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German Pages [158] Year 2008
Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal
Jörg von Brincken / Andreas Englhart
Einführung in die moderne Theaterwissenschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.d-nb.de abrufbar.
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ISBN 978-3-534-19099-7
Inhalt I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literatur vs. Theater . . . . . . . . . . . 3. Aristoteles’ Poetik und die Folgen . . . . 4. ,Werktreue‘ – eine obsolete Forderung?
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II. Forschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Theaterwissenschaft von ihren Anfängen bis heute . . . . 2. Neuere Forschungsfelder im Überblick . . . . . . . . . . . . .
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III. Theaterästhetik und -theorie . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dramaturgie und Regie: Stationen der Umsetzung vom Text zur Inszenierung. 2. Einfühlung und Distanz: Schauspieltheorien von Diderot bis heute . . . . . . 3. Theaterraum und Szenografie . . . . . . . . . . . . . 4. Theatrale Wirkungsästhetik . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Historische Formationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Komische Spieltradition und Spektakelkultur . . . . . . 2. Das Theater als bürgerliches Medium seit dem 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Theater als Experiment – Gesamtkunstwerk und Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Politisches Theater im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . 5. Postdramatik seit den 1960er Jahren und die Rückkehr des Dramatischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Analyse der Aufführung: Probleme, Methoden und Perspektiven 1. Plurimedialität und theatrale Medialität: Inszenierung vs. Aufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Quellen der Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Transformations- und Strukturanalyse . . . . . . . . . . . . . 4. Neuere analytische Perspektiven und ihre Begrifflichkeiten . .
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse 1. Regietheater und Klassiker – Lessings Emilia Galotti in der Regie von Michael Thalheimer . . . . . . . . . . . . 2. Theater der Bilder – Robert Wilsons Inszenierung von Georg Büchners Leonce und Lena . . . . . . . . . . . . . 3. Theater und Neue Medien – Frank Castorfs Inszenierung von Endstation Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4. Aktionskunst – Christoph Schlingensiefs Passion Impossible: 7 Tage Notruf für Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kommentierte Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Grundlagen 1. Einleitung Theaterwissenschaft setzt sich mit der Geschichte, der Theorie und der Ästhetik von Theater sowie mit theaterverwandten und theaterähnlichen Phänomenen auseinander. Ihr zentraler Gegenstand ist nicht das Drama oder der Theatertext, sondern die Aufführung, welche sich durch die Kopräsenz von Akteuren und Publikum, durch ihren Live-Charakter und durch das Merkmal der Transitorik charakterisiert. Im Gegensatz zum einheitlichen Zeichensystem der Literatur ist das Theater außerdem durch die Heterogenität seiner künstlerischen Mittel (Wort, Körper, Stimme, Raum, Licht usw.) gekennzeichnet. Seine historische, theoretische und systematischanalytische Erfassung setzt eine breit gefächerte Perspektive voraus, wobei der Beitrag der beteiligten Einzelkünste, deren Zusammenwirken sowie die sich zwischen ihnen ergebenden Spannungen in Rechnung gestellt werden. Die vorliegende Einführung in die moderne Theaterwissenschaft konzentriert sich dabei vorrangig auf den Bereich des Schauspiels, auf die Theorien zur theatralen Darstellungs- und Wirkungsästhetik sowie auf die historischen Grundlagen der Theaterpraxis und -ästhetik. Dadurch soll den Bedürfnissen eines vorwiegend literaturwissenschaftlich orientierten Leserkreises Rechnung getragen werden. In den theaterhistorischen Kapiteln liegt der Schwerpunkt statt auf einer dominant dramengeschichtlichen Betrachtungsweise sowohl auf den gesellschaftlichen Aspekten von Theater als auch auf der Relevanz nicht-literarischer bzw. performativ geprägter Theaterformen (z. B. komische Spielpraxis, Avantgardetheater). So sollen auch die von der Literaturwissenschaft nur peripher berücksichtigten Wechselwirkungen zwischen dem dramatischen Text, den Eigengesetzlichkeiten der Theaterästhetik und den institutionellen Bedingungen der Theaterkultur aufgedeckt werden. Die Wiederkehr bestimmter Begriffe und Sachverhalte in unterschiedlichen Kapiteln dient dabei der Verortung des jeweiligen Phänomens in einem komplexen Geflecht von historischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Bezügen. Weiterhin soll den Lesern das analytische Handwerkszeug für den wissenschaftlichen Umgang mit Theater bzw. mit der Aufführung als einem von der dramatischen Vorlage nur bedingt abhängigen oder gegebenenfalls völlig emanzipierten Phänomen vermittelt werden. Gerade die Aufführungsanalyse bedarf als zentraler Gegenstand der Theaterwissenschaft eines mehrdimensionalen methodischen Zugriffs. Die mit der Plurimedialität des Theaters einhergehende Problematik der analytischen Erfassung wird diskutiert und schließlich anhand von ausgewählten Analysebeispielen verdeutlicht.
Gegenstandsbereich Theater
Anspruch
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I. Grundlagen
2. Literatur vs. Theater Theater und Drama/Theatertext
Haupt- und Nebentext; Didaskalien
Bereits der Begründer der deutschen Theaterwissenschaft, Max Herrmann, konstatierte für gewisse Epochen der Theatergeschichte ein enges Zusammenwirken von Theater und dramatischer Literatur, wobei Theater zumeist als sekundäres Vermittlungsmedium für literarisch entworfene Gehalte fungierte. Herrmann betont jedoch auch, dass in anderen Zeiten „[…] Drama und Theater in manchem Sinne geradezu einander feindliche Mächte“ (Herrmann 1918) waren. Theater emanzipierte sich hier von seiner Vermittlungsfunktion, mitunter vom Prinzip der Inhaltlichkeit schlechthin, es spielte sozusagen sein eigenes Spiel. Neben einer zweifellos bestehenden Wechselwirkung muss demnach auch ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen der Bühnenkunst als eigenständiger Größe und ihrer Funktion als Medium für textuelle Gehalte veranschlagt werden. Der gedoppelte Sinn des Begriffes Drama (griech. drama; hergeleitet von griech. dra¯n: handeln, tun) spiegelt dies. Er meint einmal eine literarische Form, die durch die Eigenäußerungen der dramatis personae, denen im Text keine Autoreninstanz vorgeordnet ist, charakterisiert ist. Zum anderen bezeichnet er die reine Spiel-Vorlage innerhalb einer aufführungsbezogenen Praxis, die sich von der literarischen wesentlich unterscheidet (vgl. Balme/von Brincken 2007, 265). Die Theaterwissenschaft betrachtet ein im Wortsinne dramatisches, also textbasiertes Sprech- und Handlungstheater nur als eine Möglichkeit unter anderen. Wenngleich es im westeuropäischen Raum bis heute dominiert, so steht ihm eine große Zahl von Theaterereignissen gegenüber, die auf Redetext und dramatische Handlung weitgehend verzichten. Auch aus diesem Grund hat sich als Alternative zum definitorisch vorbelasteten Begriff Drama derjenige des Theatertextes eingebürgert, der jede Art von Textvorlage, die auf einer Bühne zur Aufführung gelangt, bezeichnet (vgl. Balme 2008, 79). Von dieser Umorientierung ist auch das zentrale Formkriterium des Dramas betroffen: die Differenz von Haupt- und Nebentext, die erstmals durch den Philosophen Roman Ingarden eingeführt wurde (vgl. Balme 2008, 81 f.): Den Haupttext des Theaterstücks bilden die von den dargestellten Personen ausgesprochenen Worte, den Nebentext dagegen die vom Verfasser gegebenen Informationen für die Spielleitung. (Ingarden 1960, 403)
Verhältnis Literatur – Theater
Die Theatersemiotikerin Anne Ubersfeld schlug als Alternative zum Begriff des Nebentextes den der Didaskalien vor, weil er neben den Spielanweisungen auch die Figurennamen und „alles, was im geschriebenen Text steht und nicht unbedingt von den Figuren gesagt werden muß“ beinhaltet (Ubersfeld 1991, 395). An der Relation Figurenrede – Didaskalien, welche sich in verschiedenen Epochen unterschiedlich gestaltet, spiegeln sich nicht zuletzt Haltungen zum Verhältnis zwischen literarischem Text und theatraler Umsetzung. Verzichteten die frühesten Theatertexte fast vollständig auf szenische Anweisungen, so erhielt der Nebentext im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Bedeutung (vgl. Balme 2008, 82). Wesentliche Impulse kamen dabei vom lite-
2. Literatur vs. Theater
raturbasierten Theater der europäischen Aufklärung, das die szenische Umsetzung qua Szenenanweisungen streng auf den Inhalt des Dramas abzustimmen versuchte. In allen von Literatenseite unternommenen Versuchen, auf die szenische Realisation der Texte vorab Einfluss zu nehmen, spiegelte sich nicht zuletzt ein gewisses Misstrauen gegenüber den Eigengesetzlichkeiten der Bühne. Die unterschiedlichen historischen Perspektiven zum Verhältnis von Theater und Literatur lassen sich dabei vereinfachend unter drei bis heute in der Diskussion nachwirkenden Positionen subsumieren: das Theater hat die Literatur zu realisieren, das Theater verhindert die Literatur und schließlich, die Literatur verhindert das Theater (vgl. Birkenhauer 2005, 12). Das eigentliche Dilemma der Theoriegeschichte besteht darin, dass sie von vorneherein durch eine große zeitliche Kluft zwischen einer Theorie dramatischer Literatur und einer Theatertheorie im engeren Sinne gekennzeichnet war. Beginnt Erstere bereits mit Aristoteles’ (384–322 v.Chr.) Poetik, deren Rezeption seit der Renaissance zu nachhaltigen Überlegungen bezüglich der literarischen Gattung des Dramas geführt hat, so sind die Anfänge einer Theatertheorie erst seit dem 19. Jahrhundert und verstärkt seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen (vgl. Bayerdörfer 2005). Und zwar, weil es ab diesem Zeitraum zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigentlichen Bedingungen von theatraler Kunst und ihren Wechselwirkungen mit den anderen Künsten kam. Für die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich etablierende Theaterwissenschaft bedeutete dies freilich, dass neben Differenzen und formalen Überschneidungen immer auch die gegenseitige Abstimmung von historischer Spielpraxis und Literatur, sprich: die Modalitäten des Austausches zwischen zwei gänzlich verschiedenen Kunstformen in Betracht zu ziehen waren. Dabei aber rückte Theater als Aufführungskunst in den Mittelpunkt des Interesses (vgl. Kirsch 1992; Corssen 1994). Diese Perspektive, die sich dezidiert von der Philologie abgrenzt (vgl. Balme 2008, 80), hat Max Herrmann bereits 1914 festgelegt: Das Drama als dichterische Schöpfung geht uns aber in der Theatergeschichte nichts oder nur in soweit etwas an, als der Dramatiker bei der Abfassung seines Werkes auch auf die Verhältnisse der Bühne Rücksicht nimmt […] und insofern also das Drama uns einen unbeabsichtigten Abdruck vergangener Theaterverhältnisse liefert; wir betrachten es ferner als Bestandteil des Theaterspielplans und als Gegenstand der Bemühungen nachgeborener Bühnenkünstler, es ihren veränderten Theaterverhältnissen zu eigen zu machen. Das spezifisch Dichterische aber bleibt für uns ganz außer Betracht; das völlig unkünstlerische Theaterstück im engeren Sinne des Wortes ist für unsern Gesichtspunkt unter Umständen wichtiger als das größte dramatische Meisterwerk der Welt. (Herrmann 1914, 4) Die spannungsreiche Beziehung von Bühne und Literatur hat nichtsdestoweniger entscheidend zur Herausbildung des Theaters als einer eigenständigen Größe beigetragen.
Dramen- und Theatertheorie
Theater als Aufführungskunst
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I. Grundlagen
3. Aristoteles’ Poetik und die Folgen Anfänge in der Antike
Aristotelische Vorgaben
Mimesis und Sinnprinzip
Von der Antike bis zur europäischen Romantik Für die Anfänge des europäischen Theaters lässt sich ein synergetisches Zusammenwirken von Theaterpraxis und Literatur bzw. Schriftkultur verzeichnen (vgl. De Kerckhove 1995). Theater entstand in der griechischen Antike aus einem staatlich institutionalisierten Zusammenspiel von kultischer Feier und Literatur. Um das Jahr 534 v. Chr. wurde unter dem Tyrannen Peisistratos von Athen das Fest der Großen Dionysien zu einem repräsentativen Politfest umgestaltet, in dessen Rahmen es zum ersten Mal zur Aufführung von Tragödientexten kam. Die zunächst anlassgebundene dramaturgische Form, wie man sie mit dem Werk von Aischylos, Sophokles und Euripides verbindet, galt dabei als literarische Neubearbeitung des Mythos durch einen identifizierbaren Autor. Zugleich aber wurde Sprache in der Aufführung zum Gegenstand einer sinnlichen und gemeinsamen Erfahrung, die die rein literarische Rezeption überstieg (vgl. Lehmann 1991). Das Zusammenwirken einer literarisch konzipierten fiktionalen Handlung mit der akustischen und körperlich-visuellen Ausstrahlungskraft ihrer Darbietung machte Theater zur einer besonderen medialen und sozialen Institution, in der die auf sie hin entworfenen literarischen Gehalte erst zur vollen öffentlichen Wirksamkeit gelangten. Damit war das eigentliche Differenzkriterium für die Unterscheidung von rein literarischer und theatraler Kunst geschaffen. Dennoch blieb die Bewertungsperspektive vorrangig sprachlichen und inhaltlichen Kriterien verbunden, ein Umstand, der durch eine rein textuelle Überlieferungstradition forciert wurde (vgl. Balme/von Brincken 2007, 266). Diese bestimmte maßgeblich auch Aristoteles’ Auseinandersetzung mit der Tragödie, die er nahezu gänzlich einer Literaturtheorie anheim stellte. Im 6. Kapitel seiner Poetik (Aristoteles 1982) bezeichnete Aristoteles die Inszenierung [Opsis] der tragischen Texte als das ,Kunstloseste‘. Zugleich betonte er, die mimetische Qualität und kathartische Wirkung der Tragödie kämen auch ohne Aufführung bereits im reinen Lektüreakt zustande. Konsequenterweise verhandelte Aristoteles’ Poetik nur die literarischen, im Dramentext greifbaren Teile der Tragödie, und zwar gegliedert nach ihrer Wichtigkeit: den Mythos im Sinne einer zusammenhängenden, auf lineare Sinnentfaltung und Zielspannung abgestellten Fabel mit ihren Wende- und Höhepunkten (Peripetie, Anagnorisis und Katastrophe); sodann die der Fabel untergeordneten Charaktere; die den Intellekt ansprechenden Inhalte; schließlich die sprachlich-literarischen Mittel (Lexis), wie sie sich in dialogischen und monologischen Sprechformen niederschlagen. Nach Aristoteles betreibt die Tragödie vorrangig Mimesis, sie ahmt sinnerfüllte Handlungen von Menschen literarisch nach (Aristoteles 1982, Kap. 2). Wenn Aristoteles diese Tragödienfabel außerdem im Sinne einer „guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe“ (Aristoteles 1982, 19) interpretierte, stilisierte er sie zum Paradigma einer literarisch durchregulierten Form. Mimesis wurde in der Folge gänzlich einer auf die Realität bezogenen Mitteilungsforderung untergeordnet. Dies führte geradewegs zum Primat einer auf innere Geschlossenheit, dramaturgische Kausalität und narrative Finalität abgestimmten literarischen Fabel, die sich durch logi-
3. Aristoteles’ Poetik und die Folgen
sche Anordnung, Überschaubarkeit und intellektuelle Nachvollziehbarkeit definiert (vgl. Lehmann 1999, 54 ff. und 60 ff.). Diese Festschreibung von Drama auf einlinige Handlungsdramaturgien setzte für folgende Reflexionen zum Verhältnis von Drama und Theater den paradigmatischen Bezugspunkt. Die weitere Rezeptionsgeschichte sollte ausgehend von Aristoteles den Dramenbegriff vor allem als Gegenstand der literarischen Gattungslehre behandeln und ihm eine hohe terminologische Homogenität verleihen, während die Idee einer genuinen Aufführungskunst zunächst zurücktrat (vgl. Bayerdörfer 2005). Die Institutionalisierung einer eigenständigen Spielpraxis war entsprechend von heftigen Abwehrreaktionen, Kontroversen und Legitimationsdiskursen gekennzeichnet. Die von Italien ausgehende Wiederentdeckung und -belebung der antiken Tradition in der Renaissance orientierte sich zunächst vor allem am dramatischen Text und an den Kriterien der Aristotelischen Poetik. Letztere wurde dabei – im Verbund mit der Horazschen Poetik (vgl. Horaz 1967) – zum normativen Regelwerk verengt (eine Tendenz, die später im europäischen Barock dann nochmals verstärkt wurde; vgl. Bayerdörfer 2005). Die Auseinandersetzung mit den römischen Texten von Plautus und Terenz führte außerdem zur Ausbildung einer Komödienpoetik, auf deren Grundlage dann die Gelehrtenkomödie, die sogenannte Commedia erudita konzipiert wurde. Einerseits durch die Beschäftigung mit antiker Theaterarchitektur (Vitruvs De architectura) sowie andererseits mit der ebenfalls aus der Antike übernommenen Kunst der Rhetorik kam es dann europaweit zu Versuchen, eine im weitesten Sinne theatrale Spiel- und Aufführungskonvention zu etablieren, wobei der besondere Bildungswert von antiker Dramatik im Zusammenspiel von Sprache und Inhalt im Vordergrund stand. Theater firmierte vorrangig als öffentliches Vermittlungsforum. Jedoch: Auch wenn man die erstrebte Verbindung von höchster Weisheit mit der Kunst der rhetorischen Beredsamkeit zum eigentlichen Legitimationskriterium für den zunehmenden Trend zu öffentlichen Aufführungen bestimmte, so mussten fortan doch die Beziehungen zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort, zwischen dem individuell-kontemplativen Lektüre-Akt und der öffentlichen und gemeinschaftlichen Rezeption von Theater sowie zwischen den Institutionen von Literatur und Theater in komplexer Weise reflektiert werden (vgl. Stone Peters 2003, 105 ff.). Im Zuge dessen erwachte auch das Selbstbewusstsein der Autoren dramatischer Texte. Drama avancierte zu einem spezifischen, von anderen literarischen Formen durch seinen Theaterbezug unterschiedenen Genre. Zeitgleich dazu prägte sich ein Verständnis von Theater als einem institutionalisierten Ort und einer Darstellungs-Praxis aus, an dem und durch welche eine bestimmte Art von Literatur anschaulich präsentiert wurde. Theater wurde infolgedessen zu einem schärfer profilierten, jedoch nach wie vor komplexen Begriff, der sowohl den speziellen Veranstaltungsraum, das jeweilige Ereignis wie auch die ihm unterlegten dramatischen Texte umfasste. Die parallele und sich gegenseitig befördernde Institutionalisierung des Theaters (als Ort und Ereignis) und einer in gedruckter Form vorliegenden Literatur führte jedoch bald dazu, dass das Spiel auf der Bühne und der dramatische Text hinsichtlich ihrer verschiedenen Wirkungsqualitäten befragt
Literaturhistorische Gewichtung
Die Wiedergeburt des Theaters in der Renaissance
Neue Relationierung von Theater und Text
Institutionalisierung von Literatur und Theater
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I. Grundlagen
Theater als Forum bürgerlicher Öffentlichkeit
Philosophische Ästhetik und Drama
Krise des Dramas
wurden (vgl. Balme/von Brincken 2007, 270). Im engen Verbund mit technischen Neuerungen im Bereich des Bühnenraumes und -bildes etablierte sich im Laufe der Zeit mehr und mehr eine Kultur des Zuschauens. Damit schien es geboten, verstärkt auf die institutionellen und vor allem medialen Bedingungen des Theaters als einer visuell-akustischen Aufführungsform zu reflektieren. Dies führte nicht nur dazu, dass fortan die Dramatiker selbst als Theoretiker auftraten, sondern in ihrer Orientierung an der Bühnenpraxis Modifikationen an den überkommenen poetologischen Regeln vornahmen. Mit der von der Aufklärung lancierten Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit kam es im 18. Jahrhundert zum entscheidenden, bis heute nachhaltig wirksamen Paradigmenwechsel innerhalb der Theaterkultur: Theater wurde als funktionaler Bestandteil innerhalb des bürgerlichen Wertegefüges konzipiert. Die Neuorientierung führte zugleich zu einer entscheidenden Differenzierung auf ästhetischer Ebene. Während man an den höfischen Theatern vor allem die musikalischen Genres von Oper und Singspiel und damit zugleich die akustisch-visuellen Elemente der Bühnenkunst favorisierte, so definierte sich bürgerliches Theater wesentlich als literarischinhaltliches mit moralischem Auftrag. Es wurde darin zum Forum bürgerlicher Öffentlichkeit, ja, zum „bürgerlichen Leitmedium“ (Rainer Ruppert) schlechthin. Dazu trug wesentlich die Einsicht bei, dass das mediale Format des Theaters – anders als die reine Literatur – eine große Anzahl von Menschen an einem Ort zu versammeln und gleichzeitig anzusprechen in der Lage war. Dennoch war es auf der anderen Seite gerade die Minderschätzung des reinen theatralen Spielpotenzials, das keineswegs mit literarischen Konzepten oder deren Vermittlung deckungsgleich ist, welche die Epoche kennzeichnete (vgl. Balme/von Brincken 2007, 274 f.). Angesichts dieser Diskrepanz verwundert es nicht, dass auch dort, wo der Dramenbegriff schließlich innerhalb der philosophischen Ästhetik reflektiert wurde, das Augenmerk eindeutig auf literarisch-sprachlichen sowie inhaltlichen Bezügen lag. Den Kulminationspunkt solcher Perspektivik gab Georg Wilhelm Friedrich Hegels an Aristoteles geschulte Vorstellung ab, das Drama stelle die Synthese aus der Objektivität des Epos und der Subjektivität der Lyrik dar und bilde, als höchste Form der Poesie, „seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetsten Totalität“ (Hegel 1986, 474) aus. Zwar veranschlagte Hegel die sinnliche Realität des Theaters in Gestalt der lebendig-unmittelbaren Darstellung durch Stimme und Körper durchaus. Er betonte explizit den Charakter des Dramas als einer für die Bühnenumsetzung konzipierten künstlerischen Form. Dennoch fungierte die theatrale Anschaulichkeit bei ihm durchweg und jederzeit als auf den Dichtungsgehalt durchschaubare Größe. Nicht zuletzt legte Hegel mit seiner Vorstellung von literarisch konzipierter inhaltlicher Geschlossenheit, Ganzheit und sprachlicher Vollendung den Grundstein für einen Werkbegriff, der mit den genuinen Bedingungen von theatraler Praxis nicht kompatibel ist. Theatermoderne ab 1890 Entscheidende Impulse für eine neue Beziehung von Drama und Aufführungspraxis gingen erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von den Werken Henrik Ibsens, August Strindbergs und Anton Tschechows, dann von den Konzepten des europäischen Naturalismus und schließlich vollends von der
3. Aristoteles’ Poetik und die Folgen
Gegenbewegung des Symbolismus aus. Vor dem Horizont von Industrialisierung, Urbanisierung und sozialer Entfremdung reflektierte man allgemein eine tiefgreifende Veränderung im gesellschaftlichen wie weltanschaulichen Wertegefüge und nicht zuletzt den Zerfall des klassisch-idealistischen Subjektbegriffes und seiner sprachlichen Voraussetzungen. Dies führte zu Entsprechungen innerhalb der dramatischen Form. Das wesentliche innerdramatische Kommunikationsmedium des Dialogs stand nunmehr ebenso zur Disposition wie die strikte Trennung sprachlicher und szenischer Entwürfe. Die Tendenz zum Monolog sowie zu Sprechpausen nahm zu, zum anderen ordneten die entsprechenden Stücke die von ihnen entworfenen Figuren und deren Konstellationen in ein literarisches Gesamtgeflecht ein, das Hauptund Nebentext sowie innere und äußere Kommunikationsebene des Dramas in vielfältiger Weise verschachtelte. Damit war zugleich eine dynamische Entwicklung im Verhältnis von Drama und Theater in Gang gesetzt, die gemeinhin mit dem Etikett der „Krise des Dramas“ (Peter Szondi) versehen wird, was freilich zu kurz greift: Auszugehen ist eher von einem komplexen Prozess ästhetischer Autonomisierung von Drama und Theater, die jedoch zu gegenseitiger Neuorientierung und theoretischen und praktischen Versuchen der Bezugnahme und des ästhetischen Transfers führte. Die bis heute wirksamsten Vorgaben der Theatermoderne kamen dabei paradoxerweise von Seiten der Literatur, nämlich aus dem Umkreis des französischen Symbolismus, vornehmlich in Gestalt des belgischen Dramatikers und späteren Nobelpreisträgers Maurice Maeterlinck. Dieser formulierte nicht nur eine dezidierte Kritik an einer zeitgenössischen Aufführungspraxis, die auf dem Primat der Illusionierung basierte; er ging darüber hinaus gegen den psychologisch unterfütterten Handlungsprimat des literarischen Theaters an (vgl. Maeterlinck 1983). Darüber hinaus revidierte er das Verständnis von Drama im Sinne eines Spieltextes grundlegend. In seiner Auffassung, die unbeschränkte literarische Entwurfs- und die Einbildungskraft des Autors würden durch die raum-zeitliche Begrenzung des Theaters sowie durch die Zufälligkeit individueller schauspielerischer Darstellung eingeschränkt, behauptete er eine radikale Gegensätzlichkeit von literarischer Imagination und theatraler Manifestation. Entsprechend plädierte er in seinen theoretischen Schriften für ein „statisches Theater“ in Gestalt eines am Beispiel des Marionettentheaters orientierten „Androidentheaters“ (Un Théâtre d’Androides, 1890/1983; vgl. Bayerdörfer 1976 und 2005). Die in seinen Dramen L’Aveugles, L’Intruse oder auch Pelléas et Mélisande entworfenen Figuren gerieten entsprechend zu nicht mehr subjekthaften, weithin anonymen Äußerungsvehikeln für den Vortrag der Sprachpoesie des Autors. Ihre Rede ist innerhalb des Bühnenraumes und des dramatischen Geschehens nirgendwo genau verortbar, sie übersteigt die psychologisch plausible Figurenäußerung und ist in ihrer klanglichen und rhythmischen Gesamtstruktur auf überindividuelle, transzendent-metaphysische Dimensionen bezogen. Das symbolistische Theater Maeterlinck’scher Prägung zielte mit einer solchen, als „Dialog zweiten Grades“ bezeichneten Selbstthematisierung der Sprache geradewegs auf die Dominanz der Literatur nicht nur auf, sondern gegenüber der Bühne (vgl. Birkenhauer 2005, 47 ff.). Gerade der perspektivische Wechsel jedoch, nämlich dass hier als eigentliches ästhetisches Substrat nicht mehr nur der dialogische Rollen-, sondern
Theatermoderne
Theater als eigenständige Kunstform
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I. Grundlagen
der Text als Ganzes verstanden wurde, führte zu einer komplementären europaweiten Tendenz, die fortan darauf zielte – das ist entscheidend –, Theater selbst zu einem poetischen Komplex zu machen. In Hugo von Hofmannsthals programmatischem Text Die Bühne als Traumbild (1903; Hofmannsthal 1959) wurden entsprechend der Leitmetapher die szenischen Vorgänge als von jeder handlungslogischen Stringenz befreites formal-assoziatives Beziehungsgeflecht verstanden, das nach vornehmlich sinnlichevokativen Kriterien konzipiert ist (vgl. Balme/von Brincken 2007, 284). Paradoxerweise war es also gerade die avancierte Literatur mit ihrer Aufwertung der poetischen Qualität der Sprache gegenüber deren abbildender und psychologisch darstellender Funktion, die eine grundlegende Emanzipation des Theaters vom literarischen Text initiierte (vgl. Deak 1993; Bayerdörfer 1976). Die somit über das Genre der Literatur weit hinausreichenden Bestimmungen sowie ihre Radikalisierungen durch die historischen Avantgarden Europas prägten die Theaterästhetik des 20. Jahrhunderts bis heute nachhaltig: Theater wurde fortan als Größe wahrgenommen, welche unter Umständen „ganz eigene, andersartige und der dramatischen Literatur sogar feindliche Wurzeln und Voraussetzungen hat“ (Lehmann 1999, 79).
4. ,Werktreue‘ – eine obsolete Forderung? Nicht-textbasierte Spielpraxis
Historizität des Werkbegriffs
Das Auseinanderdriften der ästhetischen Positionen Text und Theater markiert also den wesentlichen Paradigmenwechsel in der Theaterästhetik des 20. Jahrhunderts (vgl. Lehmann 1999, 73 f.). Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass eine theatrale Spielpraxis, die entweder ohne dramatische Vorlagen auskam oder aber den Text als jeweils auf die szenischen Bedingungen zugeschnittene funktionale Größe behandelte, über die gesamte Theatergeschichte hinweg das offizielle Literaturtheater begleitete und oftmals sogar vorherrschend war, etwa in Gestalt der komischen Tradition der Commedia dell’arte oder des Unterhaltungstheaters. Der Grund dafür, dass gerade diese Formen nur ungenügend als ernst zu nehmende Alternative reflektiert wurden, liegt zum einen im Umstand der Aliterarizität begründet. Die Commedia dell’arte etwa sowie die ihr verwandten Genres waren in Form geschriebener Texte nicht bzw. kaum überliefert. Oder aber geschriebene Vorlagen hatten keine über die jeweilige Bühnenrealisation hinausreichende Halbwertzeit, sondern waren Gebrauchstexte, die – und das keineswegs nur in Form von ,Zugeständnissen‘ – an den spezifischen Bedingungen der jeweiligen Theaterpraxis und den aktuellen Bedürfnissen eines Publikums orientiert waren. Dies zeigt auch, dass es der Gattung Theatertext selbst an einer kohärenten Gestalt und einer einheitlichen Geschichte mangelt (vgl. Graf 1992, 2). Wenn nun in jüngerer Zeit – ausgehend von polemischen Diskussionen um die ästhetische und inhaltliche Adäquanz aktueller Opernregie (die sogenannte ,ZEIT-Debatte‘) – für das Theater generell die Forderung nach Werktreue erhoben wurde, so darf zum einen nicht übersehen werden, dass der Werk-Begriff, unter dem hier eine Rückverpflichtung von Bühne auf Text und Gehalt postuliert wird, eine exklusive, den Blick auf Theater als eigenständige Kunstform neuerlich verengende normative Perspektive verzeich-
4. ,Werktreue‘ – eine obsolete Forderung?
net. Ein sprechender Beleg dafür ist bereits die historische Verkürzungsstendenz: In der ZEIT-Debatte ist vom sogenannten Regietheater der 1960er und 1970er Jahre, für das die Deutung eines vorhandenen Werkes durch den Regisseur wichtiger als das Werk selbst war, als eigentlichem Stein des Anstoßes die Rede (vgl. Osthoff 1980; Dahlhaus 1984; vgl. Ely/Jaeger 1984; vgl. Mainusch 1985; Schläder 1992). Bei aller Berechtigung der Kritik an manchen aktuellen Regiekapriolen, sollte man diese doch an den Gesamtleistungen und -entwicklungen der Theaterkultur des langen 20. Jahrhunderts, die sich vom ausschließlichen Primat des geschriebenen Werkes grundlegend emanzipiert hat, bemessen. Dazu scheint jedoch neben dem ästhetischen Empfinden die historische Kompetenz zu fehlen. Ein Umstand, der zu argumentatorischen Widersprüchen führt. Denn einmal wird der Gesamthorizont, in den sich die aktuelle Diskussion einordnet, auf einen Zeitraum von ca. 40 Jahren verengt. Auf der anderen Seite wird mit dem Begriff der Werktreue ein weitaus älteres und lange veraltetes Etikett bemüht. Dieses war seiner Herkunft nach – und darauf kommt es an – selber einer Eingrenzung geschuldet, die Theater als gesellschaftliches Medium grundlegend anders bemessen hat, als es heute noch der Fall sein könnte. Denn das weite Theaterverständnis, das sich im Sinne einer dynamischen und keinesfalls reibungslosen Wechselwirkung von Literatur und Theaterpraxis seit der Renaissance immer wieder von Neuem aktualisierte, wurde erst im Zuge der programmatischen Literarisierung des Theaters im Dienste seiner Festlegung auf das gesellschaftlich und moralisch Nützliche im 18. Jahrhundert zurückgenommen (vgl. Fischer-Lichte 1985b). Im Zuge dieser im historischen Kontext plausiblen Ideologisierung, avancierte ein vom Dichter verfasster literarischer Text zur eigentlichen legitimierenden Voraussetzung der Verwendung des Begriffs Theater. Erst damit wurde auch das Dispositiv von Werk bzw. Werkästhetik geschaffen, welches den Text entlang der durch Hegel verbindlich formulierten Kriterien von Vollendung, Ganzheit und Einheit als Sinnangebot verstand und das Theater programmatisch zu dessen Medium reduzierte. Zu einer peniblen Textbindung der Aufführung kam es dann tatsächlich im Zeitraum 1830/40 durch die an den europäischen Repräsentationstheatern vorherrschende Festlegung auf die literarische Dramatik. Dies bedeutet auch eine dezidierte Abgrenzung gegenüber einer als Gebrauchsware diskreditierten Unterhaltungsdramatik, die auf dem Wege vielfältiger sprachlicher Übertragungen und praxisorientierter Anpassungen nichtsdestoweniger die Grundlage der europäischen Theaterkultur im 19. Jahrhundert ausmachte (vgl. Bayerdörfer 2005). Insofern war das Verhältnis zwischen Literatur und Theaterpraxis zu keiner Zeit zugunsten der Ersteren vollends entschieden. Bereits Goethe, dessen Schaffen scheinbar rundweg für eine Absicherung des klassischen Werkverständnisses in Anspruch genommen werden kann, plädierte als Theaterpraktiker für das Prinzip der Überarbeitung und des Eingriffs: „Der einnehmende Stoff, der anerkannte Gehalt solcher Werke sollte einer Form angenähert werden, die teils der Bühne überhaupt, teils dem Sinn und Geist der Gegenwart gemäß wäre.“ (Goethe 1887, 89 f.) Er sprach sich damit zu einem frühen Zeitpunkt zugleich für die Aktualisierung überkommener Stoffe und für eine Einrichtung derselben zu den genuinen Bedingungen der Bühnenkunst aus (vgl. Fischer-Lichte 1990 Bd. 1, 352 f.).
Textbindung
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I. Grundlagen Literarische Disziplinierung
Entfesselung des Theaters
Aktueller Werkbegriff
Doch auch Goethes Plädoyer änderte nichts an der Tendenz zur Verallgemeinerung und Disziplinierung der ästhetischen Wertung, die notwendigerweise auf das textuelle Substrat als fester identifizierbarer Form zurückgeworfen war. Ihre theaterpraktische Entsprechung fand diese Tendenz vor allem im Historismus des darin stilbildenden Meininger-Theaters gegen Ende des 19. Jahrhunderts, das seinen handwerklichen Standard an der historischen Plausibilität bemaß. Sie wurde dann im engen Zusammenhang mit Entwicklung der Philologien in der Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich befördert und mündete schließlich in Versuche, Theater textuell-dramaturgisch durchzuregulieren, etwa bei Paul Heyse und vor allem in Gustav Freytags Schrift Die Technik des Dramas (1863). Diese Festlegungen sollten sich vor allem im breiten gesellschaftlichen Bewusstsein von Theater festsetzen. Dem gegenüber jedoch stehen die skizzierten programmatischen Aufbrüche der internationalen Theatermoderne ab 1890 und der historischen Avantgarden, deren Errungenschaft, nämlich die Emanzipation des Theaters als eigenständige Aufführungskunstform, bis heute ebenso nachhaltig wirkt, vor allem aber innerhalb der Theaterpraxis und ihrer Theorie. Es ließe sich im Ausgang von der Theaterpraxis des 20. und auch des 21. Jahrhunderts sogar von einem neuen theatralen Werkverständnis sprechen, das nicht mehr um das Text- und Gehaltssubstrat zentriert ist, sondern den jeweils aktualisierten Umgang mit den medialen Bedingungen und materiellen Voraussetzungen selbst zum wesentlichen Teil einer selbstreflexiven Theaterästhetik bestimmt. Wie Theresia Birkenhauer entsprechend betonte, wird in den aktuellen theoretischen Diskussionen der Begriff Werk gerade nicht mehr als normativ totalisierender und verfestigender verstanden, sondern im Gegenteil als ein Grenzbegriff, […] der auf die vielfältigen Vermittlungen im Prozess ästhetischer Produktion und Rezeption verweist. Mit [Werk] ist jene Seite der künstlerischen Praxis benannt, die sich den Intentionen der Produzenten widersetzt, in ihnen nicht aufgeht. […] In dieser Perspektive erscheint das [Werk] nicht als fertiges Objekt, sondern als eine Instanz der Vermittlung zwischen Beabsichtigtem und Realisiertem, Subjektivität und Material. (Birkenhauer 2005, 390)
Ästhetischer Transfer
Für die Theaterwissenschaft verlangt dies, wie auch Christopher Balme herausstellt, nach einem dezidierten Verzicht auf den Begriff der Werktreue zugunsten der Frage nach dem Transfer und dem ästhetischen Austausch, der sich zwischen Theater als einer autonomen künstlerischen Praxis und den anderen Kunstarten, einschließlich der Literatur, vollzieht (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 5.4.2006, 44). Eine wahrhaft zeitgemäße Perspektive auf das Werk hätte sich also auf jeden Fall von der hierarchischen Beziehung Drama – Theater zu lösen und die Dynamik ihres Wechselspiels, gerade auch in Bezug auf Text-Transformation (vgl. Fischer-Lichte 1985b), in Rechnung zu stellen. Kriterien wie Spannung, Bedeutungs-Entzug, Verlust, aber auch Plötzlichkeit, Intensität und natürlich auch das einer ,geglückten Irritation‘ sind die angebrachten im kritischen Diskurs um Theaterästhetik. Das Texttheater ist keineswegs obsolet, es hat sich allerdings seinerseits gewandelt. Gerade die Autoren ab der Mitte des 20. Jahrhunderts tragen
4. ,Werktreue‘ – eine obsolete Forderung?
dem Umstand der ästhetischen Eigenständigkeit des Theaters in entscheidendem Maße Rechnung, werden gar zu ihren Gewährsleuten und Verfechtern, etwa indem sie die performative Dimension der Szene in ihre Texte einarbeiten: Sprachexperimente, Aufbruch der Figurenidentität, konkreter Status des Wortes und des Textgesamts usw. – das alles sind Indizien einer neuen, am medialen Transfer orientierten Ästhetik, die literarisches Schaffen für die Bühne auf diese hin öffnet und damit das vormals geschlossene Werk nunmehr in der Ambivalenz zwischen Wort und Szene aufgehen lässt. Oftmals betonen die Autoren dabei ein Potenzial dichterischer und gerade auch visueller Imagination innerhalb des Textes, das auf das Theater hin ausgespannt ist, jedoch nicht im Sinne von erstrebter Deckungsgleichheit, sondern in Form von Differenzen und Schnittmengen, die sowohl die Literatur als auch das Theater an ihre jeweiligen Grenzen treiben. Das heutige Theater antwortet darauf mit einer Inszenierungspraxis, die den Text nicht als fehlerfrei umzusetzendes Sinnkontinuum, sondern als unter den Bedingungen von Theatralität neuerlich zu bearbeitendes Material ernst nimmt und ihn als Ansatzpunkt neuer szenischer Transformationsverfahren jenseits der Textreue-Norm nutzt (vgl. Balme/von Brincken 2007, 289). Aktuelles Theater dieser Art entsteht sozusagen an der Schnittstelle seiner Konfrontation mit herangetragenen Materialien, und seien dies literarische Entwürfe. Es ist vor diesem Hintergrund zu fragen, ob das neuerlich im Kurs stehende Plädoyer für Werktreue nicht weniger durch ein traditionelles Verständnis von Texttheater legitimiert, als vielmehr durch den „Unwillen […] sich auf ungewohnte Theatererfahrungen überhaupt einzulassen“. (Lehmann 1999, 83) charakterisiert ist. Es stände damit konträr auch zur Qualität aktueller Theatertexte. Nun mag generell die Tendenz, sich heute auf einen überkommenen Werk-Begriff zu berufen, zumindest als tastender Ausdruck eines neuerlichen theateraffinen Qualitätsbewusstseins positiv zu werten sein. Ganz in diesem Sinne wurde – fast entschuldigend – das Solidarische einer Kritik betont, die dem Theater nur zeigen solle, „dass es sein ästhetisches Bezugsystem neu zu justieren hat“ (Johanna Dombois und Richard Klein, ZEIT 5.10.2006). Das Problem ist dann aber wiederum, dass sich, auch wenn man den Begriff der Werktreue sozusagen nur im Sinne eines freundschaftlichen Klapses heranzieht, unweigerlich die Dimensionen vergrößern: Formale und ästhetische Ansprüche werden nämlich im Begriff der Treue mit ethischen Kategorien identifiziert. Hinter dem aktuellen und per se verständlichen Bedürfnis nach klaren Einordnungen, das sich in stilistische Forderungen hinein fortsetzt, steht, so ist zu vermuten, eine angesichts der sich im Wandel befindlichen globalen Gesellschaft anachronistische Sehnsucht nach überzeitlichen Werten, die sich wenigstens in der Kunst manifestieren sollen – was mit Kunst jedoch weniger zu tun hat als mit Weltanschauung (vgl. Fischer-Lichte 1985b, 39 ff.; Rühle 1982, 97 ff.). Zugleich soll Kunst in Gestalt des Theaters auf die eigenen affektiv-emotionalen Bedürfnisse im Hier und Jetzt antworten, was per se einen Widerspruch zur ersten Bedingung darstellt. Theater, das sich und die gesellschaftliche Vielfalt, in der es sich abspielt, ernst nimmt, kann Traditionen und Publikumsbedürfnisse wahrnehmen und reflektieren. Das Wahre, Gute und Schöne für alle Zeit befestigen und dem Zeitgeist willfahren, das kann es – und darf es – nicht.
Schnittmengen und Differenzen zwischen Text und Theater
Zeitgeist und Überzeitlichkeit
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I. Grundlagen
Lebendige Theatergeschichte und -theorie
Was nicht Beliebigkeit oder Affirmation des Bestehenden bedeuten muss: In der Betonung des ontologischen Status des Theaters als eines Ereignishaften, Transitorischen und radikal Präsentischen wäre geradezu die sich in der Werktreue-Debatte manifestierende Problematik von Gegenwart und Vergänglichkeit in der Kunst wie in der Realität anvisierbar, reflektierbar und diskutierbar. Die vorliegende Einführung versucht sich entsprechend dieser spezifischen Perspektive an der Aufarbeitung und Klärung derjenigen Fragen, die sich zum einen aus der Eigenständigkeit des Theaters als einer sehr alten, jedoch nach wie vor brandaktuellen künstlerischen Darstellungsform ergeben und die zum anderen im Wechselverhältnis des Theaters und seiner genuinen Kriterien mit denen der anderen Künste, speziell der Literatur, begründet sind. Der bereits in der Einführung deutlich gewordene Anspruch, beide Positionen in ihrer geschichtlichen Verflechtung herauszuarbeiten, bedingt eine weitgehend historisch verfahrende Perspektive. Gerade an ihr aber lassen sich auch die systematisch-theoretischen Aspekte und die spezifischen medialen Bedingungen, mit denen die Theaterwissenschaft im Hinblick auf ihren Gegenstand zu tun hat, in ihrer Gewordenheit darstellen. Auf jeden Fall aber wird sich die Geschichte des Theaters und seiner theoretischen Betrachtung – so ist zu hoffen – als im mehrfachen Wortsinne ausgesprochen lebendige veranschaulichen lassen. Dies wiederum belegt die Notwendigkeit einer Theaterwissenschaft, die ihren systematischen Fokus nicht nur an der wechselvollen Historie, sondern an der jeweiligen Aktualität ihres Gegenstandes sowie seiner komplexen ästhetischen, medialen und sozialen Bezüge orientiert.
II. Forschungsbericht 1. Die Theaterwissenschaft von ihren Anfängen bis heute Die Theaterwissenschaft ist eine relativ junge Wissenschaft und ein Kind des beginnenden 20. Jahrhunderts. Erste theaterwissenschaftliche Vorlesungen hielt der Gründer des Fachs Max Herrmann bereits 1900, ein eigenes Institut bezog es jedoch erst 1923 in Berlin, einen Lehrstuhl bekam es gar erst 1938 in Köln zugewiesen. Indem Herrmann das transitorische Untersuchungsobjekt Theater vom Drama emanzipierte und mithilfe der überlieferten Quellen wie ein Archäologe zu rekonstruieren versuchte, stellte er das Theater selbst als ästhetisches Werk in den Mittelpunkt, das sich wie das Tafelbild in der Kunstgeschichte untersuchen ließ (Herrmann 1981). Dabei sollte zur peniblen Erforschung der Quellen die Einfühlung des Forschers in die historischen Theaterereignisse hinzukommen, um diese zu verstehen, so dass sich der Positivismus des 19. Jahrhunderts und die damals innovative geistesgeschichtliche Methode, wie sie Wilhelm Dilthey vertrat, die Waage hielten. Dass zur selben Zeit die historische Avantgarde die Theatralisierung des Theaters forderte, ist mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Tiefenstrukturen geschuldet, im historisch strengen Sinne lassen sich keine direkten Verbindungen nachweisen. Nachdem Herrmann aufgrund seiner jüdischen Herkunft und seine Methode nach 1933 weltanschaulich nicht mehr opportun erschienen, glaubte man in der Folge des sich ausbreitenden Irrationalismus und der Verabschiedung des Positivismus, der Performanz des Untersuchungsobjektes Theater in der wissenschaftlichen Rezeption mit einer ,intuitiven Wesensschau‘ begegnen zu können (Corssen 1997). Diese diente als Grundlage einer ,lebenswissenschaftlichen‘ Umdeutung in Richtung einer völkischen und rassistischen Theaterwissenschaft. So hat Heinz Kindermann als Germanist die geistesgeschichtliche Methode zur völkischen Literaturwissenschaft entwickelt und diesen Ansatz Anfang der 40er Jahre auf die Theaterwissenschaft übertragen (Englhart 2007). Von Beginn an waren für die Theaterwissenschaft als neu zu etablierendes Fach zwei Grenzen besonders relevant: Einerseits ging das Fach methodisch und personell aus der Germanistik hervor, was nicht weiter verwundert, wenn man an die Abhängigkeit des traditionellen Theaters von dramatischen Texten denkt; hier hatte man sich gegenüber der philologischen Übermacht zu emanzipieren, was bis heute anhaltende Berührungsängste erklärt. Andererseits changierte die Theaterwissenschaft zwischen wissenschaftlicher Profession und praxisbezogener Ausbildung, wobei im deutschsprachigen Raum, im Gegensatz zu den angelsächsischen Drama Departments, der Schwerpunkt in der universitären Wissenschaft blieb. Als Ausbildungsstudiengang für Dramaturgie, Regie und Intendanz, gar als ,Theaterbeamter‘, zudem für die Kulturkritik und später auch für die anderen Medien, verstand sich das Fach jedoch von vornherein. Und so kam es, dass weniger die Uni-
Anfänge des jungen Fachs
Etablierung in der NS-Zeit
Zwischen Wissenschaft und Praxis
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II. Forschungsbericht
Kontinuitäten der Nachkriegszeit
Transitorik des Theaters, Integrative Theaterwissenschaft, Semiotik
versität als vielmehr die an einer kulturpolitischen Kontrolle und linientreuen Ausbildung der zukünftigen Medienschaffenden interessierten Nationalsozialisten der Theaterwissenschaft in Berlin, Köln, Wien und München zu einem etablierten Status im Fächerkanon verhalfen. Die Theaterwissenschaft erwies sich zudem als methodisch anschlussfähig an die Ideologie des Nationalsozialismus, hatte sie doch, in Abgrenzung vom Logos als ,Kern der Philologie‘, den ,Mimus‘ im Sinne der mimischen Äußerung als anthropologische Konstante in den Vordergrund geschoben. Da sich dieser als nationales und rassisches Merkmal gut eignete, gab es Versuche, eine deutsche Theaterwissenschaft aus dem ,Mimus‘ und davon abgeleitet aus den ,germanischen Kultspielen‘ zu begründen. Daneben galt es, in einem ,ganzheitlichen‘ Ansatz das ,Wesen‘ und die ,organische Lebensform‘ als ,Gemeinschaftsarbeit‘ und ,Gemeinschaftsempfang‘ zu erkennen, was sogar zu einer eigenen Theatergattung, dem von Carl Niessen proklamierten, letztlich aber erfolglosen nationalsozialistischen ,Thingspiel‘ führte. Die Nachkriegszeit prägte eine weitgehende personelle Kontinuität, während sich die Methoden zeitgemäß wandelten. Das ,Mimus‘-Konzept erlebte in den 50er Jahren eine kurze Blütezeit, die Theaterwissenschaft suchte hierbei die Verbindung zur Ethnologie und bewegte sich in einem Bereich, den die Theaterwissenschaft heute als Gebiet der Theateranthropologie versteht. Besonderer Schwerpunkt wurde jedoch die Theatergeschichte, welche programmatisch von der deutschen zur europäischen Theatergeschichte erweitert wurde, methodisch zog sich die ,intuitive Wesensschau‘ hinter die Hermeneutik zurück. Grundlage der historischen Arbeit blieben weiterhin die theaterwissenschaftlichen Sammlungen, insbesondere diejenigen in Wien, Köln und München, welche beständig erweitert wurden. Vorstöße in den theatersystematischen Bereich kamen gelegentlich vor, so wurden Arbeiten zur Schauspielkunst, Dramaturgie und Regie veröffentlicht (Kutscher 1949; Niessen 1949). Das Jahr1968 brachte auch für die Theaterwissenschaft weitgehende Neuorientierungen. Generell konzentrierte man sich nun wieder mehr, wie einstmals Herrmann, auf das transitorische Ereignis Theater, wiewohl man aber die Validität einer Rekonstruktion ablehnte, so dass nicht das historische, sondern das gegenwärtige Bühnenereignis wichtiger wurde (Steinbeck 1970). Gleichzeitig erweiterte man den Untersuchungsbereich um die Neuen Medien Film und Fernsehen, was auch damit zusammenhing, dass Theater seine Funktion als gesellschaftliches Leitmedium verloren hatte (Erken 1982). Etwas später differenzierten sich im Zuge der Forderung nach einer ,integrativen Theaterwissenschaft‘ zusätzlich die Musiktheaterwissenschaft (vor allem in Bayreuth und München), die Tanzwissenschaft und die Theaterpädagogik aus. Mit dem neuen Medium Video bekam die Theaterwissenschaft ein Dokumentationsinstrument an die Hand, welches die Analyse der Bühnenereignisse erst wirklich möglich machte, ab den 80er Jahren gesellten sich zu den Theatersammlungen und Fachbibliotheken nun die Videosammlungen der Institute. Das Theater wurde als Kommunikationsprozess begriffen und teilweise sogar mit psychologischen Methoden empirisch untersucht. Aber erst die dem Strukturalismus entliehene Semiotik wurde dann die bis heute in der gesamten Theaterwissenschaft anerkannte systematische Analysemethode (Girshausen 1990).
2. Neuere Forschungsfelder im Überblick
Der Einfluss postmoderner Vorstellungswelten seit den 1980er Jahren initiierte auch in der Theaterwissenschaft mehrfache Grenzüberschreitungen (Briegel 2003). Theaterwissenschaft wurde vermehrt als Teil der Kulturwissenschaften begriffen, so dass interdisziplinäre Bezüge deutlich wurden und im Zuge der Postcolonial Studies ethnologische und anthropologische Fragestellungen zur vertieften Untersuchung von Identitäts- und Alteritätsphänomenen führten. Das Theater fand von nun an nicht mehr nur auf der Bühne statt, so dass unter dem Stichwort Theatralität der gesamte kulturelle und gesellschaftspolitische Bereich als Rollenspiel untersucht werden konnte. Der performative turn, auch unterstützt durch die Gender Studies aus den USA, lenkte die Aufmerksamkeit weg von den kulturellen Artefakten, hin zum Entstehungsprozess (Fischer-Lichte 2003). Zugleich wurde die Performance zulasten des Dramas wichtiger, so dass die Theaterwissenschaft sich mehr der künstlerischen Performance zuwandte und man alsbald vom „postdramatischen“ Theater sprach. Ebenfalls aus den USA kam der Trend, die Theaterwissenschaft wieder mehr der Praxis anzunähern, es entstanden praxisorientiertere Studiengänge in Gießen, Hildesheim, Erlangen und München (Schechner 2002; Gromes/Sting 2005). Mit der zunehmenden Integration elektronischer Bildmedien intensivierte sich die Diskussion über das intermediale Verhältnis auf der Bühne sowie zwischen Theater und anderen Medien mit der Folge, dass nun Theatergeschichte als Teil einer allgemeinen Mediengeschichte begriffen wird. Seit Beginn des neuen Jahrtausends, insbesondere seit dem 11. September, zeichnen sich wieder neue Entwicklungen ab. Nachdem die Korporalität, Materialität und Ereignishaftigkeit des Theaters als Performance mehr in den Blick kam, erkannte man, dass die Semiotik keineswegs ausreicht, Theater als ästhetische Erfahrung zu erfassen. Seitdem wird versucht, die Zeichen mithilfe phänomenologischer Methoden zu ergänzen; dafür fehlt jedoch eine funktionierende Methode. Ähnliches gilt für die visuelle Komponente des Theaters, welche im Zuge des iconic turn und der Integration der Theater- in eine fächerübergreifende Bildwissenschaft zwar erkannt, aber ebenfalls bis heute methodisch nicht in den Griff zu bekommen ist. Mitsamt der gesellschaftlichen Mentalitätsverschiebungen im Zuge der Globalisierung ergibt sich für die Theaterwissenschaft momentan nicht nur eine leichte Akzentverschiebung hin zu einer neuen ,Substantialität‘ (vgl. Gumbrecht 2005; Böhme 1995), sondern zu einer wieder verstärkten Beschäftigung mit dem Theatertext.
Kulturwissenschaft, Postcolonial Studies, Theatralität, Performativität
Performance und Postdramatik
Phänomenologie, Iconic Turn, Rückkehr zum Theatertext
2. Neuere Forschungsfelder im Überblick Theatralität, Performativität, Medien- und Bildwissenschaft Die Theaterwissenschaft hat sich in der letzten Dekade lebhaft verändert und dabei ihre Forschungsfelder deutlich vergrößert. War sie noch in den 1970er Jahren eher theater- und dramengeschichtlich orientiert, so wandte sie sich in den 1980er Jahren systematisch der Ästhetik der Aufführung zu. Seit den 1990er Jahren erweitert sich die Theaterwissenschaft von einer Kunst- zu einer interdisziplinären Kulturwissenschaft und begreift sich als Medien- und Bildwissenschaft. Sie ergänzt die ästhetische um die anthropo-
Hin zur Kultur-, Medien- und Bildwissenschaft
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II. Forschungsbericht
Intermedialität und Theatralität
Von Evreinov zu Barthes und Brecht
logische Komponente und nimmt nicht nur vielfältige Anregungen aus anderen Disziplinen auf, sondern spielt mit ihren Theorien und Begriffen als Ideenlieferant für die Kulturwissenschaften eine bis dahin unbekannte bedeutende Rolle (Balme 1994; Fischer-Lichte 2005c). Diese verdankt sie vor allem ihrem traditionellen Untersuchungsgegenstand, dem Theater. Als semiotisches Medium ist Theater multimedial, es führt Sprache, Bewegung, Bild, Musik und Körper zusammen, so dass der direkte Bezug zu anderen Medien und kulturellen Bereichen nahe liegt. In neuerer Zeit nimmt die Integration elektronischer Bildmedien zu, infolgedessen intensiviert sich die Diskussion über das intermediale Verhältnis auf der Bühne sowie zwischen Theater und anderen Medien. Im Rahmen seiner Medialität eignet Theater ein Spezifikum, welches als Motiv für die vielfältigen Grenzüberschreitungen in Wissenschaft und Theaterpraxis wirkt und sich unter den Begriff Theatralität subsumieren lässt. Theatralität wird im engeren Sinne als dasjenige verstanden, was Theater als Kunstmedium ausmacht, auf seinen Aufführungscharakter verweist und zum einen die Inszenierung, zum anderen die Wahrnehmung des Inszenierten intendiert. In einem weiteren und heute geläufigsten Sinn wird von Theatralität gesprochen, wenn kulturellen Phänomenen, die auch außerhalb des Kunsttheaters im gesellschaftlichen und politischen Raum vorkommen, eine theatrale Dimension zugewiesen wird. Theatralität als Erweiterung des Theaterbegriffs wurde durch dessen metaphorische Verwendung in den Kulturwissenschaften angeregt (Turner 1989) und in der Theaterwissenschaft insbesondere seit den 90er Jahren intensiv diskutiert (Fiebach 1996; Münz 1998; Schramm 1996; Fischer-Lichte 2000; Kotte 1998). Dies hing auch mit der dominanter werdenden Medien- und Inszenierungskultur in einer Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord) zusammen, so dass die Ausweitung des Theaterbegriffs mit der Theatralisierung der Wirklichkeit korrelierte. Eine „Agonie des Realen“ (Jean Baudrillard) in einer postmodernen, visuell dominierten Vorstellungs- und Medienwelt provozierte im Rahmen einer weitreichenden „Theatralisation“ (Brandstetter 1998) eine neue Blickweise auf Umwelt und Kultur – registriert wurden generell mehr Theatralitätsphänomene. Elisabeth Burns (1972) folgend, könnte behauptet werden, dass Theatralität vornehmlich einem bestimmten Modus der Wahrnehmung geschuldet ist. Theaterhistorisch verorten kann man den Begriff der Theatralität erstmals 1908 bei Nikolai Evreinov, einem im vorrevolutionären Russland lebenden Theatertheoretiker und Regisseur, der Theatralität als Basis der Kulturgeschichte und als Instinkt des Menschen versteht, wobei ein Kunstwerk nur als Sonderfall eines Werkes der Theatralität gelten soll (Xander 1994); die ästhetische Grenze zwischen Kunst und Leben wird vor dem Hintergrund des Theatralitätsdiskurses überschritten, Parallelen der Vorstellungen Evreinovs mit der europäischen Theateravantgarde (Fiebach 1996) sind nicht zu übersehen. Der Theaterpraktiker Bert Brecht wird etwas später die „Theatralität des Alltags“ aus der „Straßenszene“ herleiten (Fiebach 1978), während der Theoretiker Roland Barthes Theatralität in den „Mythen des Alltags“ ausmacht. Theatralität ist für Barthes das, was neben dem dramatischen Text das Theaterereignis prägt, seine bekannte Formel lautet dementsprechend: Theater – Text = Theatralität (Barthes 1964, 41 f.).
2. Neuere Forschungsfelder im Überblick
Ein direkter Bezug zwischen Alltag und Bühne ergibt sich in der Theatralität des Individuums über die Verbindung der selbst erfahrenen ,Identität‘ mit der Rollenfigur des Schauspielers. Speziell in der gegenwärtigen fragmentierten Medienwelt funktioniert die Plurimedialität des Theaters als Spiegelbild der kaleidoskopischen, außertheatralen Wirklichkeit; das uneindeutige, gespaltene Selbst des Schauspielers in seiner Rolle auf der Bühne steht für das sich auflösende Subjekt im medialisierten Alltag. So wie der Schauspieler immer einen gewissen Abstand zur Rolle hat, bleibt das nachmoderne Individuum in steter Distanz zu Selbstbildern und -beschreibungen, welchen es seine Identität verdankt. Dieser Abstand zu sich selbst initiiert eine durchgehend auch vom Individuum reflektierte Theatralität des eigenen Verhaltens. Soziales Rollenverhalten wird von den Beteiligten eher bemerkt, was Erving Goffmann zu einer entsprechenden These motivierte, die auf Theatralität in soziologischen Phänomenen aufmerksam machte: „Wir alle spielen Theater“ (Goffmann 1969). Theatralität wäre in diesem Sinne ein Fundament der gesamten Gesellschaft oder sie stiftet, Andreas Kotte zufolge, überhaupt erst Gesellschaft (Kotte 1998). Letztlich zeigt sich: Was dem Menschen bewusst wird, bewertet er eher als theatral. Abständigkeit als bewusste Distanzierung zu sich selbst im ästhetischen und alltäglichen Rollenspiel tendiert dazu, die Grenze zwischen Kunsttheater und Alltagswelt zu verwischen, eröffnet den mentalen Freiraum für Experimente und vergrößert den Raum für äußere Einflüsse. Auf anthropologischer Ebene wäre dieser Abstand des Menschen zu sich selbst mit Helmuth Plessners ,exzentrischer Positionalität‘ als grundlegende Bedingung des menschlichen Daseins zu beschreiben. In seiner Anthropologie des Schauspielers drückt sich diese Exzentrizität in der Differenz von Leib-Sein und Körper-Haben aus (Plessner 1980), wobei Körper-Bilder eine große Rolle spielen. Nach Hans Belting wäre erst eine „Anthropologie des Bildes“ in der Lage, menschliche Identität kulturgeschichtlich zu lokalisieren (Belting 2001). Die Orientierung an Selbst- und Fremdbildern rückt als prägendes Motiv von Theatralität in den Vordergrund. Hierbei verbindet sich im Zuge des iconic turn (Mitchell 1990) die Theaterwissenschaft mit der interdisziplinären Bildwissenschaft (Balme 2003; Englhart 2004). Gestützt wird diese Entwicklung durch die Beobachtung, dass nach Andrzej Wirth in der „zeitgenössischen Ästhetik der Präsentation“, in der sich die „Proportionen zwischen Theater und Performance immer mehr zugunsten der Performance“ im Sinne einer zunehmenden Aufmerksamkeit für die visuellen Anteile der Inszenierung und eines „Überwiegen des Performativen“ entwickeln, ein „neue[r], arbiträrer, totalisierender Kontext“ ergibt. Diesen macht Wirth anhand Robert Wilson’scher Inszenierungen als „Fusion von Ikonophilia und Ikonoklasmus“ kenntlich, wobei das ikonoklastische Moment in seiner Weigerung, „eine Trennungslinie zwischen Kultur und Natur, zwischen Mensch und Tier, zwischen alt und modern, zwischen heilig und profan zu ziehen“, offenbar wird (Wirth 1992). Performative Grenzüberschreitungen der Theatralität begründen dabei zwar eine Ethik der Differenz, können jedoch, aus einer anderen Perspektive betrachtet, auch unethisch sein, indem sie Täuschungen im gesellschaftspolitischen Bereich legitimieren, falls das Rollenspiel außerhalb des Theaters nicht durchschaut wird (Lazarowicz 1991).
