Der moderne Individualismus und die kirchliche Praxis [Reprint 2019 ed.] 9783111699547, 9783111311104


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Der moderne Individualismus und die kirchliche Praxis [Reprint 2019 ed.]
 9783111699547, 9783111311104

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Martin Schian: Die evangelische Kirchgemeinde [Studien z. prakt. Theologie, hsg. von L. dienten, K. Eger u. IN. Schian, I. Bb. t). 4.]

118 Seiten

1907

IN. 2.70

Die praktische Theologie wirb bem verf. dankbar zu sein haben für die Klare, lichtvolle, umsaffende Art, mit der er den Gemeindeselbsttätigkeitsgedanken im Gegensatze und als Ergänzung zur Arbeit bes geistlichen Amtes in allen seinen Konsequenzen durchgebildet und systematisiert hat. Theologisches Literaturblatt. Wie alle Arbeiten Schians ist auch diese Studie mit gewandter gebet, durch­ sichtiger Entwicklung, streng logischer Gedankenfolge und umfassender Sachkenntnis geschrieben. Evangelische Kirchenzeitung.

Das ist wirklich ein Beitrag zur „praktischen" Theologie- man merkt doch aus jeder Zeile den Mann, der im Pfarramt gestanden hat. Theologischer Literaturbericht.

Zur Beurteilung der modernen positiven Theologie 125 Seiten

1907

IN. 2.80

Die Schrift im Ganzen ist eine ausgezeichnete Einführung in die Probleme, welche unter bem Titel der m. p. Th. verhandelt werden. Was die Ergebnisse be­ trifft, so vermag ich der Beurteilung, die Sch. gibt, in allen wesentlichen Punkten zuzustimmen. INonatschrift für Pastoraltheologie, 14. Iahrg. H. 5.

. ... so bietet doch bas Ganze eine so objektive und deutliche Übersicht über die Grundgedanken der M. p. Th. und ihre verschiedenartige Färbung bei Seeberg, Th. Kaftan, Beth und Grützmacher, daß es zur Einführung in die Grund­ sätze und Probleme der neuen Richtung wohl geeignet ist. Theol. Literaturzeitung, 1909 Nr. 16. INan mag diesen Andeutungen entnehmen, wie vielseitiges Interesse die Schrift Sch.'s zu erregen imstande ist: wir bringen ein in die tiefsten Probleme dogmatischer Forschung und verlieren dabei die Gegenwart und ihre kirchlich­ theologischen Verhältnisse nie aus den Augen. Schweizer, theolog. Zeitschrift, 24. Jahrg. (1911).

Verlag von Alfred Göpelmann in Gießen

Vorträge der theologischen Uonserenz zu Gietzen ---- 31. Folge ■■

Der moderne Individualismus

und die kirchliche Praxis Von

D. Dr. Martin Schian Professor der Theologie in Gietzen

Verlag von Rlfred Opelmann (vormals I. Ricker) ° Gießen 1911

Beim mündlichen Vortrag habe ich einige Abschnitte meiner Niederschrift, z. B. die Bemerkungen über die Stellung der wissen­ schaftlichen Praktischen Theologie (S. 17 ff.), fortgelassen; auch sonst mußte ich mehrfach kürzen. Für den Druck sind diese Stücke wieder eingefügt. Auch die Anmerkungen mit Belegen und einigen näheren Ausführungen blieben beim Vortrag selbstverständlich fort.

Der Verfasser.

1. Die Tatsache des „modernen Individualismus" nehme ich als gegeben an. Zwar werde ich mich gar nicht wundern, wenn Jemand aufstehen und beweisen sollte» daß das Individuum heute nicht viel mehr gelte als einst. Ich bin sogar bereit, Beweis­ material für diese These heranbringen zu helfen: wir haben immer noch einen Polizeistaat und mehr denn je einen gesetzeschaffenden Staat; wir haben in der römisch-katholischen Kirche heute die organisierte Bekämpfung jeder individuellen Regung; wir haben in allen Ständen und Berufen Organisationen mit mindestens moralischem, oft mit vollkommen bindendem Zwangscharakter; wir haben Massensuggestionen von ganz überraschender Stärke; wir haben eine alle individuellen Rechte mißachtende Damenmode. Dennoch müssen wir heute von gesteigertem Individualismus reden. Der Einzelne erträgt jede Bindung schwerer als früher; er beansprucht mehr Rücksicht auf seine Rechte, seine Wünsche, seine Eigenart. Jeder ist ein Stück Michael Kohlhaas, ob auch en miniature. Wo er sich einfügen soll, muß ihm die sachliche Notwendigkeit klar sein. Und auch dann tut er es oft nur mit Vorbehalt und innerem Widerspruch. Jedenfalls will er mitreden, mitbestimmen. Das allgemeine, gleiche, geheime Wahlrecht ist das Zeichen der Zeit. Die allgemeine Stimmung aber gibt diesen Ansprüchen Recht. Individuelle Behandlung ist das Schlagwort in der Heilkunde wie in der Erziehungslehre. Selbst der Richter soll individuell verfahren. Nicht etwa vollendete geistige Selb­ ständigkeit ist das Wesen des modernen Individualismus (in dieser Hinsicht hat eher jene Gegenthese recht), sondern starke Betonung der Selbständigkeitsrechte des Einzelnen und seiner Eigenart. Und zwar wird diese Selbständigkeit um so mehr be­ tont, je mehr es sich tun Dinge handelt, die den inneren Kern der Persönlichkeit angehen: ihre Gesinnung, ihre Überzeugung,

