Reden und Ansprachen sowie Briefe an Ernst Benz, Margret Boveri, Niels Diederichs, Erika Mann und Golo Mann und andere befinden sich im Deutschen Literaturarchiv, Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar. Das Bundesarchiv in Koblenz bewahrt wiederum u. a. umfangreiche Korrespondenz, Sachakten, Reden und Publikationen nahezu aus der gesamten politischen Tätigkeit auf. Weitere Materialien wie Ehrenurkunden, Grußadressen und Orden befinden sich in musealer Hand und noch weitere Teilbestände in Privatbesitz. Manchmal kommt es sogar vor, dass sich Nachlässe in kleinste Teile, die sogenannten Splitternachlässe, aufspalten. Es ist also davon auszugehen, dass mehrere Archive angeschrieben werden müssen, und man vor Ort auch quer durch die Bestände recherchieren muss. Einen ersten Anhaltspunkt bietet immer der geographische Zuständigkeitsbereich eines Archivs, also der Archivsprengel. Der Archivsprengel rekurriert dabei auf historische Territorialgrenzen oder moderne Verwaltungsbezirke. Hilfreich bei der Suche nach dem zuständigen Archiv ist auch die sogenannte Abgabepflicht. Sie besteht insbesondere bei den staatlichen Archiven, das heißt, die Behörden müssen ihre Unterlagen nach der Nutzung für die laufenden Geschäfte an das zuständige Archiv abgeben. Auch bei den kirchlichen Archiven besteht eine ähnliche, allerdings freiwillige Regelung: Archiv

Archivalien

Bundesarchiv

Unterlagen der Bundesbehörden

Landes(haupt-) bzw. Hauptstaatsarchiv

Unterlagen der Obersten Landesbehörden

Staatsarchiv

Unterlagen der Landesbehörden

Landeskirchliche Archive, Dekanats- und Pfarrarchive

Unterlagen aus dem Bereich der protestantischen Kirche

Diözesanarchive, Erzbischöfliche Unterlagen aus dem Bereich Archive, Dekanats- und Pfarrarchive der katholischen Kirche Landkreise haben teilweise ein Kreisarchiv; größere Kommunen verfügen im Allgemeinen über ein selbständiges Archiv, das in der Regel als Stadtarchiv geführt wird. Gegebenenfalls ist Kontakt zur Gemeindeverwaltung aufzunehmen. In Stadtarchiven befinden sich oftmals Deposita. Hierbei kann es sich um die Archive von Verbänden und Vereinen handeln, die maßgeblich zur stadtgeschichtlichen Entwicklung beigetragen haben. Außerdem nehmen Stadtarchive auch Nachlässe von herausragenden Einzelpersön-

1. Vor dem Archivbesuch

lichkeiten auf. Die Übernahme von Nachlässen und Sammlungen zählt jedoch nicht zu den Pflichtaufgaben eines solchen Archivs. Daher kann man nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass z. B. der Nachlass eines Schriftstellers, der von lokaler Bedeutung war, immer im Stadtarchiv seines Heimatortes zu finden ist. Adelsarchive, die den Benutzern zur Familien- und Herrschaftsgeschichte Auskunft geben können, befinden sich vor Ort in Privatbesitz oder als Deposita zum Beispiel in einem Staatsarchiv. Bei solchen Deposita werden die Archivalien an eine geeignete Institution zur Erschließung und Verwahrung übergeben. Das Westfälische Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe bietet beispielsweise eine fachliche Unterstützung für nicht-staatliche Archive an. Hierin liegen große Vorteile für den Benutzer. Wenn sich das Adelsarchiv noch vor Ort befindet, kann der Archivar des Archivamtes den Kontakt vermitteln. Zumeist haben die Archivare bereits die Bestände grob erschlossen. Diese können dann beim Archivar bestellt werden, der die Unterlagen an Ort und Stelle „aushebt“ und zur Benutzung im Archivamt vorlegt. Sind die Materialien schon als Depositum im Archivamt, können diese ebenfalls dort eingesehen werden. Bei Deposita ist allerdings die Erlaubnis der Privatpersonen zur Benutzung einzuholen, da es sich nicht um staatliches Archivgut handelt, bei dem die üblichen Sperrfristen gelten. In einigen Bundesländern gibt es darüber hinaus noch Wirtschafts- und Medienarchive. Häufig dienen diese Archive dazu, den laufenden Betrieb des zugehörigen Unternehmens zu unterstützen. Beispielsweise werden Schallarchive bei Rundfunkanstalten hauptsächlich von den Redakteuren und freien Mitarbeitern des Hauses genutzt, um Sendungen vorzubereiten. Anfragen von Benutzern werden daher in Wirtschafts- und Medienarchiven manchmal zeitverzögert behandelt. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass die Bearbeitung einer Anfrage kostenpflichtig ist. Einige Wirtschaftsund Medienarchive handhaben es in ihrer Praxis so, dass sie generell wissenschaftlichen Benutzern nur Zugang zu ihren Archivalien gewähren, wenn es sich dabei mindestens um Magister- oder Doktorarbeiten handelt. Außerdem müssen Anfragen auf Einsicht in das vorhandene Archivgut zumeist von höherer Stelle im Unternehmen genehmigt werden. Als weitere Institutionen, die eigenständige Archive bedeutenden Umfangs unterhalten, sind noch Universitäten, Stiftungen sowie große Unternehmen und Interessensverbände/Parteien zu nennen. Auch hier befinden sich relevante Materialien für die unterschiedlichsten Themenstellungen (vgl. Kapitel I.3.3 Nicht-öffentliche Archive). Beispielsweise hätte niemand vermutet, dass zahlreiche Briefe von Gerhart Hauptmann (1862 – 1946) im Archiv der Leverkusener Bayer AG aufbewahrt werden, in denen der Kontakt des Schriftstellers zu dem Industriellen Carl Duisberg dokumentiert wird. Daher sollten Sie auch diese Archive bei der Sondierung möglicher Fundstellen nicht außer Acht lassen. Sobald sich herausgestellt hat, welche Archive für die gewählte Themenstellung in Frage kommen, sind Adressverzeichnisse und Beständeübersichten zu konsultieren. Viele Archive verfügen über Beständeübersichten, die einen Überblick über den inhaltlichen und strukturellen Aufbau des Archivs, seine Tektonik, bieten. Zur Tektonik zählen die Laufzeit (Zeitspanne der Überlieferung) sowie der Umfang des Gesamtbestandes. Aktenbestände

Adelsarchive

Wirtschafts- und Medienarchive

Adressverzeichnisse und Beständeübersichten

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II. Leitfaden für die Praxis

werden in der Regel nach Regalkilometern gemessen, wobei die Grundeinheit laufende Meter (lfm) sind. Bei Nachlässen und Sammlungen wird zumeist die Anzahl der Archivkapseln oder -kartons angegeben (Kps). Unter Kapseln versteht man in der Regel säurefreie Aufbewahrungskartons. Beständeübersichten informieren über den Erschließungszustand, z. B. ob der Bestand in einer Kartei, einer Datenbank, einem Findbuch oder vielleicht noch gar nicht erschlossen worden ist. Wenn der Bestand bislang nicht erschlossen wurde, ist davon auszugehen, dass er zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch noch nicht benutzbar ist, denn so lange der Archivar nicht weiß, was und wie viel sich tatsächlich im Bestand befindet, kann er das Material auch nicht zur Benutzung freigeben. Leider verstreichen aufgrund von Personalmangel manchmal mehrere Jahre, bis Registraturgut oder Nachlässe und Sammlungen kassiert und erschlossen werden. Nur in Ausnahmefällen, beispielsweise bei sehr kleinen Beständen, wird es gestattet sein, trotzdem einen Blick in den Bestand zu werfen. Beständeübersichten sind ein zentrales Hilfsmittel für die Planung Ihres Archivbesuchs. Sie liefern erste Anhaltspunkte, ob sich ein persönlicher Besuch im Archiv lohnt und wie viel Zeit ungefähr eingeplant werden muss. Beständeübersichten sind zumeist in Buchform, beispielsweise in öffentlichen Bibliotheken oder im Buchhandel zu finden. Der Nachteil ist, dass gedruckte Beständeübersichten recht schnell veralten. Daher gilt es, jeweils den Termin der Drucklegung zu beachten. Inzwischen kann sich nämlich der Erschließungszustand eines Bestandes geändert haben, oder es sind sogar neue Bestände hinzugekommen. Wesentlich aktueller sind hingegen online verfügbare Beständeübersichten auf den Internetseiten des Archivs. Daher ist es ratsam, neben den gedruckten Adressverzeichnissen und Beständeübersichten auch Internetportale und Online-Angebote der Archive zu konsultieren.

1.3 Die schriftliche Anfrage

Kontext der Anfrage

Sobald sich der Benutzer mit Hilfe von Nachschlagewerken und Beständeübersichten einen Überblick verschafft hat, richtet er eine schriftliche Anfrage (z. B. per E-Mail) an das Archiv bzw. die Archive. Selbst wenn zu diesem Zeitpunkt absehbar ist, dass sich ein Archivbesuch lohnt, empfiehlt sich die schriftliche Anfrage. Schließlich wird in den meisten Archiven um eine Voranmeldung gebeten. Darüber hinaus besteht auch die Gefahr, dass bei einem Telefongespräch wichtige Daten und Fakten, die der Archivar zur Vorbereitung des Archivbesuchs benötigt, nicht genannt werden. Eine schriftliche Anfrage hingegen kann in Ruhe präzise formuliert werden. Für den Archivar gibt es nämlich kein größeres Problem als Anfragen von Benutzern, die sich ganz allgemein nach „dem ganzen Nachlass eines Schriftstellers“ oder „allen Beständen im Archiv zum Dritten Reich“ erkundigen. Diese Art von Anfragen ist zu unspezifisch und die in Frage kommenden Bestände sind viel zu groß, als dass konkrete Antworten und Hinweise gegeben werden könnten. Aus diesem Grund ist es immer wichtig, möglichst genau den Kontext der Anfrage (Familienforschung, Hausarbeit, Doktorarbeit etc.) und die Themenstellung bzw. das Erkenntnisinteresse anzugeben. Dabei sind konkrete Korrespondenzpartner, Jahreszahlen und bereits

2. Im Archiv

bekannte Behördenvorgänge etc. zu nennen. Diese Angaben ermöglichen es dem Archivar, sich ein Bild von dem Forschungsvorhaben zu machen und einzuschätzen, ob sich ein Archivbesuch überhaupt lohnt. Ist der Umfang des Materials überschaubar, ist es manchmal – besonders bei langer Anreise – möglich, den Benutzern Kopien zu schicken. Eine schriftliche Anfrage bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass der Archivar vor dem Besuch bereits alle Bestände in seinem Archiv ermittelt hat. Dazu ist ein Archivbesuch und eine weitere Sichtung der vor Ort vorhandenen Findmittel notwendig. Durch eine präzise schriftliche Anfrage wird der Archivar aber bei einem Besuch wertvolle Hinweise geben können, denn schließlich kennt er sich am besten mit den Beständen und der Tektonik aus. Vielleicht schlägt er auch vor, mit einem bestimmten Bestand, den er schon ermittelt hat, zu beginnen. Oft hat er diesen Bestand für einen ersten Besuch bereits aus dem Magazin geholt. Das persönliche Beratungsgespräch mit dem Archivar ist auf jeden Fall sehr nützlich. Vielleicht hat der Archivar bereits Teile des Bestandes wissenschaftlich ausgewertet oder kann Kontakte zu anderen Forschern vermitteln, die gerade an einem ähnlichen Thema arbeiten. Checkliste 3 Erschließen Sie sich die Forschungslage zu Ihrem Thema, in erster Li-

nie durch die Lektüre der Primär- und Sekundärliteratur. 3 Grenzen Sie Ihr Thema sinnvoll ein. 3 Formulieren Sie Ihr Erkenntnisinteresse schriftlich. 3 Notieren Sie alle Behörden, Institutionen und Personen, die Sie bei Ih-

3 3 3 3

rem Thema berücksichtigen müssen und ordnen Sie diese Liste nach Prioritätsstufen. Bedenken Sie, welche Archive für was zuständig sind (Archivsprengel und Ablieferungspflichten). Informieren Sie sich mit Hilfe von Adressbüchern und gedruckten Beständeübersichten. Konsultieren Sie die Online-Angebote der Archive und die dort hinterlegten Beständeübersichten sowie die einschlägigen Internetportale. Formulieren Sie eine präzise schriftliche Anfrage.

2. Im Archiv 2.1 Grundlegende Ordnungssysteme und Recherchestrategien Die Arbeit in Archiven und mit Archivgut wird wesentlich von einer einmal hergestellten Ordnung und einmal hergestellten Findmitteln bestimmt, so unzulänglich sie auch im Einzelfall sein mögen. Archivbenutzer werden mit Findmitteln aus der Frühen Neuzeit, mit solchen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und mit modernen Datenbanken aus dem 21. Jahrhundert konfrontiert, also mit einer breiten Vielfalt von Findmitteln, die keineswegs alle nach den gleichen Prämissen angelegt sind. In jedem Archiv und bei jedem Bestand geht entsprechend vor der Benutzung zunächst einmal eine Ana-

Vielfalt von Findmitteln

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II. Leitfaden für die Praxis

lyse der Findmittel und ihrer Struktur voran, anhand derer eine Recherchestrategie entwickelt werden kann.

Das Pertinenzprinzip Ordnung nach Sachbetreffen

Nachteile des Pertinenzprinzips

Zwei grundlegende Ordnungssysteme müssen bei der Vorbereitung einer Recherchestrategie berücksichtigt und im jeweiligen Fall erkannt werden. Im 19. Jahrhundert wurde vielfach mit dem sogenannten Pertinenzprinzip bei Ordnung und Verzeichnung der Archivalien experimentiert. Es folgt einem einfachen Gedanken, der auch heute noch vielen Benutzeranfragen an Archive zugrunde liegt und der auf den ersten Blick logisch und sinnvoll zu sein scheint: dem der Ordnung nach Sachbetreffen. Der Archivar stand dabei vor den großen Aktenmengen, die in die neu gegründeten Einrichtungen übernommen wurden, und ordnete sie im Extremfall Schriftstück für Schriftstück neuen Mappen, Akten oder Bündeln zu, die nach einem vorher erdachten Ordnungsschema gebildet wurden. Beispielsweise wurden Ortsakten angelegt, d. h. aus der gesamten Überlieferung alle Schriftstücke, die einen bestimmten Ort betrafen, in einer einzigen Archivalieneinheit zusammengefasst. Für denjenigen Benutzer, der eine Ortschronik schreiben will, wird so ein sehr bequemer Zugriff sichergestellt. Für ihn ist unmittelbar alles relevante Material versammelt. Benutzer erwarten nicht selten, dass Archive so geordnet sind. Sie suchen so, als ob es zu ihrer Fragestellung eine Mappe geben müsse, in der alle sie betreffenden Archivalien zusammengefasst sind und die der Archivar gleichsam auf Knopfdruck hervorzaubert. In der Regel liegen die Dinge jedoch nicht so einfach. In weniger extremen Fällen bedeutete eine Ordnung nach Pertinenz ein Sortieren ganzer Akten nach Sachbetreffen. Es wurden zwar keine vorgefundenen Akten zerrissen, aber es wurden Registraturen auseinandergenommen, z. B. indem Bauakten und Steuerakten, also Akten aus unterschiedlichen Behörden, vermengt wurden, beispielsweise unter dem Ortsgesichtspunkt. Wie auch immer das Pertinenzprinzip angewandt wurde: Es zeigte sich, dass es für einige Arten von Benutzungen günstige Bedingungen schafft, viele andere aber stark behindert. Schon am Beispiel der Ortsakten wird dies offensichtlich. Wurden etwa die Unterlagen mehrerer aufgehobener Klöster betreffend deren Besitz und Rechte in den verschiedenen Ortschaften der Umgebung nach Orten aufgeteilt, ist dem Ortschronisten sehr geholfen, denn er kann auf einen Blick erkennen, welche Klöster welchen Besitz in seinem Ort hatten. Aber der Historiker, der zum Grundbesitz eines bestimmten Klosters forscht, muss alle Ortsakten auf Verdacht durchgehen, um zu ermitteln, wohin überall die Quellen verstreut wurden. Derartige Probleme tauchen zwangsläufig unabhängig von dem gewählten PertinenzSchema auf. Dieses kann immer nur auf bestimmte Fragestellungen ausgerichtet sein, während es alle übrigen und insbesondere solche, die zum Zeitpunkt der Ordnung noch gar nicht bekannt sein konnten, behindert. Das heißt auch, dass Veränderungen in Methoden und Fragestellungen der Wissenschaft nicht berücksichtigt werden können. So wird ein Mentalitätshistoriker kaum eine nach dem Pertinenzprinzip gebildete Archivalieneinheit „Mentalität von Bauern im 16. Jahrhundert“ finden, denn dazu lag die

2. Im Archiv

Fragestellung dem 19. Jahrhundert zu fern. Auch weitere offensichtliche Probleme wie die Rubrizierung eines Aktenstücks zu mehreren Sachbetreffen ließen sich nicht lösen. Man findet als Benutzer zwar immer noch nach dem Pertinenzprinzip geordnete Archive oder Archivbestände, doch inzwischen wurde es durch das Provenienzprinzip abgelöst. Dieses dominiert heute im deutschen Archivwesen und bestimmt entsprechend die Recherchewege.

Das Provenienzprinzip Das Provenienzprinzip geht vom Entstehungszusammenhang der Archivalien aus. Es wurde zunächst anhand von Archivalien staatlicher Herkunft, also anhand von Verwaltungsakten in Abhängigkeit von der Arbeitsweise der Verwaltungen entwickelt. So wurden neben Serien- vielfach Sachakten gebildet, in denen alle Unterlagen zur Erledigung einer Sache zusammengefasst wurden. Für die damalige Verwaltung wie für die heutigen Benutzer ist es daher möglich, den gesamten Arbeitsprozess zu einer Sache, die getroffenen Entscheidungen und Vorüberlegungen sowie die eingeholten Informationen und Stellungnahmen zu verfolgen. Ein Archivbestand (oder kurz: Bestand) enthält alle Unterlagen mit der gleichen Herkunft, also der gleichen Provenienz. Die Bestände eines Archivs lassen sich wiederum in Gruppen zusammenfassen, also z. B. in eine Gruppe Ministerialbestände, die dann alle einzelnen Bestände mit Akten aus Ministerien enthält im Unterschied zu einer Gruppe Regierungspräsidien, die die Bestände mit Unterlagen aus den Regierungspräsidien des Archivsprengels enthält. Auf diese Weise entsteht die sogenannte Archivtektonik, d. h. die Gliederung eines Archivs in Bestände, Bestandsgruppen oder -abteilungen. Das Provenienzprinzip ist heute eines der wenigen allgemein anerkannten Strukturmerkmale im deutschen Archivwesen. Dennoch muss bei der Benutzung von Altbeständen immer geprüft werden, welche Vorstellung ihrer Ordnung und Erschließung zugrunde lag.

Entstehungszusammenhänge der Archivalien

Strukturmerkmal im deutschen Archivwesen

2.2 Findmittel Findbücher Die meisten Archive erstellen bei der Erschließung ihrer Bestände Findbücher. Sie tragen in besonderer Weise dem Provenienzprinzip Rechnung. Bei sehr wichtigen und regelmäßig benutzten Beständen werden Findbücher publiziert und sind in öffentlichen Bibliotheken oder im Buchhandel greifbar. Darüber hinaus sind Findbücher manchmal auch online auf den Internetseiten des Archivs einsehbar. Im 19. Jahrhundert wurden Findbücher als „Landkarten der Archive“ bezeichnet, da sie den Benutzern den Weg durch einen Bestand weisen bis hin zum einzelnen Aktenstück. Mit Hilfe eines Findbuchs können Archivalien ermittelt werden. Allerdings sind Findbücher nicht alphabetisch oder sachthematisch geordnet. Vielmehr bilden sie den Entstehungszusammenhang und die Struktur des gewachsenen (Registratur-)Bestandes ab. Das be-

Findbücher als „Landkarten der Archive“

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II. Leitfaden für die Praxis

Gliederung der Findbücher

Tiefenerschließung der Archivalieneinheiten

deutet, dass bei der Durchsicht eines Findbuchs darauf zu achten ist, welche Stelle innerhalb einer Verwaltung für den gesuchten Kontext zuständig war. Als grobe Orientierung innerhalb des Findbuchs dient dabei das Inhaltsverzeichnis, das die Gliederung des Bestandes widerspiegelt. Generell sind Findbücher in drei große Teile untergliedert: in die Einleitung, den Hauptteil mit den einzelnen Einheiten des Bestandes sowie in den Anhang mit Indices. Die Einleitung eines Findbuchs ist im Regelfall zwischen drei und zehn Seiten lang. Es empfiehlt sich, diese auf jeden Fall zu lesen. Hier werden unverzichtbare Angaben zur Behörden- und Bestandsgeschichte gemacht, die eine Recherche erleichtern. Außerdem kann die Einleitung Hinweise enthalten, zu welchen anderen Beständen Querverbindungen bestehen und welche anderen Findbücher relevant sind. In der Regel gibt die Einleitung auch Auskunft über die Arbeit des Archivars mit dem Bestand. So bleibt es nachvollziehbar, welche der ursprünglich vorhandenen Akten überhaupt aufbewahrt und verzeichnet worden sind und welche im Gegensatz dazu kassiert (vernichtet) wurden. Im Hauptteil der Findbücher werden die einzelnen Einheiten des Bestandes aufgeschlüsselt (z. B. Sachakten). Jede Archivalieneinheit erhält dabei eine laufende Nummer, die jedoch nicht mit der übergeordneten Signatur für den Bestand zu verwechseln ist. Bei der Bestellung von Archivalieneinheiten reicht es in einigen Archiven aus, den Bestand und die laufende Nummer anzugeben. Neben der laufenden Nummer hat jede Archivalieneinheit einen Titel, der bei Akten zumeist dem ursprünglichen Aktentitel entspricht. Außerdem wird jeweils eine Laufzeit angegeben. Maßgeblich für die Laufzeit sind das älteste und das jüngste Schriftstück der Archivalieneinheit. Titel, Laufzeit und Umfang (entweder in cm, Blatt oder Seitenzahl) liefern wichtige Anhaltspunkte, ob man hier für sein Forschungsvorhaben fündig werden könnte. Je nachdem, wie viel Zeit und Personal für die Erschließung des Bestandes aufgewendet werden konnte, werden – mehr oder weniger umfangreich – sogenannte „Enthält“-Vermerke gemacht, d. h., es wird beschrieben, was sich in dieser Archivalieneinheit befindet (welche Korrespondenzen, Aktennotizen, Einladungen, Protokolle etc.). In den „Darin“-Vermerken werden überdies Vorgänge und Materialien ausgewiesen, die man unter dem Aktentitel zuerst gar nicht vermutet hätte, beispielsweise Fotos, Baupläne, Landkarten etc. Darüber hinaus ist es möglich, sich anhand der Indices im Anhang zu orientieren, die nach Personen, Orten und Sachbetreffen sortiert sind. Der Zugriff über den Anhang weist alle Fundstellen innerhalb des Bestandes aus. Anzumerken ist jedoch, dass diese Suche nur so gut sein kann wie der Index und die (Tiefen-)Erschließung der Archivalieneinheiten. Selbstverständlich ist es nicht immer möglich, alle Forschungsinteressen bei der Erschließung eines Bestandes zu bedenken, d. h. eventuell ist das schon lange gesuchte Dokument zwar in einer Akte, der Archivar hat es aber im „Enthält“-Vermerk nicht aufgeführt. Daher ist es ratsam, die Archivalieneinheiten auch auf Verdacht hin zu bestellen, falls sich der Aktentitel vielversprechend anhört, selbst wenn im „Enthält“-Vermerk und in den Indices keine weiteren Hinweise zu finden sind.

2. Im Archiv

Andere Findmittel: Ablieferungslisten, Repertorien, Karteien etc. In Archiven werden am häufigsten Findbücher erstellt und erst in zweiter Linie Ablieferungslisten, Repertorien, sachthematische Inventare und Karteien. Ablieferungslisten helfen bei noch nicht verzeichneten Beständen weiter. Sie wurden von der abgebenden Behörde erstellt, die ihre Akten für die laufende Arbeit nicht mehr benötigte und dem Archiv angeboten hat. Selbstverständlich bieten Ablieferungslisten nur einen groben Überblick und können Findbücher nicht ersetzen. Repertorien sind ältere Registraturhilfsmittel, die in den Registraturen der letzten Jahrhunderte erstellt worden sind und zum Auffinden der eigenen Aktenbestände genutzt wurden. Teilweise ist es noch nicht gelungen, zumeist aus Zeit- und Personalmangel, die Repertorien durch moderne Findbücher zu ersetzen. Bei Repertorien, die handschriftlich verfasst wurden, muss man mit alten und schwer lesbaren Schriften rechnen, die vor der Benutzung des Bestandes entziffert werden müssen. Außerdem sind diese Findmittel oftmals kompliziert strukturiert und sachthematisch geordnet. In ihnen ist das Archivgut zumeist nach Territorial-, Personaloder Sachbetreffen sortiert, ohne dass die Entstehungszusammenhänge berücksichtigt wurden. Darüber hinaus kann es noch weitere Hilfsmittel wie z. B. sachthematische Inventare geben. Der Vorteil solcher Inventare besteht darin, dass hier in der Regel beständeübergreifend und zum Teil auch institutionenübergreifend recherchiert worden ist. Der Nachteil liegt allerdings ebenso auf der Hand: Das sachthematische Suchkriterium ist eventuell „veraltet“ und für den derzeitigen Forschungsdiskurs nicht mehr relevant. Außerdem vernachlässigen sachthematische Inventare den Entstehungszusammenhang der Archivalien. In einigen Archiven sind die Bestände in Zettelkatalogen oder Karteien erfasst. Dieses System ist auch im Bibliotheksbereich gängig. Kleinere Archive, einige Literaturarchive und Bibliotheken, die ebenfalls Nachlässe aufbewahren, haben ihre Bestände auf Karteikärtchen katalogisiert oder tun es immer noch. Die Zettelkataloge sind nach dem Pertinenz-Schema sortiert. Außerdem werden hier oftmals Korrespondenzserien alphabetisch geordnet ausgewiesen. Die Suche nach Personen wird dadurch sehr erleichtert. Wer beispielsweise eine Biographie über Theodor Heuss schreiben möchte, findet sofort alle Briefe von Theodor Heuss auf einer Karteikarte. Zu bedenken ist allerdings, dass die Antwortschreiben weggeschickt worden sind. Wenn der Korrespondenzpartner also keine Durchschläge oder handschriftlichen Abschriften angefertigt hat, sind zwei Archive zu konsultieren, um einen vollständigen Briefwechsel zu erhalten. Dies ist natürlich der Idealfall. Leider sind oftmals die Gegenbriefe aus den unterschiedlichsten Gründen (vgl. Kapitel II.4.1 Die archivische Bewertung) nicht mehr erhalten. Bei der Arbeit mit Urkunden stehen dem Forscher häufig zusätzlich Regestenwerke zur Verfügung. Regesten geben in Kurzform den Inhalt einer Quelle wieder und werden in chronologischer Reihenfolge sortiert. Sie nennen Ort, Datum, Ereignis bzw. Inhalt der Urkunde, den Aussteller sowie den Empfänger. Die Regesta Imperii beispielweise sind das wichtigste Regestenwerk zur deutschen Geschichte. In ihm sollen die Regesten aller

Registraturhilfsmittel der letzten Jahrhunderte

Regestenwerke

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II. Leitfaden für die Praxis

Datenbanken und elektronische Systeme

Könige und Kaiser des römisch-deutschen Reiches erfasst werden. Die schon vorhandenen Bände sind für die jeweilige Zeit unentbehrliche Nachschlagewerke. Abschließend muss noch hinzugefügt werden, dass viele Archive im elektronischen Zeitalter ihre neuen Bestände in Datenbanken erfassen bzw. die alten Bestände in elektronische Systeme retrokonvertieren. Einige dieser Datenbanken stehen auf den Internetseiten der Archive den Benutzern zur Verfügung, andere lediglich an den Benutzercomputern im Archiv oder nur am PC des Archivars, der gemeinsam mit den Benutzern die in Frage kommenden Bestände recherchiert. Es kommt allerdings äußerst selten vor, dass ein Archiv sämtliche Bestände elektronisch erfasst hat. Daher ist immer mit einer Durchmischung von alten und neuen Findmitteln zu rechnen.

2.3 Archivalien bestellen Bestellzeiten für Archivalien

Außenmagazine

Je nach Größe und personeller Ausstattung des Archivs kann die Bestellung der Archivalien mehr oder weniger formalisiert sein. In großen Archiven, die für diese Tätigkeit eigene Mitarbeiter im Magazin beschäftigen, gibt es in der Regel feste Bestellzeiten. Diese können z. B. jede Stunde oder alle zwei Stunden sein. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte der Bestellwunsch notiert und der Lesesaalaufsicht übergeben werden. Teilweise haben die Archive für die Bestellung bereits gedruckte Zettel vorrätig, die dann nur noch ausgefüllt werden müssen. In der Regel ist es notwendig, den Bestand, die Signatur und ggf. auch die laufende Nummer der Archivalieneinheit anzugeben. In den meisten Archiven ist es möglich, mehrere Bestellungen zu einem Zeitpunkt aufzugeben. Einige Archive jedoch arbeiten, um wahlloses Bestellen zu vermeiden, mit Beschränkungen. Hier können dann z. B. nur 10 Archivalieneinheiten pro Tag bestellt werden. Daher ist es ratsam, den Archivbesuch möglichst zeitökonomisch einzuteilen. Es ist äußerst ungünstig, wenn die letzte Bestellung nach 15 Minuten kursorischer Durchsicht nicht mehr gebraucht wird, anschließend 45 Minuten bis zur nächsten Bestellmöglichkeit vergehen und der Magaziner wiederum 15 Minuten benötigt, um die neuen Archivalien in den Lesesaal zu bringen. In diesem Fall wäre eine Stunde nutzlos verstrichen. In der Regel bietet es sich an, eine Prioritätenliste der zu bestellenden Archivalien anzulegen. Umfangreiche Archivalieneinheiten mit bis zu mehreren hundert Blatt, die für das Forschungsthema von großer Bedeutung sind, können sofort bestellt werden. Da nicht jeder Bestand in der Tiefe erschlossen ist (vgl. Kapitel II.2.2 Findmittel), ist es darüber hinaus auch hilfreich, auf Verdacht hin zu bestellen. Diese „Zufallsbohrungen“ werden am besten gemeinsam mit äußerst wichtigen Archivalieneinheiten bestellt. Sollte sich schnell herausstellen, dass der eine Bestand völlig unergiebig ist, kann man bis zur nächsten Bestellung dennoch mit der anderen Archivalieneinheit weiterarbeiten. In kleineren und mittelgroßen Archiven werden oftmals keine Magaziner beschäftigt. Hier ist es möglich, dass Archivalieneinheiten erst beim nächsten vereinbarten Termin vorgelegt werden können. Manchmal sind Bestände auch ausgelagert und werden in einem entfernten Außenmagazin aufbewahrt. Auch in diesem Fall ist mit Zeitverzögerungen zu rechnen.

2. Im Archiv

2.4 Der Umgang mit dem Material Dass Archivalien vorsichtig und umsichtig behandelt werden sollten, versteht sich von selbst. Schließlich handelt es sich zumeist um unwiederbringliche Unikate, die auch für die nachfolgenden Generationen aufbewahrt werden. Wird sehr fragiles oder vom Zerfall bedrohtes Material wie alte Fotos gesichtet, müssen Benutzer Archivhandschuhe tragen. Die Handschuhe verhindern, dass der Handschweiß, der als eine Art Schutzfilm unsichtbar vorhanden ist, sich langsam in das Material hineinfrisst und es so schädigt. Darüber hinaus besteht in einigen Lesesälen die Vorschrift, nur mit Bleistiften zu arbeiten, um eventuelle Schäden am Material durch „Ausrutscher“ der Benutzer möglichst gering zu halten. Selbstverständlich können Benutzer aber auch ihr Notebook mit ins Archiv nehmen, um die neu gewonnenen Erkenntnisse sofort einzugeben. Die meisten Archive verfügen in ihren Lesesälen über Steckdosen, die genutzt werden dürfen. In den Lesesälen – oder wo den Benutzern sonst die Archivalien vorgelegt werden, dies kann manchmal sogar das Dienstzimmer des Archivars sein – darf man selbstverständlich weder essen noch trinken. Auch sonst gelten in Handschriftenlesesälen ähnliche Verhaltensregeln wie in den Lesesälen von Universitätsbibliotheken: Mäntel, Schirme und Taschen werden am Eingang eingeschlossen und nicht mitgenommen; lautes Reden und lange Unterhaltungen sind nicht erwünscht. Wenn man von Materialien eine Kopie haben möchte (vgl. im folgenden Kapitel den Unterpunkt 3.3 Reproduktionen und Urheberrecht), notiert man die Bestandsbezeichnung, die entsprechende Signatur, den (Akten-)Titel sowie die Paginierung oder die Korrespondenzpartner und das Datum des Briefes. Wird mit einem noch nicht bis in die Tiefe erschlossenen Bestand gearbeitet, kann man auch ein Blatt Papier an die Stelle legen, die kopiert werden soll. Kleine Merkzettel („Post-its“) in die entsprechenden Unterlagen zu kleben, ist jedoch tabu, da die im Klebstoff enthaltenen Chemikalien die Archivalien nachhaltig schädigen. Checkliste 3 Bedenken Sie, dass einmal hergestellte Findmittel schon aus Personal-

gründen oftmals nicht erneuert werden. 3 Rechnen Sie daher sowohl mit dem Provenienprinzip als auch mit

3

3 3 3

dem Pertinenzprinzip bei Ordnung und Verzeichnung sowie mit den unterschiedlichsten Findmitteln von der Ablieferungsliste bis zum Karteikasten. Lesen Sie in Findbüchern auch immer die Einleitung. Hier finden Sie Angaben zur Behörden- und Bestandsgeschichte sowie Querverweise zu anderen Beständen. Teilen Sie Ihren Archivbesuch ökonomisch ein und bestellen Sie nicht wahllos Archivalien. Beachten Sie Bestellzeiten und evt. Bestellbeschränkungen (z. B. 10 Archivalieneinheiten pro Tag). Gehen Sie bei kleinen Archiven nicht davon aus, dass Ihnen das Material sofort bzw. am gleichen Tag vorgelegt werden kann.

Archivhandschuhe

Exzerpieren mit Bleistift

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II. Leitfaden für die Praxis

3 Tragen Sie bei empfindlichen und fragilen Materialien Archivhand-

schuhe. Diese werden Ihnen im Archiv zur Verfügung gestellt. 3 Benutzen Sie im Lesesaal am besten keinen Füller oder Kugelschrei-

ber, sondern einen Bleistift und/oder Ihr Notebook. 3 Selbstklebende Merkzettel sind verboten.

3. Rechtsfragen 3.1 Benutzungsrecht

Archivgesetze des Bundes und der Länder

Allgemeine Sperrfristen

Das Archivrecht, also die Summe aller rechtlichen Fragen und Bestimmungen, mit denen es Archive zu tun haben oder haben können, tangiert die Benutzer meist nur an zwei Stellen, nämlich beim Benutzungsrecht als solchem und beim Urheberrecht. Auch hier ist die Trennung zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen Archiven fundamental. Die Sache wird allerdings dadurch verkompliziert, dass auch in öffentlichen Archiven Archivgut lagern kann, das rechtlich wie nicht-öffentliches zu behandeln ist, da es aus Privatbesitz übernommen wurde. Öffentliche Archive, also vor allem die Staats- und Kommunalarchive und Sonderformen wie Universitätsarchive, unterliegen den Archivgesetzen, die Bund und Länder seit den späten 1980er Jahren flächendeckend erlassen haben. All diesen Gesetzen ist gemein, dass sie den Bürgern nach Ablauf bestimmter Schutz- oder Sperrfristen, die verschiedenen schutzwürdigen Belangen wie etwa dem Persönlichkeitsschutz der in den Akten erwähnten Personen dienen, einen Zugang zu allen Archivalien garantieren, wobei die genauen Definitionen dieses Zugangsrechts von Bundesland zu Bundesland differieren. Benutzungsbeschränkungen sind u. a. dann statthaft, wenn der Erhaltungszustand der Archivalien so schlecht ist, dass schwere Schäden durch die Benutzung zu befürchten sind. Zeitweilig können auch rein praktische Gründe die Benutzung verhindern: Archivgut kann sich in Restaurierung, Verfilmung oder Neuordnung befinden sowie an Museen zu Ausstellungszwecken ausgeliehen und daher momentan nicht verfügbar sein. Archivgut, bei dem die enthaltenen Informationen schon bei seiner Entstehung zur Veröffentlichung vorgesehen waren oder aus welchen Gründen auch immer bereits veröffentlicht wurden, ist Benutzern ohne jede Frist vorzulegen. Für alle anderen Unterlagen gilt in der Regel eine Schutzfrist von 30 Jahren nach Schließung, also nach dem letzten Bearbeitungsschritt am jüngsten Schriftstück in einer Akte. Diese Regel kann jedoch bei Unterlagen, die einem Berufs- oder Amtsgeheimnis oder besonderen gesetzlichen Bestimmungen unterliegen, außer Kraft gesetzt sein. Personenbezogene Unterlagen schließlich unterliegen einer Schutzfrist, die nach dem Zeitpunkt des Todes einer natürlichen Person berechnet wird, auf die sich die jeweilige Akte bezieht (z. B. bei Personalakten). Die an sich freie Benutzbarkeit öffentlichen Archivguts ist also durch eine Reihe von Einschränkungen behindert, sofern die Einsichtnahme in sehr junge Unterlagen gewünscht wird. Die Zeitgeschichte arbeitet so sinnvoller

3. Rechtsfragen

Weise entlang der 30-Jahres-Grenze der allgemeinen Sperrfrist. Das heißt, ab dem Jahr 2010 kann man sich verstärkt der Geschichte der frühen 1980er Jahre zuwenden. Solche Beschränkungen sind schon bei der Anlage von Forschungsprojekten zu berücksichtigen. Allerdings gibt es als Ausweg verschiedene Möglichkeiten der Sperrfristverkürzung auf Antrag, die ebenfalls im Vorfeld bei Projektplanungen ausgelotet werden müssen. Eine Faustregel, inwieweit Verkürzungen gewährt werden, gibt es jedoch nicht, es besteht nur das Recht, dass die Argumente der Benutzer unvoreingenommen geprüft, gewürdigt und gegen das legitime Schutzinteresse der betroffen Stellen oder Personen abgewogen werden. Grundsätzlich handelt es sich bei personenbezogenen Akten um eine Abwägung zwischen zwei Grundrechten: der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit auf der einen und dem Schutz der Persönlichkeit auf der anderen Seite. Oft kann auch ein Kompromiss gefunden werden: Für viele Untersuchungen reicht es aus, wenn die Unterlagen in anonymisierter Form, also unter Schwärzung der Namen auf einer Kopie eingesehen werden. Bei anderen kann es zur Auflage gemacht werden, in einer anschließenden Veröffentlichung über bestimmte Informationen Stillschweigen zu bewahren. Archive können sich in diesem Zusammenhang das Recht auf die Prüfung von Manuskripten vor der Drucklegung vorbehalten. In anderen Zusammenhängen richtet sich das Interesse auf bekannte oder wichtige Personen, sogenannte „Personen der Zeitgeschichte“. Dieser Begriff ist nicht klar zu definieren, aber er wird bei der Verkürzung von Sperrfristen in dem Sinne eingesetzt, dass ein Prominenter als öffentliche Person geringere Schutzrechte genießt als ein öffentlich unbekannter Mensch. Bei der Abwägung der Grundrechte geht dann bisweilen das öffentliche Interesse an der Erforschung der „Person der Zeitgeschichte“ deren Schutzinteresse vor. Inwieweit dies bei der Verkürzung von Sperrfristen einsetzbar ist und ob eine konkrete Person als Person der Zeitgeschichte gelten kann, hängt vom Einzelfall ab. In jüngerer Zeit entstehen in verschiedenen Bundesländern die sogenannten „Informationsfreiheitsgesetze“, die der Schaffung von Transparenz in Politik und Verwaltung dienen sollen. Sie gewähren Bürgern das Recht, bestimmte Typen laufender Akten in Behörden einzusehen. Die Auswirkung auf das Archivwesen liegt auf der Hand: Es ist kaum vermittelbar, dass eine Akte, die im Jahr 2005 von einem Bürger aufgrund eines Informationsfreiheitsgesetzes eingesehen wurde, nach ihrer Abgabe an das zuständige Archiv bis 2035 gesperrt sein soll. Abschließende Regelungen für dieses Problem liegen noch nicht vor, doch vermutlich wird es in Zukunft zu einer drastischen Verkürzung der allgemeinen Schutzfristen – wenigstens für bestimmte Aktentypen – kommen müssen, bei denen Archiv- und Informationsfreiheitsgesetze kollidieren. Per Gesetz kann nur die Benutzung von öffentlichem Archivgut geregelt werden, d. h. von Unterlagen, die in Behörden oder anderen öffentlichen Stellen entstanden sind. Die Benutzung privaten, nicht-öffentlichen Archivguts unterliegt hingegen dem freien Willen des Eigentümers, also z. B. einer Privatperson, einem Verein oder einem Unternehmen. Sofern öffentliche Archive solche Unterlagen übernehmen können, versuchen sie in der Regel,

Personen der Zeitgeschichte

Informationsfreiheitsgesetze

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II. Leitfaden für die Praxis

Archivalien als Leihgabe

Privater Besitz von Archivgut

Einzelfallentscheidung

die Benutzungsbestimmungen denen für öffentliches Archivgut anzugleichen. Der private Eigentümer kann jedoch vor einer solchen Übergabe Benutzungsbedingungen nach seinen Wünschen festlegen. Vielfach erwirbt das öffentliche Archiv auch kein Eigentum an den Archivalien, sondern nur den Besitz der Archivalien als sogenanntes Depositum, d. h. als Leihgabe. In anderen Fällen erwirbt es zwar Eigentumsrechte, muss aber in einem Kauf- oder Übergabevertrag bestimmte Bedingungen akzeptieren. Für Sie als Benutzer ist es meist uninteressant, wo genau die Eigentumsrechte liegen, denn zunächst sind die Benutzungsbedingungen wichtiger, die in beiden Fällen ähnlich aussehen können: 1. Freie Benutzung nach Verstreichen einer bestimmten Frist (z. B. berechnet nach dem Zeitpunkt des Todes des Nachlassers oder des Übergebenden). 2. Benutzung nur nach besonderer Genehmigung durch den Depositar oder früheren Eigentümer bzw. durch seine Rechtsnachfolger. In diesem Fall muss ein schriftlicher oder mündlicher Antrag auf Benutzung an diesen gerichtet werden. Das Archiv vermittelt den Kontakt. 3. Veröffentlichung von Forschungsergebnissen nur nach Genehmigung durch den Depositar oder früheren Eigentümer bzw. durch seine Rechtsnachfolger. Der Zugang kann dann zwar frei sein, aber das daraus entstehende Manuskript wird geprüft. Daraus kann die sehr ungünstige Situation entstehen, dass eine fertige Arbeit nicht publiziert werden kann. Eine rechtzeitige Klärung ist notwendig. 4. Zulassung nur für die Benutzung bestimmter Archivalien, z. B. der Korrespondenz, nicht aber der privaten Tagebücher in einem Nachlass. Bleibt privates Archivgut im privaten, nicht-öffentlichen Eigentum und Besitz, regelt sich der Zugang ebenfalls nach den individuellen Vorstellungen des Eigentümers, wobei es unerheblich ist, ob dieser ein eigenes Archiv als Institution betreibt oder die Archivalien im Wortsinne privat besitzt. Daher müssen Benutzer in einem solchen Fall auch immer mit einer Phase der Prüfung der Rechtsverhältnisse rechnen. Eine Reihe von größeren nicht-öffentlichen Organisationen, Verbänden, Korporationen, Wirtschaftsunternehmen oder Stiftungen, die Archive unterhalten, haben sich eigene Archivordnungen gegeben, die den Archivgesetzen sehr ähnlich oder nachempfunden sind. Hier gelten ähnliche Zugangsrechte wie bei öffentlichen Archiven. Dies ist besonders bei Kirchen, politischen Stiftungsarchiven und großen Unternehmen der Fall. Nicht selten verzichten private Archivalieneigentümer aber darauf, eine konkrete Frist anzusetzen. Sie machen vielmehr die Benutzung vom Einzelfall abhängig, d. h. sie prüfen den anfragenden Benutzer und sein Thema und gewähren ihm nach ihren eigenen Kriterien vollen, beschränkten oder gar keinen Zugang. Eine rechtliche Möglichkeit, gegen die Entscheidung vorzugehen, gibt es in der Regel nicht.

3.2 Benutzungsordnungen Benutzungsanträge und Verpflichtungsschein

Die meisten Archive haben eigene Benutzungsordnungen, die nicht das grundsätzliche Recht auf Zugang zu den Archivalien regeln, sondern das Verfahren der Benutzung sowie das Verhalten der Benutzer bei der Vorlage

3. Rechtsfragen

der Archivalien bzw. die Rechte und Pflichten des Aufsichtspersonals. Dass Archivalien schonend zu behandeln und nicht zu beschädigen sind, ist selbstverständlicher Teil solcher Ordnungen, ebenso das Recht des Personals, zu diesem Zweck bestimmte Verhaltensforderungen zu stellen, etwa die Benutzung von Handschuhen, Bleistiften oder Buchstützen (vgl. Kapitel II.2.4 Der Umgang mit dem Material). Bei grobem Fehlverhalten kann auch trotz prinzipiellem Zugangsrechts die Benutzungserlaubnis entzogen werden. In der Regel ist ein Benutzungsantrag zu stellen, mit dem der Benutzer sich verpflichtet, die Benutzungsordnung zu beachten. Hier werden auch die Personalien und das Forschungsthema festgehalten. Oft enthält der Benutzungsantrag/Verpflichtungsschein auch den Passus, von einer etwaigen Veröffentlichung ein Belegexemplar an das Archiv abzugeben. Letzteres wird oft als lästige Pflicht angesehen, ist aber sehr wichtig, denn nur wenn das Archiv einen Überblick über Themen, Methoden und Ergebnisse der Erforschung seiner Bestände hat, kann es bei seiner Arbeit die Berücksichtigung der Interessen der Benutzer und eine gute Beratung sicherstellen. Außerdem liegt die Abgabe eines Belegexemplars auch im Interesse des Forschers, da die (Hand-)Bibliothek des Archivs auch von anderen Benutzern eingesehen wird, die möglicherweise an ähnlichen Fragestellungen interessiert sind. Damit findet das eigene Werk nicht zuletzt Eingang in den aktuellen Forschungsdiskurs.