Soziale Rolle
(Bild-) Anthropologie
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II. Forschungsbericht Theatralität und Performanz
Performativität und Atmosphäre
Performance in der Gesellschaft
Wenn man den Theatralitätsbegriff in seinem grenzüberschreitenden Anspruch radikalisiert und ihn nicht nur als ästhetische und kulturelle, sondern auch als mentale Haltung und Diskursformation ausweist, dann könnte er mit Helmar Schramm durch die performativen Akte der Aisthesis, Kinesis und Semiosis, die als „Faktoren kultureller Energie“ ein „Magisches Dreieck“ bilden, beschrieben werden (Schramm 1996). Ihr jeweiliges Verhältnis in einem bestimmten historischen Gefüge, das Rudolf Münz als gesellschaftsbestimmtes Verhältnis von Kunsttheater, Alltagstheater sowie Theaterverboten und karnevaleskem Theater bestimmt (Münz 1998), führt, Erika Fischer-Lichte folgend, zur Aufmerksamkeit auf kulturgeschichtlich wirksame Faktoren der Wahrnehmung, der Körperverwendung und der Bedeutungsproduktion (Fischer-Lichte 2000). Gemeinsam liegen sie der Theatralität zugrunde und ermöglichen in einem jeweils anderen Zusammenhang ästhetische und kulturelle Artefakte. Sie sind deren Bedingung, gehen aber keineswegs in ihnen auf. Als Prozesse der Herstellung von etwas – der Poiesis – lenken sie den Blick auf den ereignishaften Vollzug und das Handeln im Hier und Jetzt, den „performativen Akt“ bzw. das „Performative“ als „einmaligen Akt, schlichte Geste, singuläre Handlung“. Dies würde als Ereignis die „Selbstreflexion der Avantgarde, das System von Kunst als Metakunst“ ablösen und an deren Stelle den „offenen Prozeß“ rücken (Mersch 2002, 245). Das Performative wird mit Hilfe des interdisziplinären Konzepts der Performativität untersucht, das seit den 1950er Jahren existiert und mit den Kulturwissenschaften der 1970er und 1980er Jahre relevant geworden ist (Burke 2004). In der Sprachphilosophie John L. Austins 1955 noch auf den Vollzug von Sprachhandlungen im Sprechakt bezogen, erlaubt es Anfang der 90er Jahre bei Judith Butler, körperliche Handlungen als nichtreferentielle performative Akte darzustellen, welche Körper und Wirklichkeit in der Wiederholung von Gesten erst konstituieren (Butler 1992; Schechner 2002; Wirth 2002). Performativität ist, aus der Sicht der Zuschauer eines theatralen Ereignisses, der Teil der Aufführung, welcher qua Anmutung, erfahrener Atmosphäre und wahrgenommener sinnlicher Qualität die Bewertung bzw. die Semiosis als Bedeutungsgenerierung erst möglich macht (States 1985; Fischer-Lichte 2001; Englhart 2002; Schouten 2006). In einer theatralen Perspektive wird das Geschehen zur Aufführung oder zur Leistung, also zu etwas, das durch den angelsächsischen Begriff Performance – „one of the key terms for the new century“ (McKenzie 2001) – bezeichnet wird. Performance ist momentan nicht nur in den Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern für den gesamten kulturellen, organisatorisch-wirtschaftlichen und technologisch-wissenschaftlichen Bereich zu einem der wichtigsten Begriffe geworden. Er charakterisiert nach Jon McKenzie die Epoche der letzten hundert Jahre, die sich so vom 18. und 19. Jahrhundert als dem Zeitalter der Disziplinen absetzt (McKenzie 2001). Letztendlich ist Performance als relationaler Begriff wie Theatralität dort zu finden, wo das Augenmerk auf den Prozess gelegt wird, so dass mit Marvin Carlson gilt: „all human activity could potentially be considered as ,performance‘“ (Carlson 1999, 190). Dementsprechend löst die Theaterwissenschaft heute eine Forderung des Performancetheoretikers Daniel Charles ein, wenn sie in der Theater- und Kulturgeschichte das Performative in den Vordergrund rückt (Charles 1989).
2. Neuere Forschungsfelder im Überblick
Für die Theaterwissenschaft sind gegenwärtig vier Konzepte mit dem Begriff der Performance verbunden: (1) Im Bereich des Theaters bedeutet Performance die Aufführung, also den transitorischen theatralen Text in betonter Differenz zum dramatischen Text. Außerhalb des Theaters und in Verbindung mit der wahrgenommenen Theatralität von Kultur- und Alltagsphänomenen wäre Performance in diesem Sinne alles, was den Beteiligten als Inszenierung erscheint – das kann der Flirt in einer ersten Begegnung zwischen zwei Liebenden, eine Universitätsvorlesung oder auch eine Kabinettsitzung sein. (2) Das Ereignishafte dieser Aufführungen verweist auf das zweite Konzept von Performance, das der Performancekunst. Diese bildet nach Daniel Charles, der sich auf Jean-François Lyotards „energetisches Theater“ als „diskontinuierliche events“ beruft (Lyotard 1982, 20), einen „Zeitspielraum“, in dem das „Präsentische“ geschieht (Charles 1989). Früher Untersuchungsobjekt der Kunstgeschichte, wurde die Performancekunst als „live art by artists“ (Goldberg 1988) vor dem Hintergrund des Theatralitätsdiskurses in der Theaterwissenschaft vom ,Paratheater‘ zum zentralen Untersuchungsgegenstand aufgewertet. Historisch gesehen entwickelte sich die Performance aus der historischen Avantgarde über die Neoavantgarde der 1960er Jahre (Happening, Aktionskunst, Body Art) zu ihren heute ausdifferenzierten Formen, zu denen nun als Randphänomen das avancierte Theater traditioneller Herkunft gezählt wird. (3) Ein weiterer Grund, weshalb die Theaterwissenschaft heute das Konzept der Performance in den Mittelpunkt rückt, ist die Beobachtung, dass avanciertes Regietheater seit den 1970er Jahren dazu tendiert, nicht mehr dramatisches Theater zu sein. Andrzej Wirth fand dafür in den 1980er Jahren den Begriff „postdramatisches Theater“ (Wirth 1987), zu dem HansThies Lehmann 1999 eine einflussreiche Ästhetik vorlegte (Lehmann 1999). Postdramatisches Theater wird hier als innovative theatrale Ästhetik zwischen traditionellem dramatischen Theater und klassischer Performance positioniert. Das ,traditionelle‘ Drama tendiert mit Peter Szondi im 20. Jahrhundert zur Episierung, das Theater wird zum Experiment auf der Bühne. In der ,zentrumslosen‘ Kultur des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts wird der Brecht’sche Gestus selbstreferentiell, so dass sich im gegenwärtigen ,nicht mehr dramatischen‘ Theatertext alle bisher geltenden Konstituenten des Dramas (Figur, Handlung, Zeit, Raum) auflösen. Infolgedessen sollen für eine Analyse von Theatertexten dieser Art Instrumente, die von einer traditionellen Darstellungsästhetik (Figurenkonstellation etc.) ausgehen, nicht mehr greifen, so dass sie nur von ihrer szenischen Theatralität her zu verstehen sind (Poschmann 1998). Seit Ende der 90er Jahre ist in der zeitgenössischen Dramatik eine Gegentendenz in Richtung ,wieder dramatischer Theatertext‘, ,Rückkehr des Helden‘ und ,Wiederkehr der Geschichten‘ beobachtbar, die einem Mentalitätswechsel insbesondere in der jüngeren Generation antwortet und Fragen nach sozialer Relevanz, Substanz, Realität und Sinn nachgeht (Bayerdörfer 2007). (4) Das vierte Konzept der Performance ist vor allem der Ethnologie geschuldet. Auf der Folie der Kritik an der eurozentrischen Perspektive der Kulturwissenschaften wurden ethnologische Untersuchungen von cultural performances schriftarmer Gesellschaften auf Performances der visuell und me-
Performance der Aufführung
Performancekunst
Regietheater und Postdramatik
Cultural Performances
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II. Forschungsbericht
Performativer Akt
Geschichte der Genderforschung
dial geprägten abendländischen Kultur übertragen. Interessanterweise zur selben Zeit, als Goffmann für den abendländischen Bereich seine Soziologie des Rollenspiels veröffentlichte, vereinte 1959 der Anthropologe Milton Singer alle diejenigen Aufführungen, Feste, Wettkämpfe und Riten, welche der kulturellen Generierung, Stabilisierung und Ausstellung eigener Identität dienen, unter den Terminus cultural performances (Singer 1959). 1966 wurde Richard Schechner mit Approaches to theory and criticism (Schechner 1966) zum Pionier der Performance-Theorie, die er als social science verstand; zugleich erweiterte er das Verständnis von Theater um das environmental theatre (Schechner 1973). Seine Performance-Theorie wurde so einflussreich, dass heute in den USA im Fach performance studies das Theater im engeren Sinne nur eines unter vielen Untersuchungsobjekten ist; im Konzept der cultural performance geht es eigentlich um alles vom Menschen prozesshaft Hervorgebrachte. Eine Kernthese der Performance-Theorie bildet Victor Turners im Rahmen einer ,performativen Ethnologie‘ vorgestelltes Drei-Stufen-Modell des Rituals: Während die erste und die dritte Stufe als Trennung und Wiedereingliederung der gesellschaftlichen Norm zuarbeiten, entspricht die zweite Stufe als Übergangsraum der Liminalitätsphase, die der Mensch im Ritual durchläuft (Turner 1989). Aus der Perspektive der Theatralität wäre der performative Akt der Aufführung ein liminaler Akt, der die Beteiligten einer Veränderung unterwerfen kann. Wenn nun die nachmoderne Vermutung zutrifft, dass die Menschen in einer Inszenierungsgesellschaft ständig Theater spielen, dann befänden sich alle ständig im liminalen Raum. Sie würden, wie Judith Butler Anfang der 1990er Jahre gezeigt hat, perpetuierend in einem performativen Akt ihre Identität als Teil der symbolisch-kulturellen Ordnung nach ,innen‘ und ,außen‘ stabilisieren. Der Mensch wäre also nicht durch seine biologische oder materielle Substanz geprägt, sondern Teil einer sich bewegenden Kultur, welche ein performatives Spiel der différance (Jacques Derrida) auszeichnet (Butler 1988). Performance Studies und Performativität als Herausforderung der Theaterwissenschaft rekurrieren daher auf einen grenzüberschreitenden, beweglichen Gestus, welcher der Vorstellungswelt der seit den 1980er Jahren in der Kultur- und Theaterwissenschaft reüssierenden Postmoderne entspricht. Da momentan die Frage nach dem Ende und der Historisierung der Postmoderne gestellt wird, geht es seit Kurzem wieder mehr um die Existenz und Notwendigkeit von Grenzen, Regeln und die ,Substanz‘ im Performativen (Gumbrecht 2005). Zu vermuten ist, dass es weder zu einer Rückkehr von überwundenen Fundamentalismen, noch zu einer Beibehaltung unbeschränkter Performativität kommen wird. Die Zukunft liegt wohl in einem ,Sowohl-als-auch‘ bzw. im ,Dazwischen‘ des Ausgleichs. Die Genderforschung in der Theaterwissenschaft Seit einiger Zeit wird in der Theaterwissenschaft, wie in den Kulturwissenschaften insgesamt, der bis dato herrschende eurozentrische, männlichkeitsund mehrheitsdominierte Blick auf kulturelle Phänomene und Artefakte in Frage gestellt. Insbesondere die Genderforschung und die Alteritätsforschung gewinnen an Bedeutung und lassen alternative Sichtweisen auf das Theater bzw. auf theatrale Phänomene zu, indem sie die analytische wie historische Perspektive de-zentrieren (Haider-Pregler 1990; Möhrmann
2. Neuere Forschungsfelder im Überblick
1990). So beginnt die Genusforschung in der Theaterwissenschaft (Wiens 2000, 4 und 16), die Geschlechterdifferenz als Problem theaterhistorischer Forschung v. a. über die Frage nach dem ,authentischen‘ Körper als konstituierendem Element des theatralen Ereignisses zu erörtern. In der Geschlechterdifferenz geht es um das hierarchische Verhältnis zwischen Frauen und Männern, das sich in den dramatischen Texten und theatralen Inszenierungen ausdrückt. Dieses Verhältnis überschneidet sich mit weiteren Hierarchisierungen wie Alterität, Rasse und Klasse. Im Hintergrund dieser Entwicklung steht die kulturwissenschaftliche Abkehr von essentialistischen im Sinne von biologistischen Erklärungsmustern. In den Diversitäts- und Alteritätsstudien werden die Kategorien des Geschlechts und der Fremdheit als relationale ausgewiesen, die ihren Konstruktcharakter nicht mehr verbergen können. Daher unterscheidet man in den Gender Studies, die das hierarchische Verhältnis der Geschlechter untersuchen, zwischen gender und sex, also zwischen dem kulturellen und dem biologischen Geschlecht. Der theaterhistorische Zugang wäre etwa mit Blick auf die Aufführungspraktiken William Shakespeares oder Johann Wolfgang von Goethes möglich, bzw. in der Dekonstruktion der dramatischen Texte, die das Verhältnis von Mann und Frau, von Eigenem und Fremden, von Mensch und Tier etc. thematisieren. Im Theater der Gegenwart wird das Thema z. B. in den Theatertexten Elfriede Jelineks, in den Inszenierungen Frank Castorfs, Sasha Waltz’ oder der Wooster Group behandelt. Meist geht es um die stereotypen Imaginationen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die sich auf der Grundlage von Projektionen aus dem jeweiligen soziokulturellen Kontext konstituieren. Ein wichtiges Gebiet der Genderforschung in der Theaterwissenschaft ist eine Theatergeschichte aus weiblicher Sicht (Wiens 2000), u. a. auch die Untersuchung der Stellung, Funktion und sozialen Lage der Schauspielerin. Wenn schon der Schauspielerstand vor dem 20. Jahrhundert generell nur am Rande der Gesellschaft existieren konnte, was für sich genommen bereits ein eigener sozial- und theaterhistorischer Forschungsgegenstand ist, war die Schauspielerin besonderen Diskriminierungen ausgesetzt, von gesellschaftlicher Missachtung, berufsspezifischer Unterdrückung bis hin zur sexuellen Ausbeutung. Grundsätzlich ist die Tätigkeit von Frauen auf der Bühne keine theaterhistorische Selbstverständlichkeit. Im antiken griechischen Theater, das eigentlich nicht wenig Frauenrollen bot, konnten weibliche Rollen fast immer nur von männlichen Darstellern gespielt werden. Auch in der ,ersten‘ Demokratie in Athen war das Theater, wie überhaupt der öffentliche und politische Raum, eine Domäne der Männer; den Frauen war ein eng gezogener Wirkungskreis im Haus zugewiesen. Athenerinnen durften nur auf den oberen, in der Sicht beschränkten Plätzen zwischen Sklaven und Fremden sitzen. Im römischen Theater, in dem Schauspielen auch die Arbeit von Sklaven war, verhielt es sich, was die Aufführung von Tragödien betraf, ähnlich. Der römische Mimus benutzte gerne den sexualisierten, auch nackten Körper der Frau. Mit dem Aufstieg des Christentums erfuhren die Frauen einen gewissen Schutz, der sich zugleich aber auch als Zwang erwies. Die Kirche verurteilte die unmoralische Zurschaustellung der Frau scharf. Als Schauspielerin zu ar-
Theaterhistorie und Gegenwartstheater
Feministische Theatergeschichte
Antikes Theater
Mittelalter und Renaissance
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II. Forschungsbericht
Commedia dell’arte und Theater der Aufklärung
Anthropologie und Geschlechterdifferenz
Die Schauspielerin in der Moderne
beiten oder gar die Bühne zu betreten wurde für sie äußerst schwer, wenn nicht unmöglich. Von der Zeit der Kirchenväter, die hier eindeutig Stellung bezogen, indem sie die erbsündebelastete Frau als gefährliche Versuchung des Mannes betrachteten, bis ins Spätmittelalter war die Frau von der Bühne verbannt. Professionelle Schauspielerinnen sah man erst wieder in der Renaissance, oft im Schutz der adeligen Höfe. In der Commedia dell’arte spielten Frauen unmaskiert, was diesen professionellen Theatertruppen nicht unwesentlich zu ihrem Erfolg verhalf (Möhrmann 1989). Dass dies noch keine Selbstverständlichkeit war, beweist die Regel, dass im elisabethanischen Theater die Frau als Rollenfigur durch boy actors verkörpert wurde (Case, 1988). Aus heutiger Sicht der Gender Studies wären diese boy actors als Destabilisierungen von Geschlechterdifferenz im Sinne Judith Butlers zu interpretieren (Butler 1988). Mit dem europaweiten Erfolg der wandernden Commedia dell’arte-Truppen breitete sich die Spielerleichterung für Frauen zuerst nach Frankreich und Spanien aus, während man in England noch bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts warten musste und in Deutschland erst im 18. Jahrhundert Frauen auf der Bühne zu finden waren. Im Jahrhundert der Aufklärung war dann die Bühne für Frauen oft die einzige Gelegenheit, der Enge der häuslichen Herrschaft der Männer zu entfliehen. Nur am Theater war ein Leben außerhalb der Ehe, der Familie, des Klosters oder der Prostitution möglich. Es war sogar nicht einmal ungewöhnlich, wenn eine Frau eine leitende Stellung am Theater einnahm. Am bekanntesten wurde die Prinzipalin Caroline Neuber, die in der Koalition mit Johann Christoph Gottsched für eine ästhetische Aufwertung des Theaters und damit zugleich für eine moralische wie soziale Verbesserung des Schauspielerstandes eintrat. Erlaubt war einer Frau eine solche außerordentliche Stellung natürlich nur, weil die Bühne insgesamt kein angesehener gesellschaftlicher Ort war und die dort Beschäftigten generell diskriminiert wurden. Trotz oder wegen der Freiheit war die Gefahr für Schauspielerinnen aber besonders groß, waren sie doch weitgehend rechtlos und wenig geachtet. Da ihr ,schamloser‘ Auftritt auf einer öffentlich von allen einsehbaren Bühne manch männliche Phantasie entzündete, waren sie vielfältigen sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Im Theater der Aufklärungszeit verschärfte sich, vor dem Hintergrund der Entstehung der Anthropologie und, was das Schauspiel betrifft, des Übergangs vom ,künstlichen‘ zum ,natürlichen Zeichen‘, die Lage der Frauen auf der Bühne noch einmal (Geitner 1988). Denn nun war man zunehmend der Meinung, dass Frauen wie Kinder, Angehörige außereuropäischer Kulturen, Tiere und kriminelle Charaktere der Natur ,näher‘ waren bzw. auf der Leiter der kulturellen Hierarchie ,tiefer‘ standen. Überhaupt etablierten sich im 19. Jahrhundert Vorstellungen, welche die Geschlechterdifferenz biologisch legitimierten. Als Zuschreibungen neigten sie zu binären Oppositionen wie weiblich / männlich, denen fixe Oppositionen wie Gefühl / Verstand, passiv / aktiv, Natur / Kultur etc. assoziiert wurden. So wurden Geschlechtsstereotype generiert, die über die Weiblichkeit als ,internen Fremden‘ analoge Strukturen zu Alteritätskonstrukten wie den ,externen Fremden‘, insbesondere den außereuropäischen Fremden aufwiesen. Im 19. Jahrhundert professionalisierte sich der Schauspielerinnenstand, was keineswegs zu seiner gesellschaftlichen Anerkennung führte, eher im
2. Neuere Forschungsfelder im Überblick
Gegenteil. Wenn die Schauspielerin berühmt wurde, hatte sie als Virtuosin ihre aufwendige Garderobe selbst zu stellen. Eine Garderobe bedeutete nun nicht eine dem dramatischen Text angemessene, historisch oder charakteristisch ,richtige‘ Kostümierung, sondern man erwartete, dass die Frau die neueste, angesagteste und teuerste Mode auf der Bühne zur Schau stellte. Aufgrund der nicht so üppigen Gage waren die Schauspielerinnen auf zusätzliches Geld angewiesen, das sie sich oft durch Prostitution verdienen mussten. Schwanger durfte eine Schauspielerin dabei natürlich nicht werden. Affären hingegen, die Werbung für die Aufführung machten, waren durchaus erwünscht. Erst seit dem 20. Jahrhundert kann man von einer Verbürgerlichung der Schauspielerin sprechen. Mit dem Naturalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde sie nicht mehr dem ,Toilettenzwang‘ unterworfen, das Theater reduzierte den Aspekt der Unterhaltung zugunsten der Kunst. Zudem wurden für die Schauspielerinnen die Verdienstmöglichkeiten durch die neuen Massenmedien des Films und Fernsehens besser (Schmitt 1990). Doch auch heute noch ist die Schauspielerin benachteiligt. Dies beginnt bei den geringeren männlichen Bewerberzahlen an den Schauspielschulen und setzt sich in den wenigen Rollen für Frauen in der europäischen Dramatik fort. Zudem lastet auf Frauen weiterhin der größere Druck, Schönheitsidealen entsprechen zu müssen. Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen dürfen sie in Hauptrollen auch kaum älter werden bzw. müssen sich dann oft mit unbedeutenden Nebenrollen zufriedengeben. Im avancierten Theater der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es Frauen nunmehr möglich, sie betreffende Rollenzwänge, korporale Erscheinungsmuster und Vorurteile über ihr Vermögen und ihre Leistung in Frage zu stellen und mit gewohnten Wahrnehmungskonventionen zu brechen. Im Theater unterlaufen das Gender Switching wie das Cross Dressing und eine Besetzung gegen die Rollenerwartung (wie etwa in Frank Castorfs Des Teufels General mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle des Generals) die theatrale Konvention. Provokationen dieser Art weisen auf die Differenz zwischen biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechtsidentität. In der Praxis gelingt es Frauen zunehmend, als Regisseurinnen, Dramaturginnen und Intendantinnen Machtpositionen im Theater zu erobern. Noch radikaler als das performative Theater stellt die Performance traditionelle performative Muster und Wahrnehmungsstereotype in Frage. Seit den 1990er-Jahren untersucht die Gender Performance die Inszenierung von Geschlechtern und damit von Vorstellungen, Imaginationen, Strukturen und Modellen von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit, die sich in theatralen Inszenierungen, Aufführungen und Rollen sowie in dramatischen Texten und theatralen Theorien und Manifesten ausdrücken (Phelan 1993; Senelick 1991). Gender Performance meint hierbei die Inszenierung von Weiblichkeit oder Männlichkeit (Schrödl 2005, 125), wobei in der Vorstellung des Geschlechts als performativer Akt der Vollzug, der Akt, der Genotext bezüglich des Geschlechtes in den Vordergrund tritt, indem normativ determinierte Handlungen und Praktiken wiederholt werden. Damit wird auf die theatrale und inszenatorische Komponente von Weiblichkeit und Männlichkeit verwiesen. Auf theoretischer Ebene lässt u. a. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums einige Parallelen zur Mimesistheorie des Theaters zu (Röttger 1998),
Gender Switching, Cross Dressing
Gender Performance
Wissenschaftliche Methoden
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II. Forschungsbericht
Gender- und Alteritätsforschung
so dass die Figuren auf der Bühne als Projektionsflächen des Zuschauer-Ichs dienen können. Dies ist ein guter theoretischer Ausgangspunkt für feministische Untersuchungen im Theater- und Performancebereich (Reinelt 1992: 386; Mulvey 1975; Diamond 1992; Case 1988). So sind die subversiven, Machtstrukturen unterlaufenden performativen Akte von Relevanz, die vom spielerischen Herangehen an Geschlechterrollen über die Maskerade, die Travestie, die Parodie bis zum Cross Dressing reichen. Besonders wichtige Einflüsse der geschlechtsspezifischen Forschung in der Theaterwissenschaft kommen aus den angelsächsischen Theatre- oder Performance Studies, welche die politische, gesellschafts- und kulturkritische Performance in den Vordergrund rücken (Phelan 1988; Senelick 1991). Zu nennen wären u. a. die Feministische und die Queer Performance sowie das postdramatische Theater. Bekannte Namen wie Laurie Anderson, Matthew Barney, Karen Finley, Holly Hughes, Orlan, Cindy Sherman, Yoko Ono oder Carole Schneemann stehen für subjektive Performanz. Meist stellen diese Performances über die korporale Inszenierung die scheinbar authentische Korporalität eines Geschlechts, einer Ethnie oder Rasse, eines Rangs, Alters, einer Krankheit oder einer sonstigen kodifizierten Zugehörigkeit in Frage (Goldberg 1988). Eine spezielle Form sind die Gender Performances des Drag und der Butch-Femme-Inszenierung (Schrödl 2005, 126). Dabei ergeben sich Überschneidungen zwischen der Theaterwissenschaft und den Queer Studies. Als Begriff wurde queer von Teresa de Laurentis (1987) geprägt, um in der Ablösung der Begriffe gay oder lesbian eine neue Richtung zu formulieren, welche die mit den alten Begriffen verbundenen Vorurteile vermeidet. Das Untersuchungsgebiet der Queer Studies sind die Praktiken innerhalb des nicht-heterosexuellen Bereichs, sie müssen sich folglich nicht unmittelbar mit der Sexualität auseinandersetzen. In Frage gestellt wird die Grundlage der konventionellen politischen, ökonomischen, letztlich ideologischen Ordnung, in der sich die Frau immer in Relation zum Mann definiert. Hier ergeben sich erstaunliche Ähnlichkeiten zur Alteritätsforschung, die davon ausgeht, dass Fremdheit eine relationale Beziehung ist und das Fremde als Konstruktion in Abhängigkeit von der Konstruktion des Eigenen wahrgenommen wird.
III. Theaterästhetik und -theorie 1. Dramaturgie und Regie: Stationen der Umsetzung vom Text zur Inszenierung Spielplan, Vorarbeiten und erste Entscheidungen Eine genauere Betrachtung des künstlerischen Produktionsprozesses im Theater ist aufschlussreich für eine adäquate Verortung und Bewertung des umstrittenen Verhältnisses von dramatischem und theatralem Text. Trotz einiger Legitimationsprobleme vor allem im Theater des 20. Jahrhunderts ist der dramatische Text weiterhin der imaginäre Ausgangspunkt jeder Inszenierung als Produktionsprozess. Innerhalb eines Sets an Theatermitteln wird sich der Text zwar ,nur‘ als ein konstituierendes Element, wenn auch als ein herausgehobenes unter vielen erweisen. Dennoch ist er in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sogar in der Blütezeit des Regietheaters noch der Maßstab, an dem sich die Aufführung misst, im Positiven wie im Negativen. Wenn man der Kulturkritik folgt, dann sind die Regie und die Schauspieler fast allein verantwortlich für das am Premierentag auf der Bühne zu sehende Ergebnis einer längeren Zusammenarbeit in einem arbeitsteiligen Prozess, wie ihn das Theater darstellt. Und aus der Sicht eines erfahrenen Regisseurs wie Peter Zadek gilt, dass der Regisseur vor allem bei Pannen „für alle verantwortlich“ ist (Zadek 2003, 46). In Wahrheit ist die Inszenierung jedoch eine „kreative Teamarbeit“ (Erken 2003, 203). Sie zu beschreiben, ist äußerst schwierig. Schon allein alle mehr oder weniger beteiligten Personen und ihre Funktion im großen Theaterapparat zu nennen, würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Die bekannten Namen und beachteten Künstler sind, wenn man den Produktionsprozess Theater als Ganzes betrachtet, eigentlich nichts als die sichtbare ,Spitze des Eisbergs‘. Nur um einen groben Eindruck zu gewinnen, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ein Staatstheater wie das Münchner Residenztheater etwa 325 Festangestellte hat. Davon arbeiten 27%, also 88 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im ,künstlerischen‘ Bereich, von denen vielleicht 20 ,Kreative‘ an einer bestimmten Inszenierung direkt beteiligt sind. Doch die Abgrenzung zwischen direkt und ferner Beteiligten ist ebenfalls problematisch, denn auch ein Beleuchter ist zum Beispiel für eine Aufführung essentiell wichtig, und wo bliebe das Kostüm ohne Schneiderin und was wäre ein Theaterabend ohne Garderobenkräfte etc. Der Produktionsprozess Theater ist in seinem Ablauf nicht strikt festgelegt. Dennoch hat sich an den professionellen deutschen Bühnen ein gewisser Konsens darüber eingestellt, wie die gesamte Produktion ungefähr abzulaufen hat. Innerhalb eines Hauses ist eine künftige Inszenierung nicht frei wählbar, sondern muss immer als Teil eines Gesamtspielplans und im Rahmen begrenzter Produktionsmittel ,passend‘ sein. Eine frühe Orientierung für eine zukünftige Inszenierung gibt der kommende Spielplan, der für die jeweils
Vom dramatischen Text zur Aufführung
Inszenierung als kollektive Arbeit
Erstellung des Spielplans
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III. Theaterästhetik und -theorie
Profil des Spielplans
anstehende Spielzeit zwischen April und Mai der Öffentlichkeit, also vor allem der interessierten Presse bekanntgegeben wird. Allein der Erstellung dieses Spielplans geht viel Arbeit voraus: Schon das ganze Jahr über wird er im Dauergespräch zwischen Intendanz, Dramaturgie und den am Haus ansässigen Regisseuren, aber auch Gastregisseuren, prominenten Schauspielern und den Theaterverlagen zusammengestellt. Das Prozedere wird möglichst vertraulich gehalten, nur das zuständige Kulturreferat oder -ministerium wird informiert. Dies ist wichtig, um einerseits die interessegeleiteten Schauspieler von Unmutsäußerungen abzuhalten und andererseits gegenüber der Presse eine gewisse Spannung aufrecht zu erhalten und eine gleiche Behandlung aller Journalisten zu gewährleisten. Die erste papierene Form des Spielplans, die in die Öffentlichkeit geht, ist die Information für die Abonnenten. Sie enthält in etwa acht geplante Inszenierungen für das Haupthaus, wobei generell unausgesprochen davon ausgegangen wird, dass sich an diesem geplanten Programm etwas ändern wird. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob es so etwas wie ein Spielplan-Profil gibt, geben kann, bzw. ob dies überhaupt wünschenswert wäre. Günther Erken meint, dass dies schon aufgrund der dominierenden Sachzwänge kaum möglich ist, obwohl es von der Kulturkritik immer wieder angemahnt wird (Erken 2003, 204). Die Vielfalt der Einflüsse auf den Spielplan lässt sich nicht systematisieren. Es geht nicht nur um den Stil einer Intendanz, die Tradition eines Hauses, die Erinnerung an vorangegangene Spielpläne und die Einwirkung der Spielpläne konkurrierender Bühnen. Beachtet werden sollte auch die aktuelle Relevanz gewisser alter sowie neuer Stücke und ,modischer‘ Themen. Nicht zu vergessen sind die technischen und personalen Möglichkeiten eines Hauses wie die Kosten der Produktion, die Kapazitäten des hauseigenen Ensembles oder die Verfügbarkeit von Gastregisseuren. Meist muss man die verschiedensten Vorstellungen aller Beteiligten unter einen Hut bringen. Dazu gehören unterschiedliche Meinungen zu den Theatertexten, das diplomatische Austarieren von Schauspielerpersönlichkeiten und die Rücksicht auf die gesellschaftspolitische Vorstellung der das Haus subventionierenden Kommune. Vor diesem Hintergrund ist für Erken die Wahl des Stückes ein „Motivationsmix“, der sich vor allem anhand von vier Kriterien bestimmen lässt: 1. das literarische Interesse am Stück, die Überzeugung von seiner Qualität. – 2. das dringliche oder zumindest aktuelle Thema. – 3. die Dankbarkeit des Stücks, seine Erfolgsaussichten. – 4. die Machbarkeit: Sind die Hauptrollen aus dem eigenen Ensemble besetzbar? Ist die Produktion finanzierbar? Ist sie zeitlich disponierbar, d. h. welches sind die Parallelproduktionen, ist ein Großprojekt darunter, ist die Probenbühne frei, steht die Bühne in der Endphase ausreichend zur Verfügung, welche Rahmenbedingungen, etwa im Abonnement, gibt es sonst noch?
Inszenierungen machen den Spielplan
Letztlich geht es darum, ob es bei der Premiere zum erwünschten ,Event‘ werden kann (Erken 2003, 205). Wenn man das Bisherige, insbesondere das Prozedere der Erstellung eines Spielplans, noch einmal kurz Revue passieren lässt, wird deutlich, dass sich der Spielplan nicht wirklich aus Theaterstücken im engeren Sinne
1. Dramaturgie und Regie: Stationen der Umsetzung vom Text zur Inszenierung
zusammensetzt, sondern aus Inszenierungen, die vor allem das Publikum bzw. dessen Reaktionen mit einschließen. Auch wenn es durchaus erlaubt ist und auch hin und wieder so gemacht wird, am Anfang einer Spielzeit mit einem Konzept aufzuwarten, ist das ,qualitative‘ Profil eines Spielplans keineswegs einfach aus den „angekündigten Dramen hochzurechnen, und es ist auch höchstens im Nachhinein zu beurteilen, wenn sichtbar geworden ist, was das Theater mit und aus den einzelnen Vorgaben gemacht hat, wenn er also kein Spielplan mehr ist“ (Erken 2003, 205). Mit der Erstellung des Spielplans hat die Vorbereitung der Inszenierung bzw. die Inszenierung als schöpferischer Akt eigentlich schon begonnen. Dieser Prozess wird im transitorischen Medium Theater nicht an ein definitives Ende gelangen, bis die Aufführung das letzt Mal über die Bühne gegangen ist. Vielleicht sogar erst dann, wenn nach Abspielen des Stücks die letzten erinnernden Texte in den Theatergeschichten verfasst wurden (Englhart 2004). Die theoretische Vorarbeit der Inszenierung leisten in erster Linie der Dramaturg und, gleich danach, der Regisseur. Natürlich lesen beide das Theaterstück, versuchen es zu analysieren, wobei, wie Erken betont, aus der Literaturwissenschaft und insbesondere der Germanistik gerne auf Edition und Textkritik, die Quellenforschung und die Biographik zurückgegriffen wird, während die Theaterwissenschaft die entsprechende Rezeptions- und Inszenierungsgeschichte beisteuert. Für das Programmheft und damit für die nach außen getragene theoretische Kontextualisierung greift der Dramaturg heute weniger auf die Wissenschaft, sondern mehr auf die inspirierte Essayistik der zeitgenössischen, gerne auch modischen Philosophie und der anspruchsvolleren Kulturkritik zurück (Erken 2003, 208). Auf der praktischen Seite nimmt die Vorarbeit vor allem in der Besetzung der Rollen Gestalt an. Viele Regisseure sind wie Peter Zadek der Ansicht, dass die Besetzung schon über die Hälfte der Inszenierung ausmacht. So sind sie neben den Schauspielern diesbezüglich selbst sehr an der Durchsetzung ihrer Wünsche interessiert, werden darin aber durch die konkreten Möglichkeiten (Verfügbarkeit an Ensembleschauspielern, Rücksichtnahmen etc.) eingeschränkt. Des Weiteren wird in dieser frühen Zeit bereits über die Ausstattung entschieden: Der Bühnenbildner macht seine Vorschläge, die mit dem Regisseur diskutiert werden, denn die Werkstätten müssen bereits vor den Proben anfangen, damit sie eine Woche vor der Premiere fertig sind. Aus der Absprache zwischen Bühnenbildner und Regisseur gehen Entwürfe, Skizzen und ein vom Bühnenbildassistenten gefertigtes Modell im Maßstab 1:25 hervor. Dem folgt die Bauprobe, also die erste ,reale‘ Projektion des Modells auf die Bühne, was Anlass zur Kalkulation der räumlichen, visuellen, technischen und ökonomischen Möglichkeiten gibt. Mit der Bauprobe beginnt der eigentliche, kaum mehr zu stoppende Produktionsprozess. Wenn sie zu einem befriedigenden Ergebnis führt, werden die Detailzeichnungen erstellt und die Werkstättenarbeit beginnt. Die praktische Vorarbeit des Dramaturgen gilt vor allem dem dramatischen Text. Insbesondere das Streichen ist seine Aufgabe. Dieses kann man als „mediale Redaktion“ bezeichnen, als „erste Öffnung des Textes für das Theater“ (Erken 2003, 210 f.). Das Streichen nimmt dem dramatischen Text
Umfang des Inszenierungsprozesses
Frühe Arbeit der Dramaturgie und Regie
Bühnenbild und Bauprobe
Streichen des Dramaturgen
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III. Theaterästhetik und -theorie
Eingestrichene Fassung und Szenar
Proben als Kern der Inszenierung
Lese- und Stückprobe
dasjenige, was es eventuell als Lesedrama benötigt. Dies betrifft vor allem das aus Sicht der Bühne rhetorisch Redundante bzw. das, was sich durch das Spiel auf der Bühne von selbst erklärt. Gestrichen wird auch im Hinblick auf die Besetzung, die Vorstellung der Regie und die bis zu diesem Zeitpunkt schon festgelegten weiteren Theatermittel wie etwa die Ausstattung. Das bedeutet, dass bereits in der ersten eingestrichenen Fassung der dramatische Text als ein Theatermittel unter anderen zu funktionieren hat. Er hat sich hier und in der Folgezeit innerhalb einer auf die theatrale Inszenierung bezogenen Konstellation pragmatisch anzupassen und als nützlicher Teil des Ganzen zu erweisen. Was bereits bei der Erstellung des Spielplans zu beobachten ist, trifft auch hier zu: Eine Dominanz des dramatischen Textes wird schon aus theaterpraktischen Gründen weitgehend zurückgedrängt. Ebenfalls auf die Bühne und Inszenierung bezogen ist das ,Szenar‘, das, vom Dramaturgen verantwortet, einen Überblick über die Struktur des Stückes bietet und der Verständigung der Beteiligten in der Probe dient, vor allem was Bilder und Auftritte betrifft, die von der üblichen Akt- und Szeneneinteilung abweichen. Die Probenarbeit im engeren Sinn Die Proben bilden dann den eigentlichen, relevanten inneren Kern der Inszenierungsarbeit, auch wenn bis zu ihrem Beginn schon ein Großteil der Arbeit getan ist. Deren Haupteigenschaft ist die Arbeit des Regisseurs mit den Schauspielern. Im Gegensatz zu den früher üblichen autoritären Verhältnissen kann man hier heutzutage fast ein partnerschaftliches Verhältnis erwarten. Vielleicht geht es beim Inszenieren hauptsächlich darum, „eine Atmosphäre zu schaffen, in der andere schöpferisch sein können“ bzw. – was eigentlich ein und dasselbe ist –, „in allen Beteiligten den Wunsch zu wecken, am nächsten Morgen um zehn wieder dazusein“ (Ayckborn 2006, 107). Die Probenarbeit selbst gliedert sich bis zur Premiere in acht Schritte (Kurz 1999, 54): Sie beginnt mit der Leseprobe, dieser folgen die Proben auf der Probebühne, dann auf der Hauptbühne; danach die Proben mit Originaldekoration und Maske, dann das Ganze kombiniert mit der Beleuchtungsprobe. Anschließend wird das ganze Stück im Ablauf geprobt, dem schließt sich die Fotoprobe und dann die oft halböffentliche Generalprobe an. Zum ersten Mal trifft sich das für das Stück vorgesehene Ensemble zur Leseprobe. Diese soll, so Erken, der „gemeinsamen Begegnung mit dem Stück“ dienen. In den Stückproben bis zur Premiere wird es, wenn man es zusammenfassen mag, insgesamt um vier Aufgaben gehen: „1. Textarbeit – 2. Figurenfindung – 3. Umgang mit dem Raum – 4. Spannungsaufbau“ (Erken 2003, 213). Das Stück sollten die Schauspieler natürlich zuvor schon gelesen, aber tunlichst nicht auswendig, sondern nur angelernt haben. Denn die Schauspieler sollten noch offen sein, um physische Handlungen und psychische Vorgänge, die ihnen im Probenprozess begegnen, integrieren zu können. In diesem Probenstadium gilt, dass der Theatertext schon noch als Ausgangspunkt der Inszenierungsarbeit fungiert, dabei wird er jedoch ständig befragt, inwieweit er den Figuren in ihren Dialogen und Monologen in einer konkreten inszenierten Situation genügend ,gibt‘. Um dies jeweils zu überprüfen, wird der individuelle und aktuelle Sprechanlass der
1. Dramaturgie und Regie: Stationen der Umsetzung vom Text zur Inszenierung
Figur gesucht; dabei muss auch eine etwaige Differenz von Text und Subtext festgestellt und gegebenenfalls erarbeitet werden. Für Zadek bedeuten die ersten Wochen einer Inszenierung „beobachten, trainieren, gucken, eine Gruppe herstellen mit der Konzentration“ auf den Regisseur und das Stück. Um von dem, was der Schauspieler macht, zu dem zu kommen, was der Regisseur will, inszeniert Zadek nicht das Stück, wie er es sieht, „sondern eher die Phantasie der Schauspieler“, um sie langsam zu seiner werden zu lassen, während die Kreativität in Bewegung gehalten wird (Zadek 2003, 48). Im ständigen Abgleich von theatraler Figur und Situation wird über die W-Fragen (woher, warum, was, wohin?) und über die Eigenart und Gestimmtheit des Schauspielers das Verhalten der Figur herausgearbeitet. Während dieser Arbeit werden der Bühnenraum und zugleich der imaginierte Raum bespielbar gemacht bzw. in Besitz genommen. Damit wird im besten Falle der Raum zu einer „Gefühlstopographie“, so dass der Raum nach und nach „Erlebnisorte“ erhält (Erken 2003, 217). Diese sollen mit allen anderen Elementen der Inszenierung so zusammenwirken, dass es gelingt, jedes Detail und jeden Augenblick mit Spannung aufzuladen. Letztlich solle es dem Regisseur gelingen, der Szene ihre „Temperatur“ und dem Akt sein „Klima“ (Erken 2003, 218) zu geben, man könnte auch phänomenologisch von „Rhythmus“ oder von „Atmosphäre“ sprechen (Böhme 1995). Diese beim Zuschauer als ,Anmutungen‘ festzustellende Wirkung der Inszenierung ist wohl das eigentliche Ziel der ganzen Produktionsarbeit, aber gerade diese kann nicht vom dramatischen Text aus einer ihm ,impliziten Inszenierung‘ hergeleitet werden. Dieser Akt der am Produktionsprozess Beteiligten ist ebenso kreativ wie unlehrbar und kann letztlich wissenschaftlich nicht erklärt werden. Drei Wochen vor Beginn der Premiere wechselt man von der Probebühne auf die Bühne. Damit ist die zweite Phase der Proben eingeleitet und meist kommt bei den Beteiligten das Gefühl auf, dass man nun bis zur Premiere nicht mehr genügend Zeit hätte. Es geht nun überwiegend nicht um die Einrichtung und Analyse, sondern um die Synthese, das „Stück ist als Bezugsinstanz sukzessive durch die Inszenierung ersetzt worden“ (Erken 2003, 218). Man hat die Intimität der Probenbühne und damit auch die Konzentration auf Einzelheiten und Details verlassen und konzentriert sich mehr auf die Ab- und Durchläufe, auf den Gesamtzusammenhang. Dieser chronologische Überblick spiegelt sich auch im Blick auf die Bühne, denn das Leitungsteam sitzt nun relativ weit weg vom Geschehen, im Zuschauerraum etwa in der 7. Reihe. Das ganze Spiel, von der Gestik über die Mimik bis zum Sprechen, muss nun an die neue Lokalität angepasst werden. Beim Übergang vom Probenraum auf die Bühne hat die Regie darauf gefasst zu sein, dass alles, was man während der Probenwochen erreicht zu haben glaubt, im selben Moment verschwindet, in dem die technische Phase beginnt. Für Zadek ist es das Schwierigste bei Endproben, die „Inszenierung zu erhalten und sie nicht von der Technik zerstören zu lassen“ (Zadek 2003, 52). Alan Ayckborn beobachtet in dieser Phase, dass die Schauspieler „auffallende Manierismen“ entwickeln: „Sie lachen übereinander, über Requisiten und Kostüme. Sie starren die Scheinwerfer an und machen übertriebene Gänge, als suchten sie auf der ganzen Bühne nach Licht. Sie fahren bei ih-
Figurenfindung und Gefühlstopographie
Wechsel auf die Bühne
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III. Theaterästhetik und -theorie
Originalausstattung und erster Durchlauf
Letzte Durchläufe
Organisation und künstlerische Aufsicht in der Aufführungszeit
ren feinsinnigen Toneffekten überrascht zusammen und stellen Fragen zur Dekoration“ etc. Dies sollte der Regisseur möglichst gelassen ignorieren, da es sich von selbst wieder legt (Ayckborn 2006, 170). Nach und nach kommen zum Spiel der Schauspieler auf der Bühne die Technik, die Originalkostüme und -dekorationen hinzu. Das verlangt dann jeweils von allen Beteiligten immer wieder erneute Anpassungen, denn auf einmal sieht wieder alles etwas anders aus, hört sich anders an etc. Etwa zwei Wochen vor der Premiere gibt es den ersten Durchlauf nach der technischen Einrichtung der Originaldekoration, was für die Bühnenkünstler und -techniker nicht nur eine hohe Belastungsprobe darstellt, sondern auch auf beiden Seiten schnell zu Pannen führt. Wenn dann in einem nächsten Schritt noch die Originalkostüme angezogen werden und die Masken und Frisuren zum Einsatz kommen, scheint alles sicher Erprobte nicht mehr zu gelten. Es kommt fast immer Hektik auf, denn es bleiben bestenfalls noch fünf Durchläufe, um die Inszenierung premierenfertig zu machen. Zudem muss die Regie meist Probenzeit opfern, da nun die technische Einrichtung und die Beleuchtungsproben Platz und Zeit benötigen. Die Regie hat dabei für Zuversicht zu sorgen, insbesondere, da immer mehr Außenstehende, die Techniker, der Intendant, die Kostümbilder hinzukommen, nur einen kleinen, sie betreffenden Ausschnitt sehen und selten begeistert sind (Ayckborn 2006, 165). Für Zadek hat der Regisseur in jeder Situation „immer auf seiten der Schauspieler“ zu sein: „Schauspieler werden in den letzten zwei Wochen vor der Premiere immer unsicherer – das ist normal –, und wenn sie in dieser Zeit die Zuversicht verlieren und denken: Der kümmert sich um alles andere, aber nicht um mich, verliert er ihr Vertrauen“ (Zadek 2003, 52). Der Regie bleibt ansonsten oft nur die positive Kritik über die Video-Aufzeichnungen und die schriftlich fixierten Probenbeobachtungen; zugleich bereitet sie mit dem Dramaturgen und dem Öffentlichkeitsarbeiter die zukünftige Rezeption des Stückes vor, die Presse wird informiert und es werden Interviews gegeben. Dabei darf auch das Marketing nach innen, also die Verteidigung des Stückes im eigenen Haus, nicht vernachlässigt werden. Nach der Premiere bleibt dem Regisseur nur noch, gegebenenfalls seine Inszenierung, an der er vielleicht vier bis fünf Monate gearbeitet hat, zu verteidigen. Aber eigentlich ist seine Arbeit nun beendet. Mit der Inszenierung verbunden bleiben nun während der Aufführungszeit vor allem die Requisite und die Beleuchtungsabteilung. So haben die Beleuchter vor jeder Vorstellung bis zu vier Stunden das ,Einleuchten‘ zu besorgen. Für den organisatorisch-technischen Ablauf ist der Inspizient zuständig, während die Regieassistenz die künstlerische Aufsicht übernimmt. Die jeweilige Kassenlage, die den Disponenten, den Intendanten und künstlerischen Betriebsdirektor interessiert, und etwaige Wünsche der Schauspieler bezüglich der möglichst besseren Ansetzung des Stücks zu diesem oder jenem ihnen günstig erscheinenden Zeitpunkt (etwa eher samstags als wochentags) wirken auf den Monatsspielplan ein. Gegebenenfalls kümmert sich die Dramaturgie um die Rezeption und die Dokumentation in der Presse und in den Theaterzeitschriften. Am längsten tragen die Schauspieler das Stück, das für sie bis zuletzt an jedem Abend die größtmögliche Herausforderung darstellt. Dennoch bleibt am Ende nicht aus,
2. Einfühlung und Distanz: Schauspieltheorien von Diderot bis heute
dass das transitorische Kunstwerk einer theatralen Inszenierung irgendwann verschwindet. Es ,überleben‘ nur Rezeptionszeugnisse als indirekte und damit eher melancholisch stimmende ,Überreste‘, oft bleiben Videoaufzeichnungen fürs Theater, zuweilen auch Mitschnitte des Fernsehens. Und es bleibt der dramatische Text, aus dem bzw. von dem ausgehend bei Gelegenheit wieder eine Inszenierung entstehen mag, diesmal aber wieder garantiert eine andere.
2. Einfühlung und Distanz: Schauspieltheorien von Diderot bis heute Natürliche Schauspielkunst zwischen Einfühlung und Distanz im 18. Jahrhundert Das Verhältnis des dramatischen Textes zum Spiel des Schauspielers auf der Bühne war immer schon ein spannungsgeladenes. Auch wenn das Herz des Zuschauers an der literarischen Vorlage hängt, wird er im Theater meist nicht umhin können, den Schauspieler als Vermittler der im Text angelegten Rollenfigur in einer dramatischen Situation nicht nur zu akzeptieren, sondern aufgrund seiner Kunstfertigkeit schätzen zu lernen. Damit rückt der Schauspieler auf der Bühne in jedem Fall in eine zentrale Position, hat er doch die wichtige Aufgabe, ein höchst abstraktes Gebilde, nämlich die literarisch gebundene Figur, zu theatralem Leben zu erwecken. Theaterhistorisch gesehen ist das wohl in allen Inszenierungen der Fall; Unterschiede ergeben sich in der Frage nach dem Wie und dem Wozu. Glaubhaft sollte die Darstellung auf jeden Fall sein. Was solchermaßen empfunden wird, hängt jedoch vom jeweiligen kulturellen Kontext ab. So ist innerhalb des festgelegten Codes ein Schauspiel des japanischen No-Theaters für den Zuschauer genauso glaubwürdig wie eine naturalistische Aufführung des StanislawskijTheaters. Die Leistung des Schauspielers ist in diesem Sinne generell als Kunst zu begreifen und wird damit gegebenenfalls zum Objekt ästhetischer Reflexionen. Im Vergleich zum dramatischen Text eignet der Kunst des Schauspielers das Problem, dass das Theater im Gegensatz zur Literatur ein flüchtiges Medium ist. Die Theaterwissenschaft hat es somit schwerer, mit ihrem Objekt umzugehen als die Literaturwissenschaft oder die Kunstgeschichte (vgl. Herrmann 1962). Letztendlich ist eine Archivierung der Schauspielertätigkeit unmöglich, denn die sie ,fixierenden‘ Medien wie Kupferstiche, Rezensionen, die Fotografie, aber auch der Film und heute das Video sind keineswegs in der Lage, das Artefakt der Schauspielkunst selbst zu ersetzen. Dies trifft um so mehr zu, wenn die Erwartung des Zuschauers an den Schauspieler besteht, nicht nur glaubwürdig zu sein, sondern zudem auch die reale Erfahrungswelt abzubilden bzw. ihr so nah als möglich zu kommen. Eine solche Einstellung war in der Geschichte des Theaters nicht immer ,normal‘. Das, was wir heute eine ,natürliche‘ Schauspielkunst nennen, wurde erst im 18. Jahrhundert ,erfunden‘, und es ist kein Zufall, dass es gerade in dieser Zeit der sich herausbildenden bürgerlichen Ästhetik zu einem Aufschwung an Schauspieltheorien kam.
Rolle, Figur und Schauspieler
Transitorik des Mediums
Natürliche Schauspielkunst
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III. Theaterästhetik und -theorie Neues Menschenbild und äußere Zeichen
Wirkung des bürgerlichen Theaters
Psychologische Einfügung in eine dramatische Situation
Codierte Affekte im barocken Schauspiel
Dies hatte vor allem zwei Gründe: Erstens änderte sich grundlegend die Vorstellung von der ,Natur‘, aus bürgerlicher Sicht war diese nicht mehr Ausdruck einer höheren Vernunft und vornehmerer Sitten, sondern bekam vor dem Hintergrund der Höherbewertung der menschlichen Sinne, insbesondere des Auges, einen empirischen Zug. Für das bürgerliche Theater war eine zu große Differenz zwischen alltäglicher Erfahrung und der inszenierten Bühnenwelt immer weniger zu akzeptieren. Zweitens änderte sich das Menschenbild insofern, als es zunehmend wichtiger wurde zu erfahren, wer der Andere von seinem inneren Charakter und Gefühlsleben her wirklich ist. Gesucht wurde vermehrt nach äußerlichen Zeichen des menschlichen Innenlebens, die auch aufgrund der Aufweichung der ständischen Ordnung und der damit zunehmenden gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit eine immer größere Aufmerksamkeit erfuhren. Der Schauspieler wurde im bürgerlichen Medium Theater, das nun ein weitgehend unverfälschtes Abbild der Natur zu vermitteln hatte, zum Prüfstein jeder Glaubwürdigkeitsüberprüfung, die nicht nur die Grenzlinie zur unehrlich und künstlich anmutenden Erscheinung des Adels zu ziehen hatte, sondern darüber hinaus Ziel des Mitleidens mit einem bürgerlichen Helden wurde, der zu Identifikation einlud. Der Zuschauer war also zufrieden, wenn er das Spiel des Schauspielers als glaubwürdig und die evozierten Emotionen als ,echt‘ empfand. Aus der Sicht der Schauspieler war diese Erwartung des Zuschauers jedoch nicht so leicht zu befriedigen. Mit dem Übergang im 18. Jahrhundert zu eher literarisierten Formen des Theaters nahm die Forderung an die Schauspieler nach Beschäftigung mit dem dramatischen Text zu. Zuvor noch angewiesen auf improvisatorisches und korporales Geschick, war der Schauspieler nun angehalten, sich in zunehmender Probenzeit in das gegebene Stück einzuarbeiten, das man früher schon aufgrund des nicht vorhandenen Urheberrechts oft als Ganzes nie zu Gesicht bekam. Mit der umfassenden Kenntnis des bürgerlichen Trauerspiels oder des trivialeren, bis ins 19. Jahrhundert erfolgreichen Rührstücks war die psychologische Einbettung in eine dramatische Situation verbunden, der man als Schauspieler zu genügen hatte. Der Schauspieler musste also umlernen. In der Zeit des Klassizismus konnte er sich noch an Regeln halten, die man von der Autorität antiker Kunst herzuleiten glaubte und die zum Teil sehr genau angaben, wie der Schauspieler sich zu verhalten hatte. In enger Anlehnung an die Vorschriften der Rhetorik war im barocken Theater die Frage nach der ,Natürlichkeit‘ des Schauspielers an seiner Oberfläche zu beantworten. Die vom Zuschauer zu deutenden Zeichen waren, insbesondere was die Affekte betrifft, so stark codiert, dass sie als überindividuelle Affekte nicht auf das charakterliche Innenleben der Schauspieler verwiesen. Franciscus Langs Dissertatio de Actione Scenica aus dem Jahre 1727, die wie ein rhetorisches Lehrbuch geschrieben und für den Gebrauch im Jesuitentheater bestimmt war, zeigt beispielhaft, wie die Nachahmung der Natur durch den Schauspieler zu erreichen war: etwa indem man mit der Vorderseite des Körpers stets zum Publikum zu agieren hatte und sich mit allen Teilen des beherrschten Körpers bewusst so verhielt, dass für die Zuschauer jede Haltung relativ eindeutig mit einem bestimmten Affekt verbunden werden konnte, der dann auch
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die einzelne Rollenfigur auszeichnete. Letztlich gehorchte der barocke Schauspieler einem Einfluss von außen, wenn er den codierten Affekt als regelgeleitete Verbindung zwischen sich, seiner Figur und dem Publikum nutzte (Lang 1975). Dies ändert sich entscheidend auf der Bühne der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die wahrnehmbare Gestalt des Menschen schien, was dessen Charakter und Gefühlsleben betraf, transparenter zu werden, ,dahinter‘ glaubte man, den ,natürlichen‘ als den ,wahren‘ Menschen zu finden. Die Aktion der Theaterfigur sollte nicht mehr den Regeln und der Deklamation der Rhetorik, sondern möglichst der eigenen bürgerlichen Lebenswelt entsprechen, wobei das ,natürliche‘ Verhalten des Menschen im Alltag meist nicht eins zu eins, sondern besser als Kondensat des ,wirklichen‘ Lebens in die Inszenierung übernommen werden sollte. Die Glaubwürdigkeit des Schauspielers hing infolgedessen davon ab, inwieweit es ihm möglich war, jeden Abend konzentriert Natürlichkeit so zu spielen, dass die Künstlichkeit des Spiels möglichst unsichtbar blieb. Dem Schauspieler, dem dies wohl als Erster auf hohem Niveau gelang, war David Garrick, der 1741 in London mit seiner Darstellung des Richard III. in die Theatergeschichte einging. Garrick besaß nicht nur eine bis dahin unbekannte Verwandlungsfähigkeit, sondern wurde vor allem in ganz Europa aufgrund seines natürlichen Schauspielstils bekannt, der das Miterleben und -leiden zum Genuss machte. Fast ebenso bekannt wurde in Deutschland Konrad Ekhof, der nicht nur eine eigene Schauspielakademie gründete, sondern auf eine höchst illusionsfördernde Art und Weise individuell und detailgetreu einen Charakter zum Ausdruck bringen konnte, so dass für die Zuschauer kaum eine Differenz zwischen Darsteller und Rolle erkennbar war. Noch ausdrucksstärker und deutlich temperamentvoller agierte Friedrich Ludwig Schröder in seinen Shakespeare-Rollen, es gelang ihm etwa als Lear 1778 so ,wahrhaftig‘ aufzutreten, dass das Mitgefühl der Zuschauer aufs Äußerste erregt wurde und diese ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnten. Was man bei Garrick, Ekhof und Schröder sehen konnte, sollte auch auf theoretischer Ebene geklärt werden, so dass die Schauspieltheorien des 18. Jahrhunderts den Grundstein für die bis heute anhaltende Diskussion über die richtige Methode legten, dem Zuschauer in der Schauspielkunst die vollkommenste Täuschung zu bieten. Am Anfang der kontroversen Auseinandersetzung gab Rémond de SainteAlbine in seinem 1747 erschienenen Werk Le Comédien die Richtung vor. Er verstand das Spiel des Schauspielers vor dem Hintergrund bürgerlichemanzipatorischer Tendenzen als Kunst, die unabhängig von Stand und Nationalität die ,natürliche‘ Sprache des Menschen zum Ausdruck brachte. Der Ausgangspunkt des Ausdrucks sollte das natürliche Gefühl sein, das gegen jede Willkür der Verstellung das menschliche Innere nach außen trug. Um glaubwürdig agieren zu können, durfte der Schauspieler seine Gefühle also nicht künstlich nachahmen oder regelhaft evozieren, sondern musste sich in diese hinein versetzen. Im Mittelpunkt von Sainte-Albines These steht daher der Akt der Einfühlung des Schauspielers, von seiner Schrift lassen sich alle weiteren ähnlichen Methoden über Konstantin Stanislawskij bis zu Lee Strasbergs Actor Studio herleiten (Sainte-Albine/Lessing 1925).
Von der Rhetorik zum ,wirklichen‘ Leben
Künstlichkeit der Natürlichkeit
Schauspieltheorien
Einfühlung des Schauspielers
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III. Theaterästhetik und -theorie Kritik an der Einfühlung
Paradox des Schauspielens
Ideen, Typik und Regeln des Schauspielens
Die auf den ersten Blick psychologisch wirksam erscheinende Methode der Einfühlung hat jedoch aus der Sicht der Theaterpraxis einen bedeutsamen Nachteil. Um auf der Bühne jeden Abend eine gleichbleibende Leistung zu erzielen, müsste der Schauspieler jedes Mal unabhängig von seiner physischen und psychischen Tagesform rückhaltlos und mit gleicher Intensität – sozusagen auf Knopfdruck – in sich Gefühle produzieren. Das hielt Francesco Riccoboni, der in seinem 1750 erschienenen Traktat L’Art du théâtre auf seine Erfahrungen als Schauspieler verwies, für unmöglich. Er war zwar wie Sainte-Albine der Meinung, dass es im Spiel des Schauspielers um die Erzeugung des Eindrucks höchster Natürlichkeit ging, hielt die rückhaltlose Einfühlung des Schauspielers dafür aber nicht geeignet. Schon die oft in schneller Abfolge zu spielenden Wendungen der Dramenhandlung wären für den Schauspieler emotional kaum zu bewältigen, so dass eine vorbehaltlose Nachahmung des wirklichen Lebens im Sinne einer Selbsttäuschung zu keinem befriedigenden ästhetischen Ergebnis führe. Riccoboni schlug hingegen vor, der Schauspieler solle sich nicht von Gefühlen überwältigen lassen, sondern diese nur vortäuschen. Er solle jederzeit eine innere Distanz zu seinem Spiel einhalten, so dass sich das Gefühlserleben dem Gefühlsausdruck nicht hindernd in den Weg stelle. Gotthold Ephraim Lessing trug diese Diskussion in den deutschsprachigen Raum, indem er Auszüge aus Riccobonis und Sainte-Albines Schriften übersetzte, wobei er Riccobonis distanziertem, bewusstem Ansatz den Vorzug gab (Riccoboni/Lessing 1925). Schon weil die Natur in actu selten vollkommen erschiene, wäre es angebracht, sie zu beobachten und ihre eindrucksvollsten Einzelheiten zu einem Gesamtausdruck zu fügen, der für den Zuschauer die höchstmögliche Annäherung an die menschliche Natur bedeute. In allen seinen Facetten schrieb Denis Diderot in seinem Traktat Paradoxe sur le Comédien über die Auseinandersetzung, indem er in dialogischer Form die gegnerischen Positionen als Figuren auftreten lässt. Diderots Abhandlung, die Riccobonis These sogar noch radikalisierte, wurde auch deshalb so bekannt, weil sie das Paradoxon zur Sprache bringt, welches das schauspielerische Handeln nach sich zieht: Um in den Augen des Zuschauers den Ausdruck der Einfühlung zu erzielen, muss der Schauspieler dezidiert eine innere Distanz aufbauen (Diderot 1958). Damit kommt über die Hintertür der Professionalität aber wieder die Täuschung ins Spiel, die in der bürgerlichen Ästhetik eigentlich weitgehend reduziert werden sollte. Das Paradox des Schauspielens verweist jedoch zugleich auf die später von Plessner so bezeichnete anthropologische Distanz des Menschen zu sich selbst (Plessner 1953). Somit ist mit Diderot neben der Erörterung der Bühnenkunst auch die Theatralität des sozialen Handelns insgesamt angesprochen. Diderots Suche nach der angemessenen Darstellung der ,menschlichen Natur‘ führte ihn in distanzierter Haltung zu einer gewissen Typik, deren Tendenzen zur Abstraktion man noch um die Wende zum 19. Jahrhundert in Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik findet (Engel 1804). Hier orientierte sich ein Schauspieltheoretiker an den wissenschaftlichen Versuchen der Zeit, Natur als Erscheinung in eine brauchbare Taxonomie zu überführen, für die Carl von Linnés einflussreiches System der Natur Pate stand. So sollen mittels der Kunst des Schauspielers die Seelenregungen der in der
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dramatischen Situation steckenden Figur ausgedrückt werden, wobei diese Seelenregungen als der motivierende Faktor erscheinen sollen, der über das Handeln und den Dialog der Personen die Handlung vorantreibt. Dabei ist vor allem wichtig, dass es nicht um die Einfühlung des Schauspielers geht, sondern um das Typische, das dem Wesen des jeweiligen inneren Erlebens im Gefühlsausdruck eigen ist. In diesem Zusammenhang wären auch Goethes ,Grammatik‘ der Schauspielkunst zu nennen. Seine „Regeln für Schauspieler“ verleugnen ihre Nähe zu Bewegungsfiguren des Tanzes nicht, sind jedoch eine elitäre Ausnahmeerscheinung (Goethe 1998; Wiens 2000). Schauspielstile der Moderne zwischen Naturalismus und Avantgarde Auf den Bühnen des 19. Jahrhunderts dominierten in Wirklichkeit nicht nur populäre Dramen wie die August von Kotzebues und Charlotte Birch-Pfeiffers, sondern auch ein entsprechender Schauspielstil, der sich am größtmöglichen Erfolg orientierte. August Willhelm Iffland, ebenfalls Erfolgsdramatiker und einflussreicher Leiter des Berliner Königlichen Nationaltheaters um die Jahrhundertwende, plädierte bereits 1785 in seinen Fragmenten zur Menschendarstellung und 1807 in seinen Fragmenten über einige wesentliche Erfordernisse für den darstellenden Künstler auf der Bühne für eine Stil prägende ,Natürlichkeit‘ (Iffland 1990). Das zeitgenössische Rühr- und Konversationsstück forderte vom Schauspieler geradezu die strenge Orientierung an der bürgerlichen Lebenswelt, so dass in der Theaterpraxis trotz aller idealistischen Ästhetiken wohl eher eine gewisse Einfühlung in die Rolle dominierte. Darüber hinaus tendierte das massentaugliche Vorstadttheater des 19. Jahrhunderts trotz aller bürgerlichen Forderungen nach Literarisierung zu einer Ästhetik der Attraktionen, die das Spiel der Schauspieler oft ins Artistische und Groteske forcierte. Wenn Friedrich Theodor Vischer, einer der führenden idealistischen Ästhetiker der Zeit, einen der erfolgreichsten Theaterautoren und Schauspieler, nämlich Johann Nestroy, stark ermahnen musste, in seinem Spiel nicht als „lebender Phallus“ zu erscheinen, dann verweist dies auf die weithin unterschätzte prä-avantgardistische Ästhetik, die den natürlichen Schauspielstil unterlief (Vischer 1861, 63). Schon aus Zensurgründen wurde im Vorstadttheater improvisatorisch und korporal gegen den harmlosen Text agiert, so dass Heinrich Theodor Rötschers in seiner „Kunst der dramatischen Darstellung“ um die Jahrhundertmitte aufgestellte Forderung, der Schauspieler solle der Vollender dessen sein, was der dramatische Text vorgebe, ein Ideal formulierte, das keineswegs immer der herrschenden Theaterpraxis entsprach (Rötscher 1919). Es waren daher schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die beiden dominierenden Entwicklungslinien festgelegt, die dann ins 20. Jahrhundert führten: zum einen über den Naturalismus und dessen größten Schauspieltheoretiker Stanislawskij die Kunst der weitest gehenden Einfühlung. Diese vertrat er übrigens nur in seinen früheren Schriften, wurde so zum Vorbild und Spiritus Rector fast aller weiter entwickelten Theorien der Einfühlung (Stanislawskij 1996). Die bekanntesten waren die Methoden seiner Schüler Michael Tschechow und Lee Strasberg, des Gründers des berühmten New Yorker Actor Studios, an dem u. a. Marlon Brando, Marylin Monroe und Al Pacino lernten (Cechov 1998; Strasberg 1988; Tabori 1993).
Einfühlung im Rührstück
Artistik und Groteske im Vorstadttheater
Stanislawskij, Tschechow und Strasberg
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III. Theaterästhetik und -theorie Biomechanik und Übermarionette
Brecht’scher Gestus
Zwischen Acting und Non-Acting
Die zweite Entwicklungslinie bildeten die distanzierenden Schauspielästhetiken der Avantgarde, die mit dem Rückgriff auf Attraktionen der populären Kultur, der Commedia dell’arte, der Revue und des Zirkus die Artistik und die Beherrschung des Körpers betonten. Hierzu wären zu zählen: Wsewolod Meyerholds an den Theorien der normierten Arbeitswelt, dem Taylorismus, und an Charlie Chaplins komischem Spiel orientierte Biomechanik (Meyerhold 1974); Edward Gordon Craigs Modell der Übermarionette, die Ideen aus Heinrich von Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“ weiterdachte und die Grazie der ,unbewussten‘ Marionette als Ideal vorstellte (Craig 1969; Kleist 1984); performative Aktionen der ,Nicht-mehr-Dramatik‘ des Futurismus, des Bauhaustheaters, des Dadaismus und Surrealismus (Goldberg 1989). Alle diese avantgardistischen Schauspielästhetiken wären auf der Seite der Gegner eines bürgerlichen, die Abbildung der individuellen Psychologie vermeidenden Theaters zu finden. Im 20. Jahrhundert schienen Schauspieltheorien, welche die Einfühlung in den Mittelpunkt stellen, mit dem Glauben an eine selbstbewusste Individualität einherzugehen. Auf der anderen Seite wuchs die bereits von Diderot als anthropologische Konstante empfohlene Distanz zu sich selbst zur reflektierten Entfremdung des in unergründlichen psychischen Einflüssen und anonymen gesellschaftlichen Strukturen verstrickten Individuums. So wurde in Bert Brechts Theaterästhetik, welche die bürgerliche Einfühlung und die Identifikation mit dem Bühnengeschehen zu minimieren suchte, die Distanz des Schauspielers zu seiner Rolle besonders betont. Im Gestus sollten wie in einer experimentellen Versuchsanordnung die sozialen Verhältnisse sichtbar gemacht und als veränderbare begriffen werden (Brecht 1963). Ob dies in der Theaterpraxis durchgehalten werden kann, mag bezweifelt werden, zumal selbst Schauspieler, die mit Brecht gearbeitet haben, immer wieder vom Theaterpraktiker Brecht berichten, der sich über den Theoretiker Brecht gerne hinwegsetzte (vgl. Lutz 2002). Da heute die ästhetische Grenze zwischen dem theatralen ,Als ob‘ und der Theatralität des sozialen Handelns insbesondere in performativen Formen des Theaters in Frage gestellt wird, scheint die alte Kontroverse über Distanz und Einfühlung in eine Diskussion über das Schauspielen an sich überführt worden zu sein. Es geht also nicht mehr um die polarisierende Frage, ob nun auf der Bühne oder im Alltag eindeutig gespielt werde oder nicht, sondern um den ,grauen‘ Bereich zwischen den Polen: Michael Kirby hat dazu eine Fünferskala zwischen den Polen Acting und Non-Acting vorgeschlagen (Kirby 1987). Damit wird die Frage nach der Täuschung und nach dem Charakter des Anderen, die den ständigen Hintergrund der wichtigsten Schauspieltheorien zwischen Einfühlung und Distanz bildete, noch einmal besonders hervorgehoben. Der Verdacht, der Andere könnte sich verstellen, kann in einer Zeit, die per se Probleme mit ihrem Bezug zur Realität zu haben scheint, in das Vergnügen an den darstellenden Künsten umschlagen. Inwieweit dem Zuschauer dabei bewusst sein muss, dass Theater gespielt wird, ob es also unethisch ist, die Grenzen zwischen theatraler Darstellung und öffentlichem Auftreten etwa in der Politik zu verwischen, wird diskutiert (Lazarowicz 1997).
3. Theaterraum und Szenografie
3. Theaterraum und Szenografie Zwischen physikalischer und wahrnehmungstheoretischer Bestimmung Die elementare Grundbedingung von Theater ist die gleichzeitige Anwesenheit von Zuschauern und Akteuren an ein und demselben Ort. Der diesbezügliche theatrale Raumbegriff ist ambivalent: Zum einen bezeichnet er einen fest umrissenen physikalischen Raum mit bestimmten geographischen, topographischen und architekturalen Strukturen. Dazu zählen Theaterbauten im engeren Sinne, aber auch alle anderen räumlichen Bereiche (Straßen, Plätze, Fabrikhallen, Lokale, U-Bahnstationen usw.), an denen es zu theatralen Darbietungen kommt. Zum anderen konstituieren die an diesen Orten vollzogenen Handlungen jeweils einen dynamischen Erlebnisraum, der durch die stetige Erzeugung und Veränderung von Wahrnehmungsbezügen definiert ist und der die festen Raumkoordinaten überschreitet. Dass Bühnenkunst in genau diesem Sinne Raumkunst ist, hat Max Herrmann bereits zu Beginn der 1930er Jahre einschlägig formuliert:
Physikalischer Raum – Wahrnehmungs- und Erlebnisraum
Dieser Raum ist aber niemals oder doch kaum je identisch mit dem realen Raum, der auf der Bühne existiert […] Der Raum, den das Theater meint, ist vielmehr ein Kunstraum, der erst durch eine mehr oder weniger große innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zustande kommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird. (Herrmann 1931/1998, 271) Damit ist dem Theaterraum neben einer rein funktionalen zugleich eine spezifisch ästhetische Erlebnisdimension zugesprochen, die nicht unabhängig von der semiotischen Zeichenhaftigkeit der im Raum versammelten Momente gedacht werden kann. Letztere verweisen auf den engeren Bereich der Szenografie: im Sinne der auf künstlerischen Überlegungen beruhenden Bereitstellung sämtlicher bildlicher und plastischer Elemente auf der Bühne. Szenografie, die das Bühnenbild wie die Licht- und Kostümgestaltung umfassen kann, wird jedoch, anders als der umgebende Raum, selber nicht zu den konstitutiven Bedingungen von Theaterkunst gezählt (vgl. Balme 2005, 322 ff.; vgl. Leacroft 1985). Die jeweilige Wechselwirkung der genannten räumlichen Aspekte ist theoriegeschichtlich aufs Engste mit den historisch und kulturell variablen Auffassungen von Theater als einer gesellschaftlichen Institution verbunden. Denn die
Szenografie
Raum und Kultur
wohl wichtigste Grundbedingung der Möglichkeit einer räumlich konditionierten Bedeutungszuweisung ist die Existenz kulturbedingter Raumordnungen. Raum ist […] eine der grundlegenden ,symbolischen Formen‘. Wie bei allen Symbolen ist auch Raum in hohem Maße kulturabhängig: Jede Kultur hat ihre eigene Art und Weise, Raum zu organisieren und semantisch zu belegen. (Balme 2008, 151; vgl. Cassirer 1964; vgl. Carlson 1989) Die Aufteilung des gemeinsamen Raums In der griechischen Antike entwickelte sich das Theater als Produkt der Polis-Kultur aus der gemeinschaftlichen Kultfeier heraus und erfuhr als besonderer Veranstaltungsort erstmalig eine dementsprechend topographisch-
Antikes Theater
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III. Theaterästhetik und -theorie
Simultanbühne
Räumliche und geistige NeuOrientierung
architekturale Exponierung. Die zunächst viereckige, dann runde Bauform des griechischen Theaters, das als Massentheater konzipiert war, zentrierte sich um die kreisrunde Orchestra, den Auftrittsort des Tragödienchors. An der offenen Seite der Gesamtfläche, die etwa deren Viertel beanspruchte, befand sich eine flache Bühne mit dem Bühnenhaus (skene). Drei Viertel der baulichen Fläche nahm das theatron, der Zuschauerraum mit seinen regelmäßig angeordneten ansteigenden Sitzreihen ein. Diese Form, die erst in römischer Zeit durch die pompöse Ausgestaltung der Bühnenrückwände (scenae frons) und eine auch baulich hierarchisierte Sitzgliederung variiert wurde, machte es den Zuschauern möglich, sich gegenseitig als Individuen und darüber hinaus als versammelte Gemeinschaft wahrzunehmen. Sie erfüllte eine integrative Funktion im Hinblick auf eine sich in der griechischen Antike erstmals konstituierende städtische Öffentlichkeit. So kam es auch erstmalig zur Bildung eines Überschneidungsfeldes zwischen der Praxis des Dichtens mit der räumlichen Darstellungspraxis des Theaters (vgl. Lehmann 1991), die dem Sprechen und dem Darstellen von mythologischen Gehalten vor einem am selben Ort versammelten Publikum ein besonderes Maß an öffentlicher Wirksamkeit sicherte. Die vorherrschende Raumform des europäischen Mittelalters war die Simultanbühne. Auf provisorisch verfertigten Holzpodesten waren sämtliche Handlungsschauplätze (Welt, Himmel, Hölle) gleichzeitig nebeneinander angeordnet. Bei den Passionsspielen im deutschsprachigen Raum waren die Spielorte (loci) über den gesamten Marktplatz verteilt. In England gruppierten sich die sogenannten Wagenbühnen (pageants) kreisrund um die Zuschauer. Solche Bühnenformen mobilisierten den Zuschauer also auch körperlich, indem sie ihn im Verlauf des Spiels von Podest zu Podest wandern ließen. Diese reale Bewegung im umgebenden öffentlichen Raum sowie die stete Neuordnung des Verhältnisses von Szene und Wahrnehmung waren ein wesentlicher Teil der sinnlichen Dynamik des Spiels (vgl. Roselt 2005b, 261). Das grundlegende Spezifikum sowohl der antiken Darbietungen, die sich unter freiem Himmel über den Verlauf eines ganzen Tages erstreckten, als auch des auf öffentlichen Plätzen gespielten Theaters des Mittelalters war das eines zwischen Bühne, Akteuren und Zuschauern „geteilten Raums, der geteilten Zeit und der geteilten Sprache“ (Müller-Schöll, 2005, 144). Diese raumästhetischen und raumsozialen Strukturen wurden in der Renaissance im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der antiken Dramentheorie und der Konstituierung einer geregelten Gattungspoetik entscheidend verändert. In Auseinandersetzung mit den Zehn Büchern über die Architektur (De architectura libri decem, 1486) des römischen Architekten Vitruv (ca. 30 v. Chr.), wurden drei theatrale Standarddekorationen (Palastarchitektur für die tragische Szene, Straßenbild für die komische Szene und Waldlandschaft für die Schäferspiel-Szene) verbindlich festgeschrieben. Sowohl in den Reglements der Gattungspoetik wie in der ihr entsprechenden räumlichen und dekorativen Bühnenordnung schlug das neuzeitliche Bedürfnis nach geistiger (Neu-)Orientierung durch: Das Prinzip der An- und Überschaubarkeit – vor allem in intellektueller Hinsicht – bestimmte fortan das Verhältnis von Theaterraum, Szenografie und Publikum. Dies führte äußerlich zum Prinzip visueller Konzentration, freilich um den Preis einer Di-
3. Theaterraum und Szenografie
vidierung des vormals gemeinsamen Raumes in Form einer räumlichen Distanzierung. Die mittelalterliche Simultananordnung wurde entsprechend durch die sogenannte Sukzessionsbühne verdrängt, die zunehmend in festen Saalbauten errichtet wurde. Die verschiedenen Spielorte wurden nunmehr nacheinander auf ein und derselben Bühne präsentiert, Ortswechsel von Akteuren wie von den Zuschauern nicht mehr konkret vollzogen, sondern durch Aufund Abtritte der Spieler, durch sprachliche Ankündigungen sowie mehr und mehr durch Veränderung der Kulisse angezeigt. Das Publikum erlebte diese Variationen nur noch beobachtend und reflexiv-intellektuell nach, das innere Vorstellungsvermögen des Menschen und der Vorgang des reinen unbeteiligten Blickens wurden eng aufeinander bezogen. Es ging in der Tat um die „lückenlose Konstruktion eines Imaginationsraumes, der seinen Konstruktionscharakter vergessen lässt“ (Müller-Schöll 2005, 144), auf Kosten von Theater als Raum konkreter leiblich-sinnlicher Anteilnahme und gefühlter körperlicher Gemeinschaft. Zwischen Bühne und Publikum wurde – als funktionales Element wie als strukturelle Metapher dieser neuen Anordnung – ein Rahmen eingefügt, das Proszenium (zusammen mit der sogenannten Rampe), das sich durch seitlich verschiebbare Kulissen nach hinten fortsetzte und so den Blick der Zuschauer leitete. Hinzu kam als weiteres Trennungselement der Theatervorhang. All dies bedeutete eine entscheidende Wende zugunsten der Vorherrschaft des rein Visuellen im Theater, welche das Verhältnis von Bühnenund Zuscherraum in Form einer den Blick gleichsam in Beschlag nehmenden Guckkastenbühne bis zum Ende des 19. Jahrhunderts festlegte. In dieser Bühnenform ist nicht nur die Integration der Darsteller in die mimetisch-fiktionale Welt des Bühnengeschehens vorrangig, sondern es ist damit eine entsprechende, ab dem 18. Jahrhundert verstärkte Forderung an das Publikum verbunden, sich imaginativ in diese abgeschlossene Illusion einer Welt hineinzuversetzen (vgl. Balme 2008, 144). Die Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum wurde begleitet und forciert durch die ab der Mitte des 15. Jahrhunderts entwickelte Theorie der Perspektive. Sie fand um 1600 erstmalig Eingang in die Szenengestaltung und wurde im Jahre 1545 durch Sebastiano Serlio in der einflussreichsten Abhandlung über den Theaterbau der Renaissance (Di architettura, 1545) in systematischer Form fixiert. Die Entwürfe sahen dabei jedoch noch keineswegs ein eigenes Theatergebäude, sondern eine in Festsälen oder im Hof installierte Szene vor, deren Bühnenbild aus winkelförmigen und auf zwei Flächen bemalten Kulissen bestand (Winkelrahmen). Eine Aufteilung in eine Hinterbühne, welche als Dekorationsfläche fungierte, und eine als Spielfläche konzipierte Vorderbühne erbrachte eine reliefartige Anordnung, in der die reine Bildwirkung der Bühne prononciert wurde (vgl. Pochat 1990). Ihre erstmalige praktische Umsetzung erfuhren die neuen Vorstellungen in Andrea Palladios Teatro Olimpico in Vicenza (1530). Insgesamt entfaltete sich in der europäischen Renaissance trotz der vorrangig fiktiv-bildlichen Tendenz jedoch ein Verständnis von Theater als einer räumlichen Veranstaltungsform, die gerade in Bezug auf das Verhältnis von Text und Szene einem Paradigmenwechsel gleichkam. Hatte das Mittelalter noch einen sehr weiten und unscharfen Theaterbegriff, der sehr
Sukzessionsbühne
Proszenium und Guckkasten
Theorie der Perspektive
Raum und Text
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III. Theaterästhetik und -theorie
Dynamisierung des Blicks
Oper und Bühnenmaschinerie
verschiedene Lebensbereiche abzudecken vermochte, so wurde Theater nun als institutionalisierter Ort und als Praxis wahrgenommen, in dem und durch welche eine für die szenische Umsetzung konzipierte Literatur anschaulich präsentiert wurde. Die spezifische Raumkonzeption des Dramas, die sich aus der für die Textsorte konstitutiven strukturellen Trennung zwischen Haupt- und Nebentext ergibt, wurde dabei zum ersten Mal durch die Institutionalisierung des Theaters als räumliche Veranstaltungsform auf den Prüfstand gestellt. Entwirft der Nebentext der szenischen Anweisungen intentional den Schauplatz und seine gegenständliche Ausstrahlung, so konstituiert er zugleich einen geometrisch begrenzten Raum als Aktionsfeld für die Figuren und ihre Äußerungen. Zum einen musste diesem Textsortenspezifikum fortan in wesentlich verstärkter Weise Rechnung getragen werden, zum anderen aber der Tatsache, dass die ,Lektüre des Raumes‘ ganz anderen wahrnehmungsspezifischen Bedingungen unterworfen ist als die Lektüre eines geschriebenen Textes. Die Bezugnahme auf den Theaterzuschauer, die spezifische Art seiner Ansprache und seiner Stimulation, war das wesentliche Kriterium, das aus der Wieder-Entdeckung von Theater nachhaltig in die Zukunft wirken sollte. Blieben die Bühnenbilder bis zum Ende des 17. Jahrhunderts streng zentralperspektivisch gehalten, so führte der Bühnenmaler und Architekt Ferdinando Galli-Bibiena sowohl praktisch als auch theoretisch (Architettura civile, 1711) die Winkelrahmenbühne ein, die durch die sogenannte Periaktenbühne des Giacomo Barozzi da Vignola nochmals technisch raffiniert wurde. Die bis dato streng mathematisch-symmetrische Tiefenperspektive, deren visueller Fluchtpunkt in einem am Ende der Bühnenmitte gedachten Fixpunkt lag, wurde zugunsten einer Verteilung auf verschiedene Blickwinkel modifiziert. Das Bühnengeschehen wie der darauf gerichtete Blick des Zuschauers erfuhren so eine Dynamisierung. Entsprechend des Zusammenhangs von Blick und innerem Vermögen sollte die Streuung und Flexibilisierung von optischen Vektoren zugleich die imaginativen und assoziativen Fähigkeiten des Betrachters über die rein sinnliche Anschauung hinaus stimulieren. Diese Tendenz stand nicht zuletzt, wie die barocke trompe l’oeilMalerei, in Zusammenhang mit der Auffassung von der äußeren ,Welt als Schein‘, die dem Barockzeitalter über nationale und kulturelle Divergenzen hinweg eine gewisse ideengeschichtliche Einheitlichkeit sicherte. Die Entwicklung der Oper zum herrschenden Bühnengenre an den europäischen Höfen antwortete darauf mit der Erfindung ausgeklügelter Bühnenmaschinerien, die blitzartige Verwandlungen und den größtmöglichen spektakulären Effekt garantierten. Einer Initialzündung kam dabei die Entwicklung eines Kulissen-Verwandlungssystems durch Giovanni Battista Aleotti gleich, das im Jahre 1618 im Teatro Farnese in Parma erstmals zum Einsatz kam. Die Bevorzugung der Operngattung darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bühne des Barock vor allem als pikturales Kunstwerk konzipiert war. Das spezielle musikdramatische Genre war der Inbegriff einer die Gesamtheit von Darstellungsmitteln und rezeptiven Vermögen aktivierenden totalen Kunst, die den barocken Theatrum mundi-Gedanken in die Anschaulichkeit der Szene übertrug. Dennoch bedurfte dieses opulente Genre, das in Paris unter dem Bühnenbildner Jean-Nicholas Servandoni schließlich vollkommenste szenografische Autonomie erlangte, zu seiner
3. Theaterraum und Szenografie
Organisation im Sinne höfischer Repräsentation einer ästhetischen Dominante. Die durchweg lenk- und beherrschbare optische Komponente erfüllte diese Forderung – anders als die sich im Raum ungehindert ausbreitende Akustik – passgenau. Mit der Herausbildung des bürgerlichen Theaters ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Theater endgültig institutionalisiert; die entsprechenden Räumlichkeiten verloren ihren baulichen Mehrzweckcharakter und erhielten einen repräsentativen Platz in der städtischen Topographie (vgl. Matthes 1995). Während an den Hoftheatern weiterhin vor allem die Gattung der Oper gepflegt wurde, kamen die wesentlichen Impulse für die Szenengestalt vonseiten eines bürgerlichen Theaters. Dieses wich zwar vom barocken Spektakel in entscheidendem Maße darin ab, dass es so gut wie völlig auf theatralische Effekte verzichtete. Doch auch sein wesentliches Anliegen bestand darin, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Bühne und die dort gebotene Handlung zu fokussieren. Als gemeinsamer Fluchtpunkt dramenpoetischer, schauspieltheoretischer und räumlich-szenografischer Überlegungen fungierte dabei nunmehr die Herstellung einer überzeugenden Illusion im Dienste der Identifikation mit dem Gezeigten durch das Publikum. Das betraf einmal die Ausstattung auf der Szene, zum anderen die Zuordnung von Szene und Saal. Denis Diderot etwa stellte in seinem Discours sur la poésie dramatique (1758) Überlegungen zu einer Vierten Wand an: Die Bühne wäre dementsprechend durch eine transparente imaginäre Mauer vom Publikum geschieden. Der Zuschauer erlebt die Szenen-Handlungen quasi wie ein unentdeckter ,Voyeur‘ mit, was bedeutet: Seine Anwesenheit beeinflusst den Ablauf der dramatischen Aktion nicht; die Schauspieler agieren in diesem Sinne ,natürlich‘, d. h. als ob sie sich der Anwesenheit eines Publikums nicht bewusst wären. Freilich stand diese Idee in unmittelbarem Zusammenhang mit der Literaturfundierung der aufgeklärten Theatertheorie, welche das empfindende und reflektierende Subjekt in den Mittelpunkt seiner Ästhetik rückte. Eine direkte sinnliche Konfrontation des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen im Sinne einer Überwältigung durch seine Effekte war ebenso wenig erwünscht wie eine realkörperliche Gemeinschaftserfahrung innerhalb des Publikums. Die emotionale Wirkung der Aufführung sollte vielmehr einen intellektuellen Prozess stimulieren, der sich im einzelnen Subjekt abspielte. Auf der anderen Seite aber trug die Forderung nach einer Vierten Wand einem Paradox Rechnung, welches mit der optischen Erschließung des Bühnenraums und ihrer Radikalisierung im Barock einherging: Die an ein bewegtes Gemälde erinnernde optische Geschlossenheit des Bildeindrucks der Bühne, die durch die enge Zweiteilung in Bühne und Publikum evoziert wurde, stand im Gegensatz zur leiblichen Dreidimensionalität des Akteurs (vgl. Haß 22005, 282). Löste das barocke Theater diesen Widerspruch durch die Verpflichtung des Akteurs auf kodifizierte Posen und repräsentative Stellungen, die das plastische Raumwesen des Spielers der visuellen Gesamtwirkung als ,Bild‘ integrierbar machte, so erbrachte die Divergenz zwischen der Bildwirkung des Guckkastens und dem dreidimensionalen Illusionsraum bereits für das bürgerliche Theater des 18. Jahrhunderts Schwierigkeiten. Sie schlugen sich am Übergang zum 19. Jahrhundert in vereinzelten Überlegungen zum Bühnenbild als Raumproblem nieder (vgl. Balme 2005,
Illusionsraum und Vierte Wand
Bildwirkung und Dreidimensionalität
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III. Theaterästhetik und -theorie
323), aber erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts sollte es zu entscheidenden Veränderungen im Verhältnis Bühne, Publikum und Szenografie kommen.
Theater als Raumkunst
Bewegung und Plastizität
Musikalische Raumorganisation und Abstraktion
Raumbühne und Szenografie Im Zuge der Theatermoderne um 1900 avancierte Szenografie zu einer eigenständigen Raumkunst. Obwohl mit Christopher Balme davon auszugehen ist, dass der Begriff der Szenografie insofern eine transhistorische Dimension aufweist, als die Erzeugung eines visuellen Gesamteindrucks für szenisches Geschehen immer schon Bestandteil allgemeinerer Überlegungen zur Raumgestalt des Theaters waren, so kann von Szenografie im eigentlichen Sinne erst ab 1900 gesprochen werden (vgl. Balme 2005, 322). Nachdem der Bühnennaturalismus im Ausgang von der Milieutheorie Emile Zolas eine möglichst exakte und ebenso natur- wie detailgetreue Abbildung der Realität auf der Bühne gefordert hatte, setzte mit den symbolistischen und ästhetizistischen Strömungen eine dezidierte Gegenbewegung zum Illusionsprimat des dramatisch-literarischen Theaters ein. Innerhalb der avancierten Literatur entworfene und über sie hinausweisende Konzepte von der Bühne als „Tempel des Traums“ (Maurice Maeterlinck) oder als „Traumbild“ (Hugo von Hofmannsthal) markieren dabei bereits begrifflich eine Affinität zu spezifisch anti- oder über-illusionistischen Vorstellungen von räumlicher Ausstrahlung. Zentral für einen bis heute nachhaltig zu Buche schlagenden Paradigmenwechsel war die Ablösung der Zweidimensionalität der Raumkonzeption durch eine Reflexion auf den ontologischen Status der Theaterkunst. In Auseinandersetzung mit dem Gesamtkunstwerkskonzept Richard Wagners und aus der Kritik an der historistischen Bühnendekoration auf den Bühnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelte der Schweizer Adolphe Appia (La mise en scène du drame wagnérien, 1892; Die Musik und die Inszenierung, 1899) eine Vorstellung vom Wesen des Theaters, welches er durch das Prinzip der Bewegung im Raum definierte. Dem komplementär ging die Einsicht, dass ein vor gemalten Kulissen agierender lebendiger Darsteller unweigerlich zu einer wahrnehmungsästhetischen Störung führen müsse, die den räumlichen Charakter von Theaterkunst konterkariere. Als Folge seiner Entdeckung der Diskrepanz von Bild und Bühne ersetzte Appia die gemalten Kulissen durch plastische Elemente. Deren Dreidimensionalität wurde durch Licht und Schatten analog zu der in der Musik vermittelten Stimmung prononciert, mithin nicht mehr malerisch-illusionistisch, sondern konkret und raumatmosphärisch funktionalisiert. Leitend war hierbei der in Auseinandersetzung mit Wagners Gesamtkunstwerksidee gewonnene Gedanke vom Raum als einer umfassenden, das Gesamt der Mittel harmonisch synthetisierenden Größe. Da Appia – infolge seiner Auseinandersetzung mit dem Wagner’schen Musikdrama – die abstrakte Organisationsweise der Musik zum Vorbild von Theaterkunst bestimmte, verwarf er auch jeglichen natürlichen Handlungsund Bewegungsverlauf, das heißt jedwede Form realistisch nachahmenden Körperspiels und damit das Illusionsprinzip im Allgemeinen. Szenische Aktion wurde durch Appia also nicht nur in die Plastizität eines praktikablen Raums verlegt, sondern vom Primat einer realistisch perspektivierten Handlung zwischen dramatisch vorentworfenen Personen gelöst: Bühnengesche-
3. Theaterraum und Szenografie
hen im Sinne des Bewegungsprimats lässt prinzipiell auch visuelle Relationen, Allianzen und Spannungen zwischen menschlichem Darsteller und rein dinglichen Bestandteilen zu und ermöglicht somit umfassende Abstraktion. Diese bedeutete für den menschlichen Akteur eine in erster Linie topographische Orientierung, und zwar in dem Sinne „daß der durch die Terrainbeschaffenheit hervorgerufene Ausdrucksgehalt der Stellungen und Bewegungen von diesem auch ganz erschöpft“ (Appia 1899, 71 f.) werden konnte bzw. musste. Die von Appia an musikalischen Prinzipien orientierte „rhythmische“ Gliederung des neuen szenischen Terrains und der in ihm befindlichen Gegenstände und Darsteller fand dabei ihre vorrangige Entsprechung in einer Aufwertung des Lichts zu einer aktiven Kraft:
Licht als aktive Gestaltungskraft
Der größte Laie in Dingen der Bühnenausstattung sieht ein, dass Malerei und Beleuchtung zwei Elemente sind, die einander ausschließen; denn wenn man ein vertikales Bild beleuchtet, macht man es bloß sichtbar, und das hat nichts mit der aktiven Rolle des Lichts gemeinsam, ja es widerspricht ihr sogar. (Appia 2000b, 314) Appia betrachtete das Licht als bewegliche, vielfarbige und symbolträchtige Größe, deren szenische Qualität er analog zur Musik zwischen suggestivevokativer Kraft und konkreter Sinnlichkeit verortete. Beiden wäre, wie Appia betonte, „jene überaus lenksame, weiche Flüssigkeit zu eigen, durch welche sie imstande sind, alle Ausdrucksgrade vom bloßen Vorhandensein bis zur überströmenden Intensität zu durcheilen“ (Appia 1899, 82). Licht fungierte somit nicht mehr als bloße Beleuchtung oder als Illustration eines äußeren Vorgangs. Ihm kam vielmehr die wesentliche Rolle zu, die Wahrnehmung des Raumes zu dynamisieren; zugleich sollte es die inneren, d. h. assoziativ-imaginativen Bezüge des szenischen Geschehens offenlegen. Analog zu Appia bestimmte auch der englische Theaterreformer Edward Gordon Craig den „geist der bewegung“ (Craig 1969, 68) im Sinne eines nicht nur das Spiel der Akteure, sondern den Gesamtraum organisierenden Prinzips zum Kern einer neuen Theaterkunst. Auch bei ihm schloss der Gedanke an eine abstrakte Synthese der theatralen Mittel im und durch den umgebenden Raum den Vorrang einer illusionistischen, auf dem gesprochenen Dialog basierenden Theaterästhetik kategorisch aus. Dies brachte ihn schließlich über Versuche mit stilisiert agierenden, marionettenhaften Darstellern zu Experimenten mit moving screens, d. h. Szenen, die rein durch die mechanische Bewegung von Elementen der Bühnenarchitektur zustande kamen. Die dahinter stehende Idee war die einer perfekten Theaterraummaschinerie, welche das Bühnengesamt zu einem autonomen, in sich dynamischen Komplex vereinigte. Mit diesen Neubestimmungen im Verhältnis von Theaterkunst, Raum und Szenografie war eine Ausgangsbasis geschaffen, die durch die europäischen Avantgarden und ihre Abstraktionstendenzen sowie durch nachfolgende Strömungen bis heute in verschiedener Weise aufgegriffen, variiert und radikalisiert wurde. Es verwundert daher nicht, wenn der Darsteller in seiner Körperlichkeit fortan zum integralen Bestandteil einer räumlichen Gesamtkomposition aus verschiedenen szenischen Mitteln reduziert wurde, in de-
Moving Screens
Räumliche Gesamtkomposition
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III. Theaterästhetik und -theorie
Theater und bildende Kunst – Bildertheater
Phänomenalisierung des Bühnenraums
Performativer Raum
ren Zentrum zumeist das Zusammenspiel von Bewegung, Licht und Form stand. Das gilt für die Theaterentwürfe im Umkreis des französischen Kubismus, im italienischen Futurismus, in der Bauhaus-Bewegung und auch für die konstruktivistischen Ansätze innerhalb der russischen Regiekunst, etwa bei Wsewolod E. Meyerhold oder Alexander Tairow. Auch die sogenannte Stilbühne von Georg Fuchs (Die Schaubühne der Zukunft, 1905; Die Revolution des Theaters, 1909), die aufgrund ihrer a-perspektivischen Flächigkeit als Reliefbühne bezeichnet wird, schreibt den Darsteller in die räumliche Anlage an. Er agiert hier durch stilisierte Posen, die seine Dreidimensionalität zugunsten formaler Bezüglichkeiten zurücktreten lassen. Avancierte theaterpraktische und auch -theoretische Strömungen haben durch das 20. Jahrhundert hindurch bis heute die Kritik an den ästhetischen Defiziten eines perspektivisch-illusionistisch gestalteten Bühnenraums weiter getragen und die jeweils eigenen Konzepte dezidiert mit neuen Wirkungsvorstellungen verbunden. Modelle von Theater als sinnlich-evokativer „Poesie im Raum“ (so bei Antonin Artaud) stehen Seite an Seite mit technizistischen Utopien, in denen der Theaterraum zum Paradigma einer neuen industriellen Erlebniskultur avancierte (so bei den italienischen Futuristen). Ein wesentliches Spezifikum solcher Tendenzen war die Annäherung von Theater und bildender Kunst: Maler und Bildhauer wie Picasso, Kandinsky, Schlemmer, Depero und andere interessierten sich für das Theater als Ort, an dem ihre Entwürfe dreidimensional umgesetzt werden konnten. Diese Tendenz reicht über das sogenannte Bildertheater der 1960er und 1970er Jahre (vgl. Rischbieter 1968; Simhandl 1993; Vom Bruch 1996) bis heute. Sie wird fassbar bei Künstlern wie Robert Wilson, Robert Lepage und auch bei Romeo Castellucci, die auf hochstilisierte, gleichsam pikturale Theaterszenerien setzen. Wissenschaftliche Bestimmungen des Raums Für die theatertheoretische und -wissenschaftliche Auffassung von Theater nicht nur als eines dreidimensionalen Erlebnis-, sondern auch als eines spezifischen Wahrnehmungsraumes boten alle diese Vorstöße eine nachhaltige Anregung (vgl. Flemming 1952). Dabei bemüht sich die moderne Theaterwissenschaft um eine „Phänomenalisierung des Bühnenraums“, welche „sowohl historische Erscheinungsformen als auch überzeitliche Strukturmerkmale untersucht“ (Lazarowicz/Balme 2000, 404). Übereinstimmung besteht heutzutage darin, dass der Bühnenraum erst durch die auf ihm stattfindende szenische Aktion als solcher identifizierbar wird, wobei diese Konkretisierung in ihrer Anbindung an das Prinzip der Bewegung stets nur vorläufig, variabel und fluktuierend zu denken ist: ein von Zeitlichkeit durchdrungener und von ihr abhängiger Raum. Die Szene avancierte damit im 20. Jahrhundert auch zu einem ästhetischen Freiraum, in dem Bedeutungsbildung als transitorisches Zusammen- und Widerspiel von Signifikanz und körperlich-materieller Eigenpräsenz erprobt und nachvollzogen wird. Sie ist, entsprechend dem zeitlichen Verlauf, der als zweites wesentliches Konstituens des Theaters mit dessen Raum unauflöslich verknüpft ist, rekodierbar, in ihrer Zeichenhaftigkeit multiplizierbar oder einfach rein atmosphärisch konstituierbar. Trotz oder besser: gerade aufgrund ihrer sinnlichen Konkretheit und deren Anbindung an Zeit und Bewegung
3. Theaterraum und Szenografie
kommt den im Raum versammelten Komponenten – auch dort, wo nach wie vor realistisches Theater produziert wird – keine perspektivisch-illusionistische oder semantische Konsistenz mehr zu. In diesem Sinn ist der Bühnenraum ein genuin performativer Raum, der durch den stetigen Wechsel und Entzug von Bedeutungen und durch das ambivalente Zusammenspiel von bzw. durch die Spannung zwischen Bedeutung und Materialität gekennzeichnet ist. Michel Foucault hat in einem Vortrag von 1967 (deutsch: Andere Räume, 1990) wesentliche Perspektiven auch für die theaterwissenschaftliche Konzeption von Raumerleben vorgegeben (vgl. Roselt 2005, 266 f.). Er subsumiert das Theater, zusammen mit Friedhöfen, Bordellen, Festsälen, Museen etc., denjenigen Raumarten, die von einer Gesellschaft in ihren jeweiligen alltäglichen Lebenszusammenhang eingebunden werden, sich jedoch durch das, was auf bzw. in ihnen stattfindet, von alltagspragmatischen Bezüglichkeiten lösen. In diesen von ihm als „Heterotopien“ definierten Räumen würden „die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet“ (Foucault, 1990, 39). Zu unterscheiden sind die einzelnen heterotopischen Bereiche entsprechend der Form von Zeitlichkeit, die sie erfahrbar machen. Im Falle des Theaters wäre das die Flüchtigkeit aller in ihm gezeigten Geschehnisse. An solchen Vorgaben geschult sind (kunst)soziologische Konzepte von Raum, die die Momentanität und radikale Disponsibilität der räumlichen „Konstellation von festen Punkten“ und damit die dynamische Veränderlichkeit von Räumen selbst hervorheben (de Certeau 1990, 218). Dabei ist zu beachten, dass der Eindruck von Räumlichkeit im Theater stets an die spezifische Form der Zuordnung von Zuschauern, Szene und Akteuren sowie an das gegenseitig wahrgenommene Wechselspiel ihrer wechselnden Ausstrahlungen gebunden ist, mithin auf einer Syntheseleistung beruht (vgl. Löw, 2001). Auch die ganz aktuelle Theatertheorie hat ihre Begrifflichkeiten an solchen Vorstellungen ausgerichtet. Das von Gernot Böhme übernommene Konzept der Atmosphäre (Atmosphäre, 1995) etwa bemüht sich um die Erfassung – durchaus diffuser – phänomenaler, sinnlicher und emotiver Qualitäten, die sich aus der räumlichen Anordnung ergeben. Dabei wird die mediale Grundkonstellation von Theater in Rechnung gestellt. Raum meint unter dieser Perspektive eine spezifische Begegnungs- und Konfrontationsstruktur, die sich als dynamische Zuordnung von wechselnden theatralen Ausstrahlungen und ihrer unmittelbaren Rezeption fassen lässt. Mit dieser Perspektive wird nicht zuletzt einer weiteren wesentlichen Entwicklung innerhalb des theaterpraktischen Raumdiskurses begegnet. Die genannten historischen Tendenzen seit Beginn des 20. Jahrhunderts gingen einher mit der Ablehnung einer hierarchischen Ordnung des Zuschauerraums und der Aufhebung seiner eindeutigen Trennung von der Bühne. Im Bestreben, den Zuschauer zu aktivieren, d. h. zu tangieren und auch sinnlich zu affizieren, bemühte man sich in verschiedensten räumlichen Variationen darum, das Geschehen unmittelbarer als bisher auf ihn einwirken zu lassen. Angefangen von der Findung neuer Spielräume ohne strenge Differenzierung zwischen Bühne und Saal über die Integration der Zuschauer in die topographische Anlage des Spielortes bis hin zur völligen Auflösung des als Theaterraum definierten Bereiches. Den Beginn markieren im frühen
Heterotopien
Raum-Atmosphäre
Aufhebung der räumlichen Trennung zwischen Bühne und Saal
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III. Theaterästhetik und -theorie
Raumkonzepte des 20. und 21. Jahrhunderts
Realer und virtueller Raum
20. Jahrhundert die Versuche, die Strukturmerkmale asiatischer Bühnenformen zu nutzen. So wurde der von der Rückwand des Theaterraums durch die Zuschauerreihen bis hin zur Bühne führende Auftrittssteg des japanischen Kabuki und Nô-Theaters, der hanamichi, als Möglichkeit erprobt, die starre Zuordnung von Bühne und Saal zu durchbrechen, so etwa durch Max Reinhardt (Sumurun, 1910/11 im Münchner Künstlertheater). Auf räumliche Neurorientierung zielten auch die futuristischen und dann die dadaistischen Aktionen jenseits etablierter Theaterräume, etwa in Cafés und Kabaretts, die polydynamischen Bühnenentwürfe innerhalb der futuristischen Szenografie, die raumaffinen Gesamtkunstwerkskonzepte des Bauhaus-Kreises sowie die Entwicklung von Theatern mit mehreren beweglichen Bühnen (Erwin Piscator, Walter Gropius’ Totaltheater). Die Modellierung eines neuen, avancierten Theaters wurde in den letztgenannten Fällen rundweg als vorrangig architektonische Herausforderung gefasst, Theaterkunst wurde als strukturelles Äquivalent zur Baukunst verhandelt. Später ergingen Forderungen nach gänzlich leeren Bühnen (Peter Brook: Der leere Raum, 1969), es kam zu kurzzeitigen Versuchen der Wiederbelebung der Gerüst-Bühnenform der Commdia dell’arte und zur Erneuerung der Simultanbühnenstruktur durch Richard Schechners environmental theatre (Environmental Theatre, 1973), schließlich zur breiten Etablierung von BlackBox-Theatern, die als schmucklose Räume für szenische Experimente konzipiert sind. Aber auch die Entgrenzungsbestrebungen der Happening- und Performancekunst sind hier zu nennen, für die (im weitesten Sinne theatrale) Aktion immer und überall an Alltagschauplätzen realisierbar scheint. Theaterraum ist damit nicht mehr als vorab auf darstellendes Spiel hin konzipierter Ort bestimmt, sondern als ein jeglicher Raum, in dem Theater stattfindet. Und auch wenn mit dem Bildertheater seit den 1960er Jahren und dem pictorial turn scheinbar ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen dramaturgischer und szenografischer Praxis eingeläutet schien und die avancierte Regie sich bildlicher Elemente erneut als einer Art ,Sprache‘ im Sinne eines kulturell-symbolischen Gedächtnispools bediente, so ist doch die Spannung zwischen den im Raum versammelten und von ihm umfassten Komponenten nach wie vor unhintergehbar (vgl. Balme 2005 324 f.). Dem Umstand eines keineswegs entschiedenen Verhältnisses zwischen Bild und Theaterraum trägt nicht zuletzt das multimediale Experiment Rechnung. Sowohl die Performancekunst und das avancierte experimentelle Theater als auch etablierte Häuser bedienen sich längst der Möglichkeit, über Film- und Videozuspielungen oder über die zeitgleiche Übersetzung von Bühnengeschehen in die Projektionsform die Modalitäten von Wahrnehmen und Erkennen, sinnlicher Empathie und bewusstseinsmäßiger Integration zu überprüfen (vgl. De Marinis 1985; Büscher 1994). Dabei steht – vor dem Horizont einer durchweg medialisierten, ja virtualisierten Gesellschaft – die Bindung unseres Weltbegreifens an den realen Raum und die Dreidimensionalität des Körpers und der Gegenstände erneut und verschärft in Frage. Diese Frage ist – vor allem unter dem Stichwort der Intermedialität – von theaterwissenschaftlicher Seite breit, aber wohl noch keineswegs erschöpfend beantwortet worden.
4. Theatrale Wirkungsästhetik
4. Theatrale Wirkungsästhetik Aristoteles’ Katharsis-Begriff Die Frage nach der Wirkung des Theaters ist fast so alt wie das Theater selbst. Sie setzte mit Aristoteles’ Poetik ein, die sich gegen Platons (Der Staat) Ablehnung des Theaters als eines ,schlechten Scheins‘ und einer ,trügerischen Wirklichkeit‘ richtete. Aristoteles unterwarf die Tragödie demgegenüber einem zweifachen wirkungsästhetischen Postulat, welches von da an den Befürwortern einer pädagogischen Funktion des Theaters wesentliche Argumente liefern sollte:
Katharsis und Tragödie
Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, […] die Jammer und Schauder hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt. (Aristoteles 1982, 19) Abgesehen davon, dass Aristoteles den Begriff der Katharsis, der ethymologisch auf eine medizinisch-purgierende Dimension verweist (vgl. Hoessly 2001), ohne weitere Herleitung benutzt, erläutert er weder die genannten Affekte noch die Art und Weise der Läuterung genauer. Daraus ergibt sich zum einen das rezeptionsgeschichtliche Paradox, dass über die folgenden Jahrhunderte bis heute zwar immer wieder von Katharsis die Rede war, der Begriff aber aufgrund eines fehlenden definitorischen Fundaments zwangsläufig eine hohe semantische Unschärfe erhielt und inhaltlich stets von Neuem zu perspektivieren war (vgl. Girshausen 2005, 164). Die Tatsache, dass Katharsis das weite Feld wirkungsästhetischer Spekulationen von vorneherein in Bezug zur Tragödienpoetik setzte, macht indes plausibel, warum die theatrale Wirkungslehre von Beginn an relativ einseitig um die Pole des Erhabenen, Existentiellen und weltanschaulich Bedeutsamen kreiste und zumindest darin eine gewisse Konsistenz erlangte. Eine Theorie ,kleiner Wirkungen‘, wie sie etwa in Auseinandersetzung mit der Körperkomödie zu entwickeln gewesen wäre, konnte sich (schon aufgrund des Fehlens des Komödienteils der Aristotelischen Poetik und natürlich wegen der schwierigen Tradierbarkeit der hochperformativen Spielformen) nicht mit derselben Initialkraft ausprägen. Darüber hinaus ist man, was den Aristotelischen Begriff der Katharsis angeht, mit Übersetzungsproblemen konfrontiert, die sich auf die Art der Reinigung (psychisch und/oder moralisch und/oder sozial) beziehen sowie auf die Frage, ob der Rezipient im psycho-sozialen Sinne durch die Erregung von Leidenschaften oder aber von diesen Leidenschaften gereinigt, also quasi von ihnen befreit werden solle. Eine dritte Möglichkeit liegt im Genitivus obiectivus: Die Affekte von Jammer und Schauder sollen selber gereinigt werden, also im Reinzustand hervortreten (vgl. Girshausen 2005, 164). Der kleinste gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Interpretationen besteht wohl darin, dass die Tragödie im Sinne einer Transformation wirkt und von einem psychosomatischen Zustand in eine anderen überführt, womit jedoch eine weitere Frage, nämlich die nach der Nachhaltigkeit oder aber dem temporären, auf den Zeitraum der Aufführung beschränkten Charakter solcher Verwandlung zur Disposition steht (vgl. Fischer-Lichte, 2005,
Definitions- und Übersetzungsprobleme
Transformationsaspekt
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III. Theaterästhetik und -theorie
371 ff.). Die nachfolgend skizzierten Positionen zur Wirkungsqualität von Theater entzündeten sich vor allem am konstitutiven Zusammen- und Widerspiel der sinnlich-evokativen Kraft der szenischen Realität mit dem, was an Inhalt, Bedeutung und Botschaft bereits im dramatischen Text angelegt war. Damit stand die mediale Grundbedingung des Theaters, die dieses von anderen Kunstarten, zumal der Literatur, unterscheidet, nämlich die leibliche Kopräsenz von Zuschauer und Bühne als zwischen-menschliche Grundlage der Kunstform Aufführung und somit das Theater als soziale Institution, im Zentrum der Argumente (vgl. Bennett 1990).
Kritik an Sinnlichkeit und Fiktion
Sittlicher und sozialer Nutzen
Rhetorik
Affekte – Theater in der Kritik Die Kirchenväter lehnten das Theater aufgrund seiner angenommenen verderblichen Wirkung ab. So schreibt Augustinus, im Theater würden „[…] erdichtete Märlein meine Ohren […] reizen, dass sie immer lüsterner wurden und mir dieselbe Neugierde immer mehr und mehr aus den Augen leuchtete“ (Bekenntnisse, in: Simhandl 2001, 54). Ein solcher bereits in der Spätantike verzeichenbarer Argumentationsduktus zieht sich bei den Gegnern des Theaters über das Mittelalter und die Renaissance bis ins aufgeklärte 18. Jahrhundert durch. Auffällig ist bereits bei Augustinus, dass die Kritik sowohl den rein fiktionalen Status des Gebotenen als auch die von ihm ausgehende, sich im zeitlichen Verlauf der Aufführung potenzierende sinnliche Attraktivität betrifft (vgl. Brauneck 1986). Sowohl der Spielcharakter als auch die imaginative und emotive Faszinationskraft wurden gleichermaßen als zutiefst suspekt beäugt. Im Gegenzug bemühten sich die Befürworter des Theaters bis ins 18. Jahrhundert hinein, das Argument der anrüchigen Unverbindlichkeit des Spiels gerade durch die Indienstnahme der sinnlichen Anziehungskraft für pädagogisch-erzieherische Zwecke abzuschwächen. Katharsis wurde im Laufe der Exegese der Aristotelischen Poetik dabei verstärkt im Sinne von rein sittlicher Läuterung interpretiert bzw. missverstanden. Bei Aristoteles selbst war nie explizit die Rede davon, dass die Zuschauer der Bühnenhandlung eine sittliche Belehrung abgewinnen sollen. Erst mit Horaz’ Postulat „aut prodesse aut delectare“ in seiner Ars Poetica (Horaz 1967) wurde die Vorstellung, Kunst solle nicht nur unterhalten, sondern dabei (im sozialen und moralischen Sinne) nützlich sein, zu einem wesentlichen Bestandteil der Dramen- und Theatertheorie. Nichtsdestoweniger war es weiterhin vor allem die sinnliche Ausstrahlungskraft schauspielerischer Darbietung, die den Theatertheorien und ihren Wirkungsmodellen maßgebliche Ansatzpunkte lieferte. Seit der Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance orientiert sich die Schauspieltheorie bis ins 18. Jahrhundert hinein an rhetorischen Modellen. Die in der Antike als Wirkungslehre konzipierte Rhetorik vertrat die Annahme, dass ein Redner, um bei seinem Publikum die gewünschten Affekte zu erregen, diese Emotionen selbst zeigen müsste und stellte zum anderen die Frage, inwieweit die vorgeführten Gefühlsäußerungen authentisch sein müssten, um überzeugend zu wirken. Die zentrale Rolle von Gefühlsdarstellung und einer von ihr evozierten Gefühlserregung im Rezipienten bildete auch noch den zentralen Ansatzpunkt für die Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts. In seiner berühmten Abhandlung Dissertatio de Actione Scenica (1727) fasste der Leiter des Münchner Jesuitentheaters Franciscus
4. Theatrale Wirkungsästhetik
Lang die Spielpraxis des jesuitischen Schultheaters ab Mitte des 17. Jahrhunderts zusammen. Er betonte dabei nicht nur die wirkungsästhetische Qualität der Schauspielkunst, sondern definierte letztere in Abhängigkeit von der ersteren: Ich spreche es ohne Scheu aus, daß der Schauspielkunst eine fast wundersame Kraft innewohnt, die menschlichen Gemüter zu bewegen, so daß ein Chorag [= Spielleiter; die Verf.] der sich in dieser Hinsicht hervortut und andere darin mit Umsicht zu unterrichten weiß, jene völlig nach seinem Willen lenken kann. […] Als Schauspielkunst bezeichne ich die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen. (Lang 1975, 163) Lang betrachtete das Theaterspiel als Medium der Sozialisation und als Einübung in das gesellschaftlich Gebotene. Seine Anweisungen zur Schicklichkeit in Mimik, Gestik und Vortrag setzten stets auf das Prinzip expressiver Mäßigung. Sie strebten darin Vorbildlichkeit für eine auch öffentlich geforderte Affektbeherrschung im Dienste sozialer Harmonie und Stabilität an. Dem entsprach eine Ästhetik des barocken Theaters, die das über die Szenenwirkung in Gang gesetzte kathartische Prinzip in erster Linie als Reinigung vom Übermaß von Affekten und sozial schädlichen, d. h. normsprengenden psychosozialen Dispositionen bestimmte. Für die französische Klassik setzte etwa Pierre Corneille auf die Auffassung, das Theater errege zwar wesentlich Affekte, und zwar vornehmlich solche des Schreckens. Es sei aber zugleich durch die Be- und Verwunderung, welche die dramatisch entworfene übermenschliche Größe der Bühnenhelden evoziere, sprich: durch den Abstand der fiktiven Welt von der sozialen Wirklichkeit, in der Lage, emotionale Beteiligung zugunsten einer admiratio erlöschen zu lassen. Diese von rationalen Anteilen durchdrungene Distanzwirkung sei in der Lage, den Betrachter längerfristig von allen Affektationen zu befreien (vgl. Girshausen 2005, 166). Theater als Sitten-Anstalt Die Aufklärungsästhetik des 18. Jahrhunderts bestimmte den gesellschaftlichen Zweck der Schaubühne vollends durch das Prinzip sittlich-bildender Wirkung (vgl. Graf 1992). Infolge einer intensiven Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Tragödientheorie wurde die Wirkungstheorie des Theaters dabei fast ausnahmslos aus dem literarischen Genre der Tragödie abgeleitet. Der Ausgangspunkt in Deutschland war mit Johann Christoph Gottscheds Bemühungen gegeben, eine normative Poetik nach dem Vorbild der französischen Klassik zu etablieren, die, in dezidierter Absetzung von volkstheatralen Spielformen und der Spielpraxis der Wanderbühnen, zu einem von allem Unmaß gereinigten dramatischen Repertoire führen sollte. Dieser Schwerpunkt auf seriöser, literarisch vorkonzipierter Inhaltlichkeit stand in engster Verbindung zur offensiv moralisch-pädagogischen Funktionalisierung des dramatischen Genres und seines szenischen Mediums: Ein Trauerspiel […] ist ein lehrreiches moralisches Gedichte, darin eine wichtige Handlung vornehmer Personen auf der Schaubühne nachgeahmet und vorgestellet wird. Es ist eine allegorische Fabel, die eine Haupt-
Corneilles Admiratio
Bildung und Belehrung
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III. Theaterästhetik und -theorie
lehre zur Absicht hat und die stärksten Leidenschaften ihrer Zuhörer […] zu dem Ende erreget, damit sie dieselben in ihre gehörigen Schranken bringen möge. (Gottsched 2000, 543)
Vermittlung von Empfindungen
Lessings Mitleid
Ansteckung
Diese moralische Hygienefunktion unterstellte die Theaterpraxis dem literarisch-inhaltlichen Regulierungsprinzip und verweigerte performativen Ausstrahlungen des reinen Bühnenspiels explizit die Existenzberechtigung. Dies führte bei Gottsched nicht zuletzt zur programmatischen Verdammung der komischen Spieltradition und der durch Extemporieren und Improvisieren gekennzeichneten Figur des Harlekins. Waren Gottscheds frühe Vorstöße noch stark von der emotionalen Unterkühltheit der französischen Klassik geprägt, so kam es demgegenüber, im Zuge einer philosophischen Verbindung des französischen Rationalismus mit einem Sensualismus angelsächsischer Prägung, innerhalb der Aufklärung zu einer deutlichen Aufwertung des Gefühlslebens. Hatte das Barocktheater Affekte noch als überindividuelle und somit in bestimmten Posen, Gesten und mimischen Expressionen kodifizierbare Größen gehandelt, so wurden sie im Zuge der Etablierung des sich entfaltenden bürgerlichen Subjektdiskurses zu individuellen, durchaus komplexen und auch ambivalenten Emotionen. Diese galt es fortan im Theater nicht nur spielerisch zu vermitteln, sondern zugleich adäquat im Zuschauer zu erregen, um ihn dermaßen an einer bürgerlichen Empfindungsgemeinschaft teilhaben zu lassen. Diese Tendenz war nicht nur eine Absage an die strenge Rationalität der französischen Klassik, die europaweit ausgestrahlt hatte, sondern eine eindeutige Volte gegenüber der höfischen Gesellschaft und ihrer rigiden, das absolutistische Gefüge abbildenden Verhaltensreglements. Bürgerliches Theater avancierte demgegenüber zum beanspruchten Ort einer umfassenden Erweiterung der Menschenkenntnis und der Selbstbestätigung des bürgerlichen Individuums. Explizit verband sich in den entsprechenden Programmatiken das Prinzip einer Wahrheit des Ausdrucks mit dem Bestreben moralischer Besserung gemäß bürgerlicher Wertvorstellungen. Paradigmatisch für die wirkungsästhetischen Bestrebungen der Zeit stand dabei Lessings gegen Corneilles Aristoteles-Kommentar und das admiratioPrinzip gerichtete Umdeutung der Tragödienwirkung. Im 74. bis 83. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie gab Lessing die Prämisse aus, die Tragödie müsse neben der Furcht vorrangig Mitleid erregen, wobei Letzteres die Zentralkategorie einer moralisch-empathischen Rezeption darstellte. Denn, wie Lessing in einem berühmten Brief an Friedrich Nicolai schrieb: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste“ (Lessing 2000, 554). Die tragische Komponente der Furcht erfuhr bei Lessing ihrerseits eine dem moralischen Grundgedanken entsprechende pointierte Variation. Sie wurde nicht mehr, wie bei Corneille, als Qualität sublim distanzierten Schreckens gefasst, sondern sozusagen auf humanes Maß gebracht, und zwar im Sinne eines auf den Betrachter selbst bezogenen Mitleids, welches immer dann aufkäme, wenn dieser die tragische Bühnenhandlung auf sein eigenes mögliches Schicksal projizierte. Die bürgerlichen Theaterreformer des 18. Jahrhunderts glaubten in Entsprechung zu den genannten Einzelüberlegungen an eine moralisierende
4. Theatrale Wirkungsästhetik
Langzeitwirkung des Theaters. Dieser Effekt wurde stets in dessen besonderer medialer Grundbedingung gesucht. Die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern wurde zum strukturellen Äquivalent, gar zum Modell einer empfindsamen Öffentlichkeit stilisiert. Das Zustandekommen von Gemeinschaft konnte dementsprechend als Resultat der spezifisch sinnlich-emotiven Qualität von Theater gehandelt werden. Entsprechend fasste Johann Georg Sulzer in seiner 1792 erschienenen Allgemeinen Theorie der schönen Künste die theatertheoretischen Erwägungen der Epoche im Bilde der Ansteckung zusammen: Es ist gewiß, daß der Mensch in keinerley Umständen lebhafterer Eindrüke [!] und Empfindungen fähig ist, als bei dem öffentlichen Schauspiel. […] Nichts in der Welt ist anstekender [!] und kräftiger wirkend, als die Empfindungen, die man an einer Menge von Menschen auf einmal wahrnimmt. (Sulzer 1792, Band 2, 254) Dass diese empfindsame bzw. rührende Perspektive europaweit geteilt wurde, zeigt sich auch noch ex negativo bei ausgewiesenen Theaterskeptikern. So judizierte Rousseau gegen die „dauernden Gefühlsaufwallungen, denen man im Theater unterworfen ist“ (Rousseau 1758) und warnte vor einer entnervenden und schwächenden Wirkung auf das Gemüt der Zuschauer. Die theateraffinen Theoretiker des 18. Jahrhunderts – Lessing, Diderot, Georg Christoph Lichtenberg, Johann Jakob Engel usw. – kamen dagegen überein in der Auffassung, dass die auf dem Theater gezeigten Mienen und Gebärden einen direkten Weg in das Herz öffnen und „uns soweit fühlbar […] machen, dass uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß“ (Lessing 1970, Band 4, 163; vgl. Ruppert 1995). Das bedeutete freilich auch, dass die Gebärden bzw. die durch sie evozierten Gefühle trotz ihres ansteckenden Charakters reflexiver Überprüfung zugänglich sein mussten und damit keinesfalls synonym mit unkontrollierbaren, Verstand und Herz gleichsam überrennenden Impulsen waren. Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts mündete somit die sittlich-moralische Auslegung von Katharsis in ein umfassendes „sympathetisches Identifikationsmodell“ (Jauß 1977, 214). Der psychodynamische Rezeptionsprozess der Identifikation blieb von da an bis heute nicht nur das bestimmende Interaktionsmuster des realistisch-psychologischen Dramas und Theaters, sondern z. B. auch des Films (zu den ideologischen Aspekten vgl. Elin 1992). Dem Desiderat war fortan sowohl innerhalb des dramatischen Textes als auch in seiner Bühnenrealisierung Rechnung zu tragen. So deuten etwa die ausführlichen Szenenanweisungen zu Mimik und Gestik und Bewegung, welche ein generelles Kennzeichen des Aufklärungsdramas abgeben, darauf hin, wie stark Theater nicht nur im Sinne eines institutionalisierten Mediums für den Entwurf eines bürgerlichen Individuums, sondern als wirkmächtiges Instrument zu dessen Realisierung betrachtet wurde. Theater wurde dabei auf ein rezipierendes Subjekt bezogen, welches aufgrund seiner sprachlich vermittelten Vernunft und seiner im Körperausdruck manifestierten Empfindungsfähigkeit in der Lage war, seine Handlungen nach allgemeinmenschlichen Maßstäben und ethischen Kriterien zu bemessen.