3.3 Reproduktionen und Urheberrecht Es ist heute selbstverständlich, dass Wissenschaftler sich Aufsätze und andere Forschungsliteratur in den Bibliotheken kopieren, um sie in Ruhe zu Hause lesen und auswerten zu können. Kopien sind mittlerweile so kostengünstig, dass ihre Nutzung auch bei nicht gerade üppig finanzierten Projekten in größerem Umfang möglich ist. Im Analogschluss dazu erwarten viele Benutzer auch von Archiven, ein großflächiges Kopieren oder neuerdings Fotografieren mit eigenen Digitalkameras zu erlauben, und sie sind enttäuscht oder sogar ärgerlich, wenn dies nicht möglich ist. Aus Sicht der Archive sprechen nämlich viele Gründe gegen ein allzu schrankenloses Kopieren. Am wichtigsten ist dabei der Aspekt der Erhaltung des Archivguts. Es handelt sich ja um Unikate, die bei Beschädigung oder Vernichtung nicht einfach neu beschafft werden können und deren Reparatur wegen der anzusetzenden hohen Qualitätsstandards sehr teuer ist. Daher ist ihre Schonung wichtig. Blitzlichter von Fotoapparaten sowie handelsübliche Kopierer mit ihren Licht- und Wärmeemissionen schädigen das Archivgut aber unweigerlich. Hinzu können mechanische Schäden kommen, die durch das Auflegen auf den Kopierer oder auch beim Einsatz einer privaten Digitalkamera entstehen, weil die Seiten zur Vorbereitung der Aufnahme unsachgemäß glattgestrichen werden. Daher sollte die Zahl der Kopien auf das notwendige Minimum reduziert werden, nicht zuletzt auch wegen der hohen Kosten. Die Kosten von teilweise einem oder gar zwei Euro pro Kopie sind keine Willkür, die den Benutzer durch Abschreckung zwingen soll, die Zahl der Kopien einzuschränken, denn nur in den seltensten Fällen ist es vertretbar, Benutzern selbst das

Erhaltung des Archivguts

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II. Leitfaden für die Praxis

Anfertigung von Mikrofilmen

Urheberrechte der Autoren

Publikationsgenehmigung

Anfertigen der Kopien zu gestatten. Meist muss eigenes Personal des Archivs tätig werden, das einen sorgsamen und fachgerechten Umgang mit dem Kulturgut sicherstellen kann. Benutzer müssen also nicht nur die Kopie, sondern auch die entstehenden Personalkosten bezahlen. Auch die Finanzierung der Geräte selbst ist für Archive mit ihrem im Vergleich zu Bibliotheken viel geringeren Benutzeraufkommen schwieriger. Die Beschaffungskosten müssen daher auf die einzelne Kopie umgelegt werden. Kopierer sind jedoch nur bei Archivgut einsetzbar, das sich in einem sehr guten und stabilen Zustand befindet. Wo dies nicht der Fall ist – und das trifft beispielsweise auf große Massen von säurehaltigem Papier aus jüngerer Zeit zu – kommt der Einsatz von Xerokopierern nicht in Frage. Einen Ausweg bietet dann der Mikrofilm, bei dessen Anfertigung das Archivgut weitaus geringeren Belastungen ausgesetzt ist. Seine Herstellung ist jedoch umständlicher und daher teurer. Einen anderen Ausweg können in neuester Zeit Scans mit modernen vorlagenschonenden Aufsichtscannern bieten. Doch sind diese Geräte in der Anschaffung noch so teuer, dass in absehbarer Zeit keine deutliche Verbilligung der Repro-Preise in Archiven zu erwarten ist. Archivbenutzung erfordert daher weiterhin in großem Maße ein Exzerpieren per Hand und damit ein ganz anderes Arbeiten als die Auswertung von Literatur. Dies sollte nicht als Forschungshemmnis angesehen werden, sondern als Notwendigkeit aus Respekt vor dem Kulturgut, das nicht zu Verbrauchsgut werden darf. Gerade für kleine Archive ist es schon ein personeller und finanzieller Kraftakt, überhaupt eine Kopiermöglichkeit anzubieten. Bei der Anfertigung von Reproduktionen ist immer zu prüfen, ob ein Tatbestand des Urheberrechts verletzt wird, das auf Archivalien liegen kann. Das Urheberrecht wird für Archivbenutzer vor allem dann interessant, wenn es um die Publikation von Archivalien geht. Eine Urheberrechtspersönlichkeit kann bestimmen, ob und in welcher Form ihr „Werk“, d. h. ein Produkt einer eigenen geistigen Leistung, veröffentlich wird. Regelmäßig liegen beim Urheber auch Verwertungsrechte. Für die Masse der Archivalien aus öffentlichen Stellen ist das Urheberrecht von geringer praktischer Bedeutung, da beispielsweise ein einfacher Aktenvermerk eines Sachbearbeiters nicht die Qualität eines „Werks“ im urheberrechtlich relevanten Sinne hat. Insbesondere im Bereich der Sammlungen und Nachlässe kann es jedoch zu Schwierigkeiten kommen, etwa wenn es um die Publikation eines bisher unveröffentlichten Manuskriptes eines Schriftstellers aus dessen Nachlass geht. Dabei ist zu beachten, dass das Urheberrecht noch 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers bei dessen Erben liegt, die wiederum bei einer nicht genehmigten Verwertung zivilrechtliche Schritte einleiten können. Archivbenutzer sollten daher vor jeglicher Publikation und Vervielfältigung genaue Erkundigungen bezüglich der rechtlichen Situation einholen. Dies gilt auch und gerade bei Kopien, Scans oder anderen Vervielfältigungsformen, die das Archiv auf Antrag des Benutzers für diesen erstellt hat. Diese werden wegen der urheberrechtlichen Probleme grundsätzlich nur für den persönlichen Gebrauch zu persönlichen und wissenschaftlichen Zwecken oder zu Zwecken der Lehre erstellt. Ein entsprechender Hinweis wird in vielen Archiven auf die Rückseite der Kopien gestempelt. Jede an-

4. Quellenkunde

dere Verwendung wie ungefragte Publikation oder die Weitergabe an Dritte ist rechtswidrig. Deshalb sollten Benutzer sorgsam darauf achten, solche Kopien nicht weiterzugeben und nur für den bei der Beantragung der Reproduktion angegebenen Zweck zu verwenden. Gegebenenfalls kann nachträglich ein Antrag auf eine Publikationsgenehmigung gestellt werden. Checkliste 3 Informieren Sie sich über die Archivgesetze. 3 Lesen Sie die jeweilige Archivordnung (auch bei nicht-staatlichen Ar-

chiven). Beachten Sie Schutz- bzw. Sperrfristen. Fragen Sie bei privatem Archivgut nach Einsicht in die Dokumente. Füllen Sie einen Benutzungsantrag/Verpflichtungsschein aus. Lassen Sie Kopien in Maßen, aber nicht in Massen anfertigen. Stellen Sie ggf. einen Antrag auf Publikationsgenehmigung des Materials. 3 Geben Sie dem Archiv bei Publikation ihrer Arbeit ein Belegexemplar. 3 3 3 3 3

4. Quellenkunde 4.1 Von abgelegten Akten zum Kulturgut. Die archivische Bewertung Noch vor der Überlegung, welche unterschiedlichen archivalischen Quellen es gibt, stellt sich die generelle Frage: Was wird aus welchen Gründen überhaupt aufbewahrt? Nicht selten gehen Benutzer davon aus, dass im Archiv einfach alles zu einem Thema, das jemals von einer Registratur produziert wurde, versammelt sein muss. Dies ist aber bei weitem nicht der Fall. Schließlich wird nicht jede verstaubte Akte automatisch zum bewahrenswerten Archivgut. Während die mittelalterliche Überlieferung vergleichsweise so klein ist, dass fast jedes bis heute vorhandene Stück Pergament es wert ist, aufbewahrt und erforscht zu werden, sieht sich der Zeithistoriker und sehen sich noch vor ihm die Archive mit einer wahren Quellenflut konfrontiert. Diese zwingt die Benutzer, ihr Thema sorgsam zu begrenzen, um überhaupt in der Lage zu sein, die einschlägigen Quellen sichten und auswerten zu können. Auch die Archive werden vor ein schon rein praktisches Problem gestellt. Der Mangel an Raum und Personal sowie an Sachmitteln erzwingt eine ebenso strenge Auswahl der Unterlagen, die tatsächlich in das Archiv gelangen und dort als Archivgut dauerhaft aufbewahrt werden. Archive müssen bei den aktuellen Übernahmen aus Behörden, aber auch von Nachlassern oder privaten Sammlern darauf achten, die Menge der Archivalien auf das Sinnvolle zu beschränken und den Rest zu vernichten. Bei Behördenschriftgut wandern so nicht selten bis zu 99 Prozent der einstmals vorhandenen Menge in den Reißwolf. Dieser Vorgang ruft regelmäßig bei Benutzern wie auch innerhalb der archivischen Zunft Unbehagen hervor: Wenn die Archivare Schriftgut vernichten, wer garantiert dann, dass es sich nicht um die Quellen handelt, die

Kassationsanteil bei 99%

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II. Leitfaden für die Praxis

Probleme der Quellenflut

Parallele Überlieferungen

Bewertungsfehler

für ein späteres Forschungsprojekt zentral gewesen wären? Und: Dürfen finanzielle Erwägungen eine Rolle spielen, wenn es um die Vernichtung historischer Quellen, mithin um die Vernichtung von Kulturgut geht? Zu bedenken ist aber, dass die dem Archiv angebotenen Unterlagen noch kein Kulturgut sind, sondern nur alte Akten oder verstaubte Papiere. Kulturgut werden sie erst durch den Prozess der sogenannten archivischen Bewertung, in deren Verlauf das Archivwürdige, unbedingt auch entgegen aller finanziellen Engpässe Aufzuhebende ausgewählt und zu Archivgut gemacht wird. Ausgeschieden werden die Unterlagen, denen kein bleibender Wert zugesprochen werden kann. Im Zeitalter der Durchschlagpapiere, Fotokopierer und Laserdrucker entstehen ständig zahlreiche Kopien oder Mehrfertigungen ein und desselben Schriftstücks. Akten werden vielfach zu bloßen Materialsammlungen ohne politischen oder konzeptionellen Gehalt. Von papierlosen Büros ist man heute weiter entfernt denn je, wenn man sich nur die inflationäre Praxis anschaut, seitenlange Ausdrucke aus dem Internet zu den Akten zu nehmen und bei Bedarf lieber einen neuen Ausdruck des Textes zu erstellen, als den alten in den Akten zu suchen. Hinzu tritt die Arbeitsteilung der Verwaltung. Zahlreiche Behörden oder Abteilungen einer Behörde sind an vielen komplexen Verwaltungsakten beteiligt und entscheiden oder diskutieren dabei mit, oder sie nehmen auch nur Kenntnis von dem Vorgang. Andere Behörden liegen auf dem Dienstweg zwischen zwei beteiligten Stellen und nehmen deshalb eine Kopie des Schriftwechsels zwischen diesen zur ihren Akten, ohne eigentlich beteiligt zu sein. In den Behörden werden daher große Mengen von Akten geführt, die weitgehend mit den komplementären Akten anderer Behörden oder Stellen identisch sind oder die sich nicht so gravierend voneinander unterscheiden, dass sich durch den Vergleich ein messbarer inhaltlicher Gewinn für die Bearbeitung einer bestimmten historischen Fragestellung ergeben würde. Oft ist nur eine einzige Akte, nämlich die der mit einer Sache hauptsächlich oder federführend betrauten Stelle, bedeutsam, während zwei, fünf oder zehn parallele Überlieferungen an anderen, von der Sache nur am Rande berührten Stellen obsolet sind. Indem Archive diese eine, bedeutsame Akte suchen und sichern, komprimieren sie die Überlieferung auf den wesentlichen Kern und schaffen so erst die Voraussetzung für eine erfolgversprechende Benutzung. Denn es ist weder sinnvoll noch überhaupt machbar, sich als Benutzer durch zahlreiche periphere Neben- und Doppelüberlieferungen zu wühlen und darüber vielleicht die entscheidenden Stellen zu übersehen. Es sind also keineswegs nur profane finanzielle Gründe, die Archive nur einen Bruchteil der angebotenen Unterlagen übernehmen lassen. Vielmehr beginnt schon bei der Auswahl der Service am Benutzer und die Schaffung der Möglichkeit, sich in den in jüngerer Zeit produzierten Quellenbergen überhaupt zurechtfinden zu können. Dass dabei auch einmal Unterlagen vernichtet werden, die besser erhalten hätten werden sollen (und – mit weniger einschneidenden Konsequenzen – umgekehrt), liegt in der Natur der Sache. Trotz aller Bemühungen, Bewertungsfehler zu minimieren und die Aufgabe insgesamt durch archivübergreifende Kooperation, durch eine bessere Definition der Ziele und

4. Quellenkunde

durch genauere Vorarbeiten der Willkür einzelner Archivare zu entziehen, handelt es sich noch immer um Entscheidungen, die von Menschen nach bestem Wissen und Gewissen getroffen werden. Ein Archivar analysiert die angebotenen Akten und entwickelt eine These, welche von ihnen aufbewahrt werden sollten und welche nicht. Er kann dies besser oder schlechter machen: Es bleibt doch immer eine These, die andere Archivare anders formuliert hätten, die dem jeweiligen Zeitgeist verhaftet ist und die unter verschiedenen Blickwinkeln diskutiert werden kann. Einigkeit über ein einheitliches Bewertungsmodell aller Archive gibt es nicht, wohl aber gewisse sinnvolle Grundüberzeugungen, die von den meisten geteilt werden. Dazu zählt, dass überall dort, wo durch Kopien oder Mehrfertigungen zahlreiche parallele Überlieferungen existieren, nur eine Überlieferung übernommen werden muss, und zwar möglichst die der Stelle, die in dieser Sache die überwiegende Zuständigkeit hatte. Im Bereich der öffentlichen Verwaltung herrscht auch Konsens darüber, dass es primär die genuine Aufgabenerledigung der Behörden ist, die dokumentiert werden soll, während die allgemeinen Tätigkeiten, die in allen Behörden zwangsläufig nebenbei anfallen, wie Hausverwaltung oder Beschaffung von Büromaterial, nicht wichtig sind. Von gleichförmigen Massenakten, in denen tausendfach Einzelfälle abgehandelt werden (wie z. B. Sozialhilfeakten, Personalakten, Justizakten), werden oft nur kleine Teile archiviert, die so beschaffen sind, dass Rückschlüsse auf die Gesamtheit möglich bleiben, oder es werden nur exemplarisch bestimmte Fälle überliefert. Es wird angestrebt, Redundanz zu vermeiden und die Überlieferung auf einen wesentlichen Kern zu reduzieren. Diese Bewertungsgrundsätze sind vage und werden in den Archiven unterschiedlich ausgelegt. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass Bewertung nicht zweckgebunden für ein Forschungsprojekt oder eine bestimmte Forschungsrichtung stattfinden sollte, sondern für so viele Fragestellungen, wie sie möglich oder sinnvoll erscheinen. Das schließt ein, dass Archive nicht auf bloßen Wunsch einer bestimmten Benutzerklientel, die ihre Wünsche vielleicht nur am lautesten artikuliert, ihre Magazine mit allen erreichbaren Akten zu einer bestimmten Frage füllen dürfen, die dann in jedem Detail zu erforschen wäre. Denn das müsste angesichts knapper Ressourcen automatisch zu einer Vernachlässigung anderer Aktengruppen und damit anderer Forschungsinteressen führen. Schon um die schiere Menge der gespeicherten Informationen handhabbar zu halten, muss immer eine Komprimierung stattfinden, bei der auch weniger wichtige Informationen verloren gehen können. So kann nicht jede einzelne Steuerakte jedes Bürgers aufbewahrt werden, auch wenn in kommenden Jahrhunderten Genealogen gerne die Akte ihres Vorfahren erforschen würden. Die Bewertung wird vielmehr darauf abzielen, die Tätigkeit der Steuerverwaltung in großen Zügen zu dokumentieren und eine Auswahl von Akten zu überliefern, die ausreichend Material für die historische Sozialforschung bereithält sowie erkennbare Sonderfälle umfasst. Die entscheidende Frage dabei lautet, wo denn genau die Grenze verläuft, jenseits derer das bewertende Archiv auch Informationsverluste in Kauf nimmt. Die jüngsten Entwicklungen der archivischen Bewertungsdiskussion zielen daher darauf ab, sogenannte Dokumentationsprofile zu formulieren, in denen jedes Archiv bzw. jede Archivverwaltung für sich festlegt, was es oder sie dauerhaft zu dokumentieren gedenkt, wie detailliert

Entwicklung von Dokumentationsprofilen

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II. Leitfaden für die Praxis

oder oberflächig eine bestimmte Überlieferung zu einem bestimmten Thema sein soll oder darf, welche Quellengruppen breit und welche gar nicht aufbewahrt werden sollen. Gelingt es, solche Dokumentationsprofile flächendeckend zu erarbeiten und zwischen verschiedenen Archivtypen abzustimmen und dabei die Interessen der potenziellen Benutzer zu würdigen und zu gewichten, so werden Dokumentationsprofile dazu beitragen, Bewertung nicht nur transparenter und systematischer zu gestalten, sondern Benutzern auch viel deutlicher vermitteln zu können, mit welchen Quellen sie an welcher Stelle rechnen können. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

4.2 Verwaltungsakten Deutsche Verwaltungstradition

Sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen

Ist von Verwaltungsakten als Quellengruppe die Rede, so fühlen sich zunächst Historiker angesprochen, und unter ihnen vor allem diejenigen, die mit eher traditionellen Fragestellungen und Methoden operieren. Denn natürlich sind Verwaltungsakten nicht immer die nächstliegende Quellengruppe für jede Art von Forschung. Gerade moderne kulturwissenschaftliche oder mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen benötigen oft eher nicht-staatliche Quellen privater Herkunft. Doch vorschnell sollten öffentliche Archive nicht als die Träger einer verstaubten behördlich-obrigkeitlichen Aktenkultur beiseite gelassen werden, denn der Staat greift insbesondere seit dem 19. Jahrhundert in nahezu alle Lebensbereiche seiner Bürger ein, beobachtet, verwaltet und reguliert sie oder spricht im Streitfall Recht. Zu all diesen Vorgängen lassen sich, da die deutsche Verwaltungstradition die Schriftlichkeit des Verfahrens bevorzugt, in den Akten der jeweils zuständigen Behörden Unterlagen finden. Für einen Alltagshistoriker, der etwas über die Lebensverhältnisse einfacher Menschen erfahren will, ist daher das staatliche Archiv durchaus von Interesse, wenn er weiß, welche Behörde sich mit welchen Problemen befasst und welches Archiv die Unterlagen aus dieser Behörde übernommen hat. Vor dem Gang ins Archiv und der Suche nach Verwaltungsakten ist es also sinnvoll, sich über Zuständigkeiten im zu untersuchenden Zeitraum kundig zu machen. So ist bei einer Geschichte der Armut zu berücksichtigen, dass – jedenfalls lange Zeit – die Verwaltung der Arbeitslosigkeit eine staatliche Angelegenheit gewesen ist, die Sozialhilfe und damit z. B. Einzelfallakten zu Sozialhilfeempfängern auf kommunaler Ebene angesiedelt waren und die gezielte Förderung sozial schlecht gestellter Studierender eine Aufgabe des Bundes, der Universitäten oder privaten Stiftungen ist. Die Erforschung der Lebensverhältnisse von Arbeitslosen erfordert also den Gang in staatliche, derer von Sozialhilfeempfängern in kommunale und derer von bedürftigen Studenten in staatliche und nicht-staatliche Archive. Auf gleiche Weise lässt sich zu jedem Thema ein Set von öffentlichen Archiven ermitteln, in denen die einschlägigen Akten zu vermuten sind. Die Literaturgeschichte, die das Werk eines Autors in seinem Entstehungszusammenhang untersuchen will, hat ebenfalls reichhaltige Möglichkeiten, in öffentlichen Archiven fündig zu werden, z. B. über die Akten der staatlichen Kulturförderung, die ihn unterstützt, über die der Polizei, die ihn beobachtet und verfolgt hat, oder über eine Personalakte, wenn er nicht allein von seiner Tätigkeit leben konnte und im öffentlichen Dienst beschäftigt war.

4. Quellenkunde

Abb. 1: Schriftbeispiel von 1912

4.3 Urkunden Urkunden sind insbesondere für Historiker wertvolle Quellen. Da es bereits zahlreiche Veröffentlichungen über den Umgang mit Urkunden gibt sowie darüber hinaus Quellenkunden, die sich ausgiebig mit ihnen auseinandersetzen, sollen sie hier nur kursorisch Beachtung finden. Urkunden stehen immer in enger Beziehung zu einem Rechtsakt. Ältere Urkunden, auch Beweisurkunden genannt, werden zusätzlich als rechtskräftiger Beweis für einen bereits mündlichen und rechtssymbolisch vollzogenen Rechtsakt genutzt. Dabei wird der eigentliche Beweiswert über die Zeugen, die in den Urkunden genannt werden, hergestellt. Bei jüngeren Urkunden liegt der Rechtsakt in der Ausfertigung der beglaubigten Urkunde. Die dispositive Urkunde schafft also Recht. In der Regel sind alle Vorstufen, Entwürfe und zusätzlichen Aufzeichnungen zu mittelalterlichen Urkunden vernichtet worden, da sie „selbsterklärend“ sind, d. h., dass sich alle relevanten Angaben (Siegel des Ausstellers, Zeugen, Beglaubigungsvermerk des Schreibers, Gegenstand etc.), die zum

Rechtscharakter von Urkunden

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II. Leitfaden für die Praxis

Abb. 2: Schriftbeispiel aus dem 13. Jahrhundert

Urkundenschränke und Urkundentaschen

Verständnis nötig sind, auf der Urkunde befinden. Daher haben Urkunden einen autarken Charakter. Sollten sich dennoch Siegelurkunden in Akten befinden, werden sie getrennt von diesen gelagert, da insbesondere die Siegel schnell in Mitleidenschaft gezogen werden. Das große Interesse der Forschung an den Urkunden sowie ihre speziellen konservatorischen Bedürfnisse (sie werden oft hängend in sogenannten Urkundenschränken, liegend in sogenannten Planschränken oder in speziellen Urkundentaschen aufbewahrt), haben dazu geführt, dass man schon seit dem 19. Jahrhundert Urkunden in Sammlungen zusammengefasst hat. Geordnet und verzeichnet werden sie in chronologischer Reihenfolge. Benutzern stehen bei Urkunden Regestenwerke (siehe Kapitel II.2.2 Findmittel) zur Verfügung, die zusätzlich mit Orts- und Personenindices versehen sind. Anzumerken ist jedoch, dass viele Urkunden nicht mehr im Original erhalten sind, sondern nur in Abschrift in Kopialbüchern und Registern, die zu den Amts- und Geschäftsbüchern zählen, überliefert wurden.

4.4 Nachlässe Bedeutung von Kultur- und Literaturarchiven

Bereits mit den technischen Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, verstärkt aber seit dem Einsatz der elektronischen Medien, hat sich eine Verschiebung des Dokumentationsschwerpunktes von der staatlichen auf die private Überlieferung ergeben. Bedingt durch die Vervielfältigungstechniken, die bei Massenakten zu einem Kassationsanteil von über 90 Prozent führen, werden von Einzelpersönlichkeiten strukturierte Sammlungen (Nach-

4. Quellenkunde

Abb. 3: Schriftbeispiel aus dem 16. Jahrhundert

lässe etc.) immer wichtiger für die kulturhistorische Forschung. Schließlich verliert das amtliche Schriftgut zusehends an Aussagekraft. Das bedeutet für die Kultur- und Literaturarchive, die auch bislang bereits personenzentriert sammelten, dass ihre Bedeutung allgemein steigen wird. Und auch die staatlichen Archive, für die eine Konservierung und Verwaltung der kulturellen Überlieferung nicht zu den Pflichtaufgaben gehört, ist es zukünftig wichtig, Nachlässe aufzuspüren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, denn nur so kann es gelingen, das Wirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen und Initiativen zu dokumentieren, die in die staatlichen Überlieferungen kaum Eingang gefunden haben. Im Gegensatz zu amtlichem Archivgut gibt es bei privatem Archivgut aber keine Anbietungspflicht, d. h. niemand muss einen Nachlass an ein Archiv weitergeben. Hierbei handelt es sich immer um eine freiwillige Sache. Es obliegt den Angehörigen bzw. dem Nachlassverwalter zu entscheiden, welche Unterlagen wann, wohin und unter welchen Benutzungsbedingungen abgegeben werden (vgl. hierzu Kapitel II.3. Rechtsfragen). Während es bei amtlichem Archivgut einfach ist zu ermitteln, was sich wo befindet (vgl. Kapitel II.2.1 Grundlegende Ordnungsmittel und Recherchestrategien), gehört bei Nachlässen immer eine gute Portion Detektivarbeit dazu. Mit Kalliope (http://www.kalliope-portal.de) und dem europäischen Modell Malvine (http://www.malvine.org) sind aber bereits bedeutende Fundamente gelegt worden, die Quellenforschung im Bereich der Geisteswissenschaften stark erleichtern. Die Datenbank Kalliope ist die Fort-

Keine Anbietungspflicht

Kalliope als Verbundstruktur

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II. Leitfaden für die Praxis

Abb. 4: Schriftbeispiel aus dem 18. Jahrhundert

4. Quellenkunde

führung der im Jahr 1966 gegründeten Zentralkartei der Autographen mit ca. 1,2 Millionen Nachweisen. Dieser Basisbestand der Zentralkartei ist seit Oktober 2004 online recherchierbar. Darüber hinaus verwenden zahlreiche Einrichtungen Kalliope zur Neuaufnahme und Pflege ihrer Daten. Kalliope ist eine Verbundstruktur, die es den beteiligten Bibliotheken, Archiven und Museen ermöglicht, die in unterschiedlicher Form vorliegenden Nachlass- und Autographenbestände in einem Nachweisinstrument zu erfassen bzw. elektronisch zusammenzuführen. Die Kalliope-Verbundzentrale und die Zentralredaktion werden dabei von der Staatsbibliothek zu Berlin unterhalten. Kalliope ermöglicht drei Sucheinstiege: Nach Autographen, nach Personen und nach Beständen. Allerdings muss – trotz aller Arbeitserleichterung durch Kalliope – an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass bei weitem nicht alle Institutionen ihre Bestände in Kalliope elektronisch zusammenführen oder dies erst stark zeitverzögert tun. Ein weiteres bedeutendes Hilfsmittel zum Aufspüren von Nachlässen ist die im Internet abrufbare Zentrale Datenbank Nachlässe (ZDN) des Bundesarchivs (http://www.bundesarchiv.de/zdn/). Sie basiert auf dem von Wolfgang Mommsen publizierten Verzeichnis „Die Nachlässe in den deutschen Archiven“ (Teil I 1971, Teil II 1981). Hierin wurden ca. 7.000 Nachlässe mit ihren Standorten, kurzen Angaben zur Biographie sowie Art und Inhalt der Überlieferung nachgewiesen. Seit 1992 hat das Bundesarchiv diese Nachweise durch Umfragen bei deutschen und einigen ausländischen Archiven und anderen Verwahrstellen aktualisiert und um die Daten zu Nachlässen ergänzt, die nach 1979 neu erworben wurden. Alle Informationen zu inzwischen mehr als 25.000 Nachlässen und Teilnachlässen aus mehr als 1.000 Institutionen sind in der ZDN erfasst, die das Bundesarchiv seit dem Jahr 2002 im Internet verfügbar macht. Seit Oktober 2004 steht den beteiligten Institutionen ein OnlinePflegemodul zur Verfügung, mit dessen Hilfe die Institutionen ihre Nachlassdaten erfassen, ergänzen und ändern können. Anzumerken ist jedoch, dass die ZDN keine Nachweise von Nachlässen in Bibliotheken führt. Diese werden in Kalliope aufgenommen. Wie auch bei Kalliope gilt für die ZDN, dass nicht alle Institutionen – zumeist aus Zeit- und Personalmangel – das Online-Pflegemodul nutzen. Daher darf eine Recherche an diesem Punkt nicht enden. Es lohnt sich zu überlegen, wo z. B. eine Person geboren wurde, gewirkt hat und wo sie gestorben ist. An allen drei Orten könnte sich der Nachlass befinden. Außerdem kann man je nach Bedeutung eines Nachlasses von einer Art ,gestaffeltem Zentralismus‘ ausgehen. Ein Beispiel: Bei einem Schriftsteller von nationalem Rang ist es wahrscheinlich, dass sein Nachlass sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet. War sein Wirken von regionaler Bedeutung, wird sein Nachlass vermutlich in einer Einrichtung wie dem Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf, oder aber in vergleichbaren Literaturarchiven aufbewahrt. Ist das Werk des Schriftstellers von lokalhistorischem Interesse, wird sein Nachlass vermutlich im Stadtarchiv seines Heimatortes gelandet sein. Nachlässe werden selten vollständig an das Archiv weitergegeben. Bei den meisten Nachlässen hat die Familie bereits Briefe, Manuskripte oder Le-

Zentrale Datenbank Nachlässe (ZDN)

OnlinePflegemodule

Wirkungsorte des Nachlassers

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II. Leitfaden für die Praxis

Abb. 5: Schriftbeispiel aus dem 19. Jahrhundert

Unterschiedliche Nachlasstypen

bensdokumente weggeworfen, beispielsweise weil sie bestimmte Dinge für nicht relevant hielt oder weil sie nicht wollte, dass Benutzer private Liebesbriefe und Tagebücher lesen. In der Regel behalten die Angehörigen darüber hinaus noch Materialien zum Andenken an den Verstorbenen. Bei Nachlässen unterscheidet man echte Nachlässe, angereicherte Nachlässe und Teilnachlässe. Echte Nachlässe enthalten ausschließlich Archivalien aus den Unterlagen des Nachlassers, wohingegen angereicherte Nachlässe von Dritten (z. B. durch die Familie) um Zeitungsausschnitte, Kondolenzschreiben o. ä. ergänzt wurden. Durch den Erbgang oder andere Umstände kann ein Nachlass auch aufgesplittet worden sein. In diesem Fall spricht man von Teilnachlässen, bei kleinen und kleinsten Teilen von Splitternachlässen. Da die Nachlasssituation recht unübersichtlich und gesetzlich nicht mit einer „Abgabepflicht“ geregelt ist, kann man in letzter Zeit zudem noch einen neuen Trend beobachten. Viele Persönlichkeiten, die wichtige Unterlagen besitzen und gesammelt haben, schließen noch zu Lebzeiten mit einem Archiv ihrer Wahl einen Vertrag über ihren Nachlass ab und geben bereits Teile ihrer Unterlagen ab. Eine solche Sammlung nennt man Vorlass.

4. Quellenkunde

4.5 Karten und Pläne Bei Karten, Plänen, Rissen und technischen Zeichnungen handelt es sich um Quellen, die in vielen Archiven vorhanden sind. Wirtschaftsarchive bewahren sie ebenso auf wie beispielsweise die Archive der technischen Ämter und Genehmigungsbehörden beim Land und der Kommune. Teilweise sind diese Quellen überdimensional und benötigen viel Platz bei der Aufbewahrung. Einige Ämter geben ihren Bestand geschlossen als sogenannte „Plankammer“ an die Archive ab. Aus diesem Grund sind Karten und Pläne oftmals nach der funktionalen Provenienz sortiert, die bereits bei der abgebenden Stelle anzutreffen war. Darüber hinaus dienen Karten und Pläne nicht selten als Ergänzung von Sachakten. Um das Material schonend aufzubewahren, werden sie aus den Akten entfernt und jeweils mit Querverweis auf die Akte in die Kartensammlung aufgenommen. Neben den teilweise gedruckten Karten und Plänen der modernen Verwaltungspraxis kann man in Archiven aber auch ältere Karten aus dem 16. oder 17. Jahrhundert finden. Diese sind von ihrer künstlerischen Ausgestaltung und den verwendeten Materialien eher mit Gemälden vergleichbar, etwa durch die Verwendung von Aquarellfarben. Der ästhetische Reiz alter Karten, aber auch neuerer Karten und Pläne erhöht den Schauwert, den solche Quellen haben können. Demzufolge sollte man diese archivischen Quellen nicht nur bei der Ausarbeitung einer größeren wissenschaftlichen Arbeit heranziehen, sondern insbesondere bei der Vorbereitung von kulturwissenschaftlichen Ausstellungen im Blick haben.

Geschlossene Abgabe von Plankammern

Karten als Ergänzung von Sachakten

4.6 Audiovisuelle Medien Die audiovisuellen Medien (AV-Medien) von der Fotografie über das Tonband bis hin zum Film sind längst zu unverzichtbaren Quellen für Kulturwissenschaftler geworden. Fotos bilden eine Quellengruppe, die sich in jedem Archiv finden lässt, sei es vereinzelt in Akten, in einem Nachlass oder aber als angekaufte oder geschenkte Fotosammlung. Da Fotos zu den sehr empfindlichen Materialien zählen, werden sie in der Regel aus Akten herausgenommen und separat aufbewahrt. Ein Querverweis auf das Foto und umgekehrt von der Fotoverzeichnung auf die Akte bleibt bei dieser Vorgehensweise in gut geführten Archiven erhalten. Verzeichnet werden bei Fotos die Provenienz, das Motiv, der Fotograf (ggf. auch der Auftraggeber), technische Daten (Farbe oder schwarz-weiß, Alter des Bildes) sowie der oder die Inhaber des Urheberrechts. Je nachdem in welchem Kontext Benutzer das Foto verwenden wollen, sind die Angaben zu übernehmen, etwa in den Katalog für eine Ausstellung. Fotosammlungen, die aus keinem Registraturzusammenhang stammen, katalogisieren die Archive unter dokumentarischen Gesichtspunkten. Dabei werden Hauptgruppen der Klassifikation (z. B. Orte, Personen und Ereignisse) festgelegt und zusätzlich Schlagworte vergeben. Bei der Benutzung von Fotos müssen in der Regel Schutzhandschuhe getragen werden (vgl. Kapitel II.2.4 Der Umgang mit dem Material), es sei denn, die Fotos sind bereits in einer Datenbank erfasst und eingescannt wor-

Fotosammlungen

Digitale Vorschau in Datenbanken

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II. Leitfaden für die Praxis

Abspielmöglichkeiten von AV-Medien

den. In diesem Fall genügt oftmals die am PC erstellbare Vorschau, um zu entscheiden, ob das Foto für den Forschungskontext relevant ist. Modernen Programmen ist es sogar möglich, viele Fotos gleichzeitig anzuzeigen, um das beste Motiv, beispielsweise von einer Straße oder einer Landschaft, auszuwählen. Generell gilt bei Fotos wie auch bei allen anderen AV-Medien, dass hier die Rechte (Urheber-, Veröffentlichungs- und Nutzungsrechte) abgeklärt werden müssen (vgl. Kapitel II.3 Rechtsfragen). In einigen Fällen kann das Archiv Hinweise auf die Inhaber der Urheberrechte geben. Die Benutzungsordnungen der Archive sehen aber vor, dass die Benutzer die Rechteinhaber ermitteln und die Nutzung ggf. bezahlen müssen. Einige Archive, beispielsweise die großen Rundfunkarchive, sind auf AVMedien spezialisiert und halten Abspielmöglichkeiten bereit oder konvertieren ihre analogen Tonträger in digitale Systeme. Kleine Archive haben nicht so gute und technisch ausgefeilte Möglichkeiten, ihr AV-Material zu sichern, zu sichten und auszuwerten. Hier gehören die AV-Medien auch nicht zum zentralen Kernbestand und stellen nur einen kleinen Teil der Überlieferung dar. Benutzer müssen deshalb damit rechnen, dass z. B. Tonbänder erst für ihre Anfrage technisch aufbereitet (kopiert o. ä.) werden. Die dabei entstehenden Kosten werden dann in der Regel dem Benutzer in Rechnung gestellt, der sich am besten zuvor eine Kostenschätzung geben lässt. Videokassetten, Videobänder und Filme sind genau wie Tondokumente außerhalb der Spezialarchive nicht sehr häufig überliefert. Neben den Problemen bei der sachgerechten Lagerung und Erschließung besteht auch hier die Schwierigkeit, geeignete Abspielmöglichkeiten im Archiv bereit zu halten.

4.7 Sammlungen: Zeitungen, Plakate, Flugblätter etc.

Zeitungsausschnittsammlungen

Sammlungen sind in vielen Archiven anzutreffen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nach dem Provenienzprinzip, sondern nach inhaltlichen Kriterien zusammengestellt worden sind. In der Regel stehen Sammlungen in keinem Zusammenhang zu einer Registratur. Daher werden sie nach dokumentarischen Gesichtspunkten durch Hauptklassifikationen und Schlagworte erschlossen. Sammlungen, beispielsweise von Zeitungsausschnitten, werden selten vom Archiv angelegt. Schließlich handelt es sich hierbei um eine zeit- und personalintensive Maßnahme. Vielmehr gelangen Sammlungen, die oftmals von Privatpersonen angelegt wurden, durch Ankauf, Schenkung oder aber Deponierung in die Archive. Wichtigstes Kriterium ist dabei, ob eine Sammlung die übrigen Bestände des Archivs sinnvoll ergänzt und zu der Erwerbspolitik des Hauses passt. Sehr beliebt bei den Benutzern sind Zeitungen und Zeitungsausschnittsammlungen. Sie gehören zu den häufig benutzten Beständen in Archiven. Für das Archiv ist die Archivierung kompletter Exemplare natürlich wesentlich einfacher als die aufwändige Pflege einer Ausschnittsammlung. Bei alten Zeitungen stellen sich aufgrund von schlechter Papierqualität und hohem Säuregehalt oftmals konservatorische Probleme ein (vgl. Kapitel II.5 Restaurierung). Daher fertigen die Archive vielfach Schutzverfilmungen auf

4. Quellenkunde

Mikrofiches an. Das hat für Benutzer den Vorteil, dass sie bei einem Lesegerät mit Kopierer sehr leicht Reproduktionen für die eigenen Unterlagen machen können. Bei ganzen Zeitungsbänden oder -jahrgängen, die zu durchforsten sind, müssen Benutzer allerdings mit langwierigen Recherchen am Lesegerät rechnen. Neben den Zeitungssammlungen gibt es natürlich noch viele andere Sammlungen, von denen hier stellvertretend die „Einblattsammlungen“, also Plakat- und Flugblättersammlungen, hervorgehoben werden sollen. Die Bestände zeichnen sich, da sie sowohl Information als auch Propaganda transportieren, durch einen hohen Quellenwert aus. Auch Theaterzettel zählen zu den „Einblattsammlungen“. Sie eignen sich durch ihre grafische Gestaltung auch hervorragend als Exponate für kulturhistorische Ausstellungen.

Plakat- und Flugblättersammlungen

4.8 Digitale Unterlagen Der Umstand, dass in den Verwaltungen, Unternehmen und Institutionen, aber auch bei Privatpersonen mehr und mehr Daten nur noch in digitaler Form produziert und gespeichert werden, wird das Gesicht des Archivs in den kommenden Jahrzehnten stark verändern. Denn die Dateien, Datenbanken, Dokumenten-Managementsysteme und viele andere Formen der digitalen Unterlagen enthalten zwar inhaltlich meist keine anderen Informationen, als sie traditionell in Akten und Briefen oder auf Karteikarten, Plänen und Urkunden zu finden sind. Doch das Speichermedium ist im Unterschied zu diesen ein flüchtiges. Die Träger digitaler Daten wie Festplatten, DVDs, CDs oder Magnetbänder überstehen selbst im günstigsten Fall nur wenige Jahrzehnte und werden danach unbrauchbar. Das heißt, für eine Langzeitsicherung muss ein beständiges Umkopieren auf neue Träger sichergestellt werden. Doch dies alleine reicht nicht aus, da die Betriebssysteme, Formate und technischen Standards noch viel schneller veralten und daher nicht sichergestellt ist, dass eine heute mit Standardsoftware erstellte Datei in 50 Jahren noch ohne weiteres lesbar ist. Erst recht gilt das natürlich für komplexe Anwendungen etwa in Verwaltungen, die hunderttausende von Datensätzen speichern. Für Benutzer ist all dies im Moment noch von geringer Relevanz, weil die meisten vorliegenden digitalen Daten schon aus Datenschutzgründen noch nicht ausgewertet werden können. In Zukunft wird es jedoch ganz neue Benutzungsweisen geben. Sie erfordern technische Kenntnisse, die die herkömmlichen historischen Hilfswissenschaften ergänzen werden. Checkliste 3 Unterschätzen Sie nicht den Standardbestand von Archiven, die Ver-

waltungsakten. Nicht nur der Historiker, sondern auch der Kulturwissenschaftler kann hier genau wie in Nachlässen und Sammlungen viel Wissenswertes finden. 3 Denken Sie bei kulturwissenschaftlichen Projekten auch an den Schauwert von Quellen, beispielsweise von Karten, Plänen, Flugblättern und Plakaten.

Flüchtige Speichermedien

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II. Leitfaden für die Praxis

3 Ästhetisch ansprechende Quellen können Sie bei der Publikation als

Abbildungen nutzen oder sogar als Exponate für eine Ausstellung zu Ihrem Thema verwenden. 3 Machen Sie sich klar, welche Bandbreite von Archivalien, von der Urkunde bis zu modernen Medien, in einem Archiv zu finden sind, damit Sie nicht einseitig recherchieren. 3 Beachten Sie, dass Quellen ein unterschiedliches Format haben können und deshalb, z. B. bei Fotos oder Karten, separat vom eigentlichen Bestand aufbewahrt werden.

5. Restaurierung und Bestandserhaltung 5.1 Präventive Bestandserhaltung Sachgerechter Transport des Materials

Lagerung im Eingangsarchiv

Klimatische Bedingungen

Die Bestandserhaltung und damit der Schutz des Kulturgutes gehört in Archiven, Bibliotheken und Museen zu den zentralen Aufgaben. Zumeist sind die präventiven Maßnahmen zur Bestandserhaltung wenig spektakulär und finden im Verborgenen jenseits der interessierten Öffentlichkeit statt. In Archiven beginnt die Bestandserhaltung bereits bei der Übernahme von Registraturgut. Der Archivar stellt den sachgerechten Transport des Materials von der Übernahmestelle ins Archiv sicher, um mechanische Schäden zu vermeiden. Je nach Umfang und Gewicht des Materials kommen als Transporthilfsmittel Treppenkarren, Aktenwagen oder Hubwagen in Frage. Bei großen Mengen lohnt sich der Einsatz von Paletten. Schließlich wiegen handelsübliche Stehordner gut gefüllt ca. 35 Kilogramm und Hängehefter sogar ca. 40 Kilogramm je Meter. Neu übernommenes Registraturgut wird zuerst in ein Eingangs- bzw. Zwischenarchiv gebracht. Zum einen müssen diese Materialien noch bewertet und kassiert werden, zum anderen können Schmutz, Nässe und Schimmelsporen das bereits sachgerecht gelagerte Archivgut verunreinigen. Im Eingangsarchiv wird grober Schmutz mit einem Spezialstaubsauger entfernt. Darüber hinaus ,entgräten‘ die Archivmitarbeiter das Material: Alle Gegenstände aus Metall (Heft- und Büroklammern, Heftzungen und -plättchen etc.) und Kunststoff (Folien, Hüllen etc.) werden entfernt. Anschließend wird das Schriftgut in Mappen umgebettet und in Archivkartons verpackt. Alle verwendeten Aufbewahrungsmaterialien sind säurefrei, besitzen keinen Holzschliffanteil und sind basisch gepuffert, um einen weiteren Papierzerfall zu verhindern. Pläne und Plakate werden ungefaltet in größeren Mappen (DIN A 1 – 3) oder in Kartenschränken gelagert. Fotos und Glasplatten werden in Pergaminhüllen aufbewahrt. Im Magazinraum werden Papier- und Pergamentarchivalien aus konservatorischen Gründen bei 18 (+/ – 2) Grad Celsius Raumtemperatur und 50 (+/ – 5) Prozent relativer Luftfeuchtigkeit gelagert. Diese klimatischen Bedingungen werden in der Regel von einem Thermohygrographen rund um die Uhr gemessen. In Ausnahmefällen ist es statthaft, die Temperatur geringfügig zu erhöhen, da ein zu warmes Klima das Material deutlich weniger gefährdet

5. Restaurierung und Bestandserhaltung

als ein feuchtes Klima. Ab einem Wert von ca. 60 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit haben Schimmelsporen günstige Wachstumsbedingungen. Andere Archivalien benötigen hiervon abweichende klimatische Bedingungen. Schwarz-Weiß-Filme beispielsweise werden bei 12 Grad Celsius und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 30 Prozent gelagert, Magnetbänder und CDs bei ca. 17 Grad Celsius und 20 bis 30 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit. In den Magazinräumen wird darüber hinaus die Einstrahlung von direktem Tageslicht vermieden, um das Ausbleichen des Materials zu verhindern.

5.2 Der Umgang mit Schadensbildern Bei jeder heutzutage durchgeführten Restaurierungsmaßnahme hat es oberste Priorität, das historische Gewand des Originals zu erhalten und möglichst wenige Veränderungen und minimale Eingriffe vorzunehmen. Diese Ansicht wurde aber in den vergangenen Jahrhunderten nicht von allen Archivaren vertreten. Als einzige bestandserhaltende Maßnahme hängte man – zum Schutz vor Mäusen – Urkunden und Amtsbücher in Säcke verpackt an Kordeln unter die Decke. Die Einsicht in den Wert von Archivalien als Kulturgut entwickelte sich erst später (vgl. Kapitel I). Aber auch noch im 20. Jahrhundert wurden zahlreiche Fehler im Umgang mit zu erhaltendem Material gemacht. Besonders einschneidend war die Entscheidung vieler Archive und Bibliotheken, in den 1970er Jahren ihr Archivgut in Folien einschweißen zu lassen. Die Chemikalien in der Folie führten aber nur wenige Jahre später zur Zersetzung des eingeschweißten Materials. Teilweise gelingt es den Archiven, den Prozess durch teure Restaurierungsmaßnahmen zu stoppen, teilweise ist jedoch die genaue chemische Zusammensetzung der Klebstoffe nicht mehr bekannt, und Gegenmaßnahmen können nicht ergriffen werden. Diese und andere Erfahrungen zeigen, wie wichtig es ist, dass heutzutage jede zu restaurierende Archivalie bzw. jeder Bestand begutachtet wird. Dabei erhält der Archivar vom Restaurator einen detaillierten Schadensbericht und einen Kostenvoranschlag. Nach jeder Restaurierungsmaßnahme dokumentiert der Restaurator sein Vorgehen in einem Abschlussbericht, wobei alle vorgenommenen Eingriffe möglichst reversibel sind. Papierarchivalien können die unterschiedlichsten Schäden aufweisen, vom Insekten- und Schädlingsbefall über Wasserschäden bis hin zum Tintenfraß. Generell ist zwischen Schadensbildern, die sich durch eine sachgerechte Lagerung nicht verschlimmern, und Schadensbildern, die das Material ständig weiter in Mitleidenschaft ziehen, zu unterscheiden. Bei den sogenannten autokatalytischen Prozessen muss unbedingt schnell gehandelt werden. Da die Restaurierung von Archivalien zumeist ein aufwändiges und kostspieliges Vorhaben ist, werden nicht sehr dringliche Schadensbilder an weniger wertvollen Beständen in der Regel aufgeschoben.

Fehlgeschlagene Restaurierungsmaßnahmen

Dringliche Schadensbilder

5.3 Gefriertrocknung Nur selten sind die Schadensbilder so umfassend und eindeutig wie bei (Natur-)Katastrophen, beispielsweise bei der Oderflut 1997 oder bei dem Großbrand in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar im Septem-

Umgang mit großen Konvoluten

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II. Leitfaden für die Praxis

Erster Schritt im Restaurierungsprozess

ber 2004. In Weimar sind allein 37 Gemälde und über 50.000 Bücher, vorwiegend aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, verbrannt; weitere 60.000 Bücher wurden schwer löschwasser- und brandgeschädigt. Durch die Einwirkung des Löschwassers bluteten die Farben und Tinten aus, die Bindungen und Einbände wurden geschädigt, und das Papier quoll auf. Eine schnelle Erstversorgung der Schäden war vonnöten, um die Gefahr eines Schimmelbefalls gering zu halten. Daher hat die Weimarer Stiftung Klassik das Zentrum für Bucherhaltung in Leipzig (ZFB) mit der Gefriertrocknung der geschädigten Bücher beauftragt. Das ZFB betreibt als Restaurierungseinrichtung neben Gefrierzellen auch eine hausinterne Gefriertrocknung und ist im Umgang mit großen Konvoluten erfahren. Das Ergebnis einer Gefriertrocknung hängt wesentlich von den vorbereitenden Maßnahmen ab. Generell sind die Materialien vorher zu reinigen; Bücher müssen vor der Gefriertrocknung in Buchblockform gebracht werden. Bei der echten Gefriertrocknung wird mit Temperaturen unterhalb des Triplepunktes von Wasser (0 Grad) und unterhalb von 6 mbar Druck gearbeitet. Das Wasser überspringt den flüssigen Aggregatzustand (Sublimation) und kann gasförmig – ohne aufzutauen – schonend entfernt werden. Die Gefriertrocknung verhindert weitere Schädigungen wie Verformungen und die Migration von Farben und Tinten, aber schon vorhandene Schäden können nicht rückgängig gemacht werden. Daher ist die Gefriertrocknung oftmals nur der erste Schritt in einem Restaurierungsprozess.

5.4 Schimmelbefall Schutz gegen allergische Reaktionen

Abtötung der Schimmelsporen

Bereits verschimmelte Materialien stellen sowohl für die übrigen Bestände als auch für den Archivar selbst eine Gefahr dar. Schimmelsporen werden leicht mechanisch, z. B. durch Luftbewegungen, übertragen und können große gesundheitliche Schäden von allergischen Hautreaktionen bis hin zu Asthma und anderen Atemwegserkrankungen hervorrufen. Daher trifft der Archivar bei der Bewertung von noch nicht gereinigtem und eventuell verschimmeltem Material Schutzvorkehrungen: Er trägt dann eine Atemschutzmaske, Handschuhe und einen Einweg-Overall inklusive Kopf- und Haarschutz. Auch unter einer Reinraumwerkbank, einer Spezialbank mit eigenem Abzug, kann er das kontaminierte Material gefahrlos sichten und dann kassieren oder gegebenenfalls behandeln lassen. Für Benutzer sind verschimmelte Bestände aus gesundheitlichen Gründen generell gesperrt. Sollten sich auf Archivalien, die der Benutzer vorgelegt bekommt, dennoch Schimmel oder Bakterien befinden, ist umgehend die Aufsicht zu informieren. Inaktive Schimmelsporen können nämlich jeder Zeit, begünstigt durch warmes und feuchtes Klima, ausbrechen, also beispielsweise auch dann, wenn die Archivalien vom klimatisierten Magazinraum häufig und für längere Zeit in den nicht klimatisierten Benutzerraum gebracht werden. Schimmelbefall gehört zu den Schadensbildern, die unverzüglich behandelt werden müssen. Zunächst wird der befallene Bestand von den übrigen Beständen räumlich getrennt. Neben der Einzelblattbehandlung sind auch hier Massenverfahren entwickelt worden. Handelt es sich um einen starken Schimmelbefall eines großen Bestandes, wird der Bestand beispielsweise mit niedrig dosierten Gamma-Strahlen, die für Archivmitarbeiter und Benut-

5. Restaurierung und Bestandserhaltung

zer ungefährlich sind, bestrahlt. Nach dieser effizienten Abtötung der Sporen (Myelen) wird anschließend eine Trockenreinigung durchgeführt, um keinen Nährboden für eine erneute Besiedelung zu bieten. Die Trockenreinigung, oftmals eine Einzelblattreinigung, ist ein sehr aufwändiges Verfahren, das nur unter strengen Schutzmaßnahmen durchgeführt wird. Sind Archivalien durch Schimmelbefall bereits in ihrer Substanz geschädigt, müssen sie weitergehend restauriert werden, beispielsweise durch Papierspaltung oder Papierergänzung.

5.5 Tintenfraß Umgehender Restaurierungsbedarf besteht bei den bereits erwähnten Brand-, Wasser- und Schimmelschäden, aber auch bei Tintenfraß. Dieses Schadensbild ist häufig bei Beständen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit, aber auch noch bis ins 19. Jahrhundert hinein zu beobachten. Bei Tintenfraß handelt es sich um eine endogene Schädigung. Die in der Tinte enthaltene Eisengallustine und andere saure Bestandteile zersetzen das Material. Dieser fortschreitende Prozess führt dazu, dass die Buchstaben aus den Seiten herausfallen und sich auflösen. Solche Schäden werden von Restauratoren, die über den Zustand der Archivalie einen Bericht anfertigen, begutachtet. Verfügt das Archiv nicht über eine eigene Restaurierungswerkstatt, was nur selten der Fall ist, werden die Archivalien an eine externe Stelle weitergegeben. Bei der Auswahl der geeigneten Restaurierungswerkstatt sind Archive der öffentlichen Hand nicht verpflichtet, den günstigsten Anbieter zu nehmen. Die sachgerechte Erhaltung des Kulturgutes durch erfahrene und spezialisierte Experten steht in diesem Fall im Vordergrund. Oftmals muss jedes Blatt – wie auch bei Tintenfraß – einzeln von einem Meister bearbeitet werden. Die Sicherheitsstandards in den Restaurierungswerkstätten (klimatisierte Magazinräume, Alarmanlage etc.) sind daher sehr hoch. Schließlich kann es mehrere Monate und manchmal auch Jahre dauern, bis eine Archivalieneinheit mit mehreren hundert Blatt restauriert worden ist. In dieser Zeit stehen die Archivalien den Benutzern nicht zur Verfügung. Bei der Restaurierung werden sehr alte Techniken, die von Generation zu Generation weitergegeben worden sind, angewandt. Der Einsatz von chemikalischen Hilfsmitteln, z. B. von Bleichmitteln, wird vermieden und, falls doch nötig, stets gering gehalten. Statt dessen verwenden Restauratoren natürliche und chemisch neutrale Stoffe. Bei Tintenfraß werden Löcher oftmals mit Weizenkleie und Japanpapier geschlossen; größere Substanzverluste werden mit Hilfe von Anfaserungstechniken ersetzt. Weitere Stabilisierungsmöglichkeiten sind die Papierspaltung und der Einzug eines hauchdünnen Blattes Spezialpapier.

5.6 Massenentsäuerung Moderne Papiere stellen Archivare und Bibliothekare vor neue Probleme der Bestandserhaltung, da sie z. B. bedingt durch einen hohen Ligningehalt sehr schnell altern. Die Rohstoffe moderner Papiere sind andere als die Rohstoffe zu der Zeit, als im 15. und 16. Jahrhundert die ersten großen Papiermühlen Europas entstehen und Papier hauptsächlich von Goldschmieden

Zersetzung des Papiers durch Eisengallustine

Geringer Einsatz von Chemikalien

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II. Leitfaden für die Praxis

Nachteile der industriellen Papierherstellung

Methoden zur Papierentsäuerung

Papierzerfall als Massenphänomen

und Apotheken vertrieben wird, weil es so wertvoll ist. Ein Hadernpapier aus jener Zeit kann problemlos Jahrhunderte überdauern, da seine Rohstoffe aus überwiegend nicht verholzten Pflanzenteilen gewonnen wurden und man langfaseriges Material mit natürlichen und chemisch neutralen Leimstoffen kombiniert hat. Mitte des 19. Jahrhunderts führte man jedoch ein neues, kostengünstiges Verfahren zur industriellen Papierherstellung ein: Billiger Holzschliff und saurer Leim werden unter den Faserbrei aus Lumpen o. ä. gemischt. Die Folge dieses Verfahrens ist, dass saure Inhaltsstoffe die Zellulose im Papier abbauen, was zu einer raschen Verfärbung des Papiers und einem frühen Zerfall zumeist innerhalb weniger Jahrzehnte führt. Besonders augenfällig ist dieser Prozess bei vergilbten Zeitungs- und Zeitschriftenbänden. Bereits beim Aufschlagen der ersten Seite bricht hier oftmals das spröde Papier. Der Papierzerfall durch Säuren ist ein endogener, autokatalytischer Prozess. Je früher er gestoppt wird, desto geringer fallen die Schäden am Material aus und desto geringer sind die Kosten der Bestandserhaltung. Zur Papierentsäuerung sind verschiedene Verfahren entwickelt worden. Anhand verschiedener Kriterien, z. B. Einbandart und Gewicht, entscheidet man, ob die Bücher oder Archivalien in einem Trockenverfahren oder in einem Flüssigverfahren, beispielsweise nach der Papersave-Methode, entsäuert werden. Das im Zentrum für Bucherhaltung in Leipzig (ZFB) angewandte Papersave-Verfahren besteht aus drei Behandlungsschritten. Zuerst wird das Schriftgut vorgetrocknet, um den natürlichen Wassergehalt des Papiers von ca. 6 Prozent auf unter 1 Prozent abzusenken. In einem zweiten Schritt werden die Bücher in einer alkalischen, nicht-wässrigen Behandlungslösung getränkt. Dabei wird die Behandlungskammer mit dem Schriftgut vollständig geflutet. Eine Behandlung dauert ca. zwei bis drei Tage. Hieran schließt sich eine Rekonditionierungsphase von drei bis vier Wochen an. In dieser Zeit nimmt das Material seinen natürlichen Feuchtigkeitsgehalt wieder auf. Nach der Entsäuerung liegt der pH-Wert von Papier im alkalischen Bereich zwischen acht und neun. Durch den überschüssigen Rest an Magnesiumkarbonat, der sogenannten alkalischen Reserve, ist das Papier gegenüber späteren Umwelteinflüssen und Säuren für lange Zeit geschützt. Die Lebensdauer von entsäuertem Papier verlängert sich um den Faktor vier bis fünf. Beim Papierzerfall handelt es sich um ein Massenphänomen in Archiven wie in Bibliotheken. Die Bayrische Staatsbibliothek beispielsweise besitzt derzeit rund 7,5 Millionen Bände. Stichprobenartige Erhebungen haben ergeben, dass 3,4 Millionen Bände vom Papierzerfall bedroht oder bereits geschädigt sind; ungefähr die Hälfte ist mehr oder minder stark vergilbt, kann jedoch noch im Original erhalten werden. Die andere Hälfte ist bereits so brüchig, dass sie nicht mehr benutzbar ist und der Informationsgehalt nur noch durch ein Ersatzmedium (Papierkopie, Mikrofilm oder Mikrofiche) gerettet werden kann.