Sympathie und Identifikation
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III. Theaterästhetik und -theorie
Nietzsches Physiologisierung der Ästhetik
Aktivierung des Zuschauers
Artauds „Theater der Grausamkeit“
Sinnliche Affizierung und reflexive Distanz Nachdem die Autonomieästhetik der deutschen Klassik vorübergehend die Frage nach der Wirkung zugunsten der Priorität der Werkgestalt zurückgedrängt hatte, kam es in Deutschland und in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer bemerkenswerten Renaissance wirkungsästhetischer Theoriebildung, die ihrerseits in engstem Zusammenhang mit geistesgeschichtlichen Umwälzungen stand. Für den theaterwissenschaftlichen Kontext sind dabei besonders Nietzsches Philosophie des Leibes, seine physiologische Ästhetik und sein Plädoyer zur Überwindung der Individuation im dionysischen Rausch hervorzuheben (Die Geburt der Tragödie, 1872; Nietzsche 1988). In seiner musik- und tanzorientierten Umdeutung der antiken Tragödie entwarf Nietzsche ein Bild von Theater als rational unerschließbarer, weil dionysisch-ritueller Gemeinschaftserfahrung. Damit inaugurierte er für die nachfolgenden Programmatiken nicht nur die Vorstellung von einer Erneuerung der Lebenspraxis durch Theater, sondern in enger Verbindung damit den Vorrang der körperlichen Wirkung des Bühnengeschehens. Um eine durch die sinnliche Ausstrahlung des Theaters gesteigerte allgemeine Körperkultur bemühten sich in der Folge sowohl die Theaterreformer um 1900 als auch die Vertreter der europäischen Avantgarden. Deren Experimente gingen stets einher mit einer Aufwertung des menschlichen Körpers und seiner Bewegung und, dazu komplementär, mit der dezidierten Abwertung des rein literarischen Dramas und eines auf ihm basierten Texttheaters. Georg Fuchs etwa wandte sich dezidiert gegen die „Tendenzillustration“ einer von ihm sogenannten „Literaturtheatralik“ zugunsten eines öffentlichen „neuen, organisch-künstlerischen Theatertypes“, der sich durch den „weitesten Wirkungskreis und die mächtigste Suggestionskraft“ (Fuchs 2000, 58) auszeichnete. Abgesehen von ihren durchaus divergierenden weltanschaulichen Ladungen und Reflexionsniveaus ging es den damaligen Theoretikern um eine Rekonzeptionalisierung von Theater als einer vorrangig sinnlichen Kunst, die eine Überwindung der Grenzen des Subjekts ermöglichen und transindividuelle Relationen stiften sollte. Auf dem Wege der Physiologisierung der Theaterästhetik sollte vor allem eine im Prozess der Zivilisation verschüttete Totalität des Menschen angesprochen und neuerlich freigelegt werden. In unmittelbarem Zusammenhang damit standen auch die Bestrebungen der historischen Avantgarden, den passiven Modus von Theaterrezeption zu durchbrechen und den Rezipienten zu ,aktivieren‘, d. h. ihn als einzelnen und die Zuschauer insgesamt zum konstitutiven Bestandteil des Theatererlebens zu machen (vgl. Fischer-Lichte 1997). Die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, die Rampe, wurde entsprechend als strukturelle Metapher der passiven Grundkonstellation verworfen, es wurden sowohl bühnen- wie auch darstellungstechnisch Mittel und Wege einer direkteren und unmittelbareren Ansprache, Stimulation und Affizierung gesucht. Der prominenteste Vertreter einer Wirkungsästhetik dieser Art war der französische Regisseur, Schauspieler und Theatertheoretiker Antonin Artaud. Ausgehend von einer radikalen Kritik am Rationalismus und am (innerhalb der diskursiven Sprache manifestierten) Logozentrismus der westlichen bürgerlichen Kultur forderte er ein am Kult der Naturvölker geschultes rituelles Theater, das in der Lage war, über sinnlich wirksame archaische Symboliken die prärationalen und präindividuellen Triebschichten im Menschen
4. Theatrale Wirkungsästhetik
zu stimulieren. Für Artaud, der das herkömmliche textbasierte Theater als „Idiotentheater“ verwarf, da es aus seiner Sicht alles Theatereigene ausblendete, war die Bühne ein körperlicher und konkreter Ort, dessen Sprache sich, statt wie die diskursive Wortsprache an den Geist, zuvorderst an die Sinne zu richten hatte. Die in seinem „Theater der Grausamkeit“ anvisierte Offenlegung anthropologischer, existentieller und ontologischer Grundkonstellationen war als ebenso extremer wie erschütternder Eingriff in die Integrität des empfindenden und denkenden klassischen Subjekts gedacht. Trotz seines Irrationalismus blieb Artaud jedoch dem intellektuell-reflexiven Prinzip insoweit verhaftet, als es ihm neben der Freisetzung von inneren Triebpotenzialen immer um Selbst-Erkenntnis ging. Die von ihm erstrebte direkte Einwirkung des Theaters auf das Unbewusste hatte entsprechend das Ziel, im Zuschauer zu einer „Bewußtwerdung und auch zu einer Inbesitznahme gewisser dominierender Kräfte, […] die alles lenken und leiten“ (Artaud 1979, 85) zu führen. Das magisch-rituelle Theater Artauds erneuerte das bereits bei Aristoteles zu Buche schlagende transformative Prinzip der Reinigung im Sinne einer eindeutig psychohygienischen und therapeutischen Funktion von Theater. Über das Konzept intensiver Wirkung wurde also eine Art von ,erweiterter Aufklärung‘ angestrebt. Die Dialektik des programmatischen Irrationalismus Artauds wurde konterkariert durch Bertolt Brecht, dessen Theatertheorie die zweite wesentliche Reflexionslinie zur Wirkung und Funktion von Theater im 20. Jahrhundert begründete. Brecht ging seinerseits von einer Kritik des bürgerlichen Theaters aus, stellte dabei aber vorrangig auf den Begriff der Einfühlung ab. Wo Artaud dem westlichen Theater also ein Defizit an sinnlich-emotiver Wirkung attestierte, bemängelte Brecht das Prinzip emotionaler Anteilnahme, welches er in einem von ihm sogenannten Aristotelischen Theater realisiert sah (vgl. Brecht 1957). Dieses identifizierte er mit der bürgerlichen Theaterästhetik seit dem 18. Jahrhundert. Im Zentrum der Angriffe Brechts stand die Auffassung, dass ein auf Illusionierung und Emotionalisierung basierendes Theater die kritische Distanznahme zum Gezeigten unmöglich mache. Theater würde damit seiner wesentlichen Funktion, nämlich gesellschaftskritische und politische Reflexion zu ermöglichen, beraubt. In seiner Theorie eines Epischen Theaters wandte Brecht sich gegen das Prinzip der Identifikation, und zwar einmal derjenigen der Zuschauer mit den Figuren sowie zum anderen derjenigen der Schauspieler mit den von ihnen dargestellten Figuren. Stattdessen entwickelt er in theoretischen Beiträgen wie in der praktischen Arbeit Verfahren der Distanzierung, die unter dem Begriff der „Verfremdung“ (V-Effekt) zusammengefasst wurden. Sie sollten es dem Schauspieler einmal ermöglichen, das von ihm Gebotene in Form eines zeigend-demonstrativen Gestus zu vermitteln, um so die Abhängigkeit der jeweiligen Aktion von gesellschaftlichen Gegebenheiten zu veranschaulichen. Dem Zuschauer einer solchen Demonstration würde damit die Möglichkeit gegeben, sich, anstatt von den Vorgängen hypnotisiert zu werden, kritisch mit den Inhalten der Szenen auseinanderzusetzen. Freilich stellte Brecht emotionale Faktoren wie das Vergnügen am Gezeigten nicht gänzlich in Abrede, interpretierte sie aber stets im Sinne eines Vergnügens an (politischer) Erkenntnis. Die Rezeption von Theaterkunst fasste er ihrerseits somit durchaus pointiert als Kunst der Betrachtung.
Brechts Distanz-Konzept
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III. Theaterästhetik und -theorie Konfrontation und Schock
Umwertungen
Neue Begrifflichkeiten
Bewegte sich die durch Brecht initiierte Linie trotz dessen Kritik am Aristotelischen Theater mit ihrer Emphase auf der Kognitionsleistung in gut aufklärerischer Tradition, so setzte sich die physiologische Richtung der Theaterwirkungsästhetik zunehmend davon ab. Die wesentliche Gemeinsamkeit aller von ihr ausgehenden Tendenzen im Theater des 20. Jahrhunderts war die Annahme, dass die affektive Stimulierung des Publikums auch jenseits des klassischen Modus der Einfühlung und der reziproken Übertragung von Emotionen zum Tragen gelangt. Schon bei Artaud funktionierte die emotionale Aktivierung des Rezipienten keineswegs mehr über ein Verstehen der gezeigten Figuren, ihrer Motive und ihrer Handlungen oder über den Nachvollzug der von einer Dramenfigur vorgegebenen inneren Gefühlslagen. Vielmehr wird auf das Prinzip einer sinnlichen Stimulierung oder auch einer visuell-akustischen und durchaus schockanten Konfrontation mit dem szenisch Gebotenen gesetzt, dessen Wirkungen nicht mehr ausschließlich an das humane Format gebunden sind, sondern auch von gegenständlichen Mitteln wie dem Raum, dem Licht oder der Akustik ausgehen können. Wesentlich ist, dass bei Artaud, stärker noch als bei Brecht, dem Prinzip unproblematischen Mitvollzugs, der ,Bequemlichkeit des Verstehens und Fühlens‘ sozusagen, eine dezidierte Absage erteilt wurde. Statt einer emotionalen und intellektuellen Integration des Gezeigten in nachvollziehbare Kontexte avanciert damit das Prinzip der Irritation und der Verstörung zu einem zentralen Wirkungsmerkmal der Theaterkunst des 20. Jahrhunderts bis heute. Aktuelle wirkungstheoretische Perspektiven Diese Krisenhaftigkeit, die Theatererfahrung mit sich bringt, hat sich dabei im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr von negativen Implikationen gelöst. Fasste Artaud sein Konzept noch durchaus ambivalent unter dem Stichwort eines „Theaters der Grausamkeit“ und betrachteten die historischen Avantgarden ihr Theater durchweg als Kampfmittel gegen eine bürgerliche Ästhetik, so traten in der Folge die gewaltsamen, martialischen und katastrophischen Vorstellungen mehr und mehr zugunsten der Vorstellung eines transgressiven Erfahrungs- und Erlebnismehrwerts zurück. Dieser wurde und wird zentral an der Wechselwirkung der Zeichenhaftigkeit des Theaters mit der sinnlich-phänomenalen Eigenqualität der theatralen Mittel und ihrer irreduziblen Realität verortet. Insgesamt wurden mit den Vorstößen avancierter Kunstströmungen ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine gegenseitige Entgrenzung von Kunst und Leben sowie der Aufbruch des ästhetischen Raums durch einen Einbezug realer Strukturen initiiert, welche nachfolgende Richtungen und Genres nochmals forcierten. Um die damit einhergehenden komplexen wirkungstheoretischen Herausforderungen theoretisch zu meistern, haben sich, zumal in Auseinandersetzung mit den Vorstößen der Performancekunst seit den 1960er und 1970er Jahren sowie des postdramatischen Theaters seit den 1990er Jahren, in der Theaterwissenschaft Begrifflichkeiten ausgeprägt, unter denen ästhetische Grenzüberschreitungen und die von ihnen ausgehenden Wirkungen einer systematischen Erfassbarkeit zugeführt werden sollen. Dabei wird jedoch die gesamte Tradition wirkungsästhetischer Überlegungen mit in Rechnung gestellt, im Hinblick auf das konstitutive Zusam-
4. Theatrale Wirkungsästhetik
menspiel von Bühne und Publikum auf ihre wesentlichen, d. h. überzeitlichen Aspekte befragt und dermaßen modifiziert weitergetragen. Ins Zentrum der Debatten um die Wirksamkeit von Theater im 20. Jahrhundert geriet der Gedanke an eine aktive und schöpferische Funktion des Rezipienten. War dieser tatsächlich in der Ganzheit seiner geistig-sinnlichen Vermögen anzusprechen, so traute man seinen Reaktionen auf die von der Szene und der Theatersituation insgesamt ausgehenden Stimuli eine für die Wirkung der Aufführung als Ganzes konstitutive Qualität zu (vgl. Schoenmakers 1990). Wirkung konnte fürderhin nur im Sinne von Mit-Wirkung und Kopräsenz begriffen werden. Vonseiten der Theorie bemühte sich bereits der Prager Strukturalismus, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Ausläufern der historischen Avantgarden, um eine Erklärung der Wirkungen des Theaters, und zwar in engstem Zusammenhang mit deren Vorstellung vom aktiven Zuschauer. So betrachtete etwa Jan Mukarˇovsky` das Theater trotz der Sinnlichkeit seiner Mittel als „unstoffliches Zusammenspiel von Kräften […], die sich in Raum und Zeit verschieben und den Zuschauer in ihre veränderliche Spannung hineinziehen“ (Mukarˇovsky` 2000, 89; vgl. Quinn 1995). Die Vorstellung solchen Zusammenspiels wurde von theaterwissenschaftlicher Seite zunächst nach idealtypischen Modellen modelliert, die die Bewusstheit des Zuschauers über den mimetisch-fiktionalen Spielcharakter der Aufführung in den Vordergrund stellten (vgl. Lazarowicz 1971, 1977 und 1997). Dabei wurden jedoch einmal sinnlich-emotive und atmosphärische Faktoren weitgehend außer Acht gelassen, zum anderen das Theater auf ein vorrangig intellektuell zu rezipierendes Spiel verengt, das die jeweiligen Grenzen des Subjekts und seiner Vermögen weitgehend unangetastet lässt. Demgegenüber standen bereits früh theatersoziologische Modelle, die Theaterrezeption als soziales Handeln bestimmten und erforschten (Rapp, 1973 und 1993). Der bei Mukarovsky implizit anklingende, jedoch weder empirisch noch experimentell weiter ausgeführte Aspekt der Transformation (von Zuschauer, Darsteller und Theatergeschehen) wurde dann unter Rekurs auf die ethnologische Ritualforschung und die Kulturanthropologie reflektiert (vgl. zu Perspektive und Problematik: Balme, 1994 und 1998; sowie zur Relation von Theater und Anthropologie: Barba 1982 und 1996; Gissenwehrer 1994; KoÐenina1995; Pfaff 1996; Schechner 1978 und 1990). Einen wesentlichen Ausgangspunkt boten hierbei besonders das rites de passage-Konzept des belgischen Anthropologen Arnold van Gennep (1909; deutsch: Übergangsriten, 1986) und seine Weiterführung durch den Anthropologen Victor Turner (The Anthropology of Performance, 1987; vgl. Turner 1989). Theaterwissenschaftler wie Erika Fischer-Lichte verhandeln im Ausgang von diesen Vorgaben (jedoch in Absetzung vom engeren ethnologischen Ritualkonzept) die transformative Wirkung von Theateraufführungen schlechthin unter dem Begriff der Liminalität. Er zielt – für die Dauer der Aufführung – auf einen ambivalenten Grenzzustand des Rezipienten. Die Flüchtigkeit des auf der Szene Gebotenen, sein Changieren zwischen Zeichenhaftigkeit und sinnlicher Realität und schließlich die Abhängigkeit der ästhetischen Erfahrung von der dynamischen Kopräsenz von Spielgeschehen und Publikum, dies alles führt zu einem vorübergehenden Außerkraftsetzen der gültigen Normen unserer Selbst-, Welt- und Fremderkenntnis. Die Folge für den Zuschauer ist eine – durchaus positiv bestimmte – bewusstseinsmäßige Instabilität, die
Der schöpferische Zuschauer
Transformation und Liminalität
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III. Theaterästhetik und -theorie
Liveness, Intensität, Präsenz
Atmosphäre
Performativität
sich als „Erfahrung des Weder-Noch, der Unstrukturiertheit und der Emergenz“ (Warstat 2005, 186) beschreiben lässt. Die Wirkung der Aufführung entsteht somit im Sinne einer autopoietischen Struktur aus der Gesamtheit der im Einzelnen nicht vorhersehbaren Wechselbezüge innerhalb der Szene sowie zwischen Szene und Publikum (Fischer-Lichte 2005b, 100). Mit diesem Modell von Transformation im Sinne von Liminalität ist in der Tat ein Paradigma für die Erkundung von Wirkungsmöglichkeiten jeglicher Theaterform gesetzt, da nunmehr jenseits weltanschaulicher Programmatiken von der medialen Grundbedingung des Theaters schlechthin ausgegangen wird. Im Zuge dieser Vorgaben haben sich in letzter Zeit semantisch verschränkte Begrifflichkeiten ausgebildet, welche jeweils verschiedene Facetten von Theatererleben und -wirkung prononcieren. So wird die Erfahrung intensiver Gegenwärtigkeit im Theater unter dem Stichworten der Liveness (Philip Auslander) medientheoretisch, unter denjenigen von Energie und Intensität quasi-physikalisch und unter dem Oberbegriff der Präsenz strukturell wie ontologisch verhandelt. Nachdem der im theoretischen Diskurs flottierende Präsenzbegriff anfänglich missverständlich auf das reine So-Sein theatraler Mittel und eine dem komplementäre selbstevidente anthropologische Grunderfahrung von Authentizität abzuzielen schien (vgl. Phelan, 1993 und 1998), werden in jüngster Zeit und in enger Verbindung mit dem Konstruktionsaspekt und der zeitlichen Transitorik von Theater im Gegenteil Aspekte des Entzugs, des Verlustes und der mangelnden Konsistenz betont, ganz im Sinne der destabilisierenden Qualität von Liminalität. Hans-Thies Lehmann etwa fasst Präsenz als semantisch und psychologisch nicht aufzuschlüsselnde und somit schockierende Erfahrungsqualität, welche die Alltagswahrnehmung radikal durchbricht (vgl. das Kapitel zur Analyse). Philip Auslander (Auslander 1999) betont darüber hinaus neben der sozialen und kulturellen vor allem die technische und mediale Konstruiertheit jeglicher Unmittelbarkeitserfahrung, mithin den Umstand, dass auch vermeintlich authentisches Erleben stets nur in Form von kurzfristigen Authentizitätseffekten zum Tragen gelangt. In derartigen Auffassungen richtet sich der Präsenzbegriff geradewegs gegen die Prinzipien von diskursiver Erklärbarkeit, psychologischer Plausibilität und pragmatischer oder ökonomischer Verfügbarkeit. Das theatrale Wechselspiel von Authentizität und Relativität, von Konsistenz und Prozessualität sowie von Körperbezogenheit und Reflexivität stellt auch der Begriff der Atmosphäre in Rechnung, der theoretisch von Gernot Böhme (Atmosphäre, 1995) konzipiert wurde. Abgesehen davon, dass atmosphärische Ausstrahlung keineswegs nur auf zwischenmenschliche Begegnung beschränkt ist, sondern auch Gegenstands-, Raum- und Situationserfahrungen betrifft, zielt der Begriff wesentlich darauf, affektives Betroffensein und die reale körperliche und geistige Involviertheit in einen umfassenden Erlebnisakt gegenüber der Annahme einer neutralen und distanzierten Beobachterposition zu exponieren. Obwohl systematisch noch keineswegs vollends erschlossen, verspricht der Begriff damit gerade für die Analyse von Aufführungen fruchtbar zu werden, deren ästhetische Emergenzqualität sich stets als Wechselwirkung von objektiver Struktur und subjektivem Empfinden ergibt. Das Konzept der Performativität kann als Grundlage für alle angesprochenen Theoreme und Begrifflichkeiten gelten (vgl. Fischer-Lichte 1990). Es hat
4. Theatrale Wirkungsästhetik
sich aus dem Grunde als außerordentlich fruchtbares Fundament für die Theaterwissenschaft erwiesen, insofern es die alte Frage nach der Wechselwirkung von sinnlich-materieller Affizierungsmacht und intellektueller Stimulanz nicht mehr einseitig beantwortet. Das Performative einer Aufführung ist dementsprechend keineswegs rein in der nackt hervortretenden Körperlichkeit der Akteure und in der schieren Anwesenheit der Theaterdinge zu verorten, sondern definiert sich als deren oszillierendes Wechselspiel mit ihrer Semiotizität, d. h. ihrer Zeichenhaftigkeit. Die szenischen Hervorbringungen sind, auch dort, wo sie sich auf einen vorab festgelegten dramatischen Text stützen, jeweils in actu gegeben bzw. performativ gesetzt. Sie fungieren also nie gänzlich als Träger einer vorab entworfenen Bedeutung, sondern brechen diese immer wieder durch ihr bloßes, sich selbst bedeutendes Erscheinen (vgl. Fischer-Lichte 2005c). Grundsätzlich tragen neue Theorien zur Wirkung des Theaters also dem Umstand Rechnung, dass sich sinnlich-emotionaler Impakt und Distanzierungsleistung beständig durchdringen und dass somit jeder Versuch, die Relation einseitig zugunsten einer Position zu entscheiden, an den spezifischen medialen Bedingungen des Theaters vorbeigeht und seiner ideologischen Indienstnahme zuträgt. Darüber hinaus machen sie dezidiert an derjenigen Struktur fest, die von Beginn an die historischen Diskussionen und Wertungsdiskurse um Theater und seine Auswirkungen bestimmt hat, nämlich am besonderen Verhältnis des Menschen als sowohl leibliches wie Zeichen schaffendes und Zeichen deutendes Wesen zu einer Kunstform, die Schein und Sein, Sinn und Sinnlichkeit in ein dynamisches Wechselspiel versetzt.
Schein und Sein
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IV. Historische Formationen 1. Komische Spieltradition und Spektakelkultur Merkmale der komischen Spieltradition
Dokumentationsproblematik
Vorbehalte gegenüber dem Komischen
Physiologische Orientierung
Körperlichkeit und symbolische Ordnung Die komische Spielpraxis in Europa begann mit den umherziehenden Truppen von Akrobaten, Gauklern und Artisten, die im vorklassischen Griechenland den Mimus und später in Rom Mimus und Pantomimus spielten. In den Charakteristika dieser frühen, wenngleich nicht immer ausschließlich komischen Darbietungen lagen bereits die wesentlichen Merkmale dessen begründet, was sich als genuin komische Spieltradition fassen lässt, nämlich weitgehende Aliterarizität, Improvisationscharakter, Derbheit des Witzes, überzeichnende Typisierung der Figuren und vor allem die Betonung des Körperspiels. Dieses Kriterienbündel machte das Komische sowie die ihm affinen populären Spektakelformen des Theaters nahezu zum Synonym für eine aliterarische Theatertradition, die diejenige des literaturbasierten Theaters stets begleitet und – gemessen an der Quantität der Zuschauer und der Aufführungen – durchaus übertroffen hat. Allein der Umstand, dass sich auf Körperspiel und Improvisation basierendes Theater einer stringenten Überlieferungs- und Dokumentationsarbeit in Gestalt von Texten per se verschließt, ließ dieses über lange Zeit an der Peripherie der wissenschaftlichen und theoretischen Erschließung verbleiben. Die unsichere Quellenlage, die bis heute vor allem die tatsächliche Gestalt der jeweiligen historischen Spielpraxis und hier vor allem ihre performative Dimension anbelangt (vgl. Balme 1997a), darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Komische auf der Bühne im Bewusstsein der jeweiligen Zeitgenossen eine keineswegs nur marginale Wirkung entfaltet hat. Dies lässt sich gerade dort ablesen, wo der theoretische Diskurs die Merkmale und Motive theatraler Komik unter ausgesprochen negativen Vorzeichen betrachtete. In diesen Fällen verdichteten sich am Komischen die Vorbehalte gegen das Theater als einer körperbasierten Kunstform schlechthin. Mit anderen Worten, wenn immer die performative, im Hier und Jetzt der Darbietung entfaltete Wirkung des Theaters sowie seine sinnliche Ausstrahlung schlechthin zur Zielscheibe der Kritik wurden, so kreiste diese vornehmlich um die komische Spieltradition, deren theatrale Effekte, wenn überhaupt, nur lose an die diskursive Dimension dramatischen Handelns und Sprechens rückgebunden waren. Erschwerend kam hinzu, dass in der komischen Spiel- und Spektakelkultur die Zeichenhaftigkeit des Theaters, seiner Figuren und ihrer Handlungen rundweg zur Disposition steht. Die genuin physiologische Orientierung des Lachtheaters bedarf, anders als die dramatisch-literarische Gattung der Komödie, keiner raffinierten Verwicklungs- und Verwechslungsstruktur und keiner dramaturgisch elaborierten Handlung. Ihre Wirkungen basieren vorrangig auf der Präsenz des Körpers und der artistischen Ausschöpfung seiner Ausdrucks- und Verwand-
1. Komische Spieltradition und Spektakelkultur
lungsmöglichkeiten. Gegenüber der unterwerfenden Macht der jeweiligen symbolischen Ordnung, d. h. der gesellschaftlichen Sinnsysteme sowie ihrer literarischen und ästhetischen Pendants, macht sich hier der Körper mit seinem Lustanspruch geltend (vgl. Greiner 1992, 6). Das gilt gerade nicht nur für die Körperlichkeit der dargestellten Figuren im Kontext der dargestellten Geschichte, sondern auch für die Physis des Darstellers. Bereits die inhaltliche Ebene komischer Stücke ist zumeist eng mit der Vorstellung rein leiblicher Vorgänge und ihres Exzesses ins Lustig-Amoralische verbunden (Essen/ Fressen, Trinken/Saufen, Liebe/Lust, Wollen/Gier usw.) sowie nicht zuletzt mit der Bandbreite menschlicher Missgeschicke und gewaltsamer Vorgänge (vgl. Sternberg-Greiner 2002). Derlei Gehalte bedingen eine analoge Exzentrik im performativen Bereich ihrer Darstellung. Der komische Akteur muss sich bemühen, die Handlungen seiner Figur visuell und akustisch frappierend zu gestalten, um ihre lustige, delikate oder prekäre Dimension zu veranschaulichen. Es sind also gerade die individuelle Korporalität des komischen Akteurs und seine virtuosen Körperkunststücke, welche die dargestellte Figur und ihre Handlungen für das Publikum allererst zu komischen machen. Spezifisch ist für die komische Praxis somit, dass sie die Grenzen zwischen fiktionaler Theaterhandlung und der physischen Realität unscharf werden lässt bzw. diese in produktive Ambivalenz versetzt. Das komische Spiel gerät allenthalben zur Schnittstelle, an der sich szenischer Raum und realer Raum, Fiktion und Körperlichkeit immer wieder aufs Neue überlagern (vgl. Lohr 1987, 4 ff.). Nicht zuletzt diese strukturelle Spezifik hat das komische Spiel in den Augen seiner Kritiker zur suspekten Größe werden lassen. Schon die christlichen Apologeten, wie etwa Quintus Septimius Florens Tertullianus, hegten in diesem Sinne schwere Vorbehalte nicht nur gegen das Lächerliche auf dem Theater, sondern zugleich gegen die verführerische Ausstrahlung des im komischen Spiel schamlos exponierten Leibes. Im Mittelalter wurde diese gedoppelte christliche Kritikperspektive weitergeführt. Im Rückgriff auf frühchristliche Streitschriften wie Tertullians De spectaculis kam es zu einer radikalen moralischen Zurückweisung des gestus histrionici, also der volkstümlichen Darbietungsformen der fahrenden Gaukler, Jokulatoren, Minstrels und Histrionen. Gemeinsam war den verschiedenen Pamphleten zumeist, dass sie nicht nur die aus ihrer Perspektive frivole Betonung von derb sexualisierter Körperlichkeit als eine Missachtung tugendorientierter Verhaltenskodizes werteten. Darüber hinaus sahen sie durch die exzentrische Gestik der Akteure, durch ihre grotesken Verrenkungen und die akrobatische Erzeugung ,unmöglicher‘ Körperbilder einen Exzess an Leiblichkeit inszeniert, der mit der natürlichen, von Gott gegebenen Ordnung nicht vereinbar schien. Wie bereits Michail Bachtin unter kulturtheoretischer Perspektive betont hat, stand der im komischen Spiel zur Schau gestellte „groteske Leib“ einem auf Körperdisziplinierung und Gleichmaß hin idealisierten Körperkanon, nach dem jedes Glied am rechten Platz zu sein und die richtige Funktion zu erfüllen hatte, diametral entgegen (Bachtin 1995; vgl. von Brincken 2006, 12 ff.). Die Commedia dell'arte: Paradigma komischer Bühnenpraxis Nach der Wiederentdeckung des antiken Theaters in der Renaissance entwickelte sich zunächst die am Vorbild der Komödien des Plautus und Terenz ge-
Groteske Leiblichkeit
Improvisationsspiel
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IV. Historische Formationen
Englische Komödianten; Haupt- und Staatsaktionen
Stoffe und Figurenschemata
schulte literarische Commedia erudita. Dieser zunächst auf Latein, später auf Italienisch verfassten Gelehrtenkomödie der städtebürgerlichen Akademien trat dann die auf aliterarischen Bedingungen basierende Commedia dell’arte gegenüber. Eine volkstümlich-spektakelhafte Theaterform, die bis zum 18. Jahrhundert aufgrund ihres gewerbemäßigen und professionellen Charakters häufig als Commedia mercenaria bezeichnet wurde. Ihre seit etwa 1550 in Italien und bald in anderen europäischen Ländern operierenden professionellen Theatertruppen spielten durchaus alle in der Frühen Neuzeit geläufigen Dramengattungen (Tragödien, Komödien, Pastoralen) und später auch Opern. Sie wurden jedoch insbesondere dafür bekannt, nicht nach einer ausgeschriebenen Textvorlage, sondern – sowohl im Hinblick auf den Situations- und Sprachwitz als auch auf das Körperspiel – all’ improviso, d. h. aus dem Stegreif spielen zu können, weshalb ihre Theaterform auch Commedia a soggetto oder Commedia all’ improviso genannt wurde. Die improvisierte Spielweise avancierte zur eigentlichen Besonderheit der italienischen Truppen, die ihren Erfolg im In- und Ausland begründete. Von den 1560er Jahren bis in die 1630er Jahre traten die entsprechenden Truppen, etwa die Gelosi, Desiosi, die Confidenti und Fedeli, einen Siegeszug erst von Nordnach Süditalien und von dort aus über ganz Europa an (vgl. Castagno 1994). In den europäischen Ländern agierten die Commedia-Truppen in Konkurrenz vor allem zu den englischen Komödianten. Diese wandernden Schauspielertruppen, die ab etwa 1590 von England aus auf das Festland und besonders in das protestantische Deutschland kamen, nahmen allmählich auch deutsche Berufsspieler auf und wurden um die Mitte des 17. Jahrhunderts von deutschen Wandertruppen abgelöst. Das Markenzeichen dieser englischen Komödianten und ihrer Ableger waren in erster Linie sogenannte Haupt- und Staatsaktionen, d. h. auf das wesentliche Handlungsgerüst reduzierte Varianten der Stücke von Shakespeare, Marlowe, Calderón, Lope de Vega, Racine, Corneille sowie barocker Märtyrer- und Tyrannendramen. Die Wandertruppen trugen damit zwar wesentlich zur interkulturellen (Literatur-)Vermittlung bei. Ihre Publikumsattraktivität bezogen jedoch auch ihre Aufführungen in erster Linie aus spektakulären Bühnenaktionen und derbkomischen oder akrobatischen Einlagen von lustigen Figuren wie Jan Bouset, Pickelhering und Hanswurst. In der Tat kann es als wesentliches Spezifikum der komischen Spieltradition gelten, dass sie dort, wo sie sich literarischer Vorlagen bediente, diese auf das in ihnen angelegte Substrat an performativen und vor allem körperbasierten Effekten befragte, welche sie aus den jeweiligen Inhalten und zuungunsten kohärenter dramatischer Verläufe extrahierte. Bühnenpraxis verhielt sich hier gleichsam ,parasitär‘ gegenüber dem literarischen Sinnprinzip. Das Charakteristikum der Commedia-Truppen war es, dass ihre improvisierten, in verschiedenen italienischen Dialekten gespielten Aufführungen in hohem Maße schematisiert und stereotypisiert waren. Gespielt wurde nach einem Szenario (auch Kanevas oder soggetto genannt), einem vorher schriftlich in aller Knappheit festgelegten Handlungsgerüst, zumeist aus einer Haupt- und Nebenhandlung, deren szenische Umsetzung aber während der Vorstellung gemeinsam mit den Ensemblepartnern jeweils neu erbracht und erfunden werden musste. Die szenisch adaptierten Stoffe entstammten Märchen, Novellen (z. B. Boccaccio) sowie lateinischen und
1. Komische Spieltradition und Spektakelkultur
volkssprachlichen Komödien und drehten sich zumeist um die Liebesproblematik, die anhand eines wenig variablen typisierten Figurenschemas entfaltet wurde. Eine immer wiederkehrende Konstellation sah etwa ein junges Liebespaar vor, das gegen die Widerstände des alten Vaters und heiratswilliger Nebenbuhler nach allerlei Verwirrungen am Ende doch zueinander fand. Begleitet wurde dieser Hauptstrang durch Nebenhandlungen, in deren Zentrum die sogenannten lazzi, d. h. die komischen szenischen Einlagen der lustigen Dienerfiguren, allen voran des berühmten Arlecchino, standen. Die genannten Aufführungsmodalitäten sowie die spezifische Ästhetik der Commedia mit ihrem aliterarischen Fundament waren nicht zuletzt Ausdruck einer gewerbsmäßig-ökonomischen Auffassung von Schauspielertum. Der Zwang, den Neuigkeitswert der Darbietungen zu erhalten, die Spielschemata vor der Konkurrenz zu sichern sowie schnell und ohne lange Probenzeiten produzieren zu können, beförderte den Verzicht auf ausgeschriebene und in diesem Sinne dramatische Texte. Außerdem musste das Gebotene unabhängig von sprachlichen Barrieren verschiedenen Publika unmittelbar verständlich sein, jedoch auch möglichst schnell an deren aktuelle kulturelle und soziale Spezifika sowie an die damit einhergehenden Rezeptionshaltungen adaptierbar sein. Nicht zuletzt diese interkulturelle Dimension der Commedia-Praxis führte zur Exponierung des Improvisationsspiels sowie des körperlichen Fundaments, das eine überkulturell und übersozial gültige Dimensionierung aufweist. Vor diesem Hintergrund ist gegenüber Theorien, welche die satirisch-gesellschaftskritische Funktion der komischen Spielpraxis hervorheben, zu betonen, dass die szenische Komik im artistischen Akt und im performativ-körperlichen Moment einen autonomen Status gewinnt, der sie aus eindeutigen semantischen und damit auch sozialen Referenzbeziehungen entbindet (vgl. Münz 1998, Warning 1976). Indem die jeweilige Handlung sich als absichtlich und für die Unterhaltung des Publikums in Szene gesetzte ausweist, unterläuft sie des weiteren identifikatorische oder mitleidige Einlassungen seitens des Publikums gerade auch dort, wo Missgeschicke, Unfälle oder sogar Prekäres geboten werden. Belacht wird nicht das inhaltliche Was, sondern das Wie der Darbietung, ihre formale Virtuosität, sinnliche Prägnanz und phänomenale Ausstrahlung. Weniger wird also die jeweilige Figur verlacht, als dass man mit dem Darsteller über seine Leistung lacht. Die Commedia mit ihrer Betonung des Schauspielers und seiner individuellen Körperlichkeit und korporellen Kreativität, mit ihrer logischen und moralischen Indifferenz, mit ihrem Abstellen auf rein szenische Wirkung sowie mit ihren lazzi, die keine diskursiv-narrative Funktion erfüllten, sondern autonome, rein unterhaltende und hochvirtuose Kabinettstückchen waren, erfüllte die skizzierte Bedingung passgenau (vgl. Krömer 1990, 24 ff. und 53 f.; Cairns 1989). Das ist auch der Grund, weshalb sie später immer wieder als ein role model für avancierte Theaterformen (etwa innerhalb der historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts) fungierte, die sich dezidiert gegen literarisch-inhaltliche Bühnenkonzepte wandten und den performativen Wert reinen Körperspiels prononcierten. Die Ästhetik und Motivik der Commedia wirkten zu ihrer Zeit nachhaltig in ganz Europa, und zwar gerade auch im Hinblick auf eine literarische Dramatik, die sich eng an der jeweiligen Theaterpraxis sowie an den Unterhal-
Berufsschaupielertum
Autonomie des Komischen
Einfluss in Europa
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IV. Historische Formationen
tungsbedürfnissen des Publikums orientierte. In England wurde nicht zuletzt William Shakespeare von ihr beeinflusst. Am frühesten jedoch wurde sie im Spanien des Siglo de Oro unter Philipp IV. aufgenommen, wo sie wesentlich zur Ausbildung der literarischen Gattung der Comedia, wie sie vor allem mit dem Namen Lope de Vegas verbunden ist, beitrug. Trotz ihrer Unterschiede teilten alle spanischen Theatersparten sowie die ihnen entsprechenden dramatischen Genres ein wesentliches Merkmal, nämlich das des Spektakelhaften und der Orientierung der dramatisch vorausentworfenen theatralen Effekte an der Schaulust und dem Unterhaltungswillen des Publikums. In Frankreich traten die italienischen Schauspielertruppen schon seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts am französischen Hof auf und etablierten sich in der Folge unter dem Namen comédie italienne als feste Größe im Theaterleben der Hauptstadt. Die Truppen erhielten neben einem festen Haus staatliche Subventionen und liefen bald den comédiens français den Rang in der Gunst des Publikums ab (vgl. Virginis 1998). Nach einer schrittweisen, Sprache und Thematik gleichermaßen betreffenden ,Französisierung‘ ab der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und einer durchaus wechselvollen Geschichte ging die comédie italienne schließlich in der Mitte des 18. Jahrhunderts in die opéra comique über. Ihre wesentliche Rezeption auf dem Gebiet der literarischen Dramatik erfuhr sie zum einen durch Molière, zum anderen durch Marivaux.
Kampf gegen das Stegreifspiel
Vernunftdiktat; Natürlichkeitspostulat
Komisches Spiel vs. dramatisches Sinnangebot Besonders im deutschen Sprachraum kam es im Zusammenhang mit den Bemühungen um die Literarisierung des Theaters zu vehementen Angriffen gegen das komische Spiel und seine Tendenz zu ausufernder Sinnlichkeit und Spektakelhaftigkeit. Die Ausgangslage erbrachte die Literaturreform von Johann Christoph Gottsched (Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen, 1730), die, in ihrer inhaltlichen Zwecksetzung wie in ihrer strengen literarischen Regulierung des Theaters, die Initialfunktion für eine neue deutsche, am Vorbild der französischen Klassik orientierte Dramatik übernehmen sollte. Theater sollte das bürgerliche Leben darstellen und dabei das Publikum moralisch belehren und bilden. Im Regeldrama Aristotelischer Prägung hatte der Handlungsablauf logisch zu sein, Inhalt und Form wurden gleichermaßen in Abhängigkeit von der Vernunft bestimmt. Schriftlich in Versen fixierte Texte wurden gefordert, wobei die Tragödie die bevorzugte literarische Gattung abgab. Über die Bereitstellung von Musterdramen und der sie begleitenden Theorie wirkte Gottsched auf die Theaterpraxis zurück, und zwar in Gestalt der mit dem Namen Caroline Neubers, einer Wandertruppenprinzipalin, verbundenen Schauspielreform. Das gemeinsame Interesse Gottscheds und Neubers bestand in der strikten Bindung der Darsteller an den literarischen Text und seine Sinnakzentuierung, mithin in der Verpflichtung des Theaters auf die Literatur. Diesem Anspruch fiel schließlich auch die durch Extemporieren und das Stegreifspiel gekennzeichnete lustige Figur des beim Publikum so beliebten Harlekins zum Opfer. Sie wurde auf der Neuberschen Bühne in Leipzig im Jahre 1737 in einem fragwürdigen Akt symbolischer Vernichtung verbrannt. Gottsched verwarf vor allem das Genre der Haupt- und Staatsaktionen, die „mit untermischten Lustbarkeiten des Harlekins pflegen aufgeführet zu
1. Komische Spieltradition und Spektakelkultur
werden“, rundweg als „Missgeburten der Schaubühne“. Es war dabei keineswegs nur „die Kleinmut und Zaghaftigkeit durch die Beispiele ohnmächtiger und verächtlicher Helden“, die Gottsched beim Publikum in prekärer Weise durch das Gebotene befördert glaubte. Vielmehr wandte er sich dezidiert gegen diejenige „Art ungereimter Schauspiele“, die „keine Nachahmungen der Natur [seien], da sie sich von der Wahrscheinlichkeit fast überall entfernen“ (Gottsched 2000, 544). Hinter dem auf die Theaterpraxis bezogenen Verdikt Gottscheds stand ein generelles Misstrauen gegenüber einer selbstgenügsamen komischen Darstellungspraxis, die sich in ihren formalen Übertreibungen vom Prinzip der Natürlichkeit, vom inhaltlichen Primat des logischen Grundes und damit von der allgemeinen Vernünftigkeit distanzierte. Jedoch standen gerade die von komischer Körperlichkeit ausgehende visuelle Intensität und ihre schiere theatrale Erscheinungsqualität in diametralem Gegensatz zu allen Versuchen, die Schaubühne im Sinne aufklärerischer Programmatik zu reinigen und sie als Medium für die entsprechenden Inhalte zu instrumentalisieren. Gegen die Gottsched-Neuberschen Hygienebestrebungen gewandt, verfasste Justus Möser eine Verteidigungsschrift für die Figur des Harlekins (Harlekin oder die Verteidigung des Grotesk-Komischen, 1761). Allerdings blieb auch er dem aufgeklärten Inhaltsprimat verhaftet, wo er das komische Spiel in erster Linie als satirische Kritik an realen Gegebenheiten bestimmte (vgl. Möser 1968, 21). Komische Deformation um ihrer selbst willen und vor allem jenseits der Grenzen des guten Geschmacks, die durch das aufgeklärte Natürlichkeitspostulat eng gesteckt waren, wies dagegen auch Möser dezidiert zurück (vgl. von Brincken 2006, 35). Die prosaische Tendenz und offen moralisierende Attitüde aufgeklärter Theoriebildung und Dramenprogrammatiken stand mithin insgesamt nicht zur literarischen Komödie, wohl aber zur exaltierten Sinnlichkeit von komischem Theaterspiel in Kontrast. Die durch Lessing konzipierte Theorie des bürgerlichen Trauerspiels führte ihrerseits zum programmatischen Verzicht auf coups de théâtre und spektakuläre Effekte. Wenngleich Lessing sich gegen das Gottsched’sche Totalverdikt gegenüber der komischen Figur richtete, so belegen die von ihm ausgegebenen Regeln für Schauspieler in der Hamburgischen Dramaturgie ein ganz ähnliches Interesse an der Bändigung des komischen Bühnengeschehens zugunsten der Vermittlung des dramatischen Werkes und seines Gehalts. So gab Lessing z. B. die Anweisungen, die Spielvorschriften des Verfassers seien zu beachten und es dürften keine Zusätze improvisiert werden, die dem jeweiligen Stück schaden. Die gegebenen Beispiele veranschaulichen in der Tat ein Missverhältnis zwischen literarisch-theoretischem Anspruch und Theaterpraxis. Einzig in Österreich, dessen Theaterkultur ansonsten weitgehend eine Einheit mit der Deutschlands bildete, etablierte sich mit der von dem Schauspieler Johann Anton Stranitzky erfundenen und von seinen Nachfolgern in Habitus und Benehmen variierten Figur des Hanswurst die Tradition des Wiener Volktheaters, und dies durchaus aus dem Geiste der ursprünglichen Commedia heraus. Das Konzept einer gereinigten Schaubühne und die Regeldramatik begannen sich jedoch auch in Österreich durchzusetzen. Konkret wirkte sich dies in Form des sogenannten „Hanswurststreits“ (1747–1783) aus, der schließlich in der Einführung der Theaterzensur durch
Divergenz von Literaturtheater und Spielpraxis
Hanswurst und Wiener Volkstheater
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IV. Historische Formationen
Literarisierung der Commedia
Großstädtisches Unterhaltungsbedürfnis
den Aufklärer Freiherr Joseph von Sonnenfels, der das Theater von den derben Stegreifpossen und Volksschauspielen reinigen wollte, mündete. Von Sonnenfels, einer der Berater Maria Theresias, setzte bei der Kaiserin nicht nur die Zensur, sondern im Jahre 1752 auch ein Extemporierverbot und die Verbannung der lustigen Figur des Bernadon durch. Besonders das Verbot des Extemporierens beraubte die komische Bühne ihrer eigentlichen Wesensart und Stärke. Jedoch erwies sich die lustige Figur, nicht zuletzt wegen der Affinität des Volkes, als zählebig. Das Resultat war eine Parallelität und Durchdringung von geregelter Dramatik und Volkstheater. Die charakterliche Bandbreite der lustigen Figuren Hanswurst, Bernadon, Kasperl usw. reichte schließlich von derben Sauf- und Raufbolden, Sexprotzen und großtuerischen Feiglingen bis hin zur Dienerfigur mit abgemilderten hanswurstischen Zügen innerhalb der Regeldramatik. Mit Philipp Hafner avancierte die Hanswurstiade schließlich zu einer literarischen Kunstgattung. Später wurde mit den Stücken von Ferdinand Raimund und Johann Nestroy eine an den Bedingungen des Unterhaltungstheaters geschulte und auf dessen Bühnenmodalitäten konzipierte Dramatik geschaffen, in der literarischer Anspruch, ironische Kritik und Theaterpraxistauglichkeit in ein fruchtbares Verhältnis traten (vgl. Fischer-Lichte 1993a, 171 ff.). Die oben skizzierte, weltanschaulich begründete Diskrepanz zwischen literarischem Inhaltsprimat und komischer Spielpraxis schlug sich im Europa des 18. Jahrhunderts jedoch gerade auch in Tendenzen nieder, zwischen beiden Formen auszugleichen. So schöpfte in Italien ein Dramatiker wie Carlo Goldoni aus dem Vorrat der aliterarischen Theaterkunst der Commedia dell’arte, jedoch mit dem Ziel, ihre dem aufgeklärten Weltbild nicht mehr kompatiblen szenischen Unwahrscheinlichkeiten literarisch zu extrapolieren. Seine am Vorbild der Molière’schen Charakterkomödie orientierte Literarisierung der überkommenen Komödienform – als psychologisierende Vermenschlichung der traditionellen Maskentypen deklariert –, stellte in der Tat darauf ab, das ausufernde Improvisationsspiel mit seinen stereotypen Wiederholungen, der exzentrischen Gestik und den lazzi einzudämmen, wenn nicht gänzlich zu beenden. Zwar errang Goldoni schon zu Lebzeiten einen Weltruf als Theaterautor. Der seinerseits beachtliche, wenn auch kurzfristige Theatererfolg seines Antipoden Carlo Gozzi, dessen Märchenspiele (fiabe) das traditionelle Maskenspiel neu belebten, weist aber darauf hin, dass das Interesse des Publikums an einer aus aufklärerischem Pathos heraus gereinigten literarischen Komödie keineswegs homogen war (vgl. Balme/von Brincken 2007, 275). Unterhaltungstheater Das Unterhaltungstheater sowie das Spektakel traten in Europa im 19. Jahrhundert ihren eigentlichen Siegeszug an, besonders in den großen Zentren London und Paris. In Frankreich stiegen bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Besucherzahlen im Vergleich zum ausgesprochen dürftigen Durchschnitt des 17. Jahrhunderts an. Aufgrund der 1791 proklamierten Gewerbefreiheit und der danach von Napoleon verfügten Neuregelungen des Theaterwesens kam es ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Welle von Theaterneugründungen aus vorrangig ökonomischen Gründen. Die Theaterlandschaft der französischen Hauptstadt wurde fortan durch ein fruchtbares
1. Komische Spieltradition und Spektakelkultur
Nebeneinander verschiedener Theaterformen und der mit ihnen verbundenen dramatischen Genres geprägt, nämlich der klassischen Tradition an den großen Staatstheatern, der aktuellen literarischen Entwicklung vor allem an Privattheatern und schließlich der an Unterhaltung und Zuschauerbedürfnissen orientierten Boulevardtheater und Vorstadtbühnen. Hinzu kam der Zirkus, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zum eigentlichen Publikumsmagneten entwickelte. In der Folge entwickelte sich geradezu eine passion du théâtre. Es ist dabei von einem reinen Unterhaltungsbedürfnis des großstädtischen Publikums auszugehen, welches die europaweiten aufklärerischen Bemühungen gleichsam konterkarierte. Es manifestierte sich in einem stetig wachsenden Zulauf (zunächst vor allem aus der Unterschicht) zum Unterhaltungsbetrieb etwa des Théâtre de la foire und des Théâtre de Boulevard. Eine besondere Hinneigung bestand einmal zu spektakelhaften dramatischen Genres, nämlich zum Melodram, das seine entscheidende Prägung durch Guilbert de Pixérécourt erhalten hatte (vgl. Frye 1957, 167 ff.; Marcoux 1992), und zum komischen Vaudeville. Eine weitere wesentliche Affinität, die übrigens von Massenpublikum und zeitgenössischen romantischen Literaten gleichermaßen geteilt wurde, ergab sich zur unliterarischen Pantomime, die aus der komischen Tradition der Commedia dell’arte entsprungen war, jedoch ihre Muster mehr und mehr aus der grotesk-ironischen Überformung der melodramatischen Gewaltszenarien gewann (vgl. von Brincken 2006, 126 ff.; Przybos 1987, 150). Die französische Pantomime war aus einer lebendigen Straßen- und Jahrmarktskultur hervorgegangen, die jedoch nach 1830 aufgrund gesetzlicher Verordnungen bereits ihren Niedergang erlebte und in eine theatrale Spektakelform mündete, zu deren Hochburg das zwischen 1813 und 1816 errichtete Théâtre des Funambules, das ,Theater der Seiltänzer‘ auf dem Boulevard du Temple wurde. Die Pantomime war, weitaus mehr als die Commedia, ein genuin vom akrobatischen Können bestimmtes Spiel, dessen Artisten-Darstellern aufgrund moralischer und politischer Vorbehalte seitens der Obrigkeit das Sprechen untersagt war. Zum Spielfundament wurde somit eine Form von Komik, die sich vom schieren Reiz des bewegten Körpers und des artistischen Agierens aus definierte. Sie war ob ihrer clownesken Exzentrik weder dramatisch im eigentlichen Sinne, noch ließ sie sich gänzlich für den satirisch-moralisierenden Verweis auf die soziale und historische Realität instrumentalisieren. Eingebettet war sie oftmals in fantastische Abenteuerstücke mit spektakulären Szenerien und prächtig-exotischen Dekorationen. Es handelte sich um nahezu zirkushaftes Spektakel, das mithilfe ausgeklügelter Bühnentechnik blitzschnelle Dekorationswechsel und frappante Effekte zu erzeugen suchte, zum ungetrübten Amüsement des Publikums (vgl. Balme/von Brincken 2007, 281). Komische Spielpraxis im 20. Jahrhundert bis heute Insgesamt war die Vorbildfunktion des komischen Spektakeltheaters gerade für die Entwicklung der modernen Szene beträchtlich. Die Pantomime fungierte, wie die Tradition der Commedia dell’arte, der Zirkus und die Clownskunst, als wesentliches Vorbild und als Katalysator für moderne Theaterentwürfe am Beginn des 20. Jahrhunderts.
Melodram, Vaudeville, Pantomime
Akrobaten-Theater
Performatives Potenzial
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IV. Historische Formationen Alfred Jarrys Ubu Roi
Komik und Dramatik um 1900
Komische Spielpraxis und Avantgarde
Weltanschauliche Befrachtung des Komischen
Im Umkreis des französischen Symbolismus setzte Alfred Jarry mit seinem grotesken Drama um den brutal-monströsen Ubu Roi (Uraufführung am 10. Dezember 1896 im Théâtre de L’Œuvre) den Meilenstein für das moderne Drama und Theater (vgl. von Brincken 2003). Trotz seines Einflusses auf die spätere absurde Dramatik mit ihrer weltanschaulich düsteren Inhaltlichkeit ging es in Jarrys Drama vor allem um eine Re-Etablierung wirkungsästhetischer Prämissen für die Bühne und auch für das dem Theater zugewandte literarische Genre des Dramas. Entsprechend erteilte er in den theoretischen Schriften, welche die Aufführung des Stückes begleiteten, dem satirischen Prinzip und einer moralisierenden Komik eine dezidierte Absage (vgl. Jarry 1972). Zum Vorbild seines Textes bestimmte er zum einen die genuin unnatürliche Kunst des Marionettentheaters, zum anderen aber das groteske Spiel von Pantomimenclowns. Im selben zeitlichen Umfeld um 1900 lassen sich auch in den dramatischen Versuchen anderer Künstler innerhalb Europas immer wieder Tendenzen ausmachen, die besondere sinnliche und phänomenale Ausstrahlung des Komischen und des spektakelhaften Spiels nicht nur zu thematisieren, sondern darüber hinaus als Vorbild einer neuen, vorrangig visuellen Bühnenästhetik zu verhandeln, etwa bei Oskar Kokoschka in seiner dramatischen Abbreviatur Sphinx und Strohmann oder auch bei Arthur Schnitzler in seiner doppelbödigen Groteske Zum großen Wurstel (1905). In Deutschland war es jedoch vor allem Frank Wedekind, der sein dramatisches Schaffen strukturell, motivisch sowie im Hinblick auf den darin intensiv geführten Körperdiskurs an den Unterhaltungsformen von Variété, Music-Hall und nicht zuletzt am Zirkus orientierte. Diese frühen, um 1900 unternommenen Versuche, eine performative Dimension aus der komischen Spieltradition in den dramatischen Text selber einzubinden, setzte sich dann in avantgardistischen Versuchen zu einer materiellen Konkretisierung der Bühnensprache fort, zentral im italienischen Futurismus und im Dadaismus. In enger Verbindung damit standen die Bemühungen, die historische Spielpraxis der Commedia dell’arte, der Pantomime und verwandter Formen zur Schaffung einer neuen Schauspielkunst zu reaktivieren, so durch Jaques Copeau in Frankreich und früher im russischen Avantgarde-Theater, wie es durch die Regisseure Wsewolod E. Meyerhold, Alexander Tairow und Ievgeni Wachtangow vertreten wurde. Gerade Meyerhold versuchte in seiner 1912 erstmals veröffentlichten Programmschrift Balagan (vgl. Meyerhold 1979, Band 1, 196–221) durch eine Synthese der Spielprinzipien von Pantomime und Improvisation, Puppen- und Maskentheater eine neue, auf A-Mimetik beruhende Darstellungsästhetik gegenüber dem realistischen und literarisierten Theater zu etablieren. Umfassend etikettiert wurde diese von ihm mit dem Begriff der „Bühnen-Groteske“. Die von ihm zu diesem Zweck entwickelten Formen sollten später die Fundamente seiner an Abstraktion orientierten Schauspieltechnik, der sogenannten Biomechanik, abgeben. Immer wieder griffen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts Autoren wie Regisseure und auch Schauspieler auf die Strukturen der komischen Spielpraxis zurück (vgl. Koch/Vaßen 1991). Dabei kam es freilich, gerade in einem Theater mit weltanschaulicher und aufklärerischer Programmatik, von Neuem zu einer Befrachtung des Komischen mit satirisch-indexikalischer Funk-
2. Das Theater als bürgerliches Medium seit dem 18. Jahrhundert
tion und/oder semantischem Gehalt. So konstatierte bereits Bertolt Brecht, dass das Prinzip der Verfremdung und des V-Effekts innerhalb seines Epischen Theaters wesentliche Züge komischer Technik trüge. Die Wiederbelebung der Commedia dell’arte-Tradition durch den Brechtschüler Giorgio Strehler in seinen Inszenierungen von Goldonis Diener zweier Herren stand ebenfalls unter politischer und sozialreformatorischer Perspektive. In den Vordergrund rückte hier eine angenommene utopische Dimension des Volkskulturhaften, das gegen bürgerliche Gesellschaftsstrukturen in Anschlag gebracht wurde. Von ähnlicher Tendenz sind auch die hochpolitischen Beiträge Dario Fos. Dem gegenüber steht eine große Richtung absurder bzw. grotesker Dramatik – von Luigi Pirandello zu Samuel Beckett, Eugène Ionesco, Fernando Arrabal und auch Friedrich Dürrenmatt –, die das Bühnen-Komische zum symbolisch vergrößernden Spiegel der menschlichen Existenz schlechthin ausweitete. Sowohl die dezidiert politischen wie auch die metaphorisierenden Entwürfe stehen – bei all ihrer ästhetischen Raffinesse und trotz ihres großen Erfolges beim Publikum – exemplarisch für ein anhaltendes Misstrauen gegenüber einer theatralen Praxis reinen, in seiner irreduziblen Performativität weder semantisch noch weltanschaulich gänzlich vereinnahmbaren Spiels. Ernst genommen als konkreter und körperlicher Einspruch gegenüber symbolischen Sinnzuschreibungen wird das Komische dagegen durchaus im post-dramatischen Theater und innerhalb der Performancekunst. Wo es um die Dekonstruktion unserer Wahrnehmungsgewohnheiten via verstörende Bilder geht, werden alternative Körperdramaturgien entworfen, die im Exponieren materieller und phänomenaler Qualitäten die Verbindlichkeit kultureller Repräsentationsmuster rundweg in Frage stellen. Dazu bedient man sich durchaus komisch-clownesker Einlagen, etwa im Theater der britischen Truppe Forced Entertainment, und schockant-grotesker, jedoch ästhetisch äußerst reizvoller Deformation, so in den Experimenten der italienischen Socìetas Raffaello Sanzio und ihres Regisseurs Romeo Castellucci, oder auch im grotesken Figuren- und Materialtheater der argentinischen Gruppe El Periférico de Objetos. Heute hat sich im Zuge post-strukturalistischer Theoriebildung ein breiter Diskurs um die zwischen Irritation und Faszination oszillierende Ausstrahlung des deformierten Körpers ergeben, der neben dem Abstoßenden, dem Verunstalteten und dem Schockierenden auch das Komische betrifft, es also dem Abjekten subsumiert. Als solches bildet es heute wiederum einen Teilaspekt eines ästhetisch und theatral ausagierten Diskurses um die entgrenzenden Potenziale des Körpers im Spannungsfeld von Ordnung und Freiheit, von Disziplinierung und Utopie.