5. Restaurierung und Bestandserhaltung

5.7 Mikroverfilmung und Digitalisierung Der Begriff „Erhaltung“ umfasst nicht nur die manuelle Restaurierung, sondern auch konservatorische und präventive Maßnahmen wie die Herstellung von Schutz- oder Ersatzmedien. Die „Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten“ (1954) sieht zum einen eine Respektierungspflicht vor, d. h. Kulturgüter dürfen in Kriegszeiten nicht geplündert, zerstört oder beschlagnahmt werden, zum anderen beinhaltet die Konvention eine Sicherungspflicht, d. h. es sollen bereits in Friedenszeiten Schutzmaßnahmen durchgeführt werden. Zu den Schutzmaßnahmen zählt auch die Mikroverfilmung von Archivalien und anderen Kulturgütern, mit der ab 1961 in der Bundesrepublik Deutschland begonnen wurde. Die Sicherheitsfilme werden im zentralen Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland, dem Barbarastollen in Oberried bei Freiburg im Breisgau, eingelagert. In diesem ehemaligen Silberstollen werden insgesamt ca. 600 Millionen Aufnahmen in 1.400 Edelstahlzylindern aufbewahrt. Rund 8.200 Meter Mikrofilm wurden zusätzlich nach dem Ende der DDR übernommen. Viele Archive und Bibliotheken ziehen aus diesen umfangreichen Sicherheitsverfilmungen einen praktischen Nutzen: Zumeist erhalten sie Kopien, die den Benutzern zur Verfügung gestellt werden können. Selbstverständlich geben Archive auch selbst die Herstellung von Ersatzmedien in Auftrag. Sind Archivalien bereits stark geschädigt oder werden häufig benutzt, lässt man Mikrofilme oder -fiches anfertigen. Eine Digitalisierung, also das Einscannen der Archivalien, kommt wegen der deutlich höheren Kosten und der noch ungelösten Frage der Langzeitarchivierung seltener in Frage. Bei der Verfilmung indes lässt sich das Archiv die Option einer späteren Digitalisierung noch offen. Bei den Benutzern ist die anstrengende Sichtung von Mikrofilmen und -fiches allerdings nicht sehr beliebt. An den Lesegeräten bleibt zwar der Informationsgehalt der Archivalien erhalten, aber ihr ästhetischer Reiz geht bei dieser Schwarz-Weiß-Darstellung verloren. Für Archivare ist es jedoch ein wichtiges Anliegen, die Akzeptanz von Mikroverfilmungen zu erhöhen, um den Schutz des Kulturgutes zu gewährleisten und die Originale nicht durch häufige Benutzung zu schädigen.

Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut

Mikroverfilmung oder Digitalisierung?

Schutz der Originale

5.8 Archivalien in Ausstellungen Archivalien sind, insbesondere wenn es sich um wertvolle und ästhetisch ansprechende Unikate handelt, beliebte Exponate für Ausstellungen. Die klimatischen Parameter (18 Grad Celsius Raumtemperatur, 50 Prozent relative Luftfeuchtigkeit für Papier- und Pergamentarchivalien) sind auch bei Ausstellungen durchgehend ,von Nagel zu Nagel‘, also von der leihgebenden Institution bis zur leihnehmenden Institution, zu gewährleisten. Dem Leihnehmer obliegt es, für einen sachgerechten Transport, beispielsweise durch eine Spedition, zu sorgen. Am Ausstellungsort ist zu bedenken, dass einfallendes Licht in den Vitrinen gebrochen und reflektiert wird, was zu einer deutlichen Erwärmung führt. Daher kann es in Vitrinen ohne Schutzvorkehrungen wie Entspiegelung, Lichtumlenkung und UV-Filter sogar bis

Versicherung „von Nagel zu Nagel“

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II. Leitfaden für die Praxis

zu 10 Grad Celsius wärmer sein als außerhalb der Vitrinen. Bei besonders wertvollen Archivalien wie mittelalterlichen Urkunden reichen einfache Schutzvorkehrungen nicht aus. Sie müssen in speziellen Klimabehältern transportiert und in Klimavitrinen gezeigt werden. Besonders schädlich für Archivalien ist auch der Einfall von Tageslicht, das zum Verblassen des Materials führt. Daher werden Exponate in Ausstellungen nur durch indirektes, schwaches Licht angestrahlt. Im Idealfall handelt es sich hierbei um Kaltlicht mit einem UV-Filter. Nach einer Faustregel dürfen Archivalien über einen Zeitraum von sechs Wochen ca. 50 Lux ausgesetzt sein. D. h., bei einer Ausstellungsdauer von drei Wochen wären notfalls auch 100 Lux vertretbar. In jedem Fall ist vor einer Ausstellung mit dem Archiv abzustimmen, welche klimatischen Bedingungen und welche Lichtverhältnisse bei einer Ausleihe des jeweiligen Exponats benötigt werden. Sind die Ausstellungsbedingungen für die Archivalie sehr ungünstig, ist die Anfertigung eines Faksimiles eine gute Alternative. Zahlreiche Museen, die gleichzeitig ein Archiv unterhalten, haben lange Zeit Originale in ihren Dauerausstellungen gezeigt. Diese gängige Praxis hat zur Zerstörung vieler Unikate geführt, so dass die meisten Museen mit Dauerausstellungen heute nur noch mit originalgetreuen Nachbildungen arbeiten oder die Exponate in regelmäßigen Abständen austauschen.

III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften 1. Wozu Archivarbeit? Dass Historikerinnen und Historiker Archive aufsuchen müssen, um – jedenfalls für eine Vielzahl von Fragestellungen – überhaupt eine geeignete Quellenbasis für ihre Arbeit zu finden, bedarf eigentlich keiner näheren Begründung. Doch im Lichte neuerer Theoriedebatten glaubt mancher, dass diese Feststellung einem antiquierten Positivismus verpflichtet sei, der direkt auf das Ranke’sche Diktum von dem Interesse daran, „wie es eigentlich gewesen“ sei, verweise. In der Tat würde es sich um eine im schädlichen Sinne positivistische Einstellung gegenüber den historischen Quellen handeln, wenn man bei ihrer Analyse im naiven Glauben leben würde, es handele sich um Zeugnisse, aus denen man das tatsächliche Geschehen der Vergangenheit sowie die Einstellungen und Absichten der Akteure unmittelbar und objektivierbar ablesen könne. Jedoch ist dies ein Problem des Umgangs mit den Quellen, eines der verwandten Methoden, der angelegten Fragestellungen und der ausgiebigen Quellenkritik, das an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden kann und einer eigenen Einführung in das historische Arbeiten vorbehalten sei. Es ist aber kein Problem der Quelle als solcher. Selbst wenn man ihr skeptisch gegenübertritt und weiss, dass man mit ihrer Hilfe immer nur Bruchstücke einer Vergangenheit beleuchten kann und dass diese Beleuchtung immer abhängig ist vom Standpunkt des Betrachters, so bleibt doch die Quelle immer der unverzichtbare Ausgangspunkt jeder historischen Forschung. Denn alle Theorien und jedes Paradigma müssen den Test anhand der überlieferten Quellen bestehen. Vorstellungen über die Vergangenheit können nur dann sinnvoll formuliert werden, wenn im Bewusstsein aller quellenkritischen und methodischen Schwierigkeiten wenigstens der Versuch gewagt wird, die Zeugen dieser Vergangenheit zu befragen. Obwohl daher traditionell und auch in Zukunft Historiker die in jedem Fall in qualitativer Hinsicht wichtigste Benutzerklientel der meisten Archive stellen, geht doch vielerorts die intensive Benutzung gerade durch diese Gruppe zurück. Das hängt zum einen mit den Rahmenbedingungen der Forschung zusammen, die es heute für viele angehende Wissenschaftler nicht attraktiv machen, sich in Jahren der Kärrnerarbeit einem intensiven Quellenstudium hinzugeben, um am Ende ein zwar wichtiges Werk der Grundlagenforschung oder eine bedeutende Edition vorzulegen, aber auf dem Weg dahin viele Chancen zu versäumen, sich im kurzlebig werdenden Wissenschaftsbetrieb rechtzeitig so zu positionieren, dass eine adäquate berufliche Stellung erreicht werden kann. Doch nicht nur die Faktoren Zeit, Kosten und Undank des Wissenschaftsbetriebes schrecken manchen vor unbestreitbar aufwändigen und zeitinten-

Archivalien als Basis historischer Forschung

Gegenläufige Tendenzen

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Editionen

Unbearbeitete Quellen aus dem Mittelalter

siven Archivrecherchen ab. Auch der Wandel der Geschichtswissenschaft selbst und ihre Öffnung für kulturwissenschaftliche Methoden lässt die Archivalien in den Hintergrund treten zu Gunsten vieler neuer Quellengruppen, die in jüngerer Zeit intensiv erschlossen und ausgelotet werden und die in Bibliotheken oder Museen zu finden sind. Insofern wird jemand, der beispielsweise Debatten im öffentlichen Raum an Hand von Leserbriefen in Tageszeitungen verfolgen will, nicht auf einen Archivbesuch angewiesen sein. Allerdings sei die Prognose gestattet, dass es irgendwann notwendig sein wird, in die Archive zurückzukehren, da zwar vieles, aber doch längst nicht alles mit nicht archivischen Quellen erforscht werden kann. Der Archivbesuch und die dazu notwendigen Kompetenzen bleiben für Historiker wesentliche Grundlagen ihres Tuns. Dieser Feststellung begegnet manches Vorurteil mit dem Verweis auf Editionen sowie neuerdings digitalisierten und im Internet verfügbaren Archivalien. Beides ermöglicht die Arbeit mit Quellen, ohne Einsicht in das Original zu nehmen, wenn es gut umgesetzt wurde. Wenigstens für das Frühund Hochmittelalter existieren Editionen in großer Dichte, da aus diesen Zeiten der Gesamtbestand der überlieferten Quellen relativ gering ist und daher in kürzerer Zeit ein deutlich größerer Anteil von ihnen ediert werden konnte, als dies für moderne Massenakten jemals der Fall sein könnte. Gleichzeitig profitieren wir heute von dem Fleiß und der Ausdauer zahlreicher Generationen von Editoren, die schon im 19. Jahrhundert z. B. im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica (MGH) mit einem umfassenden Editionsprogramm begonnen haben. Daher gibt es das Vorurteil, die mittelalterlichen Quellen seien so gut wie alle schon längst bekannt und intensiv bearbeitet worden, weshalb sich niemand mehr der Mühe eines Archivbesuchs unterziehen müsse. Jedoch sind Editionen zeitgebunden. Abgesehen davon, dass sich Methoden verändern und man nicht ohne Prüfung davon ausgehen kann, dass die Lesart immer genauso wiedergegeben wurde, wie es ein heutiger Editor tun würde, konnte auch der Anspruch von auf Jahrzehnte angelegten Projekten niemals auf eine absolute Vollständigkeit abzielen. Editionen bieten daher letztlich immer nur eine Auswahl, die im 19. Jahrhundert mit seinem Interesse an Haupt- und Staatsaktionen und bedeutenden Persönlichkeiten auf ganz andere Forschungsrichtungen zugeschnitten war als die, die heute Bedarf an Quellen anmelden. So ist nichts falscher als die Vorstellung, alle mittelalterlichen Quellen seien schon erforscht worden. Je weiter man sich auf das Spätmittelalter zubewegt und je mehr Urkunden und andere Schriftstücke unterhalb der Ebene der Haupt- und Staatsaktionen überliefert sind, desto weniger ist dies der Fall. In großen Archiven lagern nach wie vor bedeutende, teilweise mehrere 1.000 Stück umfassende Urkundenbestände, die noch nicht einmal grob erschlossen wurden. Gleichzeitig tauchen immer neue Stücke sogar aus dem Frühmittelalter auf. Ein besonders ergiebiges Feld für solche Neufunde bieten allerdings die Bibliotheken, die bei der Restaurierung von Drucken aus dem 15. und 16. Jahrhundert immer wieder mehr oder weniger große Stücke von Urkunden und Handschriften finden, die in die Buchdeckel als Verstärkungen eingearbeitet wurden.

1. Wozu Archivarbeit?

Was für das Mittelalter gilt, wird mit dem Aktenzeitalter und erst recht im Zeitalter der Massenakten des 19. und v.a. 20. Jahrhunderts zu einem echten Problem, das den Wert von Editionen grundsätzlich einschränkt: Mit der steigenden Gesamtmenge überlieferten Schriftguts deckt die einzelne edierte oder heutzutage digitalisierte Seite einen immer geringeren Anteil an der Gesamtheit ab. Überdies führte der Wandel vom Urkunden- zum Aktenzeitalter an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit zu einem Verlust an Autarkie des einzelnen Schriftstücks. Zweck einer Urkunde war der Beweis eines Sachverhalts oder Tatbestands aus sich selbst heraus, ohne andere Schriftstücke berücksichtigen zu müssen. Aktenschriftstücke sind aber vielfach nur im Kontext ihrer Entstehung verständlich. Zu einem Schreiben einer Behörde wird die interne Stellungnahme benötigt, die zu seiner Entstehung geführt hat, zu einem Memorandum eine Statistik, auf die sich der Verfasser gestützt hat, zu einem Brief in einem Politikernachlass das Antwortschreiben, zu einem Antrag der Bescheid usw. Es ist gerade die Stärke von Archiven und des von ihnen angewandten Provenienzprinzips, dass nicht nur das einzelne Schriftstück selbst verwahrt wird, sondern dass es im Kontext und im Zusammenhang mit den Schriftstücken archiviert wird, die zu seinem Verständnis unabdingbar sind, und dass dieser Kontext auch bei der Erschließung berücksichtigt wird. Editionen können aufgrund der schieren Masse des verfügbaren Quellen zunehmend nur noch Auswahleditionen sein, wobei durch die Auswahl fast notgedrungen der Kontext verloren geht, wenn nicht der nur im Einzelfall zu leistende Aufwand einer totalen Edition eines ganzen Bestandes betrieben wird. Die großen Editionsprojekte neuzeitlicher Quellen, angefangen von der Edition der frühneuzeitlichen Reichstagsakten oder den Acta Borussica bis hin zu denen der Kabinettsprotokolle der Bundesregierung oder der Landesregierungen, sind zwar nach wie vor verdienstvolle und aus der Forschungslandschaft kaum wegzudenkende Leistungen, aber sie können als Auswahleditionen aus einem viel reicheren Quellenbestand nur für eine begrenzte Zahl von Fragestellungen eine ausreichende Quellenbasis bieten. Für viele andere haben sie eher die Funktion von Wegweisern und Lotsen, die auf weitere, noch in den Archiven zu findende Bestände hinweisen. Demonstriert sei dies anhand der Edition der Kabinettsprotokolle der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die seit 1992 in bisher fünf Bänden vorgelegt wurde (Die Kabinettsprotokolle der Landesregierung NordrheinWestfalen. 5 Bde. Siegburg 1992 – 2002). Hier werden nur die Protokolle selbst, in der Regel aber nicht die Kabinettsvorlagen präsentiert, die in den Sitzungen diskutiert wurden. Da aber Beschlüsse des Kabinetts oft einen Verweis auf die Vorlage enthalten und ohne diese im einzelnen nicht wirklich verständlich sind, bleibt es für Historiker unabdingbar, in diesem Fall im Landesarchiv NRW, Abteilung Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, die entsprechenden Akten einzusehen, um sich ein Bild über die Politik der Landesregierung machen zu können. Dabei kann er sich auf die Edition der Kabinettsprotokolle stützen, die ihm zeigt, wann und unter Beteiligung welcher Ministerien über eine Sache beratschlagt wurde. Historiker müssen also nach wie vor dazu in der Lage sein, Quellen in Archiven aufzuspüren sowie sie dort zu lesen und zu verstehen, um die ganze Bandbreite ihres Faches abdecken und als vollwertige Wissenschaft-

Massenproblem bei zeitgeschichtlichen Quellen

Erwerb archivischer Kompetenzen

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Praktische Beispiele zur Archivrecherche

Pragmatische Suche

ler gelten zu können. Der Erwerb entsprechender Kompetenz auch im Rahmen der vielfach eher unbeliebten hilfswissenschaftlichen Übungen sollte nach wie vor zu Kernbestand der Wissenschaftspropädeutik gehören. Doch sind Studierende hier auch auf Eigeninitiative angewiesen, denn Kompetenzen dieser Art gewinnt man mehr durch Erfahrung als durch bloßes Lernen. Insofern ist der frühzeitige Gang in ein Archiv zu den Quellen jedem Studierenden zu empfehlen, um sich in deren Auswertung zu üben, bevor Examensarbeit und Dissertation dies unter Zeit- und Erfolgsdruck erzwingen. Die reichhaltige deutsche Archivlandschaft bietet dazu zahlreiche Möglichkeiten, von denen die einfachste der Gang in das Archiv jeweils der eigenen Universität ist. Im Folgenden soll anhand weniger Beispiele demonstriert werden, wie eine Orientierung in der deutschen Archivlandschaft in der Praxis, bei der Suche nach Quellen zu einer bestimmten Fragestellung aussehen kann, wobei verschiedene Epochen zu berücksichtigen sind. Es versteht sich von selbst, dass dabei nicht sämtliche Sonderfälle, Forschungsrichtungen und Archivtypen berücksichtigt werden können. Ebenso, dass im Einzelfall nicht der hohe Aufwand betrieben werden kann und muss, alle Archivalien bundesweit aufzuspüren. Hier geht es daher darum zu zeigen, mit welchen Überlegungen und nach welchen Grundsätzen die Quellensuche bis zur Ebene des einschlägigen Archivs sowie des einschlägigen Bestandes durchgeführt werden sollte, wobei eines natürlich nicht behandelt werden kann: der Schlagzeilen machende Zufallsfund einer sensationellen Quelle in unvermutetem Zusammenhang. Die aufgezeigten Recherchewege lassen sich in der Regel leicht über Beständeübersichten und Datenbanken im Internet nachvollziehen. Die einzelnen Archive lassen sich dabei meist über die Linkliste der Archivschule ansteuern (http://www.archivschule.de – Archive im Internet). Bei den Beispielen für Recherchen nach Archivgut wird – wie es der Regelfall ist – von einer Fragestellung ausgegangen, auf die die Überlegung folgt, welche deutschen Archive dazu Unterlagen verwahren könnten. Dieses Vorgehen kann dazu führen, dass weite Reisen durch die ganze Republik mit einem hohen Zeit- und Kostenaufwand zu absolvieren sind, um die Fragestellung zu bearbeiten. Es sei jedoch noch auf einen pragmatischen Weg der Archivbenutzung verwiesen, der diesen Aufwand reduziert und gerade denen zu empfehlen ist, die erste Erfahrungen bei der wissenschaftlichen Bearbeitung von Archivgut sammeln wollen. Denn es ist auch möglich, nicht von einer Fragestellung, sondern von einem oder mehreren Archiven in der unmittelbaren Nachbarschaft auszugehen, sich die jeweiligen Beständeübersichten und vielleicht schon einige Findbücher anzuschauen und dann eine Fragestellung so zu formulieren, dass sie mit dem Archivgut vor Ort zu bearbeiten ist. Das reduziert den Aufwand, ohne die Thematik zu sehr einzugrenzen. Denn schon in den flächendeckend vorhandenen Archivtypen der öffentlichen Archive finden sich zu zahlreichen Arbeitsgebieten, Disziplinen und Subdisziplinen und Vorlieben nicht wenige Bestände, die noch nie wissenschaftlich ausgewertet wurden.

2. Mittelalter: Deutscher Orden

2. Mittelalter: Deutscher Orden Das Mittelalter war bekanntlich eine Zeit der reduzierten Schriftlichkeit. Zu vielen möglichen historischen oder kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, die theoretisch von größtem Interesse wären, sind daher nie Quellen entstanden. Wo es sie jedoch gab, sind viele in den wenigstens 500, leicht aber auch 1.000 oder mehr Jahren seit ihrer Entstehung durch Katastrophen, Kriege, Vernachlässigung, bewusste Vernichtung oder Zufälle verloren gegangen. Andere sind durch die Wechselfälle einer vielhundertjährigen Geschichte zwar noch vorhanden, befinden sich aber schon lange nicht mehr an dem Ort, an dem sie nach der Struktur der heutigen Archivlandschaft verwahrt werden müssten. Dies sei vorausgeschickt, um die simple Tatsache ins Bewusstsein zu rufen, dass die Erforschung des Mittelalters – wenn sie denn auf der Grundlage der Originale und nicht aus den zahlreichen Editionen durchgeführt werden soll – viel mehr, als es bei späteren Epochen der Fall ist, von Zufällen und bisweilen von einer ausdauernden Recherche abhängig ist. Die überlieferten Quellen des auch als Urkundenzeitalter bezeichneten Mittelalters stellen darüber hinaus vielfach größere Anforderungen an die meist lateinischen Sprachfähigkeiten, die hilfswissenschaftlichen Vorkenntnisse und die methodische Schulung derer, die sie auswerten wollen. Die konkrete Fragestellung, für die hier exemplarisch Recherchewege aufgezeigt werden sollen, zielt auf die Geschichte des Deutschen Ordens im Mittelrheingebiet. Es geht um die Frage, wie sich der Orden im dortigen politischen Umfeld bis zur Reformation behauptete und selbst positionierte. Wie bei vielen mediävistischen Fragestellungen sind hier zunächst Urkunden zu suchen, die hierüber Aufschluss geben können, da die Gewinnung oder der Verlust von Privilegien, Rechten, Liegenschaften usw. Rückschlüsse auf die politischen Verhältnisse ermöglichen. Man kann Urkunden zunächst an zwei Stellen vermuten: Beim Aussteller und beim Empfänger. Letzterer erhielt eine Ausfertigung, die er später wem auch immer als Beweismittel vorlegen konnte, während Aussteller im Verlaufe der Zeit dazu übergingen, in Registern oder Kopiaren wenigstens den wesentlichen Inhalt der ausgegebenen Urkunden niederzulegen. Beim Empfänger wiederum konnten ebenfalls Kopien erstellt werden, doch ist das eine Frage der Quellenkunde, die hier nicht von Belang ist. Auch wird hier nicht geprüft, ob es zu den Archivalien bereits Editionen gibt, die den Archivbesuch überflüssig machen könnten, da dies eine Frage der Literaturrecherche ist. Es ist in jedem Fall sinnvoll, die Recherche nach der Urkundenüberlieferung, die den Deutschen Orden betrifft, bei dem Empfänger beginnen zu lassen, hier also beim Deutschen Orden. Dieser existiert zwar noch immer, blickt jedoch nicht auf eine bruchlose Vergangenheit seit dem Mittelalter zurück und ist längst keine politische Größe mehr, sondern ein rein geistlicher Orden, der im 19. Jahrhundert seinen Schwerpunkt nach Österreich verlegen musste. Dort, in Wien, unterhält er auch sein Zentralarchiv (DOZA, zu erreichen über http://www.deutscher-orden.de/), in das große Teile der mittelalterlichen Urkundenüberlieferung des Ordens gelangt sind. Eine Anfrage dort ist also lohnend. Der Weg zum DOZA führt über die Aus-

Quellenarmut und Quellenverluste

Beispiel: Deutscher Orden

Urkundenüberlieferung

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Auswirkungen der Säkularisation

Aktenüberlieferung

gangsfrage, ob denn das Kloster oder der Orden, um den es geht, noch immer existiert, und ob es oder er ein eigenes Archiv unterhält. Das lässt sich heute meist über die Homepages leicht ermitteln. In Deutschland kann man überdies das zentrale Portal der Arbeitsgemeinschaft der Ordensarchive als Sucheinstieg wählen (http://www.ordensarchive.de). Die Suche ist an dieser Stelle jedoch noch nicht beendet. Die wechselvolle Geschichte des Deutschen Ordens hat dazu geführt, dass große Teile seiner Archivalien dort verblieben sind, wo sich seine Niederlassungen und Besitzungen befanden. Mit der Säkularisation fielen diese Quellen an die Staaten, die auch den sonstigen Besitz übernahmen und die sie den sich nach und nach herausbildenden Staatsarchiven übergaben. Archivalien des Deutschen Ordens finden sich daher auch in verschiedenen deutschen Staatsarchiven. Die Mittelrheinregion ist nach 1815 an den preußischen Staat gefallen, der hier die Rheinprovinz bildete. Innerhalb dieser entstanden am Mittelrhein die Regierungsbezirke Koblenz und Trier, für die nach dem Provenienzprinzip das heutige Landeshauptarchiv Koblenz die Zuständigkeit besaß. Daher steht zu vermuten, dass sich dort eine regionale und lokale Überlieferung des Deutschen Ordens befindet. Die Beständeübersicht (http://archivdatenbank.lha-rlp.de/) weist auf der obersten Ebene eine Gliederung nach zeitlichen Schnitten auf, wobei die Gruppe A die hier interessierende Zeit des Alten Reiches umfasst. Innerhalb dieser Gruppe findet sich dann eine Zweiteilung in A.01 „Reichs- und Kreisstände, Ritterschaft, Adel, Ritterorden, Reichsbehörden“ und in A.02 „Klöster und Stifte“. Der Deutsche Orden ist unter der Rubrik Ritterorden in A.01 zu suchen. Das nicht nur, weil dort schon in der Überschrift die Ritterorden auftauchen, sondern auch sachlich unter dem Aspekt, dass dort „Reichs- und Kreisstände“ aufgenommen wurden. Der Deutsche Orden war bis zum Ende des Alten Reichs ein Reichsstand und gehört damit in diese Gruppe. Hier sind Kenntnisse der Verfassungsgeschichte unabdingbar, um zu zuverlässigen Rechercheergebnissen zu kommen. Die Unterlagen des Deutschen Ordens wurden im Landeshauptarchiv Koblenz im Bestand 55 A zusammengefasst, der ursprünglich die vier Teilbestände 55 A 1 – 4 enthielt. Diese wiederum enthalten die Überlieferung des Deutschmeisters und der Regierung zu Mergentheim (55 A 1), also zentrale Quellen zur Geschichte des Ordens in Deutschland, sowie der Balleien, d. h. Verwaltungseinheiten, Koblenz und Lothringen (55 A 2 u. 4). Der Bestand 55 A 3 enthielt die Archivalien der Ballei Hessen und wurde 1933 an das Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden abgegeben, wo er nun die Bestandsnummer 89 trägt (http://www.hauptstaatsarchiv.hessen.de/). Solche Archivalienverschiebungen sind zu berücksichtigen, wenn in älterer Literatur der frühere Standort mit der früheren Signatur zitiert wird. Der Bestand 55 A 1 umfasst 6 lfm Akten, wobei die Beständeübersicht den Beginn seiner Laufzeit mit um 1221 angibt. Da Akten jedoch eine neuere Erscheinung sind und bis ins Spätmittelalter die Urkunden die Überlieferung dominieren, steht zunächst zu vermuten, dass man hier eher für diese späteren Zeiten fündig werden kann. Näheres kann nur eine Anfrage beim Archiv selbst klären, oder – da das Findbuch mit den Einzelnachweisen zu diesem Bestand zufällig schon in einer Online-Version verfügbar ist – eine selbständige Recherche im Internet. Dabei stößt man in jüngeren Akten auf

2. Mittelalter: Deutscher Orden

eine ältere Überlieferung in Abschriften oder Originalen, die in ähnlicher Weise in vielen Kontexten anzutreffen ist und die es auch für Mediävisten ratsam erscheinen lässt, in frühneuzeitliche Akten Einsicht zu nehmen. Denn im Zuge von Rechtsstreitigkeiten wurden noch im 18. Jahrhundert Urkunden aus dem Mittelalter im Original oder als Abschrift in neu gebildete Akten zu dem jeweiligen Rechtsstreit aufgenommen. 55 A 1 enthält eine eher zentrale Überlieferung des Deutschen Ordens, die der Regierung zu Mergentheim. Geht es jedoch um die eher lokalen Verhältnisse, so sind die Unterlagen aus den einzelnen Balleien zu berücksichtigen. Der Bestand 55 A 2 (Ballei Koblenz) enthält beispielsweise 269 Urkunden vom 13. bis zum frühen 19. Jahrhundert sowie 149 Akten aus dem gleichen Zeitraum, die u. a. die wirtschaftlichen Verhältnisse beleuchten. Den Deutschen Orden am Mittelrhein zu studieren, bedeutet auch, seine Nachbarn, Partner und Gegner in den Blick zu nehmen. Genau wie die Archivalien des Ordens sind auch die vieler ihn umgebenden geistlichen und weltlichen Herrschaften nach deren Mediatisierung an den preußischen Staat und damit in das ehemals preußische Landeshauptarchiv Koblenz gekommen. Sucht man also nach Konflikten oder Zusammenarbeit auf regionaler Ebene, so sind dort auch die Urkundenbestände der anderen Herrschaftsträger heranzuziehen. Beispielhaft sei das an den Beständen des Erzstifts und Kurfürstentums Trier demonstriert. Hier mag die erste Überlegung dahin gehen, dass das Bistum Trier bis heute existiert und ein eigenes Archiv unterhalten könnte, in dem die einschlägigen Bestände zu finden sein könnten. Diese Überlegung berücksichtigt jedoch zu wenig die politischen und archivgeschichtlichen Entwicklungen. Das heutige Trierer Bistum hat wenig mit seinem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorgänger gemein und wurde nach der Säkularisation im 19. Jahrhundert als rein kirchliche Einrichtung ohne politische Macht neu eingerichtet. Das Bistumsarchiv wurde erst 1936 gegründet und ist wie die meisten kirchlichen Archive hauptsächlich für die Bestände des 19. und 20. Jahrhunderts relevant (Thomas J. Schmitt und Stefan Nicolay: Die Bestände des Bistumsarchivs Trier: Eine Kurzübersicht. Trier 1999). Die Archivalien des alten Kurfürstentums teilten jedoch das Schicksal derer des Deutschen Ordens und gelangten in staatlichen, in diesem Fall preußischen Besitz. Sie sind daher ebenfalls im Landeshauptarchiv in Koblenz zu finden. Der dortige Bestand 1 A enthält so 11.634 Urkunden aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit, die darauf geprüft werden können, ob der Deutsche Orden direkt oder indirekt betroffen ist. Das Landeshauptarchiv Koblenz ist indes nur die erste Adresse für Bestände von Herrschaftsträgern, deren Schwerpunkt tatsächlich auf das Mittelrheingebiet beschränkt war. Die Beziehungen des Deutschen Ordens dort müssen sich jedoch nicht auf diesen streng regionalen Rahmen beschränkt haben. Beispielsweise ist auch zu prüfen, in welchem Verhältnis er zu den Kurfürsten von der Pfalz bzw. zu den einzelnen in seinem Umfeld angesiedelten Nebenlinien dieses Hauses stand. Diese ausfindig zu machen, erfordert jedoch gewisse Kenntnisse der allgemeinen Geschichte. Denn die Kurfürsten von der Pfalz und von Bayern bildeten jeweils eigene

Berücksichtigung des territorialen Umfelds

Überregionale Suche

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Handschriften

Linien der wittelsbachischen Dynastie. 1777 starben die bayerischen Wittelsbacher aus und wurden vom Pfälzer Karl Theodor beerbt. Der wiederum verlegte seine Residenz von Mannheim nach München, wohin in der Folge auch rheinische Archivalien verlegt wurden. Das Hauptstaatsarchiv München verwahrt deshalb u. a. den Bestand „Kurpfalz Urkunden“ mit 2.069 Urkunden aus dem 13. bis 18. Jahrhundert (http://www.gda.bayern.de/ hstaix.htm). Dieses Beispiel zeigt, dass die Recherche nach mittelalterlichem Archivgut auch zu einem regionalen Thema weit von der interessierenden Region wegführen kann, so dass die Geschichte von Familien, die z. B. im 13. oder 14. Jahrhundert für den Deutschen Orden wichtig waren, bis ins 19. Jahrhundert weiterverfolgt werden muss, um zu ermitteln, an welcher Stelle ihre Archivalien heute zu finden sein könnten. Bei regionalen oder landesgeschichtlichen Forschungen sollte immer auch geprüft werden, ob sich in der Region ein Stadtarchiv befindet, das eine entsprechend der Themenstellung weit zurückreichende Überlieferung verwahrt. Das können bei mittelalterlichen Fragestellungen natürlich nur die der sehr alten Städte sein, und hier springt im Mittelrhein-Moselgebiet Trier ins Auge, wo sich tatsächlich ein Stadtarchiv mit einer so weit zurückgehenden Überlieferung findet, dass sich eine Anfrage zum Deutschen Orden lohnen könnte (http://www.trier.de/dezernat/amt/amt42_3.htm). Die Suche nach einer anderen wichtigen Quellengattung für das Mittelalter kann noch komplizierter werden: Die Codices, die z. B. Chroniken enthalten können, sind nach der im 19. Jahrhundert gefundenen Definition nicht als Archivgut, sondern als Bibliotheksgut anzusehen. Sie sind daher nur in geringem Umfang in Archiven zu finden. Im günstigsten Fall gelangten sie in Bibliotheken, die als eine Landes- oder Staatsbibliothek einen eigenen Zuständigkeitsbereich analog zum Archivsprengel ausbildeten, wo sie auf Grund ähnlicher Überlegungen wie bei der Archivrecherche zu finden sind. Im ungünstigeren Fall gelangten sie über Tausch oder Verkauf aber auch an andere Bibliotheken oder in Museen und Privatsammlungen, wo sie eher mühevoll zu finden sind. Bei der Suche nach mittelalterlichem Archivgut wird man also mit zahlreichen Unwägbarkeiten und Zufällen konfrontiert, die es nicht immer leicht machen, den Überblick zu bewahren. Auf der anderen Seite besteht für die mittelalterliche Überlieferung eine deutlich längere Forschungstradition als für die zeitgeschichtliche. Es ist hier also wesentlich einfacher, aus den Quellenverzeichnissen älterer Literatur Hinweise auf den Verbleib von Archivgut zu entnehmen, die man sich sonst durch mühevolle Recherchen selbst hätte erarbeiten müssen.

3. Frühe Neuzeit: Schwäbischer Reichskreis Beispiel: Schwäbischer Reichskreis um 1700

Als Norm der frühneuzeitlichen Staatswerdung galt lange Zeit und gilt zum Teil noch heute der absolutistische Fürstenstaat. Diesem kam in der Tat eine hohe Bedeutung zu, auch wenn man heute die ,absolute‘ Macht der Fürsten nicht mehr als so weitgehend und umfassend betrachten kann, wie dies noch vor wenigen Jahrzehnten üblich war. Die Fixierung auf einen absoluti-

3. Frühe Neuzeit: Schwäbischer Reichskreis

stischen „Staat“ führte dazu, dass die Forschung lange Zeit übersehen hat, wie lebendig wenigstens im Alten Reich neben diesem Formen supraterritorialer Zusammenarbeit zwischen meist mindermächtigen Herrschaftsträgern waren, die zum Teil in die Sphäre dessen ausgriffen, was man heute als staatliche Funktionen beschreiben würde. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang u. a. die Kantone der Reichsritterschaft, die Grafenvereine und die Reichskreise, die besonders im Südwesten des Reiches eine große Wirksamkeit entfalten konnten. Reichskreise zu untersuchen, ist nicht erst durch den Prozess der europäischen Einigung und das damit einhergehende Bedürfnis interessant, historische Vorbilder für die Kooperation von Herrschaftsträgern zu finden. Im Zusammenhang einer Einführung in die Archivbenutzung ist es auf jeden Fall sinnvoll, die Recherche nach Quellen zur Geschichte der Reichskreise als Beispiel zu wählen, da sie wesentlich komplizierter als eine auf ein Territorium beschränkte Quellensuche ist. Ein Reichskreis wie der Schwäbische vereinigte etwa 100 Herrschaftsträger unterschiedlicher Größe: Vom vergleichsweise mächtigen Herzog von Württemberg bis hin zu kleinen und kleinsten Reichsstädten oder Reichsabteien, die je eine eigene Archivgeschichte haben. Ausgegangen werden soll von einer Phase einer besonders wirkungsvollen Aktivität des Schwäbischen Reichskreises, nämlich von der Zeit um das Jahr 1700, als der Kreis für eine kurze Zeit im Rahmen der europaweiten Kriege Ludwigs XIV. von Frankreich in das Blickfeld der großen Politik geriet und ein – wenn auch sehr schwaches – Glied der europäischen Allianz gegen Frankreich bildete. Es sollen also Quellen gesucht werden, die zur Beantwortung der Frage dienen können, wie sich ein Verband Mindermächtiger im Konzert der Großmächte positionierte und versuchte, gegen Freund und Feind seine spezifischen Interessen zu wahren. Gesucht wird in jedem Fall zunächst einmal staatliches Archivgut, denn ein Reichskreis wurde ja aus einzelnen Herrschaftsträgern gebildet, deren Registraturen und Archive im 19. Jahrhundert – jedenfalls soweit sie noch vorhanden waren und der Wille dazu bestand – in die Staatsarchive der neuen Staaten des Deutschen Bundes überführt wurden. Um jedoch zu ermitteln, in welches Staatsarchiv die Archivalien des Schwäbischen Kreises gelangt sein könnten, sind zunächst seine Struktur und seine Entscheidungsgremien in den Blick zu nehmen. Dabei gilt das besondere Augenmerk der Frage, ob und wo Beschlüsse des Kreises schriftlich niedergelegt wurden, denn nur schriftlich fixierte Sachverhalte hatten überhaupt eine Chance, in ein Archiv zu gelangen. Der Schwäbische Reichskreis umfasste etwa 100 Reichsstände. Sie waren auf dem sogenannten Kreistag vertreten, der als oberstes Beschlussorgan des Kreises alle wichtigen Beschlüsse zu fassen hatte. Über seine Sitzungen und insbesondere über die Abstimmungsergebnisse wurde ein Protokoll geführt, dem, wo notwendig, Anlagen zugefügt wurden. Die Beschlüsse wurden auch oft noch einmal gesondert ausgefertigt und nicht selten gedruckt, um ihnen eine weite Verbreitung und damit Befolgung zu ermöglichen. Es stellt sich jedoch die Frage, wo die maßgebliche Fassung des Protokolls aufbewahrt wurde. Hier stößt man schnell auf das sogenannte Ausschreibeamt des Kreises, das erblich mit dem Herzog von Württemberg und mit dem

Staatliches Archivgut

Vorüberlegungen

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Chronologische Serien

Bischof von Konstanz besetzt war. Sie hatten Kreistage vorzubereiten und auszuschreiben, d. h. einzuberufen. Der Herzog von Württemberg nahm dabei die Funktion eines Kreisdirektors wahr, der u. a. die Aufgabe hatte, die Kreiskanzlei und das Kreisarchiv zu versorgen. Die Registratur und das Archiv des Kreises wurden daher unter württembergischer Federführung verwaltet. Württemberg gehörte zu den Gewinnern der Säkularisation und bildete einen der Staaten des Deutschen Bundes, die im früheren 19. Jahrhundert ein eigenes Archivwesen ausbildeten. Die Vermutung, Unterlagen des Kreises in dem oder einem der Archive zu finden, die Unterlagen des alten Herzogtums Württemberg verwahren, wird daher nicht fehlgehen. Es lohnt sich also, die Homepage der baden-württembergischen Archivverwaltung zu besuchen, um sich von dort zu den Beständeübersichten der beiden theoretisch in Frage kommenden württembergischen Staatsarchive, nämlich des Hauptstaatsarchivs Stuttgart und des Staatsarchivs Ludwigsburg, weiterzuklicken (http://www.lad-bw.de/). Fündig wird man dabei im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, wo in den Beständen C 9 bis C 15 die Unterlagen der ehemaligen Kreiskanzlei bzw. des Kreisarchivs verwahrt werden. Allerdings lagerten diese Bestände lange Zeit in Ludwigsburg. Daher hätte es in die Irre geführt, die frühere maßgebliche gedruckte Beständeübersicht der württembergischen Archive einzusehen (Karl Otto Müller: Gesamtübersicht über die Bestände der staatlichen Archive Württembergs in planmäßiger Einteilung. Stuttgart 1937, S. 153 f.), da dort der damals korrekte Lagerort, nämlich Ludwigsburg, angegeben wird. Eine Anfrage nach dort hätte jedoch auch nach Stuttgart geführt, da die dortigen Archivarinnen und Archivare dieses Problem kennen und das Schreiben weitergeleitet hätten. Jedoch zeigt dieses Beispiel, dass Beständeübersichten auch bei sehr grundlegenden Angaben veralten können. Die innere Organisation der nun Stuttgarter Kreis-Bestände ist unterschiedlich. Der mit über 84 lfm umfangreichste Teilbestand C 9 enthält u. a. die Gruppe Kreishandlungen, also die Kreistagsprotokolle mitsamt den sonstigen anlässlich eines Kreistages erstellten oder zusammengetragenen Unterlagen. Bei den Kreistagsprotokollen handelt es sich um eine typische Protokollserie, wie sie bis heute überall dort angetroffen werden kann, wo sich Gremien gleich welcher Art und auf welcher staatlichen oder nicht-staatlichen Ebene auch immer in regelmäßigen Abständen zu Sitzungen treffen, die meist mehr als einen Tagesordnungspunkt haben, also auf denen mehrere unterschiedliche Themen diskutiert werden. Das Protokoll einer solchen Sitzung enthält daher verschiedene Themen, so dass es nicht nach Sachbetreffen abgelegt werden kann. Die einzige Möglichkeit, solche Protokolle zu sortieren, war und ist oft die rein chronologische Reihung, so auch im Schwäbischen Kreis, wo zudem die die Kreistage begleitenden Unterlagen wie Denkschriften, Berichte oder Korrespondenzen chronologisch sortiert wurden, um sie dem jeweiligen Protokoll zuordnen zu können. Der Vorteil der Chronologie ist ein sehr bequemer Zugriff, sobald man weiss, wann das Problem behandelt wurde, das für die eigene Fragestellung interessiert. Sobald das nicht der Fall ist, bleibt nur der zeitaufwändige Weg, alle Protokolle Sitzung für Sitzung durchzugehen. Archive haben dabei oft aus Personalmangel nicht die Möglichkeit, diese Arbeit durch das nachträgliche Anlegen eines Registers oder eines anderen Findhilfsmittels zu erleichtern.

3. Frühe Neuzeit: Schwäbischer Reichskreis

Neben den chronologischen Serien der Kreisakten gibt es noch eine Reihe von nach Sachbetreffen geordneten Akten der Kreiskanzlei (v. a. Bestände C 10, C 14), auf die leichter zugegriffen werden kann, die jedoch oft für sich alleine, ohne Berücksichtigung der Kreistagsprotokolle, eine reduzierte Aussagekraft haben. Allerdings bieten sie die Möglichkeit eines bequemeren Zugriffs direkt auf ein Protokoll, das für ein bestimmtes Problem maßgeblich ist. Denn aus den Vorgängen in einer solchen Sachakte erfährt man mit etwas Glück, zu welchem Zeitpunkt welches Thema in den Verhandlungen zwischen den Kreisständen eine Rolle gespielt hat, so dass man dann direkt zum entsprechenden Protokoll greifen kann. Es besteht also die Möglichkeit, je nach Fragestellung und Ansatz den Aufwand der Sichtung aller Protokolle deutlich zu reduzieren, wenn man mit Bedacht die gesamte Überlieferung in den Blick nimmt und sich den weniger gut erschlossenen Beständen über den Umweg etwas besser erschlossener nähert. Das gilt für die Kreisakten selbst, gilt aber auch für die Archive aller, die mit dem Kreis in Kontakt kamen, die etwas von ihm wollten oder von denen der Kreis etwas wollte. Hier sind zunächst die einzelnen Kreisstände in den Blick zu nehmen, die Gesandte zum Kreistag schickten und mit ihnen korrespondierten oder die Schreiben vom Kreistag oder vom Kreisausschreibeamt erhielten. Eine tiefer erschlossene Überlieferung zu der Kreispolitik eines Standes kann daher ebenfalls helfen, sich in der großen Serie der zentralen Kreisüberlieferung zurecht zu finden. Es muss also für jeden einzelnen Reichsstand im Schwäbischen Kreis ermittelt werden, von welchem späteren Staat er aufgesogen wurde und welche Staatsarchive mit welchen Zuständigkeitsbereichen dort gebildet wurden, um die Archivalien aufgehobener Herrschaftsträger zu übernehmen. Im Falle des Schwäbischen Kreises sind das wie bereits erwähnt etwa 100. Der Aufwand, sie alle zu suchen und zu sichten, würde daher in der Regel zu groß werden, um wirklich den Aufwand bei der Sichtung der zentralen Überlieferung zu reduzieren. Es kommt hinzu, dass in den theoretisch vorhandenen 100 Überlieferungen zu Kreissachen zahlreiche, eine systematische Sichtung erschwerende Redundanzen zu finden sind. Wichtige Schreiben wie die Einladung zu einem Kreistag oder Abschriften der Protokolle finden sich natürlich bei jedem Stand. Auf der anderen Seite haben die Zufälle der Überlieferungsgeschichte dafür gesorgt, dass nicht überall alles und nicht überall das gleiche auf uns gekommen ist. Die vielen ähnlichen Serien von Kreisunterlagen sind daher nicht unbedingt identisch, so dass ein Kreisbeschluss in der zentralen Überlieferung fehlen und nur im Archiv eines Standes überliefert sein kann, der aber nicht unbedingt von dem Beschluss direkt betroffen sein muss. Eine wirklich systematische, alles umfassende Suche müsste daher zwangsläufig auf eine Sichtung aller 100 Kreissachen-Bestände hinauslaufen. In der Praxis wird es jedoch oft auch möglich sein, sich auf einige wenige für die eigene Fragestellung besonders einschlägige Bestände zu konzentrieren. Beispielhaft soll hier daher die Suche nach Kreisakten des Herzogs von Württemberg, des Bischofs von Konstanz und der Reichsstadt Reutlingen durchgeführt werden, so dass drei Kreisstände mit unterschiedlicher Archivgeschichte berücksichtigt sind. Die Suche nach württembergischen Archivgut gestaltet sich verhältnismäßig einfach, da Württemberg ja zu den Gewinnern der Umbruchszeit der

Sachbetreffe

Dezentrale Überlieferung

Redundanzen

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Württembergische Kreisakten

Konstanzer Kreisakten

Napoleonischen Kriege gehörte und als Staat überlebte, der sein eigenes Archiv gründen konnte. So finden sich die altwürttembergischen Archivalien, also die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bestände des Herzogtums, erwartungsgemäß im Hauptstaatsarchiv Stuttgart in der Gruppe der ABestände. Die Beständeübersicht (zu erreichen über http://www.lad-bw.de/) zeigt an, dass diese Bestände nach verschiedenen Prinzipien gebildet wurden, wobei nicht immer das Provenienzprinzip angewandt wurde. Dies ist ein häufig zu beobachtendes Problem bei Altbeständen, die in der Vergangheit zum Teil nach Grundsätzen bearbeitet wurden, die heute nicht mehr angewandt würden, die aber aus unterschiedlichen Gründen nicht ohne weiteres rückgängig gemacht werden können. Daher setzt die Arbeit mit solchen Beständen voraus, sich anhand der Beständeübersicht über die jeweiligen Strukturprinzipien zu informieren und gegebenenfalls auch die Findbücher auch solcher Bestände zu prüfen, die auf den ersten Blick nicht einschlägig erscheinen. Im Falle der A-Bestände des Hauptstaatsarchivs Stuttgart stehen sogenannte Auslesebestände oder Selekte neben solchen, die nach Provenienzen gebildet wurden. Ein wenig Überlegung ist also erforderlich, um sich in ihnen zurecht zu finden. Um nun Kreisakten der herzoglich württembergischen Regierung zu finden (im Unterschied zu Kreisakten, die der Herzog von Württemberg in seiner Funktion als Kreisdirektor führen ließ), muss man sich die Perspektive der Regierung klarmachen. Für sie war der Kreis eine auswärtige Angelegenheit, da es sich ja um eine Korporation von vielen Ständen handelte, der Württemberg angehörte. Daher sind Kreisangelegenheiten aus dieser Sicht in der Gruppe der Auslesebestände über Auswärtiges zu suchen, und tatsächlich ist dort der Bestand A 95 mit dem Titel „Schwäbischer Kreis“ zu finden. Hier gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass in einem Archiv, in einem Gebäude, zwei Bestände bzw. Bestandsgruppen mit dieser Bezeichnung nebeneinander existieren (A 95 und C 9 bis C 15), die jeweils die gleiche Angelegenheit aus einer anderen Sicht und von anderem Personal behandelt enthalten können. Denkbar ist beispielsweise, dass sich im Bestand C 9 das Konzept eines Schreibens des Kreistags an den Herzog von Württemberg befindet, dessen Ausfertigung dann im Bestand A 95 zu finden ist. Dort können dann weitere Unterlagen zu finden sein, die die interne Behandlung dieser Angelegenheit betreffen, dann das Konzept der Antwort, deren Ausfertigung wieder im Bestand C 9 zu suchen ist, usf. Durch das Provenienzprinzip kann dabei klar unterschieden werden, wer aus welcher Perspektive und in welchem politischen Kontext schreibt. Nach der Suche nach Kreisakten eines Gewinners der Säkularisation soll die Recherche nun den Unterlagen eines Verlierers gelten, des Bischofs von Konstanz. Hier steht wenigstens zu vermuten, dass eine nicht unbedeutende Überlieferung existiert oder existiert haben könnte, da der Bischof ja zusammen mit Württemberg das Kreisausschreibeamt bildete und so eine wichtige Kreisfunktion wahrnahm. Allerdings müssten sich Unterlagen des Ausschreibeamts im engeren Sinne im eigentlichen Kreisarchiv befinden, also in den Kreisbeständen des Hauptstaatsarchivs Stuttgart. In Konstanz ist daher nur ein Bestand analog zu A 95 in Stuttgart zu vermuten, d. h. eine Kreisunterlagenserie der bischöflichen Regierung. Um zu ermitteln, ob und wo sich ein solcher Bestand befinden könnte, ist zu ermitteln, wann und un-

3. Frühe Neuzeit: Schwäbischer Reichskreis

ter welchen Umständen das Hochstift Konstanz säkularisiert wurde und v. a. welchem Staat sein Territorium zugesprochen wurde. Dazu kann ein Handbuch oder auch ein Lexikon dienen, denen zu entnehmen ist, dass Konstanz an Baden fiel. Wenn daher überhaupt Konstanzer Unterlagen überlebt haben, so sind sie in einem badischen Staatsarchiv zu vermuten. Das Staatsarchiv Freiburg enthält jedoch ausweislich seiner Beständeübersicht (ebenfalls zu erreichen über http://www.lad-bw.de/) keinen einschlägigen Bestand. Fündig wird man jedoch im Generallandesarchiv Karlsruhe, das als Hauptarchiv Badens diente (Beständeübersicht ebenda). Hier findet sich eine Bestandsgruppe mit Beständen aus der Zeit des Alten Reichs, die in drei Großgruppen zerfällt: Urkunden, Amtsbücher und Akten. Diese offensichtlich nicht dem Provenienzprinzip entsprechende Gliederung ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts und hat zur Folge, dass in jeder dieser drei Gruppen recherchiert werden muss, um zu prüfen, ob sich dort Archivalien einer bestimmten Herkunft befinden. Die Abteilung der Amtsbücher ist über die in diesem Bereich unvollkommene Beständeübersicht nur schwer zu überblicken, jedoch sind Amtsbücher meist eher eine Quelle zur internen Verwaltung als zum Verkehr mit einem Reichskreis. Dennoch würde eine systematische Recherche an dieser Stelle eine Anfrage an das Archiv erfordern, ob sich bei den Amtsbüchern solche befinden, die zur Kreispolitik Konstanz Auskunft geben könnten. Im Bereich der Urkunden weist dem gegenüber schon die Beständeübersicht unter der Gruppe „Größere Territorien“ einen Urkundenbestand Konstanz-Reichenau aus, der u. a. Urkunden des Hochstifts enthält, und zwar 21.729 einzelne Urkunden aus der Zeit von 950 bis 1807. Darunter könnten sich natürlich auch Urkunden befinden, die aus der Wahrnehmung von Kreisgeschäften resultierten. Allerdings sind in der Frühen Neuzeit, um die es hier ja gehen soll, Akten in der Regel aussagekräftiger. In der Gruppe der Akten findet sich dann auch tatsächlich analog zu den Urkunden eine Untergruppe „Generalakten der größeren Territorien“, die wiederum den Bestand „Konstanz Reichskreise“ umfasst. Damit ist die einschlägige Überlieferung, die zunächst heranzuziehen ist, gefunden. Die Online-Beständeübersicht des Generallandesarchivs ist jedoch an dieser Stelle lückenhaft, da die Bestandsnummer (nämlich die 83) fehlt. Sie ist jedoch leicht im Zuge einer Anfrage zu ermitteln. Als letztes sollen die Kreisakten Reutlingens gesucht werden, einer ehemaligen Reichsstadt mit einer etwas anderen Archivgeschichte als Konstanz. Ihr Status als Freie Reichsstadt fiel der Mediatisierung zum Opfer. Doch in Reutlingen entstand wie in vielen anderen ehemaligen Reichsstädten ein eigenes Stadtarchiv, das die Tradition und die verbliebenen Bestände der Reichsstadt pflegte. So weist die Beständeübersicht des Stadtarchivs Reutlingen (zu erreichen über http://www.reutlingen.de/) in der Gruppe der Unterlagen aus reichsstädtischer Zeit einen Bestand mit Kreis- und Städtetagsakten von 1499 bis 1802 aus, der also zu konsultieren wäre. Jedoch gilt es auch hier, die politische Geschichte Reutlingens zu berücksichtigen, das an Württemberg fiel. Dessen Archivare haben im 19. Jahrhundert ihnen wertvoll erscheinende Teile des reichsstädtischen Bestandes in ihr Archiv überführt, so dass sich heute auch im Hauptstaatsarchiv Stuttgart ein wenn auch kleiner Bestand Reichsstadt Reutlingen (B 201 L) befindet. Der enthält zwar nichts zum Schwäbischen Kreis, kann hier also vernachlässigt werden.