Postmoderne und Deformation
2. Das Theater als bürgerliches Medium seit dem 18. Jahrhundert Theater als Medium der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert Das Europa des 18. Jahrhundert gilt als Zeitraum der Entstehung und Emanzipation des Bürgertums zur gesellschaftlich relevanten und zunehmend tonangebenden Schicht. Mit der Abgrenzung gegen das System der absolutistischen Feudalherrschaft und deren Repräsentationsmedien versuchten die
Bürgerliches und populäres Theater
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IV. Historische Formationen
Literarisierung des Theaters
Bildungsanspruch des Theaters und Charakterinterpretation
Natürlicher Schauspielstil und Kostümreform
vor allem in der Wirtschaft und der staatlichen Verwaltung erfolgreich agierenden Bürger über das Medium des Theaters ein eigenes Forum zu schaffen, das ihre Identität reflektierte. Diese neue vorstellungsweltliche wie institutionell sich ausprägende Tendenz, die sich erst im englischen, dann im französischen und zuletzt im deutschen Sprachraum verwirklichte, zeitigte vor allem zwei neue Entwicklungen, welche die Zeit bis um 1900 entscheidend bestimmten. Zum einen die neue Form des bürgerlichen Dramas, vor allem des weinerlichen oder empfindsamen Lustspiels und des bürgerlichen Trauerspiels, das zum Vorbild trivialerer Dramen wie des Rührstücks wurde. Zum anderen eine innovative, illusionsfördernde Theaterästhetik. Dies sollte noch nicht von der Ausstattung, jedoch vor allem durch einen natürlichen Schauspielstil erreicht werden (vgl. Maurer-Schmoock 1982; Fischer-Lichte 1983; Fischer-Lichte 1993; Heeg 2000). Das gedruckt vorliegende Drama rückte in den Mittelpunkt. Die Theaterreform des 18. Jahrhunderts unterstützte die Literarisierung des Theaters. Die Dramatik sollte die Funktion einer Vermittlerin der geistigen Situation der Zeit und der wichtigsten Diskurse der Epoche erfüllen (vgl. Steiner 1963; Szondi 1972; Guthke 1972; Graf 1992; Mönch 1992). Damit blieb das wirkungsträchtige deutschsprachige Drama nicht mehr nur auf eingeschränkte Öffentlichkeiten wie z. B. das protestantische Schultheater beschränkt, das nicht wie das Jesuitentheater auf die lateinische Sprache zurückgriff und so schon früh einen literarisch gebundenen Spielplan vorstellte. Von der dramatischen Vorlage ausgehend, hatte sich die Bühneninszenierung nun an den Erfordernissen einer vergleichsweise psychologisch nachvollziehbaren und realistischen Schauspielkunst zu orientieren. Während im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die seit René Descartes vorherrschende Subjekt-Objekt-Verbindung in die Problematik einer isolierten Subjektivität und einer isoliert materiellen Verfügung über die Gegenstandsbereiche zerfiel, provozierte der im Prozess der Emanzipation entstehende Individualismus ein mentales Regelwerk für den gesellschaftlichen Umgang. Im Mittelpunkt stand nun die ethisch-moralische Sittlichkeit, die Teil des Bildungsanspruches und -auftrages des Theaters wurde (HaiderPregler 1980). Diese wurde auch zur Grundlage der strengeren Beobachtung des Anderen, der nun nicht mehr anhand seiner äußeren, künstlichen Zeichen wie Kleidung und kodifiziertem Verhalten (Sennett 1983), sondern über seine als natürlich gedeuteten Zeichen bewertet wurde (Fischer-Lichte 1983). Von diesen natürlichen Zeichen des Verhaltens wie auch der körperlichen Erscheinung sollte auf Charakter, emotionale Befindlichkeit, letztlich auf die persönliche und gesellschaftliche Berechenbarkeit hin geschlossen werden. Man darf sich diese Orientierung an natürlichen Zeichen nicht als im heutigen Sinne hochgradigen Realismus oder Naturalismus vorstellen. Sie war zuerst einmal eine Tendenz, die insbesondere einen natürlichen Schauspielstil einforderte. Der Schauspieler Konrad Ekhof mit seiner 1753 gegründeten Schauspieler-Akademie und um die Jahrhundertwende der Berliner Intendant August Wilhelm Iffland waren in diesem Sinne wegweisend. Für die Kostüme wurde besonders der Nachfolger Ifflands in Berlin, Karl Graf Brühl, wichtig, der nach 1814 eine einflussreiche Kostümreform einleitete, indem er seine Kostüme nicht an phantastischen Einfällen oder der Bühnentradi-
2. Das Theater als bürgerliches Medium seit dem 18. Jahrhundert
tion, sondern an ethnologischen und anthropologischen Diskursen der Zeit anlehnte (Bayerdörfer/Englhart 2003). Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand mit dem bürgerlichen Trauerspiel eine neue dramatische Form, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass sie, was die Handlung und die Figuren betrifft, die Lebenswelt des bürgerlichen Publikums abbildete. Mit der vertrauten Lebenswelt war vor allem der familiär-häusliche Bereich gemeint. Die Kleinfamilie entzog sich dabei als Refugium des Bürgers zunehmend dem Herrschaftsbereich des Adels. Zugleich wurde jedoch der Hausvater als neuer ,Herrscher‘ eingesetzt. Eigentlich ist der Begriff des bürgerlichen Trauerspiels früher eingeführt worden als die dramatische Form, wie wir sie heute kennen. Schon in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts sprach man in Frankreich von der tragédie domestique et bourgeoise, doch damit meint man eigentlich die comédie larmoyante, also das weinerliche Lustspiel. Johann Christoph Gottsched empfahl dieses 1751 in seiner Critischen Dichtkunst als bürgerliches Trauerspiel; heute würden wir dieses als Tragikkomödie bezeichnen (Gottsched 1962 [1751]). Gottsched installierte das französische klassische Vorbild vor dem Hintergrund des stärker werdenden rationalistischen Denkens. Er forderte, dass die Handlung an den angeblichen Regeln der aristotelischen Poetik Maß nehmen und von einem moralischen Lehrsatz her entwickelt werden sollte. Gotthold Ephraim Lessing widersprach dem Professor Gottsched, der auch der Herausgeber einer „Moralischen Wochenschrift“ war, heftig. Er bevorzugte die regellosen Dramaturgien der Shakespeare’schen Dramen. Entscheidend für das bürgerliche Trauerspiel war dann nicht Frankreich, sondern das sich empirischer ausrichtende England. An erster Stelle stand George Lillos bürgerliches Trauerspiel Merchant of London aus dem Jahr 1731. Zu nennen wären auch Edward Moores The Gamster von 1753 oder Richard Steele als paradigmatischer Vertreter des weinerlichen Lustspiels. Dass England eine Vorreiterrolle übernahm, war keineswegs ein Zufall, da sich dort das Bürgertum schon im 17. Jahrhundert mit der Declaration of Rights und der konstitutionellen Monarchie seinen Aufstieg früh erkämpfte. Neu war, dass in den Dramen bürgerliche Helden, von ihrem Beruf her Kaufleute, agierten, die sich über ihren persönlichen wirtschaftlichen Erfolg definierten und innerhalb der Gemeinschaft der Händler auf ihr Ansehen achteten. Dass etwas Neues für die bürgerliche Bühne gesucht wurde, hatte seinen Grund auch darin, dass den bürgerlichen Zuschauern die Haupt- und Staatsaktionen zunehmend fremd wurden; sie hatten Mühe, sich damit zu identifizieren, denn sie entsprachen immer weniger ihrer sich verändernden Lebenswelt. Die Ständeklausel, welche die dramatische Gattung definierte, fiel. Der Bürger, bis dahin nur Held der Komödie, wurde tragödienfähig. Das hatte er sich auch aufgrund seiner wirtschaftliche Tüchtigkeit, seines individuellen Erfolgs, seiner Intelligenz und seiner überlegenen Moral verdient. In Deutschland war es dann Lessing, der die Ständeklausel verabschiedete. Damit die bürgerlichen Zuschauer sich mit dem Helden des Dramas identifizieren konnten, war es seiner Meinung nach notwendig, dass der Held vollkommen so denken und handeln müsste, wie es der Zuschauer in derselben Situation gedacht oder getan hätte. Das betraf den gesellschaftlichen, insbesondere den beruflichen Alltag, aber auch den innerfamiliären
Bürgerliches Trauerspiel und Kleinfamilie
Weinerliches Lustspiel und Gottsched
Englands Vorreiterrolle und Bürgertum
Bürgerliche Charaktere
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IV. Historische Formationen
Von Diderot bis Kotzebue
Performanz der bürgerlichen Bühnenerscheinung
Bereich. In diesem suchte der bürgerliche Held seinen Halt: Die bürgerliche Familie fundierte seine eigene Welt, daher war sie zu schützen, ihr Zusammenhalt durfte nicht gefährdet sein. Aber nicht nur England und Deutschland, sondern auch Frankreich entwickelte bürgerliche Theaterformen. Diderot, der zusammen mit d’Alembert die Encyclopédie herausgab, schuf das drame sérieux, das sich, was die Gattung betrifft, zwischen Tragödie und Komödie einordnen lässt. Seine Dramen Le Fils naturel von 1757 und Le Père de famille von 1758 sind, laut einem eigenen Kommentar, als tragédie domestique so etwas wie eine häusliche Komödie. Die Figuren agierten von ihrem Stand her auf der bürgerlichen Ebene. Noch wichtiger war Diderot aber die Familie, in deren Raum sich die Figuren in ihrer Natürlichkeit bewegten. In Deutschland beobachten wir Ähnliches. Nur war dieser familiäre Raum bis ins 19. Jahrhundert vor allem in den trivialen Nachahmerstücken des bürgerlichen Trauerspiels, in den Stücken von Iffland, August von Kotzebue und Charlotte Birch-Pfeiffer oft von Angehörigen des niederen Adels besetzt (Glaser 1969). Dies weist darauf hin, dass es über die Auseinandersetzungen zwischen den Ständen hinaus im bürgerlichen Theater der Zeit um Bildung, Moral, Auftreten, gesellschaftliche Erscheinung und das Gefühl für den Anderen ging. Bürgerlichkeit im Sinne eines identitätsstiftenden Entwurfs des Selbst im Medium des Theaters zielte auf den Bezug zum Mitmenschen innerhalb der gesellschaftlichen Stellung, des Berufs wie des häuslichen und familiären Raums. Dementsprechend waren Handlung und Figurenkonstellation um den engen Bezug zwischen Liebenden, Ehepartnern sowie zwischen Kindern und Eltern zentriert. Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass sich im bürgerlichen Trauerspiel und seinen trivialen Nachahmerstücken die Handlung vom öffentlichen, gesellschaftspolitischen Leben in die familiär-häusliche Welt verlagerte, während paradoxerweise die Diskussion darüber in der gerade entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit der Lesezirkel, der Salons, des zunehmenden Buchmarktes und des sich dem bürgerlichen Publikum öffnenden stehenden Theaters stattfand (Habermas 1990). Mit dem Wandel der dramatischen Form veränderte sich der Begriff des Tragischen. War es bis dahin so, dass der Held in der klassischen Tragödie ein grausames Schicksal erlitt, das sich weitgehend seinem Einfluss entzog, so wurde der bürgerliche Held und damit auch der Zuschauer nun zunehmend damit konfrontiert, dass ein ungünstiges Schicksal auf den eigenen Charakter und dessen eigenes Verhalten zurückzuführen war. Das bedeutete für den Bürger ganz konkret eine wachsende Zuschreibung an Eigenverantwortlichkeit. Damit ging eine sich verstärkende Idiosynkrasie nicht nur gegenüber eigenen inneren Zuständen, sondern auch für den mehr oder weniger verborgenen Charakter des Anderen einher. Man interessierte sich überwiegend für das Innerseelische und die Motive des Anderen. Daher wurden die körperliche Erscheinung und der Schauspielstil über die vom Schauspieler verkörperte Figur hinaus relevant. Vor dem Hintergrund der entstehenden Anthropologie, Psychologie und Physiognomik wollte man wissen, was sich hinter der Oberfläche der Erscheinung des Anderen verbarg bzw. auf welches Innenleben die korporalen und performativen Zeichen verwiesen. Damit erweiterte sich im 18. Jahrhundert, was das Theater und die bürgerliche Iden-
2. Das Theater als bürgerliches Medium seit dem 18. Jahrhundert
tität betraf, die dramatische Form des bürgerlichen Trauerspiels hier ganz entscheidend hin zur Inszenierung, also zur Performanz der Bühnenerscheinung (vgl. Ruppert 1995; Fischer-Lichte/Schönert 1999). Politisch wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im bürgerlichen Trauerspiel sichtbar, dass in Deutschland die fehlende Revolution noch lange nachwirkte. Während etwa in England das wirtschaftlich erfolgreiche Bürgertum der Kaufleute eine starke und durchaus selbstbewusste sowie zuweilen tonangebende Mittelschicht bildete, sublimierte sich das Revolutionäre in Deutschland erst einmal in der Imagination der Figuren, vor allem im imaginären Bezug zum Mitmenschen. Deutlich wird dies etwa in Lessings Miß Sarah Sampson aus dem Jahre 1755, das als das deutsche Trauerspiel schlechthin Schule machte. Lessing orientierte sich am Vorbild Diderot, für ihn der philosophischste Denker seit Aristoteles, dessen Hausvater er als außerordentliches Drama wertete. In Lessings Stück kann man, was die Handlung betrifft, sehr gut erkennen, dass es vornehmlich weniger um einen Konflikt zwischen den Ständen ging, sondern um die Empfindsamkeit für den Anderen in einem überschaubaren Personenkreis. Die Rührung als leitende Emotion rückte in den Vordergrund, sowohl im Verhältnis der Personen im Stück untereinander als auch als Wirkungsziel beim Zuschauer. Rührung sollte nicht nur nebenbei erreicht werden, sondern wurde als Mittel angesehen, den bürgerlichen Zuschauer als Charakter zu bessern bzw. zu vervollkommnen. In der Identifikation mit den Empfindungen und dem Verhalten auf der Bühne sollte die bürgerliche Tugend verbessert werden. Lessing verfolgte dabei dezidiert ein Programm der Überführung der Affekte in sozial wertvolle Mentalitäten, vor allem in diejenige des Mitleids, denn, so Lessing, der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch (Lessing 1982). Damit das bürgerliche Trauerspiel und das Theater dies leisten konnten, hatten die bürgerlichen Dramatiker, aber auch die Schauspieler dafür Sorge zu tragen, dass auf der Bühne eine theatrale Welt zu sehen war, deren Ähnlichkeit mit der Lebenswelt der bürgerlichen Zuschauer das Mitempfinden mit dem Schicksal der bürgerlichen Helden möglich machte. Dabei war zur Unterstützung der Illusion durch eine in sich abgeschlossene theatrale Welt zu vermeiden, weiterhin wie üblich die Zuschauer direkt anzusprechen, die Vierte Wand als ästhetische Grenze zwischen Kunst- und Realraum verstärkte sich immens. Bereits Diderot suchte, das „Wahre auf der Bühne“ herzustellen. Unter dem Wahren verstand er jedoch keineswegs, die „Dinge so zu zeigen, wie sie in der Natur sind“, vielmehr bemühte er sich um die „Übereinstimmung der Handlungen, der Reden, der Gestalt, der Stimme, der Bewegung, der Gebärde mit einem vom Dichter erdachten ideellen Modell“ (Diderot 1967). Lessing orientierte sich an Diderot, er legte die Charaktere seiner Figuren als gemischte an, so dass sie einerseits an der Realität gemessen werden konnten, wenngleich sie andererseits schon noch einen idealen Zug aufwiesen, der das Besondere und Allzuniedrige zurückdrängte. Auf dem bürgerlichen Theater wurde ein bürgerliches Menschenbild sichtbar, das als missing link zwischen dramatischem Text und theatraler Inszenierung, insbesondere der Schauspielkunst, vermittelte. In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts verschärften sich dann ebenfalls in Deutschland auf der Bühne die Konflikte zwischen den Ständen. Lessing
Mitleid und Furcht
Illusion und Vierte Wand
Gemischte Charaktere
Bürgerliche Moral und Adelskritik
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IV. Historische Formationen
Sturm und Drang
Nationale Identität und erstes Nationaltheater
Aufstieg der Nationaltheater
stand auch hier am Anfang der Entwicklung mit seiner berühmten Emilia Galotti von 1772, die er während seiner Arbeit als erster Dramaturg der Theatergeschichte für das erste, letztlich an den Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums und dem Mangel an bürgerlichen Dramen gescheiterte deutsche Nationaltheater in Hamburg (1767–69) schrieb. In diesem Stück wurde für jedermann sichtbar Kritik an der Sittenlosigkeit und Willkür des Adels geübt. Die bürgerliche junge Heldin stand für die gefährdete Tugend des Bürgertums, ein Handlungsmuster, das noch in den späteren Erfolgsstücken Kotzebues und Birch-Pfeiffers immer wieder zu finden ist. Bis zu Friedrich Schillers Kabale und Liebe von 1784 wurde die Differenz zwischen dem Selbstbewusstsein des Bürgers und der immer noch durch den Adel entscheidend geprägten gesellschaftspolitischen Realität immer deutlicher. Fast eruptiv gestaltete sich der Konflikt im Sturm und Drang – als Titel der Epoche vom gleichnamigen Schauspiel Friedrich Maximilian Klingers übernommen – vor allem in Lenz’ Der Hofmeister von 1774 und Die Soldaten von 1776 sowie in Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderin (1776). Theatergeschichtlicher Höhepunkt dieser Zeit war ohne Zweifel die Uraufführung von Schillers Die Räuber 1782 in Mannheim, die in ihrer Wirkung beim Publikum einem veritablen Theaterskandal der heutigen Zeit in nichts nachstand. Generell trat im Theater des Sturm und Drang das Familiär-Häusliche und Empfindsam-Mitmenschliche zugunsten der Probleme, die sich aus der gesellschaftlichen Stellung der Hauptfiguren ergaben, in den Hintergrund, während der Beruf als Handwerker, Offizier, Kaufmann etc. wichtig wurde. Das Theater des Bürgers konstituierte sich jedoch nicht nur in der konfliktträchtigen Abgrenzung zum Feudalsystem, sondern verstand sich zunehmend auch als Medium, das der nationalen Identität der Deutschen Vorschub leisten sollte. Bevor diese Realität werden konnte, kursierte schon im 18. Jahrhundert eine Vielzahl an Programmschriften, die ein Nationaltheater der Deutschen forderten. Mit seinem bekannten Vortrag Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? aus dem Jahre 1784 diente Schiller das Theater dem Staat als Instrument an, das über die Beschränktheit der weltlichen Gesetze hinaus wirkte und in der Lage sein sollte, die sittliche Bildung des Bürgers zu vervollkommnen (Schiller 1993). Freilich hat sich auch der Adel von der bürgerlichen Bühne zeigen lassen müssen, was er sonst kaum zu Gesicht bekommen hätte: ein bürgerliches Menschenbild, dem die Zukunft gehörte. Das Theater diente so dazu, den Geist der Nation auf der Grundlage der bürgerlichen Vorstellungswelt zu prägen. Dass in realiter schon lange zuvor Lessing die Hamburger Entreprise, also das erste Nationaltheater der Deutschen, als „gutherzigen Einfall“ tadeln musste, weil die Deutschen in ihrer politischen Konstellation der Kleinstaaterei ja noch gar keine Nation seien, und auch später die Idee des Nationaltheaters erst einmal nicht vom Bürgertum, aber aus taktischen Gründen von den Höfen aufgegriffen und realisiert wurde, zeigt den Sonderweg der ,verspäteten deutschen Nation‘. Nachdem das bürgerliche Nationaltheater in Hamburg aus wirtschaftlichen Gründen gescheitert war, wenn man von Lessings dafür verfassten grundlegendem Werk der Hamburgische Dramaturgie absieht, entstanden unter der Ägide der adeligen Feudalherrscher in Wien, Mannheim, Berlin,
2. Das Theater als bürgerliches Medium seit dem 18. Jahrhundert
München und Weimar zumindest dem Titel nach Nationaltheater. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass sich die machtbewussten Herrscher einer nationalen Zentralgewalt unterwerfen wollten. Ganz im Gegenteil vereinnahmten sie die Idee eines Nationaltheaters, um ein solches als bürgerliches und damit unkontrollierbares Theater zu verhindern. Außerdem wollten sie Geld sparen, war doch die Bespielung der Hoftheater etwa durch italienische Opernensembles äußerst kostspielig. So erschien es den adeligen Herrschern lukrativ, das finanzkräftiger werdende Bürgertum in die Theater zu lassen, um Häuser und Produktionen über den Eintritt besser finanzieren zu können. Die gefährliche Idee eines bürgerlichen Nationaltheaters wurde dadurch entschärft, dass man die deutschen Schauspieler, denen man eine Anstellung gab, und das bürgerliche Publikum in das Theater einband und als potentielle Unruhefaktoren ruhig stellte. Das populäre bürgerliche Theater des 19. Jahrhunderts Was als kulturelles und politisches Zentrum einer Nation und als potentieller Ausgangspunkt einer Revolution ausfiel, fand seinen Ersatz auf der imaginären Ebene. Neben dem führenden Berliner Hof- und Nationaltheater, u. a. unter dem einflussreichen Intendanten Iffland, bildete sich in der Provinz, in Weimar, das geistige Zentrum Deutschlands. Nachdem sich eine intellektuelle, bürgerliche Führung national nicht herstellen ließ, konnte sich der imaginäre Mittelpunkt, heute bekannt als Weimarer Klassik, nur unter der Ägide eines aufgeklärten Fürstenhofes entwickeln, der – als Spiegel der Kleinstaaterei Deutschlands – eigentlich zu den kleineren gehörte. Nachdem man unter den deutschen Intellektuellen die Französische Revolution durchaus positiv wahrnahm, wandelte sich das Bild aufgrund der gewaltsamen Pariser Entwicklungen. Johann Wolfgang von Goethe folgend, transponierte man das Erhoffte auf die höhere, geistige Ebene der Sittlichkeit. Mit der Idealisierung der Wirklichkeit im Raum des ästhetischen Scheins, die im klassischen Theatertext der Iphigenie und des Torquato Tasso ihren dramatischen Ausdruck fand, ging man der aktuellen Realität aus dem Wege, ohne seine Hoffnungen aufzugeben. Was sich in der entsprechenden Konzeption einer dramatischen Form niederschlug, konnte auch für die am Weimarer Hoftheater entwickelte, dezidiert antinaturalistische Inszenierungspraxis gelten, für die Goethes Regeln für Schauspieler standen. Bei Goethe sollte, gegen den Trend der Zeit, das Charakteristische gegenüber dem Idealischen und Typischen zurücktreten. Dass es Goethe und Schiller in Weimar gelang, im Theater ein dem Niveau der klassischen Texte entsprechendes Publikum heranzuziehen, ist eine oft kolportierte Mär. Tatsächlich war, wie man dem Spielplan des Weimarer Theaters unter der Intendanz Goethes entnehmen kann, auch hier der überall gespielte und außerordentlich erfolgreiche Kotzebue der meistgespielte Autor. Goethe musste am Ende gehen, weil er sich weigerte, ein Stück zu spielen, in dem ein dressierter Hund die Hauptrolle spielte – dies weist auf die realen Theaterverhältnisse der Zeit. Diese realen Verhältnisse im deutschen Theater um 1800 und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts boten auf breiter Basis die populären Formen des bürgerlichen Trauerspiels, die bürgerlichen Familiengemälde und wirkungsvollen Rührstücke Ifflands, Karl von Holteis oder Kotzebues. Da neue-
Berlin und Weimar, Iffland und Goethe
Goethes Regeln und sein Spielplan
Familiengemälde und Rührstücke
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IV. Historische Formationen
Kotzebue und Goethe
Birch-Pfeiffer als Erfolgsdramatikerin
Nestroy und Carl
Undramatisches Theater des 19. Jahrhunderts
ste Forschungen ergeben, dass diese trivialen Stücke nicht generell harmlos und ästhetisch ungenügend sind, wäre das Adjektiv trivial in diesem Zusammenhang einer Revision zu unterziehen. Nicht immer zeigen diese sogenannten Trivialdramen Figuren, die der Obrigkeit und dem Staat untertänig ergeben sind, nicht in jedem Fall sind diese unpolitische, regional verankerte Biedermänner, deren Wirkungskreis über die bürgerliche Familienwelt nicht hinausgelangt. So ist etwa Kotzebues radikales Stück Negersklaven mit seiner äußerst riskanten Parteinahme für die Abolition und der vehementen Anklage sowie sehr plastischen Schilderung von Sklavenhandel und Sklavenhaltung von einer Radikalität und anklagenden Schärfe, die in dieser Zeit allenfalls von Georg Büchner erreicht wurde. Kotzebue war zudem einer der am meisten zensierten Autoren seiner Zeit, seine in den Dramen gebotenen erotischen Grenzüberschreitungen verblüffen sogar heutige Leser. Keineswegs wurde, wenn man Kotzebue als Maßstab nimmt, im bürgerlichen Rührstück der Zeit nur brav eine angepasste bürgerliche Identität bestätigt. Der Erfolgsdramatiker ließ keine Gelegenheit verstreichen, in seinen Stücken jede aktuelle Geistesströmung zu diskutieren und oft der Lächerlichkeit preiszugeben. Seine Stücke sind, wenn man sie mit denen Goethes vergleicht, mit dem er eine Dauerfehde führte, die durchgehend frecheren; zudem kann man an ihnen sehr gut die konkreten Mentalitäten und Ideen der Zeit ablesen. Auch die einige Jahre später erfolgreichste Dramatikerin ihrer Zeit, Charlotte Birch-Pfeiffer thematisierte, wenn auch im Vergleich zu Kotzebue vorsichtiger, die ständigen Konflikte zwischen den Ständen und Milieus der Gesellschaft (Pargner 1999). So ist es also keineswegs angemessen und letztlich einem verfälschenden philologischen Blick zu verdanken, die sogenannte Trivialdramatik, welche die deutschen Bühnen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte, geringzuschätzen und weniger erfolgreiche Dramatiker der damaligen Zeit wie Karl Gutzkow und Büchner als alleinige Vertreter des Theaters der ersten Hälfte den 19. Jahrhunderts zu sehen. Bekannter, aber immer noch völlig zu unrecht in der harmlos-komischen Ecke angesiedelt, ist Johann Nestroy, der nicht nur einer der intelligentesten, sondern auch einer der wagemutigsten Dramatiker seiner Zeit war. Sein Intendant Carl, der das bedeutendste Massenmedium seiner Zeit, das Theater an der Wien, leitete, war ein kongenialer Regisseur, dessen Inszenierungen in ihrer Experimentierlust und ihrem Erfindungsreichtum auf das Regietheater des 20. Jahrhunderts vorauswiesen. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht, und damit aus der genauen Analyse der Spielpläne der wichtigsten Theater der Zeit, ergibt sich, dass man sich immer noch meist ein falsches Bild über die tatsächliche Bedeutung des gehobenen Theaters macht. Denn neben den an Dramen orientierten Inszenierungen sah man im Theater, wie in einem Varieté oder einem Zirkus, eine Vielzahl an zugkräftigen Attraktionen. Außer den populären Dramen und Rührstücken gab es Tierdarsteller, Tänzer, Akrobaten und Ähnliches zu bestaunen. Zudem wird eine Spartentrennung in Sprech-, Musik- und Tanztheater, wie wir sie heute kennen, dem damaligen Theater nicht gerecht. So waren der Gesang wie etwa das Couplet und der Tanz, z. B. ein artistischer Affendarsteller bei Nestroy, nahtlos in das Drama integriert (Englhart 2005; Linhardt 2006). Das 19. Jahrhundert war also keineswegs, wie in vielen
2. Das Theater als bürgerliches Medium seit dem 18. Jahrhundert
theaterhistorischen Darstellungen zu lesen, ein dramatisches, was die Theater betrifft. Ganz im Gegenteil waren die korporalen und improvisatorischen Elemente oft so stark, dass es der Zensur zu ihrem Leidwesen nicht gelang, die Bühne in ihrem Sinne politisch in den Griff zu bekommen. Natürlich stieg etwa mit Karl Leberecht Immermann und seiner Düsseldorfer Musterbühne ab 1832 der Dramaturg als Anwalt der Literatur im Theater im Ansehen, und selbstverständlich forderte man nicht selten eine Hebung des Niveaus der Bühne im Sinne einer grundlegenden Theaterreform. Dies gelang auch hie und da. Man bemühte sich auf einigen Bühnen, so u. a. Heinrich Laube und Franz von Dingelstedt am Wiener Burgtheater, um eine sogenannte werkgerechte Inszenierung, was ganz besonders das Verhältnis von dramatischem und theatralem Text betraf. Manchmal, aber nicht in jedem Fall, waren die Hof- und Nationaltheater eher ein Bildungstheater, als die meist konsequent am Erfolg orientierten Vorstadttheater. Dass aber 1848 aus dem Volkstheater das politisch prägnanteste Theater entwickelt wurde – man denke nur an Nestroys Freiheit in Krähwinkel –, zeigt, dass es gegenüber dem Bildungstheater und der Theaterreform keineswegs zurücksteht (Klotz 1980). Zudem tradierten sich im populären Theater der Zeit gerade die Attraktionselemente, die dann später in das theaterästhetische Programm der historischen Avantgarde überführt wurden. Der Naturalismus als bürgerliche Ästhetik Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 musste das Bürgertum auf politische Macht verzichten (vgl. Bayerdörfer 1992). Insbesondere Kunst und Wissenschaft hatten der nationalen Identität zuzuarbeiten. Mit dem Siegeszug des Darwinismus wurde der Naturalismus vorbereitet. Es entstand die Pflege der Klassiker, um den Werten der Nation einen dramatischen Ausdruck zu geben, sie bildeten nun den bürgerlichen Bildungskanon. Die an den Hoftheatern dominierenden Kavalierintendanzen gingen immer mehr in die Leitung von bürgerlichen Theaterfachleuten über. Zugleich dominierte weiter die Trivialdramatik, die meist auf der Grundlage einer realistischen Ästhetik in einer geschlossenen Zimmerdekoration aufgeführt wurde. Dem Erstarken des Historismus im 19. Jahrhundert folgte auch das avancierte Theater. Nachdem im Land Sachsen-Meiningen die Hofoper aufgelöst wurde, bildete sich 1867 das Schauspielensemble des Herzogs Georg II., welches mit seinen Reformen so außerordentlich stilprägend wurde, dass sich noch Stanislawskij von einem Gastspiel dieser Truppe in Moskau 1890 inspirieren ließ. Geprägt durch den Ausstattungshistorismus, der schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Trend zum Charakteristischen, wie etwa in der Kostümreform Brühls für das Hoftheater Berlins nach 1814, sichtbar wurde und in der Oper als Zug zur Couleur locale zur Anwendung kam, wurde die historische Genauigkeit der Ausstattung zum obersten Gebot der Meininger. Konkret muss man sich vor Augen halten, dass es zu dieser Zeit eigentlich üblich war, auf der Bühne für die Aufführung eines dramatischen Textes aus dem gleichen Genre eine immer wieder benutzte Einheitsdekoration zu zeigen. Diese entwickelte sich aus der Barocktradition, man benutzte Typendekorationen, die aus gemalten Kulissen und Prospekten aufgebaut waren. Mit ihren akribisch erarbeiteten Bühnenbildern beseitigten die Meininger dieses Ausstattungsunwesen. Zudem setzten sie gegen die Mode
Dramaturg als Anwalt der Literatur
Bürgerlicher Bildungskanon und Klassiker
Historismus und Naturalismus
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IV. Historische Formationen
Freie Bühnen und die Zensur
Naturalismus und soziale Frage
des reisenden Starschauspielers, des Virtuosen, das unbedingte Ensembleprinzip durch. Dies wirkte sich insbesondere in den außerordentlich harmonisch choreographierten Massenszenen positiv aus (Hoffmeier 1988). Für das bürgerliche Selbstverständnis bedeuteten diese Bemühungen um eine wissenschaftlich und historisch genaue Darstellung eine Rücknahme imaginierter Beliebigkeit. Hierbei setzte sich über die Distanz des Publikums zum nun immer fremder werdenden, durch die vierte Wand sich abschließenden Bühnenraum eine zunehmende Relativierung des Gezeigten im Bezug zur eigenen bürgerlichen Lebenswelt durch. Insbesondere auf ihren Gastspielreisen, unter anderem 1874–1887 nach Berlin, 1880 nach London und 1885 sowie 1890 nach Moskau, verbreiteten die Meininger einen Inszenierungsstil, den die städtischen Bühnen des Naturalismus zum Maßstab nahmen. Als freie Bühnen wandten sie sich dezidiert gegen eine zu große Abhängigkeit von ökonomischen Kriterien und die ständigen Abhängigkeiten von der Zensur. Ihr Hauptziel war, der sozialen, radikalen Dramatik des Naturalismus, die zudem eine völlig neue Ästhetik der Bühne zeitigte, die Aufführung zu ermöglichen. Die Freien Bühnen, unter ihnen die älteste, das Pariser Théâtre libre des André Antoine, wurden als eigene Bühnen für das soziale Drama des Naturalismus gegründet. Die erste dieser Bühnen war in Deutschland ab 1889 die Berliner Freie Bühne; von dort trat der Naturalismus seinen Siegeszug in den deutschen Theatern an. Nicht die Spekulation, sondern die Beobachtung und das Experiment sollten im Vordergrund stehen. In Paris setzte Émile Antoine Zolas theoretische Überlegungen um, in Berlin folgte ihm Otto Brahm, der dem naturalistischen Drama, vor allem dem Gerhart Hauptmanns, in Deutschland zum Durchbruch verhalf. Um dessen Vor Sonnenaufgang überhaupt aufführen zu können, musste, um der Zensur zu entgehen, ein Verein gegründet werden, der von bürgerlichen Abonnementen getragen und finanziert wurde. Schon Hauptmanns erstes Stück war ein unglaublicher Skandal. Mit dem Naturalismus kam auch die soziale Frage auf die Bühne, soweit die Naturalisten ihre Berührungspunkte mit dem Sozialismus entdeckten. Einige von ihnen konvertierten dann aber wieder zu Friedrich Nietzsches Feier des Individuums. Seine Philosophie wurde zur Mode um die Jahrhundertwende und zur Grundlage der Theateravantgarde, später dann auch der neoavantgardistischen Postdramatik seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Der Naturalismus, der auf der Bühne mit dem Symbolismus schnell obsolet erschien, wurde zur medialen Grundlage der Film- und Fernsehästhetik: Vor allem die Fernsehserie übernahm Wirkungsmuster des bürgerlichen Rührstücks und der naturalistischen Schauspielästhetik des 19. Jahrhunderts.
3. Theater als Experiment – Gesamtkunstwerk und Avantgarde Zusammenwirken der Künste
Die zum ersten Mal innerhalb der deutschen Romantik programmatisch vertretene Vorstellung von einem Gesamtkunstwerk, das sämtliche anderen Kunstarten integriert und als solches in der Lage ist, den Menschen in der Totalität seiner Vermögen anzusprechen, scheint durch das Theater als we-
3. Theater als Experiment – Gesamtkunstwerk und Avantgarde
sensmäßig multimediale Kunstform strukturell am besten realisierbar. Freilich wirft die Idee des Zusammenwirkens verschiedener Künste zugleich die Frage auf, ob und inwieweit deren formale Differenzen überhaupt zu überbrücken sind und unter welchen Voraussetzungen eine ästhetische Synthese geleistet werden kann. Genau diese Problematik sowie die vorgeschlagenen Lösungen haben in ihrer Gesamtheit die Entwicklung des modernen Theaters bis heute wesentlich beeinflusst (vgl. Hiß 2005). Richard Wagners „Gesammtkunstwerk“ Geistesgeschichtlich gegen einen aufgeklärten Rationalismus gewandt sowie als Antwort auf die sozialen Entfremdungserscheinungen der modernen Industriegesellschaft, überhöhten die Exponenten der deutschen Romantik Kunst zur Neuen Mythologie. Die romantische Kunsttheorie formulierte somit ein Heilsversprechen, das in erster Linie auf die ästhetisch zu leistende Wiederherstellung einer verloren gegangenen Einheit – in anthropologischem, sozialem und ontologisch-universalistischem Sinne – abzielte. Zur Erreichung einer ästhetischen Totalitätserfahrung dieser Art wurde eine universalpoetische Verschmelzung der Gattungen innerhalb der literarischen Produktion gefordert, wobei zunächst das Drama zum eigentlichen Paradigma eines Universalkunstwerks (F. Schlegel) aufgewertet wurde. Damit war zwar eine moderne Entgrenzung der dramatischen Form auf epische und lyrische Strukturen inauguriert. Für die weitere Entwicklung des Theaters jedoch erbrachte diese auf die Literatur beschränkte Forderung keine unmittelbaren Folgen. Die wesentlichen Impulse für die Theaterkunst kamen erst aus den Bestrebungen zu einer Reform der Oper. In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte Richard Wagner mit seinen Zürcher Reformschriften Die Kunst und die Revolution (1849), Das Kunstwerk der Zukunft (1849) und Oper und Drama (1850/1851) und dem darin theoretisch entworfenen Begriff des Gesamtkunstwerks in der Tat den wichtigsten Stimulus für die weitere Entwicklung des modernen Theaters (vgl. Borchmeyer 1982). In Wagners Beiträgen wurde zum ersten Mal dezidiert das Theater in Gestalt der Oper als strukturelles Äquivalent einer von den romantischen Exponenten eingeforderten universal-synthetischen Ästhetik reflektiert. Wagners Ideen zielten konsequent auf das Zusammenwirken von Musik und Dichtkunst sowie der anderen am Theater beteiligten Einzelkünste innerhalb einer Wirkungseinheit ab, in der jedes Element funktional auf die Darstellung der inneren dramatischen Handlung bezogen wurde. Das Gesamtkunstwerk, welches „dem Inhalt und der Form nach aus einer Kette […] organischer Glieder“ (Wagner 1887/88 Band 4, 196) besteht, ergab sich für Wagner keineswegs aus der bloßen Addition von Einzelkünsten, sondern es war geradezu an deren Auflösung zugunsten eines durchgegliederten Syntheseganzen gebunden: Das große Gesammtkunstwerk [!], das alle Gattungen einer Kunst zu umfassen hat, um jede dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzwecks [!] aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur […]. (Wagner 1887/88, Band 3, 60)
Das romantische Universalkunstwerk
Wagners Zürcher Reformschriften
Synthese der Künste
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IV. Historische Formationen Ästhetischanthropologischsoziales Konzept
Auch bei Wagner wurde – diesmal vor dem Hintergrund der politischen Umwälzungen um 1848/49 – das ästhetische Ideal eng an eine anthropologische und darüber hinaus an eine soziale Zielvorstellung gekoppelt. So verstand er das Gesamtkunstwerk als Paradigma einer revolutionären Kunst, die auf gesellschaftspolitische Kontexte unmittelbar verändernd einwirkt. Es ging Wagner dabei einmal um die Überschreitung des klassischen, auf Geschlossenheit zielenden Werkbegriffs mit seinem Zentralkriterium der auktorialen Integrität. Das Gesamtkunstwerk firmierte nicht mehr als die „willkürlich mögliche That [!] eines Einzelnen, sondern […] das nothwendig [!] denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft“ (Wagner 1887/88, Band 3, 60). Die ästhetische Syntheseleistung sollte also direkt aus einer als künstlerischer Aktivposten konzipierten Öffentlichkeit hervorgehen. Das zentrale Kriterium der Notwendigkeit stilisierte das Kunstwerk zum authentischen Ausdruck von historisch-sozialem Bewusstsein und verpflichtete es damit auf eine Funktion, die außerhalb des rein ästhetischen Bereichs lag. Außerdem sollte das dermaßen gemeinschaftlich Geschaffene den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit aus Körper, Gefühl und Seele mit einer Notwendigkeit ansprechen, die der des Produktionsprozesses analog war. Der Wagner’sche Synthesegedanke führte unter dieser Perspektive nicht nur zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen der diskursiven Wortsprache und den nichtsprachlichen Mitteln des Theaters, sondern geradewegs zum Postulat einer primär sinnlichen Sprachqualität, die unmittelbar auf den Rezipienten einzuwirken in der Lage war. Deren Vorbild gab die Musik ab: […] wo er […] das entscheidende und bis zur entscheidenden Kraft gestärkte Motiv in dem Ausdrucke eines notwendigen, gebieterischen Gefühles selbst kundgeben lassen will, da kann er mit der nur schildernden, deutenden Wortsprache nicht mehr wirken, außer wenn er sie ebenso steigert, wie er das Motiv gesteigert hat, und dies vermag er nur durch diesen Erguß in die Tonsprache. (Wagner 1983, Band 7, 217) In dieser Tendenz zur ästhetischen Stimulierung und sozialpolitischen Aktivierung des Rezipienten stand das Gesamtkunstwerk konträr zum Prinzip passiv-goutierenden Kunstkonsums, wie er von Wagner als Indiz eines mit dem gesellschaftlichen Verfall seiner Zeit einhergehenden Niedergangs der Kunst gewertet wurde. Das die Theaterkunst entgrenzende Postulat von Totalität in seiner dreifachen Bedeutung von ästhetischer Synthese, anthropologischer Ganzheit und sozialer Gemeinschaft sollte im Verbund mit dem Gedanken einer Aktivierung des Rezipienten der entscheidende Impuls für die Theatertheorie und -praxis ab dem Ende des 19. Jahrhunderts werden (vgl. Brandstetter 1995; vgl. Brandstetter/Finter/Wessendorf 1998).
Theaterreform
Autonomisierung des Theaters Mit der Vorstellung eines Gesamtkunstwerks war eine grundlegende Emanzipation des Theaters als eigenständige Kunstform angestoßen, die dieses in der Folge auch von seiner sekundären Rolle als Vermittlungsinstanz von dramatischer Literatur weitestgehend befreite. Dies bedeutete auch eine Abkehr vom theatralen Illusionsprimat sowie von der Abbildhaftigkeit gestischen und dialogischen Handelns auf der Bühne. Die theatergeschichtli-
3. Theater als Experiment – Gesamtkunstwerk und Avantgarde
chen Resultate dieser Entwicklung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in deren Folge anstelle des Dramatikers der Regisseur zur entscheidenden Ordnungsinstanz des theatralen Geschehens avancierte, werden – als Errungenschaften der sogenannten Theaterreform der Jahrhundertwende – gemeinhin unter dem begrifflichen Doppel von Entliterarisierung und Retheatralisierung zusammengefasst. Die in Auseinandersetzung mit dem Gesamtkunstwerkskonzept Richard Wagners entworfenen Theaterreform-Modelle von Edward Gordon Craig und Adolphe Appia (siehe das Kapitel zu Theaterraum und Szenographie) standen exemplarisch für spezifisch auf die Theaterkunst und ihren synthetischen Charakter daselbst bezogene Reflexionen. Anders als derjenige Appias, war Edward Gordon Craigs Ansatz (vgl. Craig 1969) polemisch gegen Wagners Konzept selbst gerichtet. Craig erblickte bei Wagner trotz dessen Hinweises auf die Auflösung der Einzelkünste im Gesamtkunstwerk eine bloße Addition von Darstellungsmitteln. Er postulierte demgegenüber, dass es vor jedem Syntheseversuch zunächst gälte, das Wesen der jeweiligen Kunstform im Hinblick auf deren spezifisches Material zu definieren, sie also gewissermaßen in ihre kleinsten konstitutiven Einheiten zu zerlegen. Diese könnten dann als probate Komponenten für die zu schaffende ästhetische Einheit fungieren. Im Zuge einer solchen abstrahierenden Reduktion extrahierte Craig aus den am Theater beteiligten Einzelkünsten Schauspiel, literarische Dramatik, Szenographie und Tanz deren zentrale Grundbestandteile, nämlich Bewegung, Wort, Linie und Farbe. Zudem bestimmte er den der Tanzkunst entlehnten Rhythmus zur ästhetischen Dominante, welche die integrative Funktion für die Synthese dieser Elemente zu erfüllen hatte. Mit diesen Überlegungen einher ging bei Craig die dezidierte Zurückweisung der Dominanz des gesprochenen Wortes zugunsten einer Autonomisierung des theatralen Kunstwerkes, als dessen Schöpfer nicht mehr der Autor, sondern der Regisseur gesetzt wurde, und zwar im Sinne einer kompositorisch verfahrenden künstlerischen Ordnungs- und Kontrollinstanz, die „als künstler […] den gebrauch der bewegungen, worte, linien, farben und des rhythmus beherrscht“ (Craig 1969, 101). Theater gewann seine Autonomie also nur als in sich geschlossene, gleichsam orchestrale Einheit. Mit dem Postulat eines theatralen Gesamtkunstwerks und den entsprechenden Synthese-Versuchen aus dem weiteren Umkreis symbolistischen Kunst- und Theaterverständnisses war also die für das Theater des 20. Jahrhunderts so wesentliche Abstraktions- und Autonomisierungstendenz initiiert, die die theatralen Mittel in ihrem Gesamt umfasste und das Zusammenspiel von theatraler Darbietung und Rezeption entscheidend verändern sollte. Infolge dieser Vorgaben avancierte außerdem die mise en scène, die Kunstform der Inszenierung, zum Zentralaspekt theatraler Schöpfung im 20. Jahrhundert. Das Konzept hatte dabei einschneidende Folgen für den Status des menschlichen Akteurs. Fungierte er im bürgerlichen Theater aufgrund seiner psychophysischen Authentizität als Garant eines identifikatorischen Bezugs seitens des Publikums, so forderte Craig demgegenüber seine völlige Entpersönlichung zu einem vom Regisseur zu gestaltenden und zu steuernden Material. Craigs grundlegende Skepsis gegenüber einem empfindsamen, seinen persönlichen Zufälligkeiten unterworfenen menschlichen
Reduktion und Integration der Elemente
Regisseur als Kontrollinstanz
Autonomer Kunstraum
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IV. Historische Formationen
Akteur schlug sich nicht nur in der geforderten Einführung von Masken nach dem Vorbild des ostasiatischen Theaters und von Kostümen mit bestimmtem symbolischem Bedeutungsgehalt nieder. Craig entwarf darüber hinaus ein Modell vom idealen Darsteller. Als dessen Vorbild fungierte die von ihm sogenannte Über-Marionette: eine abstrakte Kunstfigur, deren artifizielle Ausstrahlung und pseudo-religiöse Erhabenheit er aus der Verbindung von Charakteristika des Figurentheaters mit den Zügen von antiken Götterstandbildern und außereuropäischen Idolen ableitete. Das an Nietzsches Begrifflichkeit angelehnte Etikett wies nicht nur auf die überindividuellen Züge der Figur hin, sondern stand bei Craig im zeittypischen Kontext weltanschaulich unterminierter Strömungen, die das autonome, d. h. von der Alltagspragmatik gelöste Theater als Ort des Transzendenten und der metaphysischen Erfahrung zu beglaubigen suchten. Entsprechend bewies das Konzept stärkste Affinität zum europäischen Symbolismus und hier insbesondere zum Modell des Androidentheaters von Maurice Maeterlinck (vgl. Bayerdörfer 1976).
Entgrenzung Kunst – Realität
Schock und Montage
Die historischen Avantgarden Die bereits bei Wagner anklingende Wirksamkeit des Kunstwerks in außerästhetischen Bezügen wurde in einer bis dato ungekannt radikalen Weise durch die historischen Avantgarden programmatisch eingefordert. Ihre Theaterexperimente kamen – bei allen formalen und inhaltlichen Divergenzen – in einem den verschiedenen Strömungen gemeinsamen Willen überein, eine Entgrenzung und Durchdringung von Kunst und Realität zu leisten. Im Zuge der kritischen Selbstreflexion des Avantgardetheaters wurden einmal der Illusionismus des bürgerlichen Theaters und das Prinzip der Guckkastenbühne mit seiner Rampe verworfen, zum anderen wurde die Fundierung des Theaters in der Literatur zurückgewiesen. An der theatralen Grundkonstellation interessierte die Avantgarden in besonderem Maße der Akt des gemeinsamen öffentlichen Zuschauens und Vernehmens von in actu unmittelbar Dargebotenem. Das kommune unmittelbare Erleben in seiner Intensität, Transitorik und Komplexität schien besonders geeignet, die institutionelle Bindung des Theaters an das geschriebene Drama aufzuheben und darüber hinaus die Ähnlichkeit von Theaterrezeption und passiver Lektüre, wie sie in der distanziert-unbeteiligten Wahrnehmung einer fiktionalen Handlung zustande kommt, zu durchbrechen (vgl. Balme/von Brincken 2007, 285; Lehmann 1999, 73 ff.). Die avantgardistischen Emanzipationsgesten lassen sich zusammenfassen als eigentlicher „Eintritt des Theaters in das Zeitalter des Experimentierens“ (Lehmann 1999, 81), im Sinn einer „Suche nach neuen Verknüpfungen und Verflechtungen, von Arbeitsweisen, Institutionen, Orten, Strukturen und Menschen“ (Lehmann 1999, 36). Damit war jedoch auch eine entscheidende Variation des Gesamtkunstwerks- und Syntheseprogramms verbunden. Zielten die Vorstellungen Wagners und auch noch Appias und Craigs auf die Herstellung einer organischen bzw. harmonischen und geschlossenen Einheit der Ausdrucksmittel, so wurde diese ästhetische Rezentrierung der Welt von den Avantgarden als weltanschaulich und ästhetisch veraltet sowie einem technischen Zeitalter mit seinen multiplen Herausforderungen für das Leben und die Sinne des Menschen unangemessen verworfen. Stattdessen stand der Wille zum
3. Theater als Experiment – Gesamtkunstwerk und Avantgarde
Schock, zur aggressiven Durchbrechung des Gewohnten und bis dato Goutierbaren sowie zur Exponierung des Heterogenen im Vordergrund. Mit anderen Worten wurde Theater weniger als Ort der Integration, denn weitaus stärker der produktiven Konfrontation von verschiedenen Mitteln betrachtet. Für das Zentralverfahren zur Herstellung in sich höchst spannungsvoller synthetischer Einheiten hat sich für den Bereich des Theaters wie für den der anderen Künste der Begriff der Montage eingebürgert, der in erster Linie auf die Erkennbarkeit von Brüchen, Rissen und Divergenzen zwischen den Elementen eines ästhetischen Gesamtkomplexes abzielt (vgl. Fitz 1993; Bürger 1974). Dabei war der Wille zur Zerschlagung alter und zur Konstruktion neuer intensiver wirkender Formate durchaus an den besonderen strukturellen, sozialen, technischen und damit auch psychologischen Gegebenheiten der urbanen Realität des beginnenden 20. Jahrhunderts orientiert. Zusammenfassend formulierte bereits im Jahre 1900 Otto Julius Bierbaum: „Der heutige Stadtmensch hat […] Variéténerven; er hat noch selten die Fähigkeit, großen dramatischen Zusammenhängen zu folgen, sein Empfindungsleben für drei Theaterstunden auf einen Ton zu stimmen; er will Abwechslung, – Variété“ (in Lehmann 1999, 102). Solche Perspektivik führte, neben einer engen Orientierung des Avantgardetheaters an der Ästhetik populärer Unterhaltungsformen wie Variété, Music-Hall, Kabarett und Zirkus, nicht zuletzt zu einer Hinwendung an die visuellen Wirkungsmöglichkeiten der bildenden Kunst sowie der Montage-Strategien des Massenmediums Film (vgl. Brewster/Jacobs 1997; Fritz 1993). Insgesamt gravitierte das experimentelle Theater der Avantgarden um die Bemühung, die Passivität des Rezipienten aufzubrechen und ihn über eine spezifische Affektation seiner Wahrnehmungsvermögen im wahrsten Sinne des Wortes existentiell zu betreffen und zu beeinflussen. Geschah dies einerseits ganz praktisch durch neue Arten der räumlichen Zuordnung von Bühne und Saal, sprich: durch die Aufhebung der Rampe und durch die Integration des Publikums in eine umfassende, in diesem Sinne synthetische Ereignisstruktur, so wurden auf der anderen Seite auch die einzelnen theatralen Mittel auf ihre spezifischen Stimulationsqualitäten hin überprüft. Dies führte auch zu einer wesentlichen Aufwertung des im Raum bewegten menschlichen Körpers und zur gesteigerten Reflexion auf das Raum-Darsteller-Problem. In den Überlegungen der Avantgarde zum Körperproblem sind zwei einander komplementäre programmatische Richtungen auszumachen, die sich in der Praxis ablösten bzw. durchdrangen: Eine vor allem mit Nietzsche angestoßene Strömung zur Entfesselung des Leibes, d. h. zur Freisetzung reiner körperlicher Wirkungen, und eine dem entgegengesetzte Tendenz zur neuerlichen Einschreibung des bewegten Körpers in strenge szenische Ordnungen (vgl. Brandstetter 1995, vgl. Brandstetter/Finter/Wessendorf 1998). Ein komplexer, in unterschiedlicher Argumentationsschärfe und differierender Systematik flottierender Diskurs um das Zusammenspiel von körperlicher Wirkung und körperlicher Disziplinierung prägte von da an die theoretische Selbstbespiegelung der historischen Avantgarden. Bezogen sich dabei etwa Wsewolod E. Meyerholds in der Technik der Biomechanik kulminierende materialistische Auffassungen von Theaterkunst auf die sozialistische
Variété, bildende Kunst, Film
Wirkungsbestrebung
Körperdiskurs
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IV. Historische Formationen
Politprogrammatik, so standen auf den Körper bezogene Erwägungen innerhalb anderer avantgardistischer Versuche vorrangig im Zeichen einer ontologischen Recherche – die freilich ihrerseits für ideologische Befrachtung offen stand. Gilt Letzteres vor allem für das abstrakte Theater der italienischen Futuristen mit seiner Affinität zur faschistischen Disziplinierung des Leibes, so standen etwa die Bühnenentwürfe Kandinskys und Oskar Schlemmers (Mensch und Kunstfigur, 1925) für die ästhetische Ausmessung von raumkörperlichen Dimensionen, die die herkömmliche Wahrnehmung übersteigen. Durch eine Reduktion des menschlichen Körpers auf Grundformen und -farben sollten dessen Bezüge zur umgebenden Welt, sprich, sowohl zu ihren inneren physikalischen als auch zu ihren transzendent-metaphysischen Gesetzmäßigkeiten, nicht nur veranschaulicht, sondern dingfest gemacht und konkretisiert werden. Wesentlich für all diese Versuche, die sich unter dem Oberbegriff eines Theaters der Abstraktion zusammenfassen lassen, ist die Tatsache, dass sich in ihren Postulaten zu einer theatralen Synthese ästhetische, wissenschaftliche, soziale, esoterische und ideologische Perspektiven unauflöslich, jedoch keinesfalls widerspruchsfrei verbanden. Dies macht das avantgardistische Experiment aus heutiger Sicht zwar zu einer historisch bedeutsamen Unternehmung, deren Vorgaben aber auf jeden Fall mit kritischem Auge zu lesen und am Einzelfall zu überprüfen sind.
Neue Rezeptionskultur
Das synthetische Theater des italienischen Futurismus
Avantgardetheater und Sprache Die Differenzierung von Theater und Literatur als Zentraltendenz der Theaterkunst im frühen 20. Jahrhundert erhielt entscheidende Impulse durch die populären Medien des Films, des Rundfunks, der Schallplatte und der Massenpresse. Die mit ihnen in Gang gesetzte Vergesellschaftung der Aufmerksamkeit führte zu einer Kultur des gemeinsamen Zuschauens und Zuhörens. Trotz seiner Emphase auf dem Prinzip des Visuellen nutzte auch das Theater der Avantgarde neben musikalischen Klang- und Lautexperimenten weiterhin die Sprache als ein wesentliches Element, trachtete aber, entsprechend seiner vehementen Abgrenzungen vom bürgerlichen Literaturtheater, danach, dieses besonders in seiner agrammatischen, rein lautlich-phonetischen Qualität herauszustellen (vgl. Balme/von Brincken 2007, 285). Das Verhältnis von literarischem Wert und szenischem Potenzial von Theatertexten wurde damit erneut aktualisiert, jedoch im Sinne einer direkten Konfrontation und körperlichen Begegnung des Publikums mit akustisch vorgetragenen, in ihrer materiell-sinnlichen Qualität aktualisierten Wortmomenten, so etwa in den Theater-Soiréen (serate) der italienischen Futuristen, aber auch im kubistischen Theater, das Guillaume Apollinaire mit seinem Stück Les mamelles de Tirésias (Uraufführung 1917) zu konzipieren suchte. Gerade die italienischen Futuristen, die unter der Führung von Filippo Tommaso Marinetti im Jahre 1910 den eigentlichen Anstoß für die breite Bewegung der Avantgarden in Europa gegeben hatten, vertraten auf ausgesprochen radikale und aggressive Weise eine vollständige Aufhebung des traditionellen Kunstbegriffs und des geschlossenen Werkverständnisses. Sie postulierten eine auf Überraschung, Wahrnehmungsschock und sinnliche Intensität setzende Aktionskunst. Diese sollte als Einübungsinstrument in die futuristische antihumanistische, technokratische und gewaltbasierte Sozialutopie mit ihrer relativ eindeutigen Affinität zum Faschismus fungieren.
3. Theater als Experiment – Gesamtkunstwerk und Avantgarde
Das zu diesem Zweck konzipierte synthetische Theater der Futuristen basierte entsprechend auf kurzen, gedrängten Texten, die den aggressiven Charakter der neuen Kunst sowohl in inhaltlichen Anspielungen als auch auf der formalen Ebene realisieren sollten. Diese Vorlagen waren auf der Bühne, aufgrund der in ihnen angezeigten Sprengung raumzeitlicher, physikalischer und biologischer Grenzen, oftmals unmöglich zu realisieren. Es wurden etwa Flugzeugballette entworfen oder surreale Geschichten, deren Personnage von Zügen, Gebäuden und Maschinen gebildet wurde. Solche dramatischen Abbreviaturen dienten eher als konzeptuelle Etüden, die strukturelle Vorbilder für eine futuristische Kunst der Zukunft lieferten, in der sich ein – keineswegs auf traditionelle Theaterorte beschränkter – Kunstraum mit einer von Technologie bestimmten Umwelt unter der Perspektive allumfassenden energetischen Austausches verbinden sollte. Wenngleich also der literarische Wert dieser Texte, der sogenannten sintesi, eher minder einzuschätzen ist, so setzten sie das Theater der Futuristen dennoch in den Kontext einer umfassenden Neubestimmung der Kunst als eines integrativen Teils der Realität, die auch die performativ-präsentische Qualität von Bühnendichtung umfasste. Traten bereits in der futuristischen Poetologie das äußere Erscheinungsbild des Textes und seine lautlichen Qualitäten vor die eigentliche Aussage, so avancierte das Theater zu dem Ort, wo diese Textdimensionen – oftmals in Form des reinen Vortrags – zur sinnlichen Anschaulichkeit gelangten. Nimmt man jedoch hinzu, dass die Futuristen in ihren am Variété geschulten Theater-Soiréen (serate) innerhalb eines gemischten Programms aus sintesi und provokanten Aktionen auch ihre eigenen Manifeste und Programmschriften vorlasen, so wird deutlich, wie sehr sie die Bühne nicht nur als reinen Anschauungsraum, sondern auch als Forum der provokant-aggressiven Verlautbarung und der öffentlichen Rechtfertigung ihrer Ästhetik und der sie begleitenden Theoriebildung und Weltanschauung nutzten (vgl. Balme/von Brincken 2007, 285). Eine Sonderstellung innerhalb der europäischen Avantgarden nahm der deutsche Expressionismus ein, indem er eine neuerliche Literaturbindung des Theaters einforderte und die Theatermittel dem Textgehalt unterordnete. In wenig progressiver Manier geschah das dort, wo der Expressionismus als weltanschauliche Erweckungsbewegung auftrat und die Bühne zum Medium eines gesellschaftlichen Veränderungsanspruchs machte, der sich in der ekstatischen Posensprache und im rhetorischen Pathos der dramatischen Protagonisten niederschlug. Dass der Expressionismus jedoch keineswegs eine in sich homogene künstlerische Strömung war, verdeutlichen die in Auseinandersetzung mit der futuristischen Dichtungstheorie im Sturm-Kreis um Herwarth Walden unternommenen Versuche, die Bühnensprache allmählich auf Einzelworte oder auch zum Einzellaut zu verkürzen, sie von der syntaktisch-grammatischen Bindung und damit vom Paradigma dramatischen Sprechens zu lösen, um auf dem Wege solcher Abstraktion ihr translogisches Fundament erneut freizulegen. Die hierin exemplarischen Wortkunst-Dramen August Stramms sowie die in Auseinandersetzung mit ihnen entwickelten theoretischen Begründungen von Lothar Schreyer wiesen der Bühne die Funktion zu, vorrangig als von metaphysisch-kosmischen Bezügen durchdrungener rhythmischer Wort-Klangraum zu fungieren, der – wenngleich durch Gesprochenes konstituiert – nicht mehr auf eine identifi-
Expressionistische Wort-Kunst
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IV. Historische Formationen
Rhythmus
Radikalisierung des Avantgardeprojektes
Performancekunst und Ereignis
Realerfahrung vs. Fiktion
zierbare dramatis personae rückzubeziehen war (vgl. von Brincken 1997, 100 ff.; Balme/von Brincken 2007, 286). Die genannten Exempel markieren auch eine entscheidende Umgewichtung des Status des geäußerten Wortes und seines Sprechers. So bestimmte etwa Oskar Schlemmer den Akteur „zum künder, ja schöpfer eines gewichtigen elements der bühne, vielleicht des wichtigsten: laut, wort, sprache.“ Bereits die Reihenfolge verrät die Tendenz. Das Wort fungiert hier nicht mehr als literarisch vorformuliertes Bedeutungsvehikel, sondern als in actu geäußertes und konkretes Phänomen, dessen semantische Momente unauflöslich mit dem Körper des Darstellers, mit der materiellen Lautschicht und dem Moment ihrer performativen Setzung verbunden sind. Und genau in diesem Sinne sei es, so Schlemmer, „elementar, […] ereignis, als würde es zum ersten mal vernommen“ (Schlemmer 2000, 445). Der musikalischen Herkunft des Synthesegedankens blieben dabei die genannten Künstler und Strömungen insoweit eng verhaftet, als sie die rhythmisch-lautliche Organisation der Sprache gegenüber deren diskursiver und psychologischer Dimension in den Vordergrund rückten. Dies verband sich zumeist – entsprechend einer zeittypischen Affinität zur Kosmologie – mit einer metaphysischen Überhöhung des Rhythmusprinzips im Sinne einer kosmisch-transzendenten, Welt, Ausdruck und Wahrnehmung gleichermaßen unterlegten und organisierenden Größe, die es auf dem Theater und mittels des Theaters freizulegen galt. Sie fungierte dementsprechend – wie schon bei Appia und Craig – als eigentlicher Garant der Bühnensynthese. Seit den 1960er und verstärkt in den 1970er Jahren kam es mit dem Aufbruch der Happeningbewegung, der Body Art, der Aktions- und der Performancekunst zu einem neuerlichen Aufgreifen und einer Radikalisierung des Projekts der historischen Avantgarden, allerdings oft in dezidierter Absetzung vom Begriff des Theaters überhaupt oder in Form neuer Allianzen zwischen Theater und anderen Künsten, die den jeweiligen definitorischen Geltungsbereich offensiv aufsprengten (vgl. Kirby 1965; Jappe 1983; Goldberg 1988; Fischer-Lichte/Kreuder/Pflug 1998). Insgesamt unterscheiden sich die mit dem Begriff der Performance summarisch etikettierten Kunstformen vom herkömmlichen Theater durch eine Exponierung des live- und ereignishaften Moments zum Selbstzweck (vgl. Lehmann 1999, 241 ff.). In Anklang an die zentrale Bestrebung der historischen Avantgarden, Kunst und Leben gegenseitig zu entgrenzen, rückt die künstlerische Handlung im Sinne eines performativen Aktes, d. h., als vollzogene, gelebte und erlebte Gegenwart, als irreduzible Realität des Sich-Ereignens in den Vordergrund (vgl. Charles 1989). Darin kommen die äußerlich durchaus differenten Arbeiten von John Cage, Allan Kaprow, Joseph Beuys, der Fluxus-Bewegung, von Marina Abramovic, den Wiener Aktionisten, Hermann Nitsch, Paul McCarthy, Christoph Schlingensief und vielen anderen, älteren und aktuellen Künstlern überein. Vor allem der menschliche Körper als raum- und zeitgebundene Größe wurde, oftmals in Form schockierender, gewaltsamer und auch autoaggressiver Akte oder in Orientierung an archaisch-rituellen Praktiken in wirklichkeitskonstituierende und darin selbstreferentielle Vorgänge eingebracht, die den Betrachter unmittelbar zu einer – auch moralischen – Reaktion und Stellungnahme herausforderten. Hinzu kommt, dass
4. Politisches Theater im 20. Jahrhundert
auch der Zufall bzw. unvorhersehbare Sachverhalte – das können Reaktionen des Publikums sein, aber auch örtliche Gegebenheiten oder einfach die physische Belastungsgrenze des Körpers – in das Geschehen einbezogen werden. Formuliert sich darin die Kritik am herkömmlichen Theater als einer Stätte des emotionalen und intellektuellen Konsums, so haben sich auf der anderen Seite – etwa im Ausgang von Straßentheaterstrukturen – im weitesten Sinne interventionistische Strategien innerhalb des öffentlichen Raums etabliert, die inmitten des Alltags Szenen spielen oder stellen, die dem Passanten als solche aber nicht erkennbar sind. Auch damit ist eine offensive Absage nicht nur an den traditionellen Werkbegriff, sondern natürlich auch an die Geschlossenheit einer dramatisch-fiktionalen Handlung und generell an die Scheidung von Kunst und Realität formuliert. Auf der anderen Seite jedoch verwenden Performancekünstler nicht nur längst – wie inzwischen jedes Stadttheater – Verfahren der Intermedialität, z. B. durch den Einbezug akustischen oder filmischen Materials. Sie bedienen sich sogar des Films als solchem. So steht etwa der international gefeierte Performancekünstler und Filmemacher Matthew Barney für eine aktuelle Tendenz, die, indem sie sich in reproduzierbaren filmischen Beiträgen ergeht, das ursprüngliche Unmittelbarkeits- und Unwiederholbarkeits-Versprechen der Kunstform rundweg zu hintergehen scheint (vgl. Fischer-Lichte 2004, 116; vgl. Phelan 1998). Der ursprüngliche experimentelle Impuls hat also in der weiteren Entwicklung und in Zusammenhang mit der Differenzierung von Theorie und Praxis innerhalb der Postmoderne entscheidende Variationen erfahren und ist in eine ungeheure Vielfalt von künstlerischen Beiträgen eingemündet, die sich in mal näherer, mal weiterer Entfernung von theatralen und virtuellen Modi bewegen. Bei all ihrer äußerlichen Verschiedenheit ist es aber nach wie vor der am Geist des Experiments entzündete Wille zur Missachtung festgeschriebener Regeln und Definitionen und zur Findung neuer, am jeweiligen Stand der umgebenden Wirklichkeit orientierter Allianzen, der die betreffenden Künstler umtreibt. Dieser entgrenzende Gestus jedoch entsprang zentral den um das Theater und seine weitere Entwicklung gravitierenden Erwägungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Theater wurde hierin zum Modell nicht nur einer Synthese der Kunstformen, sondern zu einem Denkbild, zu einer Konstellation von Perspektiven, in der die Möglichkeit zu einer allumfassenden ästhetischen Durchdringung, Besetzung oder sogar Inbesitznahme jeglicher Realität aufscheint.
Ästhetische Besetzung der Realität
4. Politisches Theater im 20. Jahrhundert Die Politisierung des Theaters nach der Jahrhundertwende Mit der sozialen Frage ging die Suche nach einer Ästhetik des Theaters einher, das sich dieser gesellschaftspolitischen Problematik nicht verschloss. Kaum mehr zu halten schien so das vorherrschende Leitbild einer autonomen Kunst als l’art pour l’art (Bürger 1974). Im Theaternaturalismus des späten 19. Jahrhunderts, der zu Beginn nur im geschlossenen Rahmen von Vereinen inszeniert werden konnte, ohne Gefahr zu laufen, von der Zensur entschärft zu werden, wurde die Bühne daher zu einem exterritorialen Raum erklärt, der die soziale Wirklichkeit zur Identifikation und zur Kritik anbot.
Naturalistisches Bild der sozialen Wirklichkeit
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IV. Historische Formationen
Politisierung der Ästhetik, Ästhetisierung der Politik
Revolutionäre Theaterästhetik
Erweiterung des Theaterbegriffs
Von Gerhart Hauptmann über Henrik Ibsen, Anton Tschechow bis zu Konstantin Stanislawskijs berühmter Inszenierung von Maxim Gorkis Nachtasyl wurde die soziale Wirklichkeit wie ein gerahmtes Foto vor dem Publikum ausgestellt, in der Hoffnung, dass sich gesellschaftspolitische Entscheidungen vom naturalistischen Bild beeinflussen ließen. Zum Problem wurde diese theatrale Ästhetik in dem Moment, als man nach der Jahrhundertwende nicht mehr so recht an die eindeutigen naturalistischen Bilder der Bühne glaubte. Zudem schien die Grenze zwischen der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit auf der einen und dem ästhetischen Raum auf der anderen Seite, die ästhetische Grenze zwischen Leben und Kunst, die im Naturalismus als vierte Wand des Bühnenraums fungierte, selbst zum Problem zu werden. Hatte man doch den zunehmenden Verdacht, dass die Rezeption naturalistischer Bilder des sozialen Elends mit der revolutionären Tat wenig gemein hatten. Um diese ästhetische Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden, fand so etwas wie eine Politisierung der Ästhetik neben einer Ästhetisierung der Politik statt. Erster Höhepunkt und Labor dieser Entwicklung war das Theater der russischen Revolution, auch verstanden als die Zeit der Experimente der russischen Avantgarde kurz nach der Oktoberrevolution. Obwohl diesen Experimenten spätestens mit Stalins Verurteilung als Formalismus und der Aufforderung, zum sozialistischen Realismus zurückzukehren, ein für einige Beteiligte blutiges Ende gesetzt wurde, hatten sie einen außerordentlichen Einfluss auf die Theaterästhetik und die Vorstellung von einem politischen Theater im 20. Jahrhundert, der bis heute anhält (Fiebach 1975). Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 ging es den meist sehr jungen Revolutionären darum, ein eigenes Theater zu schaffen, das als genuin proletarisches die bürgerliche Ästhetik völlig verdrängen sollte. Zu diesem Zwecke wurde die Organisation der Theaterabteilung des Proletkults geschaffen, die neue Theaterformen suchte und der breiten Bevölkerung vorstellte. Man verließ die traditionellen Theaterräume und agitierte in den Städten, Dörfern und Fabriken. In diesem Kontext erweiterten sich die Vorstellung und der Begriff von Theater enorm. Man spielte in Massenschauspielen revolutionäre geschichtliche Ereignisse nach, man erfand die „Lebende Zeitung“ oder das „Gerichtsspiel“. Inhaltlich und formal ging es für die Theatermacher wie auch die Zuschauer um ein revolutionäres Bewusstsein zur Unterstützung einer neuen sozialistischen Gesellschaft. In der Praxis arbeitete man daran, die Kunst in das alltägliche Arbeitsleben zu integrieren. Die Kunst sollte wie ein Arbeitsprogramm dazu dienen, nicht nur zu unterhalten, sondern das ganze gesellschaftliche Leben im revolutionären Sinne umzugestalten. Die einst scharfe Trennung zwischen Berufsschauspieler und Arbeiter sollte genauso wie die Grenze zwischen Theaterspielzeit und Arbeitszeit aufgehoben werden. Das Proletariat und die ökonomisch abhängigen Schauspieler sollten sich so aus ihrer entfremdeten Lage befreien. Das Proletariat konnte aus sich selbst heraus kulturell schöpferisch tätig werden. Selbstverständlich war die Richtung vorgegeben: Man hatte gemeinsam in die Richtung einer kommunistischen Utopie voranzuschreiten (Rudnitsky 2000). Letztlich gingen die wichtigsten Innovationen für die Theaterästhetik dann aber doch nicht von den über Land ziehenden Gruppen mit Theater-
4. Politisches Theater im 20. Jahrhundert
laien aus, sondern von den unausgesprochen elitären Laborbühnen in den Großstädten. Am „Ersten Moskauer Arbeitertheater des Proletkults“ entwickelte unter anderen Sergej Eisenstein seine Montage der Attraktionen als dialektische Methode zur Beeinflussung der Zuschauer. Nachdem er versuchte, diese im Theater zu verwirklichen, fand er nach einigen mehr oder weniger gescheiterten Versuchen zum Film als dem geeigneteren Medium. Ziel der neuen theatralen Formen sollte nicht, wie in der konservativ-reaktionären theatralen Ästhetik des Naturalismus, die Nachahmung von Wirklichkeit sein. Denn die Wirklichkeit sollte in der Produktion erst geschaffen werden. Die Bühne sollte so zu einem Labor werden, in dem man wie in der wissenschaftlichen und in der industriellen Produktion die neue Gesellschaft, das zugehörige Menschenbild und das soziale Leben herstellte. Mithilfe des Theaters und der Neuen Medien sollte der Wandel zu einer neuen Gesellschaftsordnung eingeübt und verwirklicht werden. Bei Eisenstein hatten die Schauspieler nun Arbeiter der Szene zu sein, das theatrale Als-ob hatte zugunsten einer direkten Umsetzung der Affekte in physische Handlungen zu verschwinden, was wiederum als Attraktion einen direkten, wirkungsvollen Eindruck auf den Zuschauer machen sollte. Das Bewusstsein des Zuschauers sollten die Einzelattraktionen wie die wuchtigen Schläge eines Boxers treffen. Dabei sollten sich die Attraktionen zu einer Gesamtlinie verbinden lassen, indem sie durch die Montage so angeordnet wurden, dass sie sich dialektisch in einer Richtung zu einer Fortschrittsgeschichte fügten. Da Eisenstein jedoch feststellen musste, dass dieser Attraktionsmontage auf der Theaterbühne physische und mediale Grenzen gesetzt waren, wechselte er 1924 zu einem neuen Medium und drehte seinen ersten großen Film Streik. Im Theater erfolgreicher als Eisenstein war Wsewolod Meyerhold, der 1921 den Theateroktober ausrief, sich vom naturalistischen Schauspielstil vollständig abwandte und nach dem Vorbild der Arbeitsformen der industriellen Produktion seine Biomechanik entwickelte. Mit Anleihen bei der typisierenden Commedia dell’arte, bei Charlie Chaplins Slapstick, beim Volkstheater und bei der artistischen Ästhetik des Jahrmarktes arbeitete er darauf hin, das Konzept des Konstruktivismus auf seine eigene Bühnen- und Schauspielästhetik zu übertragen. Die von ihm propagierte Biomechanik orientierte sich ausgerechnet an der wissenschaftlich fundierten Arbeitsorganisation des ,Klassenfeindes‘, der originär ,kapitalistischen‘ Technik zur Effizienzsteigerung der Arbeit in Henry Fords erster Fließbandfabrik. Der sogenannte Taylorismus unterstützte so in der Sowjetunion die Produktion einer neuen sozialistischen Gesellschaft und eines neuen sozialistischen Menschen. Indem er die effizienten und kräftesparenden Arbeiterbewegungen in die korporal-motorischen Bewegungen der Schauspieler integrierte, schuf Meyerhold abstrakt-rhythmische Körperfiguren, mit deren Hilfe die Schauspieler ihr Material, also ihren Körper, wie eine Arbeitsmaschine effizient kontrollieren und organisieren konnten. Meyerhold gelang es, bis Ende der 1920er Jahre die Biomechanik zumindest als Trainingsmethode für Schauspieler zu verteidigen. Sogar sein alter Mentor Stanislawskij übernahm einige Elemente des biomechanischen Bewegungsduktus in seine Schauspielmethode. Der zunehmenden Kritik der eher machtpragmatisch denkenden Parteigenossen, die wohl auch wenig Verständnis für avantgardistische Ex-
Proletkult, Theaterlaien und Laborbühnen
Eisensteins Montage der Attraktionen
Theateroktober und Meyerhold
Körperfiguren der Biomechanik
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IV. Historische Formationen
perimente besaßen, hatte Meyerhold jedoch auf die Dauer wenig entgegenzusetzen. Der einst als bürgerlich verunglimpfte Schauspielnaturalismus kam wieder zurück und wurde als sozialistischer Realismus zur offiziellen und einzigen Linie der Partei erklärt. Meyerhold wurde nach einer längeren Gefängnishaft 1940 hingerichtet.
Piscator und neue Medien auf der Bühne
Agitationsästhetik und Revueprinzip
Proteste gegen Piscators frühes Regietheater
Politisches Theater in der Weimarer Republik In Deutschland beeinflussten die Konzepte und Ästhetiken des sowjetischen Proletkult die ersten Inszenierungen Erwin Piscators und die theoretischen Ansätze Bert Brechts, vor allem dessen Modell des Lehrstücks. Piscator propagierte nach dem Ersten Weltkrieg im Berlin der Weimarer Republik als einer der Ersten ein Theater, das sich inhaltlich und formal mit der sozialen Frage des Proletariats auseinandersetzte. Er stellte noch vor Brecht ein episches Theater vor und er war der Urvater des Dokumentarstücks. Um sein episches Theater zu verwirklichen, griff er konsequent auf neue Medien wie Film und Diaprojektionen bzw. auf die Integration derselben in die Bühnenausstattung zurück. Diese neuen Medien entsprachen in ihrer intermedialen Beziehung zum theatralen Spiel auf der Bühne der Multiperspektivität der modernen Welt. Der epische Überblick, ermöglicht durch die Gleichzeitigkeit der verschiedenen medialen Einblicke zwischen intimer Theaterszene und gleichzeitig projiziertem Film oder Dia, hatte die dargestellte konkrete Situation in einen größeren historischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext zu stellen (Piscator 1986). Piscator lehnte den Naturalismus als eine Art fotografische Abbildung der Realität ab. Denn man könne damit zwar das Elend eines Nachtasyls oder kriegerischer Gewalt zeigen, keineswegs aber dessen Ursache und Herkunft sichtbar werden lassen. Seine proletarische Agitationsästhetik orientierte sich in seinen wichtigsten Stücken nach Pariser Vorbild an der bürgerlichen Unterhaltungsform der Revue. Sie integrierte Rezitation, Couplets, Lieder, Artistik und schnelles Zeichnen, die handelnden Figuren wie z. B. der Prolet und der Bourgeois waren hoch typisiert. Vielerorts kopierte man das Revueprinzip Piscators. Ab der Mitte der 20er Jahre spielten bis zu 300 Agitpropgruppen in den größeren Städten Deutschlands. Neben der Arbeit mit Laien in der Arbeiterbewegung inszenierte Piscator auch an den festen Häusern des professionellen Theaters. An der Berliner Volksbühne entwickelte er mit dem Bühnenbildner Traugott Müller die berühmte Piscator-Bühne, die mehrere Spielebenen und Medien in sich vereinigte. Für einige Aufführungen ließ er Dias anfertigen und Filme drehen, die in bestimmte Felder dieser Bühne projiziert wurden, während in den Räumen dazwischen Theater gespielt wurde. Alle Bühnenmittel dienten dem gemeinsamen Ziel der unmittelbaren politischen Agitation. Piscator inszenierte sowohl zeitgenössische Stücke wie auch Klassiker, er wurde so zu einem frühen Vertreter des Regietheaters. Der Regisseur hatte für ihn keineswegs Diener am Werk zu sein. Es ging ihm um die Grundstrukturen des dramatischen Textes, der an die Zeit angepasst werden sollte. Aufgrund seiner ständigen, teilweise radikalen Agitationsästhetik musste Piscator nach äußeren Protesten und inneren Widerständen die Volksbühne verlassen. Der Plan, sich von Walter Gropius ein Totaltheater mit der Integration aller medialen Mittel bauen zu lassen, zerschlug sich aufgrund der immensen Kos-
4. Politisches Theater im 20. Jahrhundert
ten. So richtete sich Piscator 1927 im Theater am Nollendorfplatz eine eigene Bühne ein, die er mit dem expressionistischen Stück Hoppla, wir leben von Ernst Toller eröffnete. Das Bühnenbild ging in die Theatergeschichte ein. Es war ein mehrstöckiges Gerüst, auf dessen Etagen simultan und vor allem mit den verschiedensten Medien – neben Dias zeigte man Zeichentrickfilme und Dokumentarfilme – gespielt werden konnte (Rühle 2007). Insgesamt wurden die technischen Bühnenmittel, zu denen unter anderem auch laufende Bänder gehörten, immer kostspieliger, während zugleich die Zuschauerzahl abnahm. Piscator bekam finanzielle Probleme, folgte einer Einladung in die Sowjetunion und drehte dort einen Film nach Anna Seghers’ Novelle Der Aufstand der Fischer von St. Barbara. Von dort emigrierte er 1936 nach Frankreich und drei Jahre später in die USA, wo er in New York den berühmten Dramatic Workshop einrichtete, den u. a. Arthur Miller, Marlon Brando und Tennesee Williams besuchten. Nachdem er 1949 in die Bundesrepublik remigrierte, musste er über Jahre hinweg in der Provinz inszenieren. Erst 1962 konnte er die Leitung der West-Berliner Freien Volksbühne übernehmen. Dort setzte er wieder theaterhistorische Akzente, indem er mit Rolf Hochhuths Stellvertreter, Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer und Peter Weiß’ Die Ermittlung der neuen Dramatik des Dokumentarstücks zum Aufstieg verhalf. Neben Piscator wurde in der Weimarer Republik auch der andere Vertreter eines epischen Theaters, einer der Giganten der Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, bekannt: Bertolt Brecht. Der Augsburger, der in München studierte, erst kurz Theaterkritiker war und dann zwischen 1918 und 1922 seine ersten expressionistischen Stücke schrieb, interessierte sich vor allem für das Individuum in der Massengesellschaft. Trommeln in der Nacht, aufgeführt 1922 von den Münchner Kammerspielen, machte ihn bekannt und brachte ihm einen Vertrag als Dramaturg an Max Reinhardts Theater ein. Mitte der 20er Jahre reduzierte Brecht die Bühne vor dem Hintergrund der Neuen Sachlichkeit, betrachtete die klassische Dramatik als Material und wandte sich den Wissenschaften zu. Resultat war das Stück Mann ist Mann, in dem, vor dem Hintergrund der behavioristischen Psychologie, ein Packer zur „menschlichen Kampfmaschine“ umkonditioniert wird. Die Umwelt, so glaubte Brecht, formt den Menschen, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Nachdem ihm keiner die Funktionsweise einer Börse erklären konnte, studierte Brecht Werke der Nationalökonomie. Insbesondere las er Karl Marx und schrieb das Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe, in dem die Hauptfigur den Zusammenhang zwischen Profitstreben und Verelendung erkennen muss. 1928 wurde Brecht mit seiner am Berliner Theater am Schiffbauerdamm aufgeführten Dreigroschenoper berühmt. Zu seinem Songspiel Mahagonny aus dem Jahre 1930 formulierte Brecht eine innovative Theaterästhetik, sein folgenreiches Konzept des Epischen Theaters: Das neue Theater verkörpert nicht, sondern erzählt, jede Szene steht für sich und nicht für eine abzubildende Wirklichkeit und die Handlung verläuft nicht linear. In seinem Traktat der Straßenszene aus dem Jahre 1940 explizierte er seine Vorstellung einer zeitgemäßen Schauspielästhetik (Brecht 1963). In ihr sollten die Protagonisten wie bei der Beschreibung eines Unfalls durch Passanten nur so viel andeuten, dass sich diejenigen, die nicht dabei waren und denen hier gestisch etwas angezeigt wird, ein Bild machen können. Mit die-
Emigration, Remigration und Dokumentartheater
Früher Brecht
Konzept des epischen Theaters
Brechts Gestus
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IV. Historische Formationen
NS-Theater zwischen Thingspiel und Realismus
Theater der Nachkriegszeit
Politisierung des Theaters in den 60er Jahren
ser dezidierten Vermeidung einer einfühlenden Illusion strebte Brecht einen eigenen Realismus an, der in der Nachahmung des menschlichen Verhaltens den sozialen Hintergrund nicht ausspart. Das auf der Bühne Gespielte darf seinen Zeichencharakter dabei in keinem Moment verleugnen. Die immer sichtbar bleibende Differenz zwischen gespielter Realität und Bühnenrealität ist Teil des von Brecht geforderten Akts der Verfremdung. Damit wird eine gesellschaftliche Situation auf der Bühne wie in einem wissenschaftlichen Experiment zur Disposition gestellt und als grundsätzlich veränderbare begriffen. Vermieden werden soll, dass die theatrale wie die gesellschaftliche Situation als anthropologische Konstante gesehen wird: Die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen sollen als Konstruktion ausgewiesen werden. Für die Zuschauer gilt, dass sie sich nicht nur einfühlen, sondern auch eine distanziert-reflektierende Haltung einnehmen sollen. Damit die Rollenfigur nicht zu sehr zur Einfühlung einlädt, haben die Schauspieler ihre Rolle mehr zu erzählen als illusionistisch zu spielen. In der Zeit des Nationalsozialismus war das Theater durch die Vertreibung vieler wichtiger jüdischer, regimekritischer oder politisch unerwünschter Regisseure, Intendanten und Schauspieler geschwächt. Es entwickelte, mit tatkräftiger Unterstützung der Theaterwissenschaft, eine eigene theatrale Ästhetik, das Thingspiel, das sich jedoch wegen zu geringen Publikumszuspruchs und in Ermangelung geeigneter Stücke nicht durchsetzen konnte. Das faschistische Regime bevorzugte letztendlich wie das stalinistische den publikumsnäheren und erfolgreicheren Realismus auf der Bühne (Rischbieter/Panse/Eicher 2000). Das politische Theater seit den 60er Jahren Das deutsche Theater in der Nachkriegszeit erschien in seiner Innovationskraft eher gelähmt; neben der wertebezogenen Pflege der Klassiker wie in Gustaf Gründgens Faust I erlebte es neue Einflüsse innerhalb des Reeducation-Programms der Besatzungsmächte. Während von den Amerikanern, weniger von den Briten, Stücke wie Thornton Wilders Unsere kleine Stadt den Theatern zu Verfügung gestellt wurden, die auch durchaus beliebt waren, importierte man aus Paris die neue Vorstellungswelt des Existentialismus und inszenierte Dramen von Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Das deutsche Theater erreichte erst wieder mit der Rückkehr der Emigranten Fritz Kortner und Erwin Piscator das Niveau der Theaterästhetik der Weimarer Zeit. Am Anfang der 60er Jahre begann es wieder Weltgeltung zu erlangen. Einerseits beherrschten die politischen Parabeln Martin Walsers, Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts die Bühne; andererseits erlebte das Dokumentardrama Rolf Hochhuths, Heinar Kipphardts und Peter Weiss’ seinen Aufstieg. Etwas später wurde mit Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz das kritische Volkstück wieder entdeckt, man erinnerte sich an Marieluise Fleißer und Ödön von Horváth. Die Politisierung des Theaters in den 60er Jahren ging u. a. auch von der Protestbereitschaft der Nachgeborenen gegen ihre in der NS-Zeit belasteten Väter aus. Die Ausschwitzprozesse ab 1963 wurden zu einem gesamtgesellschaftlich wichtigen Ereignis. Im globalen Zusammenhang folgte das deutsche Theater innerhalb der Gegenkultur der Kritik der westlichen Konsumgesellschaft und den Protes-
4. Politisches Theater im 20. Jahrhundert
ten gegen den Vietnamkrieg. Ende der 60er Jahre musste Peter Stein als junger Regisseur an den Münchner Kammerspielen gehen, weil er während der Vorstellung für Peter Weiss’ VietNamDiskurs in den Pausen für Waffen, die der Vietcong erhalten sollte, sammeln ließ. Er fand dann seine Heimstatt im Bremer Theater unter der Intendanz Kurt Hübners, das in der zweiten Hälfte der 60er Jahre das künstlerisch avancierteste westdeutsche Theater war. Dort skandalisierte Peter Zadek mit seiner popkulturellen Inszenierung des Shakespearestücks Maß für Maß. Er und Peter Stein mit seiner Einrichtung des Goetheschen Torquato Tasso wurden zu den Vorbildern des deutschen Regietheaters, indem sie zeitgenössische Medienzitate übernahmen oder die bis dahin gültigen Klassikeraufführungen durch Übertreibung der theatralen Mittel parodierten. Obwohl oder gerade weil in der Nachkriegszeit der in Ostberlin wirkende Bert Brecht im konservativen kulturellen Klima der Bundesrepublik eine persona non grata war, pilgerte man in den Osten zu den Inszenierungen des Berliner Ensembles; sein episches Theater wurde schulbildend. Neben Brecht entdeckte man den ehemaligen Surrealisten Antonin Artaud und das arme Theater des Polen Jerzy Grotowski. Zum internationalen Vorbild wurde Peter Brooks Londoner Inszenierung von Weiss’ Marat/Sade aus dem Jahr 1964: Ihm gelang es, Brecht, Artaud und Grotowski in einen eigenen Regiestil zu integrieren. Der linguistic turn und die Ablösung des Sartreschen Existentialismus durch den Strukturalismus eröffneten in der zweiten Hälfte der 60er Jahre eine Vorstellungswelt, für die im deutschen Theater vor allem Peter Handkes Sprechstücke standen, die von Claus Peymann, dem nimmermüden Förderer aktueller deutschsprachiger Dramatik, eingerichtet wurden. Die u. a. von Stein gegründete Berliner Schaubühne wurde zum führenden deutschen Theater der 70er Jahre. Sie eröffnete, noch stark unter Einfluss von Brecht, mit Gorkis Die Mutter, stärkte die Produktionsdramaturgie und band alle Beteiligten, insbesondere die Schauspieler, in den Inszenierungsprozess ein. Während Peter Stein mit Tschechows Drei Schwestern, die er nach den historischen Regieplänen Stanislawskijs annähernd zu rekonstruieren suchte, über die Hermeneutik zur Texttreue zurückfand, wurden Thomas Bernhards musikalische Stücke, Elfriede Jelineks de-konstruierende Sprachflächen und Heiner Müllers postdramatische Theatertexte zum politischen Theater der 1980er Jahre. Robert Wilsons Inszenierung der Müller’schen Hamletmaschine reflektierte am prägnantesten die avancierte theatrale Ästhetik der 80er Jahre. Das Politische suchte man weniger in der kommunikativen Aufklärung zwischen Bühne und Zuschauerraum, sondern in der Erkenntnis, dass die Strukturen und Diskurse die Produktion und Rezeption über den Wahrnehmungsvorgang ,kurzschlossen‘, so dass eine Kritik oder eine subversive Haltung nur noch in der Unterbrechung bzw. Störung der Kommunikation zu finden war. Eine prominente Ausnahmeerscheinung blieb George Tabori, der sowohl als Stückeschreiber wie auch als Regisseur politisch brisante Fragen wie die nach dem Holocaust auch in der Form einer Farce wie Mein Kampf zu beantworten wagte. Auf die Wiedervereinigung, welche die bundesrepublikanische Gesellschaft und vor allem auch die Intellektuellen überraschend traf, reagierte
Gegenkultur und 68er-Revolte im Theater
Artaud, Grotowski und Brook
Poststrukturalismus und Sprechstücke
Stein und die Berliner Schaubühne
Postmoderne Ästhetiken im Theater
Theater der 1990er Jahre
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IV. Historische Formationen
Rückkehr zum dramatischen Text?
das Theater mit weitgehendem Unverständnis und Schweigen, wenn man von Botho Strauß absehen mag. Heiner Müller gelang es, aus der ambivalenten Situation der 1990er Jahre künstlerisches Kapital zu schlagen. Seine Inszenierung des Brechtschen Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui wurde zur Modellinszenierung der 1990er Jahre. Darüber hinaus stieg Frank Castorfs Berliner Volksbühne mit ihrer dekonstruktivistischen, um die letzten Tabubrüche bemühten Theaterästhetik zum wichtigsten Theater auf. Neben dem vermehrten Einsatz von Neuen Medien in der Tradition von Piscator auf der Castorfbühne entwickelte Christoph Marthaler an der Volksbühne seine musikalisch-avantgardistischen Theaterabende, während vor dem Haus auf der Straße Christoph Schlingensief seine Performances an der Grenze zwischen Authentizität und Fiktion entlang führte. Meyerholds Biomechanik figurierte in konstruktivistischen Bühnenbildern bei Andreas Kriegenburg die entfremdete nachmoderne Persönlichkeit, während Thomas Ostermeier mit ihrer Hilfe in der Experimentierbühne Baracke die neue englische Dramatik theatergängig machte und so an eine in den 1980er Jahren abgerissene sozialrealistische Tradition anknüpfte (Wille 1999). Mit der Übernahme der Berliner Schaubühne war Ostermeier einer der Ersten, der sich wieder die Pflege des dramatischen Textes auf die Fahnen schrieb. Insbesondere seit dem 11. September scheint sowohl in der Dramenlandschaft als auch in der Regiepraxis wieder das handlungsfähige Individuum und sein anthropologisch grundiertes Motiv, Geschichten zu konstruieren und die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt zu suchen, gefragt zu sein, während die Postmoderne zunehmend historisiert wird. Momentan ist die Situation ambivalent. René Pollesch sieht das Politische in der unaufhebbaren Entfremdung durch eine grundlose Diskurs- und Medienkultur, so dass seine in Szene gesetzten Figuren als Schauspieler weniger soziale und politische Inhalte, sondern mehr den selbstreferentiellen Gestus ihrer Existenz aufführen. Lukas Bärfuß hingegen deutet das existentiell Unbekannte als Aufforderung zur Suche nach Identität, Werten und einer Grundlage für ein erträgliches Leben in der Gemeinschaft.
5. Postdramatik seit den 1960er Jahren und die Rückkehr des Dramatischen Neo-Avantgarde und das nicht mehr Dramatische
Der Übergang zum Post-Dramatischen im avancierten Theater der 60er Jahre Mit der gesellschaftlichen Neuausrichtung der 1960er Jahre, in der Zeit der Gegenkultur, der Neo-Avantgarde und des ästhetischen Auftaktes der Postmoderne, in der sich nach dem Diktum „Close the Gap“ von Leslie Fiedler die Grenzen zwischen High- und Low-culture auflösen, änderte sich auch das Theater. Seit dieser Zeit, die zunehmend von elektronischen Massenmedien geprägt wird, bestimmt ein neuer Blick auf das Theater Produktion und Rezeption der avancierten Inszenierungen. Theatralität war zwar seit der Antike bestimmend für die ästhetische Erfahrung des Theaterspiels, wird nun jedoch zu einer vornehmlich ästhetischen, darüber hinaus aber auch zu einer ethisch-politischen Leitidee: Aufmerksamkeit erregt nicht mehr so sehr das Dramatische, sondern mehr das – von der historischen Avantgarde her gesehen – selbstbewusst Theatrale, in diesem Sinne auch Nicht-mehr-Dra-
5. Postdramatik seit den 1960er Jahren und die Rückkehr des Dramatischen
matische, also das, was sich weniger in der Bedeutung und mehr durch die Attraktion zeigt. Affirmative Ästhetik und energetisches Theater Damit wurde etwas virulent, das sich in den 1980er Jahren als Bewegung vom Dialog zur Dialogizität (Wirth 1980) und als „Wandlung des Theaters im Umfeld der Medien“ (Wirth 1987, 83) zu einer Bevorzugung des Visuellen und Ereignishaften vor dem bedeutungstragenden Sprachlichen ausprägte. Ein solches Ereignis stellte sich Jean-François Lyotard in seiner affirmativen Ästhetik als energetisches Theater vor, das die „Unabhängigkeit, die Gleichzeitigkeit der Töne/Geräusche, der Wörter, der Körper-Figuren, der Bilder, wie sie die Koproduktionen von Cage, Cunningham, Rauschenberg auszeichnen“, dadurch erreicht, dass die „Zeichenbeziehungen und deren Kluft abgeschafft werden“ (Lyotard 1982, 21). Lyotard bejahte die nihilistische Tendenz der modernen bildenden Kunst. Das Fragezeichen im Werk deutete er positiv im Sinne einer Nicht-Repräsentierbarkeit dessen, was die Vorstellungskraft des Betrachters überschreitet, und setzte den ästhetischen Grenzbegriff des Erhabenen, der sich exemplarisch an den Bildern Barnett Newmans erfahren lasse (Lyotard 1984, 152). Intendiert ist eine Wirkungsweise der Bilder, die gänzlich auf kognitive Bedeutungszuweisung verzichtet und als Präsenz sinnlich überwältigt. Die Bilder verweisen damit auch auf die den iconic turn motivierende Erkenntnis, dass die Eigenart des Bildes, das bei Newman noch einen Rahmen hat, sprachlich oder begrifflich nicht fassbar ist. Vor dem Hintergrund einer solchen affirmativen Ästhetik als energetisches Theater spricht Wirth von theatralen Formen, welche die Theaterwissenschaft bis dahin als Paratheater bezeichnet hatte, also von der Performance, dem Tanztheater, der SoundCollage, der Sprechoper etc. Elemente dieser nichtdramatischen Ästhetiken wurden zu einem immer stärker integrierten Mittel auch im traditionellen Theater. Damit verschob sich das Gleichgewicht in der Inszenierung weg vom dramatischen Text, hin zur Aufführung, wobei das Regietheater des 20. Jahrhunderts mit der zentralen, künstlerisch verantwortlichen Person des Regisseurs ein höchst geeigneter Einflussbereich für die performativen und visuellen Elemente des einstmaligen Paratheaters war. Für diese neuen theatralen Phänomene wurde dann erst 1999 ein adäquater Begriff bekannt, nämlich derjenige des postdramatischen Theaters. Der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann schrieb einen umfangreichen Essay zum Thema, der schnell zum theatertheoretischen und analytischen Standardwerk der Theaterwissenschaft avancierte (Lehmann 1999). Er widmet sich, von Bert Brechts „Gestus“, Peter Szondis Theorie des modernen Dramas, der historischen Avantgarde und der Performancekunst seit den 1960er Jahren ausgehend, der performativen Ästhetik auf den zeitgenössischen Bühnen. Darunter versteht er ein Theater, das sich von der Vorherrschaft des Dramas befreit hat, das eher Präsenz als Repräsentation, eher geteilte als mitgeteilte Erfahrung, eher Prozess (Genotext) als Resultat (Phänotext), eher Energetik als Sinn bzw. Information bedeutet. Einem solchen performativen Theater eignet eine „Ethik des Antwortens“ als eine „Ethik der Differenz, statt der Identität, Gleichheit oder Reziprozität“ (Fischer-Lichte 1999; Mersch 2002, 294). Das soll nun nicht bedeuten, dass
NichtRepräsentierbarkeit
Postdramatisches Theater
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IV. Historische Formationen
Gestus nach Brecht
Nachdramatische Sprech- und Theoriestücke
1966 als Umbruchsjahr
für den Produktionsprozess kein dramatischer Text mehr erlaubt wäre. Zudem leitet auch Lehmanns Ästhetik ihre dekonstruierende Argumentation jeweils von den traditionellen aristotelischen Konstituenten des Dramas wie Handlung, Figur, Zeit, Raum ab, wiewohl er diese subvertiert. Vielmehr wäre auch mit Rekurs auf die historische Avantgarde davon auszugehen, dass der dramatische Text nur ein Element der Inszenierung bzw. Aufführung unter vielen ist. Es geht daher nicht um eine total verweigernde Haltung gegenüber dem dramatischen Text, sondern gegen den konventionellen Umgang mit ihm, was insbesondere die Inszenierung, die den Text ,nutzt‘, betrifft. Thematisiert wird die Art und Weise der Präsentation des dramatischen Textes, der schon noch wirksam bleibt, wie man insbesondere in den Inszenierungen der Texte Heiner Müllers, Elfriede Jelineks oder René Polleschs beobachten kann. Wichtig ist die Unabhängigkeit von psychologisch ,richtigen‘ Figuren, die zur Identifikation einladen. Ebenso verändern sich im theatralen Ereignis Zeit, Raum, Körper und Handlung, die alle nicht mehr in der klassisch-naturalistischen Weise decodierbar sind. Schon bei Brecht im Epischen Theater betont ausgestellt und damit als veränderbar begriffen, wird der Gestus bei Lehmann dezidiert zum Gestus nach Brecht. Er tendiert somit dazu, selbstreferentiell zu werden; keinesfalls unterstützt er eine sinnvolle Narration und eine eindeutige Orientierung an einem selbstbewussten, normalen Subjekt. Die Zuschauer werden aktiv dabei gestört, in der Wahrnehmung die theatralen Mittel einer einheitlichen, sinntragenden mentalen Synthese zuzuführen. Das postdramatische Theater initiiert statt einer botschaftstragenden Bedeutung einen nie an ein Ende kommenden performativen Akt der Bedeutungszuweisung. Es entsteht der Eindruck der Polyvalenz und Uneindeutigkeit sowie der Simultaneität des Zeichengebrauchs. Orientieren können sich die Zuschauer in der Hauptsache wie in der historischen Avantgarde nur noch an Rhythmen und assoziativen Feldern. Die Wahrnehmung als performativer Akt und die Medialität des Wahrnehmungsvorgangs sollen bemerkbar und damit reflexions-, diskussions- und letztlich veränderungsfähig werden. Was den dramatischen Text im engeren Sinne betrifft, zeigte sich ein Aufstieg der nachdramatischen Sprech- und Theorie-Stücke schon seit den 1960er Jahren. In dieser Zeit ereignete sich der Wandel von der Struktur des gesellschaftlichen Theaters zur Theatralität der Medienwelt. Paradigmatisch für diese Zeit war Peter Handke mit seinem das Medium Theater reflektierenden Stück Die Publikumsbeschimpfung, das sein Vorhaben im Dialog offen legt. Die spektakuläre Uraufführung dieses Stückes 1966 im Frankfurter Theater am Turm antwortete auf die gesellschaftspolitischen und vorstellungsweltlichen Transformationen der Zeit. 1966 war in der Tat ein kulturell folgenreiches Jahr. In Princeton revoltierte der junge Handke gegen die Mandarine der Gruppe 47. Das Theater Bremen wurde unter Kurt Hübner mit Peter Zadeks Inszenierungen zum Zentrum des politisierten und popästhetischen Regietheaters. Michel Foucaults Ordnung der Dinge avancierte im intellektuellen Paris zum Buch der Saison und initiierte die Ablösung der Führung Jean-Paul Sartres. Die intellektuelle Avantgarde sprach nicht mehr vom bewusstseinsfähigen Subjekt, sondern von Codes und Systemen, man war nicht mehr Existentialist, sondern Strukturalist; ein Jahr später propagierte Richard Rorty den linguistic turn. So
5. Postdramatik seit den 1960er Jahren und die Rückkehr des Dramatischen
nahm es nicht Wunder, dass für Handke das Stück kein Bild der Wirklichkeit, sondern die Welt in den Worten selbst zeigte. Theatrale Wirklichkeit sollte nicht eine soziale Realität außerhalb der Sprache abbilden. Der theatrale Gestus hatte die Mittel der Sprache sichtbar zu machen. Als performativer Akt orientierte er sich am Nouveau roman, den Überlegungen Maurice Blanchots, an Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad oder, mit Brecht politischer akzentuiert, an Jean-Luc Godards filmischen Essays. Figuren und Handlungen wurden als Teil veränderbarer Strukturen beobachtbar. Was Godard etwa in seinem Film Weekend mit der Fortdauer der Handlung auflöste, band Handke in seinem 1968 von Claus Peymann in Frankfurt inszenierten Kaspar ein. Hier löste Mensch-Werdung und Subjektivierung in performativer Sprachaneignung als Sprechfolterung das Anthropologische im Strukturellen auf. Der Verdacht, dass der Struktur nicht zu entkommen war, schon gar nicht in einer ,bürgerlichen‘ Kunstform wie dem subventionierten Theater, grundierte Peter Steins Bremer Einrichtung (1969) der goetheschen Figur des Künstlers Torquato Tasso als „Emotionalclown“ der gesellschaftlichen Ordnung. Hintergrund war Brechts Diktum, von Walter Benjamin in seiner Geschichte der Photographie zitiert,
Von Stein zu Marthaler
dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der A. E. G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. […] Es ist also tatsächlich etwas aufzubauen, etwas Künstliches, Gestelltes. (Benjamin 1966, 153) Steins In-Szene-Setzung wies dabei über den Brecht’schen Gestus hinaus und war bereits weitgehend postdramatisches Theater avant la lettre – Christoph Marthaler hat Ende der 1990er Jahre Steins Tasso-Inszenierung als VorBild seiner Ästhetik herausgestellt. In einem abgeschlossenen Bühnenraum deuteten die während der Aufführungszeit ständig anwesenden Schauspieler durch forcierte und verdoppelte Darstellung inhaltlich auf die gesellschaftspolitische Ohnmacht des Künstlers und formal auf die Konventionen der Rolle und des Mediums sowie die Erwartungshaltung der Zuschauer. Adornos Philosophie, französischer Strukturalismus, surrealistisches Wirklichkeitsverständnis, Artaud und vor allem Brecht bildeten den vorstellungsweltlichen Hintergrund der Überwindung des Dramatischen. Generell ging es in den späten 60ern noch um den Beginn einer Bewegung zu einem besseren, einem noch nicht erreichten, nur in der Vorstellung existierenden Ort, um eine Utopie. Das avancierte Theater der 1970er bis 1990er Jahre In den 1970er und in den beginnenden 1980er Jahren änderten sich die Verhältnisse, der „Marsch durch die Instanzen“ war durchaus erfolgreich und der real existierende Sozialismus verlor spätestens mit der Veröffentlichung von Aleksandr Solschenizyns Archipel Gulag (1973–1975) und dem „heißen Herbst“ 1977 als utopische Gegenwelt seine Anziehungskraft. Eine Bewegung ohne utopischen Ort hatte keine Richtung mehr, so dass das Spiel der Zeichen in der Gleich-Gültigkeit einer nun positiv gewerteten Ent-Fremdung (Jean-François Lyotard) zum referenzlosen Spiel der Interpretationen
Verlust der utopischen Gegenwelt
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IV. Historische Formationen
Einbruch neuer Medienwelten und De-Konstruktion
Mediendominanz und Theatralisierung der Performance
Theater ohne soziale Wirklichkeit
wurde. Auf diese schleichenden Veränderungen, welche nach 1989 die rechtshegelianische Sicht eines liberalen, demokratischen und marktwirtschaftlichen „Endes der Geschichte“ (Francis Fukuyama) legitimieren, reagierte das Theater mit verschiedenen Versuchen. Während Stein mit der akribischen Rekonstruktion der Drei Schwestern (1984) von Anton Tschechow daran ging, ein naturalistisches Bild (aus der Erinnerung wieder) aufzunehmen, wie es Konstantin Stanislawskij noch mit Maxim Gorkijs Nachtasyl zu tun war, näherte sich Klaus Michael Grüber mit seinen Bakchen von 1974 einer psychoanalytisch-strukturell operierenden Ästhetik der kulturellen Erinnerung, welche exemplarisch die Grenzen zwischen Imagination und Realität sowie zwischen Bühne und Zuschauerraum zugunsten einer umfassenden Wirklichkeit als ,gemachtes‘, durchaus surreales Bild auflöst. Der Zeitgeist dieser nachmodernen Suchbewegungen hatte eine weithin uneingestandene konservative Tendenz. Stein inszenierte später Faust als Avantgarde der Avantgarde texttreu (nicht werktreu!) und vollständig. Handke entdeckte seinen persönlichen Faust im Spiel vom Fragen, welches Heideggers Frage als Urgrund vorstellte. So lautete eine Dialogzeile des Stücks konsequent: „Schauspieler: Schweigen als Frage“ (Handke 1989, 95): Der Andere erscheint als Rollenträger einer Inszenierungs- und Erlebnisgesellschaft, deren mimetische Grundlosigkeit im Schweigen ihren nicht mehr dialogischen Ausdruck findet. Das skizzierte Menschen-Bild erhält sich referenzlos in der Abdrift. Was blieb, war der phänomenologische Blick aus einer solipsistischen Individualität, wie ihn uns Handke in Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) andeutet. Der Reigen der Bilder formiert die Handlungswirklichkeit in diesem Stück (fast) ohne Worte in der Montage imaginärer und realistischer Attraktionen. So war Ende der 1980er Jahre alles ge-sagt. Die neue Herausforderung war nun der Einbruch der rasant expandierenden visuellen Welt der elektronischen Medien in die „unendliche Bibliothek“ (Umberto Eco). Am Schnittpunkt von visueller Medienästhetik und textueller Sprachlandschaft stand 1986 Robert Wilsons Inszenierung von Heiner Müllers Hamletmaschine. Der Dekonstruktion des nicht mehr dramatischen Textes begegnete die strenge, (un)willkürliche Komposition der Bilder und der Körper als Material. Das Theater profitierte von der Entwicklung in der bildenden Kunst, die dem unbewussten Impuls als performativem Akt und dem Ausstieg aus dem Bild in den Raum folgte. Mediendominanz und Theatralisierung der Performance waren nicht ohne Einfluss auf die Theaterstücke. Die Ästhetik wurde zur postmodernen Leitphilosophie; der Beobachter erschien aus der Sicht der Systemtheorie selbstreferentiell. Rainald Goetz ordnete seine Trilogie Festung als Ergebnis einer erschöpfenden Medienerfahrung. Er teilte seinen potenziell endlosen Text ein in die Materialien 1989 – als Dokument einer phänomenologischen Medienschau – und in die Theaterstücke Festung sowie die Berichte Kronos als räumlich-dramatische und zeitlich-epische Ordnungsinseln in der medial-mentalen Performance. Im avancierten Theaterstück der 1990er Jahre kam die dargestellte Wirklichkeit oft nicht nur ohne sozialen Bezug zur Realität aus, sondern setzte sich selbst in Anführungszeichen. René Pollesch lässt nicht Geschichten vom speziellen Leben erzählen, sondern nutzt das „Angebot eines Theorieapparates, der dann theoretisch auf das Leben von jedem Einzelnen angewendet
5. Postdramatik seit den 1960er Jahren und die Rückkehr des Dramatischen
werden könnte“ (Pollesch 2000, 64 ff.). Als getriebene „Akteure“ in einer globalisierten Mediengesellschaft mit ständig zunehmendem Austausch an kulturellem Kapital sind die Schauspieler/Figuren grundsätzlich in Bewegung. Sie verweigern, wie in Steins Tasso-Inszenierung, einen naturalistischen Stil. Die Texte zeigen nicht, wie Handkes Publikumsbeschimpfung, als Sprechstücke auf die Struktur des gesellschaftlichen Theaters, sondern als Theoriestücke auf die Theatralität der medialen Globalisierung, während sie zugleich den Verlust an Wirklichkeit und Halt in der Bewegung thematisieren. Rainald Goetz’ und René Polleschs Theaterstücke stellen das Verhältnis des Vereinzelten zu den Medien als geschlossenen Kreislauf dar. Die Befragung der Welt als kreisförmige Bewegung des hermeneutischen Zirkels, wie er noch in Handkes Spiel von Fragen zu finden ist, beschleunigt sich nicht nur aufgrund des Wandels vom erkenntnistheoretischen Skeptizismus der Moderne zum ontologischen Skeptizismus der Postmoderne, sondern auch als Antwort auf eine postdialogische Kultur und als Ver-Wirklichung der Medien. Mensch und Medienbilder werden in einem kybernetischen Verhältnis zusammengeschlossen. Die ästhetische Grenze als mediale Oberfläche tendiert zur Schnittstelle bzw. zum Link zwischen dem Wahrnehmendem und der Medienwelt, während sich gleichzeitig die Korporal-Motorik avancierten Theaters dieser Tendenz entziehen mag. Neben den Medienbildern sollen sich die Körper in ihrer Ambiguität als medial vergrößerte Sensation und sich verweigernde Erscheinung von Präsenz behaupten. Für die 1990er Jahre war der von Heiner Müller am Berliner Ensemble 1995 eingerichtete Arturo Ui paradigmatisch, in dem Martin Wuttke den animalischen Charakter des Diktators artistisch ausagierte, während die Neben-Figuren einem engem Bewegungsschema folgten. Die Trennung des Textes vom Körper trieb Einar Schleef mit der Inszenierung von Elfriede Jelineks Sportstück 1998 am Wiener Burgtheater auf die Spitze. Der mehr epische als dramatische Text hob sich deutlich von den chorisch und sportlich choreographierten Körpern ab, das Dialogische wurde zur Dialogizität der theatralen Mittel. Das letzte noch bestehende Primärmedium Theater, für das „Anfang des 21. Jahrhunderts eine schwindende gesellschaftliche Dominanz“ gilt, die „tendenziell auf sein Ende als eigenständiges Medium“ (Faulstich 2004, 13 und 47) hinweisen solle, beweist daher als performatives Medium der Präsenz durchaus seine Überlebensfähigkeit. Gleichwohl kann es sich zunehmend nicht mehr sicher sein, auf welchem Fundament diese Präsenz aufbauen kann. Denn es entwickelt eine Ästhetik, welche sich zunehmend den Rezeptionsgewohnheiten derjenigen anpasst, die mit elektronischen Medien aufgewachsen sind. So kann ab den 1980er Jahren beobachtet werden, dass sich die Serienwelt des Fernsehens analog der Welt des Theaters hin zum Postdramatischen entwickelt (Schneider 1995). Ein sehr gutes Beispiel hierfür wäre Michael Manns Miami Vice aus den 1980er Jahren. Diese Serie ist exemplarisch für die von Andrzej Wirth (1992, 233) für das avancierte Theater festgestellte Ästhetik der Präsentation im Sinne eines Überwiegens des Performativen, da Narration und Sinnangebot zugunsten der visuellen Ästhetik und der emotional anreizenden Dauerattraktionen völlig in den Hintergrund treten. Diese Ästhetik der Präsentation weist auf Richard Schechners environmental theatre (Schechner 1973) zurück und, wenn man es an philosophi-
Vereinzelte Figuren in der Medienrealität
Körper und Präsenz
Überwiegen des Performativen
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IV. Historische Formationen
Beziehungsfelder statt Dramatik
Junge Regie und die Ästhetik der Massenmedien
Dekonstruktion als Formalismus?
schen Grundlagen festmachen will, auf Friedrich Nietzsche. So verlieren auch noch am ,postmodernen‘ Ende des 20. Jahrhunderts traditionelle Fragen nach dem Sinnverstehen an Bedeutung, Serienfolgen lösen sich als Werkeinheit auf und kanonische dramaturgische Schemata mit Konflikten, Normverletzungen und Lösungen treten zugunsten der Bilderreize, des Arrangements und einer verschachtelten, alinearen Affektdramaturgie in den Hintergrund. In diesem Kontext ist die These des Medientheoretikers Vilém Flusser (1985, 9) aus den 1980er Jahren bemerkenswert, dass die Neuen Medien den Menschen „nicht mehr dramatisch, sondern in Beziehungsfelder“ einbetten, so dass die „Exploration des situativen Aspekts“ (Lehmann, 2002, 15) innerhalb einer „Ästhetik des Performativen“ (Fischer-Lichte, 2004) nicht nur im avancierten Theater, sondern auch in der Serienwelt des Fernsehens beobachtet werden kann. Heute hat Franz Xaver Kroetz recht, wenn er dem Fernsehen Täuschung vorwirft: „Du schläfst mit Heidi Klum, frühstückst mit Joschka Fischer, du sagst Herrn Müntefering die Meinung, du bist im Mittelpunkt des Geschehens und bist doch nur ein armes, verschissenes Hartz IVWürstchen!“ (Kroetz 2006). Die Medienbilder lassen kaum einen Unterschied zwischen einer Hungerkatastrophe und einer Gameshow erkennen. Polleschs Heidi Hoh ist als Figur das mediale Pendant der Gleich-Gültigkeit der Bilder. Was geschieht, wenn der mediale Schrecken in die geschützten Wohn- und Hotelzimmer des Westens einbricht, spielte Sarah Kanes Zerbombt, eines der englischen Stücke, mit dem Ende der 90er Jahre die Renaissance des dramatischen Textes in Deutschland begann, bis zur letzten Konsequenz durch. Strittig blieb, ob Kanes Darstellung der Gewalt eine Folge der realen sozialen Verhältnisse oder der intermedialen Übersetzung aus dem gewaltattraktiven Hollywoodkino war. Seit Thomas Ostermeier, unter dessen Leitung die Schaubühne sich einem neuen Realismus verpflichtete, Mark Ravenhills Shoppen und Ficken 1998 in der Baracke des Deutschen Theaters in den Gewaltszenen drastisch verschärft hat, kann diskutiert werden, ob dieser Realismus der sozialen Realität geschuldet ist oder populäre Medien-Attraktionen übernimmt. Der aktuelle Ruf nach dem ,wieder‘ dramatischen Text, nach einem Neo-Realismus im Sinne eines Postpostmodernen Theaters, welchen die Dramatik des Royal Court in Deutschland mit evoziert hat, könnte paradoxerweise ein Effekt der dominierenden Hollywoodästhetik sein. Auf dem Münchner Theaterfestival Radikal Jung orientierten sich junge Regisseure, wie etwa David Bösch mit der Inszenierung von Simon Stephens Port, höchst erfolgreich an den bekannten Ästhetiken und Szenen der Film- und Fernsehgeschichte. Ob der momentan virulente Neo-Realismus der Bühnen eine List der allgegenwärtigen Medien ist, um die Bodenlosigkeit und Leere der medialen Existenz zu kaschieren und ein Bedürfnis der vor allem jüngeren Generation zu befriedigen, oder ob es sich hier wirklich um eine Annäherung an die soziale Realität handelt, ist eine ungeklärte Frage. Rückkehr zum Dramatischen im Theater der Gegenwart? Diese Entwicklung einer (post)strukturalistischen Ästhetik scheint heute von einer Wiederentdeckung des Anthropologischen abgelöst zu werden. Die in den 1960er Jahren initiierte mediale und vorstellungsweltliche Virtualisie-
5. Postdramatik seit den 1960er Jahren und die Rückkehr des Dramatischen
rung, Ironisierung und dekonstruierende Ästhetik der Ausnahme hat mit den Medienbildern des 11. Septembers 2001 ihren Höhe- und Umkehrpunkt erreicht. Eine mediale „désinvolture“ (Ernst Jünger), die dieses Ereignis als „größtes Kunstwerk aller Zeiten“ (Karlheinz Stockhausen) und als „Katastrophenfilm aus Manhattan“ (Jean Baudrillard) interpretiert, ist nun kaum mehr tragbar. Der reine Entzug als generelle Absage an eine referentielle Mimesis, der in den 1960er Jahren als ikonischer Nihilismus noch gegen überkommene, als repressiv empfundene Strukturen in Anschlag gebracht werden konnte, gerät zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den Verdacht des Formalismus der Dekonstruktion. Registriert wird insbesondere in den jüngeren Generationen, dass sich die Vereinzelten in einer ,nihilistischen‘ Kultur nicht mehr so wohl fühlen. Sie ahnen wohl, dass dem zentrumslosen Spiel der globalisierten Märkte mit einer affirmativen postmodernen Ästhetik des Energetischen kaum wirksam beizukommen ist. Die Unsicherheit in der lebensweltlichen Performance, welche heute nicht nur den kulturellen, sondern auch den technologischen, organisatorischen, politischen, ökologischen und ökonomisch-finanziellen Bereich umfasst (McKenzie 2001) und die Kontingenz, das Ereignis wie das Event der Spaßgesellschaft als Zentren ausweist, erzeugt für die Kinder der 68er-Generation, welche sich ihre Freiheiten nicht mehr erkämpfen mussten, eine Sehnsucht, die keineswegs die nach Dezentrierung, Bewegung und Auflösung ist. Aufgewachsen in Patchworkfamilien, mitten in einer Glaubwürdigkeitskrise der Politik, konfrontiert mit den immens gestiegenen Mobilitätsanforderungen des Arbeitsmarkts, zirkulieren sie selbst als IchAGs durch die Kette der befristeten Anstellungen und Praktikantenverhältnisse. Herausgefordert werden sie durch ihnen fremde Fundamentalismen, denen sie nichts entgegenzusetzen haben als ihre anerzogene Toleranz. Die neueste Sehnsucht ist infolgedessen die nach Stabilität in der Bewegung, nach Identität in der Dezentrierung, nach Verantwortung, Verlässlichkeit, Treue und Ethik. Instinktiv wird erkannt, dass das, was die etablierten Älteren als Reaktion diffamieren, auch die Subversion einer permanenten Bewegung sein kann, welche zuweilen ein Merkmal für Totalitarismus ist. Dem Dezisionismus, den die junge Generation als Zwang in der Freiheit verspürt, sei es als Zwang, der auf sie, die nun ungeschützter ist, ausgeübt wird, sei es als Zwang, den sie selbst ausüben müssen, um im Überlebenskampf nicht unterzugehen, antwortet die Suche nach Sym- und Empathie. Dies ermöglicht die Wiederkehr des Helden, wie sie Nikolaus Frei in seiner Monographie zum Thema Die Rückkehr des Helden – Deutsches Drama der Jahrhundertwende darstellt; oder auch die Rückkehr der Geschichten und die ,wieder dramatischen‘ Texte von Marius von Mayenburg, Lukas Bärfuß, Oliver Bukowski, Moritz Rinke, Igor Bauersima und Jon Fosse. Mit der Sehnsucht nach Stabilität geht die Suche nach der verlorenen Metaphysik, nach der Realität hinter den Masken, nach einer neuen Substantialität einher (Gumbrecht 2005, 751 ff.). Die jüngeren Autoren wollen sich nicht mehr zufrieden geben mit dem Verweis auf die Relativität jeder Erkenntnis, welche als Forschungsansatz spätestens seit den Entlarvungen des Physikers Alan Sokal sowieso der Lächerlichkeit preisgegeben wurde – ihm gelang es, in der kulturwissenschaftlichen Publikation Social Text den Nonsensetext Transgressing the Boundaries: Transformative Hermeneutics of Quantum
Sehnsucht nach Stabilität in der Bewegung
Suche nach Empathie und Realität hinter den Masken
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IV. Historische Formationen
Anteilnahme neben ironischer Distanz
Theater wieder als moralische Anstalt?
Gravity zu veröffentlichen (Sokal/Bricmont 1999). Die Sehnsucht nach Realität zeigt sich in der Annäherung neuer Dramatik an die harte Ökonomie, trotz oder gerade wegen der totalen Medialisierung, wie wir sie bei Falk Richter, René Pollesch, Roland Schimmelpfennig, Fritz Kater, Gesine Dankwart und Kathrin Röggla bemerken. Gefordert wird, im Sinne einer Post-Postmoderne und in Abgrenzung zu den 68ern, ein neuer Realismus, welcher als Haltung nicht pure ironische Distanz, sondern auch Anteilnahme zeitigt. Hierbei wird die Erkundung des Mediums und der Wahrnehmungskonventionen nicht völlig ausgesetzt, aber sie steht nicht mehr so sehr wie vor der Jahrtausendwende im Vordergrund. Das Interesse geht über die Struktur, die Medialität und die ästhetische Oberfläche hinaus und richtet sich auf den Bereich des Referentiellen. Als wirtschaftliche Realität wurde es bereits in Top Dogs von Urs Widmer (1997) und Schimmelpfennigs Push up 1–3 (2001) thematisiert. Richters Das System positioniert die Wirtschaftssubjekte in den Mittelbereich zwischen Dezision und Empathie sowie Fremd- und Selbstreferenz. Dabei geht es dem Autor darum, in seinem vierteiligen Zyklus zu zeigen, „wie wir unser System überhaupt beschreiben können, denn wir stecken ja drin und ein Außerhalb des Systems gibt es nicht“ (Richter 2004, 52). In der Mehrzahl der neuen Stücke der letzten Jahre erlauben die Figuren durchaus eine Identifikation, obwohl sie der bewussten Dezision nicht entkommen. Das Mit-Leiden und die Erkenntnis von Ähnlichkeiten bleiben möglich, da ihre Lebenswelten bekannt erscheinen, wiewohl sie verfremdet werden. Ihre Anwesenheit wird glaubhaft dargestellt, während ihre Dekonstruktion nicht verhindert wird; zum neu entdeckten Anthropologischen gesellt sich das konventionell den Diskurs und die Medialität Reflektierende, obgleich dies in den Hintergrund getreten ist. Die Substanz der Figuren bleibt glaubhaft, während ihre Konstruiertheit nicht geleugnet wird. Sie halten die Waage zwischen fremd und vertraut, zwischen Typisierung und Andersartigkeit. In der An-Erkennung des Anderen geht es auch wieder um Auf-Klärung. Man nimmt sich heraus, so Lukas Bärfuß, wie Schiller das Theater wieder als moralische Anstalt zu verstehen: „Mein Anspruch ist nicht ohne Pathos. Der Zuschauer soll den Appell spüren: Ändere dein Leben! Ich will, dass das Theater wieder Fragen stellt. Wozu dient Freiheit? Wie gehen wir miteinander um?“ Und was den Dialog als Verbindung zum Anderen betrifft, meint er: „Der Mensch ist keine Insel. Wir können uns nicht selbst erlösen oder auch nur für uns selbst das Glück finden. Das gelingt nur durch das Du“ (Bärfuß 2005, 39).
V. Analyse der Aufführung: Probleme, Methoden und Perspektiven 1. Plurimedialität und theatrale Medialität: Inszenierung vs. Aufführung Anders als die Kunstformen Literatur, Musik und Malerei zeichnet sich das Theater wesensmäßig durch seine Plurimedialität aus. Theater verbindet unterschiedliche Zeichensysteme (Mimik, Gestik und Bewegung des Körpers, Sprache, Kostüm, Raumgestaltung, Licht, Musik usw.), sowohl in synchroner als auch diachroner Weise. Erstens sind stets mehrere Elemente aus verschiedenen Zeichensystemen zur selben Zeit miteinander auf der Szene kombiniert und zweitens unterliegt diese Konstellation während des zeitlichen Verlaufs einer Aufführung einem stetigen Rearrangement. Diese spezifisch theatrale Strukturdynamik einer dauernd variierten Komplexität von Elementen macht die analytische Erfassung des Gegenstands zu einer Herausforderung. Das Problem potenziert sich, wenn man bedenkt, dass die einzelnen Elemente einen durchaus differenten ontologischen Status besitzen, also ganz unabhängig von der ihnen beigelegten Bedeutung eine spezifische sinnlich-materielle Ausstrahlung und darüber hinaus eine von ihrem Alltagsgebrauch abhängige Eigensemantik besitzen, von der in der Analyse nur schwerlich abstrahiert werden kann. Hinzu kommt, dass die einzelnen Elemente als ästhetische Gegenstände von jeweils unterschiedlichen Produktionsinstanzen bereitgestellt werden, also von Schauspielern bzw. Tänzern und Sängern, von Bühnen- und Kostümbildnern, von Ton- und Lichtdesignern usw. Was sich im Verlauf einer Aufführung als koordinierte Gesamtheit zeigt, ist wiederum nicht nur allein den künstlerischen Intentionen dieser einzelnen Instanzen geschuldet, sondern wird synthetisiert durch die Instanz des Regisseurs, dessen Regiekonzept die ästhetische Leitlinie für die Inszenierung vorgibt. Der Begriff der Inszenierung bezeichnet in diesem Sinne einen der einzelnen Aufführung vorausliegenden Gesamtplan, anhand dessen das szenische Geschehen strukturiert, in der Probenphase erarbeitet und ideell abgeschlossen wird. Es handelt sich also um eine „intentionale Organisation von Zeichen und Zeichensystemen“ (Balme 2008, 87), die von theaterwissenschaftlicher Seite als „Inszenierungs-Text“ (Fischer-Lichte 1983c), als „System von Entscheidungen“ (Pavis 1989) oder auch als „intendierte und geplante performative Hervorbringung von Materialität“ (Fischer-Lichte 2005a) benannt worden ist (vgl. Balme 2008, 87). Die den konkreten Aufführungen vorgängige Inszenierung legt also fest, wann und wo welches Element innerhalb der Aufführung erscheinen soll, welche Wirkung oder Bedeutung von ihm ausgehen, und wie es sich mit anderen zu einem phänomenologischen und semantischen Gesamtkomplex verbinden soll. War innerhalb der Theaterwissenschaft der Begriff der Insze-
Theatrale Strukturdynamik
Produktionsinstanzen
Inszenierung
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V. Analyse der Aufführung: Probleme, Methoden und Perspektiven
Aufführung
Zuschauer als Mitspieler
nierungsanalyse durchaus gebräuchlich, so rückt die darin anklingende Auffassung vom ideell-theoretischen Konzept als dem eigentlichen künstlerischen Produkt das Theater in eine problematische Nähe zu einem konstanten, in sich geschlossenen Werkbegriff. Außerdem wird in ihm die konkrete Theateraufführung als ein jeweils variables und in sich dynamisches Geschehen, das sich innerhalb der Kopräsenz von szenischer Handlung und Publikum stets als einmaliges und aktuelles entfaltet, nur ungenügend anvisiert. Der durch die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern bestimmten medialen Grundsituation des Theaters, also der gemeinsam geteilten und von beiden Seiten als solchen registrierten Anwesenheit, wird dagegen im ereignisorientierten Begriff der Aufführungsanalyse Rechnung getragen – obgleich dieser in der Praxis oftmals in Entsprechung zu dem der Inszenierungsanalyse und vice versa verwendet wird. Die Aufführungsanalyse bestimmt die konkrete ästhetische Situation innerhalb eines bestimmten Theaterereignisses zum eigentlichen Analysegegenstand. Damit geraten die besonderen Bedingungen von Gegenwärtigkeit, Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Transitorik, die performative Hervorbringung von Materialität sowie die spezifische Medialität von Theater in den Fokus. Die aktuelle, durch den Einfluss neuer Medien auf das Theater wie durch deren Einbindung in aktuelle Inszenierungskonzepte nochmals beförderte Diskussion, ob es sich beim Theater selber um ein Medium handelt, kann hier nicht ausführlich erörtert werden (vgl. Prümm 1988; vgl. Meyer 1997). Stattdessen ist von theatraler Medialität im Sinne einer konstitutiven theatralen Grundsituation auszugehen (vgl. Fischer-Lichte 2005a, 17). Ein Theaterereignis ist in dieser Hinsicht die Relation zwischen dem, was auf der Bühne geschieht, und dem jeweils variablen Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Reaktionsvermögen des anwesenden Publikums. Dieses ist neben kulturellen, psychosozialen, moralischen, altersmäßigen und anderen Kriterien stets auch abhängig von rein subjektiven und in ihrem Zustandekommen zufälligen Momenten (vgl. Fischer-Lichte 1994). Man könnte überspitzt von der Tagesform eines konkreten Theaterpublikums sprechen. Nichtsdestoweniger ist sie, wie alle anderen genannten Faktoren, als konstituierender, auf den zeitlichen Verlauf und die atmosphärische Dichte der Aufführung einwirkender und diese mitgestaltender Faktor zu veranschlagen. Bereits Max Herrmann betonte die aktive Rolle des Theaterrezipienten. Das Publikum sei stets „als mitspielender Faktor beteiligt“ (Herrmann 1981, 19). Die Zuschauer bringen durch ihre Anwesenheit und Teilnahme, durch ihre die Wahrnehmung begleitenden Reaktionen die Aufführung als eigentliches ästhetisches Ereignis in ihrem Gesamtverlauf mit hervor. Es bietet sich angesichts der nicht immer scharf abgegrenzten Verwendung der Begriffe – also Inszenierungsanalyse und Aufführungsanalyse – an, den ersteren vor allem auf die Auseinandersetzung mit den in der Aufführung gegebenen, jedoch von der Inszenierung vorab festgesetzten ästhetischen Strukturen zu beziehen. Letzterer dagegen würde darüber hinaus besonders auf das Zusammenwirken und die Veränderung dieser Merkmale durch alle der Inszenierung nicht oder nur teilweise unterworfenen Sachverhalte im Hier und Jetzt der Aufführung fokussieren und damit auch die Zuschauerbeteiligung prononcierter in Rechnung stellen.
2. Quellen der Analyse
2. Quellen der Analyse Unabhängig davon, ob es sich um produkt- oder ereignisorientierte Ansätze handelt: Das wesentliche Problem der Analyse besteht in der Nichtverfügbarkeit der Aufführung als Artefakt. Die Flüchtigkeit szenischer Wirkungen und der entsprechenden Reaktionen darauf ist zum einen dem zeitlichen Fortgang der Aufführung geschuldet, deren einzelne Momente sich strikt präsentisch zueinander verhalten und so ein dauerndes ,Werden und Vergehen‘ evozieren, das sowohl die Bedeutungen als auch die materielle Gegenwärtigkeit der in Erscheinung tretenden Materialien umfasst. Dennoch ist natürlich auch die Theaterwissenschaft auf mehr oder weniger stabile Quellen angewiesen. Es ist jedoch – zumal angesichts der neueren Perspektiven auf Aufführung als ein strikt kopräsentisches Ereignis – unbedingt erforderlich, deren unweigerliche Diskrepanz zum eigentlichen Gegenstand stets anzuerkennen und in Rechnung zu stellen. Die Quellen analytischer Tätigkeit sind zum ersten – im Falle des Falles neben einem vorliegenden Textsubstrat – die Notate, die der Analysierende im Verlauf eines oder mehrerer Aufführungsbesuche anfertigt. Hier werden, im Vergleich zum Text, Abweichungen, Streichungen, Ergänzungen und Transformationen, aber auch generell alle markanten Elemente oder Szenen festgehalten. Die zweite Hauptquelle, die sich sehr gut mit den Notaten eines Aufführungsbesuches kombinieren lässt, ist die Videoaufzeichnung. Dabei muss jedoch unbedingt beachtet werden, dass es sich um eine selektierende Übersetzung (und Reduktion) des unmittelbaren Geschehens in ein vom Ausschnitt der Kameraperspektive diktiertes, konservierendes Format handelt, dessen mediale Strukturen noch dazu gänzlich andere sind. In verstärktem Maße gilt dies auch für Aufführungsfotos (zur damit einhergehenden Authentizitätsproblematik vgl. Balk 1989; vgl. Balme 1995). Es ist zu unterscheiden zwischen den von Theatermachern zu Arbeits- und Archivzwecken selbst gefilmten Dokumenten, dem sogenannten Hausvideo, und professionellen, meistens für das Fernsehen gemachten Aufzeichnungen, die im Theater live aufgenommen oder aber im Studio nachgedreht oder schließlich eigenständige Adaptationen für Film oder Fernsehen sein können (vgl. Balme 2008, 92). Im Hinblick auf Videomaterial ist unerlässlich, „daß man sich bewußt sein muß, nicht nur Dokumente der Inszenierungen, sondern eigenständige Monumente vor sich zu haben. […] Deshalb treffen die gewonnenen Analyseergebnisse zunächst nur für die Videoumsetzung zu; ihre Übertragbarkeit auf die zugrundeliegende Bühnenaufführung muß speziell überprüft werden“ (Balme 2008, 92; vgl. De Marinis 1985). Das gilt in verstärktem Maße für die in höchstem Grade manipulierbaren Dokumentationen in Form von CD-ROMS, DVDs und sonstigen digitalen Speichermedien. Wichtigen Stellenwert für die Interpretation können – je nach analytischer Perspektive – auch Regiebücher, Strichfassungen der verwendeten Texte und Dramen sowie das Programmheft haben, in dem oftmals Hintergrundtexte oder assoziative Gedanken zum Inszenierungskonzept geliefert werden. Auch gelesene, gehörte oder selbst geführte Interviews mit Künstlern und Produktionsstab können dienlich sein. Die genannten Quellen sind Produktionsquellen, die in erster Linie das Regiekonzept und das ideelle Mo-
Nichverfügbarkeit eines Artefakts
Notate
Videoaufzeichnung
Produktions- und Rezeptionsquellen
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V. Analyse der Aufführung: Probleme, Methoden und Perspektiven
dell der Inszenierung betreffen. Ihnen gegenüber stehen die sogenannten Rezeptionsquellen. Dazu gehören die eigenen Aufzeichnungen und Notate, Publikumsäußerungen (Zuschauerbefragungen) und die Theaterkritiken, deren subjektive Note jedoch mit zu veranschlagen ist. Insgesamt kommt es stets auf den besonderen Umgang mit den jeweiligen Quellen an. Weniger das Material an sich, als vielmehr die systematischen Perspektiven seiner Erfassung, seiner Strukturierung und seiner Auslegung bestimmen den Fokus des Faches.