Reutlinger Kreisakten

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Kaiser und Reich

Es zeigt sich jedoch, dass die Suche nach Altbeständen ohne Kenntnisse der politischen Geschichte schwierig werden kann und dass solche den Auswahlkriterien des 19. Jahrhunderts geschuldete Zersplitterungen von einstmals intakten Überlieferungen bis heute nachwirken. Ein Reichskreis war natürlich keine Veranstaltung, an der nur die eigenen Stände beteiligt waren. Vielmehr trat er bei zahlreichen Gelegenheiten auch mit anderen, nicht-kreisangehörigen Personen, Ständen und Staaten in Kontakt. Die Kreisgeschichte zu erforschen, kann daher auch bedeuten, in den Überlieferungen anderer zu suchen. Hier kann man systematisch vorgehen, indem man sich die Frage stellt, wo solche Außenkontakte vermutlich besonders intensiv oder bedeutsam waren. Dabei ist zunächst ein Blick auf den Kaiser notwendig, der als Reichsoberhaupt über den Kreisen stand. Sodann wird man schon bei der Literatursichtung feststellen, dass in der hier interessierenden Zeit – um 1700 – der Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden nicht nur als bloßer Kreisstand, sondern auch als Person, nämlich als kaiserlicher Feldherr und später auch als Oberkommandierender der Truppen des Schwäbischen Kreises eine bedeutende politische und militärische Rolle spielte. Gerade wenn es darum geht zu erfahren, wie sich der Kreis gegen einen übermächtigen Feind wie Frankreich behauptete, lohnt natürlich ein Blick in die Unterlagen eines solchen Mannes. Abschließend sollen daher Quellen aus kaiserlicher Provenienz und vom badischen Markgrafen gesucht werden, die Rückschlüsse auf die Geschichte des Schwäbischen Kreises zulassen, ohne im eigentlichen Sinne Kreisakten zu sein. Das Reichsoberhaupt war der Kaiser (in der hier untersuchten Zeit Leopold I.). Archivalien, die aus dieser Funktion entspringen, sind daher in einem Nationalarchiv zu suchen. Einen deutschen Nationalstaat gab es jedoch um 1700 noch nicht, und schon gar nicht gibt es daher ein deutsches Nationalarchiv mit einer bis dorthin zurückreichenden Tradition. Die Vermutung, das Bundesarchiv könne als derzeitiges Nationalarchiv die kaiserliche Überlieferung verwahren, wäre daher irrig. Die Suche muss daher ähnlich wie bei der Suche nach den Archivalien des Kreisdirektors bei den Inhabern des Amts ansetzen, also bei den österreichischen Habsburgern, die während der Frühen Neuzeit fast durchgängig die Kaiser stellten. Sie residierten zuletzt in Wien, was den Schluss zulässt, dass sich auch die kaiserlichen Akten und Urkunden dort befinden könnten. Tatsächlich verwahrt das traditionsreiche Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien die einschlägigen Bestände (zu erreichen über http://www.oesta.gv.at), so dass das Archiv, dem man am ehesten den Charakter eines Nationalarchivs der Frühen Neuzeit zusprechen könnte (wenn der Nationenbegriff dadurch nicht anachronistisch verwendet würde), nicht in Deutschland liegt. Die Beständeübersicht des Haus-, Hof- und Staatsarchivs weist eine am Provenienzprinzip orientierte Gliederung auf. Da es hier um Reichskreise und daher um eine Reichsangelegenheit geht, gilt das Augenmerk zunächst der Gruppe der Reichsarchive. Eine Orientierung innerhalb dieser Gruppe erfordert allerdings gute Kenntnisse der Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte. Es ist hier jedoch nicht der Ort, diese zu vermitteln, so dass es bei dem Hinweis bleiben soll, dass die Recherche bei den Reichsarchiven ansetzen könnte. Sie müsste dann weiterhin die nächste Gruppe der Akten zur

4. Das 19. Jahrhundert

Diplomatiegeschichte und zu den internationalen Beziehungen umfassen, da zum Einen hier Pertinenzbestände zu finden sind, bei deren Bildung der Verkehr mit Reichsständen als eine auswärtige Angelegenheit begriffen wurde (was sie auch zu einem guten Teil war), und da zum Anderen bei Gesandtschaften oft nicht klar zu trennen war, ob der jeweilige Gesandte in kaiserlichen Angelegenheiten oder in solchen des österreichischen Landesherrn unterwegs war, der der Kaiser in Personalunion ja war. Erneut zeigt sich, wie sehr Kenntnisse der allgemeinen Geschichte, der Verwaltungsund Verfassungsgeschichte sowie der Archivgeschichte für erfolgreiche systematische Recherchen benötigt werden. Als letztes Recherchebeispiel in diesem Zusammenhang mag das auch die Suche nach Unterlagen des Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden belegen. Hier könnte die Suche zunächst nach dem gleichen Grundsatz wie die nach den württembergischen Archivalien durchgeführt werden: Baden gehörte zu den überlebenden Staaten des 19. Jahrhunderts und hatte ein eigenes zentrales Archiv, das schon erwähnte Generallandesarchiv in Karlsruhe (http://www.landesarchiv-bw.de). Hier findet sich analog zu dem erwähnten Konstanzer Bestand auch eine Überlieferung von badischen Kreisakten (51 I), die jedoch jetzt genauso wenig von Interesse sind wie die verschiedenen Bestände mit Unterlagen der badischen Regierung und Verwaltung. Denn der Markgraf interessiert hier nicht als Landesherr, sondern in seiner Funktion als Feldherr, mithin in einem an die Person gebundenen Amt. Damit gerät die Beständegruppe „Dynastie und Regierung“ ins Blickfeld, die das badische Haus- und Staatsarchiv und dort die Gruppe I: Personalia umfasst (46). Die knappe Online-Beständeübersicht hilft dann bei der Frage nicht weiter, ob dort auch Unterlagen zu Ludwig Wilhelm zu finden sind, jedoch ihr gedruckter, naturgemäß mehr Angaben umfassender Vorläufer verzeichnet für ihn fast 400 Archivalieneinheiten (Hansmartin Schwarzmaier und Hiltburg Köckert: Die Bestände des Generallandesarchivs Karlsruhe. Teil 3: Haus- und Staatsarchiv sowie Hofbehörden (46 – 60). Stuttgart 1991, S. 26). Wer nun eine Anfrage an das Archiv richtet, was genau diese 400 Einheiten enthalten, wird auf große Teile der Feldkanzlei des Markgrafen stoßen, in der zahlreiche Schriftstücke auch den Schwäbischen Kreis betreffen.

Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden

4. Das 19. Jahrhundert: Der Aufstand der Schlesischen Weber Der Aufstand der schlesischen Weber im Jahr 1844 hat nicht allein in Kunst und Literatur Spuren hinerlassen – zu verweisen ist hier nur auf Heinrich Heine, Gerhard Hauptmann und Käthe Kollwitz – , sondern er ist auch ein Thema der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts sowie ein nicht unbedeutender Markstein der politischen Entwicklung im Vormärz. Seine Nachwirkungen in der politischen Öffentlichkeit übersteigen dabei seine umittelbare Wirkung bei weitem, denn bekanntlich wurde die eher spontane Bewegung der in extreme Not geratenen Weber recht bald unter dem Einsatz von Militär niedergeschlagen, so dass sie wenig dazu beitrug, das Los der Weber und anderer Heimarbeiter nachhaltig zu verbessern.

Beispiel: Aufstand der schlesischen Weber

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften Forschungsperspektiven

Das Thema lässt sich daher unter verschiedenen Aspekten bearbeiten. Zunächst ist hier eine Untersuchung des Aufstandes selbst zu nennen, der Ereignisse, der Akteure sowie des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Hintergrundes. Sodann stellt sich die Frage nach seiner Stellung im Rahmen der größeren politischen Entwicklungen der Zeit, also etwa nach seiner Verortung in der Vorgeschichte der Revolution von 1848 und darüber hinaus bei der Entstehung politischer Strömungen und Parteien. Schließlich kann die Wahrnehmung des Aufstandes bei den Zeitgenossen aus den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, Gruppen und Konfessionen sowie aus den verschiedenen Staaten des Deutschen Bundes untersucht werden. Und daran anschließend könnte das breite Feld der Rezeption der Ereignisse, der Konstruktion von Geschichtsbildern um sie herum und der Nutzung dieser Geschichtsbilder in allen folgenden Epochen bearbeitet werden.

4.1 Der Aufstand und die Aufständischen Quellen von „oben“ und „unten“

Justizakten

Jeder Aufstand kann unter wenigstens zwei Blickwinkeln untersucht werden, unter dem der Aufständischen und unter dem dessen, gegen den er sich richtet. Die Quellenlage ist jedoch meistens für beide Parteien sehr unterschiedlich, denn Aufständische oder allgemeiner Untertanen und Bürger produzieren meist wesentlich weniger schriftliche Spuren als die staatlichen Behörden, deren Verwaltungshandeln durch und durch von Schriftlichkeit geprägt ist. Den zahlreichen, in Ausübung der Dienstobliegenheiten entstehenden schriftlichen Berichten von Stellen der Polizei, der Justiz oder der allgemeinen Verwaltung stehen also in der Regel weitaus weniger schriftliche Berichte der handelnden Personen selbst gegenüber. Dies gilt umso mehr, wenn der Aufstand fehlschlägt und die Beteiligten eine Strafverfolgung fürchten müssen. Doch selbst wenn Aufständische ihre Beobachtungen z. B. in Tagebüchern oder Briefen niederlegen, ist oft nicht sichergestellt, dass diese Unterlagen in ein Archiv gelangen und damit den Historikern zur Verfügung stehen. Denn es gibt nur bei öffentlichen Unterlagen eine systematische, flächendeckende Archivierung. Private Unterlagen kommen nur mehr oder weniger zufällig und keinesfalls in größerem Umfang in Archive gleich welchen Typs. Dennoch muss nicht darauf verzichtet werden, die Ereignisse aus Sicht der Aufständischen zu untersuchen. Denn diese und ihre Motive gerieten natürlich in das Blickfeld staatlicher Stellen, die beispielsweise in Prozess- oder Ermittlungsakten ihre Aussagen schriftlich fixierten. An dieser Stelle kann nicht auf die methodischen Probleme eingegangen werden, die mit einer Auswertung solcher Quellen verbunden sind. Es mag bei dem Hinweis bleiben, dass die Aussagen in Verhören oder vor Gericht nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen müssen und dass staatliche Organe zu bewussten oder unbewussten Fehlinterpretationen bzw. Verzerrungen des Geschehens neigen können. Dennoch stellen Justizakten nicht nur im Falle des Weberaufstandes, sondern im Hinblick auf zahlreiche Protestbewegungen der verschiedensten Epochen eine wichtige und daher breit auszuwertende Quelle dar. Verhörprotokolle sind trotz aller quellenkritischen Schwierigkeiten nicht selten die einzigen Dokumente, in denen die Untertanen überhaupt, wenn auch indi-

4. Das 19. Jahrhundert

rekt, zu Wort kommen. Hinzu kommen je nach der Arbeitsweise der Behörden Zeugenaussagen Enbeteiligter, Spitzelberichte oder auch direkte schriftliche Zeugnisse wie eben Briefe und Tagebücher, die beschlagnahmt und als Beweismittel zu den Akten genommen wurden. All das lohnt einen Blick in die Akten des Staates, selbst wenn die Fragestellung auf die Aufständischen selbst abzielt. Um zu ermitteln, welche Archive und Bestände in diesem Zusammenhang einschlägig sein könnten, ist zunächst festzustellen, welche Behörden und Stellen für die Bekämpfung oder Beobachtung von tatsächlichen oder potenziellen Aufständischen zuständig waren: Also z. B. Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei, Geheimdienst oder Militär. Hinzu kommen die vor Ort betroffenen Stellen mit der Zuständigkeit für innere Sicherheit und Ordnungsrecht, also etwa die Stadt- und Kreisverwaltungen betroffenener Gegenden. Bei der Suche nach Akten aus modernen Verwaltungen oder Gerichten ist nicht nur im Falle des Weberaufstandes, sondern grundsätzlich der fundamentale Unterschied zwischen Sach- und Massenakten zu berücksichtigen. Erstere werden in der aktenführenden Stelle nach Sachbetreffen geführt, die mit einem meist hierarchisch gegliederten Aktenplan verwaltet werden. Dieser wiederum orientiert sich an der spezifischen Aufgabenstellung der jeweiligen Behörde und bildet oft auch das Vorbild für die Gliederung des Bestandes im Archiv. Hier lässt sich daher danach fragen, ob eine Akte zu einer bestimmten Sache vorhanden ist, etwa eine mit dem Titel „Weberaufstand 1844“. Was dann in dieser Akte zu finden ist, ob dort nur Zeitungsauschnitte zum Thema gesammelt wurden oder sich dort interne politische Lageberichte befinden, hängt dann ganz von der Aufgabe der aktenführenden Stelle ab. Da Archive zudem nicht jedes einzelne Blatt einer solchen Akte erschließen können, ist auch nur bei einer Inaugenscheinnahme der Akte festzustellen, ob in ihr vielleicht eine bestimmte Person erwähnt wird, der das eigene Interesse gilt. Ganz anders gestaltet sich die Situation bei den sogenannten Massenakten oder massenhaft gleichförmigen Akten. Hier werden Unterlagen zu immer wieder gleichartigen Fällen abgelegt, die die Stelle zu bearbeiten hat, also etwa die zu Prozessen eines Gerichts. Solche Massenakten werden nach den einzelnen Fällen gebildet, d. h. eine für den Prozess gegen X, eine für den gegen Y und so fort. Es steht daher nicht zu erwarten, in einem Gerichtsbestand eine bequem zugängliche Akte „Prozesse gegen Beteiligte des Weberaufstandes“ zu finden, sondern man muss zunächst die Namen der hier interessierenden Personen ermitteln, um dann gezielt zugreifen zu können. Die Art der Aktenführung hat also unmittelbare Folgen für die archivische Recherche und den Weg, den der Benutzer einschlagen sollte. Geht es darum, ein Einzelschicksal aus der Zeit zu beschreiben, so sollte die Suche von der Prozessakte ausgehen. Wenn sich aber das Interesse mehr darauf richtet, wie der Staat insgesamt reagiert hat und was die politischen Folgen der Ereignisse waren, so sind Sachakten zunächst sicher die bessere Möglichkeit, fündig zu werden. Als mehrere Jahrzehnte nach ihrer Entstehung die staatlichen Unterlagen zum Weberaufstand archivreif waren, also von den Verwaltungen und Gerichten nicht mehr benötigt wurden und deshalb in die zuständigen Archive

Sach- und Massenakten

Provenienzprinzip

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Preußische Archivgeschichte

Gesamtstaatliche Ebene

gelangen konnten, war in Preußen – und Schlesien gehörte damals zu Preußen – das Provenienzprinzip entweder schon eingeführt, oder es stand kurz vor der Einführung. Daher gestaltet sich die Suche nach ihnen vergleichsweise einfach. Es gilt allerdings zu bedenken, dass der preußische Staat und mit ihm die preußische Archivverwaltung nicht mehr existieren, so dass nicht von einer bruchlosen Überlieferung ausgegangen werden kann. Dies gilt insbesondere, wenn die Suche auf der untersten betroffenen Verwaltungsebene angesetzt werden soll. Schauplätze des Aufstandes waren die Orte Peterswaldau, Langenbielau und Reichenbach. Damit wäre in polnischen Archiven zu suchen. Da Breslau Sitz zahlreicher preußischer zentraler Behörden für Schlesien war und sich dementsprechend dort auch ein preußisches Staatsarchiv befand, sind gemäß dem Provenienzprinzip die Bestände des dortigen, nunmehrigen Staatsarchivs Wroclaw zu konsultieren (http://www.ap.wroc.pl/). Dort werden u. a. die Unterlagen des Oberpräsidiums zu Breslau, der Regierung Breslau, der Regierung Oppeln und des Polizeipräsidium Breslau sowie einzelner Landratsämter und Magistrate verwahrt, die heranzuziehen sind – wenn die auf den Weberaufstand und seinen Kontext bezogenen Unterlagen denn die Wechselfälle von Kriegen und politischen Umbrüchen überlebt haben. Die preußische Archivgeschichte ist jedoch komplizierter, denn ein Teil der Unterlagen aus den 1945 an Polen und die Sowjetunion gefallenen Gebieten war in deutschem Besitz verblieben. Das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin (http://www.gsta.spk-berlin.de/) hat zahlreiche dieser Bestände aufgenommen und verwahrt sie noch heute, obwohl es eigentlich die Tradition des zentralen preußischen Archivs für die Zentralbehörden pflegt. So findet sich auch dort ein Bestand Regierung Breslau (Hauptabteilung XVII, Repositur 201 a), der allerdings nur 0,13 lfm. umfasst und daher eine reine Splitterüberlieferung darstellt, die nur durch Zufall Unterlagen zum Weberaufstand enthalten kann. Ähnliches gilt für den Bestand Oberpräsident der Provinz Schlesien (Hauptabteilung XVII, Repositur 200), dessen Laufzeit überdies erst 1853 einsetzt. Einschlägig könnten auch die Bestände von Landgerichten und Staatsanwaltschaften sein (Hauptabteilung XVII, Repositur 223 a), die theoretisch Prozesse gegen direkt am Aufstand Beteiligte oder gegen Weber enthalten können, die aus Not beispielsweise Eigentumsdelikte begangen haben. Dies zu klären, muss jedoch einer Anfrage beim Archiv vorbehalten bleiben. Bisher galt das Augenmerk den Behördern und Stellen vor Ort, in der Provinz Schlesien. Eine Aufstandsbewegung wie die von 1844 konnte jedoch keine ausschließliche Angelegenheit dieser nachgeordneten Ebene sein, sondern muss auch gesamtstaatlich Spuren hinterlassen haben, z. B. in den verschiedenen Ministerien. Hier ist nun das bereits genannte Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz tatsächlich das einschlägige Archiv. Dabei gilt es zu überlegen, welche Ministerien und nachgeordneten Stellen mit Fragen befasst gewesen sind, die im Zuge der Bearbeitung des eigenen Themas von Bedeutung sind. Die einschlägigen Unterlagen sind dann verhältnismäßig leicht zu finden, weil sich das Provenienzprinzip am Verwaltungsaufbau orientiert. So wäre bei der Untersuchung innerer Unruhen ein sinnvoller erster Zugriff, beim dafür zuständigen Innenressort anzusetzen, angefangen beim Innenministerium (Hauptabteilung I, Repositur 77) bis hin

4. Das 19. Jahrhundert

zum Korpskommando der Landgendarmerie (Hauptabteilung I, Repositur 179). Es ist jedoch nie auszuschließen, dass wichtige Unterlagen dort, wo sie zu vermuten sind, nicht auffindbar sind. Aktenverluste durch äußere Ursachen und Katastrophen, aber auch durch Fehlentscheidungen von Archivaren, Diebstahl und ähnliches sind immer möglich. Dann müsste die Suche einer möglichen sogenannten Ersatzüberlieferung gelten, die aus Kopien von wichtigen, aber verlorenen Originalen bestehen kann. Kopien bzw. Abschriften sind fester Bestandteil des Verwaltungsprozesses. Sie wurden und werden nicht nur zwischen den eigentlich zuständigen Stellen ausgetauscht, sondern sie wurden und werden auch zur Information z. B. von einem Ministerium an alle nachgeordneten Behörden geschickt, die vielleicht einmal mit einem ähnlichen Problem zu tun bekommen und daher wissen sollten, wie man anderer Stelle entschieden hat. So ist es denkbar, dass ein Erfahrungsbericht der Regierung Breslau zum Weberaufstand an alle preußischen Regierungen geschickt wurde und sich daher z. B. im Bestand der Regierung Trier (Bestand 422) im dafür zuständigen Landeshauptarchiv Koblenz befindet (http://archivdatenbank.lha-rlp.de/). Solche Funde sind jedoch oft von Zufällen abhängig, und eine gezielte Suche nach Ersatzüberlieferung kann sehr aufwändig werden, da sehr viele Archive geprüft werden müssen. Manchmal ist dies jedoch der einzige Weg, um ein Thema bearbeiten zu können.

Parallel- und Ersatzüberlieferung

4.2 Rezeption Die eigentlichen Ereignisse des Weberaufstandes treten fast schon zurück hinter seiner Rezeption durch Zeitgenossen und Nachfolgende, die ihm je nach politischer Zuordnung positiv oder negativ gegenüberstehen konnten, die ihn in ihre Argumentation zur Erreichung bestimmter politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Ziele einbauten oder die ihn künstlerisch verarbeiteten. Die Erforschung der Rezeptionsgeschichte eines Ergenisses erfordert, da es sich in der Regel um die Rezeption im öffentlichen Raum handeln wird, zunächst den Gang in Bibliotheken und Museen, um Zeitungen und andere Publikationen sowie Kunstwerke auszuwerten. In Archiven wird dann der fündig, der Sammlungsgut auf der Grenze zwischen Archiv- und Bibliotheksgut sucht, also etwa Flugblätter und Plakate, die sich in beiden Institutionen finden lassen. Die Bezeichnung Sammlungsgut deutet schon an, dass es sich nicht um dem Provenienzprinzip unterliegende Bestände handelt, deren Aufbewahrungsort man also durch die Kenntnis der Archivsprengel ermitteln könnte. Ihr Erwerb hängt von dem Sammlungsprofil der Institution, nicht selten aber auch von Zufällen ab, so dass mit einem erhöhten Rechercheaufwand zu rechnen ist. Um jedoch nicht alle Archive und verwandte Institutionen ansprechen zu müssen, ob sie denn zufällig über einschlägige Unterlagen verfügen, empfielt sich eine Vorüberlegung, welche Archive von ihrem grundsätzlichen Auftrag her am ehesten in Frage kommen, entsprechendes Sammlungsgut zu erwerben. Der Weberaufstand als preußisches Problem könnte natürlich eine Angelegenheit des zentralen preußischen Staatsarchivs gewesen sein. Die On-

Rezeptionsgeschichte

Flugblätter und Plakate

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Zensurakten

line-Beständeübersicht des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz zeigt auch an, dass dort eine Plakatsammlung vorhanden ist, die allerdings nur 464 Flugblätter und Plakate aus dem Zeitraum von 1705 bis 2000 umfasst (Hauptabteilung XII, Repositur IV). Weitere Informationen zum Bestand werden nicht geboten, aber die geringe Zahl der hier gesammelten Plakate zeigt, dass es sich um einen Zufall handeln würde, wenn hier in größerer Zahl solche versammelt wären, die den Weberaufstand zum Thema haben. Eine Anfrage kann man dennoch stellen, auch wenn deutlich wird, dass das Geheime Staatsarchiv in diesem Fall nicht die erste Adresse für die Recherche nach Plakaten ist. Da der Weberaufstand ein besonderes Echo im Kreise der Frühsozialisten, später dann auch der Arbeiterbewegung gefunden hat und diese wiederum zur Tradition der SPD zählen, lohnt jedoch ein Blick in die Beständeübersicht des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, also des Parteiarchivs der SPD, dessen Sammlungsbestrebungen auch den Weberaufstand und seine Rezeption umfassen sollten. Tatsächlich weist die Beständeübersicht eine Sammlung von 45.000 Flugblättern und Flugschriften aus dem Zeitraum von 1790 bis in die Gegenwart aus. Hinzu kommt eine Plakatsammlung mit 40.000 Einheiten, so dass eine Erforschung der Rezeption des Weberaufstandes an Hand der Plakate und Flugschriften der Arbeiterbewegung im Archiv der sozialen Demokratie auf günstige Voraussetzungen trifft. Soll die Rezeption auch in nicht sozialistischen Kreisen erforscht werden, sollten darüber hinaus natürlich noch die Bestände der übrigen Parteiarchive geprüft werden, wobei die Parteien mit späteren Gründungsdaten vermutlich zeitlich zu weit entfernt vom Weberaufstand sein werden, um über größere Bestände zu seiner Rezeption zu verfügen. Eine andere Möglichkeit, Plakate und Druckerzeugnisse aller Art ausfindig zu machen, ergibt sich durch die staatlichen Eingriffe in die Produktion und Verbreitung von Druckerzeugnissen, sprich durch die Zensur. Die staatlichen Stellen, die mit der Zensur befasst waren, haben selbstverständlich Belegexemplare des gegebenenfalls zu verbietenden Schriftguts sammeln und zu den Akten nehmen müssen, wo es teilweise noch heute zu finden ist. Es ist also lohnend, sich mit der Zuständigkeit für Zensur in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes zu befassen. Naheliegend ist angesichts des Themas natürlich Preußen. Hier wird man, wenn man zunächst auf der höchsten gesamtstaatlichen Ebene ansetzt, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz auf den Bestand „Oberzensurkollegium und Oberzensurgericht“ stoßen, der mit einer Laufzeit von 1819 bis 1848 die Zeit des Weberaufstandes umfasst (Hauptabteilung I, Repositur 101). Es wird jedoch oft nicht ausreichen, die Recherche allein auf die zentrale Ebene zu beschränken, denn die Durchführung von Zensur und Überwachung politischer Gruppierungen war auch dem nachgeordneten Bereich, den Verwaltungen vor Ort, überlassen. Deshalb lohnt ein Blick in die Bestände der Regierungspräsidien und vergleichbarer mittlerer Verwaltungsebenen, die sich gemäß dem Provenienzprinzip verteilt über die Staatsarchive des gesamten Bundesgebiets finden lassen. Geht es beispielsweise um das Echo des Weberaufstandes in der Provinz Westfalen, so ist sinnvollerweise das Staatsarchiv Münster mit den Beständen Oberpräsidium, Regierung Arnsberg und Regierung Münster aufzusuchen. Noch eine Ebene da-

4. Das 19. Jahrhundert

runter lassen sich in den Beständen zahlreicher kommunaler Archive Unterlagen zur politischen Polizei oder Überwachung der Presse finden, die für lokale und regionale Forschungsprojekte herangezogen werden können. Hier eine Auswahl zu treffen, hängt stark vom verfolgten Ziel ab. Um die Wirkung von Zensur und Selbstzensur zu untersuchen, bietet sich auch die Einsichtnahme in Verlagsarchive an. Dort können sich u. a. Korrespondenzen zwischen Verlag und Autor oder Verlag und staatlichen Stellen finden, aber auch Manuskripte, anhand derer Eingriffe in die Texte deutlich werden. Verlagsarchive sind grundsätzlich Wirtschaftsarchive und damit Privateigentum. So kann es sein, dass sie vernichtet wurden oder nicht zugänglich sind. Andere wurden an Archive übergeben. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das umfangreiche Cotta-Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach (http://www.dla-marbach.de/kallias/hyperkuss/c-23.html). Aber auch regionale Wirtschaftsarchive verfügen über einschlägige Bestände, so etwa das Sächsisches Wirtschaftsarchiv e. V. in Leipzig, u. a. mit dem Archiv des K. G. Saur Verlags (http://www.swa-leipzig.de/). Die Suche nach solchen Verlagsarchiven gestaltet sich bisweilen schwierig, jedoch wird sie durch eine Orientierung an dem Verlagsstandort erleichtert, an dessen Ermittlung sich die Suche nach einem regionalen Wirtschaftsarchiv anschließen kann, das sich für diesen Standort zuständig fühlt. Die Erforschung der Rezeption des Weberaufstandes bedeutet indes nicht allein, gleichsam in die Breite zu gehen und etwa nur allgemein politische Strömungen zu verfolgen, ohne sie an einzelnen Personen festmachen zu können. Das lässt sich gerade im Falle des Weberaufstandes gut zeigen, der ja schon sehr bald zum Gegenstand sowohl politischer Debatten als auch künstlerischer Auseinandersetzungen wurde, die jeweils untrennbar mit den Persönlichkeiten verbunden sind, die sie trugen. Diese Persönlichkeiten sind – soweit sie nicht als Inhaber hoher politischer Ämter Spuren in den Akten der Behörden hinterlassen haben, die sie leiteten – über ihre Nachlässe und über ihre Briefe an andere Personen zu fassen, die in den Nachlässen dieser anderen Personen zu finden sind. So wäre, um eine Person aus dem Bereich der Politik herauszugreifen, durchaus von Interesse, wie Karl Marx und seine Korrespondenzpartner zum Weberaufstand standen. Zu suchen ist dazu sein Nachlass, was seit dem Jahr 2002 sehr bequem durch die Nachlassdatenbank des Bundesarchivs möglich ist (vgl. Kapitel II.4.4 Nachlässe). Hier ist zu erfahren, dass der Nachlass Karl Marx in zwei Teile zerfällt, die im Internationalen Institut für Sozialgeschichte Amsterdam und im Russischen Staatlichen Archiv für Zeitgeschichte Moskau lagern – ein Befund, der über die deutsche Archivlandschaft hinausführt und gleichzeitig unterstreicht, wie wenig vorhersehbar ist, an welchen Orten Nachlässe zu finden sind. Ein anderer Suchansatz ist über die mittlerweile ebenfalls online verfügbare Autographen-Kartei Kalliope der Staatsbibliothek zu Berlin (vgl. Kapitel II.4.4 Nachlässe) möglich. Im Unterschied zur Nachlassdatenbank wird hier nicht nach Beständen, sondern auf das einzelne Dokument bezogen gesucht, so dass einzelne Briefe von und an Karl Marx in anderen Nachlässen und Sammlungen gefunden werden können. Kalliope findet 26 einzelne Dokumente von, an und über Karl Marx, die in Institutionen im gesamten Bundesgebiet und im Ausland lagern. Dabei ist auch zu erfahren, dass ein

Verlagsarchive

Nachlässe

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Recherchestrategien in Datenbanken

Nachlassbestand im Institut für Sozialgeschichte Amsterdam verwahrt wird – insoweit ist auf verschiedenen Wegen am Ende die gleiche Information zu erhalten. Der Bestand im Moskauer Archiv wird hier jedoch nicht gefunden, was auf ein Problem aller archivübergreifender Online-Findmittel verweist: Sie sind nur so gut wie die Institutionen, die ihnen Daten liefern. Vollständigkeit erreicht man mit ihnen nicht oder nur in seltenen Fällen, weshalb es empfehlenswert ist, immer parallel unterschiedliche Rechercheinstrumente zu nutzen, wenn sie zur Verfügung stehen. Allein schon die geringe Menge von nur 26 in Kalliope nachgewiesenen Dokumenten zeigt, dass das unmöglich alles sein kann, was zu finden ist. Ein ähnlicher Befund ergibt sich, wenn man sich der Rezeption des Weberaufstandes in Kunst und Literatur zuwendet. Heinrich Heine mag hier mit seinem Gedicht „Die schlesischen Weber“ als Beispiel dienen. Eine Suche in der Nachlassdatenbank ergibt als Ergebnis neben zwei Teilbeständen in Paris und New York den Verweis auf den Nachlass Heines in der Landesund Stadtbibliothek Düsseldorf. Dies jedoch ist ein Befund, der Benutzer in die Irre führen wird, denn diese Bibliothek existiert seit 1970 nicht mehr. Ihre Autographenabteilung bildete den Grundstock für das Heinrich-HeineInstitut Düsseldorf, das nun auch den Nachlass verwaltet. Kalliope findet zwar zahlreiche Autographen in den unterschiedlichsten Sammlungen, nicht jedoch den Nachlass. Beide Defizite lassen sich leicht erklären: Die Nachlassdatenbank hat hier veraltete Daten aus der Zeit vor 1970 ohne Nachprüfung in eine moderne Umgebung übernommen, und das HeinrichHeine-Institut meldet seine Bestände nicht an Kalliope. Nochmals werden die Grenzen von Rechercheinstrumenten deutlich. Die gleichen Suchprinzipien lassen sich für alle anderen Personen anwenden, die nachweisbar oder auch nur vermutlich an der politischen Debatte im Gefolge des Weberaufstandes teilgenommen haben. Erzielt man weder über die Nachlassdatenbank noch über Kalliope oder über eine direkte Recherche in den Beständeübersichten in Frage kommender Archive einen Treffer, bedeutet das noch nicht, dass kein Nachlass vorhanden ist. Es bedeutet zunächst einmal nur, dass er nicht in den konsultierten Hilfsmitteln nachgewiesen ist. Inwieweit dann noch die gleichermaßen aufwändige wie unsichere weitere Suche lohnt, hängt davon ab, welche Bedeutung ein bestimmter Nachlass im Rahmen eines Forschungsprojekts hätte – wobei immer damit zu rechnen ist, dass der gesuchte Bestand irgendwann einmal vernichtet wurde oder nie den Weg in ein Archiv gefunden hat. Weder die Nachlassdatenbank noch Kalliope werfen im Übrigen ein Ergebnis aus, wenn der Suchbegriff in der Freitextsuche schlicht „Weberaufstand“ lautet. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Bei der Nachlassdatenbank handelt es sich um ein Rechercheinstrument, das Bestände und ihren Inhalt nur in wenigen Schlagworten nachweist. Der Aufwand, tatsächlich alle enthaltenen Themen aufzunehmen, wäre schlicht zu groß. Bei Kalliope hingegen werden zwar einzelne Briefe nachgewiesen, das Interesse gilt jedoch v. a. den Briefpartnern, nicht dem Inhalt der Briefe. Beide Ansätze führen dazu, dass hier eine systematische Suche von Namen ausgehen muss, nämlich von den Namen von Personen, die sich vermutlich oder sicher mit dem interessierenden Thema befasst haben. Darüber hinaus gilt bei allen Datenbankrecherchen, dass eine Freitext-Suche immer mit dem Risiko be-

5. Zeitgeschichte

haftet ist, einen falschen Freitext zu verwenden. Es ist z. B. möglich, dass in einem Eintrag der Nachlassdatenbank als Inhalt auf den „Aufstand der Schlesischen Weber“ verwiesen wird. Der Suchbegriff „Weberaufstand“ führt dann zu keinem Treffer. Die von Google und anderen Suchmaschinen übernommene Angewohnheit, ohne große Überlegung Volltextsuchen durchzuführen, kann auf diese Weise am Ziel vorbeigehen.

5. Zeitgeschichte: Industrielle in Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland Bei der Bearbeitung zeitgeschichtlicher Themen spielt oft mehr die Notwendigkeit eine Rolle, sich in den zur Verfügung stehenden Quellenmassen zu orientieren, als überhaupt Quellen zu finden. Allerdings gilt auch hier, dass auch totale Quellenverluste aus verschiedenen Gründen möglich sind. So sind beispielsweise am Ende des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Aktenbestände deutscher Provenienz vernichtet worden, damit sie nicht den Alliierten in die Hände fielen. An anderer Stelle ist die Quellenmasse jedoch so überbordend, dass auch dann eine strenge Beschränkung auf einen kleinen Teil von ihnen notwendig ist, selbst wenn noch alle Unterlagen ohne jeden Verlust vorhanden sind. Die Quellensuche kann sich also aus ganz verschiedenen Ursachen schwierig darstellen. Hier soll als Beispiel der Frage nachgegangen werden, an welchen Stellen Quellen zu suchen sind, die Aufschluss über die Biographie von führenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Industrie in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit geben. Besonderes Augenmerk soll dabei zum einen der Verstrickung in Kriegsverbrechen und deren Ahndung durch die Nachkriegsjustiz, zum anderen aber auch der Mentalität und Geisteshaltung dieses Personenkreises gelten. Günstige Voraussetzungen zur Erforschung einer Person sind immer dann gegeben, wenn ein Nachlass mit aussagekräftigen Unterlagen wie etwa Tagebüchern oder Korrespondenzen verfügbar ist. Die Suche danach bedient sich der gleichen Hilfsmittel wie im vorigen Abschnitt beschrieben. Da jedoch nicht alle Nachlässe den nationalen Recherchehilfsmitteln zur Kenntnis gelangen, lohnen auch Anfragen bei den Unternehmensarchiven der Unternehmen, denen die Personen angehörten, oder bei den für sie zuständigen regionalen Wirtschaftsarchiven. Auch wenn ein Unternehmen kein eigenes funktionierendes Archiv hat, kann es sein, dass der Nachlass z. B. eines ehemaligen Vorstandsvorsitzen aus Pietät aufbewahrt wurde und dort auch ohne ein Archiv einsehbar ist. Hier gilt es, Kontakt zum Unternehmen aufzubauen und es davon zu überzeugen, den Nachlass zu öffnen. Das gilt auch für eine andere Variante, nämlich dass sich die privaten Papiere der Person noch immer im Besitz ihrer Familie befinden. Diese muss dann ausfindig gemacht (was nicht immer möglich ist) und ebenfalls davon überzeugt werden, die Unterlagen zur Verfügung zu stellen. In beiden Fällen bietet es sich an, Unternehmen oder Familie davon zu überzeugen, den Nachlass einem Archiv zu übergeben, das ihn künftig verwahrt, sichert und für die Forschung bereitstellt, denn nur so kann Kontinuität bei der Auswertung der Unterlagen sichergestellt werden.

Beispiel: Wirtschaft und Nationalsozialismus

Nachlässe

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Nicht selten wird es gar nicht gelingen, einen Nachlass zu ermitteln. In diesen Fällen ist es jedoch nicht notwendig, das Forschungsvorhaben gleich einzustellen. Denn jede Person in einer einigermaßen verantwortlichen Position hinterlässt an zahlreichen Stellen Spuren, die nur gefunden und zusammengetragen werden müssen. Diese Spuren finden sich zum einen an den Orten der Tätigkeit einer Person. Geht es also um Personen aus Industrie und Wirtschaft, so sind natürlich die Wirtschaftsarchive von Bedeutung. Doch die Überlieferungslage von Wirtschaftsarchiven ist ebenso zufällig wie die von Nachlässen, da es sich ja in beiden Fällen um private Unterlagen handelt, deren Sicherung nicht gesetztlich vorgeschrieben ist. Wenn daher weder ein Nachlass, noch ein Konzernarchiv existiert, muss sich die Quellensuche in einem zweiten Schritt auf die öffentlichen Archive konzentrieren.

5.1 Archivgut der Wirtschaft Wirtschaftsarchive

Altregistraturen von Unternehmen

Regionale Wirtschafts- und Branchenarchive

Die systematische Suche nach Wirtschaftsarchiven gestaltet sich oft noch schwieriger als die nach Nachlässen, für die es ja – wie oben beschrieben – immerhin eine Reihe von Verzeichnissen und Datenbanken gibt. Nur dort, wo Konzern- und Unternehmensarchive des gesuchten Unternehmens als wenigstens ansatzweise professionell geführte Einrichtungen existieren, wird die Suche stark erleichtert, denn in der Regel erreicht man sie über die Homepage des jeweiligen Unternehmens. Schwieriger wird die Recherche, wenn das gesuchte Unternehmen nicht mehr existiert. Dann könnte das Archiv jedoch von einem Rechtsnachfolger oder Mutterkonzern übernommen worden sein. Soll z. B. die Biographie eines Managers der Deutschen Grammophon AG untersucht werden, dann lohnt ein Blick in das SiemensArchiv, da die Deutsche Grammophon eine Tochtergesellschaft von Siemens war. Ähnlich wie bei der Suche nach mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen zu untergegangenen Fürstenhäusern ist also die Kenntnis von Konzernstrukturen, Übernahmen und Beteiligungen wichtig, um sich über den möglichen Verbleib von Archivalien zu orientieren. Falls sich zwar ermitteln lässt, welches heutige Unternehmen über einschlägige Unterlagen verfügen könnte, jedoch dieses Unternehmen kein Archiv unterhält, so kann das bedeuten, dass die Unterlagen nicht mehr existieren oder nicht zugänglich sind. Allerdings lohnt im Zweifelsfall eine Anfrage bei dem Unternehmen selbst. Möglicherweise hat es zwar kein Archiv, aber einen Keller mit Altakten, der Wissenschaftlern auf Anfrage geöffnet wird, oder das Unternehmen kann angeben, in welches andere Archiv Altakten abgegeben wurden. Hier sind insbesondere die regionalen Wirtschaftsarchive und die Branchenarchive von Interesse, die nicht von einem Unternehmen, sondern von Industrie- und Handelskammern, Stiftungen oder sonstigen Trägern unterhalten werden. Sie übernehmen entweder die Unterlagen von Firmen aller Art aus einem geographisch definierten Sprengel oder als Branchenarchiv die Unterlagen von Unternehmen einer Branche. Hinzu kommen solche von Verbänden und Vereinigungen der Wirtschaft, denen gerade für die Erforschung wirtschaftspolitischer Themen eine zentrale Rolle zukommen kann. Geht es also in dem fiktiven Forschungsprojekt z. B. darum, wie sich führende Köpfe des Bergbaus im Ruhr-

5. Zeitgeschichte

gebiet zum Nationalsozialismus und kriegswirtschaftlichen Fragen gestellt haben, so empfiehlt sich die Einsichtnahme in den Bestand „Fachgruppe/ Wirtschaftsgruppe Bergbau, Berlin“ (Bestand 15) im Bergbauarchiv in Bochum (http://www.archive.nrw.de/home.asp?bergbauarchiv), das als Branchenarchiv auch die Akten einer ursprünglich in Berlin ansässigen Interessenvertretung des Bergbaus übernommen hat. Nicht unbeachtet bleiben sollte dann die Überlieferung der Industrieund Handelskammern, die die Interessen der gesamten Wirtschaft in ihrem Bezirk vertreten, worunter dann eben auch der Bergbau zählt, wenn sich z. B. Zechen dort befinden. Der Bestand „(Industrie- und) Handelskammer zu Bochum“ (K 2) des Westfälischen Wirtschaftsarchivs in Dortmund (http:// www.archive.nrw.de/home.asp?wwa-dortmund) könnte so Quellen enthalten, die neben dem schon genannten Bochumer Bestand eine weitere Beleuchtung der Haltung der Vertreter des Ruhrgebietsbergbaus im Nationalsozialismus ermöglichen. Sowohl Branchenarchive als auch regionale Wirtschaftsarchive verwahren darüber hinaus Bestände aus einzelnen Unternehmen oder die Nachlässe einzelner Unternehmer, in denen sich wiederum die Korrespondenz mit einer gesuchten Person befinden könnte. Sie sind daher in jedem Fall eine gute Adresse, um mit den Recherchen anzusetzen. Beides – Firmenarchive wie Nachlässe – können jedoch auch in öffentliche Archive gelangt sein. Viele Stadtarchive bemühen sich um die Sicherung der Unterlagen örtlich ansässiger Unternehmen. So liegt das Firmenarchiv der Voigtländer AG (Bestand G IX, 45) im Stadtarchiv Braunschweig (http://www.braunschweig.de/rat_verwaltung/verwaltung/fb41_4/), das der Hannoverschen Montangesellschaft im Stadtarchiv Hannover (http://internet. hannover-stadt.de/stadtarchiv/) und das der Maschinenbaufabrik Th. Kieserling & Albrecht (Bestand Fi 4) im Stadtarchiv Solingen (zu erreichen über http://www2.solingen.de/), um nur wenige, wahllos herausgegriffene Beispiele zu nennen. Zum Teil gelangten Unterlagen der Wirtschaft auch in Staatsarchive. Insbesondere im Bereich der ehemaligen DDR sind solche Bestände in größerer Zahl anzutreffen, z. B. im Hauptstaatsarchiv Dresden (http://www.sachsen.de/de/bf/verwaltung/archivverwaltung/archiv_dresden/ inhalt.html).

Industrie- und Handelskammern

Archivgut der Wirtschaft in öffentlichen Archiven

5.2 Öffentliches Archivgut Auch wenn alle Recherchen nach Nachlässen und Unternehmensarchiven erfolglos bleiben, muss die Suche nicht eingestellt werden. Jede Person hinterlässt Spuren in den Akten der öffentlichen Verwaltungen und sonstigen staatlichen oder kommunalen Stellen. Im einfachsten Fall handelt es sich um Personenstandsunterlagen, um Kirchenbücher oder Standesamtsregister, die vielfach für genealogische Forschungen herangezogen werden. Die hieraus zu entnehmenden Informationen beschränken sich jedoch in aller Regel auf äußere Daten wie Geburts- und Todestag, Namen der Eltern und Kinder usw. Sie sind damit nicht ausreichend, um – wie hier angestrebt – Aussagen über die Haltung führender Industrieller zum Nationalsozialismus machen zu können. Je höher eine Person jedoch in der gesellschaftlichen oder politischen

Biographische Spuren in Verwaltungsunterlagen

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Studium

Beschäftigung im Öffentlichen Dienst

Politisches Handeln

Hierarchie steht, umso wahrscheinlicher ist es, dass ihr Wirken auch in wesentlich aussagekräftigeren Akten öffentlicher Stellen Niederschlag gefunden hat, die noch heute zu finden sind. Die Suche nach solchen Unterlagen sollte sich an den Lebensstationen der Person orientieren, gefolgt von der Frage: In das Blickfeld welcher öffentlicher Stelle könnte die Person zu dieser jeweiligen Zeit geraten sein? Dies beginnt mit dem Studium, das traditionell eine prägende Erfahrung von Eliten war. Nicht alle Universitäten verfügen über ein eigenes Archiv, jedoch müssen hier nur die älteren Hochschulen in den Blick genommen werden, die meist ein solches unterhalten. Wenn es etwa um Industrielle aus dem Ruhrgebiet geht, so besteht die Möglichkeit, dass ihre Weltanschauung durch ein Studium an der nahen Universität Münster geprägt wurde. Deren Archiv (http://www.uni-muenster.de/Archiv/) verwahrt reichhaltige Bestände u. a. von Promotionsakten, die einschlägig sind, wenn die gesuchte Person promoviert hat. Dort ist dann in der Regel ein eigenhändiger Lebenslauf zu finden, der Aufschluss über das Selbstbild und Selbstverständnis der Person bieten kann, noch bevor der Umbruch von 1945 vielleicht zu einer Revision der Haltungen geführt hat. Möglicherweise hat die Person auch vor Antritt einer Stellung in einem Wirtschaftsunternehmen nach einem juristischen Studium das Referendariat durchlaufen und eine Position als Richter oder Staatsanwalt eingenommen. In diesem Fall könnte sich in dem Staatsarchiv, das für das Gericht oder die Staatsanwaltschaft zuständig ist, eine Personalakte aus dieser Zeit finden. Vielleicht war sie auch in der Kommunalpolitik tätig, so dass sich Spuren ihres Handelns in den Akten des jeweiligen Stadtarchivs finden können. War sie z. B. Träger des Bundesverdienstkreuzes, muss es eine Überlieferung zu der Person und zu den Gründen der Verleihung bei der dafür zuständigen Stelle geben. Diese ist ab 1949 das Bundespräsidialamt, dessen Überlieferung leicht im Bundesarchiv ausgemacht werden kann (Bestand B 122, http://www.bundesarchiv.de). Wenn es darum geht zu ermitteln, ob und wie eine Person Einfluss auf die Wirtschaftspolitik des Staates oder einer Stadt genommen hat, müssen die Akten der für eine solche Einflussnahme in Frage kommenden Stellen geprüft werden. Hier ist zum einen an das zuständige Fachressort zu denken, also an die Wirtschaftsministerien auf zentraler Ebene und in den Ländern bzw. an die mit wirtschaftlichen Fragen befassten Fachabteilungen von Regierungspräsidien, Landkreis- oder Stadtverwaltungen. Sodann müssen die jeweiligen Spitzen von Regierung und Verwaltung in den Blick genommen werden, denn bei einem hohen Grad von Einflussnahme können Schreiben ja auch direkt an den Regierungschef, Regierungspräsidenten oder Bürgermeister gerichtet worden sein. All die hier in Frage kommenden Bestände sind leicht zu ermitteln, weil bei ihrer Bildung schon das Provenienzprinzip zugrunde lag. Einzig zu berücksichtigen ist der Einschnitt des Jahres 1945, der vielfach bei archivischen Bestandsbildungen eine Grenze darstellt. Der Bestand R 3101 des Bundesarchivs enthält so die Akten des Reichswirtschaftsministeriums bis 1946 und ist in Berlin zu finden, während die Überlieferung des Bundeswirtschaftsministeriums im Bestand B 102 des Bundesarchivs im Standort Koblenz zu suchen ist (http://www.bundesarchiv.de). Diese Überlieferung setzt 1945 ein, womit sich eine Überschneidung er-

5. Zeitgeschichte

gibt, die dem Umstand geschuldet ist, dass trotz aller politischen Umbrüche bestimmte Akten im neuen Ministerium weitergeführt wurden. Analog zu diesen zentralen Beständen lassen sich dann die Bestände der Zonenverwaltungen der Besatzungszonen und der Wirtschaftsministerien der Länder ermitteln. So enthält der Bestand „Thüringisches Wirtschaftsministerium“ des Hauptstaatsarchivs Weimar die entsprechende Überlieferung bis 1945 für Thüringen (http://www.thueringen.de/de/staatsarchive/weimar/ index.html). Um die Nachfolgebestände für die Zeit ab 1945 zu ermitteln, ist wiederum die politische Geschichte zu berücksichtigen. Nachdem in der DDR die Länder zugunsten von Bezirken aufgelöst worden waren, konnte es zwangsläufig keine Länder-Wirtschaftsministerien mehr geben. So sind für die Zeit ab 1945 u. a. wieder die DDR-Bestände des Bundesarchivs heranzuziehen. Die Recherche auf der zentralen Ebene darf nicht bei den Wirtschaftsministerien stehen bleiben, denn je nach Zeit und politischem System gab es mehr oder weniger zahlreiche Stellen, die ebenfalls eine Zuständigkeit in wirtschaftlichen Fragen hatten und deren Bestände daher zu konsultieren sein können. So könnte für die Zeit vor 1945 das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion (Bundesarchiv Bestand R 3) von hohem Interesse sein, für die Zeit nach 1945 das Bundesministerium für den Marshallplan (Bundesarchiv Bestand B 146). Die Zahl der mit wirtschaftlichen Fragen befassten Stellen auf zentraler, mittlerer und unterer Verwaltungsebene und der flächendeckend in den Staats- und Kommunalarchiven vorhandenen Überlieferungen dazu ist so groß, dass der Benutzer tatsächlich eher eine sinnvolle Eingrenzung seines Themas finden muss, als dass er unter Quellenmangel leiden wird. Die verfügbare Quellenmasse steigt weiter, wenn der Umstand berücksichtigt wird, dass neben der Verwaltung immer auch die politischen Parteien manchmal direkt, manchmal indirekt in hohem Maße in die Formulierung der Wirtschaftspolitik einbezogen waren und sind. Da die NSDAP und die SED in sehr direkter Weise in den staatlichen Bereich hereinwirkten, wurden ihre Unterlagen keinem Parteiarchiv, sondern dem Bundesarchiv zugeschlagen, wo sie parallel zu den jeweiligen staatlichen Unterlagen genutzt werden sollten. Die Unterlagen der politischen Parteien der Bundesrepublik sind in den für alle im Bundestag vertetenen Parteien bestehenden Parteiarchiven zu suchen (http://www.archivschule.de – Archive im Internet – Archive in Deutschland – Archive polit. Stiftungen). Abschließend sollen noch einmal die Personen der Unternehmer und Industriellen selbst in den Blick genommen werden. Für die Frage, ob sie dem nationalsozialistischen Regime nahestanden oder nicht, sind natürlich alle nach 1945 entstandenen Akten zu einer eventuellen Strafverfolgung oder zur Entnazifizierung interessant. Ob jemand Parteimitglied war oder der SS oder SA angehörte, lässt sich im Berlin Document Center (BDC) ermitteln, das ursprünglich zu Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen von der amerikanischen Besatzungsmacht ohne Berücksichtigung von Provenienzen zusammengetragen wurde. Es ist mittlerweile im Rahmen des Bundesarchivs der Forschung zugänglich und enthält dazu u. a. die zentrale Mitgliederkartei der NSDAP (http://www.bundesarchiv.de). Der Vorgang der Entnazifizierung ist dann in den in den Staatsarchiven überlieferten Spruchkam-

Parteien

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III. Recherchestrategien in den historischen Wissenschaften

Justizakten

merakten nachzuvollziehen. Dazu ist allerdings zunächst zu ermitteln, wo die betreffende Person zum Zeitpunkt der Entnazifizierung gewohnt hat. Sollte es zu einem Prozess gegen die Person gekommen sein, so ist die Prozessakte in dem Staatsarchiv zu suchen, das für das entsprechende Gericht zuständig ist. Alternativ lohnt sich ein Blick nach Ludwigsburg, wo mittlerweile die Unterlagen der ehemaligen Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen als Bestand B 162 dem Bundesarchiv zugeschlagen wurden (http://www.bundesarchiv.de). Dabei handelt es sich um Unterlagen, die Strafermittlungsbehörden zu einzelnen Tatkomplexen und Ermittlungsverfahren angelegt haben, darunter auch Kopien von Archivgut anderer Provenienz.

IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften 1. Zur wissenschaftlichen Aktualität von Archiven Der Praxisteil in diesem Band hat Handlungsanweisungen und Hilfen für das sinnvolle Verhalten in Archiven und den sachgerechten Umgang mit ihren Beständen, den Archivalien, vermittelt. In diesem Kapitel wird gezeigt, welchen Gewinn die Arbeit im Archiv für Literatur- und Kulturwissenschaftler haben kann. Zunächst gilt es, einen Blick auf den derzeitigen Wissenschaftsdiskurs zu werfen, um sich der Aktualität der Archivarbeit zu vergewissern. Der Begriff „Archiv“ lässt sich heute nicht mehr unreflektiert gebrauchen. Infolge einer Archivstruktur, die sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelt hatte, und einem besonders durch die historische Forschung festgelegten Verständnis davon, was ein „Archiv“ ist, schien der Archiv-Begriff bisher für immer festzustehen. Doch nicht nur unterschiedliche Praxis der Sammlung von Nachlässen, von Bild- und anderen Medien, die die klassischen Inhalte von Archiven ergänzen, hat die Vorstellung von Archiven und ihrer Bedeutung für die Kulturwissenschaften verändert, sondern die Theoriebildung insgesamt. Auch hier trifft zu, was für viele Bereiche der Philosophie und Kulturkritik im 20. Jahrhundert gilt, nämlich dass vor allem die französischen Intellektuellendiskurse zum Überdenken eingefahrener Wege und zu Neuansätzen geführt haben. Die Diskussion über den patrimoine national, die Definition des nationalen Kulturerbes, hat zu einem ausgeweiteten Verständnis all dessen geführt, was Anteil am früher Geschehenen hat. Man erkannte, dass die Interpretation der Vergangenheit davon abhängig ist, woran sich Menschen erinnern. Damit wurde die Vorstellung von Geschichte vom „Geschehenen“ auf die Totalität des von der Gesellschaft „Erinnerten“ verlagert. Vor allem der französische Historiker Pierre Nora hat diese Fokussierung auf die mémoire entschieden vorangetrieben und gezeigt, dass sich diese Erinnerung sehr oft an einzelne Orte, die lieux de mémoire, bindet. Weimar z. B. erinnert an Goethe und Schiller, die herausragenden Vertreter der deutschen Klassik, die das deutsche Bildungssystem entscheidend geprägt haben. Die Etablierung einer Erforschung der lieux de mémoire hat eine Aufwertung der Archive bewirkt, denn in ihnen finden sich die Quellen, die die Besonderheit dieser Orte bekunden. Nur durch die aktualisierbaren Symbole der Vergangenheit lässt sich überhaupt etwas vom Ereignis Geschichte fixieren und aussagen, wie die lieux de mémoire zustande gekommen sind. Der Begriff „Erinnerungsorte“, der sich im Anschluss an Nora als deutschsprachiges Pendant durchgesetzt hat, suggeriert, dass hier optisch evidente „Orte“ gemeint waren. Doch Archive sind in einem besonderen Maße Quellen einer solchen mémoire, weil sie ein höheres und differenzierteres Maß an Entdeckbarem aufweisen als die steinernen Monumente.

Archive im kulturwissenschaftlichen Diskurs

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften Erinnerungsorte

Identitätsbildungsprozesse

Die Forschung in Deutschland hat viel von den Franzosen gelernt und blieb von deren Blickweise nicht unberührt. Die lieux de mémoire, so zeigt der Rezeptionsprozess, gab es auch hierzulande. Denkmäler und Mythen als feste und virtuelle Erinnerungsorte wurden damit neu entdeckt, wie dies in einer bemerkenswerten mehrbändigen Publikation deutlich wurde. Was, so galt es zu fragen, kann Träger von Erinnerung sein? Die von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebene Trilogie „Deutsche Erinnerungsorte“ vermeidet die einseitige Bindung eines erinnerungsstrukturierendem Gedächtnisses an die optische, topographisch fixierbare Evidenz nationaler Symbole. Stattdessen zeigen die Beiträge, welche differenzierten historischen Erfahrungen sich in Ritualen wie dem Karneval, der Hausmusik oder dem deutschen Wald niedergeschlagen haben. Dass hier in umfangreichen Maße Archivalien zur Beweisführung herangezogen wurden, versteht sich für den Historiker von selbst. Doch darüber hinaus konnte auch gezeigt werden, wie die Orte des Aufbewahrens von Kulturgütern, unter denen die Archive eine herausragende Stelle einnehmen, selbst Teil hatten am Gewinn des Status evidenter Erinnerungsorte. Schon lange hatten sie die Archivund Museumslandschaft mitgeprägt, wie sich am Beispiel der Berliner Museumsinsel belegen lässt. Hier zeigt sich der Geist der preußischen Reformer des frühen 19. Jahrhunderts, dem wir bis heute unsere Universitätsidee zu verdanken haben. Preußen erscheint als ein Staat, der getragen wurde von der Idee nicht nur der Bildung der eigenen Bürger, sondern der aller Menschen. Entsprechend verzichtete man auf Denkmäler, die nur den Ruhm militärischer Stärke in Stein gehauen hätten. Selbst den verführerischen Symbolwert des Sieges über Napoleon ließ man ungenutzt, um die Vision von einer humanistischen, einer verklärten griechischen Klassik zugeschriebenen Zivilgesellschaft zu pflegen. Zu ihr gehörten Museen und Archive. Auch in Bezug auf die Öffentlichkeit dieser Institutionen gab es einen Paradigmenwechsel. Statt der demonstrativen Hermetik absolutistischer Macht öffnete der preußische König seine Schlösser und Sammlungen, um die Bürger an deren ästhetischer Ausstrahlung teilhaben zu lassen und mit der ästhetischen Erfahrung auch das entsprechende Bildungsziel zu sichern. Dahinter stand die universalistische Idee von der Bedeutung der geistigen „Denkmäler“ für die Bildung der Menschheit. Die Quelle für einen Archivbegriff freilich, der aus einer unbewussten Ablage von nicht mehr gebrauchten Akten einen bewussten Akt der Sicherung von Daten und darüber hinaus der selbstbewussten Etablierung eines Hortes nationaler Identität machte, können wir schon sehr viel früher suchen. Wieder einmal zeigten die französische Geistesentwicklung und die daraus folgenden politischen Ereignisse Wirkung: 1789 wurde mit der französischen Revolution zugleich ihre Archivierung beschlossen. Im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts lag der Beginn eines eigenwilligen Archivbegriffs, nicht zuletzt, weil es seit einem Dekret von 1794 zu den Prinzipien revolutionären Denkens gehörte, Archive öffentlich zugänglich zu machen. Schon hier war man sich bewusst, dass Archive nicht nur als spezifisches Speichermedium, sondern zugleich auch als wesentlicher Garant für Identitätsbildungsprozesse entdeckt und anerkannt werden mussten. Ihr Anteil an der Konstruktion von Geschichte war nicht zu überschätzen; entsprechend war ihnen nun ein höheres Maß an Aufmerksamkeit sicher. Dies gilt für alle

1. Zur wissenschaftlichen Aktualität von Archiven

Zeiten des politischen Umbruchs und einer zunehmenden Sensibilisierung für politische Veränderungen. Nach der Auflösung der DDR haben wir ein gleich großes Bedürfnis nach Akteneinsicht. Auch hier gewann, wie eingangs betont, ein Archiv, das des Ministeriums für Staatssicherheit, als „Stasi“ berühmt und berüchtigt, eine eminent politische Bedeutung. Doch es bedarf nicht der Krisensituation, um die Bedeutung von Archiven zu bemerken. Auch der aktuelle kulturwissenschaftliche Diskurs, der sich durch den Wandel von einer historisierenden zu einer substantialistischen Auffassung von Archiven auszeichnet, veränderte deren Einschätzung. Der Konstruktionscharakter, der sich hinter allem Sammeln und Suchen ausmachen lässt, zählt heute zu den unumstößlichen Erkenntnissen. Mit der Sammlung von Rechtsurkunden und der Aufbewahrung von Verwaltungsund Politikbelegen wurde die Grundlage für eine juristisch relevante Quellenarbeit geschaffen. Man stellte sich vor, dass die Urkunden einerseits die Genese eines Rechtsvorgangs belegen, also ein Ereignis aus der Vergangenheit dokumentieren, dass sie andererseits aber auch in der Zukunft wichtig werden könnten, etwa in einem Konfliktfall. Damit hatte man, wenn auch unreflektiert, eine virtuelle Zeitachse entworfen und unbewusst Gedächtnisarbeit geleistet. Diese Qualität von Archiven, Stütze des Gedächtnisses zu sein, gewinnt mit der Neuentdeckung des Archivs durch die Gedächtnisforschung an Bedeutung. Ging es bisher eher um Rechtssicherheit, durch die Vorgänge der Vergangenheit auf ihre rechtlichen Implikationen hin abrufund rekonstruierbar wurden, geht es nun um eine kulturelle Mittlerleistung für künftige Generationen. Das Augenmerk richtet sich zunehmend von der Anlage von Archiven auf deren immanenten Sinn und die Möglichkeit der Partizipation, gleich ob in kritischer oder akklamativer Absicht. Die derzeitigen weltweiten Probleme verstärken und aktualisieren das Interesse an Archiven. Denn je mehr das national und individuell geprägte Selbstverständnis im Zeitalter der Globalisierung auf dem Prüfstand steht, desto wichtiger wird ein Archiv, das zur Sicherung von Identität beiträgt. Damit wird die Bedeutung von Archiven auch für die Zukunft gesichert, ganz unabhängig davon, ob sie Dokumente von höchster politischer Brisanz bergen oder Zeugnis von der Lebensweise und Kultur gegenwärtiger oder vergangener Generationen ablegen. Noch in einem weiteren, benachbarten Kontext aktueller Forschung erhalten Archive zunehmende Bedeutung: in Fragen des Kulturtransfers und der Genese kultureller Identität. Die unreflektierte Vorstellung, dass die eigene Lebenswelt von stabilen Mustern geprägt sei, ließ sich vielfach widerlegen, etwa im Hinblick auf die Überschreibungen, mit denen sich – etwa durch Kriege – bis dahin fremde kulturelle Vorstellungen über die eigenen gelegt hatten. Archive haben in diesem Kontext eine besondere Aufgabe: Sie haben nämlich nicht nur teil am Konstruktionscharakter von Erinnerung, sondern Archivalien sind ebenso in der Lage, falsche Vorstellungen über die Genese der eigenen Kultur zu revidieren und deren Beliebigkeit kenntlich zu machen. Waren Archive gerade im Zeichen eines Prozesses zunehmender Nationalisierung nicht selten Diener einer Vorstellung von kulturell stabilen Erinnerungsgemeinschaften, werden sie im Zeichen der Kulturtransferforschung und ihrem Anteil am Fremden im Eigenen zu Zeugen eines übernationalen Kulturgedächtnisses.

Konstruktion von Erinnerung

Kulturtransfer

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Kollektive Erinnerung

Dies bewusst gemacht zu haben, ist vor allem den Forschungen des Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann zu verdanken, der sich auf die Arbeiten des französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs stützt. Assmann hält fest, dass Vergangenheit das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion und Repräsentation ist, die sich als Bündel aus spezifischen Motiven, Erwartungen, Hoffnungen, Zielen erweist und in die Gegenwart einschreibt. Bemerkenswert für die Konstruktion von Geschichte ist dabei vor allem der Übergang von der rituell-kultischen Vermittlung von Sinn zur Textkultur. Diese exorbitante Kulturleistung ermöglicht erst die Herstellung kultureller Kohärenz, durch die sich Gesellschaften im besten Falle auszeichnen. Sie setzt eine intakte und einsetzbare Mnemotechnik voraus, also die Speicherung, Reaktivierung und Vermittlung von Erinnerungs-Sinn. Erst diese Gedächtnisleistung sichert die Kontinuität und damit die Identität. Identität ist abhängig von Gedächtnis und Erinnerung. Kulturelle Gedächtnisse leben so lange von rituellen Praktiken, wie diese Gültigkeit haben und in der Wiederholung ihre Berechtigung legitimieren. Aus dieser schriftlosen Kultur aber müssen sie in eine textuelle Praxis übergehen, um nach Ablösung ihrer Ritualität als Erinnerung übrig zu bleiben. Der Weg dorthin führt über das Archiv. Die Identität von Gesellschaften umfasst nicht nur die geltenden, bewussten Normen, sondern bedarf auch eines die eigene Geschichte einbeziehenden Bewusstseins. Man muss sich über die unbewussten Selbstbilder Klarheit verschaffen, und zwar im individuellen wie im kollektiven Leben. Zur Gewinnung von Kategorien und Formen einer kollektiven Selbstvorstellung und einer entsprechenden Selbstdarstellung sind Archive also unerlässlich, ebenso im Hinblick auf die Rolle, die der kollektiven Erinnerung dabei zukommt. Das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit, das als kollektive Identität bezeichnet wird, beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis. Es bedarf aber eines gemeinsamen Symbolsystems. Zu ihm zählt an herausragender Stelle eine gemeinsame Sprache. Es geht aber nicht nur um Wörter, Sätze und Texte, sondern auch um ritualisierte Lebensabläufe und gesellschaftliche Strukturen, von der Haartracht bis zu Formen des Essens und Trinkens. Monumente, Bilder und Landschaften, Wege und Grenzen können als Markierungen und Zeichen zur Kodierung von Gemeinsamkeit beitragen. Entscheidend ist dabei nicht das Medium, sondern die Symbolfunktion und Zeichenstruktur. Assmann nennt diesen Komplex an symbolisch vermittelter Gemeinsamkeit und einem die Gemeinschaft fundierenden Prozess „Kultur“, oder genauer, „kulturelle Formation“ (Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 3. Aufl. München 2000, S. 139). Der Fundierung einer solchen Kultur wird dabei ein ebenso hoher Wert beigemessen wie der Reproduktion, denn nur im Verbund ergibt sich das Medium, durch das eine kollektive Identität konstruiert wird und über Zeiten und Generationen hinweg erhalten bleibt. Archive, Archivare, Archivwissenschaftler und nicht zuletzt die Benutzer von Archiven dürfen sich also als Insassen eines gemeinsamen Bootes verstehen, mitverantwortlich für ihre eigene kulturelle Identität. Wenn das kulturelle Gedächtnis in der Medialität der Schrift zum Träger kultureller Identität wird, sind wir mit-

1. Zur wissenschaftlichen Aktualität von Archiven

ten im Archiv gelandet, denn keine andere Instanz sichert dieses Gedächtnis so authentisch wie die schriftlichen Quellen, die dort lagern, rettet sie – die oben bereits beschriebenen barbarischen Zerstörungsphasen einmal ausklammernd – auch über die Zeiten hinweg, in denen sie als verstaubte Relikte vergangener Jahrhunderte unbeachtet blieben. Wo vergessen wird, wird auch erinnert. Vergessen und Erinnern strukturieren unser Dasein, so betont die Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, denn jedes Erinnern wird von den Rändern des Vergessens her profiliert. Zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis harrt der Bereich des Archivs, den der Essayist Friedrich Georg Jünger mit einem reizvollen Begriff den Ort des „Verwahrensvergessens“ nennt. In diesem Sinne erhält der Titel „Erinnerungsräume“, den Aleida Assmann ihrer grundlegenden Arbeit zu „Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses“ gibt, einen doppelten Sinn: Zum einen setzt er den Bezugsrahmen, in dem sich Identität bildet, sei er topographisch, politisch oder privatistisch gezogen. Zum anderen bezeichnet er den Entwurf von Erinnerung, der in diesem je eigenen und sich zugleich vernetzenden Feld von nationaler, kollektiver und persönlicher Identität angelegt wird. Der 60 Jahre nach Kriegsende immer noch mächtig wirkende Strom der Erinnerung, den die Medien vermitteln, ist dafür ein Beweis. Hier zeigt sich die Leistungsfähigkeit des „Speichergedächtnisses“, das sich in jedem Leben anlegt, und die Relevanz, die es erhält, wenn es als „Funktionsgedächtnis“, als Erinnerungsträger für die Verletzungen, die Krieg und Vertreibung angerichtet haben, genutzt wird. Als der Deutschlandfunk 2004 zur Erinnerung an den 90 Jahre zurückliegenden Ersten Weltkrieg um Zusendung von Feldpostbriefen aus privaten Archiven aufrief, konnte der Autor Gerd Krumeich sich vor Zuschriften kaum retten. Die Kriegsbriefe, die in der Sendefolge zitiert wurden, waren von hoher Authentizität, aber auch von erschütternder Aktualität. Sie zeigten nicht nur die Empfindungen derer, die unmittelbar am damaligen Geschehen teilhatten, sondern wirkten in unserer ebenso von Unruhen gezeichneten Zeit als Fanal für den Angriff aller Kriege auf die Menschenwürde. Die zunächst nur den privaten Schmerz archivierenden Briefe erhielten über ihre Funktion als Erinnerungsmedium hinaus eine politische Funktion. Die Kriegsbriefe des Ersten Weltkrieges konnten zeigen, welche Bedeutung der Anlage privater Archive, ja der Konstruktion von Erinnerung insgesamt zukommt. Die Beispiele ließen sich ohne Schwierigkeiten ergänzen. Sie machen vor allem bewusst, dass sich die Interessen an einzelnen Archivalien ebenso wie die an ganzen Sammlungen in dem Maße ändern können, wie sich Geschichte als Prozess erweist. Es lässt sich daher fragen, nach welchen Intentionen öffentliche Sammlungen und Archive insgesamt angelegt wurden und welchen Bedeutungswandel sie erfahren können. An diesem Bedeutungswandel haben Archive in besonderer Weise aktiv und passiv teil. Geistesgeschichte und die sie prägenden paradigmatischen Wechsel lassen sich zunächst an den Sammlungsideen ihrer Zeit und der Gründung entsprechender Museen und Archive ablesen. Dies gilt für die Zeiten einer aufgeklärten Gesellschaft ebenso wie für Zeiten des Imperialismus. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden die großen Natur- und Völkerkundesammlungen, die über die Spiegelung wirtschaftlicher und politischer Interessen der Zeit hinaus ihren Niederschlag in Kunst

Vergessen und Erinnern

Geschichte der Sammlungsideen

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Begegnung mit dem Fremden

Literaturarchive

und Literatur gefunden haben. Diese Sammlungen konnten aber auch vom Rezipienten, am Interesse der Sammler vorbei, aktualisiert werden. Was, um ein Beispiel zu nennen, dem imperialen Gestus des 19. Jahrhunderts entsprechend angelegt war, konnte zu Beginn des darauf folgenden Säkulums unter einer veränderten Bewusstseinshaltung ganz anders wirken: Die Künstler der Dresdner „Brücke“ haben in ihren frühexpressionistischen Paradiesbildern eine „unmittelbare“ Naturerfahrung verarbeitet, die sich ebenso aus der Idylle der Moritzburger Seen wie aus dem Dresdener Völkerkundemuseum speiste, das die Maler wie ihr eigenes Wohnzimmer betrachteten. Die Suche nach Ursprünglichkeit, dem adamitischen Menschen, und das Bedürfnis, Kunst wieder als kultisches Ereignis zu begreifen, motivierte nicht nur Künstler, sondern auch Schriftsteller zur Suche nach Quellen, die sie durchaus im heimischen Archiv finden konnten. Nicht nur museale Bestände wurden wirksam. Aufzeichnungen von Expeditionen in afrikanische und südostasiatische Länder fanden sich vielerorts. Alfred Döblin verbrachte jede freie Minute, die seine anstrengende Tätigkeit als Arzt ihm gewährte, in Berliner Archiven und schuf mit Hilfe der dort recherchierten Quellen für seine exotistischen Romane einen authentischen Hintergrund. Der expressionistische Schriftsteller Carl Einstein begeisterte seine Zeitgenossen mit Nachdichtungen aus dem Afrikanischen, für die er die Vorlagen nicht auf dem schwarzen Kontinent, sondern in heimatlichen Beständen fand. Der Exotismus basierte also nur zu einem geringen Teil auf konkreter Erfahrung. Von Kirchner bis Döblin haben die Sammlungen in Museen und Archiven ihre Wirkung gezeigt. Die Begegnung mit dem Fremden, das Spiel mit der Suche nach der eigenen Identität, hat nicht nur die Künstler und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts bewegt. Zunehmend spielt die Verwischung kultureller Grenzen heute in jede Lebensrealität hinein. Auch damit hat sich der Blick auf fremde Kulturen in der Wissenschaft als Blick auf das Eigene und damit auf das, was Archive an Vergangenem bereithalten, gestärkt. Ein abschließender Blick nach diesen wissenschaftstheoretischen und -historischen Reflexionen gilt der Genese des Archivtyps, der am Anfang der Entwicklung kulturhistorischer Sammlungsideen stand: dem Typ des Literaturarchivs, das wie so viele Institutionen ein Kind des 19. Jahrhunderts war. Aufklärerische Ideen, wie wir sie im Kontext der preußischen Reformer finden, verbunden mit dem breiten Strom der Klassik in Kunst und Literatur, bewirkten die Abweichung von einer Sammelidee, die auf Herrschaftslegitimation basierte. Definition und Arbeit von Archiven änderten sich grundlegend. Dies gilt vor allem für die Archive, die nicht aus politischen Gründen heraus entstanden waren, sondern von Anbeginn an dem Aufbau einer kulturellen Identität dienen sollten, also in erster Linie für die Literaturarchive. Goethe hatte mit seiner Idee von Weltliteratur zugleich die Vorstellung von einem Archiv, das als Sammlung von Zeugnissen dieser Menschheitsidee dienen sollte. Seine Vorstellungen von einem Kulturarchiv gingen in das 1855 gegründete Goethe-Schiller-Archiv in Weimar ein, der Stätte klassischer literarischer Bildung. Die Weimarer freilich bauten letztlich weniger auf Goethes Idee von Weltliteratur als auf die Ideen Wilhelm Diltheys, der 1889 in einem programmatischen Vortrag zur Gründung von Literaturarchiven, analog zu den Staatsarchiven, aufgerufen hatte. Damit geriet das he-

2. Schlüsselkompetenzen

rausragende erste deutsche Literaturarchiv, analog zur Germanistik, in den Sog der Zeit. Unter seinem Leiter, dem Germanisten Julius Petersen, hatte es sich die Kanonisierung der staatstragenden Dichter vorgenommen und instrumentalisierte deren Aura für das neue kaiserliche Deutschland. Dennoch hat das Weimarer Archiv vieles von seiner Ursprungsidee retten können, selbst als dies in Zeiten ideologischer Instrumentalisierungen im 20. Jahrhundert erstickt zu werden drohte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der Nazidiktatur fiel die kleine ehemalige Residenzstadt Weimar und mit ihr die klassischen Literaturmuseen in den Herrschaftsbereich der Sowjetunion und der DDR. Die notwendige Weiterführung der nationalen Sammlungsaufgabe in der Bundesrepublik gelang in Form des neu aufgebauten Deutschen Literaturarchivs in Schillers Geburtsstadt Marbach am Neckar. Das dortige Schiller-Nationalmuseum erweiterte seinen Sammlungsauftrag, die schwäbischen Geistesgrößen von Mörike bis zu Hegel und Uhland, nicht zuletzt Schiller selbst bekannt zu machen, um den Aspekt, als Sammelstelle für literarische Nachlässe generell zu fungieren und eine entsprechende archivarische, philologische und museale Funktion zu übernehmen. Dies ist mit großem Erfolg geschehen, so dass in Marbach z. B. die größte Expressionistensammlung entstehen konnte. Heute wird ein Großteil der literarischen Nachlässe von Gewicht dort archiviert. Dennoch war es ein vergleichsweise einfaches Unterfangen, beide Archive, Weimar und Marbach, nach der Wende wieder zusammenzuführen. Beide fühlten sich trotz unterschiedlicher politischer Systeme nicht nur einem ursprünglichen geistigen Anspruch verpflichtet, sondern auch den international geltenden wissenschaftlichen Normen. In beiden Institutionen galten die gleichen Regeln für die Bearbeitung der Archivbestände, wurden gleiche Arbeitsschwerpunkte gesetzt. Sie leiteten ihre Ausführung von der Genese philologischer Praxis ab, die, älter als die politischen Strukturen, sich in ihrer wissenschaftlichen Strenge bewährt hatten. In ihnen spielte der Umgang mit Archivalien zum Gebrauch die entscheidende Rolle. Der praktischen Archivarbeit gilt im Folgenden das besondere Interesse.

2. Schlüsselkompetenzen Hat es im Zeitalter scheinbar omnipotenter technischer Möglichkeiten überhaupt noch Sinn, auf die ebenso scheinbar antiquierte Datenbasis Archiv zurückzugreifen? Ein Blick auf ein breit gefächertes Feld möglicher Anwendungen zeigt, dass Archive jetzt erst ihre volle Potenz entfalten. Allzu lange haben sie ein Schattendasein gefristet, nun haben sie teil am weltweiten Netz. Seitdem klar geworden ist, dass das Suchen eine produktive Tätigkeit ist und dass die Anwendung einer Suchmaschine und entsprechender Programme ganz ungeahnte Schätze zutage fördert, dürfte die Hemmschwelle niedriger liegen und der Ruf „Rein ins Archiv“ auf ungeahnte Resonanz stoßen. Fallen muss lediglich das Vorurteil, dass zwischen einem klassischen Archiv und einer Google-Maschine unüberbrückbare Welten liegen und Archive nicht mit der Zeit gegangen sind. Zwar unterscheidet sich das klassische Archiv in seiner auf Schrift basierenden Stabilität vom Fluss der digitalen Datenströme, doch kann dies nur für das klassische Archiv sprechen.

Archive im digitalen Zeitalter

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Archivferne der Literaturwissenschaft

Studienpraxis für Kulturwissenschaftler

Denn den im materialen Schreiben angeblich angelegten Erfahrungen von ,Tiefe‘, ,Hintergrund‘, ,Sedimentierung‘ und ,Schichtung‘ steht unter elektronischen Bedingungen nur die ,Oberfläche‘ gegenüber. Hinter ihr verbergen sich nicht mehr als gerechnete Zustände und Schaltungen im Code von 1 und 0. Erinnert werden muss deshalb, ohne in Kulturskepsis zu erstarren, an die Leistungsfähigkeit von klassischen Archiven gegenüber einer zunehmend dominanten Präsenz elektronischer Medien. Das Spektrum der Anwendbarkeit archivarischer Kompetenz im Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaften ist hier von besonderem Interesse. Weithin immer noch gültige Studienordnungen und eine entsprechende Praxis an den meisten literaturwissenschaftlichen Seminaren zeigen ein Dilemma: So selbstverständlich für Historiker die Arbeit im Archiv auch sein mag, so wenig fühlen sich Philologen und Kulturwissenschaftler davon angesprochen. Erst allmählich, nicht zuletzt unter dem Zwang größerer Praxisnähe, kommt Bewegung in die universitäre Landschaft. Immerhin ist der Erwerb von Archivkompetenz oft bereits Teil der neuen BA-Studiengänge. Ansatzpunkt für eine Integration der Archivarbeit besonders auch in neue Studiengänge ist die Benennung praxisnaher Studienziele. Durch Archivarbeit lassen sich entscheidende Schlüsselqualifikationen gewinnen. Zu den Berufsmöglichkeiten, die sie eröffnen, gehören beispielsweise auch die tradierten geisteswissenschaftlichen Arbeitsfelder der Editorik und Textphilologie. Bei der Frage nach der Realisierung der zukünftigen Studienpraxis geraten zwei Aspekte in den Blick: Einerseits müssen Archive sich selbst öffnen und dem Benutzer Kooperationsbereitschaft signalisieren, andererseits muss der potenzielle Benutzer die Schwellenangst überwinden, die ihm die unbekannte Größe Archiv einflößt. Voraussetzung für eine sinnvolle Nutzung von Archiven ist die Einsicht in deren Leistungsfähigkeit. Archive sind keine Monolithen in der Gesellschaft, unüberwindliche, steinerne Blöcke, die man tunlichst flink umkreisen sollte, um sie wie ein Hindernis hinter sich zu bringen. Wenn man sie scheut, weil sie unheimlich und undurchschaubar erscheinen, reicht es, sie einfach nicht zu beachten, in dem sicheren Wissen, dass sie sich nicht selber aktivieren können. Das ist, vor allem unter dem Aspekt einer effektiven und originellen Arbeit im geisteswissenschaftlichen Bereich, eine Kurzschlusshandlung. Archive, so war zu lesen, sind unter historisch evidenten Zusammenhängen entstanden, jedes Archiv hat seine eigene Entstehungsgeschichte und dadurch bedingt oft eine eigenwillige Struktur. Eine so entstandene Ansammlung von Archivalien, umhüllt und abgesichert durch ein optisch präsentes Haus, muss zunächst erobert werden. Beim Historischen Archiv der Stadt Köln ist dies geradezu wörtlich zu verstehen, denn auf der Severinstraße, einer typisch kölnischen Stadtteilmeile, steht es wie eine Trutzburg, schießschartenbewehrt, mit fast fensterloser Fassade. Dennoch wird man, einmal mutig eingetreten und gut beraten, die wundervollsten Nachlässe finden, nicht zuletzt den des Kölner Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll. Die Institution Archiv, gleich welcher Größenordnung, erhält also erst dann einen gesellschaftlich kommunizierbaren Zusammenhang, wenn sie wahrgenommen, unter spezifischen Erkenntnisinteressen ausgewertet, zu aussagekräftigen Ergebnissen verdichtet und strukturiert und in angemessenen, d. h. rezipierbaren Ergebnissen der Öffentlichkeit vermittelt wird. Bei rechtem Ge-

2. Schlüsselkompetenzen

brauch werden in einem Archiv mehrere Schlüsselkompetenzen erworben, mit denen man als Kultur- und Literaturwissenschaftler sowohl während des Studiums als auch in der beruflichen Praxis reüssieren kann. Wie in einer rhetorischen Klimax lassen sich drei Kompetenzen nennen: die Suchkompetenz, die Analysekompetenz sowie die studien- und berufsbezogene Verwertungskompetenz. Diese drei Kompetenzen stehen in einer logischen Reihenfolge: Zunächst gilt es, mit dem Suchen selbst den Zugang zum Archiv zu finden. Die philologische Kompetenz zeigt, dass Archive nicht nur die spezifischen Interessen der Historiker bedienen, sondern dass die hermeneutischen Wissenschaften mit der Archivnutzung ihre Textarbeit zielorientiert verbessern können. Der abschließende, dritte Schritt eröffnet Wege der Übertragung in die Praxis für die Examenszeit und die berufliche Zukunft.

2.1. Suchkompetenz Dem Neueinsteiger in die Archivarbeit lässt sich mit so manchem Leseerlebnis, an das er sich noch erinnern mag, entgegenkommen. Die Arbeitsfelder Archivarbeit und Kriminalistik konvergieren in bemerkenswerter Weise. Der klassische Detektiv kann vom Archivar lernen, der Archivar und Forscher ist gut beraten, die Zielorientierung von Detektiven, einen „Fall“ lösen zu wollen, nicht aus dem Auge zu verlieren, um sich nicht im Angebot an Wegen und Irrwegen in seinen Beständen zu verlieren. Historiker haben sich durchaus als Detektive verstanden, denn ihre Recherche folgt der Logik von Gesellschaften und Geschichte. In ihrem Vortrag auf einem Düsseldorfer Kolloquium im Mai 2005 zum Thema „Spurensuche. Von Historikern und Detektiven“ hat Christiane Bruch dies am Beispiel der Jugendbuchserie „Die drei ???“ zeigen können, die ganze Generationen junger Leser geprägt hat. Die Bestsellerreihe schuf mit einer Trias von Juniordetektiven ein kindgerechtes Muster der klassischen Aufgabenteilung zur Aufklärung jeder Art von Verbrechen und durfte sich dabei sogar auf die Schirmherrschaft von Alfred Hitchcock berufen. In den Geschichten verknüpft der scharfe Verstand von Justus Jonas die von Peter Shaw zusammengetragenen Tatort-Fakten mit den von Bob Andrews mit Akribie und Kompetenz durchgeführten Recherchen im Archiv. So, wie die erfolgreiche Lösung aller Art kriminologischer Aufgaben das Ergebnis einer gebündelten sachgerechten Recherche ist, kann sich der Historiker ebenso wie der Literaturund Kulturwissenschaftler als berufsspezifischer Sachwalter aller „Fälle“ der Geschichte und Kulturgeschichte verstehen. Antriebskraft für beide, Detektiv und Wissenschaftler, ist die Neugier, wenn sie auch im Aktionsfeld Wissenschaft nicht unbeträchtlich anspruchsvoller auftritt. Voraussetzung ist dabei für den Wissenschaftler, den es in ein Archiv zieht, dass er seine erlernte Suchkompetenz gezielt einzusetzen weiß. Darüber hinaus darf er natürlich, wie die drei Detektive, über die prosaischen Ergebnisse hinaus auch den Lustgewinn und die Freude an der Lösung, sprich: an der Erkenntnis anstreben. Suchkompetenz und Neugier wachsen nicht zuletzt mit dem Einblick in die Möglichkeiten, die die Arbeit im Archiv bietet oder über die man durch neuere Forschungsaktivitäten aufgeklärt wird. Die Presse berichtet immer wieder über bemerkenswerte Zufallsfunde oder unerwartete Ergebnisse akribischer Recherche. Beim rechten Ge-

Detektivische Recherchewege?

Zufallsfunde

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

brauch von Archivalien tun sich immer wieder überraschende Netzwerke innerhalb der kulturellen Szene auf, eine Erfahrung, die jeder kennt, der sich mit einer gewissen Sicherheit in Archiven zu bewegen weiß. Als Einsteiger in die Welt des Archivs wird man aber bei der ersten Erkundung vernünftigerweise mit dem Überschaubaren beginnen. Fragen nach biographischen Zusammenhängen können dabei am Anfang stehen.

Personenrecherche Recherche nach Personen

Nachlässe

In der Regel wird das Interesse an Archiven durch das Interesse an einer Person der Kulturgeschichte geweckt. Man liest einen Roman eines bis dahin unbekannten Autors und möchte gern mehr über die Persönlichkeit des Schreibers erfahren. Auf die Seminarsituation bezogen könnte dies heißen, dass man einen Autor, dessen Werk besprochen wurde, vorstellen soll. Nun wird man, um Genaueres über einen Autor zu erfahren, kaum gleich in ein Archiv gehen. Hier helfen zunächst die klassischen Nachschlagewerke. Doch je intensiver man sich mit einem literarischen Werk beschäftigt, desto näher rückt über das Werk auch der Autor ins Interesse. Man kann fragen, welche unbekannten Quellen es gibt, um zu erfahren, wie denn der Erfolg des Autors zustande gekommen ist, welche Widerstände er zu überwinden hatte. Die Dinge können aber auch umgekehrt liegen, wenn man sich z. B. für einen eher unbekannten Schriftsteller interessiert, der nicht reüssieren konnte. Man wird Manuskripte einsehen, möglicherweise auch einen bisher übersehenen Aspekt für die Forschung entdecken wollen. Nicht gedruckte, der Auffindung harrende Manuskripte gibt es in fast allen Nachlässen. Nicht zuletzt vermittelt die Begegnung mit Archivbeständen auch etwas von der Aura der Persönlichkeit, die man an kaum einem anderen Ort so intensiv spürt wie bei der Sichtung des Nachlasses im Archiv. Wie begegnet der Literatur- und Kulturwissenschaftler den Dichter- und Künstlernachlässen, wie kann er sich auf sie einlassen und was kann er erwarten? Eine Annäherung an die Welt des Archivs führt hier zumeist über den Besuch und die intensive Recherche in einem solchen Nachlass. Briefe, Notizen, nicht gedruckte Manuskripte verraten nicht nur die ästhetischen Normen ihrer Zeit, sondern zeigen oft die Verletzlichkeiten und menschlichen Schwächen ihrer Verfasser, die zugleich Auskunft geben können über die Wertehierarchie einer Generation, über Selbstpositionierungen und Idealisierungen. Die Bandbreite der Archivalien reicht von einem zufällig übrig gebliebenen Konvolut persönlicher Aufzeichnungen bis zum geplanten, bereits für eine staunende Nachwelt vorgesehenen systematischen Aufbau eines personenbezogenen Archivs, das dann als Nachlass in einer öffentlichen Sammlung landet. Ein bewusst angelegtes Privatarchiv, für das wir Goethes akribische Sammelleidenschaft zum Idealbild nehmen können, kann durchaus als Versuch zur Konstruktion von Vergangenheit entlarvt und gewertet werden, frei nach dem Motto „Was möchte ich, dass die Nachwelt von mir weiß“. Tagebücher, die einen besonders ergiebigen Teil des Nachlasses ausmachen, sind oft im Bewusstsein der Zeitzeugenschaft geschrieben worden. Während Viktor Klemperer gezielt Aufzeichnungen zur Geschichte der Barbarei unter Hitler festhielt, sind Thomas Manns Notizen zwar scheinbar sehr persönlich, lassen aber ebenso einen faszinierenden

2. Schlüsselkompetenzen

Blick in eine komplexe Welt, das untergegangene Großbürgertum, zu. Beide haben ihre Zeit jedenfalls aus einem sehr subjektiven Blickwinkel und bewusst auswählend beschrieben. Noch stärker erweist sich die Briefkultur einer Zeit als Indikator. Wie Tagebücher enthalten Briefe eine Mischung aus Beobachtung und privaten Anmerkungen, oft auch Bekenntnissen. Oft liefen sie deshalb Gefahr, den Wechsel vom häuslichen Schreibtisch ins Archiv nicht unbeschadet zu überstehen. Es waren in vielen Fällen nicht einmal die Autoren selber, die manipulierend in die Bestände eingegriffen haben, sondern mehr oder weniger wohlmeinende Erben. Eines der bekanntesten Beispiele für eine systematisch verzerrte Quellenlage bietet das Weimarer Nietzsche-Archiv, das lange unter der strengen, aber philologisch unverantwortlichen Fuchtel von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche stand. Zu den Sünden, die bei solchen subjektiven Übergriffen zu beklagen sind, zählt die Eliminierung unliebsamer Archivalien. Allein die Frage, welche erwarteten Bestände nicht in einem Archiv aufgefunden werden, lässt dabei Rückschlüsse auf die Zeit der Entstehung der Quellen zu oder motiviert zu weiteren Recherchen in anderen Archiven. Diese Erfahrung lässt sich besonders dann machen, wenn man nach biographischen Zusammenhängen forscht und Briefe als besonders ergiebige Quelle sucht. Sehr oft sind nur die Briefe eines der Briefpartner auffindbar. Das geradezu klassische Beispiel für eine bewusste Löschung der Erinnerung an eine bestimmte Lebensphase wird schon von Generationen von Forschern bedauert: Frau von Stein hat ihre Briefe an Goethe zurückgefordert und vernichtet, als sich die Beziehung in einer Krise befand. Ein unerschöpflicher Fundus für die Empfindsamkeitskultur des späten 18. Jahrhunderts ging damit unwiederbringlich verloren. Hier stoßen wir aber bereits auf ein Problem, mit dem man bei einer solchen Recherche nach Briefen eines Autors konfrontiert wird. In einem Nachlass sind in der Regel nur die Briefe an den Nachlasser zu finden, so dass sich im Extremfall ein mühsames Suchen nach den Gegenbriefen ergibt – allerdings nur, wenn die Person nicht im Autographenkatalog der Staatsbibliothek zu Berlin geführt und über das Internet abrufbar ist. Nach Berlin haben der Großteil der deutschen Archive ihren Bestand an Briefwechseln gemeldet, so dass man mit nur geringem Aufwand dort erfahren kann, welche Briefpartnerschaften für eine Persönlichkeit der Geschichte vorhanden sind und wo man welche Bestände finden kann. Eine Kontaktaufnahme zum entsprechenden Archiv wäre dann der nächste Schritt. Nicht für alle Schriftsteller lässt sich ein Nachlass finden. Der Weg an die Quellen ist alles andere als normiert. Die zwei folgenden Beispiele einer personenbezogenen Recherche zeigen den erheblichen Unterschied in der Ausdifferenzierung der Archive und Bibliotheken, in denen man fündig wird. Es wird dabei deutlich, dass auch der Aufwand, der für die Suche notwendig ist, sehr unterschiedlich sein kann.

Überlieferungsstörungen

Gegenüberlieferung

Friedrich Gottlieb Klopstock Das erste Beispiel führt uns mit Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803) in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der der Quedlinburger im deutschen Sprachraum zu den herausragenden Persönlichkeiten zählte. Mit sei-

Beispiel: Klopstock

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

ner Idee der „Gelehrtenrepublik“ war er Vorbild für die Schriftsteller seiner Zeit, die sich im Namen Klopstocks 1774 im Dichterbund „Göttinger Hain“ zusammenfanden. Berühmt geworden durch sein Epos „Messias“, geachtet als praeceptor germaniae, dessen Oden und Barden zur zögernd ansetzenden Suche nach einer nationalen Identität beitrugen, wurde er nicht nur von den Intellektuellen verehrt. Mehrere zigtausend Menschen folgten seinem Sarg, als er 1803 zu Grabe getragen wurde. Der Nachlass des seit 1770 in Hamburg wohnenden Jahrhundertschriftstellers galt bereits damals als herausragendes Zeugnis für die Geistes- und Kulturgeschichte der Epoche. Von daher ergibt sich eine überschaubare Archivsituation, denn Klopstocks gesamter Nachlass ist bis heute Bestand der Universität Hamburg, mit Ausnahme kleinerer Bestände in den Handschriftenabteilungen des SchillerNationalmuseums und Deutschen Literaturarchivs Marbach, der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, der Universitätsbibliothek ErlangenNürnberg, der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, der Staatsbibliothek zu Berlin, dem Museum für Hamburgische Geschichte und dem Klopstock-Museum in Quedlinburg. Im Vergleich: Zu Klopstocks Zeitgenossen Gotthold Ephraim Lessing verstehen sich allein 23 deutsche Archive als „bestandshaltende Institution“ – nicht mitgezählt diejenigen Archive, die nur im Besitz von Einzelautographen sind. Der systematische Überblick über den Hamburger Nachlass von Friedrich Gottlieb Klopstock ist im Internet zugänglich (http://www.sub.uni-hamburg.de/hans-fs.htm). Er enthält: A Werke: Der Messias Die Deutsche Gelehrtenrepublik Weitere Werke B Korrespondenz: Verfasser Klopstock Adressat Klopstock Briefe Dritter an Dritte C Lebensdokumente: Porträts Weitere Dokumente (Tagebuch, Testament, versch. Verträge) D Sammlungen: Sammlungen von Klopstock von Klopstocks Angehörigen Weitere Sammelstücke Weitere Sammelstücke und ergänzende Materialien sind im Nachlass zu sichten. Wer sich für den spätaufklärerischen Schriftsteller interessiert, wird, nachdem er die Möglichkeiten der Information über Sekundärliteratur und gedruckte Quellen ausgeschöpft und studiert hat, zur Vorbereitung die abrufbaren Bestandsverzeichnisse sichten, sich über die Benutzungsbedingungen informieren, mit gezielten Angaben seinen Besuch schriftlich ankündigen und sich auf die Reise nach Hamburg begeben. Er hat die beruhigende Gewissheit, dass eine Begegnung mit dem Hamburger Nachlassbestand

2. Schlüsselkompetenzen

seine Interessen an Klopstock in einem sehr hohen Maße befriedigen wird, vor allem den Wunsch, möglichst umfassend die Primärquellen zu sichten. Die Archivlage ist in diesem Falle optimal – ein Ausnahmefall.

Thomas Mann Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts sind in besonderer Weise Zeugen der wechselvollen Geschichte dieser Zeit. Ein Blick auf den Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann (1875 – 1955) belegt dies. Die Aufgabe, Quellen zur Rekonstruktion dieses bewegten Lebens zusammenzutragen, ist entsprechend anspruchsvoll. Bei einer solchen Recherche lernt man ein breites Spektrum unterschiedlicher Archivtypen, auch im Ausland, kennen. Die dreiteilige Verfilmung „Die Manns. Ein Jahrhundertroman“ des Filmautors Heinrich Breloer von 2001 basiert auf umfangreichen Recherchen in verschiedenen Archiven, in denen Sammlungen zu Thomas Mann vorhanden sind. Im Abspann des Filmes erscheint der Großteil der Institutionen, die Sammlungen über den Autor angelegt haben und/oder Archivalien zu Thomas Mann besitzen. Dies zeigt, dass eine qualitätvolle Personenrecherche sich klassischer Mittel und Wege bedient, um für die gestellte Aufgabe eine angemessene Lösung zu liefern. Thomas Mann lebte, bedingt vor allem durch das Dritte Reich und das Exil, in das sich der Autor begeben musste, in einer Vielzahl von Städten und Orten: Lübeck, München, Zürich, Sanary-sur-Mer; Davos und Pacific Palisades sind dabei die wichtigsten. Wo sollte man beginnen, um sich so genau wie möglich über diesen Autor zu informieren? Natürlich wird man zunächst auch hier die bewährten Nachschlagewerke befragen, um einen Überblick über Fakten und Daten zu Leben und Werk zu erhalten. Doch die hier zu lösende Aufgabe sieht vor, dass es um mehr geht als eine reine Faktensammlung. Recherchiert werden soll, was mit dem Werk eines Autors nach seinem Tod geschieht, wie die oben beschriebene Erinnerung an ihn und seine Zeit in Archiven angelegt wurde und wird, was ganz wesentlich die weitere Rezeption steuert. Breloer hätte seinen Film gar nicht so detailreich und genau machen können, wenn z. B. die Familie alles das, was sich heute in Archiven befindet, vernichtet hätte. Im Fall der Tagebücher, die sehr intime Angelegenheiten des Nobelpreisträgers preisgeben, hätte man dafür sogar Verständnis aufbringen können. Die Familie war sich aber der über das Private hinausgehenden Bedeutung des Materials durchaus bewusst, und so haben wir es bei Thomas Mann mit einem Glücksfall zu tun, an dem sich die Vielfalt und das Spektrum von Archivbeständen mit Gewinn zeigen lassen. Auch hier gilt der erste und wichtigste Arbeitsschritt im Zuge der Personenrecherche dem Archiv, das den Nachlass verwahrt: Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich (http://www.tma.ethz.ch) Nach dem Tode Thomas Manns übergab die Erbengemeinschaft 1956 seinen literarischen Nachlass, persönliche Gedenkstücke und die Ausstattung seines letzten Arbeitszimmers der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Dieser Nachlass bildet den Grundstock des Thomas-MannArchivs (TMA). 1961 wurde das TMA im Bodmerhaus untergebracht. Damit

Beispiel: Thomas Mann

Lebensstationen

Einschlägige Archive und Sammlungen

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

war eine interessante Traditionslinie zur klassischen Zeit der deutschsprachigen Literatur entstanden, denn zu den Gästen des damaligen Ästhetikpapstes und Schriftstellers Johann Jakob Bodmer, der hier von 1739 – 1783 wohnte, zählten Klopstock, Wieland, Ewald von Kleist und vor allem Goethe. Als Bestände beherbergt das TMA den Großteil der noch vorhandenen Thomas-Mann-Autographen, also Manuskripte, Tagebücher, Notizbücher, Briefe und andere Handschriften. Von besonderem Interesse für die kulturwissenschaftliche und philologische Forschung sind die Vorarbeiten und Arbeitsmaterialien zu verschiedenen Werken und ihren Frühstufen. Der Nachlass ist vollständig erschlossen. Ergänzend hinzugekommen sind Werkausgaben, Übersetzungen, Briefe, Schallplatten und andere Tonträger, Fotografien, Mikrofilme und ein umfangreicher Bestand an zeitgenössischen Zeitungsartikeln. Außer den Primärquellen wird die Sekundärliteratur möglichst vollständig erworben, katalogisiert und den Benutzern zur Verfügung gestellt. Eine ständige Ausstellung informiert über den Autor, aber auch über die Bestände, vor allem Zugänge. Die Dokumente zu Leben und Werk werden ergänzt durch persönliche Gegenstände. So sind in einem eigenen Raum Thomas Manns Schreibtisch und anderes Mobiliar zu sehen, seine Bibliothek, Bilder und Kunstgegenstände aus dem Kilchberger Arbeitszimmer. Da Thomas Mann sehr viel Wert auf die gleich bleibende Ausstattung seines Zimmers bis hin zur Anordnung der mythologischen Plastiken auf seinem Schreibtisch gelegt hat, lassen sich hier auch über die Arbeitsweise des Autors wichtige Erkenntnisse gewinnen. Sammlungsziel ist die wissenschaftliche Betreuung und Aufbereitung. Das TMA versteht sich auch als zentrale Forschungsstelle für Person und Werk. So lässt sich bei einem Besuch unter fachkundiger Anleitung arbeiten. Im Rahmen der faktischen und rechtlichen Möglichkeiten werden auch Reproduktionen von Archivmaterialien zur Verfügung gestellt. Die vom Archiv herausgegebenen Publikationen verdienen bei der Suche nach Sekundärliteratur besondere Aufmerksamkeit. Dazu zählen seit 1967 die Thomas-Mann-Studien und das 1988 begründete Thomas-Mann-Jahrbuch. Durch Schenkungen und Ankäufe wird der Bestand an Primär- und Sekundärquellen laufend ergänzt und erweitert. Über den Nachlass hinaus sind mehrere weitere Institutionen für eine komplexere Archivrecherche zu nennen. Die folgenden Sammlungen und Bibliotheken halten größere Bestände: Buddenbrook-Haus (http://www.buddenbrookhaus.de/) Das Wohnhaus der Senatorenfamilie Buddenbrook ist erst sehr spät, nach vielen Jahren der wirtschaftlichen Nutzung als Bankgebäude, zum Museum und Archiv umgewandelt worden. Die Lübecker hatten, nicht zuletzt durch den Roman „Die Buddenbrooks“, für den der Autor 1929 den Nobelpreis erhalten hatte, ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zu dem großen Sohn der Stadt. Das Haus dient heute auch dem Gedenken an Heinrich Mann und den Lübecker Erich Mühsam. Erst jüngst kam ein auf das bildkünstlerische Werk von Günter Grass bezogener Sammlungsauftrag hinzu. Das Buddenbrook-Haus verfolgt in erster Linie museale Interessen und dient der Pflege des Gedenkens. Eine Fachbibliothek mit rund 2.500 Bänden, mit de-

2. Schlüsselkompetenzen

nen umfassend zum Thema „Buddenbrook“ informiert wird, ein Foto- und Filmarchiv machen die Sammlung besonders interessant. Eine Datenbank erfasst alle Bestände, Jahresberichte geben seit 1996 den Stand der Arbeiten wieder. Im Hause untergebracht sind die Deutsche Thomas-Mann-Gesellschaft und der Kreis jüngerer Thomas-Mann-Forscher, die z. B. Thomas Mann-Festwochen veranstalten. Thomas Mann Collection in der Yale University (http://www.library.yale.edu/beinecke/blgycgl.htm#mann) 1938, in einer Zeit zunehmender Sorge über die Entwicklung in Deutschland, übergab Thomas Mann 40 seiner Manuskripte an die Yale-Universität. Die entstehende Sammlung wuchs im Laufe der Zeit auf 102 Manuskriptsachen an, das sind ca. 4 lfm. Ergänzt durch Korrespondenz und Sonderdateien und eine große Sammlung von Drucksachen wurde daraus eine bemerkenswerte eigenständige Sammlung mit einem umfangreichen Handschriftenanteil. Zu den Manuskripten zählen u. a. „Notizen zu Goethe und Tolstoi“, „Geschichten Jaakobs und Der junge Joseph“ und 71 Blätter zum Roman „Der Zauberberg“, die keinen Eingang in die Schlussfassung des Romans gefunden hatten. Auch der Anteil an Essays und Reden ist bemerkenswert. So findet sich hier das handschriftliche Manuskript „Dieser Friede“, ein Kommentar zum Ende des Ersten Weltkrieges. Thomas-Mann-Sammlung, Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf (http://www.ub.uni-duesseldorf.de/ueber_uns/sonder/mann/index_html) Die Thomas-Mann-Sammlung war ursprünglich eine private Sammlung des Buchhändlers Dr. Hans-Otto Mayer, die 1969 mit Hilfe einer Spende des Bankiers Rudolf Groth durch die Gesellschaft von Freunden und Förderern der Universität Düsseldorf e.V. erworben und der Universität Düsseldorf gestiftet wurde. Seit 1980 ist die Sammlung zugänglich. Schon früh hatte der Buchhändler mit der Anlage seiner Sammlung begonnen, durch seine berufliche Tätigkeit wurde der Ausbau begünstigt. So sind alle Werkausgaben und nahezu alle Erstveröffentlichungen und anderen seltenen Drucke vorhanden. Dazu kommt eine sehr große Sammlung von Übersetzungen in ca. 40 Sprachen. Hans-Otto Mayer hatte nach 1950 mit der systematischen Sammlung und dokumentarischen Erschließung der Sekundärliteratur zu Thomas Mann auch eine Sammlung von Monographien und Zeitschriften bzw. Zeitschriftenheften angelegt. In dieses Ausschnittarchiv ging nach 1977 die Ausschnittsammlung Hans Bürgins ein. So stehen hier über 25.000 Dokumente zur Einsicht zur Verfügung. 1998 wurde dieser Bestand durch den dokumentenreichen Nachlass Harry Matters erweitert. Wie in den meisten Sammlungen lässt sich hier ein Blick auf mehrere Mitglieder der Familie Mann gleichzeitig werfen: In Düsseldorf gibt es einen umfangreichen Bestand an Zeitungsartikeln von und zu Golo Mann sowie entsprechende Materialien zu anderen Familienangehörigen. Die Ergänzung der Bestände und die Auswertung sind gesichert. So werden so genannte unselbständige Veröffentlichungen in Zeitschriften oder Sammelbänden möglichst vollständig erfasst, dokumentiert und nach einer eigenen Systematik sachlich erschlossen. Der 1998 erstellte Kartenkatalog wurde fotomechanisch vervielfältigt und liegt seitdem auch gedruckt vor.