3. Transformations- und Strukturanalyse Theatersemiotik
Transformationsanalyse
Historisch betrachtet schlagen sich die oben skizzierten systematischen Perspektiven im Bereich der Analyse von Theater in Form eines Richtungswechsels nieder. Zur Analyse des Zusammenhangs und der Interaktion der theatralen Elemente haben sich zwei Richtungen herausgebildet. Die erste, die vor allem in den 1970er, 1980er und bis in die 1990er Jahre hinein praktiziert wurde, ist die mit strukturalistischen Vorgaben hantierende Theatersemiotik. Sie versteht die Aufführung als einen Text, der aus heterogenen Zeichen gebildet wird, deren Zusammenwirken zu einem semantischen Ganzen es zu klären gilt. Es wird also ermittelt, welche Bedeutungen sich den einzelnen Zeichen, Zeichensequenzen und schließlich dem Aufführungstext als Ganzem zuschreiben lassen. Das Konzept der Dominantenbildung reguliert dabei den Fokus. Das von der jeweiligen Inszenierung exponierte Zeichensystem bzw. die dominante szenische Elementebene (z. B. Sprache, Handlung, Figur usw.) fungiert als integratives Feld, von dem aus die anderen Komponenten organisiert und analytisch strukturiert werden können. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass diese Bedeutungen nicht völlig festzulegen und vorab zu kodifizieren sind, sondern sich durchaus als Vieldeutigkeit des Theatertextes niederschlagen. Jede einzelne Analyse konzentriert sich dementsprechend auf eine oder mehrere mögliche Bedeutungen der Aufführung, veranschlagt aber prinzipiell die Möglichkeit auch anderer und davon abweichender Semantiken (vgl. Elam 1980; Fischer-Lichte 1983a,b,c; Hickethier 1985). Erika Fischer-Lichte (Fischer-Lichte 1983a,b,c) und Guido Hiß (Der theatralische Blick, 1993) haben in jeweils differierenden Gewichtungen strukturalistischer Vorgaben zwei Modelle für die Analyse von Theaterereignissen entworfen. Hiß verfährt in seiner Transformationsanalyse ausgehend vom zugrunde liegenden textuellen Substrat und zeichnet dessen Veränderung innerhalb der Bühnenrealisation nach. Durch die „Verbindung von strukturtheoretischen und hermeneutischen Verfahren“ (Hiß 1993, 13) soll dabei keineswegs das konkrete Ereignis erfasst werden, sondern ein „Simulacrum“ der Aufführung (vgl. zum Begriff Barthes 1969, 157 f.) erstellt werden. Die Analyse deckt sich also nicht mit dem analysierten Objekt, sondern rekonstruiert es durch Interpretation und legt somit die Regeln, nach denen es funktioniert, frei. Hiß legt dabei bereits besonderes Augenmerk auf die semantischen Freiräume und Leerstellen, die die Inszenierung erzeugt. Diese machen das analytische Verfahren zu einer dem künstlerischen Herstellungsprozess vergleichbaren kreativen Aktivität von „Zerlegung und Arran-
4. Neuere analytische Perspektiven und ihre Begrifflichkeiten
gement“ (Hiß 1993, 14), in der die Multivalenzen des ästhetischen Gegenstandes aufscheinen. Fischer-Lichte dagegen beginnt bei ihrer sogenannten Strukturanalyse nicht (unbedingt) bei einem zugrunde liegenden literarischen Text, sondern sie zerlegt die Aufführung in Segmentierungsebenen, also die Ebene der Figuren, die der Handlung, des Raumes und der Dekoration etc.: „Nachdem man die Ebene der Segmentierung gewählt hat, kann man an einem beliebigen Punkt der Aufführung die Analyse beginnen“ (Fischer-Lichte 1990, 247). Der Vorteil dieses Verfahrens besteht neben einer möglichen Textunabhängigkeit darin, dass es in stärkerem Maße als bei Hiß subjektiv-perspektivische Analysen ermöglicht. Die Analyse des Gegenstandes kann somit an von der Inszenierung selbst dominant herausgestellten Strukturen, Elementen oder Segmentierungsebenen ansetzen, oder aber sie kann ihren ganz eigenen Gewichtungen folgen. Die Theatersemiotik leistete insofern einen wesentlichen Beitrag zur Erfassung der Aufführungskunst Theater, als sie die Multimedialität einer Aufführung und die Vieldeutigkeit des Zeichengesamts in Analogie zum sprachlich-literarischen Text erschloss. Allerdings entging ihr dabei gerade der Prozess der performativen, an die jeweils aktuelle Kopräsenz von Bühnengeschehen und Publikum gebundenen Hervorbringung von Bedeutung und deren Verflechtung mit der Materialität der szenischen Mittel. In aktuellen erweiterten Ansätzen wird entsprechend nicht mehr in erster Linie die Aufführung im Sinne einer hermeneutisch zu erschließenden Textstruktur betrachtet, sondern es werden die spezifischen wahrnehmungs- und ereignistheoretischen Kriterien sowie die performativen Bedingungen der Entstehung von ästhetischen Wirkungen gesucht. Die dafür grundlegende Ambivalenz von Semiotizität und Materialität, Phänomene wie Emergenz, Präsenz und Atmosphäre sowie die Problematik ihrer Beschreibung und strukturierten Erfassung wandern damit von der Peripherie mehr und mehr ins Zentrum theaterwissenschaftlicher Analytik. Historisch gesehen liefern neuere analytische Tendenzen damit natürlich eine Entsprechung zu den ästhetischen Strategien der Performance- und Aktionskunst und des postdramatischen Theaters, die entgegen einer Kodifizierbarkeit zentral auf das Phänomen der Flüchtigkeit und auf die Ambivalenz zwischen Aussagekraft und reiner Wirkung eines theatralen Ereignisses abzielen.
Strukturanalyse
Erweiterung des semiotischen Ansatzes
4. Neuere analytische Perspektiven und ihre Begrifflichkeiten Eine Aufführung bringt den Faktor der Zeit und den Zuschauer wie Akteure gleichermaßen umfassenden Raum in eine unauflösliche Beziehung. Alles sich im Raum befindende Materielle ist zunächst und vor jeder Semiotisierung an die absolute Gegenwart seines Erscheinens und damit an das Prinzip der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit gebunden (vgl. Erika Fischer-Lichte 2005a, 19; vgl. Kolesch 2004). In der Tat gehen alle theatralen Elemente in der Struktur der Flüchtigkeit auf. Der Raum ist nicht mehr rein als fest umrissener geographisch-topographischer und architektonischer bestimmbar, sondern als Wahrnehmungsraum, der seine Dynamik und seine Inkonsis-
Gegenwärtigkeit, Flüchtigkeit
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V. Analyse der Aufführung: Probleme, Methoden und Perspektiven
Rhizom
Materialität, Korporalität
Symbolik
Autoreferentialität
tenz aus dem ständigen Wechsel der darin getanen Äußerungen und Elementbewegungen bezieht. In diesem Sinne handelt es sich um einen veränderlichen und jeweils aufs Neue hervorgebrachten, performativ gesetzten Raum. Dasselbe gilt für die innerhalb dieses Raumes erscheinenden szenischen Gegebenheiten, die auf der Bühne verwendeten Materialien, Dinge, Objekte und allen voran den menschlichen Körper mit seiner leiblichen Ausstrahlung. All diese Komponenten sind nicht im Sinne fixer Größen, sondern als dynamischen Transformationsprozessen unterworfene und sie bedingende Faktoren aufzufassen (vgl. insgesamt Martin/Sauter 1995). Insgesamt ließe sich mit Gilles Deleuze von Aufführung als einer raumzeitlichen rhizomatischen Struktur (vgl. zum Begriff: Deleuze/Guattari 2002; vgl. Lehmann 1999, 239) sprechen, die keine lineare Entwicklung kennt, keine feste Ausdehnung oder scharf umrissene äußere Grenzen hat und keine ontologische Stabilität aufweist, sondern sich zugleich mit dem und durch das Rearrangement der sie bildenden Faktoren als jeweils völlig neue herstellt und mit dem, was vorher und nachher erscheint, nicht in einer ableitbaren Beziehung steht. Auf den Umstand, dass theatrales Material in diesem Sinne stets als momentan wahrgenommenes fungiert, zielt der Begriff der Materialität ab. Anders als derjenige des Materials bezieht er sich nicht auf die artefakthafte Spezifik der für eine Inszenierung ausgewählten Gegenstände, sondern auf deren In-Erscheinung-Treten innerhalb der Aufführung. Er greift immer dann, wenn das Material nicht nur als Träger von Bedeutung, sondern in seiner phänomenalen Eigenwirkung exponiert wird. Der Begriff schließt damit den engeren Begriff der Korporalität ein, der sich dezidierter auf die Tatsache bezieht, dass Theater an die leibliche Präsenz von zumeist menschlichen oder menschenähnlichen (Figurentheater) Akteuren und deren spezifische Phänomenalität gebunden ist (vgl. Fischer-Lichte 2004, 243 ff.). Nun lässt sich besonders am Erscheinen des menschlichen Körpers überprüfen, dass Anwesenheit vor Zuschauern nie in Form eines reinen So-Seins oder Vorhandenseins zu bestimmen ist. Stets steht der Körper für den Verbund von Leiblichkeit und ontologischen, wertmäßigen und insgesamt symbolischen Zuschreibungen. Gerade die nach wie vor schockierende oder pikante Wirkung von Gewalt- und Sexualitätsdarstellungen verdeutlicht dies in besonderem Maße. Jedoch trifft dies keinesfalls nur für grenzwertige motivische Bereiche zu und ist auch keineswegs auf den menschlichen Körper beschränkt. Auch alle anderen in der Aufführung versammelten Elemente stehen im Spannungsverhältnis von reinem Erscheinen und einer ihnen vorab eingeschriebenen Referentialität. Licht und Farbe z. B. kommt etwa innerhalb einer Gesellschaft oftmals ein bestimmter symbolischer Wert zu. Dieser muss von der jeweiligen Inszenierung gar nicht intendiert sein, und dennoch kann er innerhalb der Aufführung zum Tragen gelangen, etwa wenn sich jemand bei der Farbe Rot an Blut erinnert fühlt oder Schwarz mit Düsterkeit, Trauer oder Hoffnungslosigkeit in Verbindung bringt. Selbiges gilt für Stimmlagen, akustische Momente oder Bewegungsfiguren usw. Aber ganz unabhängig von solchen eingeschliffenen Symboliken: Auch materielle Elemente, die sich in ihrer rein phänomenalen und sinnlichen Qualität in den Vordergrund drängen, sind niemals, wie Erika Fischer-Lichte betont, frei von referentieller Befrachtung, sondern sie bedeuten sich selbst.
4. Neuere analytische Perspektiven und ihre Begrifflichkeiten
,Sinnliche Eindrücke‘ lassen sich […] als jene Art von Bedeutungen beschreiben, wie sie im Falle der Selbstreferentialität entstehen. Es sind dies die Bedeutungen, die mir als spezifisch sinnliche Eindrücke bewusst werden. (Fischer-Lichte 2004, 246) Performativ gesetzt ist mithin die Phänomenalität der präsentierten Elemente und emergent die Wirkung, die sie auf den Wahrnehmenden im Akt der Wahrnehmung ausüben. Sie kann von physiologischen Veränderungen über körperliche Reaktionen bis hin zu bestimmten Gefühlsdispositionen und semantischen Assoziationen reichen (vgl. Fischer-Lichte 2005c, 240 f.). Das ambivalente Wechselspiel zwischen Eindruck und Bedeutung enthält zugleich die Frage nach der Qualität oder nach der Ökonomie von theatralem Erscheinen innerhalb der zeitlichen Verlaufsform. Neben sicherlich fruchtbaren, jedoch bisher systematisch noch nicht vollends erschlossenen Analyseaspekten wie dem der Energetik (vgl. Schrödl 2005), der Anmutung (vgl. Englhart 2002) oder der Atmosphäre (vgl. Schouten 2005), hat sich vor allem, wie bereits im Kapitel zur theatralen Wirkungsästhetik skizziert, der Präsenzbegriff als brauchbar erwiesen, insofern er die Relation von Zeigen/ Erscheinen und Wahrnehmen besonders in Rechnung stellt (vgl. FischerLichte 2004, 160–176; vgl. Kolesch 2005). Allerdings hat seine Veranschlagung für die Theaterwissenschaft gerade im Zuge poststrukturalistischer Theoriebildung – zumal in deren Befrachtung mit psychoanalytischen Modellen – eine ungeheure Bandbreite von Perspektivierungen erfahren, die die theaterwissenschaftlichen Grenzen überschreiten. Es finden sich so an Lyotards Theorie des Erhabenen (Affirmative Ästhetik, 1982) geschulte Vorstellungen der Anwesenheit ,von Etwas‘, das nicht erfassbar ist, neben Auffassungen von sinnlicher Seinsfülle und Theorien einer ,Anderen Szene‘ (der des Unbewussten) (vgl. Finter 1990). Sie alle werfen in spezifischer Weise eine von Christopher Balme angesprochene analytische Problematik auf, nämlich die der Entgrenzung der theater- und damit kunstwissenschaftlichen Analyse auf fachfremde Gebiete, da hier die Aufführung „als Untersuchungsgegenstand nicht nur ästhetisch, sondern, da es sich bei jeder Theateraufführung um hoch komplexe Interaktionsmuster handelt, auch soziologisch und eventuell psychologisch zu deuten“ (Balme 2008, 87) wäre. Diese Schwierigkeit, die sich in einer reinen Inszenierungsanalyse durch die Konzentration auf die ästhetische Struktur und ihre semantischen (und unter Umständen phänomenalen) Qualitäten umgehen lässt, schlägt natürlich besonders bei einer im engeren Sinne aufführungsanalytischen Perspektive zu Buche, die die mediale Konstellation im Hier und Jetzt einer Aufführung fokussiert. Ob und inwieweit diesem Problem beizukommen ist und eine von außerästhetischen Bezügen weitgehend abgegrenzte ästhetische Betrachtung dennoch möglich ist, soll nun dargelegt werden. Gegenüber weltanschaulicher Axiomatik zugetanen Theorien hat HansThies Lehmann in Auseinandersetzung mit der Performancekunst eine Auffassung von Präsenz im Sinne ästhetischen Erscheinens angestoßen, die auch für die analytische Erfassung gerade aktueller Theater- und Performanceformen brauchbar ist. Und zwar zunächst, weil sie die bereits von Walter Benjamin und Adorno veranschlagte historische Grundtendenz moderner Kunst im Sinne von Schock, Brechung, Verfremdung und Irritation in
Theatrales Erscheinen
Das Präsenz-Konzept mit Lehmann
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V. Analyse der Aufführung: Probleme, Methoden und Perspektiven
Undeutbarkeit
Rechnung stellt (Lehmann 1999, 254–260; vgl. Lehmann 1989; vgl. Adorno 1998, bes. 125). Damit wäre die Analyse zunächst formal auf im Aufführungsprozess beobachtbare Strukturen verwiesen, die diese Kriterien erfüllen. Präsenzwirkungen sind auch nach Lehmann nur innerhalb der Kopräsenz von Szene und Publikum denkbar. Da diese das Eingebundensein in ein Geschehen im Hier und Jetzt voraussetzt, ist jeder Augenblick des DaSeins, jeder Moment der Anwesenheit zugleich nur als radikale Vergänglichkeit denkbar. In Auseinandersetzung mit dem literatur- und kunsttheoretischen Konzept der Plötzlichkeit, wie es von Karl Heinz Bohrer (Das absolute Präsens) ausgearbeitet wurde, entwirft Lehmann Präsenz entsprechend als Struktur des radikalen Entzuges von präsentischer Anwesenheit im Sinne von intellektueller Greifbarkeit und pragmatischer Verrechenbarkeit (Lehmann 199, 256 ff.). Präsenz dieser Art meint also die kunstspezifische Überwindung alltäglicher Wahrnehmung und eine Einlassung auf die irritierenden, verstörenden, aber auch schrecklichen und überfallartigen Aspekte, die sich aus der medialen Konstellation und theatralen Transitorik daselbst ergeben. An den entsprechenden Aufführungen wären sie zunächst analysierbar im Sinne formaler und struktureller Äquivalente: als Brechungen von Wahrnehmungskonventionen, zeitliche, räumliche, aber auch intermediale Verschiebungen, Schwankungen zwischen Materialität und semantischer Assoziation im oben skizzierten Sinne usw. Lehmann geht jedoch noch einen Schritt weiter, wenn er an den betreffenden Formen und Gestalten von Performance und avanciertem Theater eine Tendenz zur strikten Selbstreferenz ausmacht, die keinerlei abgeschlossene Deutung zulässt. Das gilt auch und gerade für psychologisierende Zuschreibungen: Sowohl bei den dedramatisierten Formen des Theaters, die eine Art leerer Kontemplation vermitteln, als auch bei den affektiv terrorisierenden und unheimlichen Formen der radikalen Schmerz-Performances zeigt sich, daß eine psychologische Auslegung der Präsenzerfahrung […] nirgends ausreicht. Darin wäre immer ein von einem repräsentierbaren Objekt oder Sachverhalt ausgelöstes Erschrecken gegeben. Die theaterästhetische Dimension ist die Struktur eines Schocks, dessen Erregung nicht in einem Gegenstand sich bündelt – ein Erschrecken nicht an der Geschichte, nicht über eine Gegebenheit, sondern über das Erschrecken selbst. Es wäre näherungsweise an der psychologischen Erfahrung des Aufschreckens zu demonstrieren, das einem widerfährt, wenn man etwas, man weiß nicht was, nicht weiß, nicht hat, und dieses Nichthaben, Nichtwissen ,plötzlich‘ als Leere ins Erleben tritt. Ein Signal, das man nicht deuten kann und das einen trifft. Gegenwart als dergestalt nicht sistierte und sistierbare Erfahrung ist Erfahren des Versäumens. (Lehmann 1999, 258)
Präsentation statt Re-Präsentation
Das wesentliche Kriterium für Aufführungsanalyse gerade im Hinblick auf avancierte oder experimentelle Darstellungsformen liegt damit einmal in der vom theatralen Prozess zu leistenden Entbindung ästhetischer Wirkungen aus reduktiven, d. h. semantischen, psychologischen, kausalen, sozialen und weltanschaulich festgelegten Deutungs-Kontexten. Der re-präsentative Charakter ästhetischer Objekte tritt entsprechend zugunsten einer reinen selbstbezüglichen Präsentation zurück. Da dies in Bezug auf Theater, das
4. Neuere analytische Perspektiven und ihre Begrifflichkeiten
mit sinnlich-konkreten Gegenständen und ihrem jeweiligen alltäglichen Bedeutungsballast umgeht, kein unmögliches, jedoch ein sehr schwierig zu leistendes Unterfangen ist, wäre somit zugleich eine ästhetische Messlatte bzw. ein dezidiertes Qualitätskriterium geschaffen. Zweitens wird das von Lehmann angesprochene Aufschrecken wiederum nur situierbar im Zusammenhang von Präsentation und Rezeption. Die entsprechenden Bruchstellen, die die Aufführung inszeniert, sind somit zwar nicht in ihrer konkreten psychologischen Einwirkung auf den einzelnen Betrachter, wohl aber als von diesem wahrgenommene Struktur zu erfassen. Mit anderen Worten: Ob jemand auf eine solche Irritation mit Erschrecken, Lachen oder Weinen oder auch mit Deutungsbemühungen antwortet, ist unerheblich. Wichtig ist, dass all diese Reaktionen als Entsprechungen zur inszenierten Störung gewertet werden können – von den anderen Zuschauern und vom Analysierenden. Somit fungieren die variablen Reaktionen selbst als dynamische Bestandteile des Erlebens einer Aufführung. Drittens lässt sich das von Lehmann veranschlagte Versäumen sehr gut auf die transitorische Qualität der Aufführung, ihr transformatives und liminalisierendes Potenzial und auf die Emergenzqualität ihrer Wirkungen beziehen. Die Selbstreferentialität des ästhetischen Ereignisses wäre dabei im Hinblick auf das Theater immer auch ein Hinweis auf das selbstbewusste Hantieren mit den Spezifika der Kunstform selbst. Ins Zentrum der Analyse rückt damit vor jeder Semantik die Frage, inwieweit die erzählten Geschichten, die verwendeten Motive und Materialien sowie die konkreten ästhetischen Strategien in struktureller Beziehung zum ästhetischen Paradigma Theateraufführung stehen. Und schließlich: Mit Lehmanns Ansatz wäre zugleich einer Problematik Rechnung getragen, die sich unweigerlich in Auseinandersetzung mit einem so flüchtigen Gegenstand wie einer Aufführung einstellt. Die Erinnerung an das Erlebte, in die sich subjektive Assoziationen einschreiben und das Gesehene transformieren, wäre als aktives Element der ästhetischen Erfahrung zu werten, als integrativer Bestandteil der Erfahrung des Versäumens. Mit anderen Worten fordert eine gelungene Aufführung geradewegs dazu auf, den Entzug von Bild und Bedeutung auf dem Theater durch den jeweiligen eigenen Gedächtnisbeitrag zu ergänzen und sich in der Analyse über diese stimulierende Qualität der Aufführung und über die zustande kommenden eigenen Assoziationen Aufschluss zu geben, also sozusagen die Bühne im eigenen Kopf als Verlängerung des konkreten Schauplatzes zu werten. Die folgenden Beispielanalysen gehen jeweils von unterschiedlichen, durch ihren Gegenstand vorgegebenen Leitperspektiven aus. Es geht dabei weniger um die Wiederholung von im vorliegenden Kapitel beleuchteten Begrifflichkeiten qua praktische Anbringung, sondern um die konkrete Veranschaulichung einer Praxis perspektivischer analytischer Erschließung, die eingedenk der Theorie verfährt, ohne sie jedoch als kategorisches Korsett zu nehmen. Damit soll auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Analyse von theatralen Sachverhalten immer und in jedem Fall eine Sache des analysierenden Subjekts und seiner kreativen wissenschaftlichen Deutungsbemühungen ist.
Irritation und Reaktion
Bezug zum Theater
Erinnerung
Analyse und Kreativität
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse 1. Regietheater und Klassiker – Lessings Emilia Galotti in der Regie von Michael Thalheimer Klassiker auf der Bühne heute
Goethe und die Klassiker
Das heutige Theater, insbesondere das deutschsprachige, stützt sich, wenn man die aktuellen Spielpläne als Maßstab nimmt, zu einem großen Teil auf einen Kanon an überlieferten Theatertexten. Einige von diesen Stücken bezeichnen wir als Klassiker. Mit dem Begriff der Klassik – auf einen Zeitraum kultureller Höchstleistung bezogen – assoziiert man einen konstruierten, nichtsdestotrotz normativen Gehalt. An sich scheint der Wortgebrauch des Begriffs Klassik vage und diffus zu sein. Das liegt an der historischen und inhaltlichen Bedeutungsvielfalt und letztlich daran, dass er nicht ein Begriff der ästhetischen Produktion, sondern der Wirkung, Rezeption und Erfahrung ist (Erken 2003). Dass die Klassiker in der heutigen Zeit wieder wichtiger zu werden scheinen, liegt nicht zuletzt auch an den zunehmenden Diskussionen über die Historisierung der Postmoderne, welche den erkenntnistheoretischen Skeptizismus der Moderne durch einen ontologischen Skeptizismus ersetzte. Die dialektische Reaktion ist die aktuelle Diskussion eines Kanons, die auch die Frage nach den Klassikern wieder auf die Tagesordnung setzt. Was die Inszenierung der Weimarer Klassiker betrifft, muss von Anfang an ein Missverständnis ausgeräumt werden. Goethe selbst wäre im Theater der Gegenwart als Regisseur, wenn er einen Klassiker aufführen müsste, der Albtraum aller nach ,Werktreue‘ rufenden Traditionalisten. Für ihn kam beim Theater, so seine eigenen Worte, alles auf eine frische unmittelbare Wirkung an. Man will nicht gern reflektieren, denken, zugeben, sondern man will empfangen und genießen; daher auch oft geringere Stücke eine günstigere Aufnahme erleben, als die bessern; und zwar mit Recht. Diesmal aber haben wir ein Stück, das vor nahe 200 Jahren unter ganz anderem Himmelstriche für ein ganz anders gebildetes Volk geschrieben war, so frisch wiedergegeben, als wenn es eben aus der Pfanne käme. (Goethe 1811; vgl. Fischer Lichte 1985) Wenn für die Aufführung nötig, griff Goethe ohne Hemmungen drastisch in den Text ein: „Der einnehmende Stoff, der anerkannte Gehalt solcher Werke sollte einer Form angenähert werden, die teils der Bühne überhaupt, teils dem Sinn und Geist der Gegenwart gemäß wäre“ (Goethe 1815). Goethe strich nicht nur ganze Textpassagen, sondern er stellte sie gerne auch um und schrieb einen neuen Text dazu. So etwa tilgte er in Shakespeares Romeo und Julia die zu obszönen Szenen der niederen Stände und ersetzte sie durch Maskenzüge, um, wie er selbst sagte, das für ihn „Interessanteste zu konzentrieren und in Harmonie zu bringen, da Shakespeare
1. Regietheater und Klassiker – Lessings Emilia Galotti in der Regie von Michael Thalheimer
nach seinem Genie, seiner Zeit und seinem Publikum viele disharmonischen Allotria zusammenstellen durfte, ja mußte, um den damals herrschenden Theatergenius zu versöhnen“ (Goethe 1901). Diese konzentrierende Stilisierung als Mittel gegen das disharmonische Allotria wird Michael Thalheimer auf seine Art und Weise in seinen Klassikerinszenierungen wiederholen. Generell werden auch heute noch Klassikerinszenierungen gerne gegen die Einfälle des Regietheaters in Schutz genommen, wiewohl sich die Toleranz seit den 60er Jahren sukzessive vergrößert hat. Noch um 1970 war das Verhältnis von Regietheater und Klassiker „nur als Gegensatz denkbar und in mehrfacher Hinsicht ein Ärgernis“ (Erken 2002, 309). Mit Peter Zadeks Maß für Maß und Peter Steins Inszenierung des Torquato Tasso, beide in Bremen, öffnete sich das deutsche Theater der Klassiker popästhetischen und postdramatischen Einflüssen. Das Regietheater galt zur damaligen Zeit als Leitbegriff der Progressiven, während sich die Konservativen unter dem Banner der Werktreue um die Klassiker scharten. Diese gaben für die „modernen ,Regiebarbaren‘“ (Erken 2002, 309) ein dankbares Ziel ab; im avancierten Theater machte man sich an das ,Umfunktionieren‘ der Klassiker. Der Streit um das Regietheater ging mitten durch das Publikum, brach aber auch unter den Theatermachern selbst aus. Heute, 35 Jahre später, ist das Regietheater kein Anlass zur Hysterie mehr. Aber die Diskussion hält an und verstärkt sich in der letzten Zeit wieder. Unlängst hat sich sogar Peter Zadek kritisch gegenüber dem Theater der jüngeren Generation geäußert, deren „Konzepttheater“ sei „so eins zu eins und plump und stilisiert“, er sähe nur noch den „Einfall“, dem sich alles unterzuordnen habe und er vermisse die „Geschichtenerzähler“. Das, „was eigentlich der Sinn von Theater ist, nämlich über den Menschen etwas zu erzählen, das finde [er] nicht mehr“ (Zadek 2005). Diese Aussage ist schon deshalb bemerkenswert, da Zadek einer der Begründer des deutschen Regietheaters im engeren Sinne ist. Er hatte in der Spielzeit 1965/66 einen der beiden bis dato radikalsten Tabubrüche in der theatralen Schiller-Interpretation zu verantworten: Schillers Die Räuber in Bremen, in der Ausstattung von Wilfried Minks, in der nicht nur theatralisierte Signale der Pop Art vorherrschten, sondern das Verhaltensrepertoire der Figuren aus dem populären Hollywoodfilm und aus Comics übernommen wurde. Zadek stellte damit die Kategorie der Werktreue in Frage, verdeutlichte er doch, dass Schillers Stück zu seiner Zeit populär und nicht ohne erfolgssuchende Trivialitäten war – es sorgte ja nicht von ungefähr bei seiner Uraufführung 1782 in Mannheim für einen riesigen Theaterskandal. Heute polemisiert Zadek dezidiert nicht gegen das Regietheater, sondern gegen das von ihm sogenannte „stilisierte Theater“. Regietheater, wie er es seit seiner Bremer Zeit in den 60er Jahren gemacht hätte, sei für ihn „zwar ausgefallen, aber ganz realistisch“ gewesen (Zadek 2005). Am Gegensatz zwischen stilisiertem und realistischem Theater entzündet sich auch die Frage nach dem Politischen des Theaters. Der Verdacht besteht, dass das Regietheater paradoxerweise vielleicht wieder den Weg zurück zum apolitischen Theater der 50er Jahre geht, in dem Gustav Gründgens die Historisierung seiner Klassiker verweigerte und gesellschaftliche Faktoren vernachlässigte, während er das geistig Wesentliche in der „Überformung, Abstraktion und Stilisierung“ suchte (Erken 2002, 322 f.). Das änderte sich mit den Remigran-
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Thalheimers Emilia Galotti
ten Fritz Kortner und Erwin Piscator, die dem formalistischen Leerlauf, der affektiven Rhetorik und dem Pathos des westdeutschen Theaters durch leidenschaftliche Vernunft, durch Inhalte und die Orientierung an gesellschaftlichen Tatbeständen begegneten. Ein Vertreter des stilisierten Regietheaters, der das Wesentliche in der Überformung und Abstraktion zu suchen scheint, ist Thalheimer. Dies kommt insbesondere dann zum performativen Ausdruck, wenn dieser Klassiker wie Emilia Galotti inszeniert. Thalheimers Emilia Galotti am Deutschen Theater Berlin aus dem Jahr 2002 ist hoch stilisiert und stark verkürzt, die Inszenierung des bürgerlichen Trauerspiels ist jedoch viel komischer, als es die dramatische Vorlage erwarten lässt. Die Figuration verweist über teilweise stilisierte Bewegungsfiguren auf die Commedia dell’arte und auf die historische Avantgarde. Die Wohnung der Galottis und auch der Hof des Prinzen von Guastalla wurden von Thalheimer zu einem nach hinten in Trapezform sich verjüngenden, hellen, kahlen, eher charakterlosen Einheitsraum im Stile der Stilbühne und des Konstruktivismus umfunktioniert. Dessen Fluchtpunkt ist zugleich eine unbeleuchtete Öffnung, durch die fast alle Auftritte und Abgänge ermöglicht werden. Von dort aus gehen die Figuren ihren langen Weg von ganz hinten nach ganz vorne bis zur Rampe und wieder zurück. Durch den nach hinten gezogenen Raum der Bühne entsteht der ungewöhnliche Eindruck, die Bühne sei deutlich tiefer als breit. Die Figuren müssen den theatralen Raum, der sie durch seine immense Ausdehnung klein erscheinen lässt, jedes Mal erst einmal durch einen gelungenen Auftritt erobern und durch einen ,starken‘ Abtritt für sich auch in ihrer Bühnenabwesenheit sichern. So inszeniert Thalheimer in diesem Stück weniger den Dialog oder die Szene, sondern mehr das Kommen und Gehen als den imageerzwingenden und -erhaltenden Auftritt der Figuren in der bürgerlichen Öffentlichkeit.
Abbildung 1: Emilia Galotti / Regie: Michael Thalheimer. Foto: Katrin Ribbe.
1. Regietheater und Klassiker – Lessings Emilia Galotti in der Regie von Michael Thalheimer
Die Bühne wird kaum durch das Bühnenbild, vielmehr durch das Schauspiel der Figuren zum Laufsteg, die Inszenierung zur Modenschau. Die auftrittsbegleitende Musik gibt den Takt der Schritte vor und unterstützt den Rhythmus der Aufführung. Schon der erste Auftritt Emilia Galottis, der Tochter des Obersten Galotti, wird gefeiert, sie tritt aus der hier rot beleuchteten Öffnung, und während ihres Ganges nach vorne prasselt ein Feuerwerksregen auf sie herab. Auf dem Rückweg begegnet sie dem gerade auftretenden Prinzen von Guastalla, Hettore Gonzaga (Sven Lehmann). Sie stoppen beide mitten im Lauf, sehen sich, der Prinz deutet eine berührende Bewegung an, sie gehen wieder auseinander. Durch die Einspielung der hypnotischen Musik aus Wong Kar-Weis Film In the Mood for Love, in der ständigen Wiederholung zur minimal music, die gut zum abstrakten Ausdrucksraum der Bühne passt, transformiert, wird ein spezieller intermedialer Bezug hergestellt. Wie im Film, der an dieser Stelle der Begegnung zwischen den Liebenden mit Detailaufnahmen und Zeitlupe arbeitet, berühren sich die Figuren kaum wirklich in der flüchtigen Begegnung. Nur die Körpersprache und die schnellen Blicke sprechen für sich. Nach ihrer zweiten Begegnung versucht der Prinz, Emilia zu folgen, fällt jedoch über seine Füße. Ihren ersten Dialog rattern beide betonungslos herunter, während die Spannung zwischen den Körpern steigt und sie fast bewegungsunfähig macht. Was der Film Wong Kar-Weis im Dazwischen, aufgedeckt durch die Bilder, offenbart, nämlich das offene Geheimnis der verbotenen Leidenschaft zwischen einem Mann und einer Frau, zeigt Thalheimer mit den medialen Mitteln des Theaters, mit der gestenarmen Spannung als Ereignis zwischen den Körpern. So gelingt es Thalheimer, eine eigenartige Ambivalenz in der starken theatralen Präsenz zu betonen: zum einen auf der performativen Ebene, die das Innenleben zu offenbaren scheint, eine große Zuneigung und erotische Anziehung. Zum anderen auf der Ebene des Dialogs, der ins ganz Laute oder ins ganz Leise getrieben, schnell gestottert oder gebremst geleiert wird, Austauschbarkeit, Beliebigkeit und Kälte. Ganz anders die Begegnung des Prinzen mit seiner ehemaligen, nun verschmähten Geliebten, der Gräfin Orsina, gespielt von Nina Hoss. Man trifft sich nicht auf dem (bürgerlichen) Laufsteg, sondern ganz vorne an der Rampe, sozusagen am Ende der Bühnenwelt, sieht sich nicht an, sondern blickt ins Parkett. Die Gräfin muss geradezu körperlich schmerzhaft erfahren, dass sie nicht mehr erwünscht ist. Sie reicht einen Brief, dieser fällt zu Boden, der Prinz zögert demütigend lange, diesen Brief aufzuheben und zerknüllt ihn ungelesen, er bleibt die ganze weitere Aufführung lang auf dem Bühnenboden liegen. Da Thalheimer ansonsten nur noch eine Pistole als Requisite einführt, bekommen Brief und Waffe eine besondere Bedeutung. Der liegen gelassene Brief als Zeichen der Ablehnung Orsinas transformiert sich somit über die Waffe zum Zeichen der Rache, dem Tatwerkzeug der von der Gräfin initiierten Intrige. Das zentrale Paar der Inszenierung sind eigentlich der Prinz und sein intrigierender Höfling, der Kammerherr Marinelli (Ingo Hülsmann). Das Begehren des Prinzen, der Stress des servilen, aber geschickten Höflings und das Machtgefälle zwischen beiden Adelsvertretern lassen ihren Dialog zur korporal angesetzten, aber nicht ausagierten Auseinandersetzung werden. Welcher Druck auf Marinelli lastet, zeigt sich in einer Szene, in der dieser, kaum dass der herrische Prinz gegangen ist, ausrastet, sich die Kleider vom
Korporale Performanzen
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Semantik des Bühnenraums
Leib reißt und so fest mit beiden Beinen auf den Boden springt, dass die Musik aussetzt. Nur in der kurzen intimen Berührung, dem im dramatischen Text Lessings nicht vorgesehenen Kuss mit der Gräfin Orsina, bröckelt die Maske des am Hof sozialisierten nützlichen Handlangers Marinelli. Diese überraschend intime Szene zweier Höflinge macht in der plötzlichen gegenseitigen korporalen Anziehung die sonst übersehenen, da unsympathischen, gar bösen Opfer des Systems menschlich und damit über ihre Funktion am Hof, im Stück und in der ideologisch motivierten Stoßrichtung Lessings hinaus als verletzbare und gar nicht so rationale Individuen sichtbar. Auch auf der Seite der bürgerlichen bzw. anständigen Gesellschaft ist die Harmonie deutlich gestört, was sich vorrangig in den Begegnungen auf der korporalen Ebene bemerkbar macht. Die Mutter Claudia Galotti sieht den Prinzen und ist wie ihre Tochter Emilia selbst sofort von ihm eingenommen. Emilias Begegnung mit ihrem zukünftigen Verlobten wird zum verkrampften Ballett der Berührungsvermeidung, des Grafen Appianis Annährungsversuch lässt sie sichtlich erstarren. Und der Vater wird im Finale des Stücks, als er verzweifelt die bürgerliche Ehre seiner verführbaren Tochter retten will, zum Opfer der erotischen Ausstrahlung der Gräfin, indem er sie überraschend küsst. Der Regisseur vermeidet generell einseitige Moralzuweisungen, gleicht gegebenenfalls mit Inszenierungseinfällen vom dramatischen Text vorgeprägte, zu einseitige Charaktere aus. Thalheimers Theatralisierung schiebt neben dem Korporal-Motorischen die besondere Semantik des Bühnenraums in den Vordergrund. Oder anders gesagt: Es geht um die Spannung der Figurenkörper untereinander und im jeweiligen Bezug zum Bühnenraum, der, hoch abstrahiert und meist weitgehend leer, je nach Spielkontext eine andere Bedeutung hat. Nach der von Marinelli geplanten Ermordung Appianis und der Entführung Emilias auf das Lustschloss Dosalo des Prinzen transformiert sich der Raum zum zweiten Bild der Inszenierung. Er wird vom modernen, richtungsweisenden Laufsteg der bürgerlichen Öffentlichkeit zum theatralisierten Raum des alten Adels, zum unausdeutbaren Labyrinth der adeligen und zugleich postmodernen Existenz, in dem die energetische, triebgesteuerte Performanz der Figuren keine eindeutige Richtung mehr findet. Die Figuren orientieren sich nicht mehr an der Öffnung für ihre Auftritte im Fluchtpunkt des Bühnenraums, sondern kommen und gehen durch die unzähligen Seitentüren des sich nach hinten verjüngenden Korridors, die sich an den Seitenwänden öffnen lassen. Emilia trifft im Schloss erst Marinelli, dann den Prinzen. Sie ist ganz in Weiß, in die Farbe der Unschuld gekleidet, deutet jedoch schon im Auftritt an, dass sie sich nicht gegen die Verführungskünste des Prinzen wehren wird. Der um seinen und Emilias bürgerlichen Ruf besorgte Vater (Peter Pagel) sucht verzweifelt im Schloss nach seiner entführten Tochter, doch das herrschaftliche Haus scheint aus lauter geheimen Türen zu bestehen. Er stößt sie alle auf, so dass am Ende aus dem bürgerlichen Laufsteg des Ansehens der Person in einer bürgerlichen Gesellschaft eine traditionelle, perspektivische Guckkastenbühne wird. Deren unzählige Seitentüren, die alle ins Nichts zu gehen scheinen, werden im Gesamtbild zu hintereinander gestaffelten Periakten. Aus dem konstruktivistischen Bühnenbild als Raum der Moderne wird so plötzlich im zweiten Teil der Inszenierung die Andeutung einer perspektivischen Guckkastenbühne als ein Relikt der Ständegesellschaft. Das
1. Regietheater und Klassiker – Lessings Emilia Galotti in der Regie von Michael Thalheimer
durch diese stilisierte Guckkastenbühne symbolisierte Schloss des Prinzen reflektiert die Theatralität des Adels und die bodenlose Amoral der Mächtigen, ihre gemalten Periakten betonen den Scheincharakter und moralischen Relativismus des spätbarocken Hofes und der postmodernen Gesellschaft zugleich. Aber der Kontrast dieses Raums kann im Vergleich zum Laufsteg der eitlen Bürger des ersten Teils nicht mehr auf ein dichotomisches GutBöse-Schema verweisen; letztlich bleiben alle beiden Räume wertfrei und alle Figuren ambivalente Charaktere. Thalheimer verändert konsequent den traditionellen Schluss des Lessingschen bürgerlichen Trauerspiels, der vorsieht, dass der Vater Emilias, von der verlassenen, intrigierenden Gräfin Orsina geschickt instrumentalisiert und mit einer Waffe versehen, die verführbare Emilia ersticht, um die bürgerliche Ehre zu erhalten. Dieser Ehrenmord gelingt dem Vater jedoch nicht, da er Emilia hinter den vielen Türen nicht finden kann und erschöpft aufgibt. Das Lustschloss Dosalo lässt keine eindeutige Orientierung mehr zu, da die aufklärerische Vernunft des Bürgers im richtungslosen Raum der Hintertüren der Triebe kein Ziel mehr findet. Verwirrt legt Odoardo Galotti seine Waffe, eine Pistole, auf den Boden der Bühne und geht ab. Die Waffe weist auf den paradigmatischen surrealistischen Akt der ziellosen Gewalttat, ohne Sinn und Vernunft beliebig in eine Menge zu schießen (vgl. Bürger 2000, 26 f.). Nach einer Weile betritt Emilia die Bühne, sieht die Waffe und hebt sie auf. Während man aufgrund der Kenntnis der dramatischen Vorlage noch eine Gewalttat erwartet, setzt die Musik ein und es tanzen durch die offenen Seitentüren unzählige Walzerpaare herein, so dass sie den ganzen Bühnenraum ausfüllen. Emilia wird von ihnen vollständig verdeckt. Nachdem die Paare die Bühne tanzend wieder verlassen haben, ist Emilia verschwunden. Auch ihr gelingt keine Tat, da sie sich im allgemeinen Tanz der Triebe selbst als Individuum verliert. Schließlich bleiben die hypnotische Musik und die Erinnerung an die zentrale Begegnung von Mann und Frau, die einzigartig und individuell erscheint, letztlich aber eine anthropologische Konstante bzw. Teil einer allgemeinen Struktur ist. In Thalheimers Inszenierung steht auf der korporal-motorischen Ebene bereits fest, was der betonungslose, schnell absolvierte Dialog gerade noch kommentiert und die Handlung im wahrsten Sinne des Wortes nachvollzieht. Die Bedeutungslosigkeit der sprachlichen Kommunikation wird evident. Damit wird der dramatische Text auf eine ästhetisiertere, theatralisiertere Ebene gehoben, wiewohl seine Bedeutungen keineswegs sehr verfälscht werden. Man könnte gar die These vertreten, dass es Thalheimer gelingt, den klassischen Text auf eine selbstreferentielle Art und Weise zu theatralisieren. Wobei die Selbstreferentialität zum einen die Medialität des Theaters betrifft, indem Körper und Bewegung, Musik, Raum und das Licht sich selbstbewusst gegenüber dem Dialog in den Vordergrund schieben. Zum anderen rekurriert sie auf eine Stilisierung des Klassikers, die sich, zumindest theoretisch, auf die Ansichten des Klassikers Goethe, wie man einen dramatischen Text in der Inszenierung zu aktualisieren habe, stützen könnte. Wie Wong Kar-Wei in seinen Filmen, gelingt es Thalheimer mithilfe seiner radikalen Reduktion der Ausdrucksmittel, dass Gesten, Bewegungen und Blicke, obwohl oder gerade weil sie hoch stilisiert sind, emotional aufrichtiger, präziser und eindeutiger als die gesprochenen Dialoge wirken.
Aktualisierter Schluss
Korporalmotorik und Dialog
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Thalheimers Klassikerinterpretation
Literatur- und Körpertheater
Auflösung von Differenzen
Dabei orientiert sich der komprimierte sprachliche Text beinah originalgetreu am zugrunde liegenden dramatischen Text – als einen Feind des Autors, wie es vielen Vertretern des gegenwärtigen Regietheaters vorgeworfen wird, kann man Thalheimer also nicht bezeichnen. Thalheimer dekonstruiert die Klassiker, indem er durch seine Verweigerung der Bedeutung sprachlicher Kommunikation das Identifikationsmotiv der Zuschauer qua sozialer Interaktion subvertiert und die Figuren als entfremdete erscheinen lässt. Aber anders als etwa Castorf harmonisiert und idealisiert er in der Komprimierung zugleich das Bühnengeschehen, so wie es der Regisseur Goethe schon für seine Inszenierungen vorgesehen hatte. Er greift dezidiert auf nur sehr wenige Bühnenelemente zurück. Meist benutzt er einen fast leeren Raum der Bühne. Die Requisiten zeitigen aufgrund ihrer Seltenheit eine besondere, meist symbolische Bedeutung. Hinzu kommt eine oft an den wirksamsten Stellen wiederholte Musik. Verbunden mit den sich am Rhythmus orientierenden Körpern ergeben sich zuweilen im Bewegungsimpuls tänzerische Anmutungen. Der Einfluss der historischen Avantgarde, aber auch Leopold Jessners Stilisierung des Raumes und des Bühnengeschehens auf Thalheimers Figuration und Raumeinrichtung ist evident, die Theatermittel sind jeweils emanzipiert, das Bühnenbild und mit Abstrichen der Schauspielstil erinnern in ihrer Stilisierung, der Tendenz zur Skulpturisierung und der Abstrahierung von natürlichen Bewegungsweisen an konstruktivistische Ästhetiken (wie die Tairows) und an das Bauhaus. Die Korporalmotorik der Figuren nähert sich zuweilen der hochartifiziellen Körperbewegung der Craig’schen Übermarionette, die symbolisch ewige Wesenheiten ausdrücken soll, und der Biomechanik Meyerholds, wiewohl sie zugleich höchst expressiv ist. Thalheimer rekurriert auf die Vorstellungen Appias und Craigs von einer Retheatralisierung des Theaters, indem er die Bühne nicht als Bild, sondern als Raum vorstellt. Hierzu betont er dezidiert die Dreidimensionalität der Bühne, die zum abstrakten Ausdrucksraum wird. Wie in Appias rhythmisierten Räumen, welche durch den funktionellen Gebrauch des Bühnenlichts und durch geometrische Bauformen dramatisiert werden sollen, geht es um eine weitest gehende Entrümpelung der Bühne und deren Umwandlung zu einer neutralen Einortbühne. Mit seinem radikal komprimierten Text gelingt es Thalheimer, dem Klassiker auf Augenhöhe zu begegnen (vgl. Bayerdörfer 1987) und den Dualismus zwischen Literaturtheater und Körpertheater, die „theoriegesättigten Differenzen zwischen Erbebewahrern und postmodernen Dekonstruktivisten“ fast dialektisch aufzulösen (Erken 2003). Seine Inszenierungen sind daher ein Regietheater an der Grenze zwischen neoavantgardistischer Dekonstruktion und neuer Rekonstruktion des bürgerlichen Klassikers als durchaus in seiner Stilisierung wertetragender Teil eines Kanons.
2. Theater der Bilder – Robert Wilsons Inszenierung von Georg Büchners Leonce und Lena Wilsons Theater der Bilder
Robert Wilson, bereits ein Klassiker des avancierten Theaters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gilt als paradigmatischer Vertreter eines Thea-
2. Theater der Bilder – Robert Wilsons Inszenierung von Georg Büchners Leonce und Lena
ters der Bilder (Rühle 1972; Simhandl 1993; Balme 2003; Heeg 2000). Seine einflussreichen Inszenierungen werden dem experimentellen Theater der Gegenwart zugerechnet, das in vielen Fällen einer Dominanz der Bildsprache zuneigt. Mit dem Begriff „Theater der Bilder“ deutet sich nur scheinbar eine tautologische Beziehung zwischen Medium und medialer Spezifizität des Theaters an. Denn offensichtlich ist zwar das Theater ein visuelles Medium, aber nicht in jedem theatralen Ereignis tritt das Visuell-Bildliche so deutlich in den Vordergrund wie bei Wilson. Andererseits wäre zu einem Theater der Bilder, dessen Blütezeit in den 1970er Jahren beginnt und bis heute anhält, die Frage zu stellen, ob der visuelle Anteil im Theater der Gegenwart wirklich gestiegen ist oder ob er in der Vergangenheit nicht einfach generell zu wenig beachtet wurde. Zu vermuten ist, dass die Forderungen an das Bildungstheater als Forum bürgerlicher Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert, die Nähe der früheren Theaterwissenschaft zur Germanistik und die Semiotik als Analysemethode, die den theaterwissenschaftlichen Blick auf das Ereignis Theater immer noch dominiert, einen entscheidenden Anteil an der Vernachlässigung des Bildes im Theater als Untersuchungsgegenstand hatten. Generell ist daher von einem medienhistorischen Spannungsund Komplementärverhältnis zwischen dem Bild und anderen Elementen des Theaters auszugehen. Das Bildlich-Visuelle wird zwar im jeweiligen theatralen Ereignis graduell mehr oder weniger stark betont, bleibt jedoch in jeder historischen und zeitgenössischen Theaterform ein unabdingbarer Teil des Ganzen, folglich ein Grundkonstituens des Theaters. Das Theaterbild wird gerne mit dem Bühnenbild erklärt, obwohl es sich eigentlich erst im Zuschauakt als gesamtes theatrales Bild, das etwa die Figuren, das Licht und atmosphärische Raumbedingungen mit einschließt, generiert (vgl. Englhart 2004). Wilsons Theaterbilder sind natürlich besonders prägnant und stehen so in einer eigenen Tradition. Vom barocken Ausstattungstheater lässt sich, immer in bewusster oder unbewusster Konfrontation mit der bürgerlichen Theaterreform, die Linie über die populären Bildmedien (den Bilderbogen, das Panorama, die Fotografie und dann den frühen Film) und die Schaulust betonenden kommerziellen Erfolgsbühnen des 19. Jahrhunderts bis zum Meininger Historismus und zur historischen Avantgarde ziehen. Das positivistische Bild des Naturalismus ging noch davon aus, ein Bild aufzunehmen und nicht ein Bild zu machen. Mit der Stilbühne und später der historischen Avantgarde wurde jedoch, analog zu Entwicklungen in der bildenden Kunst, die Eigenwertigkeit der theatralen Mittel betont. Das Weltverständnis erschöpfte sich keineswegs mehr in einem fotografischen Bild, die Surrealisten sahen vielmehr im Unbewussten eine höhere Wirklichkeit am Werk, welche Kausalität und Linearität negierte und einer assoziativen Verbindung bzw. Montage im Bild zuarbeitete. Da die Pariser Surrealisten unter dem Diktat André Bretons ein besonderes Problem mit dem Medium Theater hatten, wurde Antonin Artaud mit seinen Vorstellungen eines Theaters der Grausamkeit innerhalb der surrealistischen Gruppe kaum anerkannt. Erst 1971 schrieb Louis Aragon über Wilsons Deafman Glance an Breton, er habe nun das gesehen, „was wir, die Urheber des Surrealismus, uns als Nachfolge erträumt haben“. Hier wäre die Bühne wirklich zum Traumbild geworden, man hätte „niemals etwas Schöneres auf dieser Welt gesehen“,
Historische Theaterbilder
Vom Surrealismus zu Wilson
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Einflüsse der bildenden Kunst und des Tanzes
Wilsons Leonce und Lena
denn es sei „zugleich das wache Leben und das Leben bei geschlossenen Augen, die Verwirrung zwischen der Welt aller Tage und der Welt jeder Nacht, Realität vermischt mit Traum, das gänzlich Unerklärliche im Blick des Tauben“ (Aragon 1976, 3 ff.). Zu diesem Zeitpunkt war über die Neoavantgarde der 1960er Jahre der Einfluss der bildenden Kunst auf das avancierte Theater gestiegen. Wie etwa Tadeusz Kantor kam auch der 1941 geborene Wilson von der bildenden und angewandten Kunst zum Theater. Er hatte nach juristischen und wirtschaftlichen Studien in Paris Unterricht im Malen genommen und in New York Innenarchitektur studiert. Er folgte der Tendenz, das Tafelbild in den Raum und in die Bewegung zu erweitern, und ging über die ,armen‘ Performances hinaus, indem er sich auch an den eher abstrakten Formen des Tanzes, wie Georges Balanchines abstraktem Ballett und Merce Cunninghams Postmodern Dance orientierte. Wichtig wurden für ihn zudem theatrale Ästhetiken, die, von Kleist bis Craig, Figuren über ihre Materialeigenschaften und ihre Funktion als Marionette definierten; das Bewusstsein, das für Konstantin Stanislawskijs oder Lee Strasbergs Schauspielmethode essentiell ist, wäre ein störender Faktor und verhindere die Grazie in der Bewegung. Früh beeinflusst von seiner Arbeit mit Behinderten, suchte Wilson nach einer Bewegungstechnik und -ästhetik, die sich zu Beginn der 70er Jahre dezidiert von realitätssuchenden Programmen des Happenings und der Pop-Art absetzte. Hinzu kam die mechanische Verlangsamung der Bewegung der Wilson’schen Figuren, die keineswegs mehr natürlich spielten, sondern sich fast wie in Trance bewegten. In seinem avantgardistischen Antipsychologismus war ihm die Zusammenarbeit von John Cage und Merce Cunningham ein Vorbild, denn hier „illustrierte die Partitur nicht die Bewegungen. Das waren zwei Dinge, die getrennt voneinander existierten“ und dann „zusammengebracht wurden, wie bei einer Collage“. Gegen die Orientierung auf eine handlungstragende Figur setzte er die Weite des „Screens“, er freute sich darüber, dass er darin „mühelos sehen und hören konnte und dass es so viel Raum zum Überlegen gab, wie in einer Landschaft“ (Simhandl 1993, 35). Dieses Landschaftsbild erinnert an Gertrude Steins Geography, es integriert heterogene Elemente im Bild wie in einer surrealistischen Collage, so dass es wenig Sinn ergibt, es linear zu lesen. Rhythmus und visuelle Ästhetik machten Wilsons Werke zudem ideal anschlussfähig an die Oper, infolgedessen lag die Adaption musiktheatraler Werke wie dem Freischütz in seiner bekannten Inszenierung Black Rider nahe. Die Vertonung von Georg Büchners Leonce und Lena durch Herbert Grönemeyer wurde von Wilson 2003 am Berliner Ensemble in Szene gesetzt. Eine Inszenierungsanalyse darf bei Wilson dezidiert nicht vom dramatischen Text ihren Ausgang nehmen. Warum das so ist, darüber gibt Wilson selbst Auskunft: Normalerweise ist im Theater der Text das Primäre. Wenn einer ein Bühnenbild konzipiert, dient es nur zur Illustration. Ich denke anfangs nicht an eine Einheit, ich denke separatistisch und bringe das alles zusammen. Das Bühnenbild illustriert nicht den Text, der Text nicht unbedingt das Thema; das Thema wird zu einem autonomen Element, wie die Musik, wie die Körperbewegungen. […] Alle diese Elemente, die ich zuerst als
2. Theater der Bilder – Robert Wilsons Inszenierung von Georg Büchners Leonce und Lena
voneinander unabhängig behandelt habe, werden dann, ähnlich wie bei einer Collage, zusammengefügt. (vgl. Simhandl 1993, 37) Dennoch stellt man im ersten Durchsehen der Inszenierung fest, dass sich eine Handlung erkennen lässt, die sich, abgesehen von keineswegs sinnentstellenden Strichen, an Büchners dramatischem Text von 1836 orientiert. Wie Arien zwischen Rezitativen sind relativ regelmäßig etwa ein Dutzend kleine popsongartige Stücke eingefügt, die inhaltlich auffallend locker mit Büchners Text verbunden sind. Leider konnte Grönemeyer nicht darauf verzichten, zu diesen Stücken einen eigenen Text zu verfassen. Man hört Zeilen wie „Das Leben ist eine Zwiebel. Die Zähne kullern, ob wir wollen oder nicht“, und argwöhnt, der Komponist habe kaum den Kontext oder die philosophischen Anspielungen Büchners verstanden und munter darauf los assoziiert. Die entstandenen Popsongtexte entstammen wohl der Vorstellungswelt des Popstars. Sie sind außerordentlich banal und erreichen an keiner Stelle das Niveau des Büchner’schen Lustspiels. Wilson orientiert sich auch in seinem Rhythmus an Büchners Vorlage. Fast jeder Szene entspricht ein eigenes Bild. Der Bühnenraum könnte in seiner geometrischen Anlage eine Bauhausbühne sein. Durch alle Szenenbilder hindurch wird er nach hinten mit einem panoramaartigen Prospekt abgeschlossen. Vor diesem Hintergrund werden scherenschnittartig Gestalten und abstrahierte Architekturfragmente sichtbar, die Personenkonstellationen und Handlungsorte andeuten. Im Vordergrund ist bis zur Rampe eine breite und tiefe, bis auf ganz wenige Requisiten fast leere Bühne zu sehen. Als Grundstruktur scheint dem Prospekt ein helles Quadrat zugrunde zu liegen. Es ist damit ein Positivbild des dunklen schwarzen Quadrats auf weißem Grund, das der Suprematist Kasimir Malewitsch kurz vor dem ersten Weltkrieg als Bühnenbild für die Oper Sieg über die Sonne erfand und das er dann 1920 in sein bekanntes Tafelbild transformierte.
Abbildung 2: Leonce und Lena / Regie: Robert Wilson. Foto: Brinkhoff / Mögenburg
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse Licht und Raum
Gesamtkunstwerk
Bildstrukturen
Wilsons Figuren
Noch wichtiger als der Raum selbst ist das jeweilige Licht, das selbst Räume schafft. Es nimmt als Element der Inszenierung einen gleichberechtigten Platz neben Figuren und Bühnenbild ein. Mit seiner Hilfe teilt Wilson Räume auf, zeigt nur Teile der Figuren, die skulptural aufgebaut werden, und markiert ganze Räume, indem er etwa ein Zimmer durch ein auf den Bühnenboden projiziertes Quadrat andeutet. Regie, Bühne und Lichtkonzept, für die Wilson allein verantwortlich zeichnet, werden zu einem Gesamtkunstwerk zusammengeführt, dem sich sogar die Figuren fast nahtlos einfügen, da sie Eigenschaften von Marionetten und materiellen Skulpturen haben. Die Haus- und Naturansichten Büchners werden bei Wilson zu abstrakten oder abstrahierenden Bildern der Architekturumrisse und Naturstrukturen. Büchners „Garten“ in der 1. und 4. Szene wird zu einem ganz hellem Hintergrundprospekt, der eine ungreifbare Landschaft vermuten lässt, wie man sie etwa aus Dalís Bildern kennt. König Peters „Zimmer“ in der 2. Szene ist ein weit in die Tiefe weisender Raum mit einem übergroßen Gitterfenster als Fluchtpunkt. In der 3. Szene, in der nach Büchner in einem „reichgeschmückten Saal“ die „Kerzen brennen“, sieht man bei Wilson durch Säulenschatten hindurch auf eine weite, leere, wüstenartige Landschaft wie in ein Bild von Giorgio de Chirico. Eine komplizierte technische Vorrichtung erlaubt die Illusion von mitten im Raum schwebenden Kerzen, was den surrealistischen Eindruck noch verstärkt. Mitte auf der Bühne liegt als „Ruhebett“ ein halb quer gestellter Baumstamm, garniert mit einem Hirschgeweih, das wie ein objet trouvé anmutet. Die Verknüpfung der einzelnen Theaterbildelemente scheint allein der Traumlogik und der Assoziation geschuldet zu sein. In den vier Italienszenen als Ort der Begegnung von Leonce und Lena schiebt sich in jeder Szene ein riesiges präexpressionistisches Bild, stilistisch an Van Gogh, Gauguin und Munch erinnernd, erst von links, dann von rechts, dann von oben und dann von unten langsam vor den hellen Hintergrund, so dass die Öffnung des Prospekts wie in einer Blende immer kleiner wird. Damit deutet Wilson an, dass sich in diesem Akt der Begegnung der Liebenden in Arkadien die Weite der philosophischen Spekulation zum künstlichen Landschaftsparadies verengt. Aus Italien, dem Sehnsuchtsort des frühen 19. Jahrhunderts, am heimatlichen Hof und damit im 3. Akt angekommen, sieht man wieder die Schatten der klassizistischen Säulen vor hellem Hintergrund. Von der spekulativen Philosophie zur Kunst und wieder zurück, so lautet das Bildprogramm Wilsons. Die Inszenierung spielt kongenial zu Büchners Vorlage auf die Paradoxa des erkenntnistheoretischen Skeptizismus der Moderne und die Frage nach der geistigen und materiellen Grundlage der menschlichen Existenz an. Ähnliches wie für das Bühnenbild gilt für die Figuren selbst. Ihr Auftritt beginnt oft in slow motion als dunkler Schatten vor hellem Prospekt. Wenn sie den vorderen, fast leeren Teil der Bühne betreten, transformieren sie sich durch die Lichtregie zu dreidimensionalen Figuren. In diesem Übergang von zweidimensionalen Gestaltungen zu dreidimensionalen Verkörperungen deutet Wilson die medialen Spezifizitäten der Projektions- und Bildschirmmedien auf der einen und derjenigen der theatralen Medien wie Tanz, Theater und Marionettenspiel auf der anderen Seite an. Die Figuren sind stark und stilisierend geschminkt, sie verweisen auf die komischen Fi-
3. Theater und Neue Medien – Frank Castorfs Inszenierung von Endstation Amerika
guren der Commedia dell’arte sowie des Zirkus’ und agieren wie Kunstfiguren. Dabei spielen sie so mit Masken, dass Zweifel aufkommen müssen, ob es ein ,wahres‘ Gesicht hinter den Masken gibt. Wilsons starker Stilisierungswille, der sich im Bühnenbild sowie in der Licht- und Personenführung einzeichnet, rekurriert auf die platonisch grundierte, in der Entwicklung der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts besonders ausgeprägte Herrschaft der artistischen Ideenkultur (Beat Wyss). Aus Malewitschs Quadrat entsteigen Craigs Übermarionetten mit Kleist’scher Grazie. Bühnenräume, die Appia entstammen könnten, werden durch eine surrealistische, akausale Traumlogik und eine nichtaristotelische Dramaturgie verbunden. Wilsons Bilder stehen somit in der Tradition der Avantgarde des Theaters sowie der bildenden Kunst. Sein Eklektizismus macht ihn zu einem Vertreter des postmodernen Theaters, das der Ästhetik und den nichtdramatischen Beziehungsfeldern des Bildes besonders zuneigt. Wilsons Bilder besitzen keinen Referenten. Wie Büchners Figur des Valerio, die in der letzten Szene hintereinander mehrere Masken abnimmt, haben die Figuren Wilsons keine feste Identität und machen wenig Sinn. Die surreale Schönheit der Bilder fügt sich widerstandslos in die allumfassende, oft ebenfalls surreale Welt des heutigen Medienkonsums. Die affirmative Ästhetik der Postmoderne spiegelt sich in dieser Inszenierung. Wilsons Theater steht nicht nur für ein Theater der Bilder seit den 70er Jahren, sondern ist nun so sehr bei sich als seinem eigenen Spiegelbild angekommen, dass es sich bereits selbst historisiert hat.