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Der Kartenkatalog wurde noch bis Anfang 1995 weitergeführt und danach durch einen EDV-Katalog abgelöst, zu dem es seit September 2000 einen Internet-Zugang gibt. Im Unterschied zum allgemeinen Katalog der Bibliothek werden darin auch Aufsätze nachgewiesen und über verschiedene Register, z. B. nach Werktiteln oder Themen, recherchierbar gemacht. Zur Einsicht in die Bestände der Thomas-Mann-Sammlung steht ein Sonderlesesaal zur Verfügung. Sammlung Klaus W. und Ilsedore B. Jonas, Universität Augsburg (http:// www.bibliothek.uni-augsburg.de/fachinformation/germanistik/sondersamml/ jonas/index.html) Die Sammlung Klaus W. und Ilsedore B. Jonas wurde in fast 50 Arbeitsjahren von dem viele Jahre in Amerika lehrenden Hochschullehrer und seiner Frau zusammengetragen und seit 1957 im Deutschen Institut der Universität Pittsburgh als eigenes Archiv untergebracht. Durch Vermittlung des Augsburger Germanisten und Thomas-Mann-Forschers Helmut Koopmann kam sie 1989 an die Universität Augsburg. Sammlungsziel ist übergreifend die deutsche Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer Reihe von Klassikern der Moderne. Dazu zählen neben Heinrich, Thomas, Klaus und Golo Mann auch Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann, Ernst Jünger, Hermann Broch und Carl Zuckmayer. Zu finden sind Werkausgaben, Übersetzungen, Monographien, graue Literatur und weitere gedruckte Publikationen (zusammen ca. 3.700 Titel), Periodika (ca. 2.000 Zeitschriftenhefte), aber auch eine Reihe von Autographen (überwiegend Briefe) im Original oder in Kopie sowie bibliophile Raritäten und Sondermaterialien wie Sonderdrucke, Widmungsexemplare, Themenhefte von Zeitschriften usw. Ein besonders gewichtiger Teil ist das Archiv der Zeitungsausschnitte, Fotokopien, Separata, Akzidenzdrucke und ähnlicher Materialien, das schätzungsweise mehr als 5.000 Dokumente enthält. Die wertvollen bibliophilen Ausgaben und Autographen werden allerdings noch von dem inzwischen nach München übergesiedelten Klaus W. Jonas verwahrt und werden erst nach dessen Tod in den Augsburger Bestand übergehen. Der Thomas Mann und seine Familie betreffende Teil macht über 40 Prozent des gesamten Materials aus. Als besondere Leistung darf die von Klaus W. Jonas erarbeitete Thomas-Mann-Bibliographie genannt werden. Die Teilsammlung Jonas enthält nicht nur Texte von und über Thomas Mann, sondern auch solche aus dem biographischen, literarischen und zeitgeschichtlichen Umkreis des Autors. So lässt sich nicht nur Interessantes zur Person Thomas Mann, sondern auch zum kulturellen Umfeld erfahren. Ungewöhnlich ist auch die Sammlungspraxis, Zeitschriftenaufsätze zum größten Teil nicht als Ausschnitte oder Kopien, sondern in Ganznummern zu sammeln. Damit wird gleichzeitig der literarische und politische Kontext aufschlussreich einbezogen. Diese in Bibliotheken sonst gewöhnlich verpönten Einzelhefte gewinnen einen eigenen historisch-dokumentarischen Wert. Besondere Erwähnung verdient die Reichhaltigkeit der Dokumentation der US-amerikanischen Rezeption Thomas Manns. Bleibt auch die eigentliche Thomas-Mann-Sammlung im Umfang hinter den größten Spezialsammlungen, dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zü-

2. Schlüsselkompetenzen

rich und der Sammlung Hans-Otto Mayer der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, zurück, so ist die Sammlung Jonas gerade deshalb so beeindruckend, weil sie sich nicht auf einen Autor beschränkt. Dies erleichtert es, Querverbindungen freizulegen, die über die direkten biographischen Beziehungen zwischen den Schriftstellern weit hinausgehen. Eine solche Bestandsstruktur erleichtert Recherchen zur Zeitgeschichte und zur Zeit des Exils, aber auch zur Rezeptionsgeschichte der deutschen Literatur insgesamt. Die zahlreich vorhandenen aktuellen bibliographischen und anderen Hilfsmittel – bis hin zu Internet-Quellen, Online-Katalog, Informationsmitteln auf CD-ROM und Mikrofilm bzw. Mikrofiche – erleichtern die Erschließung und die Arbeit mit den Quellentexten. Die Erschließung wurde 1994 abgeschlossen. Ein Schlagwortkatalog erlaubt dem Benutzer den Zugriff unter verschiedenen Suchkriterien. Das Inventar der Briefwechsel und Materialien, die Personen und Körperschaften betreffen, ist bereits jetzt bedingt nutzbar. In Arbeit ist die Erschließung des Inhalts der Mappen. Ein Verzeichnis der Thomas-Mann-Artikelsammlung 1890 – 1975 und die Thomas-Mann-Bibliographie 1976 – 1994 erleichtern den Zugang. The Hans Waldmüller Thomas Mann Collection, Department of Special Collections, University of Southern California, Irvine (http://sun3.lib.uci. edu/~scctr/#Waldmuller) Die weitaus kleinere, seit 1929 entstandene Sammlung des passionierten, 1995 gestorbenen Thomas-Mann-Verehrers Hans Waldmüller bietet vor allem deutschsprachige Druckwerke von und über Thomas Mann. Sie umfasst etwa 9.000 Titel, darunter viele Erstausgaben, aber auch Zeitschriften, in denen von und über Thomas Mann geschrieben wurde. Einige Briefe und weitere Materialien aus dem Bestand der Familie Mann machen die Sammlung auch für die Suche nach Primärquellen attraktiv. S. Fischer Verlag (Verlagsarchiv), Nachlass in der Lilly Library, Indiana University (http://www.indiana.edu/~liblilly/lilly/mss/html/fischer.html) Eine wichtige Anlaufstelle bei der Personenrecherche ist in der Regel das Archiv des Verlages, bei dem der Autor publizierte. Im Fall von Thomas Mann ist die Suche nicht sehr schwierig, da Thomas Mann seinem Verleger Samuel Fischer treu geblieben ist. Das Verlagsarchiv geriet durch die Wirren des Dritten Reiches und des Exils in die USA. Es enthält Bestände zu den Hausautoren, darunter außer Thomas Mann auch Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse. Als Korrespondenzpartner fungierten aber auch die im Verlagsarchiv aufgenommenen Nachkriegsautoren, z. B. Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. 1982 wurde ein Katalog erstellt, der ca. 5.461 Eintragungen enthält. Internet-Adressen Thomas Mann-Portal: http://www.thomasmann.de/thomasmann/home/ Fachinformation Germanistik der FU Berlin: http://www.ub.fu-berlin.de/ internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/multi_lmno/ thmann.html

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Strukturierung der Daten

Diese Fachinformation bietet die umfangreichste und aktuellste Liste mit Thomas Mann-Links. Mit der Erfassung der wichtigsten Daten zum Archivbestand über einen Autor sind die Voraussetzungen für eine differenzierte Aussage über Leben und Werk gegeben. Wie aber lässt sich nach Sichtung bzw. bei der Sichtung der Bestände eine Auswertung optimal realisieren? Neuere Anleitungen, wie hier systematisch vorgegangen werden kann, fehlen, wohl aber bietet die Rhetorik eine sinnvolle Hilfe. Sie kennt die klassische Situation, Genaueres über den hinter einem Werk stehenden Menschen erfahren zu wollen. Die Motivation, Auskunft über eine Person zu suchen, war schon in der antiken Rhetoriklehre leitend. Dort entwickelte man die Handlungsanleitung, zur Vorbereitung einer Rede in den „Örtern“ des Gedächtnisses nach allem zu fragen, was man zu Personen und Sachverhalten wissen musste, um seiner Aufgabe, eine juristische, politische oder Lob spendende Rede zu halten, gerecht zu werden. Das Denkbild von den „Örtern“ des Gedächtnisses muss erweitert werden und die Ergiebigkeit von Archiven einbeziehen. Längst lässt sich nicht mehr alles Wissbare in einem Hirn speichern, doch Bücher, Bibliotheken und Archive sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als dessen Verlängerung. Wie in der Antike für die Griechen die Topoi-, und darauf folgend für die Römer die Locuslehre zu den Grundlagen gehörte, durch die Aspekte einer gezielten Recherche zu Personen und Sachen vorgegeben waren, können wir also auch heute noch systematisch nach den Kriterien, durch die sich Personen beschreiben lassen, fragen. Dabei verhalten sich gedruckte Quellen analog zu ungedruckten. Hier ein Beispiel, das zeigt, wie erfolgreich die bereits in der antiken Rhetorik systematisch entwickelten Fragen auch heute noch angewendet werden können.

Locusanalyse ad personam Gesetzt den Fall, es soll ein genaues Bild von Thomas Mann gezeichnet werden, müssen möglichst viele Fakten, auch Angaben über den persönlichen Hintergrund, der zum Verständnis seines Werkes wichtig ist, zusammengestellt werden. Hier greift die rhetorische Frage nach dem cui: „Wer“ ist dieser Mann? Um diese Frage präzise zu beantworten, lassen sich gemäß der Rhetoriktradition folgende Angaben machen: genus:

sexus: natio: patria:

Familie: Die Familie Mann leitete über Generationen ein erfolgreiches Lübecker Handelshaus. Die führenden Mitglieder der Familie waren Senatoren im Rat der Hansestadt und zählten damit zum Stadtpatriziat. Geschlecht: männlich. Nationalität: deutsch, während der Exilzeit amerikanischer Staatsbürger, nach dem Zweiten Weltkrieg Ansiedlung in der Schweiz. „Vaterland“: Gemeint ist die politische Heimat Thomas Manns im historischen Kontext und ihr Wandel. Bei Thomas Mann, geboren zur Zeit der Reichsgründung, trafen sich Vorstellungen eines von der Politik Bismarcks geprägten Reiches

2. Schlüsselkompetenzen

mit den Wertvorstellungen einer freien Reichs- und Hansestadt. Im Laufe seines Lebens kamen weitere Fragen der politischen Identität hinzu, so während des Ersten Weltkrieges Probleme der Abgrenzung zu Frankreich, während der Weimarer Republik der Wandel vom nationalkonservativen Polemiker zum Verfechter der Republik, im Dritten Reich die Stellungnahme zum Faschismus und zur Diktatur, im amerikanischen Exil die Äußerungen zur amerikanischen Identität zur Zeit des „Ausschusses gegen unamerikanische Umtriebe“, nach dem Zweiten Weltkrieg die Haltung zu den beiden Deutschland und zu seinem Gastland Schweiz. aetas: Alter: 6. Juni 1875 – 12. August 1955. Je nach Fragestellung ist hier eine spezifische altersrelevante Analyse einzufügen. educatio et Erziehung und Bildung: familiäre und schulische Sozialidisciplina: sation unter Berücksichtigung der damaligen Wertetheorie und Praxis, z. B. des „Bildungsbürgertums“; Berücksichtigung der besonderen musischen Bildung unter Einfluss der Mutter, einschließlich der Prägung durch deren Herkunft; weitere Lehrer und geistige Einflüsse, z. B. durch Karl Kerényi oder Theodor W. Adorno. habitus Körperbeschaffenheit: eher avital, durch wenig sportliche corporis: Aktivität geprägt; zur beobachtenden Selbstdiagnose neigend. fortuna: Schicksal: Hier kann das Gesamt der lebensprägenden Erfahrungen und Ereignisse genannt werden, z. B. Familie, Heirat, Kinder, Nobelpreis, Exil. conditio: Soziale Stellung: hohe gesellschaftliche Reputation, z. B. durch den Nobelpreis und die Aktivitäten in der preußischen Akademie der Künste, aber auch die lebenslange Reflexion über die Dichotomie Bürger – Künstler (vgl. das Schreckbild des außerbürgerlichen Künstlers als „Zigeuner im grünen Wagen“); die besondere Stellung im Kreis der Berufskollegen durch Erhalt des Nobelpreises; Schriftstellerpreise etc. anima natura: Wesensart: hohe Sensibilität und intellektuelle Kompetenz, Genauigkeit, hohe ethische Selbstverpflichtung; Problembereiche wie latente Homosexualität und Hypochondrie. studia: Beruf: Werdegang als Schriftsteller; Einbezug produktionsund rezeptionsästhetischer Aspekte. quid affectet quiaque: Neigungen: Mythos und Psychologie. ante acta dicta: Vorgeschichte: Ergibt sich dann, wenn über ein bestimmtes Ereignis während der Lebenszeit Thomas Manns etwas auszusagen ist. nomen: Namen: Mit dem Beinamen „Der Zauberer“ wird nicht nur auf einen der erfolgreichsten Romane des Autors, auf den „Zauberberg“, verwiesen, sondern auch die Wirkung Thomas Manns auf den Kreis der Familie und darüber hinaus erfasst.

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften Entwicklung von Fragekatalogen

Gesellschaftliches Umfeld

Ausführliche Fragenkataloge, die die „Örter des Gedächtnisses“ erschließen, bieten Gert Ueding und Bernd Steinbrink in „Grundriss der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode“ (Stuttgart 4. Aufl. 2005). Grundsätzlich empfiehlt es sich, einen Fragenkatalog zu entwickeln, in dem über die persönlichen Verbindungen, die das Leben einer Persönlichkeit geprägt haben, hinausgehend, auch die historisch manifesten gesellschaftstragenden Strukturen berücksichtigt werden. Einen Zugang eröffnen etwa die folgenden, keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Fragen: Welches prägende Ereignis hat das Leben des Autors besonders beeinflusst? Im Fall Thomas Mann wird man z. B. der Exilproblematik besonderes Gewicht schenken. In diesem Zusammenhang interessieren z. B. die Korrespondenzen im Deutschen Exilarchiv 1933 – 1945 in der Deutschen Bibliothek Frankfurt a. M., darin etwa die unbekannteren Bestände des Literaturagenten, Übersetzers und Literaturwissenschaftlers Alfredo Cahn (1902 – 1975) oder des Publizisten, Exilforschers und Sekretärs der Thomas-MannGesellschaft in Prag, Wilhelm Sternfeld (1888 – 1973), in dessen Nachlass sich Sonderkorrespondenzen mit Thomas Mann und Familie befinden. Auch der Bestand der American Guild for German Cultural Freedom, New York / Deutsche Akademie im Exil kann weiterführen. Welche Freunde und Gesprächspartner hatte der Autor in den verschiedenen Phasen seines Lebens? Hier sind vor allem die zeitgenössischen Gesprächspartner zu nennen, die Thomas Mann im Kontext der Entstehung seiner großen Romane gefunden hatte, etwa den ungarischen Mythosforscher Karl Kerényi oder den Musikkenner und -kritiker Theodor W. Adorno. Welche Mitgliedschaften in Berufsverbänden und Standesorganisationen hat der Autor gepflegt? Hierüber geben die Archive von Berufsverbänden, Galerien und kulturellen Interessenverbänden Auskunft. Ihre Organisationsstruktur, die Einbindung in die Gesellschaft oder ihre Versuche einer gruppenspezifischen Hermetisierung; die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, die interne Kommunikationsstruktur und die Außenbezüge der Gruppe, z. B. innerhalb der Stadt oder der Region, in der sie angesiedelt war, sind im Briefwechsel mit Verwaltungsinstitutionen und weiteren Vernetzungen mit städtischen Strukturen ermittelbar. Vereinsakten zeigen die Entstehungszusammenhänge und die Geschichte von Schriftsteller- und Künstlergruppen. Hier lässt sich die bemerkenswerte Feststellung machen, dass das Suchergebnis um so erfreulicher wird, je öfter diese Gruppen gegen Verhaltensnormen und künstlerische Moden verstoßen haben oder mit dem Gesetz in Konflikt gerieten. Die entsprechenden Verwaltungs- und Polizeiakten geben ein beredtes Zeugnis von politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Ihre kulturellen Implikationen lassen sich daraus erschließen. Auf der Suche nach Quellen wird man dabei besonders fündig, wenn sich datierbare Ereignisse nennen lassen, und seien es solche, die kulturelle Prozesse im Lichte von Zensurvorgängen und Polizeibeobachtungen zeigen. Beachtenswert im Fall Thomas Mann ist etwa dessen Mitgliedschaft im europäischen Schriftstellerverband PEN, der vor allem in der Zeit des Dritten Reiches für die kulturelle Identität ausgebürgerter Schriftsteller von Bedeutung war. Mit welchen kulturtragenden Institutionen war der Autor besonders verbunden? Ein Blick in das Archiv der Preußischen Akademie der Künste, de-

2. Schlüsselkompetenzen

ren „Sektion für Dichtkunst“ Thomas Mann 1926 mitgründete, erlaubt eine genauere Bewertung der gesellschaftlichen Rolle, die der Autor am Ende der Weimarer Republik spielte, einschließlich der Streitdiskurse, die bereits ideologische Muster des Dritten Reichs vorwegnehmen. Welche Dichterpreise hat der Autor erhalten? Hier ist über den Akt der Preisverleihung hinaus die gutachterliche Bewertung von Interesse. Oft existieren umfangreiche Quellen, die die Kriterien der Preisvergabe nachvollziehbar machen. 1929 hat Mann den Nobelpreis für Literatur erhalten. Dieses Faktum hat sein Leben entscheidend geprägt. Was trägt der Blick auf die zeitgenössische und die späteren Rezeption zu den Aussagen über den Autor bei? Zeitschriftenarchive sind eine wichtige Quelle zur Rezeptionsgeschichte. In ihnen lassen sich für die Phasen der Wirkung bis heute Quellen finden. Literarische Gesellschaften z. B. betreiben, wenn auch zuweilen allzu verehrend, die Erinnerungspflege. ThomasMann hatte immer einen besonderen Ruf, entsprechend haben ihm literarische Gesellschaften ihre Reverenz erwiesen. So gibt es einen Thomas Mann-Förderkreis in München, vor allem aber die Deutsche Thomas-MannGesellschaft, die ein jährliches Herbstkolloquium veranstaltet und ein Jahrbuch herausgibt. Welche Verlage und welche Marktsituation sind zu nennen? Nicht nur Verlagsarchive dokumentieren den Marktwert eines Autors und damit auch die geltenden ästhetischen Normen, sondern alle Fakten, die die Entwicklung eines eigenen Öffentlichkeitsprofils des Autors ergeben. Die Finanzierung der Drucklegung, die Bezahlung der Autoren und die damit zusammenhängenden inhaltlichen Absprachen sind interessante Quellen. Der Umgang mit Autoren und die Verkaufstrategien lassen sich in Verlagsarchiven nachvollziehen. Weitere Hilfe bietet das Archiv des Börsenverbandes des Deutschen Buchhandels. Thomas Mann, so belegt die Kenntnis seiner wirtschaftlichen Situation, unterschied sich in seinen Lebensbedingungen vom Gros der Exilautoren, nicht zuletzt von seinem Bruder Heinrich und seinen schriftstellernden Kindern Erika und Klaus. Welche Medien hat der Autor zur Verbreitung seiner Ideen genutzt? Hier sind nicht nur die klassischen Druckwerke wie Buch und Zeitschrift, sondern auch die Archive der Rundfunkanstalten von Interesse. Außer den Archiven der einzelnen Sender gibt das Deutsche Rundfunkarchiv in Wiesbaden (DRA) Auskunft. Im Falle Thomas Mann ist darüber hinaus das Archiv der BBC von Bedeutung, für die Mann in einer Vielzahl von Sendungen an die „Deutschen Hörer“ vor den Nazis gewarnt und in der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Besinnung auf die nationale Identität aufgerufen hat. Zwei unterschiedliche Prinzipien, nach denen Archivbestände gesammelt worden sind, lassen sich abschließend nennen. Sie sind vor allem dann wichtig, wenn das Interesse an einer bestimmten Person auch zu weiteren, späteren Archivbesuchen führen soll. Benutzer sollten sich dann darüber klar sein, nach welchem der beiden folgenden Prinzipien die jeweiligen Archivbestände ausgerichtet sind, um zu wissen, ob sich mit der Veränderung eines Archivbestandes zugleich die Erkenntnisse über den in Frage stehenden Autor potenziell geändert haben könnten: Abgeschlossene Archivbestände sind Bestände zu einem Thema, einer Person oder Institution, die geschlossen in einem Archiv deponiert wurden,

Preise und Ehrungen

Medien

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften Offene und geschlossene Bestände

meist weil die sammelnde Person oder Institution nicht mehr existiert. Ein solches geschlossenes Konvolut an Archivalien ist in der Regel besonders ergiebig, um erste Erfahrungen im Archiv zu machen. Hierzu zählen z. B. Schriftsteller-, Musiker- und Künstlernachlässe, aber auch Sammlungen von Künstler- und Schriftstellergruppen, abgeschlossene Verlagsarchive, Medienarchive, z. B. von Zeitschriften, die nicht mehr erscheinen. Diese Bestände bleiben in sich geschlossen. Laufend ergänzte Archivbestände sind Sammlungen von Institutionen, die in der Vergangenheit ihre nicht mehr benötigten Akten und Quellen in ein Archiv gegeben haben und dies auch weiterhin und laufend tun. Soweit sie gut geführt werden, bieten sie oft den Vorteil, dass die Schätze auf einem technisch neueren Stand präsentiert und leicht zugänglich sind. Dazu zählen Medienarchive, z. B. Rundfunkarchive, Fernseharchive, Theaterarchive, Stadt- und Landesarchive, die Archivalien zu historischen und kulturhistorischen Zusammenhängen sammeln.

Neu- und Wiederentdeckungen

Offenheit und Kreativität

Beispiel: Theaterzettel

Die Personenrecherche an den Beispielen Friedrich Gottlieb Klopstock und Thomas Mann hat einen Eindruck von der Bandbreite tradierter archivischer Praxis vermittelt. Sie hat den Befund exemplarisch gemacht, der auf der Suche nach Quellen zu Personen anzutreffen ist, und sie hat Möglichkeiten aufgezeigt, wie eine Recherche möglichst ergiebig wird. Mit der Personenrecherche wurde einer der häufigsten Gründe aufgegriffen, die Benutzer ins Archiv führen. Jeder, der sich mit einer Person der Literatur- und Kulturgeschichte beschäftigt, wird bei entsprechender Recherche in einem Archiv fündig, wenn die Nachlass-Situation auch noch so komplex, desolat oder defizient ist. Hier lässt sich eine entsprechende Suchkompetenz produktiv erwerben. Suchkompetenz in Sachen Archiv erwerben heißt aber nicht nur, dass bereits bekannte Wege nachvollzogen werden müssen, sondern auch, dass Offenheit für Neues und die Bereitschaft, das zu suchen, was noch nicht bewusst gemacht wurde, vorhanden sind. Das Argument, gewiss sei alles Wichtige in Archiven längst entdeckt, wird ständig widerlegt. Ein Beispiel bisher kaum ihrer Bedeutung entsprechend beachteter Archivalien zeigt, wie die Arbeit im Archiv die aktuelle Wissenschaftslandschaft befruchten kann. Eine wahre Fundgrube und ein entsprechendes Erfolgsstück dafür, dass sich auch heute noch Bestände in Archiven finden lassen, die, schon seit Hunderten von Jahren dort gelagert, bisher weitgehend der wissenschaftlichen Auswertung harren, sind Theaterzettel, die es überall da gibt, wo Theater waren. Auf ihnen wurden die wichtigsten Fakten zu einer Theateraufführung zusammengestellt. Dazu zählen die Angaben zum Verfasser des gespielten Stückes, der Titel, die Rollenbesetzung, der Bühnenbildner und weitere, erläuternde Informationen. Theaterzettel werden in entsprechenden Sammlungen aufbewahrt, sind aber ebenso oft von Privatleuten gesammelt worden. Sammlungen von Theaterzetteln findet man deshalb in vielen größeren Archiven und Bibliotheken. Alleine die Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin hat einen Bestand von etwa 300.000 Theater-

2. Schlüsselkompetenzen

zetteln. Meist werden sie unter der Bezeichnung „Einblattmaterialien“, zu denen z. B. auch Flugblätter und Exlibris zählen, verzeichnet. Das Stadtarchiv Braunschweig hortet einen Schatz von 135.000 Blättern, die ein einziger theaterbegeisterter Sammler im 19. Jahrhundert zusammengetragen hat. Theaterzettel sind trotz ihres häufigen Vorkommens und solch evidenter Konvolute eine bisher wissenschaftlich kaum ausgewertete Textsorte. Sie sind durchweg nur zur Rekonstruktion von Spielplänen, aber kaum als eigenständiges Medium betrachtet worden. Dabei können diese über lange Zeit hinweg im Erscheinungsbild zwar fast unverändert, doch im vermittelten Inhalt durchaus zeittypisch daherkommenden Blätter über ihre Funktion als theaterhistorische Quellen hinaus auch Zeugen für den Wechsel der kulturellen Praxis wahrgenommen werden. Im 18. und 19. Jahrhundert etwa findet man auf Theaterzetteln Hinweise darauf, dass es verboten ist, während der Aufführung auf die Bühne zu kommen oder Hunde mitzubringen. Im 20. Jahrhundert dominieren Hinweise auf die Abonnementpraxis oder auf Fahrmöglichkeiten für auswärtige Besucher. Der Anteil der Werbung auf diesen Zetteln wird immer größer und die graphische Gestaltung aufwendiger. So kann man ein interessantes Bild gewinnen, wie sich im Laufe der Zeit das Zuschauerverhalten und die Erwartung an das Publikum verändert haben. Aber auch die Musik- und Theatergeschichte, nicht zuletzt die Kunstgeschichte, die Theaterzettel als Foren gestalterischer Epochenwechsel wahrnimmt, findet hier ein bisher wenig erschlossenes Arbeitsfeld. Nicht zuletzt sind Theaterzettel auch Träger sekundärer Informationen wie Hinweisen zu Kleiderordnungen und Verhaltensnormen, darüber hinaus finden wir Theaterzettel als Spiegel politisch-gesellschaftlicher Zusammenhänge. Damit bietet sich in diesen scheinbar unscheinbaren Erinnerungs- und Informationsträgern ein ideales Feld für eine archivorientierte, interdisziplinäre Arbeit. Beim Theaterzettel handelt es sich gerade in Deutschland, dem Land mit der größten Theaterdichte der Welt, also um eine häufig vorkommende Quellengattung. Sie bietet Ansatzpunkte für die Rekonstruktion von Epochen und Einstellungen, kann also entsprechend für die historische und kulturhistorische Forschung in gleichem Maße herangezogen werden. Neuentdeckungen und Wiederentdeckungen differenzieren den Reiz der Archivarbeit, wenn man sich darauf einlässt und sich vergewärtigt, was in einem Archiv deponiert sein könnte. Bei der Suche nach Suchideen sollte man sich von eigenen Interessen und von den Fragen leiten lassen, die sich aus aktuellen Diskursen ergeben. Eine solche Produktivität in Fragen des Archivs lässt sich erwerben. Die folgenden Anregungen geben ein Beispiel, wie sich aus Einzelbeobachtungen Suchinteressen entwickeln lassen. Die Entstehungskontexte für die Aufzeichnungen, die sich in einem Archiv finden, sind vielfältig. Notzeiten und Kriege z. B. haben Menschen immer wieder herausgefordert, ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle in Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen festzuhalten. Heute profitieren wir davon, wenn wir uns nur auf die Suche begeben. Bereits genannt wurden die Feldpostbriefe und persönlichen Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg, die 2004 durch eine Sendereihe im Deutschlandfunk an die Öffentlichkeit gelangten. Häufig finden wir auch Aufzeichnungen der alltäglichen Vorkommnisse, z. B. Haushaltsbücher, handschriftliche Gebet-

Familienüberlieferung

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Sammlungen

Perspektivenwechsel

Quellen zur Genese von Texten

und Kochbücher, gemischt mit einem kritischen oder kommentierenden Blick auf die Zeitläufte. Samuel Pepys alltägliche Notizen aus dem London des 17. Jahrhunderts, die 1980 auch auf Deutsch erschienen, sind eine Fundgrube zur Rekonstruktion der Adelskultur der Zeit. Familienarchive, die sich über einen langen Zeitraum im privaten Besitz befanden, legen die Mentalitätsgeschichte ganzer Jahrhunderte frei, nicht nur Fakten über die Onkel und Tanten. Der Schriftsteller Walter Kempowski hat seit Jahrzehnten über die eigene Familien- und Werkgeschichte hinaus gezielt Tagebücher und andere Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg gesammelt und daraus ein umfangreiches Privatarchiv entstehen lassen. Von diesem Bestand, der bereits teilweise im Kempowski-Archiv in seiner Heimatstadt Rostock deponiert ist, werden noch zukünftige Generationen von Forschern profitieren können (http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fbg/kempowsk/ startseite.htm). Ein weiteres Feld ergibt sich durch die Sammelleidenschaft sensibler Zeitgenossen. Der Düsseldorfer Schriftsteller und Künstler Carl Lauterbach, Mitglied des „Jungen Rheinlands“, hat über Jahrzehnte hinweg praktisch alles Gedruckte aufbewahrt, was ihm in die Hände fiel, vom Theaterzettel bis zum Zeitungsausschnitt. Zuletzt konnten Besucher nur noch seitlich und mit eingezogenem Bauch die Dschungelpfade seiner Wohnung und seines Ateliers betreten. Heute bildet das in den Besitz der Stadt übergegangene Archiv Lauterbach eine unerschöpfliche Quelle zum Verständnis der Zeit zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, erlaubt eine Rekonstruktion der Zwischentöne und eine Verortung der Avantgarde in dieser bewegten Phase, die mehr preisgibt als trockene Daten. Solche Sammlungen, wenn auch aus den unterschiedlichsten Interessen entstanden und in vielfältiger Qualität und Quantität, finden sich häufiger in Archiven, als man erwarten würde. Suchkompetenz kann sich auch da bewähren, wo Bestände, die unter bestimmten Kriterien abgelegt wurden, neu gesehen werden, denn Archivalien können ihre Funktion verändern. Was zum Zeitpunkt der Entstehung eine politische Funktion hatte, kann unter einer veränderten Fragestellung einen paradigmatischen Wechsel durchmachen: Die Bestände eines Archiv der politischen Geschichte, etwa den Magistratsakten einer Großstadt, hieße sie Köln, Berlin oder München, können die Entdeckung ästhetischer Kontexte ermöglichen. Aus einer ursprünglich rein funktionalen und eher marginalen Einladungsliste zu städtischen Feiern lässt sich heute eine Inszenierung von Herrschaft rekonstruieren. Speisekarten und Sitzordnungen, mit anderen Überbleibseln aus dem Verwaltungsapparat eher zufällig im jeweiligen Stadtarchiv deponiert, verraten uns Muster einer vergangenen Festästhetik und der an ihr teilhabenden Eliten. Suchkompetenz wird auch da produktiv eingesetzt, wo über die bekannten Druckfassungen im Archiv die Entstehungskontexte verfolgt werden. Kenntnis und Gespür für die Differenziertheit politischer Vorgänge erwirbt man beim Studium derjenigen Materialien, die Entscheidungen vorausgegangen sind. So erlauben die Akten über die Genese von Gesetzen, seien sie auf Stadt-, Landes- oder Bundesebene bezogen, einen Einblick in die Bandbreite unterschiedlicher Interessen, die vom Beginn der Verhandlungen bis zur Beschlussfassung eine Rolle gespielt haben. Während uns das

2. Schlüsselkompetenzen

Gesetz lediglich eine Konsensfassung mitteilt und gegebenenfalls etwas über die Herrschaftsstrukturen zur Zeit des Erlasses verrät, lassen sich in den weiteren Fassungen, im Briefwechsel darüber, in den Protokollen der Lesungen und Verhandlungen und in alternativen Entwürfen auch die Kräfte erkennen, die nicht zum Zuge kommen konnten. Aus einer eindimensionalen Faktengeschichte wird so ein komplexes Anschauungsbild, zumindest aber ein differenzierter Ausschnitt aus einer weitaus breiteren gesellschaftlichen Gemütslage und deren ideologischen Implikationen. Dichternachlässe, aber auch die anderer Künstler, kritischer oder unkritischer Zeitgenossen, entwerfen Formen von Welt, Zeit und Selbstdeutung. In jedem Fall tragen Archive, mit entsprechender Suchkompetenz zum Leben erweckt und öffentlich gemacht, zur Habitualisierung gesellschaftlicher Zustände bei, geben ihr Form und Ausdruck, ein Gesicht. Die Forschung steht also einer nie versiegenden Zahl von „Fällen“ und Fragezeichen gegenüber. Die zusammenfassende Grundregel für Archivkompetenzen kann also nur lauten: „Rein ins Archiv!“ Nachlässe und Sammlungen in Archiven leben nur in dem Maße, wie sie wahrgenommen werden. Erkenntnisse, die aus der Arbeit im Archiv gewonnen worden sind, verwandeln jedes aufgefundene Papier. Damit wendet sich das Interesse von der Makrostruktur Archiv auf die Mikroebene, die Textsorten, die sich in einem Archiv auffinden lassen. Betrachtet man ein solches Papier mit der entsprechenden Archivkompetenz, wird es zu einem aussagekräftigen Textzeugen und als solcher in einen angemessenen Kontext gestellt. In jedem Fall erhebt sich ein solches Papier damit generell über die Faktizität des materialen Befundes. Ein Totenzettel etwa ist ein authentisches Zeugnis über das Ableben eines Menschen. Zugleich kann er Auskunft geben über die gesellschaftlichen Normen im Umgang mit Totenkulten. Er kann als Mahnmal für eine kriegerische Vergangenheit stehen, wenn er Auskunft gibt über einen gewaltsamen Tod, z. B. von Kriegsopfern. Er ist aber auch Zeugnis für Ästhetisierungsprozesse. Eine Sammlung von Totenzetteln schließlich vermittelt mit den Ritualisierungen, die ablesbar werden, ein literarisches Textmuster ebenso wie das Panorama einer Gesellschaft. Hat man Erfahrungen im Archiv und damit Suchkompetenz gewonnen, eröffnet sich im Blick auf die entsprechenden Textsorten ein breites Spektrum von Arbeitsmöglichkeiten. Im Folgenden richtet sich das Interesse auf die philologische Praxis, für die das Archiv mit seiner Vielzahl von Textsorten ein breites Tätigkeitsfeld bietet. Hier geht es um die durch Archivarbeit zu verbessernde Analysekompetenz als eine für den Bereich der Textwissenschaften notwendige Fähigkeit.

Rein ins Archiv!

2.2 Analysekompetenz Archivkompetenz und Textphilologie müssen wieder enger zusammenrücken. Selbst im 21. Jahrhundert ist es noch möglich, einen akademischen Abschluss in einem geisteswissenschaftlichen Fach zu erwerben, ohne je ein Archiv betreten zu haben. Ob BA, MA, Magister, Diplom, Staatsexamen oder gar Promotion, wenn man nicht gerade Geschichte studiert hat, gab und gibt es kaum einen Studienbereich, der die Begegnung mit einem fachspezifischen Archiv oder einer im weiteren, kulturhistorischen Kontext interessierenden Quellensammlung obligatorisch vorsieht. Man kann auf

Archivpraxis im Studium

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Editorik

dieses Faktum kulturskeptisch reagieren und das Ende eines angemessenen Geschichtsbewusstseins befürchten, aber auch die Überwindung dieses desolaten Zustandes anraten. Deshalb wird mit dieser Einführung ein konstruktiver Weg beschritten, gibt doch die Kenntnis im Umgang mit Archiven und deren Beständen nicht nur Sicherheit in der Beherrschung des Faches, sondern bietet auch ein breites Spektrum an Erfolg versprechenden Anwendungsmöglichkeiten während der Zeit des Studiums und darüber hinaus. Gegenüber der sporadischen Einlassung auf Archive, die sich aus der Arbeit an bestimmten Themen ergibt, lässt sich ein Bereich nennen, für den der Besuch im Archiv per definitionem dazugehört: die Textphilologie mit ihren Praxisbereichen Editorik und Textkritik. Hier geht es nicht nur darum, einen literarischen Text von allen Verderbnissen, d. h. von allen Entstellungen durch fremde Hände, die unbefugt den Text verändert haben, zu befreien und einen möglichst authentischen Text zu gewinnen, sondern auch um eine Rekonstruktion der Textgenese. Nicht zuletzt wird in einem Kommentar das Verständnis des Textes und seines Kontextes herausgestellt. All dies ist Voraussetzung für einen hermeneutischen Zugewinn. Ein solchermaßen in einer historisch-kritischen Ausgabe aufbereiteter Text lässt oft neue Wahrheiten entdecken, führt zu ungeahnten Erkenntnisfortschritten und zu einem Verstehensgewinn, der der Textphilologie erst ihre Berechtigung gibt. In welchem Maße der Umgang mit einem Nachlass der Interpretation von Texten eine zuweilen ungewöhnliche Wende geben und die Relevanz von Archivalien für die Kommentierung und Interpretation beweisen kann, soll das folgende Fallbeispiel zeigen.

Ein Fallbeispiel Beispiel: Georg Heym

Entstehungskontext eines Textes

1911 verfasste der im Januar 1912 beim Eislaufen auf der Havel in Berlin ertrunkene Expressionist Georg Heym sein Gedicht „Der Krieg“. Lange vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs thematisiert er die bleierne Starre, die viele Intellektuelle seiner Generation lähmte, und die von Friedrich Nietzsche inspirierte Sehnsucht nach einem Aufbruch aus dem Mittelmaß der prüden wilhelminischen Gesellschaft und aus dem Gefängnis des eigenen Ich. Als am 1. August 1914 der Krieg tatsächlich ausbrach, wurde der Konflikt mit dem „Erbfeind“ Frankreich mit einer aus der Rückschau erschreckenden Kriegseuphorie begrüßt. Heym hat dieses Aufbruchspathos nicht mehr erlebt, doch sein Gedicht markiert in diesem Prozess einen wesentlichen Meilenstein. Dies zeigt sich allerdings erst bei Sichtung der Quellen. Dabei lassen sich geradezu idealtypische Beobachtungen machen, die in der folgenden, kurzen textkritischen Sichtung des Gedichtes gesetzt sind, um mit diesem auf die Anwendung bezogenen Teil des Themas Archiv ein wenig vertraut zu machen. Ein Blick in den Nachlass des Dichters in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg gibt einen interessanten Einblick in den Entstehungskontext des Gedichtes. So zeigt sich, dass die Fassung des Textes, die die Freunde nach dem plötzlichen Tod Heyms aus dem Nachlass zusammengestellt und herausgegeben hatten, kaum der Hand des Autors entsprach. Sie veröffentlichten einfach eine Kompilation aus den Notizen, die sie in dem

2. Schlüsselkompetenzen

in ziemlichem Chaos befindlichen Zimmer des Freundes vorgefunden hatten. Die Herausgeber der historisch-kritischen Edition des Gedichtes, Günter Dammann, Karl Ludwig Schneider und Joachim Schöberl, haben 1978, den Regeln der Editorik folgend, die Textgenese durch Sichtung des Nachlasses herausgearbeitet, sie in einem detaillierten Schichtenapparat wiedergegeben und durch entsprechende Siglen und eine Legende, die Leseanweisung, nachvollziehbar gemacht. Dies ist ein hervorragender Beweis dafür, was in einer soliden Recherche herauszufinden ist, zumal sich die Herausgeber nicht auf die rein biographischen Zusammenhänge beschränkt, sondern den Text in einen epochenspezifischen Kontext gestellt haben. In mehreren Ansätzen hatte Heym versucht, sein zwischen Verzweiflung und Euphorie schwankendes Lebensgefühl in den Text einzubringen. In einer Kladde war, einmal von vorne, einmal von hinten beginnend, an verschiedenen Strophen angesetzt worden. Dies deutet auf die Produktion von zunächst zwei unabhängigen Gedichten hin. Erst in einer späteren Fassung waren die bereits fertigen Strophen in veränderter Kombination und mit collagehaft umstrukturierten Motiven und Bildern zu einem um weitere Strophen ergänzten Text umgeschrieben worden. Zu einer autorisierten Fassung letzter Hand war Heym noch nicht gelangt. Der folgende Text gilt als Entwurfsfassung „Der Krieg I“. Der Krieg Aufgestanden ist er, welcher lange schlief Aufgestanden unten aus Gewölben tief. In der Dämmrung steht er, groß und unbekannt, Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand. In den Abendlärm der Städte fällt es weit, Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit, Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis. Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiss. In den Gassen fasst es ihre Schulter leicht. Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht. In der Ferne wimmert ein Geläute dünn Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn. Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und anUnd es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt, Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt. Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut, Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut. Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt, Von des Todes starken Vögeln weiss bedeckt. Über runder Mauern blauem Flammenschwall Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall. Über Toren, wo die Wächter liegen quer, Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein. Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt, Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt. Und mit tausend roten Zipfelmützen weit Sind die finstren Ebnen flackend überstreut, Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her, Fegt er in die Feuerhaufen, dass die Flamme brenne mehr. Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald, Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt. Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht In die Bäume, dass das Feuer brenne recht. Eine grosse Stadt versank in gelbem Rauch, Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch. Aber riesig über glühnden Trümmern steht Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht, Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein, In des toten Dunkels kalte Wüstenein, Dass er mit dem Brande weit die Nacht verdorr, Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

Tagebuch

Was hat einen jungen, gerade erst als Schriftsteller hervorgetretenen Juristen zu einer solch geballten Dämonisierung und aggressiven Metaphorik bewegt? Man könnte nun über die zeitlos jugendliche Unbekümmertheit reflektieren, mit der hier ein 24-jähriger seinen Bewegungs- und Welteroberungsgestus kundtut. Man könnte über die Bildmetaphorik des Mondes im Expressionismus reden, die Kälte, die ihn in dieser Zeit von einer romantischen Sehnsuchtsmetapher unterscheidet, die apokalyptischen Landschaften eines Ludwig Meidner zum Vergleich heranziehen oder gar von einem an Nietzsche geschulten Vitalismus ausgehen. Dem Gedicht würde man mit diesen Bezügen durchaus näher kommen. Und dennoch hätte man nur die halbe Wahrheit, wie ein Blick in den Heym-Nachlass zeigt. Hatten schon die angeführten Textmerkmale die Authentizität des publizierten Gedichtes in Frage gestellt, erwiesen sich Varianten in den Fassungen als geradezu provokativ. So finden sich folgende erstaunlich ergiebige Provenienzen: 1. Das Tagebuch des Autors (Gesamtausgabe, hrsg. v. Karl Ludwig Schneider, Bd. 3, Tagebücher – Träume – Briefe, Hamburg 1960, S. 138) zeigt, wie sehr die existentielle Langeweile, von der sich die Zeitgenossen betroffen fühlten, zu extremen Rettungsvisionen geführt hatte. Am 6. Juli 1910 heißt es dort: „Ach es ist furchtbar. […] Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterlässt. […] Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Der sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“

2. Schlüsselkompetenzen

2. Die Textzeugen, d. h. die Eintragungen der Texte in einer Kladde, zeigen, dass sich die Entstehungszeit des Gedichtes genau bestimmen lässt. Heym hatte offensichtlich unmittelbar auf die politisch-gesellschaftliche Atmosphäre des Septembers 1911 reagiert. Dabei hatte er zu zwei unterschiedlichen Texten angesetzt. 3. Die Manuskript-Fassungen der Gedichte zeigen, dass die beiden Gedichte, die Heym selbst schon kompiliert hatte, einen Spannungsbogen erzeugen zwischen der in der Eingangsstrophe vermittelten Kraft eines geheimnisvollen Dämons und der „wimmelnden“, desorientierten Masse der Städter, auf die er wirkt. So hatten die Strophen zwei und drei erst in eine der späteren Fassungen des Gedichtes „Der Krieg“ Eingang gefunden und dem Text damit die zeittypische Dichotomie verliehen. 4. Die im Nachlass aufgefundenen Zeitungsausrisse und die durch weitere Recherchen erhärtete Rekonstruktion der Entstehungszusammenhänge zeigen, dass Heym sein Gedicht als unmittelbare Reaktion auf die zweite Marokkokrise geschrieben hat, die im heißen Sommer 1911 ganz Deutschland in Krisen- und Kriegsangst versetzte. Der „Run“ auf die Sparkassen, durch den vor allem die Berliner ihr Vermögen vor der vermeintlichen Beschlagnahme im Kriegsfall retten wollten, hatte zu grotesken Reaktionen geführt, über die sich Heym eine Sammlung von oft fast gleich lautenden Presseberichten angelegt hatte. 5. Weitere Quellen, die – soweit sie nicht im Nachlass vorhanden sind – bibliothekarisch erschlossen werden müssen, vertiefen das Ergebnis. So beweist das „Berliner Tageblatt“ vom 7. September 1911, dass die erste Strophe des Gedichtes von einem dort unter der Überschrift „Die Hetzer“ erschienenen kritischen Artikel über die herrschende apokalyptische Stimmung inspiriert war. Dort heißt es: „Man soll den großen Pan nicht wecken, wenn er schläft, das hatten schon die alten Griechen erkannt. Er könnte wach werden und den Menschen jenen Schrecken einjagen, den einst die Perser bei Marathon zu spüren bekamen, jenes unerwartete und auch unvermittelte Grauen und Entsetzen, für das man den Ausdruck des panischen Schreckens gefunden hat.“ 6. Die Handschriften zeigen, dass Heym zunächst eine völlig andere dritte Zeile konzipiert hatte: „Und sein Negerhaupt ragt riesig in die Nacht“. In weiteren Fassungen heißt es: „Und der Neger hebt zu tanzen an“, später „Und sein Negerhaupt steht drohend in der Nacht“. Eine Erklärung ergibt sich aus zeitgenössischen Presseberichten über die „Force Noir“. Die Tatsache, dass Frankreich auch über Truppenteile in seiner Armee verfügte, die sich aus seinen afrikanischen Kolonien rekrutierten, hatte in Deutschland zu einer üblen Polemik geführt. Der „Erbfeind“ Frankreich wurde beschuldigt, das deutsche Volk als besonderes Kulturvolk durch die negroiden Untermenschen zu beleidigen. Der damals angezettelte ideologische Krieg reichte bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der Deutschland in der Besetzungszeit erneut gegen die „Schwarze Schmach“ anging. Hier finden wir einen markanten Vorläufer. Die Quellen dienen also auch der Geschichtswissenschaft zur Rekonstruktion der Krisenstimmung weit vor Beginn des eigentlichen Krieges und zeigen die Bandbreite aggressiver Ideologien und ihrer ästhetischen Vereinnahmung. Die in kursiv gesetzten Begriffe zählen zum Kernbestand der Terminolo-

Manuskripte

Zeitungsausrisse

Versionen des Texts

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Produktionsästhetik

Rezeption

Textanalyse

Abhängigkeit der Philologie von Archivalien

gie aus dem Bereich Editorik/Textphilologie. Sie lassen zugleich erkennen, welche Materialien in einem Nachlass gefunden werden können und wie die Recherche sich zielorientiert dieser Archivalien bedient. Man könnte versucht sein, die akribische Recherche als Fliegenbeinzählerei, als vergebliche Suche nach der vermeintlichen Wahrheit eines Textes oder als Hörigkeit gegenüber der Genialität seines Schreibers zurückzuweisen, wenn nicht der Gewinn, der sich aus der textphilologischen Praxis ergibt, benennbar wäre. 1. Unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten vermittelt die Beschäftigung mit den Quellen Kenntnisse über die Entstehungsbedingungen literarischer Texte. Der sehr freie Umgang mit Metaphern, das Spielen damit und das Verschieben von Strophe zu Strophe zeigen, wie viel der Autor von einer wenig später in der Collage realisierten Zufallsästhetik voraus nahm. Abstraktionsprozesse wie die Wandlung des „Negers“ zum „schwarzen Mann“ und schließlich zum „Schwarz“ oder „Dunkel“ erweisen sich als Transferformen des Unheimlichen. 2. Unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten können Kenntnisse über die intendierten Wirkmechanismen kultureller Produktionen gewonnen werden. Auch hieran hatte die Abstraktion Anteil, ebenso die Kompilation mehrerer Texte zu einer Gedichtfassung mit eigenwilliger innerer Dramaturgie. 3. Textanalyse und Hermeneutik profitieren von dem Differenzierungsprozess, der sich im Umgang mit den Quellen ergibt. Selbst für Kritiker eines hermeneutischen Ansatzes und Verfechter der Dekonstruktion und Systemtheorie lässt letztlich nur die genaue Quellenkenntnis die Widerlegung eines eindeutigen Sinnes zu. Das Fallbeispiel zeigt vor allem die Tragweite eines epochenhistorischen Erkenntnisinteresses. Die im Gedicht erkennbaren und durch Recherche verstehbaren Zusammenhänge bedienen gleichermaßen die Interessen der Historiker, Kunsthistoriker und Literatur- und Kulturwissenschaftler. Über die ereigniszentrierte Sicht auf das Faktum Erster Weltkrieg hinaus vermitteln die archivarisch erschlossenen Zusammenhänge einen subtilen Einblick in die Genese und die Bedingungen, die im Kontext der Ereignisse zu beachten und zu beobachten sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass jede Arbeit am Text sich mit methodischer Zwangsläufigkeit im Umfeld archivarischer Recherche bewegen muss, will sie über ein wenn auch noch so intelligentes und sensibles „Angemutetsein“ gegenüber einem Text hinaus kommen. Selbst die oft falsch verstandenen Vertreter der „Werkimmanenz“ standen einer solch quellengenauen Recherche keineswegs ablehnend gegenüber, sie wollten sie lediglich dem Erkenntniswert und der Ästhetik des Textes unterordnen. Und mit diesem Interesse kann man ihnen durchaus folgen. Suchkompetenz und philologische Kompetenz erlauben schon dem Studierenden Erfolgsgefühle. Dennoch wird man sich darüber Gedanken machen müssen, wie sich die erworbenen Kompetenzen langfristig nutzen lassen. Der Besuch im Nachlass eines Schriftstellers kann einen Lustgewinn bedeuten, die Mikroanalyse eines literarischen Textes mithilfe archivischer Quellen einen großen Erkenntnisgewinn bedeuten. Doch damit ist der Weg vom privaten Interesse in die Öffentlichkeit noch nicht gefunden. Im Fol-

2. Schlüsselkompetenzen

genden runden Ausführungen über die Verwertungskompetenz, sei es zum Nutzen des universitären Abschlusses, sei es im Hinblick auf die anschließende berufliche Praxis, den Katalog erworbener Fähigkeiten ab.

2.3 Studienpraktische Verwertungskompetenz Die Vielfalt der Bedeutungen und der Erkenntnismöglichkeiten, die sich an eine Archivalie binden können, die Archivalien, die sich zu Konvoluten bündeln, und letztlich das breite Spektrum, das sich im Blick auf die Archivlandschaft insgesamt bietet, sollten als Herausforderungen verstanden und genutzt werden. Kaum eine Tätigkeit gewährt ein so nachhaltiges Erfolgserlebnis wie die Arbeit im Archiv. Im Archiv wird man (fast) immer fündig, selbst wenn man nicht das gefunden hat, was man suchte. Was als Erfahrungsgrundsatz für eine Testphase gewonnen wurde, sollte erst recht einbezogen werden in die Tätigkeit und das Selbstverständnis des Geisteswissenschaftlers als eines in einem akademischen Studium vorbereiteten Kenners der in Archiven schlummernden Schätze der Geschichte, und eines Könners, dessen Bewusstsein von der Aussagekraft von Archivfunden in angemessenen Erkenntnisformen transformiert eine zeitgenössische Öffentlichkeit erreicht. Werden wir konkret und halten wir noch einmal fest, was inzwischen deutlich geworden sein sollte:

Vielfalt der Erkenntnismöglichkeiten

1. Man kann und muss Archive entdecken. 2. Man kann und muss Archive zu entschlüsseln und zu nutzen wissen. 3. Man kann Archive benützen für eine erfolgreiche Studien- und Berufspraxis. Fragen wir also genauer nach dem Nutzen der Archive für Studium und Examen.

Themenfindung in Studium und Examen Das Interesse an der Erfüllung von Forschungsdesideraten, die sich aus der Archivpraxis ergeben, und das Interesse an ergiebigen Themen im Umfeld von Studium und Examen kann in durchaus produktiver Weise miteinander verknüpft werden. Als Studierender eines geisteswissenschaftlichen Faches wird man, spätestens nach überstandenem Grundstudium, die Möglichkeiten Revue passieren lassen, mit denen man sich dem Gegenstand seines Studienfaches nähern kann. Theoretische Fundierungen in den Philologien z. B. eröffnen Fragen nach der philologischen Korrektheit von Texten und ihrer Edition. Dies ließ sich am Beispiel Heym zeigen. Die Zeit der großen Editionen ist zwar vorbei, nicht zuletzt weil eine über Jahrzehnte anhaltende Arbeit am Werk eines Autors viel zu personalintensiv und kostspielig ist, dennoch zählt dieser Bereich nach wie vor zu den interessanten Arbeitsfeldern. Die Max-Weberund die Marx-Engels-Ausgabe, die z. Zt. im Entstehen begriffen sind, können als Beispiele für die bleibende wissenschaftliche Bedeutung der Editorik angeführt werden. Wenn man das Glück hat, während des Studiums in

Forschungsdesiderate

Editorik

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

einem der laufenden Editionsprojekte mitarbeiten zu können, bietet sich auch für das Examen sicher ein Thema aus dem Kontext an. Darüber hinaus gibt es ein breites Spektrum möglicher Themen, bei denen Archivarbeit eine zentrale Rolle spielen kann. Sie lassen sich nach Problemfeldern differenzieren. Hatte zunächst die philologische Analysekompetenz im Vordergrund gestanden, soll hier über die eigentlich philologischen Fragestellungen deutlich hinausgegangen werden. So bieten sich bei der Suche nach geeigneten Themen im Umfeld von Archiven besonders die Bereiche Kulturtransfer, Kultursoziologie und Epochengeschichte an, aus denen im Folgenden einige anregende Beispiele genannt werden sollen. Kulturtransfer Interdisziplinäre Forschungen

Der Trend zur Internationalisierung und interdisziplinären Forschung gibt den klassischen Arbeitsfeldern in den Geisteswissenschaften neue Impulse. Kulturwissenschaftliche Zusammenhänge kommen heute weitaus häufiger in den Blick, als dies zur Zeit der Nationalphilologien üblich war. Für eine europäische Kulturgeschichte wären die Bedeutung von Wissenschafts- und Kunstakademien, ihre Entstehungsbedingungen und ihre Funktionen im jeweiligen politischen Kontext zu untersuchen. Bei Fragen nach dem Kulturtransfer drängt es sich geradezu auf, nach Archiven jenseits der Grenzen Ausschau zu halten. Diese implizieren den Transfer von Kulturpraktiken und sind ebenso für den Ideentransfer durch politische Bewegungen aufschlussreich. Die europäische Prägung durch die Französische Revolution z. B. fand ihren Niederschlag nicht nur in der Mainzer Republik, sondern auch in den zahlreichen Lese- und Casino-Gesellschaften, die in vielen Städten der damaligen Kleinstaaten entstanden. Da diese Gesellschaften aufgrund der Sprengkraft der dort verbreiteten Ideen immer auch unter strenger Beobachtung standen, ist so manche Quelle in Polizeiakten zu finden. Die Verbreitung der Freimaurer in Europa ist im Hinblick auf die Erscheinungsformen vor Ort weiterhin ein Forschungsdesiderat. Nicht minder lässt sich die Linksintellektualität im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, z. B. der Einfluss von Karl Marx, Romain Rolland und der „Liga zur Beförderung der Humanität“, von Walter Benjamin und vielen anderen, mit großem Gewinn untersuchen. Die Verbreitung der „Clarté“ oder die Aktivistenbünde harren noch der genaueren Erforschung, ebenso die europaweiten Solidaritätsbekundungen für die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg und die Proteste gegen die europäischen Faschisten. In Zeiten des religiösen Fundamentalismus dürfte die Kenntnis alternativer spiritueller Strömungen, wie wir sie in einer Vielzahl von Monistenbünden und Brahmanenvereinen zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden, von besonderem Interesse sein. Eine systematische Recherche in Archiven müsste auch der Verbreitung von Ideen und kulturellen Praktiken durch Kriege, Besetzungen und politische Strukturen nachgehen, z. B. im Habsburgerreich, dem Italien des Risorgimento oder den sozialistischen Staaten Osteuropas.

2. Schlüsselkompetenzen

Kultursoziologie Fragen des Kulturtransfers sind eng mit Problemen der Kultursoziologie verknüpft. Entstehung und Rolle der Multikulturalität z. B. werfen Fragen nach der Kultur von Minderheiten auf. Kultur als Textur des Sozialen fragt nach dem Transfer und der Vernetzung z. B. der Stile und Moden, die oft mit bestimmten Künstlergruppen verbunden sind. Sie fragt z. B. nach der Verbreitung der Gotik durch die Bauhütten, des literarischen Naturalismus durch Bildungsvereine und des Symbolismus durch die Caféhauskultur. Hinzu kommen Aspekte der Alltagskultur wie Fest- und Essensbräuche, Sportwettkämpfe und kollektive Ängste, etwa vor der Amerikanisierung des 20. Jahrhunderts. Als kultursoziologisches Beispiel einer erfolgreichen Archivrecherche lässt sich die Rekonstruktion zweier zeitgleicher Gewerbe-Ausstellungen anführen. 1902 und 1904 gab es solche Mammutschauen in Düsseldorf, 1905 im sudetendeutschen Reichenberg in Böhmen. Beide Ausstellungen gleichen sich in verblüffender Weise, obwohl es keinerlei personelle Überschneidungen unter den Veranstaltern gab. Die Exponate, die einen Eindruck von der damaligen Handwerkskunst und Industrieproduktion vermitteln sollten, die Ausstellungsarchitektur und Öffentlichkeitsarbeit zeigen ein fast austauschbares Arsenal von Mustern. Verbindendes Moment ist einzig die europäisch verbreitete Idee der Lebensreform. Wichtig ist, die verschiedenen Formen des Kulturtransfers wie Völkerwanderung, Kreuzzüge, Pilgerzüge, Emigration und Exil oder Arbeitsimmigration in den Blick zu nehmen. Für alle diese Bewegung gibt es Zeugen, seien es persönliche Dokumente oder andere Textzeugen, die weitgehend unabhängig von ihren Schreibern in Archiven auffindbar sind. Zur Aufarbeitung vieler kultursoziologischer Felder wird man zudem die Techniken und Medien des Kulturtransfers untersuchen müssen, und zwar auf der Ebene der Oralität wie der Literalität. Medien, gleichgültig ob Zeitschriften oder das Internet, spielen als Träger des Kulturtransfers eine herausragende Rolle. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass nicht nur die Nutzung eines einzelnen Archivs zu empfehlen ist, sondern die Vernetzung von Archiven in besonderer Weise gefragt ist.

Kultur als Textur des Sozialen

Beispiel: GewerbeAusstellungen

Oralität und Literalität

Epochengeschichte Ebenso wichtig wie ein diachroner Schnitt, wie ihn die gerade skizzierte kultursoziologische Forschung macht, ist ein synchroner Zugang zur europäischen Kulturgeschichte. Einen solchen diachronen Zugang eröffnet das Arbeitsfeld Archiv und Epochengeschichte. Literaturgeschichten beschreiben die Genese und den Verlauf von Epochen. Man wird hier auf ein relativ stabiles Beschreibungssystem stoßen, das zwar von sehr unterschiedlichen Kriterien ausgeht, doch letztlich zu sehr ähnlichen Ergebnissen gelangt. Dennoch gehört die Entstehung von Epochen zum Interessantesten, was im Kontext kulturwissenschaftlicher Forschung aufgearbeitet werden kann. Die verschiedenen Ausprägungen einer europäisch dimensionierten Epoche wie der des Naturalismus oder des Symbolismus zeigen über die strukturell gleichen Muster hinaus zugleich

Europäische Kulturgeschichte

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IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

Entscheidungsprozesse im Studium

Beispiel: „Die schlesischen Weber“

die nationenspezifischen Eigenarten. Eine Großstadt wie Paris hatte ein völlig anderes Fluidum, eine ganz andere Geschichte als die Vergleichsmetropolen Berlin, Wien oder Prag. Die Ästhetikdiskurse und ihre Bindung an zeittypische Gruppen und Medien, die Diskursformen und gattungspoetischen Muster werden in Briefen, unveröffentlichten oder verloren geglaubten Manifesten, Tagebüchern und anderen Texten, die nicht unmittelbar der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, bewahrt. Auch hier sind der forscherischen Phantasie bei der Archivarbeit keine Grenzen gesetzt. Die als kleines Archiv offerierte Schau auf aktuelle Forschungsdesiderate in den Literatur- und den Kulturwissenschaften führt unmittelbar zum praktischen Problem der Entscheidungsfindung, wenn es um die Wahl eines Themas geht, das an die Archivarbeit gebunden werden kann. Die bisherigen Ausführungen haben klar gemacht, dass sich hinter jeder kulturhistorisch relevanten Person, jedem Ereignis, jeder soziologischen Formation nicht nur ein, sondern ein ganzer Schwarm von Themen bereithält, um entdeckt zu werden. Hinweise, die die Wahl eines Themas erleichtern, können also nur allgemeine Verhaltensmaximen für Studium und Examen betreffen. Hierzu ein Beispiel: Generell kommt interdisziplinären Fragestellungen zunehmendes Gewicht zu. So lässt sich aus einem einzigen Gedicht, Heinrich Heines „Die schlesischen Weber“, ein differenziertes Feld eröffnen, bei dem nicht nur die tradierte Forschung eine Rolle spielt, sondern auch künftige, bisher nicht bearbeitete Fragestellungen. Berücksichtigt werden muss bei der Themenfindung aber auch, ob eine Hausarbeit, eine Magister- oder Staatsarbeit oder gar eine Dissertation der thematischen Konkretisierung harrt, wobei nur von Letzterer ein Beitrag zur Forschung zwingend erwartet wird. Für eine Hausarbeit lässt sich Heines Gedicht auf die historischen Ereignisse der Weberaufstände im Schlesien der 1840er Jahre beziehen; textvergleichend kann die Verarbeitung des historischen Stoffes in Lyrik und Drama – also von Heine zu Gerhart Hauptmann – untersucht werden; kunsthistorisch die bildkünstlerischen Aneignungen bis zu Käthe Kollwitz und darüber hinaus; theaterwissenschaftlich die Dramaturgie oder das Bühnenbild. Zu allen diesen Themen wird man auf eine reiche Quellenlage stoßen. Für eine Abschlussarbeit vom Magister bis zum Diplom lässt sich das Thema ausweiten, weitere Quellen können einbezogen werden, z. B. die im Gerhart Hauptmann Archiv in der Staatsbibliothek zu Berlin vorhandenen Nachlassmaterialien. Hält man zudem nach Vergleichsfeldern Ausschau, gewinnt die Fragestellung leicht eine Komplexität, die einer Dissertation würdig wäre. So könnte man etwa als Historiker und/oder Wirtschaftshistoriker den Weberaufstand im Schlesien des frühen 19. Jahrhunderts weiterverfolgen und mit anderen strukturellen Wirtschaftskrisen in anderen Teilen Deutschlands vergleichen. Dafür müsste man topographisch genau recherchieren. Ein weiteres Vergleichsfeld wäre etwa das Thema Streik, das sich an die Kunstgeschichte, aber vor allem auch an die Literaturwissenschaft anbinden lässt. Streiks sind gerade im Umfeld der so genannten „Werkkreisliteratur“ der 1960er Jahre vielfach thematisiert worden und lassen sich in einem Archiv im Archiv, nämlich dem Bestand des Werkkreises im „Fritz Hüser-Institut für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur“ in Dortmund, untersuchen. Schließlich gelangt man vom einzelnen Gedicht zur Thema

2. Schlüsselkompetenzen

Arbeit ganz allgemein. Diese soziale Problematik und ihre künstlerische Verarbeitung spielen in dem ergiebigen „Lexikon Sozialistischer Literatur“ eine wichtige Rolle. Hier lässt sich sehr schnell erkunden, welche Themen und Autoren bisher weitgehend unbearbeitet sind und eine produktive Beschäftigung versprechen. Das Beispiel Heine zeigt, wie sich aus einem einzigen Text und einem zunächst noch engen Blickwinkel ein differenzierter Kontext und mit ihm eine Fülle potenzieller Themen erschließen lassen, die für alle geisteswissenschaftlichen Fächer von Belang sind. Zur Umsetzung empfiehlt sich letztendlich der Geschäftsgrundsatz der zitierten Detektivcrew der Jugendbuchserie „Die drei ???“: „Wir übernehmen jeden Fall“. Drei Grundsätze sollen abschließend genügen, um Kreativität, Spürsinn und Selbstvertrauen in die richtige Bahn zu lenken, wenn es gilt eine Hausarbeit, Examensarbeit oder Dissertation anzufertigen: 1. Basiswissen ist nötig, um Fragen zu evozieren, um Themen zu finden und einzugrenzen, um sich für ein bestimmtes methodisches Verfahren zu entscheiden und um zugleich die mit der Aufgabenstellung verbundene Arbeit einzuschätzen. Basis für jede Entscheidung ist eine möglichst umfassende Lektüre von Primärquellen, die die Konturen von Epochen und kulturhistorischen Abläufen verdeutlichen. Textsammlungen, insbesondere solche mit literarischen, essayistischen und zeittypischen Zeugnissen, sind hier eine große Hilfe. In jedem Fall sollte man sich Klarheit verschaffen über die gesamte Bandbreite von Veröffentlichungen in einer Epoche, nicht nur über einen Text oder einen Autor. Auch die Erarbeitung von Epochenprofilen zählt zu den Voraussetzungen einer sinnvollen Themenwahl. 2. Was für die Informationen gilt, die für eine Vorauswahl von Themen notwendig ist, gilt auch für die Informationen zu den Archiven. Erst ein Überblick über die Vielfalt der Archive bringt Gewissheit, wo konkrete Archivarbeit einen Sinn macht. Die im praktischen Teil angegebenen Quellen und Internetadressen helfen hier weiter. Man sollte sich auch verführen lassen von einem virtuellen Spaziergang durch gut präsentierte Archive, wie z. B. das Österreichische Literaturarchiv (http://www.onb.ac.at/sammlungen/litarchiv/). Vor der Wahl eines bestimmten Themas empfiehlt sich ein Besuch bei Kalliope (http://www.kalliope.staatsbibliothek-berlin.de). Gemäß dem Motto „Denn das Gute liegt so nah …“ gilt die Aufforderung, doch einfach die Archive in der Nähe des eigenen Wohn- oder Studienortes auf ihre Brauchbarkeit hin zu prüfen oder einen Besuch eben dort an den Anfang der Entscheidungsphase zu stellen. Allerdings sollte dies in Kenntnis der im Praxisteil vermittelten Prämissen und deren Erprobung geschehen. Es lohnt auch die Beschäftigung mit derzeit laufenden Forschungsprojekten mit hohem Archivanteil. Zu finden sind solche Graduiertenkollegs unter der Internetadresse der Deutschen Forschungsgemeinschaft http://www.dfg.de. Sie sind eine gute Inspirationsquelle und erlauben sogar ein direktes Interesse, dort aufgenommen zu werden. Voraussetzung für eine Bewerbung ist ein erstes abgelegtes Examen. 3. Bei der Themenwahl sollte man den Mut haben, die eigenen Interessen einzubringen! Archivarbeit ist ein sehr befriedigendes Erlebnis, wenn man sich einmal der Einsamkeit des Schaffens in diesem ungewöhnlichen Raum und dem reizvollen Dialog mit unbekannten und schweigsamen Gesprächs-

Kreativität

Spürsinn

Selbstvertrauen

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128

IV. Recherchestrategien in den Literatur- und Kulturwissenschaften

partner in Form von Handschriften und Typoskripten, Randnotizen und Zetteln anheim gegeben hat. Nirgendwo ist die von Walter Benjamin in seinem kulturkritischen Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beschworene „Aura“ so dicht wie in einem Archiv, in dem man umgeben ist vom Nachlass eines Künstlers, Schriftstellers oder einer Person der Geschichte und Kulturgeschichte. Die Bandbreite der vorhandenen Archive erlaubt es, nahezu jede Vorliebe für bestimmte Zusammenhänge einzubringen. Dazu muss man nur das Selbstvertrauen aufbringen, diese Vorlieben zu erkennen und sie von einer subjektiven Empfindung in eine wissenschaftliche Frage zu überführen. Das lässt sich mit fast jedem Thema machen. Ratsam ist es auch, einen Ausflug in das private Archiv, die Örter des eigenen Gedächtnisses zu unternehmen, und dort zu recherchieren, was man schon immer weiterverfolgen wollte. Die Hilfe der eigenen Dozenten, die Kompetenz, sich über erste Kenntnisse hinaus sachkundig zu machen, der natürliche Spürsinn und die Suchkompetenz, dazu die Begeisterung und die Fähigkeit, sich in Archiven sinnvoll zu verhalten, garantieren eine erfolgreiche Themenwahlen, ganz gleich, ob es sich um eine Hausarbeit, eine Examensarbeit oder die Dissertation handelt.

„Rein ins Archiv!“ Erinnerungsräume

Nicht zuletzt ist es das eigene Selbstbewusstsein, das es mit den produktiven Erfahrungen der Archivarbeit zu entwickeln gilt. Als archivkompetenter Studierender, Examenskandidat oder Doktorand hat man gelernt, „Erinnerungsräume“ zu betreten und sich mit diesem dominanten Denkbild vertraut gemacht, das sich an die Existenz von Archiven bindet. Die oben nachgezeichnete Geschichte des Archivs, ja, unser abendländisches Denken selbst erweist sich als Schlüssel zum angemessenen Verständnis: „En Arche aen ho logos“ heißt es zu Beginn des Johannesevangeliums. Die Übersetzung mit „Im Anfang war das Wort“ verweist auf die Bedeutung von Ursprung, von Beginn, die sich semantisch an den Begriff Archiv bindet, betont aber zugleich auch den hohen Wert der Sprache, die sich mit dieser Bedeutung verbindet. Das archeion als Haus, in dem Akten aufbewahrt wurden, die Archonten als Hüter des Archivs gehören zum Umfeld des aus dem Abstrakten ins Konkrete entwickelten Begriffs. Als Mythos begegnet uns der Begriff in der Arche Noah, dem Bild von der systematischen Sicherung von Welt und der Neusetzung der Geschichte. Die abendländische Denk- und Bildtradition hat die „Arche“ in der Tat nicht verloren. Sie begegnet uns wieder in der Anwendung auf die Truhen, in denen seit dem Mittelalter die Urkunden und Schriftstücke zur Sicherung von Herrschaft untergebracht wurden und die von Ort zu Ort mitgenommen werden konnten. Die Wörter Arche, arché und Archiv gehören zum System einer Mnemotechnik, einer Vorstellung vom Funktionieren von Erinnerung, deren Bedingungen seit der Antike unverändert gelten. So wie sich unsere abendländischen Väter im Gehirn die Örter des Gedächtnisses vorstellten und für ihre Rhetorik, die Rede-Lehre, nutzten, können wir auch heute Erinnerung topographisch konkretisierten, entwerfen wir auch heute noch, so hat Aleida Assmann dargestellt, unsere Erinnerungsräume. Sie haben in der Ordnung des Archivs ihr Pendant.

2. Schlüsselkompetenzen

Walter Benjamin spricht nicht umsonst beim Nachdenken über „Ausgraben und Erinnern“ von der Archäologie des Erinnerns, von einem Spatenstich, der in ein dunkles Erdreich getan wird, und gibt damit der antiken Lehre von den Örtern des Gedächtnisses ein quasi vergrößertes und material evidentes Pendant. Nicht das Finden wird für ihn zum entscheidenden Schritt. Das „Gefunden-Haben“, also der erfolgreiche Prozess des Findens, ist für Benjamin von Bedeutung. Dieser Prozess selbst zeigt, wie sich Vergangenheit in das Bewusstsein von Gegenwart integriert hat. Zugleich übt Benjamin auch Kritik an dem, der nicht weiter gelangt als zu einem Inventar der Funde, sich aber nicht die Bedeutung klar macht, die dieses für den heutigen Leser hat. Die Begegnung an Ort und Stelle, des Alten mit dem Aktuellen, gilt es festzuhalten und damit zum Zeugen zu werden für ein Ereignis, bei dem sich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen kreuzt und Zukunft bestimmt. So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. In Walter Benjamins opus magnum, dem „Passagenwerk“, wird das Suchen selbst zum Indiz des Verloren- und Vergessenhabens. Der Autor selbst ist der klassische Flaneur, dessen Großstadterfahrungen den Verlust von Sicherheit genauso offenbaren wie sie ihn durch akribische Erkundungen auffangen und im Aufschreiben das Verlorengehende sichern. In diesem Vorgang erkennen wir das schöpferische Prinzip, das latent in jedem Archiv schlummert. Stärker noch als Walter Benjamin in seiner Zeit sind heute wir mit der drohenden Zerstörung einer funktionierenden Erinnerungskultur konfrontiert, die sich im Datenstrom der Gegenwart und ihrer technischen Systeme abzuzeichnen scheint. Nicht wenige meinen längst, dass mit der weltweiten Vernetzung jedes Interesse an klassischen Techniken der Erinnerungskultur, zu der das Archiv in vorderster Reihe beiträgt, verloren gehen wird. Es ist nicht zuletzt Aufgabe der Geisteswissenschaften, die Bedeutung von Archiven in der akademischen Lehre bewusst zu machen.

Die Archäologie des Erinnerns

Techniken der Erinnerungskultur

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V. Berufsperspektiven 1. Das Berufsbild des Archivars 1.1 Vom Verwaltungsjuristen zum Archivorganisator

Archivare als Geschichtsschreiber und Editoren

Erste Ausbildungsstätten für Archivare

Historische Hilfswissenschaften

Das Berufsbild und auch das Selbstverständnis des Archivars haben sich im Laufe der Jahrhunderte stark verändert. Jakob von Rammingen (1510 – 1582), den man als ersten Archivtheoretiker bezeichnen kann, erklärte im Gegensatz zu den meisten seiner Vorgänger die Archivarstätigkeit zum Beruf. Er verstand den Archivar als aufmerksamen Registrator, der vor allen Dingen Latein-, Dialektik-, Rechts- und Politikkenntnisse besitzen muss. Dieser archivarische Wissenskanon lässt sich aus seinen 1571 publizierten Schriften „Von der Registratur, und jren Gebäwen und Regimenten“ und „Summarischer Bericht, wie es mit einer künstlichen und volkomnen Registratur ein gestalt“ ableiten. Im 18. Jahrhundert wurden die Archiv-Registratoren von Juristen abgelöst, da die Archive als Aufbewahrungsorte für beweissichernde Dokumente und rechtliche Unterlagen aus den Verwaltungen genutzt wurden. Hierzu waren, wie auch die von dem Pfalz-Zweibrücker Archivar Georg August Bachmann noch 1801 aufgestellte Liste belegt, u. a. umfangreiche Kenntnisse in Bürgerlichem Recht und in Deutschem Staatsrecht von Nöten. Für älteres Schriftgut, beispielsweise aus dem Mittelalter, griffen die Verwaltungsjuristen dann auf andere Gelehrte mit paläographischen Kenntnissen zurück. Die Nachwirkungen der Französischen Revolution (vgl. Kapitel I.2.3 Archive zu Beginn des 19. Jahrhunderts) veränderten auch das Berufsbild des Archivars. Schließlich gewann das Archivgut zunehmend an Bedeutung für die historische Forschung und löste damit den ausschließlich rechtssichernden Charakter ab. Die neuen Archivare betätigten sich als Geschichtsschreiber und Editoren in der aufkeimenden Landesgeschichtsforschung. In den aufkommenden nicht-staatlichen Archiven waren anfänglich auch Lehrer, Pastoren, Ärzte und andere Berufsgruppen tätig. So entwickelte sich erst allmählich das Berufsbild des Juristen im Archiv zum Archivarhistoriographen und -paläographen. Im 19. Jahrhundert wurden in Frankreich, Österreich, Bayern und Preußen Archivare ausgebildet, die über historische Spezialkenntnisse für den Archivbereich verfügten. Teilweise als Hochschulstudium, teilweise als Universitätsstudium oder als Zusatzstudium nach dem Universitätsabschluss organisiert, gab es solche Ausbildungen zunächst an der École des Chartes in Paris ab 1821, am Königlich Bayerischen Allgemeinen Reichsarchiv in München ab 1821 und am Institut für österreichische Geschichtsforschung in Wien ab 1854. Ab 1893 kam noch die preußische Ausbildung in Marburg hinzu; im Jahr 1904 wurde die Prüfungskommission für das staatliche Archivexamen nach Berlin verlegt. Die historischen Hilfswissenschaften wie Diplomatik, Paläographie und Sphragistik (Siegelkunde) fanden im 19. Jahrhundert besondere Berücksich-

1. Das Berufsbild des Archivars

tigung. Innerhalb des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine wurde 1879 die Sektion Historische Hilfswissenschaften als Spezialistenkonferenz für Archivare gegründet. Auf Initiative von Georg Wolfram, Leiter des lothringischen Bezirksarchivs in Metz, und anderer Kollegen fand 1899 der erste deutsche Archivtag statt, um sich drängenden archivtechnischen Fragestellungen zu widmen. An der Wende zum 20. Jahrhundert entstand nämlich die damals neue Problematik der Massenakten, auf die der Archivar, nunmehr in der Rolle des Konservators und Archivorganisators, reagieren musste. 1929 wurde von Albert Brackmann, der das Amt des Generaldirektors der preußischen Staatsarchive übernommen hatte, das Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung in Berlin-Dahlem gegründet. Zuvor als Universitätsprofessor tätig, setzte er sich für die Ausbildung der Archivare und – wie der Zusatz des Instituts belegt – auch für die des Hochschullehrer-Nachwuchses ein. Dabei konnte er auf die Reformen der Archivarsausbildung durch Paul Fridolin Kehr zurückgreifen, der 1917 die Archivarsausbildung zum Graduiertenunterricht gemacht hatte und von den Anwärtern neben einem Hochschulstudium der Geschichte das Doktorexamen sowie das Philologische Staatsexamen für den höheren Schuldienst voraussetzte. Brackmann richtete ein Institut mit eigenen Räumen, eigener Bibliothek und eigenem Lehrkörper ein. Zu den gerade für den Hochschullehrer-Nachwuchs angelegten Unterrichtsfächern zählten Kunstgeschichte und Wirtschaftsgeschichte. Verdienstvoll waren in erster Linie die Beiträge des Instituts zur Archivtheorie und Archivgeschichte, beispielsweise von Adolf Brenneke.

Institut für Archivwissenschaft vor 1945

1.2 Entwicklungen nach 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1949 die jüngere Marburger Archivschule für die westdeutsche Archivarsausbildung gegründet; in Ostdeutschland knüpfte der Unterricht in Potsdam an das Berlin-Dahlemer Vorbild an. Auch der Titel „Institut für Archivwissenschaft“ wurde fortgeführt. 1956 verlegte man den Unterricht nach russischem Vorbild wieder an die Universität zurück. Neben den Ausbildungsstätten für Archivare prägte nach 1945 insbesondere der erste nationale Berufs- und Fachverband das archivarische Selbstverständnis. Im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA) (http://www.vda.archiv.net), gegründet 1946, schlossen sich Archivare der Bundesrepublik Deutschland zusammen, um das Archivwesen durch Erfahrungsaustausch, wissenschaftliche Forschung und Weiterbildung zu fördern. Jährlich seit 1949 veranstaltet der eingetragene Verein den Deutschen Archivtag, der zuvor organisatorisch mit dem Tag der Landesgeschichte verbunden war. Die Themenwahl der Archivtage orientiert sich jeweils an aktuellen Problem- und Fragestellungen, wie eine Auswahl zeigt: „Modernes Schriftgut. Kassationsprobleme“ (Koblenz 1957), „Archivarische Öffentlichkeitsarbeit“ (Kiel 1969), „Im Spannungsfeld zwischen Wert und Masse – Grundsätze und Methoden der Schriftguterfassung“ (Dortmund 1971), „Die Archive im Rahmen des Informationswesens. Die EDV im Dienst der Archivarbeit und Forschung“ (Mainz 1975), „Grenzüberschreitende Probleme

VdA

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V. Berufsperspektiven

Archive und die Deutsche Einheit

Öffentlichkeitsarbeit und Bildungsarbeit

Zeitschrift „Der Archivar“

und internationale Aspekte archivischer Arbeit und Zusammenarbeit“ (Saarbrücken 1983), „Die Archive in der Informationsgesellschaft – Überlieferungsbildung und archivische Dokumentation im Wandel“ (München 1986). Immer wieder reflektieren die Archivtage auch die Durchmischung von traditionellen und modernen Elementen im Berufsbild des Archivars, der sich im Informationszeitalter neuen Herausforderungen wie digitalen Unterlagen und elektronischen Bürosystemen stellen muss. Ein bedeutender Einschnitt fand nach der Wiedervereinigung im VdA statt. Zählte der 28. Archivtag 1949 in Wiesbaden, der erste nach dem Zweiten Weltkrieg, noch 148 Teilnehmer, so steigerte sich die Zahl bis zum letzten Archivtag vor der Wiedervereinigung 1989 in Lübeck auf 600. Einen neuen Teilnehmerrekord verzeichnete der gemeinsame Archivtag 1992 in Berlin (Thema: „Archive und die deutsche Einheit“) mit über 1000 Anwesenden. Außer der erhöhten Teilnehmerzahl änderte sich auch die Zusammensetzung der Teilnehmerschaft: Neben die Gruppe der Archivare mit universitärer Ausbildung traten verstärkt Archivare mit Fachhochschul- bzw. Fachschulausbildung, die besonders in den neuen Bundesländern eine zahlenmäßig größere Rolle spielten als in den alten Bundesländern, sowie Archivare mit einer Archivassistentenausbildung. Darüber hinaus stieg durch die deutsche Einheit der Frauenanteil im VdA deutlich an. Die jüngsten Archivtage im 21. Jahrhundert beschäftigten sich u. a. mit Fragen des Archivmanagements und wogen Chancen und Gefahren der Archive als Dienstleister zwischen Rationalisierungsdruck und Serviceerwartung ab. Mittlerweile ist der Deutsche Archivtag der größte regelmäßig stattfindende Fachkongress für das Archivwesen in Europa mit zahlreichen internationalen Gästen. Öffentlichkeitsarbeit und historische Bildungsarbeit spielen im VdA eine immer größere Rolle. Am 19. Mai 2001 haben die Archive in Deutschland erstmalig bundesweit einen Tag der Archive durchgeführt. Rund 500 Archive aller Sparten sind dem Aufruf des VdA gefolgt und haben sich an dieser Aktion beteiligt. Der Tag der Archive ist – im Gegensatz zum Deutschen Archivtag – keine Veranstaltung für das Fachpublikum. Vielmehr öffnen die Archive als Stätten der Kultur und Wissenschaft an diesem Tag ihre Pforten für die interessierte Öffentlichkeit. Damit werben sie für die Sicherung und Bewahrung des archivalischen Erbes als Kulturgut und für eine Erforschung der Vergangenheit, die dem Verständnis der Gegenwart dient. Die konkrete Ausgestaltung des Tags der Archive oblag den einzelnen Einrichtungen selbst und variierte von Ausstellungen, Vorträgen und Führungen bis hin zu Diskussionen und Filmvorstellungen. Nach einer positiven öffentlichen Resonanz wurde 2004 abermals ein Tag der Archive ausgerufen und durchgeführt. Künftig soll der Tag der Archive in einem Rhythmus von zwei Jahren stattfinden. Darüber hinaus ist auf dem 15. Internationalen Archivkongress im August 2004 in Wien der Internationale Archivrat angeregt worden, in Zukunft einen internationalen Tag der Archive auszurufen. Offizielles Mitteilungsblatt des VdA ist die Zeitschrift „Der Archivar“ (http://www.archive.nrw.de/archivar/). Sie wurde 1946 auf Initiative des Düsseldorfer Staatsarchivdirektors Bernhard Vollmer gegründet. Seit der Registrierung als Amtsblatt des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahre 1948 ist „Der Archivar“ auch das offizielle Mitteilungsblatt für alle staatlichen und nicht-staatlichen, öffentlichen und privaten Archive sowie für den VdA. Die

2. Ausbildungssituation in Deutschland

Schriftleitung hat seit Bestehen der Zeitschrift die staatliche Archivverwaltung des Landes NRW in Düsseldorf übernommen. In den 1960er Jahren kam ein kollegial arbeitendes Gremium begleitend hinzu, bestehend aus dem Leiter der staatlichen Archivverwaltung NRW, dem Vorsitzenden des VdA sowie zwei Vertretern aus dem Bereich der nicht-staatlichen Archive. „Der Archivar“ enthält Fachbeiträge zur Archivtheorie und -praxis, berichtet über Tagungen und stellt archivwissenschaftliche wie historische Fachliteratur vor. Überdies informiert „Der Archivar“ über Aktivitäten und Veranstaltungen des VdA. Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich mit einem Umfang von ca. 200 bis 250 Seiten. Die Auflagenhöhe liegt derzeit bei 4.000 Exemplaren, wobei die Mitglieder des VdA ein Abonnement für den Archivar beziehen. Im VdA sind Archivare aller Fachrichtungen vereinigt. Mit seinen derzeit rund 2.200 Mitgliedern ist er der größte Archivfachverband in Europa. Er untergliedert sich in acht Fachgruppen: Archivare an staatlichen Archiven (Fachgruppe 1), Archivare an Stadtarchiven und Archiven sonstiger Gebietskörperschaften (Fachgruppe 2), Archivare an kirchlichen Archiven (Fachgruppe 3), Archivare an Herrschafts-, Haus- und Familienarchiven (Fachgruppe 4), Archivare an Archiven der Wirtschaft (Fachgruppe 5), Archivare an Archiven der Parlamente, der politischen Parteien, Stiftungen und Verbände (Fachgruppe 6), Archivare an Medienarchiven (Fachgruppe 7), Archivare an Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Institutionen (Fachgruppe 8). Darüber hinaus sind unter dem Dach des VdA Landesverbände und Arbeitskreise eingerichtet worden. Auf den selbständig organisierten Treffen der Arbeitskreise werden Themen besprochen, die übergreifend für alle Archivsparten von Bedeutung sind. Derzeit gibt es die Arbeitskreise „Archivische Bewertung“, „Archivpädagogik und Historische Bildungsarbeit“, „Diplomarchivarinnen und Diplomarchivare (FH)“ sowie den Arbeitskreis „Ausbildung Fachangestellte“.

Fachgruppen und Arbeitskreise

2. Ausbildungssituation in Deutschland Die ausbildungsmäßige Zusammensetzung von Mitarbeitern in deutschen Archiven ist äußerst vielgestaltig. Norbert Reimann, langjähriger Vorsitzender des VdA, hat bei seinem Referat auf dem 71. Deutschen Archivtag 2000 in Nürnberg bezogen auf den Kreis der VdA-Mitglieder fünf Gruppen verschieden ausgebildeter Archivare festgestellt: 1. Archivare mit wissenschaftlicher Ausbildung für den höheren Archivdienst („Archivassessor“, Abschluss der Archivschulen Marburg oder München sowie der Humboldt-Universität und Vorläufer), 2. Archivare mit Fachausbildung für den gehobenen Archivdienst („Diplomarchivare“, Fachhochschulausbildung in Marburg, München, Fachhochschule Potsdam sowie Fachschule Franz Mehring in Potsdam zu DDR-Zeiten), 3. Archivare mit Fachausbildung mittlerer Dienst (Archivschule München oder Archivassistentenausbildung in der DDR), 4. Archivare mit Hochschulausbildung ohne Archivfachausbildung, 5. sonstige Ausbildung bzw. keine verwertbaren Angaben.

Ausbildung der Verbandsmitglieder

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V. Berufsperspektiven

Quereinsteiger in Archiven

Postgraduale Weiterbildungsmöglichkeiten

„Von den 2.062 persönlichen VdA-Mitgliedern verfügt fast exakt ein Drittel (32,7 Prozent) über eine wissenschaftliche Archivfachausbildung (Gruppe 1). Der Anteil mit der entsprechenden Fachhochschulausbildung für den gehobenen Dienst (Gruppe 2) liegt mit 25,2 Prozent schon erkennbar niedriger. Über eine Ausbildung für den mittleren Dienst (Gruppe 3) verfügen lediglich 2,7 Prozent. Sehr hoch ist dagegen der Anteil der Mitglieder mit Hochschulausbildung, aber ohne Archivfachqualifikation (Gruppe 4). Er beläuft sich auf knapp 30 Prozent. 180 Mitglieder (oder 8,7 Prozent) haben eine andere Ausbildung oder keine Angaben hierzu gemacht (Gruppe 5).“ (Norbert Reimann: Der Verein deutscher Archivare nach zehn Jahren deutscher Einheit. Wandel und Perspektive. In: Die Archive am Beginn des 3. Jahrtausends. Referate des 71. Deutschen Archivtags 2000 in Nürnberg, Siegburg 2000, S. 307 – 329, S. 314 f.) Das Auszählungsergebnis bezieht sich zwar nur auf die VdA-Mitglieder, zeigt aber dennoch einige Tendenzen auf. Der Anteil von VdA-Mitgliedern ohne archivarische Fachausbildung oder mit einer anderen Ausbildung ist relativ hoch (fast 40 Prozent). Das heißt einerseits, dass auch Quereinsteiger Chancen haben, im Archivbereich eine Stelle zu bekommen (insbesondere in der Fachgruppe 8); andererseits lässt dies auch Rückschlüsse auf einen deutlichen Ausbildungsbedarf jenseits der verwaltungsinternen Ausbildung zu. Für Studierende bietet es sich daher an, bereits während des Studiums Praktika im Archivbereich zu absolvieren. Die mindestens vier- bis sechswöchigen Praktika vermitteln Einblicke in die Arbeitsprozesse eines Archivs, beispielsweise durch die Erschließung eines kleinen Bestandes. Zwar sind die Praktika in der Regel unbezahlt, aber hier lassen sich noch unerforschte Themen für die Abschlussarbeit entdecken und Kontakte zu potenziellen Arbeitgebern knüpfen. Nach einem abgeschlossenen Studium gibt es mehrere Möglichkeiten, sich weiter für die Archivarslaufbahn fortbilden zu lassen. Für den höheren Archivdienst sind das die verwaltungsinternen Ausbildungen in Marburg und München. Darüber hinaus bietet die Fachhochschule Potsdam eine postgraduale Fernweiterbildung mit der Möglichkeit zur Externenprüfung zum Diplomarchivar (FH) an. Eine eindeutige Beschränkung des Potsdamer Abschlusses auf den gehobenen Dienst gibt es nicht. Die Absolventen nehmen zwar auch Beamtenstellen des gehobenen Dienstes im öffentlichen Dienst ein (kommunale und staatliche Archive), doch treten insbesondere die postgradualen Absolventen im Bereich der nicht-staatlichen Archive zunehmend in Konkurrenz zu den Archivaren des höheren Dienstes.

Die Ausbildung für den höheren Archivdienst an der Archivschule Marburg

Archivreferendare

In der Archivschule Marburg werden seit mehr als 50 Jahren Archivarinnen und Archivare des höheren wie auch des gehobenen Archivdienstes ausgebildet. Seit Anfang der 1990er Jahre bietet die Archivschule zusätzlich Fortbildungskurse an und veranstaltet archivwissenschaftliche Kolloquien. Entsendet werden die auszubildenden Referendare zu den theoretischen Kursen an die Archivschule Marburg von ihren Archivträgern. Die Ausbil-

2. Ausbildungssituation in Deutschland

dung liegt daher in der Regel im Verantwortungsbereich der Staatsarchive der Länder oder des Bundesarchivs und wird nach den jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen durchgeführt. Jeder Kurs findet in festen Gruppen von 15 bis 25 Teilnehmern statt. Bei freien Plätzen ist aber auch eine externe Teilnahme gegen Gebühren möglich. Die Vorbereitungszeit für den höheren Archivdienst dauert zwei Jahre. Acht Monate lang sammelt der Referendar praktische Erfahrungen in seinem Ausbildungsarchiv; 12 Monate lang findet die theoretische Fortbildung an der Archivschule in Marburg statt. Ergänzt werden diese beiden Abschnitte durch ein einmonatiges Praktikum am Bundesarchiv, eine zweimonatige Transferphase und die Prüfungsphase für das archivarische Staatsexamen. Die Gesamtnote setzt sich dabei aus mehreren Teilnoten zusammen, die der Archivreferendar sowohl während seiner praktischen als auch während seiner theoretischen Ausbildung erhalten hat. Der praktische Teil im Ausbildungsarchiv vermittelt u. a. Einblicke in die Zusammenarbeit mit den abgebenden Behörden, in die Bewertung und Erschließung von Beständen, in die Beratung von Benutzern sowie in die Öffentlichkeitsarbeit und historische Bildungsarbeit des Archivs. Die theoretische Ausbildung an der Archivschule Marburg vermittelt Kenntnisse über die archivischen Arbeitsmethoden und ihre historische Entwicklung. Das Marburger Kurrikulum sieht dabei eine Aufteilung der Lehrinhalte in vier Bereiche vor: Archivwissenschaft, Historische Hilfswissenschaften, Geschichtswissenschaften und die im Jahr 2000 neu hinzugekommenen Verwaltungswissenschaften. In das Fach Verwaltungswissenschaften flossen frühere Lehrinhalte der anderen Fächerkomplexe ein. Berücksichtigt wurde bei den neuen Inhalten auch die elektronische Kommunikation und die damit einhergehende Revolutionierung der Schriftlichkeit durch digitale Aufzeichnungstechniken (elektronische Bürosysteme u. a.). Darüber hinaus werden in Marburg Übungen zur Steigerung fachpraktischer Kompetenzen durchgeführt, die dem Erwerb von Techniken und dem Lesen von Schriften dienen. Ziel ist es, dass die Teilnehmer fast jedes Schriftstück, egal von wem es geschrieben wurde oder wie alt es ist, lesen und in den Entstehungszusammenhang sowie in den zeitlichen Kontext einordnen können. Kontakt und weitere Informationen: Archivschule Marburg Bismarckstr. 32 35037 Marburg Telefon: 06421 – 16971-0 Fax: 06421 – 16971-10 http://www.archivschule.de Einstellungsvoraussetzung für die Ausbildung zum Archivreferendar ist neben guten Latein- und Französischkenntnissen ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Hierbei wird ein abgeschlossenes Studium (Hochschuloder Erste Staatsprüfung) der Geschichte, der Rechtswissenschaften oder einer anderen geeigneten Fachrichtung vorausgesetzt. Teilweise ist auch die Promotion obligatorisch, zumindest aber erwünscht. In der Regel dürfen die Bewerber maximal 31 oder 34 Jahre alt sein; das Einstiegsalter variiert aber je nach Ausbildungsordnung. Abgelegt wird in Marburg das Zweite Staats-

Marburger Kurrikulum

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V. Berufsperspektiven

Bewerbungsunterlagen

examen, das die Teilnehmer für die Laufbahn des höheren Dienstes befähigt. Für die Bewerbung bei den Staatsarchiven der Länder bzw. beim Bundesarchiv müssen in der Regel folgende Unterlagen eingereicht werden: Lebenslauf (teilweise ist ein handgeschriebener Lebenslauf erwünscht), Lichtbilder, Reifezeugnis, Zeugnis über das abgeschlossene Studium, Publikationsverzeichnis sowie eventuell vorhandene Arbeitszeugnisse. Bewerber, die in die engere Wahl kommen, müssen zumeist weitere Dokumente, u. a. ein amtsärztliches Gesundheitszeugnis, ein Führungszeugnis aus dem Bundeszentralregister sowie die deutsche Staatsangehörigkeit oder die eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union nachweisen. Die genauen Anforderungen sind in den jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen nachzulesen. Die Stellenausschreibungen sind u. a. auf der Homepage der Archivschule Marburg und auf den Internetseiten der Ausbildungsarchive zu finden. Für den höheren Archivdienst kann man sich bei folgenden Behörden bewerben: Bundesarchiv 56064 Koblenz Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Archivstr. 12 – 14 14195 Berlin Landesarchivdirektion Baden-Württemberg Eugenstr. 7 70182 Stuttgart Landesarchiv Berlin Eichborndamm 115 – 121 13403 Berlin Staatsarchiv Bremen Am Staatsarchiv 1 28203 Bremen Staatsarchiv Hamburg Kattunbleiche 19 22041 Hamburg Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Mosbacher Str. 55 65187 Wiesbaden Hessisches Staatsarchiv Darmstadt Karolinenplatz 3 64289 Darmstadt Hessisches Staatsarchiv Marburg Friedrichsplatz 15 35037 Marburg

2. Ausbildungssituation in Deutschland

Landeshauptarchiv Schwerin Graf-Schack-Allee 2 19053 Schwerin Niedersächsische Staatskanzlei Referat 203 Planckstr. 2 30169 Hannover Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Zentrale Dienste Graf-Adolf-Str. 67 40210 Düsseldorf Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz Karmeliterstr. 1 – 3 56086 Koblenz Sächsisches Hauptstaatsarchiv Archivstr. 14 01097 Dresden Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Hegelstr. 25 39104 Magdeburg Landesarchiv Schleswig-Holstein Prinzenpalais 24837 Schleswig Thüringisches Hauptstaatsarchiv Marstallstr. 2 99423 Weimar

Postgraduale Fernweiterbildung an der Fachhochschule Potsdam Der Fachbereich 5 „Informationswissenschaften“ an der Fachhochschule Potsdam bietet ein weitgehend integriertes Studium der drei Informationsberufsfelder Archiv, Bibliothek und Dokumentation an. Hier kann man entweder ein Präsenzstudium zum Diplomarchivar (FH) oder eine Fernweiterbildung zur Vorbereitung auf die Externenprüfung (Diplomarchivar FH) absolvieren. Das Vollzeitstudium dauert acht Semester. In den ersten drei Semestern belegen Studierende der Bereiche Archiv, Bibliothek und Dokumentation gemeinsame Grundlagenseminare wie Einführungen in die EDV, das wissenschaftliche Arbeiten, die Grundlagen der Kommunikation und Präsentation, der Verwaltung, des Rechts und der Telekommunikation. Ergänzt werden diese im Bereich „Archiv“ durch fachspezifische Seminare wie Archivwissenschaft, Historische Hilfswissenschaft und Neueste Geschichte. Im Hauptstudium müssen die Studierenden das Hauptfach mit einem Nebenfach kombinieren – in der Regel entweder mit dem Fach Bibliothek oder Dokumentation, in eher seltenen Fällen beispielsweise auch mit Fächern

Integriertes Studium

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V. Berufsperspektiven

Weiterbildungskurse

Informationswissenschaftliche Berufsfelder

Präsenztermine

wie Kulturarbeit oder Kommunikationsdesign. Während des Studiums absolvieren die Studierenden mehrere Praktika: Im Grundstudium ein achtwöchiges Praktikum im Hauptfach; im Hauptstudium ein 22-wöchiges Praktikum im Hauptfach sowie ein achtwöchiges Praktikum im Nebenfach. Diese Praxiserfahrungen werden in ausführlichen Berichten dokumentiert und im sechsten Semester ausgewertet. Neben dem Vollzeitstudium bietet der Fachbereich 5 auch graduale (erstmals 2001) und postgraduale Fernweiterbildungen (erstmals 1999) an. Rein rechtlich handelt es sich also nicht um ein Studium, sondern um Weiterbildungskurse. Diese Kurse wurden in Analogie zur Diplomprüfungsordnung am Fachbereich 5 aufgebaut. So können die Leistungen der Kurse anerkannt werden und die Teilnehmer haben die Möglichkeit, ein Externenprüfungsverfahren zum Diplomarchivar (FH) anzuschließen. Für Absolventen einer anderen Hochschule, die bereits in einem Archiv tätig sind oder anderweitig Archiverfahrung gesammelt haben, sind die postgradualen Kurse berufsbegleitend eine gute Möglichkeit zur Vertiefung ihrer Kenntnisse. Die postgradualen Distance-Learning-Kurse beginnen derzeit in einem Rhythmus von zwei Jahren. Die Teilnehmer belegen mindestens 14 Module, teils Pflicht-, teils Wahlmodule, die mit einem Leistungsnachweis (in der Regel eine schriftliche Hausarbeit im Umfang einer Proseminararbeit) abgeschlossen werden. Jedes Modul kostet 200 Euro, die zumeist von den Teilnehmern selbst getragen werden müssen. Manchmal übernimmt der Arbeitgeber die Gesamtsumme der entstehenden Modul-, Unterkunfts- und Reisekosten, bisweilen auch Teilbeträge. Viele Teilnehmer werden für die Fortbildung zumindest freigestellt. Ähnlich wie im Präsenzstudium beziehen auch die Fernweiterbildungskurse die anderen informationswissenschaftlichen Berufsfelder ein. So gibt es beispielsweise Module zu den Themen „Informations- und Kommunikationstechnologien“ und „Bibliothekswesen und Bibliothekswissenschaft“. Einen weiteren Schwerpunkt setzen die Potsdamer Kurse bei dem Umgang mit neuen Medien, beispielweise in den Modulen „Digitale Edition“ oder „Datenbanken“. Darüber hinaus gehören u. a. mit den Modulen „Archivtechnik“, „Verwaltungsgeschichte“, „Historische Grundwissenschaften“ und „Paläographie“ tradierte, klassische Lehrinhalte zum Programm. Mehrmals im Jahr finden in Potsdam, gelegentlich auch an anderen Orten wie dem Westfälischen Archivamt in Münster, zweitägige Präsenztermine statt. Für jedes Modul findet an den Präsenzen eine Einführung und an einem späteren Termin eine Ausführung statt. Die bei der Einführung vorgestellten und später im Studium benutzten Lehrmaterialien reichen von Readern und CDs bis hin zu Zugriffen auf eLearning-Plattformen der Fachhochschule. Die postgradualen Kurse 1999 und 2001 waren mit 30 bis 40 Teilnehmern sehr gut ausgelastet, so dass 2003 sogar zwei Parallelkurse begonnen haben. Für die postgradualen Kurse sind folgende Bewerbungsunterlagen nötig: Bewerbungsschreiben, Lebenslauf, Hochschulzugangsberechtigung, Nachweis des Studienabschlusses und Nachweis einer beruflichen Tätigkeit in einer Archiveinrichtung.