Artistische Ideenkultur
3. Theater und Neue Medien – Frank Castorfs Inszenierung von Endstation Amerika Das Verhältnis von Theater und Neuen Medien ist höchst umstritten. Obwohl seit einiger Zeit, vor allem mit dem zunehmenden Einsatz von Videotechnik und der Integration von Videoästhetik auf der Bühne, oft über das Thema in den Feuilletons und in der Theaterwissenschaft diskutiert wird, sind Einflüsse anderer Medien im Theater kein wirklich neues Phänomen. Man denke nur an Projektionsmaschinen auf der Bühne des 18. und an panoramaartige Bühnenbilder im Ausstattungstheater des 19. Jahrhunderts oder an Dia- und Filmprojektionen in den 1920er Jahren. Die heutigen Experimente mit digitalen Medien im Theater fügen sich daher in eine weit zurückreichende mediale Tradition. Als Primärmedium scheint sich Theater heutzutage gegen die Übermacht der elektronischen Medien behaupten zu müssen, auch wenn es vor allem in seinen avancierten Formen gerne Techniken und Inhalte Neuer Medien benutzt. Ein mediengeschichtlicher Meilenstein waren die Inszenierungen Erwin Piscators in der Mitte der 1920er Jahre an der Berliner Volksbühne, die als frühes Regietheater neben dem Theaterspiel gleichberechtigt Film und Diaprojektionen präsentierten. Piscators Theater war episch, unterschied sich jedoch von Brechts Ansatz. Der sozialistisch denkende Regisseur war unzufrieden mit dem quasi photographischen Ausschnitt, den der Naturalismus vom Elend der Unterprivilegierten machte. In diesen theatral eingerahmten Szenen aus einer mitleiderregenden Welt vermisste er die Verbindung der
Theater und Neue Medien
Erwin Piscator
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Frank Castorf
Umdeutung und Inszenierungsmittel
sozialen Probleme mit deren gesellschaftlicher Ursache. Darüber hinaus schien ihm die unmittelbare Gegenwart, die Zeit Picassos, Freuds und Einsteins, nicht mehr durch eine Situation und ein Medium allein abbildbar, hierzu war sie zu multiperspektivisch, fragmentiert und schnelllebig geworden. Um die von Schauspielern auf der Bühne dargestellte soziale Lage in einen größeren gesellschaftlichen oder historischen Zusammenhang stellen zu können, den das Publikum gut verstand, benutzte er Dia- und Filmprojektionen, die etwa synchron Schaubilder oder historische Abläufe im Zeitraffer oder Ähnliches zeigten. 1992, also drei Jahre nach dem Fall der Mauer, wurde Frank Castorf Intendant der Berliner Volksbühne. Angetreten mit dem Ruf des Klassikzertrümmerers und des Theaterdekonstruktivisten, machte er die Volksbühne bis zur Jahrtausendwende zum ästhetischen Mittelpunkt des deutschsprachigen Theaters. Im Sommer 2000 inszenierte er für die Salzburger Festspiele Tennesee Williams’ Nachkriegsstück Endstation Sehnsucht. Schon als Koproduktion mit der Volksbühne war die Aufführung nicht ohne Reiz, trafen doch Berlin Ost und Salzburg West ästhetisch und ideologisch aufeinander. Diese Spannung drückte sich im Titel und in der speziellen Interpretation der dramatischen Vorlage durch die Volksbühnendramaturgie aus. Wie Piscator musste sich auch Castorf mit dem Vorwurf des zu weit reichenden Eingriffs der Regie in den dramatischen Text auseinandersetzen. Weil daher die Rechte für das Originalstück nicht freigegeben wurden, nannte man die Inszenierung Endstation Amerika. Dieser neue Titel war ein Glücksgriff, entsprach er doch vielmehr der dargestellten Ästhetik des theatralisierten Utopieverlustes. Die Bühne ist als Heterotopie generell ein höchst geeigneter Reflexionsort aller möglicher Utopien und Sehnsuchtsvorstellungen. Für die Theatermacher der Volksbühne, die zumeist eine DDR-Vergangenheit und eine Westzukunft hatten, waren nach der Wende das Theater wie die Gesellschaft ein Raum des Übergangs, für den das kapitalistische Amerika insbesondere als Medienprojektion zum Sehnsuchtsort wider Willen wurde. In der Inszenierung symbolisiert die Endstation nicht primär, wie in der dramatischen Vorlage, den familiären Zufluchtsort für Blanche Dubois bei ihrer Schwester Stella Kowalski und deren Mann Stanley, die in New Orleans wohnen. Gemeint ist also nicht das Ende eines Lebensweges, an dem sich eine gescheiterte Existenz noch einmal phantasiereich eine gehobene Herkunft und eine solid-bürgerliche Zukunft ausmalt. Noch in der Handlung der Vorlage von Williams ergibt sich die Tragik für Blanche durch das Missverhältnis zwischen tatsächlicher und erträumter Realität. Sie versucht, sich und anderen einen gehobenen Lebensstandard vorzugaukeln, ihr Alter und ihre Vergangenheit als Prostituierte geheim zu halten und in Stanleys Freund Mitch einen Ehemann zu finden. Dies provoziert ihren proletarischen Schwager Stanley dazu, ihre Vergangenheit zu verraten, ihre Beziehung zu Mitch zu zerstören und sie zu vergewaltigen. Am Ende brechen Existenz und Identität Blanches auseinander, so dass ihre persönliche Endstation die Psychiatrie ist. Bei Castorf transponiert sich diese existentielle Tragik in den gesellschafts-politischen und mediendiskursiven Raum. Den Figuren der Nachwendezeit bleibt nur die letzte Utopie des amerikanischen Waren- und Medienangebots, dessen Referenz fragwürdig ist. Infolgedessen perpetuiert sich das Missverhältnis zwischen Alltagstristesse und Medien-
3. Theater und Neue Medien – Frank Castorfs Inszenierung von Endstation Amerika
realität ins Unendliche. Alle Inszenierungsmittel deuten entweder auf eine kleinbürgerliche Existenz oder auf die schöne neue Welt der amerikanischen Populärkultur Hollywoods, des Broadways, der amerikanischen Soaps und Fernsehserien. Daraus ergibt sich eine ständige Spannung, welche neben Bühnenbild und Kostümen auch das Spiel der Akteure bestimmt. Diese pflegen einen betont halbprofessionellen Habitus, die Zuschauer sehen eine Mischung aus Bühnenrealismus, Soap, Musical, Performance und Improvisationstheater. Von der Performanceästhetik übernommen ist die Praxis, dass die Grenze zwischen Figur und Darsteller uneindeutig wird, die Figuren fallen zuweilen aus der Rolle, sie interagieren mit dem Publikum und kommentieren ihr Verhalten; so bemerkt die Figur Stanley, man sei ja gerade in Amerika, und weist seiner Dialogpartnerin die Rolle der Stella Dubois zu. Mit den theatralen Mitteln wird gerne illusionsbrechend gespielt, es werden z. B. Requisiten über das Bühnenbild oder ins Publikum geworfen. Der dramatische Dialog wird oft mit scheinbar improvisiertem Alltagstext angereichert und die Figuren sprechen über längere Passagen willkürlich französisch. Schon die Besetzung der Marlon-Brando-Rolle mit Henry Hübchen ist eine intermediale Dekonstruktion des Hollywoodmythos. Die Ordnung der Film- und Fernsehästhetik wird subvertiert, indem autoritäre Versorgermänner und kleinbürgerliche Frauenklischees als Stereotypen des Unterschichtenprogramms vorgeführt werden: Stella (Kathrin Angerer) verkörpert die sexuelle Projektionsfigur des Mannes, während ihre Schwester Blanche (Silvia Rieger) bunte Fernsehserienkostüme bevorzugt, die gesellschaftlichen Erfolg andeuten sollen. Die Männer tragen hingegen Muskelshirts, Cowboyhüte und enge Hosen. Als Stanley im King-Kong-Kostüm auftritt, um seine blonde Frau Stella in den Arm zu nehmen, ist das nicht nur ein Hinweis auf den Hollywoodfilm als mentalitätsprägendes Medium, sondern auch auf die Dummheit des triebgesteuerten, ,tierischen‘ Mannes. Sein Freund Mitch (Bernhard Schütz) muss sich hingegen wie Norman Bates so lange mit seiner starken, schon mumifizierten Mutter plagen, bis es zum Remake der berühmten Duschszene aus Hitchcocks Psycho kommt. Während der gesamten Zeit der Aufführung ist ein Einheitsraum des Bühnenbildners Bert Neumann zu sehen. Fast die Breite der Bühne einnehmend, ist er durch einen weißen Rand wie ein Kasten vom sichtbaren Bühnenraum abgetrennt. Er wirkt wie eine lieblos entworfene Einheit in einem Bauhausalbtraum und deutet auf die Mikrozelle einer genormten Massenexistenz hin, in welcher der moderne Kleinbürger als Arbeitstier gehalten wird. Diese Schuhschachtelbühne ist in der Mitte durch zwei verschiedene Rauminneneinrichtungen und Lichtstimmungen geteilt, obwohl keine physische Barriere zu sehen ist. Im linken Bereich, der oft hell-bläulich ausgeleuchtet ist, sieht man ein großes Bett vor einer weißen Wand, daneben einen Fernseher und die Tür zum Bad. Diese Tür markiert quasi einen zweiten Bühnenrahmen. Das Bad wird innerhalb der Inszenierung zum wichtigen, teilweise verdeckten Spielraum. Diesen können die Zuschauer immer nur ausschnittweise durch die Tür, die ein Spiel von Verstecken und Zeigen erlaubt, sehen. Neben dieser ,theatralen‘ Öffnung zum Bad existiert als zweiter, entscheidend wichtiger Kommunikationskanal zwischen dem Bad und dem Wohnzimmer eine ins Spiel integrierte Videoübertragung. Im Bad
Intermediale Dekonstruktion
Bühnenraum
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Schauspielstile und -choreographien
befindet sich eine Videokamera auf einem Stativ, deren Bilder außerhalb des Bades in einem Fernseher als üblichem Wohnzimmerrequisit gezeigt werden. Die Rezipienten dieser Videobilder sind sowohl die Zuschauer als auch die Figuren der Inszenierung. So können die Theaterzuschauer die Rollenfiguren beim Zuschauen beobachten und sind Beobachter zweiter Ordnung. Der rechte Bereich der Bühne als Innenraum einer Wohnung ist eine Küche mit Eichenholzfurnier, meist von dunklem, warmem, rötlichem Licht illuminiert. Zugleich ist die Küche auch so etwas wie ein Partykeller mit Barhockern. An der hinteren Wand befindet sich die Eingangstür zur Wohnung. Von dort treten die Figuren meist auf. Über der Bühne ist eine elektronische Anzeigetafel angebracht, die man sonst nur aus fremdsprachigen Aufführungen kennt. Darauf werden primär der dramatische Text samt Nebentext, Regieanweisungen und andere Textteile eingespielt. Manchmal stimmt dieser nur zufälligerweise oder gar nicht mit dem Bühnengeschehen überein, oder er ist er auf Englisch oder löst sich in graphische Muster auf. Zudem führt diese Anzeigetafel ein Eigenleben, zuweilen agiert sie wie eine Figur und unterhält sich mit einem der Schauspieler. In der chorischen und synchronen Schauspieleraktion ist ein durchgehender Übergang zwischen Medienrealismus und -künstlichkeit, zwischen affirmativem Schauspielrealismus und ironisch-subversivem Verfremdungseffekt zu konstatieren. Die Inszenierung schwankt zwischen fast naturalistischem Schauspielstil und choreographiert wirkenden, visuell prägnanten, synchronen Bewegungsformen und rein topographischen korporalen Verteilungsmustern. An vielen Stellen fallen die Figuren plötzlich aus ihrem naturalistischen Schauspielstil und führen Gesten wie in einem Ballett synchron aus. Oft finden sich die Figuren zu einer Gruppe zusammen. So springen sie etwa alle plötzlich in das Bett, in dem das Schauspiel dann zum Teil grob pantomimisch fortgeführt wird. Hin und wieder stehen sie in Reih und Glied
Abbildung 3: Endstation Amerika / Regie: Frank Castorf. Foto: Thomas Aurin.
3. Theater und Neue Medien – Frank Castorfs Inszenierung von Endstation Amerika
geordnet frontal zum Publikum und sprechen ihren Dialog eher chorischmonologisch. Besonders wichtig ist die musikalische und damit rhythmische Komponente der Inszenierung. Das Lied O just a perfect day von Lou Reed fungiert dabei wie ein Leitmotiv, operiert wie eine Filmmusik, wirkt auch ironisch kommentierend, Anmutungen der Oper und des Musicals kommen auf. Gesungen wird entweder von einer einzelnen Figur zur Gitarre oder alle bilden einen Chor, die Melodien erinnern an bekannte Popsongs. Einmal sammeln sich die männlichen Hauptdarsteller zum Trio, mit Gitarre, Posaune und Kontrabass, und singen ein Lied für Stella, die dazu im passenden Rhythmus im Bett hüpft – die Männer lassen die Frau sozusagen bildlich nach ihrer Pfeife tanzen. Castorf spielt mit den Phänomenologien des alten und neuen Mediums, indem er auf der Bühne Video einsetzt. Er ist nicht der Erste, der dies macht, aber mit ihm wird dies zur Mode. Das Medium Video kann auf der Bühne auf zweierlei Art und Weise eingesetzt werden: die Handlung bzw. die Story unterstützend, also affirmativ, oder, wie bei Castorf, dekonstruierend, die Handlung kommentierend und subversiv unterlaufend. Das Bad ist auf der Bühne ein Raum, in dem das Geschehen zum großen Teil nur durch eine Videoübertragung verfolgt werden kann. Die meiste Zeit ist die Videokamera innerhalb des Bades aufgestellt. Manchmal funktioniert sie wie eine unsichtbare Überwachungskamera, ist so ein voyeuristisches Medium. Zuweilen wird sie von den Figuren bewusst zur Selbstinszenierung benutzt und es wird wie im Internet über Video kommuniziert. Was die Kamera aufnimmt, wird in einem Fernsehmonitor im Wohnzimmer gezeigt. In diesem sieht man neben Fernsehserien und Hollywoodfilmen das intime Geschehen im Bad. Es kommt vor, dass es sich die Männer vor dem Fernseher gemütlich machen, um ihren Frauen im Bad zuzusehen, wie in einer Big-Brother-Show. Gegen Ende der Inszenierung wird die bis dahin weitgehend unsichtbare Kamera aus dem Bad getragen und auf der offenen Bühne eingesetzt. Schauspieler filmen dabei Schauspieler und das Publikum, alle Beteiligten des theatralen Prozesses werden Teil einer Gesamtinszenierung. Auch den Zuschauern wird nun bewusst, dass sie in ihrer Haltung selbst Teil eines Mediums sind und ihre Rolle spielen. Castorf provoziert damit die Frage, was überhaupt in welchem Medium wann eine Rolle ist. Im ständigen Wechsel zwischen den verschiedenen Medienbildern werden die medialen Spezifizitäten und die Inszenierungsstrategien des jeweiligen Mediums sichtbar. Dadurch, dass Castorf die Medien potenziert, wird nicht nur die Gemachtheit der Szene, sondern auch die Unmöglichkeit einer theatralen Mimesis in einer allumfassenden Medienrealität deutlich. Denn eine wirkliche Realität als Hintergrund für die theatrale Mimesis gibt es nicht mehr. Die Kontrolle des Inszenierten besorgt nicht mehr das ,richtige‘ Leben oder die Realität, sondern die Skepsis des Publikums aufgrund der verschiedenen Medienbilder, die sich gegenseitig in Frage stellen. Castorf entwickelt Piscators episches modernes Programm weiter. Wollte Piscator die für ihn schon fragmentarisierte Welt durch verschiedene Medien in einen Überblick zwingen, ist für Castorf dieser Überblick bereits nicht mehr glaubhaft, so dass als letzte Wahrheit allein die gegenseitige Dekonstruktion der verschiedenen Schauspielstile und Medien bleibt. Am Ende der Insze-
Neue Medien auf der Bühne
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
nierung hebt sich die weiße Wohnraumbox als Bühne in die Höhe. Mit diesem Inszenierungsgag wird die Basis des Spiels zwischen Theater und Video selbst noch einmal als Perspektive in Frage gestellt. Dieser Hinweis auf den unendlichen Regress in einer Medienwelt, der die Realität abhanden gekommen ist, findet auch auf der Ebene der Handlung eine Entsprechung: Blanche wird nicht, wie in der dramatischen Vorlage von Williams, verrückt. Ganz im Gegenteil spielt sie weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Das ist logisch, denn in einer multiperspektivischen Welt ohne ,Realitäts‘bezug kann es keine Unterscheidung von Normalität und Wahnsinn mehr geben. Die Sehnsucht Blanches hat wie die Gesellschaft der lebensweltlich amalgamierten DDR/BRD kein reales utopisches Ziel mehr, es bleibt immer nur das Medienbild des im Moment nicht erreichbaren und deshalb begehrten Konsumgutes. Da kein Kaufakt zur Erfüllung führt, bleibt das Begehren unbefriedigt und die Performanz des Bühnen-, Wirtschafts- und Gesellschaftsspiels als ewiger Kreislauf erhalten.
4. Aktionskunst – Christoph Schlingensiefs Passion Impossible: 7 Tage Notruf für Deutschland Spezifika der Aktionskunst
Kritik und Autoreflexivität
Das Individuelle
Christoph Schlingensief ist derzeit der prominenteste deutsche Vertreter der sogenannten Aktionskunst. Aktionskunst ist ein Begriff, der einmal die Performancekunst, das Happening oder auch das environmental theatre umfasst, ein andermal zur Bezeichnung von deren Teilaspekten verwendet wird. Gemeinsame Merkmale aller unter dem Begriff subsumierten Formen sind die Ablehnung eines traditionellen, auf Geschlossenheit abgestellten Werk- und Kunstbegriffs sowie die erstrebte Störung oder Aufhebung der klaren Demarkationslinie zwischen Kunst und Leben. Vor allem die verstärkte Interaktion mit dem Publikum und dessen Reaktionen und der Einbezug von zufälligen Umgebungsparametern machen aus jedem Ereignis der Aktionskunst eine einmalige, strikt situationsgebundene, in ihrem Gesamtverlauf kontingente Erlebnis- und Erfahrungsgröße für jeden einzelnen Beteiligten. Darüber hinaus deutet der Aktionsbegriff auf einen dezidiert interventionistischen, politischen sowie sozial- und systemkritischen Gestus hin, der bereits mit den Vorstößen der Happeningbewegung ab den 1960er Jahren initiiert wurde. Ging es damals um die Annäherung von Kunstaktion und politischer Manifestation, von Performance und Protest, so zeichnet sich die aktuelle Aktionskunst durch eine autoreflexive Perspektive aus, die nach Sinn und/oder Unmöglichkeit der Kunst innerhalb von post-kapitalistischen gesellschaftlichen Zusammenhängen fragt. Der Realitätsbezug und die Erfahrungs- und Affizierungsqualität von Kunst, zumal in ihrer institutionalisierten Form und innerhalb von symbolisch normierten systemischen Zusammenhängen, steht damit selbst auf dem Prüfstand. Christoph Schlingensiefs Arbeiten seit dem Ende der 1990er Jahre sind ihrerseits gekennzeichnet von dem Bemühen, den künstlerischen Anschluss an soziale Bewegungen einerseits zu suchen, andererseits das Konfliktpotenzial einer solchen Affinität herauszuarbeiten. Die viel gelobte und gescholtene Chaotik und scheinbare Konzeptlosigkeit der Schlingensief’schen
4. Aktionskunst – Christoph Schlingensiefs Passion Impossible: 7 Tage Notruf für Deutschland
Aktionen wie 7 Tage Notruf für Deutschland oder Chance 2000 ist dem Bemühen geschuldet, sich nicht von vorneherein auf die Seite der Theaterkunst zu schlagen und dem traditionellen Gebot einer künstlerischen Parteinahme für soziale Minderheiten zu willfahren, sondern vielmehr ideologisch nicht vereinnahmbare, weil ständig zwischen Fiktion und Realität oszillierende und dermaßen ,verflüssigte‘ Ereignisstrukturen zu schaffen, die ideologische oder kategorisierende Zugriffe jeder Art beständig unterlaufen. Schlingensief zielt auf die radikale Emanzipation des Individuellen im Sinne einer unvorhersehbaren und unbeherrschbaren Größe inmitten gesellschaftlich stratifizierter, unterschiedener und institutionell normierter Zusammenhänge, die heutzutage längst nicht mehr nur die großen Systeme von Politik, Kirche, Staat und Gesellschaft, sondern den Wahrnehmungs- und Empfindungshaushalt des einzelnen Menschen, einschließlich seines Körpers, in Gestalt biopolitischer Disziplinierungsmechanismen durchdrungen haben. Insofern entsprechen seine Arbeiten einer Tendenz des Widerstands von innen heraus, es sind – mit den Begriffen von Philip Auslander – resistant performances, die die Widersprüchlichkeiten in der Beziehung von Gesellschaft, Kunst und Individuum prononcieren, nicht jedoch transgressive performances, die für sich selbst von vorneherein einen höheren Reflexionsstandpunkt oder eine utopische Dimension außerhalb des Systems beanspruchen. Es geht Schlingensief zugleich um die Entdeckung von nicht kategorisierbaren Formen künstlerischer Präsenz und, im engen Verbund damit, um die Entwicklung immanenter Formen von Authentizität, und zwar gerade aus den genannten Widersprüchlichkeiten heraus. Als paradigmatisches Exempel für Schlingensiefs Arbeit soll im Folgenden sein mit dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg realisiertes Projekt Passion Impossible: 7 Tage Notruf für Deutschland (1997) analysiert werden, das eine wesentliche Orientierungsmarke für seine öffentliche Wahrnehmung und Beurteilung als Aktionskünstler abgeben sollte. Im Anschluss an eine Eröffnungsgala im Großen Haus zog Schlingensief mit seinem Ensemble in eine direkt nebenan gelegene ehemalige Polizeiwache am Hamburger Hauptbahnhof und richtete dort für eine Woche eine „Bahnhofsmission“ ein, als Anlaufstelle für Obdachlose, Junkies, Prostituierte sowie für eine stetig wachsende Zahl interessierter Bürger. Von dieser Bahnhofsmission aus wurden jeden Tag kollektive Märsche, die „Mobilen Einsätze“, zu verschiedenen Orten innerhalb Hamburgs gestartet, etwa in die Einkaufszone, in den Stadtteil St. Georg, zum Rathaus und in den Hauptbahnhof. Die als Benefizveranstaltung inszenierte Eröffnungsgala zu Schlingensiefs Experiment fand am Abend des 17. Oktober 1997 auf der großen Bühne des Hamburger Schauspielhauses statt. Während das Publikum im Zuschauerraum Platz nahm, agierten auf der Bühne Christoph Schlingensief selbst im weißen Anzug, als Conferencier die Gala moderierend und immer wieder deren Sinn und Zweck kommentierend, sowie sein Ensemble von befreundeten Schauspielern und Laiendarstellern. Das Geschehen auf der Bühne folgte keiner erkennbaren Dramaturgie, die Akteure saßen, wenn sie nicht gerade das Geschehen zusammen mit Schlingensief zustimmend oder ablehnend kommentierten oder rhetorische, travestiehafte oder gesangliche Einlagen boten, auf einer der diversen Sitzgelegenheiten, schauten auf überdimensional projizierte Tagesschauausschnitte, rauchten, tranken und unter-
Das Projekt
Offener Interaktionsraum
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Problematisierung von Theaterkunst
hielten sich, bewegten sich über die Bühne oder verfolgten mit mehr oder weniger großer Anteilnahme das Geschehen. In dieser Konstellation evozierten sie keine von einer schauspielerischen Ensembleleistung getragene und vorab durchstrukturierte theatrale Fiktion, sondern boten das Bild einer aus freiwilligen Stücken am Ort versammelten sozialen Gruppe von Individuen, die derjenigen des im Zuschauerraum versammelten Publikums die analoge Entsprechung bot. Ungeplante Aktionen, improvisierte Ansprachen, Musik, Spiele wie „Die Reise nach Jerusalem“ oder Diskussionen mit den Zuschauern, die auf die Bühne geholt wurden, einschließlich der daraus resultierenden Zufälligkeiten, Brüche und Störungen, unterliefen jegliche dramaturgische Stringenz und verunklarten nicht nur die Geltung von bestimmten Spielregeln für das Ereignis auf Seiten von Ensemble und Publikum. Zugleich erzeugten sie inmitten des geschlossenen Theaterortes einen offenen Realraum der Interaktion, dessen Kontingenz sich den Inszenierungskonventionen und damit den institutionellen Machtkonstellationen des ästhetisch-sozialen Systems Theater rundweg verweigerte. In seiner ersten längeren Ansprache an das Publikum machte Schlingensief den entsprechenden Anspruch explizit, wenn er die Gala als Auftakt für ein beabsichtigtes „Verlassen des Theaters, raus aus dieser Bude rein ins Leben“ beschrieb, und zwar, um auf diesem Wege „vielleicht dabei das Leben kennen [zu] lernen oder das Leben wieder zurück zu holen ins Theater; dann brauchen wir auch keine Kostüme mehr, dann können wir einfach nur Menschen sein und das reicht uns“ (Dieses Zitat, alle folgenden sowie die Abbildung wurden entnommen aus der filmischen Dokumentation des Projekts „Freund Freund Freund“ von Alexander Grasseck und Stefan Corinth. 1998. Verleih und Vertrieb Ahoi Media Hamburg). Jedoch: Die zwar im weiteren Fortgang immer wieder überschrittene, dennoch formal beibehaltene räumliche Trennung zwischen Bühne und Saal sowie die exotische Theatralik der Ausstattung (Beleuchtung, Kostüme usw.) machten deutlich, wie stark die sich unmittelbar ergebenden realen zwischenmenschlichen Bezüge und der individuell-authentische Ausdruck jedes Einzelnen an diesem Abend nach wie vor durch das machtvolle Prinzip der theatralen Abbildhaftigkeit gerahmt waren, wobei die Form der Benefizgala, sozusagen als Spezial-Format sozial engagierten Theaters, in den Mittelpunkt gerückt wurde. Den eigentlichen Kern des Abends bildete die reale Versteigerung von Gegenständen, deren Erlös der tatsächlichen Einrichtung der Bahnhofsmission ab dem nächsten Tag zugute kommen sollte. In dieser pragmatischen Umfunktionalisierung des Theaterortes war einmal der sarkastische Verweis auf Theater als einer ästhetischen Anstalt, die sich durch ihren sozialpolitischen Anspruch zu legitimieren sucht, enthalten. Die von der Institution seit der Aufklärung beanspruchte Einwirkung auf Lebenszusammenhänge, ihr Bestreben zur realen Aktivierung des Publikums wurde in radikaler Weise ernst genommen. Dabei ging es Schlingensief zentral darum, die eigentliche Problematik der herkömmlichen Theaterkunst, nämlich den intrinsischen Widerspruch zwischen Fiktion und Realität, zwischen Spiel und Wirksamkeit, zu veranschaulichen. Konsequenterweise wurde der theatrale Modus von ihm nie völlig eskamotiert, sondern im Gegenteil als Mittel zur Dekonstruktion pragmatischer Handlungsvollzüge eingesetzt: Die gesamte Benefiz-Show, denn
4. Aktionskunst – Christoph Schlingensiefs Passion Impossible: 7 Tage Notruf für Deutschland
um das groteske Zitat einer solchen handelte es sich, war durchaus dazu angetan, zu unterhalten. Die programmatischen Ansprachen an das Publikum sowie die Selbst-Kommentare des Ensembles zum Geschehen oszillierten, da innerhalb der Rahmung des Bühnenraumes geäußert, unauflöslich zwischen Ernst und Ironie. Durch die oftmals grell kostümierten Akteure auf der Bühne provoziertes und forciertes Gelächter, Applaus und Pfiffe seitens des Publikums boten ihrerseits die Entsprechung zur zwar unkoordinierten, dennoch durchweg effektorientierten Revue aus Real-Nummern auf der Bühne. Der überkommene ästhetische prodesse et delectare-Gedanke wurde so als paradoxer double bind von Spiel und Authentizität in der Beziehung zwischen Theatergeschehen und seiner Rezeption manifest. Solches Theater, von Schlingensief als Ereignis veranschaulicht, bei dem man ,Spaß dabei hat, sich menschlich zu fühlen‘, ließ die Frage nach der Durchdringung von sozialem Anspruch und ästhetischer Schau in durchaus prekärer Weise aufkommen. Die auf die Bühne gebrachten Obdachlosen oder die Mitarbeiter von Sozialhilfeeinrichtungen, die gebeten wurden, aus ihrem Leben und ihrer Arbeit zu erzählen, wurden innerhalb des Theaters immer auch als Teil der Revue wahrgenommen, ihre Präsentation wurde entsprechend von einem Teil des Publikums immer auch als bloßes ,Vorführen‘ bewertet. Dem trug nicht zuletzt Schlingensiefs Moderation zu, der den einzelnen Äußerungen immer ein Zeitlimit auferlegte. Die theatrale Veranstaltungsform per se wurde so als hochambivalente Form kenntlich gemacht, durch welche nicht nur ästhetische Fiktion in den Dienst sozialer Aussage gestellt, sondern eben auch umgekehrt die menschliche Realität unter theatralen Raumbedingungen in prekärer Weise verändert, zum bloßen Abbild veruneigentlicht und ästhetisch gerade da goutierbar gemacht wird, wo echte Anteilnahme und pragmatisches Handeln gefordert wären. Darüber hinaus enthielt jedoch bereits der erste Abend die Frage, inwieweit die auf künstlerische Weise erzeugten, gleichsam künstlich synthetisierten Gefühle der Anteilnahme nicht doch Authentizität für sich beanspruchen können. Das wiederholte kollektive Absingen von Songs wie „Let it be“, „Wir wollen helfen“ und „Wir wollen trauern“, welche zwar den Willen zum sozialen Engagement markierten, jedoch musikalisch gesehen als sentimental-kitschige und hochironische Zitate daherkamen, entfaltete aus Gründen der akustischen Eingängigkeit des Liedgutes und seines (vielfach gerne in Anspruch genommenen) Verbrüderungsstimulus eine starke Wirkung auf das Empfinden der Anwesenden. Wenn also das beständige Ineinander von Fiktion und Realität bzw. von Ironie und Empfindung in der Tat eine tragfähige moralische Positionierung der Anwesenden unmöglich machte, so war für sie jedoch zum anderen der Gefahr vorgebeugt, die eigenen Reaktionen fraglos in einer der Inszenierung vorgelagerten und gesellschaftlich vorfabrizierten ideologischen Perspektive zu verorten. Das sich einstellende Empfinden des Verlusts von Gewissheiten wurde aufgewogen durch die umfassende, intensive, sich von Moment zu Moment entwickelnde Interaktion. Das eigene Gefühl als momentane, nichtsdestoweniger reale Entsprechung für einen ebenso momentanen theatralen und durchaus billigen Effekt wurde dabei jeweils als Größe spürbar, die umso authentischer war, je weniger sie aus vorgängigen Realitätskonstruktionen herleitbar, noch auf längerfristige moralische Handlungsdevisen transferierbar war. Schlin-
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Gestern
gensief ging es also ganz dezidiert um die Erzeugung von Präsenz im Sinne einer nicht reduziblen Affizierungsqualität. Die weniger theatrale, denn theatralische Inszeniertheit dekontextualisierte in diesem Sinne die auf sie antwortenden Gefühlsreaktionen, befreite sie von alltagspragmatischen Zuschreibungen. Und sie dekonstruierte in komplementärer Weise die Bühne als Ort, wo Dargestelltes für bare Münze zu nehmen wäre. Die herkömmliche Sinnökonomie von Theater, der zufolge seine Zeichen für etwas anderes einzustehen haben als sie selbst, wurde somit unterlaufen zugunsten eines schieren Passierens. Diese Erfahrungsträchtigkeit des qua künstlerischer Ironie und offensiver Theatralität von Ideologie befreiten Zeichens sowie die davon abhängige Authentizität des eigenen und kollektiven Erlebens sollten in der Folge als mögliche Grundlage für Kritik und Intervention innerhalb realer sozialer Kontexte verhandelt werden: in Form einer sechstägigen Serie von „Mobilen Einsätzen“, die von der am selben Abend und am Morgen des nächsten Tages bezogenen Bahnhofsmission aus in die städtische Topographie unternommen wurden. Schlingensief selbst sowie das beteiligte Ensemble agierten von nun an in einer nicht-theatralen Umgebung stets in unmittelbarem Austausch und auf engstem Raum mit den anderen freiwilligen Teilnehmern an den Aktionen. In der Bahnhofsmission wurde Suppe ausgegeben, Obdachlosen und Junkies sowie anderen Bürgern Hamburgs wurde ein Forum gegeben, um sich auf einem Podium zur eigenen Lebenssituation oder zur Aktion selbst zu äußern, immer wieder unterbrochen von individuellen und kollektiven Gesangs- und Musikeinlagen etc. Bemerkenswert an all diesen Vorgängen war nicht nur, dass Schlingensief und seine Truppe selbst in Polizeiuniformen, Heilsarmeehabitus oder anderen Kostümierungen erschienen und so die reale Geltung ihres Vorhabens zu ironisieren schienen, sondern dass auch ganz reale Vorgänge innerhalb der sich verfestigenden Gesamt-
Abbildung 4: Passion Impossible: 7 Tage Notruf für Deutschland / Christoph Schlingensief
4. Aktionskunst – Christoph Schlingensiefs Passion Impossible: 7 Tage Notruf für Deutschland
gruppe aus Künstlern und Teilnehmern mehr und mehr ins Spielerische tendierten. So wurden die teils mit improvisierter Musik unterlegten Schilderungen, Ansprachen und teils heftigen Diskussionen der Aktionsteilnehmer mit kollektivem Applaus oder Buhrufen bedacht, gerade auch dort, wo der Sinn und Zweck der Aktion selbst sehr ernsthaft verhandelt wurde. Zudem wurde den Anliegen der Befragten seitens des Ensembles oftmals mit Theaterzitaten, etwa aus dem dramatischen Werk Bert Brechts, entgegnet. Dieses improvisierte Spiel aus Aktion und Reaktion erbrachte eine gleichsam parasitäre Stilisierung des Politischen. Die Miniatur eines politischen Prozesses der öffentlichen Meinungsbildung und Standortsuche unterlief immer wieder absichtlich ihre eigene institutionelle Respektabilität. Die in der Tat im Einzelnen ungeplanten, unzensierten und inhaltlich authentischen Beiträge erschienen in diesem Kontext als subjektive Gesten, die ihre Wertigkeit nicht aus einem übergeordneten Prinzip, sondern aus der momentanen Intensität ihrer Geäußertseins durch ein Individuum und dessen Interaktion mit anderen bezogen. Nachdem der Einzug der Mission in die ehemalige berüchtigte Polizeistation 11 in der Hamburger Kirchenallee – Ort des Hamburger Polizeiskandals und Schauplatz diverser polizeilicher Übergriffe und Misshandlungen von Obdachlosen, Junkies und Ausländern – vollzogen war, holte Schlingensief die Theaterbesucher am Abend des zweiten Tages vor dem Eingang des nur wenige Schritte daneben gelegenen Schauspielhauses ab und führte sie in die Mission, wobei er per Megaphon lautstark verkündete, ihnen nunmehr das „wahre Leben“ und die „wahre Gala“ zeigen zu wollen. Es würde „der großartige Theaterabend, für den Sie alle bezahlt haben“, und es würde „garantiert nicht unterhaltsam sein wie in diesem Loch [dem Theater; die Verf.]“. Die hier angezeigte Überschreitung der Grenzen des institutionalisierten Theaterraumes war also von vorneherein weniger als völlige Destruktion theatraler Modi, denn als deren affirmative Deplatzierung und ihre irritierende Einschreibung in nichtkünstlerische Kontexte gedacht, wobei letztere von Schlingensief in erster Linie topographisch gedacht wurden. Der Umstand, dass Schlingensief die Zuschauer abholte und in seiner Ansprache eine unmittelbare Beziehung herstellte zwischen dem (körperlichen) Wechsel zwischen Räum- und Örtlichkeiten und der jeweils valenten Wahrnehmung von Realität, markierte denn auch die wesentliche Leitlinie aller folgenden Aktionen. Die Fragen, die Schlingensief im weiteren Verlauf der einwöchigen Aktion auch ganz explizit stellte, waren einmal diejenige nach dem historisch evozierten Symbolgehalt von bestimmten urbanen Ortsstrukturen und die sich anschließende, wie sich dieser Symbolgehalt zu Normierungskonstrukten mit Ausschlusscharakter gegenüber bestimmten sozialen Gruppen verfestigt. Und schließlich ging es um die praktische Erkundung der Möglichkeit, inwiefern dieser Raumideologie, in der sich ästhetische, symbolische, sozialstrukturelle und nicht zuletzt physiologische Bezüglichkeiten durchdringen, auf künstlerischem Wege widersprochen werden kann, wenn öffentliche Orte durch – im weitesten Sinne theatrale – Kunstaktionen besetzt und angeeignet werden. Bereits am Ende der Gala des ersten Abends hatte Schlingensief angekündigt, aus den Geld- und Sachspenden den „Prototyp“ einer Bahnhofsmission errichten zu wollen, das „Bild“ einer sozialen Anlaufstelle für Obdachlose, Junkies und Arbeitslose,
Deplatzierung des Theatralen
Topographie und Symbolik
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
Raum und Handeln
Freiräume der Kunst
konstruiert aus echten Materialien. Somit sollte der Zusammenhang zwischen der Realität eines Sachverhaltes, hier eines identifizierbaren, räumlich erschließbaren und atmosphärisch erlebbaren Ortes, und seiner Wahrnehmung als ein mit symbolischem Bedeutungsgehalt und sozialer Verweiskraft aufladbares bildhaftes Konstrukt auch die wesentliche Perspektive für die „Mobilen Einsätze“ abgeben. Geschah die entsprechende Recherche bereits durch das – von hier im Einzelnen nicht analysierbaren Performances begleitete – kollektive Durchwandern der Stadt Hamburg, z. B. in Form eines Zuges in die Mönckebergstraße, Hamburgs nobler Einkaufsmeile, und das anschließende Eindringen in die Bannmeile des Hamburger Rathauses, so stand der 5. Tag der Aktion, betitelt als „Luzifertag“, ganz explizit im Zeichen der Forderung „Räume zu überprüfen und sich von Räumen überprüfen zu lassen“. Einem Eindringen in das Hauptquartier der Scientology-Sekte einschließlich des gemeinsamen Anschauens eines Werbevideos zum Drogenentzugsprogramm der Sekte folgte der Marsch in einen Stripclub, wo sich einzelne der Beteiligten zu entsprechender Musik auf der Bühne entblößten. Ging es im ersten Fall um die explizit von Schlingensief an den konsternierten Pressesprecher von Scientology gestellte Frage, was denn das soziale „Denkmodell“ der Sekte sei, und wer „daran teilnehmen“ könne, so im zweiten Fall darum, inwieweit eine „nicht disziplinierte Form der Erotik“ zu entwickeln wäre. So ironisch diese Fragestellungen, zumal im Verbund mit der heiteren Ausgelassenheit aller Teilnehmer, auch schienen: In erster Linie vermittelten sie eine Vorstellung von der Einwirkung sozialer Räume und deren (ideologischem) Symbolgehalt auf das soziale Handeln der in ihnen Befindlichen, das von der Normierung realer körperlicher Anwesenheit und individuellen körperlichen Verhaltens nicht zu trennen ist. Die kollektiven Interventionsmärsche entsprachen im Gegenzug immer einem realen Auffüllen der entsprechenden Räume durch Menschen, die dort fremd waren und sich nicht unter allen Umständen der jeweiligen topographischen Ordnung entsprechend verhielten. Das ausgelassen Spielerische und der ironische Eventcharakter der Märsche sowie die hohe Theatralik einzelner Aktionen in ihrem Umfeld unterstrichen den Willen zur körperlichen und habituellen Devianz und markierten so ein – für alle Anwesenden am eigenen Körper in actu erlebbares – Potenzial zur Veränderung, das direkt gegen biopolitische Einschreibungsmechanismen gerichtet war. Selbiges galt für den Einsatz in der Einkaufsmeile und nicht zuletzt für die Versammlung innerhalb der Institution Theater. Den Abschluss dieser kollektiven körperlichen Recherche in den umgebenden Sozialraum bildete konsequenterweise der am letzten Tag getane gemeinsame Gang in den Atomschutzbunker unter dem Hamburger Bahnhof, dessen ,Rettungsgedanke‘ zugleich durch die Beschränkung der verfügbaren Plätze auf 4000 Plätze gleichsam konterkariert wurde. Dem Teilnehmer wurde nicht zuletzt aufgrund der beklemmenden Sterilität und Enge des unterirdischen Raumes dessen Konstruktcharakter als im selben Maße einschließender wie ausschließender, sozial selektiver Mechanismus nicht nur reflektierbar, sondern fühlbar. Die Realanalyse der sozialen und körperlichen Affizierungsmacht des Raumes, die jeder Teilnehmer der Gruppe im Zusammenhang von körperlicher Empfindung, Wahrnehmung und Reflexion ganz individuell vornahm,
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stand im engsten Zusammenhang mit dem Bestreben, die entsprechenden Konstellationen in Form des künstlerischen theatralen Agierens zu verschieben und zu verändern. Sowohl die kostümierten Mitglieder der Gruppe als auch die nicht-kostümierten Teilnehmer erzeugten bereits durch ihre bloße Anwesenheit sowie verstärkt durch den theatralischen Prozessionscharakter ihrer verschiedenen Gänge in die Hamburger Topographie eine Irritation, die sich einerseits dem unbeteiligten Passanten aufdrängte, jedoch vermittelt über dessen Reaktionen auch auf die Teilnehmer zurückwirkte. Das ,Wahrnehmen des eigenen Wahrgenommenwerdens‘ als Nicht-Alltägliches, als deviante Erscheinung führte nicht nur zur Ausbildung einer markanten Gruppendynamik. Zugleich erbrachte es das Gefühl von kollektiver Verfügungs- und Aneignungsmacht über den vorbesetzten sozialen Raum, welches von Schlingensief und seinen Leuten forciert wurde. Am dritten Tag wurde eine nach anfänglichen Diskussionen von der Hamburger Polizei genehmigte und begleitete Prozession in die Bannmeile des Hamburger Rathauses durchgeführt, die nach einer theatralen Performance an den Gebäudetoren in der Absteckung einer „Bannmeile der Kunst“ kulminierte. Mittels farbigem Absperrungsband, das einfach um umstehende Teilnehmer gewunden wurde, steckte man ein größeres räumliches Areal ab, begleitet von der über Megaphon verkündeten Parole „Kommt in den Schutz Eures eigenen Kunstwerkes! Ihr seid Künstler!“ Zum einen wurde damit auf den Systemcharakter von Kunst, die innerhalb des kulturellen Verbundes an Systemen einen Platz für sich beansprucht, angespielt, Kunst also in der Tat durchaus kritisch als Teil eines unhintergehbaren gesellschaftlichen Komplexes aus gesellschaftlichen Institutionen mit Normierungscharakter markiert. Zum anderen aber wurde angesichts des kollektiven Aktes sowohl in der Selbstreflexion als auch rein körperlich deutlich, wie sehr der Kunst und speziell einer im weitesten Sinne theatralen, das heißt mit menschlichen Körpern und existentiellen Tatsächlichkeiten agierenden Kunst zugetraut werden kann, die Normierungen bereits bestehender Räume aufzubrechen und prinzipiell immer und überall Freiräume des Ästhetischen im Sinne eines nicht pragmatisch oder ideologisch Verrechenbaren zu schaffen. Dem provokanten Verlassen des Theaterraums als einer ,geschlossenen Anstalt‘, die ihrerseits mit Realitäten hantiert, um diese jedoch in die Distanz zu setzen und als Symbole in einer weiter gespannten utopischen Zukunft aufgehen zu lassen, setzte Schlingensief das Moment theatraler Realpräsenz entgegen, welches er an den real erlebten, in actu vollzogenen und körperlich ausgetragenen Handlungsakt im öffentlichen Raum zurückband. Die mittlerweile zu stattlicher Zahl angewachsene Teilnehmerschar geriet vom Abstraktum ,Künstler‘ (der im speziellen Falle des Theaterschauspielers immer auch symbolische Kunstfigur ist) zu einer raumfüllenden realen Masse, die den Titel der einzelnen Aktionen als „Mobile Einsätze“ zugleich in Richtung auf eine Mobilisierung der Massen lesbar werden ließ. Das unter dem Prädikat der Kunst zunächst als theatralisches und damit folgenloses, uneigentliches und spielerisches Agieren ausgewiesene Geschehen wandelte sich, da es die Angewiesenheit der Theaterkunst auf reale, raumfüllende Körper ernst nahm und ausspielte, zu einem durchaus folgenreichen Ereignis. Wenn die transitorische Kunstform des Theaters die Kunst der vorübergehenden Bilder genannt werden kann, dann nahm Schlingensief diese Vorga-
Mobilisierung
Körperliche Erfahrung
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VI. Praktische Beispiele: Inszenierungs- und Aufführungsanalyse
be ernst, indem er das Vorübergehen als Bild und Realität innerhalb des städtischen Raumes inszenierte. Die kollektiven Märsche verwirklichten das Bewegungsprinzip des Theaters auf real-körperliche Weise: Die Marschierenden erschienen den Passanten als bewegtes Bild und nahmen zugleich selbst die Topographie der städtischen Umgebung als wechselnde Konstellation von Ansichten wahr. In einer Ansprache in der Bahnhofsmission machte Schlingensief deutlich, wie sehr es ihm darum ging, diese körperliche und reale Erfahrungsdimension des Theaters und der von ihm evozierten Bilder durch die Sprengung und Entgrenzung des fiktionalen und reflexiv-distanzierenden Zeichen-Modus wieder zu entdecken: Und die Idee ist es, das Theater zu zerstören, die Wände einzureißen, zu sagen, diese Kunstwelt, die da als Reflexion über Realität immer wieder abends abgehandelt wird, kann nicht das Ziel von Theater sein. Seinem Streben nach einer individuellen, nicht systematisier- oder verallgemeinerbaren, jedoch innerhalb einer Gruppe gemeinsam mit anderen Individuen gemachten Körpererfahrung entsprach ein generelles Bemühen Schlingensiefs, in der Aktion die abstrakte Symbolträchtigkeit kollektiver, im weitesten Sinne theatraler Akte zu destruieren und sie stattdessen zu authentischen Erfahrungsvollzügen umzufunktionieren, wobei Bildwirkungen und reale Handlungsvollzüge ineinander aufgingen. Das geschah bereits am ersten Abend im Theater und es passierte im Folgenden nahezu täglich, und zwar gerade dort, wo gesellschaftliche Institutionen öffentliche Zeichen setzen, hinter denen Ideologie- und Machtdispositive stehen. Nach dem öffentlichen, von allerlei theatralischen Ironisierungen, Travestien und karnevalesker Partylaune geprägten Zelebrieren eines eigenen „Hochamts auf dem Bahnhofsvorplatz mit Speisung der 5000“, die den Umstehenden zunächst als pure Provokation erscheinen musste, folgte am Abend des nämlichen „Gottestages“ der gemeinsame Besuch einer wirklichen Eucharistiefeier. Groteskes Zitat und Original kamen jedoch darin überein, dass sie beide in ihren Riten Akte und Bilder von intensiver und präsentischer Ausstrahlung konstituierten, die noch vor aller semantischen Befrachtung emotionale Realitäten erzeugen und die Beteiligten jeglicher sozialen Provenienz in einer geteilten Gegenwart umfingen. Der Befragung von rituellen Formen und ihren institutionellen Dispositiven auf das in ihnen angelegte Substrat individueller und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit entsprach und entspricht bei Schlingensief die Entdeckung einer immanenten Utopie des Hier und Jetzt. Das von ihm in diesem Zusammenhang proklamierte Zerstören des Theaters bedeutet zuallererst, durch Dekonstruktion erneut freizulegen, was Theater mehr als jede andere Kunstform auszeichnet: seine Verwurzelung im Leben.
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Personenregister Abramovic, Marina 90 Adorno, Theodor W. 101, 113 Aischylos 10 Alembert, Jean Baptiste le Rond de 76 Aleotti, Giovanni Batista 46 Antoine, André 82 Anderson, Laurie 30 Angerer, Kathrin 129 Apollinaire, Guillaume 88 Appia, Adolphe 48 f., 85 f., 90, 122, 127 Aragon, Louis 123 Aristoteles 9 ff., 53 f., 59 f., 68, 77 Arrabal, Fernando 73 Artaud, Antonin 50, 58 ff., 97, 101, 123 Augustinus 54 Auslander, Philip 62, 133 Austin, John L. 24 Ayckbourn, Alan 35 Bachtin, Michail 65 Balanchine, Georges 124 Balme, Christopher B. 16, 48, 109, 113 Bärfuß, Lukas 98, 105 f. Barney, Matthew 30, 91 Barozzi da Vignola, Giacomo 46 Barthes, Roland 22 Baudrillard, Jean 22, 105 Bauersima, Igor 105 Bayerdörfer, Hans-Peter 11, 13 f., 25, 75, 82, 122 Beckett, Samuel 73 Belting, Hans 23 Benjamin, Walter 101, 113 Bernhard, Thomas 97 Beuys, Joseph 90 Bierbaum, Otto Julius 87 Birch-Pfeiffer, Charlotte 41, 76, 78, 80 Birkenhauer, Theresia 16 Blanchot, Maurice 101 Boccaccio, Giovanni 66 Böhme, Gernot 51, 62 Bohrer, Karl Heinz 114 Bösch, David 104 Brahm, Otto 82 Brando, Marlon 41, 95, 129 Brecht, Bertolt 22, 25, 42, 59 f., 73, 94 ff., 127, 137 Breton, André 123 Brook, Peter 52, 97 Brühl, Karl Graf 74
Büchner, Georg 80, 122, 124 ff. Bukowski, Oliver 105 Burns, Elizabeth 22 Butler, Judith 24, 26, 28 Cage, John 90, 99, 124 Calderón de la Barca, Pedro 66 Camus, Albert 96 Carl, Carl 80 Carlson, Marvin 24 Castorf, Frank 27, 29, 98, 122, 127 ff. Castellucci, Romeo 50, 73 Charles, Daniel 24 f. Chaplin, Charles 42, 93 Chirico, Giorgio de 126 Confidenti, die 66 Copeau, Jacques 72 Corneille, Pierre 55 f., 66 Craig, Edward Gordon 42, 49, 85 f., 90, 122, 124, 127 Cunningham, Merce 99, 124 Dankwart, Gesine 106 Debord, Guy 22 Deleuze, Gilles 112 Depero, Fortunato 50 Derrida, Jacques 26 Descartes, René 74 Desiosi, die 66 Diderot, Denis 37, 40, 42, 47, 57, 76 f. Dilthey, Wilhelm 19 Dingelstedt, Franz von 81 Dürrenmatt, Friedrich 73, 96 Eco, Umberto 102 Einstein, Albert 128 Eisenstein, Sergej 93 Ekhof, Konrad 39, 74 Engel, Johann Jakob 40, 57 Erken, Günther 32 f. Euripides 10 Evreinov, Nikolaj 22 Fassbinder, Rainer Werner 96 Fedeli, die 66 Fiedler, Leslie 98 Finley, Karen 30 Fischer-Lichte, Erika 24, 61, 110 ff.
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Personenregister Fleißer, Marieluise 96 Flusser, Vilém 104 Fluxus 90 Fo, Dario 73 Forced Entertainment 73 Fosse, Jon 105 Foucault, Michel 51, 100 Freud, Sigmund 128 Freytag, Gustav 16 Frisch, Max 96 Fuchs, Georg 50, 58 Fukuyama, Francis 102 Galli-Bibiena, Ferdinando 46 Garrick, David 39 Gauguin, Paul 126 Gelosi, die 66 Genepp, Arnold van 61 Georg II, Herzog von Sachsen-Meiningen 81 Godard, Jean-Luc 101 Goethe, Johann Wolfgang von 15 f., 27, 41, 79 f., 97, 101, 116, 121 f. Goetz, Rainald 102 f. Goffman, Erving 23, 26 Goldoni, Carlo 70, 73 Gorkij, Maxim 92, 102 Gottsched, Johann Christoph 28, 55 f., 68 f., 75 Gozzi, Carlo 70 Grönemeyer, Herbert 124 f. Gropius, Walter 52, 94 Grotowski, Jerzy 97 Grüber, Klaus Michael 102 Gründgens, Gustav 96, 117 Gruppe 47, 100 Gutzkow, Karl 80 Hafner, Philipp 70 Handke, Peter 97, 100 ff. Harfouch, Corinna 29 Hauptmann, Gerhart 82, 92 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 12, 15, 102 Heidegger, Martin 102 Herrmann, Max 8 f., 19 f., 43, 108 Heyse, Paul 16 Hiß, Guido 110 Hochhuth, Rolf 95 f. Hofmannsthal, Hugo von 14, 48 Holteis, Karl von 79 Horaz 11, 54 Horváth, Ödön von 96 Hoss, Nina 119 Hübchen, Henry 129 Hübner, Kurt 97, 100 Hülsmann, Ingo 119 Hughes, Holly 30
Ibsen, Henrik 12, 92 Iffland, August Wilhelm 41, 74, 76, 79 Ingarden, Roman 8 Immermann, Karl Leberecht 81 Ionesco, Eugène 73 Jarry, Alfred 72 Jelinek, Elfriede 27, 97, 100, 103 Jessner, Leopold 122 Jünger, Ernst 105 Kandinsky, Wassily 50, 88 Kane, Sarah 104 Kantor, Tadeusz 124 Kaprow, Allan 90 Kater, Fritz 106 Kindermann, Heinz 19 Kipphardt, Heinar 95 f. Kirby, Michael 42 Kleist, Heinrich von 42, 124, 127 Klinger, Friedrich Maximilian von 78 Kokoschka, Oskar 72 Kortner, Fritz 96, 118 Kotte, Andreas 23 Kotzebue, August von 41, 76, 78 ff. Kriegenburg, Andreas 98 Kroetz, Franz Xaver 96, 104 Laube, Heinrich 81 Lacan, Jacques 29 Lang, Franciscus 38, 54 f. Laurentis, Teresa de 30 Lehmann, Hans-Thies 25, 62, 99 f., 113 ff. Lehmann, Sven 119 Lenz, Jakob Michael Reinhold 78 Lepage, Robert 50 Lessing, Gotthold Ephraim 40, 56 f., 69, 75, 77 f., 116, 120 Lichtenberg, Georg Christoph 57 Lillo, George 75 Linné, Carl von 40 Lyotard, Jean-François 25, 99, 101, 113 Maeterlinck, Maurice 13, 48, 86 Malewitsch, Kasimir 125, 127 Mann, Michael 103 Maria Theresia 70 Marinetti, Filippo Tommaso 88 Marivaux, Pierre Carlet de 68 Marlowe, Christopher 66 Marthaler, Christoph 98, 101 Marx, Karl 95 Mayenburg, Marius von 105 McCarthy, Paul 90 McKenzie, Jon 24
Personenregister Meininger, die 16, 81 f., 123 Meyerhold, Wsewolod E. 42, 50, 72, 87, 93 f., 98, 122 Miller, Arthur 95 Minks, Wilfried 117 Molière, [Jean Baptiste] 68 Monroe, Marilyn 41 Moore, Edward 75 Möser, Justus 69 Mukarˇovsky´, Jan 61 Müller, Heiner 97 f., 100, 102 f. Müller, Traugott 94 Munch, Edvard 126 Münz, Rudolf 24 Nestroy, Johann 41, 70, 80 f. Neuber, Caroline 28, 68 f. Newman, Barnett 99 Nicolai, Friedrich 56 Niessen, Carl 20 Nietzsche, Friedrich 58, 82, 86 f., 104 Nitsch, Hermann 90 Ono, Yoko 30 Orlan 30 Ostermeier, Thomas 98, 104 Pagel, Peter 120 Palladio, Andrea 45 Pacino, Al 41 Peisistratos 10 Periférico de Objetos, El 73 Peymann, Claus 97, 101 Philipp IV. 68 Picasso, Pablo 50, 128 Pirandello, Luigi 73 Piscator, Ernst 52, 94 ff., 98, 118, 127, 131 Pixérécourt, Guilbert de 71 Platon 53 Plautus, Titus Maccius 11 Plessner, Helmuth 23 Pollesch, René 98, 100, 102 ff., 106 Racine, Jean 66 Raimund, Ferdinand 70 Rauschenberg, Robert 99 Ravenhill, Mark 104 Reed, Lou 131 Reinhardt, Max 52, 95 Resnais, Alain 101 Riccoboni, Francesco 40 Richter, Falk 106 Rieger, Silvia 129 Rinke, Moritz 105 Röggla, Kathrin 106
Rorty, Richard 100 Rötscher, Heinrich Theodor 41 Rousseau, Jean-Jacques 57 Sainte-Albine, Rémond de 39 f. Sartre, Jean-Paul 96 f., 100 Schechner, Richard 26, 52, 103 Schiller, Friedrich 78 f., 106, 117 Schimmelpfennig, Roland 106 Schleef, Einar 103 Schlegel, Friedrich 83 Schlemmer, Oskar 50, 88, 90 Schlingensief, Christoph 90, 98, 132 ff. Schneemann, Carol 30 Schnitzler, Arthur 72 Schramm, Helmar 24 Schreyer, Lothar 89 Schröder, Friedrich Ludwig 39 Schütz, Bernhard 129 Seghers, Anna 95 Serlio, Sebastiano 45 Servandoni, Jean-Nicholas 46 Shakespeare, William 27, 66, 68, 75, 116 Sherman, Cindy 30 Singer, Milton 26 Socìetas Raffaello Sanzio 73 Sokal, Allan 105 Solschenizyn, Alexander 101 Sonnenfels, Joseph von 70 Sophokles 10 Sperr, Martin 96 Stalin, Josef 92 Stanislawskij, Konstantin S. 37, 41, 81, 92 f., 97, 102, 124 Steele, Richard 75 Stein, Gertrude 124 Stein, Peter 97, 101 ff., 117 Stephens, Simon 104 Stockhausen, Karlheinz 105 Stramm, August 89 Stranitzky, Josef Anton 69 Strasberg, Lee 39, 41, 124 Strauß, Botho 98 Strehler, Giorgio 73 Strindberg, August 12 Sulzer, Johann Georg 57 Szondi, Peter 13, 25, 99 Tabori, George 97 Tairow, Alexander 50, 72, 122 Terenz [Publius Terentius Afer] 11 Tertullianus, Quintus Septimius Florens 65 Thalheimer, Michael 116 ff. Toller, Ernst 95 Tschechow, Anton Pawlowitsch 12, 92, 97, 102
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Personenregister Tschechow, Michael 41 Turner, Victor 26, 61 Ubersfeld, Anne 8 Van Gogh, Vincent 126 Vega, Lope Félix de 66, 68 Vischer, Friedrich Theodor 41 Vitruv [Marcus Vitruvius Pollio] 11, 44 Wachtangow, Ievgeni 72 Wagner, Heinrich Leopold 78 Wagner, Richard 48, 83 ff. Walden, Herwarth 89 Walser, Martin 96
Waltz, Sascha 27 Wedekind, Frank 72 Weiss, Peter 95 ff. Widmer, Urs 106 Wilder, Thornton 96 Williams, Tennessee 95, 128 Wilson, Robert 23, 50, 97, 102, 122 ff. Wirth, Andrzej 23, 25, 99, 103 Wong, Kar Wai 119, 121 Wooster Group 27 Wuttke, Martin 103 Zadek, Peter 31, 33, 35 f., 97, 100, 117 Zola, Émile 48, 82
Sachregister Absurdes Theater 72 Affekt 14 f., 38, 53 ff. Affirmative Ästhetik 99 Akrobatik 71, 80 Alterität 21, 26 ff. Analyse 7, 20, 35, 110 ff., 115 Antike 10 ff., 27, 38, 43 ff., 53 ff. Anthropologie 20 ff., 23, 28, 61, 84, 104 Artistik 41 Atmosphäre 24, 35, 51, 62 Attraktion 41 ff. Aufführung 7, 9, 22, 31, 48, 53 ff., 107 Aufführungsanalyse 7, 107 ff. Ausstattung 33, 41 ff., 49 Autor 8, 10, 11 Avantgarde 7, 14, 16, 19, 24, 41, 50, 72, 82 ff., 86 ff., 93, 118, 123 Barockes Schauspiel 11, 38, 47, 54 ff. Bauhaus 42, 50 Bauprobe 35 Bewegung 22, 41, 48 ff., 85 Bild 21 ff., 43, 44, 47 ff., 50, 52, 91 ff., 99, 101, 122 ff. Bildanthropologie 23 Bildwissenschaft 21 ff. Biomechanik 42, 87, 93 ff., 98 Bühne 8, 11, 20, 35, 46, 51 Bühnenbild 33, 43, 45 ff., 119 Bühnenraum 11 f., 35, 43, 48, 51 ff., 120, 129 ff. Bürgerliche Öffentlichkeit 12, 31f, 56 ff., 73 ff., 118 Bürgerliches Theater 12 ff., 56 ff. 38, 73 ff., 81 Bürgerliches Trauerspiel 75, 118 Charakter 10, 38, 42, 74, 76 Commedia dell’arte 14, 28, 41, 65 ff., 70 ff., 118 Commedia erudita 11, 80 Cross-Dressing 29 ff. Cultural Performances 25 ff. Deklamation 39 Dekonstruktion 27 ff., 102, 128 ff. Dekoration 36, 44 ff. Dialog 35, 40, 50, 99, 118, 121 Didaskalien 8 Distanz 37 ff., 58 ff., 117, 140 Dokumentartheater 95 ff.
Drama, dramatischer Text 7 ff., 25 ff., 33, 45 Dramaturgie 19, 31 ff, 37 ff., 81 Einfühlung 37 ff., 39 ff. Ereignis 18, 25, 90, 117, 145 Energetisches Theater 25, 99 Environmental Theatre 26, 52 Episches Theater 95 ff., 97, 127 ff. Ethnologie 21, 26, 61 Experiment 26, 41 ff., 50 ff., 58, 82 ff. 91, 123 Expressionismus 41 ff., 89 Feministische Theatergeschichte 26 ff. Figur 8, 26, 35, 46, 103, 106, 126 Fiktion 45, 135 Freie Bühne 82 Fremdheit 27, 30, 142 Futurismus 50, 88 Gender 26f ff. Germanistik 19 f., 33 Gesamtkunstwerk 48, 52, 82 ff. Gestik 36, 54 ff. Gestus 26, 42, 95, 99 ff. Groteske 41 ff., 65 Happening 52, 132 ff. Harlekin 56 Historismus 16, 81 Iconic turn 21, 23, 99 Identifikation 38, 42, 57 Illusion 45, 47 ff., 76 Improvisation 65 Inszenierung 22, 31 ff., 35, 107 ff., 135 Inszenierungsanalyse 107 ff. Inszenierungsgesellschaft 27 Intendanz 31 ff. Klassik 56, 79, 81, 116 ff. Komik 64 ff. Komische Spielpraxis 7, 64 ff. Komödie 64 ff. Körper 12, 21 ff., 38, 43, 49, 64 ff. 87, 103, 112 Korporalität 21 ff. 29 f., 64 ff., 87, 112, 120 ff.
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Sachregister Kostüm 29, 31 ff., 36, 43, 74 Kostümbildner 36 Kostümreform 81 Kulturkritik 19, 35, 110 Kulturwissenschaft 21 ff. Lachen 64 ff. Leib 51, 54, 64 ff. Leseprobe 34 Licht 49 ff., 126 Literatur 7 ff., 37 ff. Lustspiel 75 Marionette 42, 124, 127 Material 21, 50, 112 Medialität 22, 107 ff. Medien 21 ff., 37 ff., 94, 102, 104, 127 ff. Mediengeschichte 21 ff. Melodram 71 Mimesis/Nachahmung 10, 29, 139 Mimik 36, 41, 54 ff. Mimus 20, 27 Mitleid 38, 56, 76, 105 ff. Monolog 35 Nationaltheater 41, 78 ff. Naturalismus 29, 41, 48, 81 ff., 91 ff. Nebentext 8, 46 Neoavantgarde 25, 98 Non-Acting 42 Oper 12, 46, 82, 124 Pantomime 52, 71 Performance-Kunst 21 ff., 26, 52, 73, 90, 98, 102, 132 ff. Performance Studies 26 Performanz 21, 24, 29 ff., 50, 62 ff., 71 ff., 76, 105 Performativität 21 ff., 50, 62 ff., 71 ff., 99, 103, 105 Phänomenologie 21 ff., 50 Physiognomik 95 Plötzlichkeit 114 Plurimedialität 7, 22, 144 Poetik 10 ff., 53 Politisches Theater 91 ff. Populäres Theater 79 ff. Postcolonial 21 Postdramatik 21, 25, 97, 98 ff. Präsenz 62, 99, 103, 114 Premiere 31 ff. Probe 32 ff. Produktionsprozess 31 ff., 105 Publikum 7, 32 ff., 38, 43 ff., 58, 108, 117, 145
Quellen 19, 33, 109 ff. Raum 26, 34 ff., 43 ff., 118, 126, 138 Regie 14 ff., 25, 31 ff., 104, 126 Regietheater 14 ff., 25, 31 ff., 94, 117 ff. Regisseur 14 ff., 25, 31 ff., 85 Retheatralisierung 12 ff., 84 ff. Rhetorik 39, 54 Rhythmus 35, 85, 89 ff., 125 Rolle 22, 27, 33, 37 ff., 131 Rollenspiel 23, 26, 131 Romantik 10 ff., 82 Rührstück 38, 41, 79 Schaupielakademie 39, 27 ff. Schauspieler 22 ff., 34 ff., 37, 39 Schauspielstil 39, 74 Schauspieltheorie 37 ff., 39, 42, 54 ff. Schultheater 54 ff., 92 Semiotik 8, 20 ff. Singspiel 12 Soziale Rolle 22 ff. Spektakelkultur 64 ff. Spielplan 31 ff., 79 Sprache 22 Sprechstücke 97, 100 Ständeklausel 75 ff. Stimme 7, 32 ff., 37, 54 ff. Strukturanalyse 110 ff. Substanz 26, 143 Surrealismus 123 Symbolismus 12 ff. Theaterarchitektur 11 Theaterästhetik 7, 42, 50, 58 Theatergeschichte 8, 14, 20, 26 ff. 32 ff., 39 Theatermoderne 12 ff., 48 Theaterreform 16, 56 ff., 84 ff. Theaterstück 10 ff. Theatertext 7 ff., 25, 32 ff., 35 Theatertheorie 9, 18, 47, 50 Theaterwissenschaft 7, 19 ff., 50 Theatralität 21 ff., 24, 26 Tragödie 10, 27, 53 Transformationsanalyse 110 ff. Transitorik 7, 20, 37 ff., 50, 108 Vierte Wand 47 Werktreue 14 ff. Zeichen 20, 37 ff., 50, 99, 107 Zensur 41 ff., 81