2. Ausbildungssituation in Deutschland

Kontakt und weitere Informationen: Fachhochschule Potsdam Fachbereich 5: Informationswissenschaften Friedrich-Ebert-Str. 4 14467 Potsdam Tel.: 0331 – 580-1501 Fax: 0331 – 580-1599 http://informationswissenschaften.fh-potsdam.de/

Ausbildung zum höheren Archivdienst an der Bayerischen Archivschule, München Die staatlichen Archive Bayerns bilden für den gehobenen Archivdienst an der Münchner Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern aus. Die Anwärter für den Mittleren Archivdienst und den höheren Archivdienst werden an der Bayerischen Archivschule in München ausgebildet. Der Vorbereitungsdienst für den höheren Archivdienst dauert zwei Jahre, bestehend aus einem praktischen und einem theoretischen Ausbildungsteil von jeweils einem Jahr. Die Befähigung für die Laufbahn des höheren Archivdienstes wird durch erfolgreiche Ableistung des Vorbereitungsdienstes und das Bestehen der Anstellungsprüfung erworben. Die praktische Ausbildung wird an bayerischen Staatsarchiven und – mit Zustimmung des Archivträgers – zum Teil auch an nicht-staatlichen Archiven abgeleistet. Die theoretische Ausbildung umfasst nach der Zulassungs-, Ausbildungsund Prüfungsordnung für den höheren Archivdienst bei den öffentlichen Archiven (ZAPOhArchD) vom 30. Juli 2003 folgende Fächer: Archivwissenschaft, Archivalienkunde, Geschichtliche Hilfswissenschaften, Deutsche, lateinische und französische Schriftkunde, Bestandserhaltung, Archiv- und Informationstechnik, Archivrecht und Archivverwaltungslehre, Historischpolitische Bildungsarbeit, Verfassungs-, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Rechtsgeschichte und Kirchenrecht. Bewerber für den Vorbereitungsdienst dürfen das 32. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und sollen über gute Kenntnisse der lateinischen und französischen Sprache verfügen. Die französischen Sprachkenntnisse können gegebenenfalls während des Vorbereitungsdienstes erworben werden. Außerdem sollen Bewerber die „Erste Juristische Staatsprüfung oder die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien in einer Fächerverbindung mit Geschichte und mit einer schriftlichen Hausarbeit in Geschichte bestanden oder ein Studium der Geschichtswissenschaft an einer wissenschaftlichen Hochschule mit einer für die Einstufung in den höheren Dienst anerkannten Hochschulprüfung erfolgreich abgeschlossen haben“ (ZAPOhArchD vom 30. Juli 2003). Darüber hinaus müssen Absolventen der Rechtswissenschaften Kenntnisse in Rechtsgeschichte und Absolventen der Geschichtswissenschaft Kenntnisse in den historischen Hilfswissenschaften, insbesondere der Schriftkunde und Urkundenlehre, nachweisen. Nicht obligatorisch, aber dennoch erwünscht, ist eine Promotion mit einer „möglichst unter Verwendung archivalischer Quellen angefertigten Arbeit aus der deutschen, insbesondere bayerischen Geschichte“ (ZAPOhArchD vom 30. Juli 2003).

Praktischer und theoretischer Ausbildungsteil

Gute Sprachkenntnisse

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V. Berufsperspektiven

Gegliedert sind die staatlichen Archive Bayerns in die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, das Bayerische Hauptstaatsarchiv und die Staatsarchive. Die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns ist die zentrale staatliche Fachbehörde für alle Fragen des Archivwesens und eine dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus nachgeordnete Behörde der Mittelstufe mit dem Sitz in München. Die Generaldirektion regelt die Durchführung des Vorbereitungsdienstes im Einzelnen und weist die Archivreferendare den verschiedenen Ausbildungsabschnitten zu. Der Generaldirektion sind das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München sowie die Staatsarchive Amberg, Augsburg, Bamberg, Coburg, Landshut, München, Nürnberg und Würzburg nachgeordnet. Weitere Informationen: Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns Schönfeldstr. 5 80539 München Tel.: 089/28638-2482 Fax: 089/28638-2615 E-Mail: [email protected] http://www.gda.bayern.de/

Glossar wichtiger Fachbegriffe Ablieferungsliste: Bei Übergabe von Archivgut an ein Archiv wird eine Liste der übergebenen Unterlagen erstellt, die als Beleg für die Übergabe und bis zur eigentlichen Erschließung als behelfsmäßiges Findmittel dient. Adelsarchiv: Familienarchiv / Hausarchiv einer adeligen Familie, für die Zeit vor ca. 1800 auch Archiv ihrer Herrschaft. Teilweise in öffentlichen Archiven hinterlegt, sonst als Privatarchiv geführt. Akte: Einheit von Schriftstücken mit dem gleichen Betreff bzw. Aktentitel. In der Regel in Verwaltungen gebildet. Akten werden dort in der Registratur geführt. Aktenplan: In Registraturen von Verwaltungen gepflegte, meist hierarchische Aufstellungssystematik für Akten. Kann in Archiven als Grundlage für die Klassifikation bzw. als behelfsmäßiges Findmittel dienen. Weist für jede Akte ein Aktenzeichen aus. Aktentitel: Kurzbezeichnung für Inhalt und / oder Entstehungszweck einer Akte. Aktenzeichen (Az): Numerisch oder alphanumerisch gebildetes Kurzkennzeichen für eine Akte. Entspricht einer Position im Aktenplan. Für die Benutzung bedeutsam, wenn in den Schriftstücken auf andere Akten verwiesen wird (die oft nur über das Az. kenntlich gemacht werden). fi Signatur. Akzession: Zugang von Archivalien in ein Archiv, Übernahme als Archivgut. Einzelne Zugänge werden oft in sogenannten Akzessionsbüchern oder -journalen verzeichnet, die Aufschluss über Zeitpunkt und Herkunft eines Zugangs enthalten. Altregistratur: Innerhalb einer Behörde der Teil einer Registratur, in der nicht mehr aktuelle Akten verwahrt werden, die kurz vor der Archivreife stehen. fi Zwischenarchiv, Verwaltungsarchiv. Amtsbuch: Im Zuge von Verwaltungsprozessen werden keine Akten geführt, sondern es werden Einträge in ein Amtsbuch getätigt (z. B. Protokollbuch, Rechnungsbuch, Lagerbuch), meist chronologisch, alphabetisch oder nach einem Rubrikenschema. Amtsdrucksachen: fi Drucksachen. Anbietungspflicht: Pflicht einer Behörde, Unterlagen, die nicht mehr für den laufenden Geschäftsbetrieb benötigt werden, dem zuständigen Archiv zur Bewertung und zur Übernahme anzubieten.

Archiv: a) Gebäude oder Raum, in dem Archivalien lagern, b) Institution, die Archivalien verwaltet, c) ein Bestand bestimmter, nicht-öffentlicher Herkunft, d) Bezeichnung für Zeitschriften, SoftwareModule usw. Archivalie / Archivale: Einzelnes Dokument, Schriftstück, Amtsbuch usw., das in einem Archiv verwahrt wird. Für den Plural auch: Archivgut. Archivalieneinheit (AE), Verzeichnungseinheit (VE): Zusammenstellung einzelner Archivalien zu einer Einheit in einer Mappe, einer Kapsel etc. Oft eine vorgefundene Akte. Archivdepot: Außenlager für Archivgut. Archivgesetze: Seit den späten 1980er Jahren beim Bund und allen Bundesländern erlassene Gesetze, die die Stellung, Rechte und Pflichten von öffentlichen Archiven und ihren Benutzern regeln. Archivgut: fi Archivalie. Archivreife: Unterlagen, die in Behörden nicht mehr benötigt werden und deren Aufbewahrungsfristen abgelaufen sind, sind archivreif, können also dem zuständigen Archiv angeboten werden. Archivsprengel: fi Sprengel. Archivtektonik: fi Tektonik. Archivträger: Öffentliche Stelle, Institution, Unternehmen, Einzelperson usw., die ein Archiv unterhält. Archivwürdig: Unterlagen, die im Zuge der archivischen Bewertung für eine dauerhafte Aufbewahrung ausgewählt wurden, da sie aus historischen, kulturellen, praktischen oder rechtlichen Gründen dauerhaft aufzubewahren sind. Gegenteil: fi kassabel. Aufbewahrungsfristen: Gesetzliche oder verordnete Fristen, wie lange Akten in Behörden aus rechtssichernden Gründen aufbewahrt werden müssen, bevor sie kassiert werden dürfen. Aushebung: Der Vorgang, Archivalien auf Bestellung eines Benutzers aus dem Magazin in den Lesesaal zu bringen. Gegenteil: fi Reponierung. Ausleihe: Archivalien werden in den seltensten Fällen ausgeliehen, so dass die Präsenznutzung die Regel ist. Ausnahmen werden v. a. für Ausstellungen in anderen Institutionen gemacht, wenn dies unter konservatorischen und Sicherheitsaspekten zu verantworten ist. Auslesearchiv: In der Frühen Neuzeit ein zentrales Archiv, in dem die wichtigsten Archivalien aus

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Glossar wichtiger Fachbegriffe dem gesamten Bereich des jeweiligen Archivträgers zusammengeführt wurden. Aussonderung: Behörden sondern die archivreifen Akten aus und bieten sie dem zuständigen Archiv zur Bewertung an. Autograph: Eigenhändig geschriebenes Schriftstück einer bedeutenden Persönlichkeit. In Autographensammlungen in Bibliotheken und Literaturarchiven als Einzelstück bzw. Gruppe von Autographen der gleichen Herkunft zu finden, aber auch wegen ihres Sammlerwertes einzeln bei Privatpersonen und in sonstigen Sammlungen. Die Benutzung des Begriffs Autograph durch eine archivartige Institution deutet auf eine Einzelblatterschließung in Katalogen und / oder Anwendung des Pertinenzprinzips hin. Autopsie: Bearbeitung anhand des Originals. AV-Material: Audiovisuelle Unterlagen wie Tonträger, Videos, Magnetaufzeichnungen usw. Band: Archivalieneinheit, gebunden z. B. als Amtsbuch oder ungebunden als Band einer Aktenserie. Behördenarchiv: fi Verwaltungsarchiv. Belegexemplar: Resultiert aus einer Benutzung eine Veröffentlichung, sollte in der Regel ein Exemplar als Beleg an das benutzte Archiv abgegeben werden. Benutzung / Benutzer: Einsichtnahme in Archivalien, Auswertung für persönliche, wissenschaftliche, juristische oder andere Zwecke. Benutzungsantrag: Ist bei der ersten Benutzung in den meisten Archiven auszufüllen. Verzeichnet Namen und Forschungsthema und dient der Anerkennung der Benutzungsordnung des jeweiligen Archivs. Benutzungsordnung: Legt die Rechte und Pflichten der Benutzer und des Archivpersonals fest. Wird mit Unterzeichnung eines Benutzungsantrages anerkannt. Bestand: Archivalien der gleichen Herkunft (Provenienz) werden zu einem Bestand zusammengefasst. Findmittel verzeichnen die einzelnen Archivalieneinheiten eines Bestandes, während eine Beständeübersicht alle einzelnen Bestände eines Archivs verzeichnet. fi Fonds. Beständeübersicht: Systematische Übersicht über alle in einem Archiv verfügbaren Bestände mit kurzen Erläuterungen zum Inhalt. Mittlerweile oft im Internet verfügbar. Bestandserhaltung: Alle Maßnahmen, die der Sicherung des Erhalts von Archivalien oder der in ihnen enthaltenen Information dienen. fi Schutzverfilmung, Ersatzverfilmung, Sicherheitsverfilmung, Papierzerfall, Schimmel. Bestellschein: Vorgefertigtes Formular, das der Benutzer in vielen Archiven ausfüllen muss, um Archi-

valien in den Benutzersaal zu bestellen. Der Durchschlag oder eine Kopie hiervon wird oftmals als fi Stellvertreter genutzt. Bewertung: Aus den zur Archivierung angebotenen archivreifen Unterlagen werden die archivwürdigen, d. h. dauerhaft aufzubewahrenden, ausgewählt. fi Kassation. Bibliothek: In Zusammenhang mit Archiven a) Dienstbibliothek eines Archivs, die Spezialliteratur zu den eigenen Beständen und zum Sprengel sowie Belegexemplare enthält. Steht meist der Präsenznutzung offen, b) Innerhalb des Bibliothekswesens Abteilungen oder Spezialbibliotheken mit archivischem Charakter (z. B. Handschriften- oder Autographenabteilungen), c) sogenannte Archivbibliothek: Scheidet einmal übernommene Bücher nicht mehr aus, sondern verwahrt sie dauerhaft, z. B. als Landesbibliothek, die den Auftrag hat, von allen Druckerzeugnissen ihres Sprengels jeweils ein Exemplar zu archivieren. Bundesarchiv: Deutsches Nationalarchiv mit Zuständigkeit für alle Bundesbehörden (sowie Vorgängereinrichtungen des Deutschen Reiches und der DDR) sowie Sammlungen von nationaler Bedeutung. Büschel: In Württemberg Bezeichnung für eine Archivalieneinheit. Darin-Vermerk: fi Erschließung. Datenschutz: fi Sperrfrist. Depositum: Ein Bestand privater Herkunft wird einem Archiv nur als Leihgabe übergeben, das Eigentum bleibt davon unberührt. Für die Benutzung nur relevant, wenn sich der Eigentümer gewisse Rechte wie z. B. die Erteilung einer besonderen Benutzungsgenehmigung vorbehalten hat. Digitale Daten: Neben die Information auf traditionellen Trägermaterialien (Pergament, Papier) treten zunehmend Informationen, die nur noch in digitaler Form vorliegen (z. B. Internet, Datenbanken). Ihre langfristige Archivierung ist wegen der sich wandelnden Standards und Techniken und wegen des vergleichsweise raschen Zerfalls von Magnetbändern, Disketten, CDs, DVDs (Haltbarkeit je nach Qualität im Zweifelsfall bei nur 5 Jahren) schwierig. Drucksachen: Obwohl Drucksachen in der Regel in Bibliotheken zu suchen sind, pflegen viele Archive Drucksachensammlungen, zum einen für Amtsdrucksachen der abgabepflichtigen Stellen der Verwaltung (d. h. von diesen herausgegebene Drucksachen, die neben den Akten zur Erforschung ihrer Tätigkeit wichtig sind) und zum anderen zur Aufnahme so genannter „grauer“ Literatur aus ihrem Sprengel, d. h. von Publikationen, die

Glossar wichtiger Fachbegriffe nicht von Verlagen oder Verwaltungen herausgebracht wurden. Einzelblatterschließung: fi Erschließung, Autograph. Enthält-Vermerk: fi Erschließung. Entsäuerung: fi Papierzerfall. Ersatzverfilmung: Archivalien in sehr schlechtem Zustand, der eine Erhaltung des Originals ausschließt, werden auf Mikrofilm oder -fiche abgelichtet, um wenigstens ein Bild als Ersatz für das Original erhalten zu können. Erschließung: Bezogen auf einzelne Archivalieneinheiten: Verzeichnung. Für jede Archivalieneinheit (bei der Einzelblatterschließung: für jedes Schriftstück) wird ein Titel gebildet, der den wesentlichen Inhalt und Entstehungszweck wiedergibt. Der Enthält-Vermerk (Intus) dient dann der Ergänzung des Titels, d. h. seiner Präzisierung oder der Angabe von solchen Unterlagen, die in der Archivalieneinheit über das, was der Titel angibt, hinaus enthalten sind. Desgleichen der Darin-Vermerk. Weitere Angaben, die der besseren Einschätzung des Inhalts der Archivalieneinheit dienen, sind die Laufzeit, der Umfang, ggf. Vorprovenienzen und Vorsignaturen. Faksimile: Originalgetreue Reproduktion einer Vorlage, z. B. einer Handschrift. Wird oftmals zu Ausstellungszwecken hergestellt, um die Originale nicht der Licht- und Wärmebelastung auszusetzen. Familienarchiv: Archiv einer bestimmten Familie (oft eine Gruppe von Nachlässen der Mitglieder einer Familie), das entweder als Privatarchiv im eigenen Besitz verbleibt oder an ein anderes Archiv übergeben wird. Faszikel: Bestimmte Form bzw. Bezeichnung für eine Archivalieneinheit. Findbuch: fi Findmittel. Findmittel: Alle Hilfsmittel, die die Orientierung innerhalb von Archivbeständen ermöglichen, Ergebnis der archivischen Erschließung. Enthalten nur Informationen über Archivgut, keine Darstellungen, Editionen oder Auswertungen. Entweder in Form von Findbüchern (älterer Begriff: Repertorien, Inventar), die die Archivalien eines Bestandes mit Angaben von Titeln, Laufzeiten, Umfang in strukturierter Form auflisten (Klassifikation), ergänzt durch eine Einleitung zur Bestandsgeschichte und einen Index. Oder in Form von Findkarteien (Zettelkataloge) oder vorläufigen Findmitteln wie Listen und provisorischen Aufstellungen. Heute oft auch in Form einer Datenbank. Foliierung: Blattzählung im Unterschied zur Seitenzählung (Paginierung). Wird auf gebundenen und ungebundenen ungezählten Archivalien nachträglich angebracht (oft rechts oben auf der Seite), um

die ursprüngliche Reihenfolge der Blätter zu kennzeichnen und die Suche bzw. Zitierfähigkeit innerhalb der Archivalieneinheit zu erleichtern. Zur Unterscheidung der Vorder- und Rückseite eines Blattes dienen die lateinischen Zusätze r[ecto] (Vorderseite) und v[erso] (Rückseite). Fonds: Bestand. Die Begriffe werden a) synonym gebraucht, b) Fonds bezeichnet einen Bestand, der über eine gemeinsame Signatur, nicht jedoch über eine gemeinsame Provenienz definiert ist (so z. B. in Handschriftenabteilungen von Bibliotheken gebräuchlich, fi Sammlung), c) bei strikter Verfolgung des Provenienzprinzips bezeichnet Fonds einen Bestand gleicher Herkunft, dessen innere Struktur verändert wurde (während sonst das Provenienzprinzip fordert, die innere Struktur intakt zu lassen). Freies Archiv: Archiv, das von einer privaten Initiative gegründet und betrieben wird, daher als nicht-öffentliches Archiv Träger einer Sammlung. Verbreitet entweder als Stadtteilarchiv mit lokalem Sammlungsprofil oder mit politisch-gesellschaftlich-didaktischer Stoßrichtung als alternatives Archiv oder Geschichtswerkstatt. Gemeindearchiv: De facto kleines Stadtarchiv. Geschäftsverteilungsplan: Übersicht über die Verteilung der Zuständigkeiten und Aufgaben in einer Behörde. Geschlossener Bestand: Der Bestand erhält keine weiteren Zuwächse mehr. Hauptstaatsarchiv, Landeshauptarchiv: Staatsarchiv mit der Zuständigkeit für oberste Landesbehörden (Ministerien). Hausarchiv: Familienarchiv von Herrschafts- und Adelsdynastien, betreffend die inneren Angelegenheiten der Familie. fi Adelsarchiv. Index, Register: Alphabetische Wortliste mit vorkommenden Namen, Institutionen, Orten und / oder Sachbetreffen sowie der zugehörigen Belegstellen. In Findmitteln eine ergänzende Recherchemöglichkeit zur Klassifikation. Intus: Enthält. Inventar: fi Findmittel. Kapsel: Karton, Schachtel oder Schuber zur Verwahrung von Archivalien. Kartei: fi Findmittel. Kassation / kassabel: Unterlagen, die im Zuge der archivischen Bewertung zur Vernichtung freigegeben werden. Gegenteil: archivwürdig. Katalog: fi Findmittel. Kirchenarchiv: Archiv der Kirchen aller Konfessionen. Das kirchliche Archivwesen ist in Analogie zum staatlichen organisiert, wobei sich die Sprengel an den Grenzen der Bistümer und Landeskirchen orientieren.

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Glossar wichtiger Fachbegriffe Klassifikation: Systematische Gliederung eines Bestandes in Gruppen mit dem Ziel der Zusammenfassung aufeinander bezogener Archivalieneinheiten. Erleichtert die Recherche, da nicht alle Archivalieneinheiten eines Bestandes Stück für Stück durchgegangen werden müssen, sondern eine Konzentration auf einschlägige Teile erfolgen kann. In Findbüchern gleichzusetzen mit dem Inhaltsverzeichnis. fi Erschließung. Kollationierung: Überprüfung der Vollständigkeit und der richtigen Reihenfolge der einzelnen Blätter einer Archivalieneinheit. Konkordanz: Gegenüberstellung verschiedener Signatur- oder Kennzeichnungssysteme, z. B. tabellarische Übersicht über frühere Aktenzeichen und die zugehörigen im Archiv gültigen Signaturen. Kopialbuch / Kopiar: Historischer Amtsbuchtyp mit Abschriften von Urkunden. Kreisarchiv: Zuständig für die Überlieferung der Landkreise bzw. für die Archivpflege bei Kommunen ihres Landkreises. Landesarchiv: fi Staatsarchiv. Landeshauptarchiv: fi Hauptstaatsarchiv. Laufender Meter (lfm), Regalmeter: Mengenangabe für Archivalien. Meist Messung der Kartons, in denen die Archivalien lagern. Wie viele einzelne Blätter sich hinter der Maßangabe verbergen, hängt dann von den Aufstellungsgewohnheiten des Archivs ab. Eine Richtgröße kann sein: 1 lfm = 8000 – 10 000 Blatt. Laufzeit: Bezeichnet den Zeitraum, aus dem die einzelnen Schriftstücke in einer Archivalieneinheit stammen. Bei einer Akte Datum der Erstellung des ältesten bis zum Datum des jüngsten Vermerks auf dem jüngsten Schriftstück. Lesesaal: Raum, in dem die Benutzung stattfindet. Literaturarchiv: Sammelt in der Regel Nachlässe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern und ergänzende Unterlagen wie Verlagsarchive. Oft entstanden in Verbindung mit einer Bibliothek. Magazin: Raum bzw. Räume, in denen die Archivalien dauerhaft lagern. Aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich zugänglich. Massenakten: Akten, die im Zuge eines massenhaft durchgeführten, gleichförmigen Verwaltungsverfahrens entstehen, Einzelfallakten, z. B. Sozialhilfeakten. Wegen der großen Zahl paralleler Einzelfälle wird zumeist nur ein Teil der Massenakten archiviert, ein Sample (das selten eine repräsentative, meist eine exemplarische Auswahl darstellt). Medium: Oberbegriff für alle unterschiedlichen Arten von Archivalien sowie Bibliotheksgut. Nachlass: Unterlagen aus dem Besitz einer physischen Person, d. h. privater Herkunft. fi Vorlass.

Nicht-öffentliches Archiv: Privates Archiv bzw. Archiv, das nicht auf der Grundlage eines Archivgesetzes und eines entsprechenden öffentlichen Auftrages arbeitet. Die Bezeichnung bezieht sich nur auf die rechtliche Qualität des Archivs, nicht auf die Benutzungsmodalitäten, die bisweilen freizügiger sind als bei öffentlichen Archiven. Öffentliches Archiv: Staatliches oder kommunales Archiv oder Archiv einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Arbeitet auf der Grundlage der Archivgesetze im öffentlichen Auftrag. Paginierung: Anbringen einer Seitenzählung auf ungezählten Seiten einer Archivalieneinheit, schon in der Behörde oder erst im Archiv. Papierzerfall: Fast alle Papiersorten ab ca. 1830/40 bis in die 1990er Jahre hinein wurden so hergestellt, dass schon bei der Produktion Säure enthalten war, die im Lauf der Zeit das Papier zerstört. Hauptbedrohung für die Bestände aller Archive und Bibliotheken aus diesem Entstehungszeitraum. Verfahren der Massenentsäuerung (die dem Papier die Säure entziehen und den Zerfall stoppen oder wenigstens verlangsamen) sind noch nicht weit genug entwickelt, um sie unterschiedslos und kostengünstig großflächig anwenden zu können. Daher wird in absehbarer Zeit vielfach der Ersatzfilm das einzige Benutzungsmedium vieler Archivalien sein. fi Bestandserhaltung. Parteiarchiv: Archive der politischen Parteien, rechtlich Stiftungsarchive. Pertinenz, Pertinenzprinzip: Gliederung eines Archivbestandes nach Sach-, Orts- oder Personenbetreffen ohne Rücksicht auf Entstehungszusammenhänge. Gegenteil: fi Provenienzprinzip. Provenienz, Provenienzprinzip: Gliederung eines Archivbestandes nach der Herkunft der Unterlagen. Alle Archivalien einer Provenienz (Herkunft) bleiben im selben Bestand möglichst in der vorgefundenen Ordnung beisammen, d. h. im Entstehungszusammenhang. Im deutschen Archivwesen vorherrschendes Prinzip. Gegenteil: fi Pertinenzprinzip. Quadrangulierung: Sonderform der Foliierung. R[ecto]: fi Foliierung. Readerprinter: Gerät zur Rückvergrößerung von Mikrofilmen und -fiches auf Papier. Recherche: Suche nach Archivalien für die Bearbeitung eines bestimmten Themas unter Zuhilfenahme von Findmitteln. Regalmeter: fi laufender Meter. Regest: Verkürzte Angabe des wesentlichen Inhalts eines Schriftstücks. Meist für die Erschließung mittelalterlicher Urkunden verwandt. Register: fi Index.

Glossar wichtiger Fachbegriffe Registratur: Die laufenden Akten einer Behörde, auch Bezeichnung für den Raum, in dem diese lagern. fi Altregistratur. Reichsarchiv: Vorläufer des Bundesarchivs (heute dessen Teil). Zuständig für Reichsbehörden vor 1945. Repertorium: fi Findmittel. Reponieren: Archivalien werden nach der Benutzung vom Lesesaal zurück an ihren Standort im Magazin gebracht. Gegenteil: Aushebung. Reproduktionen: Kopie (Xerokopie), Foto, Mikrofilm, Mikrofiche oder Digitalisat von Archivalien. Für persönliche Zwecke eines Benutzers oder systematisch zur Bestandserhaltung erstellt. Zu beachten sind eventuelle Urheberrechtsverletzungen. Rubrizierung: a) Kurzangabe des Inhalts eines Schriftstücks oder einer Akte, b) in mittelalterlichen Handschriften die meist rote Kenntlichmachung von Überschriften, Abschnitten usw., c) Bildung von Rubriken, d. h. Klassifikation. Rundfunkarchiv: Archiv einer Sendeanstalt. Enthält neben Akten v. a. Tonmitschnitte. fi AV-Material. Sachthematisches Inventar: Bestände- und archivübergreifende Findmittel mit dem Zweck, Quellen zu einer bestimmten Thematik zu verzeichnen. Tritt als pertinenzorientierter Zugang neben die eigentlichen Findmittel. Sammlung: Alle Bestände meist privater Herkunft, die nicht auf Grund einer Abgabeverpflichtung an das Archiv gelangt sind (worauf das Archiv passiv warten kann), sondern die aktiv erworben wurden, oft ohne Berücksichtigung von Entstehungszusammenhängen. Dient der Ergänzung der staatlichen Überlieferung, z. B. Nachlässe oder Zeitungsausschnittsammlung. Sample: fi Massenakten. Schimmel: Bei ungünstigen Lagerbedingungen entwickelt sich Schimmel auf und in Archivalien. In diesem Fall bestehen hohe Gesundheitsrisiken (Atemwegserkrankungen, Allergien, Krebs, Vergiftungen) bei der Benutzung, die – wenn überhaupt – nur mit einer Schutzausrüstung (Handschuhe, Mundschutz) zu verantworten ist. Häufiges Händewaschen ist weger der Schimmelgefahr in jedem Archiv zu empfehlen. Bei zu starkem Pilzbefall (erkennbar u. a. an weißen, roten, rosafarbenen, schwarzen Verfärbungen, Punkten oder Belägen) müssen die Archivalien der Benutzung vollständig entzogen werden. fi Bestandserhaltung. Schutzfrist, Sperrfrist: Gesetzliche Fristen, wie lange Archivalien aus Daten- und Persönlichkeitsschutzgründen Benutzern in der Regel nicht vorgelegt werden dürfen. In der Regel 30 Jahre nach Schlie-

ßung einer Akte, bei personenbezogenen Unterlagen 10 Jahre nach dem Tod der Person. Die Fristen können auf Antrag verkürzt werden. Schutzverfilmung: Archivalien werden auf Mikrofilm oder -fiche abgelichtet, die dann das eigentliche Benutzungsmedium darstellen. Die Originale werden zu ihrer Schonung nur noch in Ausnahmefällen vorgelegt. Wird insbesondere für stark benutzte oder stark geschädigte Archivalien verwandt. Selekt: Bildung eines neuen Bestandes (Selekt) durch Entnahme aus anderen Beständen, z. B. Urkundenselekt: Urkunden werden aus allen Beständen des Archivs entnommen und zusammengefasst. Sicherheitsverfilmung: Ähnlich Schutzverfilmung: Archivalien werden auf Mikrofilm oder -fiche abgelichtet, aber noch im Original vorgelegt. Signatur: Identifikationsnummer bzw. Kombination von Nummern und Buchstaben zur genauen Kennzeichnung jedes Archivales. Splitternachlass: Nur ein kleiner Teil eines Nachlasses, der in einem anderen Archiv als der eigentliche Bestand liegt. Sprengel: Bei Archiven mit einem fest umrissenen Zuständigkeitsbereich die Bezeichnung für diesen Zuständigkeitsbereich, z. B. zuständig für die Landesbehörden des Regierungsbezirks XY. Sprengel können sowohl geographisch als auch durch die an ein bestimmtes Archiv abgabepflichtigen Stellen definiert sein. Staatsarchiv, Landesarchiv: Zuständig für Landesbehörden. Stadtarchiv: Zuständig für kommunale Behörden. Stellvertreter: Doppel des Bestellscheins, das im Magazin auf die ausgehobene Einheit und ihre Benutzung hinweist. Der Stellvertreter bleibt an seinem Platz, bis die Archivalieneinheit wieder reponiert wird. Stiftungsarchiv: Archiv einer Stiftung. Tektonik: Verhältnis der Bestände eines Archivs zueinander, ihre Einteilung in zusammengehörige Gruppe (z. B. nach Provenienzen oder Zeitschnitten). Totes Archiv: Archiv, das keine Zuwächse mehr erhält, sondern nur noch den vorhandenen Bestand verwaltet. Übernahme: Ein Archiv übernimmt ihm angebotene Unterlagen in seinen Bestand. Universitätsarchiv: Archiv mit Zuständigkeit für eine Hochschule / Universität, meist mit einem großen Anteil von Professoren-Nachlässen. Urheberrecht: Bei der Publikation von Archivalien können das Urheberrecht und / oder das Verwertungsrechts des Erstellers bzw. seiner Erben beeinträchtigt werden, das in der Regel bis 70 Jahre

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Glossar wichtiger Fachbegriffe nach dem Tod des Urhebers wirksam ist. Bei Publikationen sind dann Genehmigungen einzuholen. V[erso]: fi Foliierung. Verwaltungsarchiv: Umgangssprachlicher Begriff für Altregistratur. Verzeichnung: fi Erschließung. Verzeichnungseinheit (VE): Archivalieneinheit. Vorlass: Schon zu Lebzeiten einem Archiv übergebener Nachlass. Vorprovenienz: Insbesondere bei Verwaltungsunterlagen, die wegen eines Wechsels in der Zuständigkeit von einer Behörde zu einer anderen oder innerhalb einer Behörde zwischen Abteilungen verlegt worden sind: Gibt die Provenienz vor der Stelle an, von der die Akten in das Archiv gelangt sind.

Vorsignaturen: Die Signatur der Archivalieneinheit bei der Vorprovenienz oder bei einer früheren Erschließung. Wichtig zu kennen, wenn ältere Literatur die Archivalieneinheit unter der Vorsignatur zitiert. fi Konkordanz. Wirtschaftsarchiv: a) Archiv eines einzelnen Wirtschaftsunternehmens oder -verbandes, b) als regionales Wirtschaftsarchiv zuständig für alle Unternehmen eines Sprengels (allerdings auf freiwilliger Basis). Xerokopie: fi Reproduktionen. Zugang: fi Akzession. Zwischenarchiv: Vergleichbar einer Altregistratur. Enthält nicht mehr laufende Akten, die noch einer Aufbewahrungsfrist unterliegen und daher noch nicht bewertet wurden.

Literatur 50 Jahre Verein Deutscher Archivare. Bilanz und Perspektiven des Archivwesens in Deutschland. Referate des 67. Deutschen Archivtags und des Internationalen Kolloquiums zum Thema: die Rolle der archivarischen Fachverbände in der Entwicklung des Berufsstandes, 17. – 20. September 1996 in Darmstadt (Der Archivar. Beiband 2). Siegburg 1997. [Der Band entstand anlässlich des Jubiläums des wichtigsten deutschen archivischen Berufsverbands und widmet sich grundsätzlichen Fragen archivischen Arbeitens in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.] Der Archivar. Mitteilungsblatt für das deutsche Archivwesen. 1 (1947/48). [Das zentrale Organ für deutsche Archivarinnen und Archivare, erscheint viermal im Jahr. Enthalten sind u. a. Hinweise auf neu erworbene oder erschlossene Bestände.] Archive in der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und der Schweiz. Ein Adressverzeichnis, hrsg. vom Verein Deutscher Archivare. Münster 18., aktualisierte Aufl. 2005. [Für Deutschland hilfreiches aktuelles Adressbuch. Enthalten sind die Anschriften der Archive des Bundes, der Länder, der Städte und Gemeinden, der Wirtschaft, der Kirchen, des Adels, der Vereine und politischen Parteien, der Medien und der Universitäten. Hinzu kommen die Adressen nationaler und internationaler Fachverbände Europas und der USA. Es erscheinen regelmäßig aktualisierte Ausgaben.] Das Archivwesen im 20. Jahrhundert: Bilanz und Perspektiven. Vorträge des 60. Südwestdeutschen Archivtags am 3. Juni 2000 in Aalen. Stuttgart 2002. [Die Beiträge haben zwar südwestdeutsche Archive im Blick, zeigen aber exemplarisch neuere Entwicklungen des Archivwesens auf.] Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997. Beck, Friedrich / Henning, Eckhart: Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Köln 4. Aufl. 2004. [Ein nützliches Standardwerk zur Quellenkunde. Es gibt Forschern eine praktische Anleitung zur Benutzung und Auswertung archivalischer Quellen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Dabei widmet

sich dieser Band sowohl Beständen aus Pergament und Papier als auch elektronischen Überlieferungsträgern. Wertvoll und anschaulich sind vor allen Dingen die abgedruckten Beispiele.] Boeselager, Elke von: Schriftkunde. Basiswissen. Hannover 2004. [Eignet sich als kurze Einführung in die Paläographie.] Brandt, Ahasver von: Werkzeug des Historikers: eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften. Stuttgart 16., aktualisierte Aufl. 2003. [Klassische Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, die für die Auswertung v. a. älterer Archivalien wichtig sind.] Buchholz, Matthias: Überlieferungsbildung bei massenhaft gleichförmigen Einzelfallakten im Spannungsverhältnis von Bewertungsdiskussion, Repräsentativität und Nutzungsperspektive. Eine Fallstudie am Beispiel von Sozialhilfeakten der oberbergischen Gemeinde Lindlar (Rheinisches Archiv- und Museumsamt, Archivberatungsstelle. Archivhefte Nr. 35). Pulheim 2001. [Obwohl es sich hierbei um eine Untersuchung zu den Sozialhilfeakten der oberbergischen Gemeinde Lindlar handelt, ist dieser Titel in die Auswahlbibliographie aufgenommen worden, denn er bietet eine ausführliche und kritische Würdigung der deutschen Bewertungsdiskussion. Buchholz bezieht darüber hinaus den Gesichtspunkt der Nutzung anhand seines Beispiels fruchtbar ein.] Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Berlin 1997. Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002. [Der zwischen persönlichem Bekenntnis und Theoriediskurs vermittelnde schmale Band stellt die Archivproblematik in einen europäischen Intellektuellendiskurs.] Espagne, Michel / Midell, Katharina / Middell, Matthias (Hrsg.): Archiv und Gedächtnis. Studien zur interkulturellen Überlieferung. Leipzig 2000. [Der Band enthält weiterführende Beiträge zum Thema Archiv, vor allem auch zu Literaturarchiven.] Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973. François, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2001. Franz, Eckhart G.: Einführung in die Archivkunde. Darmstadt 6. Aufl. 2004. [Der Klassiker unter den Einführungen in das Archivwesen.]

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Literatur Gallio, Claudio: Freie Laufbahn. Berufe für Geisteswissenschaftler. Mannheim 1995. [Der Band enthält weiterführende Literatur, Angaben über Periodika zum Thema und Adressen.] Gaus, Wilhelm: Berufe im Informationswesen. Archiv, Bibliothek, Buchwissenschaft, Information und Dokumentation, Medizinische Dokumentation, Medizinische Informatik, Computerlinguistik, Museum. Ein Wegweiser zur Ausbildung im Archiv-, Bibliotheks-, Informations- und Dokumentationswesen. Berlin u. a. 5. Aufl. 2002. Glauert, Mario / Ruhnau, Sabine (Hrsg.): Verwahren, Sichern, Erhalten. Handreichungen zur Bestandserhaltung in Archiven (Veröffentlichungen der brandenburgischen Landesfachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken. Bd. 1, zugleich Veröffentlichungen des Landesverbandes Brandenburg des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. Bd. 2). Potsdam 2005. [Einführung in die Problematik der Bestandserhaltung.] Ickstadt, Heinz (Hrsg.): Berufe für Philologen. Darmstadt 2004. [Die sehr persönlichen Erfahrungsberichte geben einen interessanten Einblick in die produktive Kraft von Umwegen bei der Berufserkundung und Berufswahl. Weiterführende Literatur und hilfreiche Internetadressen werden im Anhang vermittelt.] International Directory of Archives / Annuaire International des Archives (Archivum 38), 1992, in Verbindung mit der International bibliography of directories and guides to archival repositories (Archivum 36), 1990. [Gilt als maßgebliches Nachschlagewerk und Adressbuch für die Archive in aller Welt, wird periodisch neu bearbeitet.] Kloepfer, Michael (Hrsg.): Die transparente Verwaltung. Zugangsfreiheit zu öffentlichen Informationen. Berlin 2003. [Dieser Band vereinigt die Ergebnisse und Diskussionen einer an der Humboldt-Universität in Berlin veranstalteten Tagung aus dem Jahr 2002. Hier wurden erste Zwischenergebnisse zum Thema Informationsfreiheitsrecht gezogen und Perspektiven aufgezeigt. Gerade für den Bereich Rechtsfragen ein relevanter Titel, der die gegenwärtige Entwicklung aber selbstverständlich nicht abschließend behandeln kann.] Koller, Christophe / Jucker-Kupper, Patrick (Hrsg.): Digitales Gedächtnis – Archivierung und die Arbeit der Historiker der Zukunft. Mémoire électronique – Archivage et travail des historiens du futur. Zürich 2004. [Der Band bietet Vorüberlegungen hinsichtlich einer zukünftigen Quellenkunde digitaler Unterlagen.] Lange, Thomas / Lux, Thomas: Historisches Lernen im Archiv. Schwalbach Ts. 2004. [Eine gute Einführung in die Diskussion um Archivpädagogik

und historische Bildungsarbeit. Die internationalen Vorbilder, beispielsweise der service éducatif in den französischen Archiven, werden genauso in den Blick genommen wie die Entwicklungslinien der Geschichtswerkstätten in Deutschland. Neben diesen eher theoretischen Reflexionen bietet der Band aber auch Beispiele aus der archivpädagogischen Praxis.] Lehr, Thomas: Zweiwasser oder die Bibliothek der Gnade. Berlin 1998. Manegold, Bartholomäus: Archivrecht. Die Archivierungspflicht öffentlicher Stellen und das Archivzugangsrecht des historischen Forschers im Licht der Forschungsfreiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG (Schriften zum Öffentlichen Recht. Bd. 874). Berlin 2002. [Diese juristische Arbeit sei allen empfohlen, die sich intensiv mit dem Archivrecht auseinander setzen wollen.] Maurer, Michael: Aufriß der historischen Wissenschaften. Bd. 4: Quellen. Stuttgart 2002. [Kurz gefasste Quellenkunde mit Einführung in die Bearbeitung der wichtigsten Quellengruppen.] Menne-Haritz, Angelika (Hrsg.): Online-Findbücher, Suchmaschinen und Portale. Beiträge des 6. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg 2001 (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 35). Marburg 2002. [Der Band setzt als Ergebnis eines archivwissenschaftlichen Kolloquiums bereits Grundkenntnisse im Umgang mit Online-Findbüchern, Suchmaschinen und Portalen voraus. Daher ist er nur bedingt für völlige Archivneulinge geeignet, enthält jedoch zahlreiche Hintergrundinformationen, die auch für den Benutzter wertvoll sind.] Menne-Haritz, Angelika: Schlüsselbegriffe der Archivterminologie (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 20). Marburg 2000. [Dieses Nachschlagewerk geht über die im Glossar dieses Bandes erläuterten Begriffe weit hinaus und kann von allen Benutzergruppen zur Hand genommen werden, die sich über einen bestimmten Begriff aus der Archivterminologie kurz informieren möchten.] Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990. Oldenhage, Klaus (Hrsg.): Archiv und Geschichte. Festschrift für Friedrich P. Kahlenberg (Schriften des Bundesarchivs. Bd. 57). Düsseldorf 2000. Papritz, Johannes: Archivwissenschaft. 4 Bde. Nachdruck der 2. durchges. Aufl. von 1983. Marburg 1998 (auch als Mikroficheausgabe Marburg 2000). [Auch wenn die vierbändige Ausgabe in einigen Teilen terminologisch überarbeitet werden könnte, handelt es sich hierbei immer noch um ein Standardwerk in der Archivwissenschaft,

Literatur das aufgrund seines Umfangs und Aufbaus jedoch keinen Einführungscharakter hat.] Polley, Rainer (Hrsg.): Archivgesetzgebung in Deutschland. Ungeklärte Rechtsfragen und neue Herausforderungen. Beiträge des 7. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg 2002 (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 38). Marburg 2003. [Ein hilfreiches Standardwerk zum Thema Rechtsfragen, nützlich für Archivare und Benutzer. Allerdings kann der Band natürlich nicht die eigene Lektüre der Archivgesetze ersetzen.] Reimann, Norbert (Hrsg.): Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste. Fachrichtung Archiv. Münster 2004. [Ein gut strukturierter Leitfaden mit zahlreichen Beispielen aus der archivischen Praxis. Er richtet sich in erster Linie an diejenigen, die sich in der Ausbildung zu Fachangestellten für Medienund Informationsdienste befinden. Aber auch Diplom-Archivare und wissenschaftliche Archivare können ihren Nutzen aus diesem gut lesbaren Handbuch ziehen. Als Leserkreis hat der Leitfaden die Archivbenutzer also nicht vordringlich im Blick. Dennoch lassen sich aus Benutzerperspektive ebenfalls viele Kapitel mit Gewinn lesen.] Schellenberg, Theodor: Die Bewertung modernen Verwaltungschriftguts. Übersetzt und hrsg. von Angelika Menne-Haritz (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 17). Marburg 1990. [Ein Standardwerk, wenn auch bereits älteren Datums, das wichtige Grundpositionen in der archivischen Bewertung von Verwaltungsschriftgut beleuchtet. Von noch unerfahrenen Archivbenutzern sollte es nicht zu Beginn zur Hand genommen werden, da es sich hierbei auch um eine fachspezifische Diskussion handelt, die anfangs eher verwirren als nützen könnte.] Schmidt-Herwig, Angelika / Winter, Gerhard: Museumsarbeit und Kulturpolitik. Bildungs- und Vermittlungsfragen im Schnittpunkt kultureller Interessen, Frankfurt 1992.

[Die Einzelbeiträge sensibilisieren für eine Öffnung der Berufspraxis im Kontext einer kulturellen Öffentlichkeit.] Spieker, Sven (Hrsg.): Bürokratische Leidenschaften. Kultur- und Mediengeschichte im Archiv. Berlin 2004. [Die Beiträge geben z. T. einen originellen und informativen Einblick in den aktuellen Diskurs, leiden jedoch bisweilen unter mangelnder archivbezogener Sachkenntnis.] Strebel, Martin: Konservierung und Bestandserhaltung von Schriftgut und Grafik. Ein Leitfaden für Archive, Bibliotheken, Museen und Sammlungen. Granges-Paccot 1995. [Konzentrierte Kurzübersicht in Checklistenform, für Archivbenutzer besonders geeignet, wenn Ausstellungen mit Archivgut gestaltet werden sollen.] Weber, Hartmut (Hrsg.): Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken. Stuttgart 1992. [Älteres, aber immer wegweisendes und immer noch lesenswertes Standardwerk zur Bestandserhaltung.] Weiser, Johanna: Geschichte der preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 7). Weimar 2000. [Da bis 1945 Preußen einen Großteil Deutschlands umfasste, stellt die preußische Archivgeschichte einen wichtigen Teil der Entwicklung von Archiven in zahlreichen Bundesländern dar.] Wettmann, Andrea (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung. Beiträge eines Archivwissenschaftlichen Kolloquiums. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 21). Marburg 1994. [Der Kolloquiumsband stellt eine wichtige Basisliteratur in der Diskussion um die archivische Bewertung dar. Zwar lassen sich die jüngsten Ansätze auch im Internet (Forum Bewertung) nachvollziehen, dennoch gibt der Band nach wie vor wichtige Denkanstöße, die auch im heutigen Diskurs noch aktuell sind.]

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Internetadressen http://www.archivpaedagogen.de Diese Homepage von Archivpädagogen informiert über die Archivpädagogenkonferenzen sowie über den Arbeitskreis „Archivpädagogik und historische Bildungsarbeit“ im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VDA). Besonders hilfreich sind die aktuellen Termine und Veranstaltungen zur historischen Bildungsarbeit, der angebotene Infodienst (Newsletter) sowie die ausführliche Bibliographie zum Thema Archivpädagogik und zur archivbezogenen historischen Bildungsarbeit in Deutschland. http://www.archivschule.de Die Archivschule Marburg – Institut für Archivwissenschaft – Fachhochschule für Archivwesen, ist traditionell die archivischen Ausbildungsstätte für den Bund und alle Bundesländer außer Bayern. Auf ihrer Homepage werden Stellenangebote aus dem Archivbereich verzeichnet. http://www.archivschule.de – Archive im Internet – Archive in Deutschland Die von der Archivschule in Marburg zusammengestellte Linkliste zu deutschen Archiven verweist auf die Internetadressen der Archive – von den staatlichen Archiven bis hin zu den Medienarchiven. Auch die regionalen Archivportale sind hier gelistet. Eine überaus nützliche Adresse für den Archivbenutzer, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt bzw. bei der unübersichtlichen Lage der deutschen Archivlandschaft auch gar nicht erheben kann. Darüber hinaus pflegt die

Archivschule auch weitere Linkseiten zu Archiven in Europa und in Übersee. http://www.archivschule.de – Bibliographien Auf dieser Seite führt die Archivschule in Marburg die Links zu zentralen Fachbibliographien, u. a. zum Archivwesen, zum Archivrecht und zur Diplomatik, zusammen. Eine äußerst nützliche Seite, von der aus jeder Benutzer aktuelle wissenschaftliche Literatur finden kann. http://www.archivschule.de – Archivgesetze Die ebenfalls von Marburg geführte Linkliste zu den Archivgesetzen berücksichtigt auch Seiten zu den Informationsfreiheitsgesetzen sowie zu verschiedenen Benutzungsordnungen in deutschen Archiven. http://www.forum-bewertung.de Das Forum Bewertung ist ein offenes Netzwerk, in dem alle zentralen Fragen der historischen Überlieferungsbildung diskutiert werden. Es richtet sich an Archivare, Fachwissenschaftler, interessierte Laien und Verwaltungsfachleute. http://www.gda.bayern.de/ausbix.htm Die Bayerische Archivschulen und Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern bildet Archivarinnen und Archivare des mittleren, gehobenen und höheren Dienstes für den bayerischen Dienst aus. http://informationswissenschaften.fh-potsdam.de Die Fachhochschule Potsdam bietet verschiedene, auch berufsbegleitende Studiengänge an, die für das Archivwesen qualifizieren.

In der Reihe Einführungen Germanistik sind bisher erschienen: Rainer Baasner Einführung in die Literatur der Aufklärung 2006. 155 S. ISBN 3-534-16900-X Bernd Balzer Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus 2006. 160 S. ISBN 3-534-16269-2 Ralf Georg Bogner Einführung in die Literatur des Expressionismus 2005. 160 S. ISBN 3-534-16901-8 Jürgen Egyptien Einführung in die deutschsprachige Literatur seit 1945 2006. 160 S. ISBN 3-534-17446-1 Norbert Otto Eke Einführung in die Literatur des Vormärz 2005. 167 S. ISBN 3-534-15892-X Markus Fauser Einführung in die Kulturwissenschaft 3., unveränd. Aufl. 2006. 172 S. ISBN 3-534-15913-6

Achim Geisenhanslüke Einführung in die Literaturtheorie Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft 3., unveränd. Aufl. 2006. 160 S. ISBN 3-534-15905-5 Dorothee Kimmich/Tobias Wilke Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende 2006. 160 S. ISBN 3-534-17583-2 Monika Schmitz-Emans Einführung in die Literatur der Romantik 2004. 167 S. ISBN 3-534-16519-5 Jost Schneider Einführung in die Roman-Analyse 2., unveränd. Aufl. 2006. 152 S. ISBN 3-534-16267-6 Franziska Schössler Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama 2003. 158 S. ISBN 3-534-16270-6