ihre Religion.

4 Es ist selbstverständlich, daß dieser Individualismus auch Kirche und Theologie nahe angeht. Wie nahe, das habe ich vor einer Reihe von Jahren an einem der wichtigsten Punkte zu zeigen versucht, indem ich „den Einfluß der Individualität auf Glaubensgewinnung und Glaubensgestaltung" klarzulegcn unternahm **). Ich knüpfte damals Folgerungen für die dogmatische Wissenschaft an, während P. Drews meine Forderungen zwar an sich für völlig berechtigt erklärte, sie aber auf die Praktische Theologie angewendet wissen wollte. Er sprach damals im Zu­ sammenhang dieser Auseinandersetzung zuerst von der Psychologie des religiös-sittlichen Lebens als einer notwendigen neuen beson­ deren Disziplin der Praktischen Theologie; und er wies dieser Disziplin die Aufgabe zu, Werden und Sein der religiösen Indi­ vidualität empirisch zu erfassens. Ich habe heute nicht von der Beziehung der Individualität zur Dogmatik zu handeln; nach meiner Ansicht steht es außer Zweifel, daß das 19. Jahrhundert eine starke Individualisierung der Dogmatik gebracht hat — ich brauche ja nur an die sog. Erfahrungstheologie zu erinnern —; und auch, was ich damals in der Auseinandersetzung mit Drews in dieser Hinsicht gesagt habens, würde ich — allerdings mit einigen Modifikationen — noch jetzt aufrecht erhalten. Die Be­ tonung der Religionspsychologie in den letzten Jahren weist in die gleiche Richtung, und zwar auch dann, wenn man mit G. Wobbermin ihre Ergänzung durch erkenntnis-kritisches Denken intb durch „transzendentalpsychologisches" Verfahren für nötig hält^), um über den doch nur ein Anfangsstadium bildenden Empirismus herauszukommen. Für jetzt handelt es sich mir aber nur um die kirchliche, und zwar um die evangelisch-kirchliche Praxis. Mit Bezug auf sie will ich nicht erst die nahe Berührung von kirchlicher Praxis und Jndividualitätsprinzip theoretisch aufzu') Zeitschr. f. Theol. und Kirche VII, 1897, S. 513 ff. ’) P. Drews, Dogmatik oder religiöse Psychologie? Edda VIII, 1898, S. 134 ff., des. S. 146, 149. ’) S. meinen Aufsatz Glaube und Individualität. Ebda VIII, 1898, S. 170 ff. *) G. Wobbermin, Aufgabe und Bedeutung der Religions­ psychologie. Protokoll des 5. Weltkongresses für freies Christentum u. rel. Fortschritt Bd. 1, 1910, S. 243 ff.

5 weisen mich bemühen; ich will lieber gleich den Nachweis zu geben suchen, daß unsere kirchliche Praxis auf allen Ge­ bieten in starkem Maß durch die moderne hohe Schätzung der Einzelpersönlichkeit und ihrer Eigenart bestimmt ist. 2. Gehen wir die Gebiete der kirchlichen Praxis unter diesem Gesichtspunkt durch! Wir achten zunächst auf die äußeren kirchlichen Verhältnisse: auf die Gemeinde- und Kirchenmitglied­ schaft und die mit ihr zusammenhängenden Ordnungen. Einst engte ein straffer Parochialzwang den Einzelnen ein; heute ist er stark erweicht. Zwang im eigentlichen Sinn ist er nur etwa noch in pekuniärer Beziehung, nämlich mit Rücksicht auf die Gebührenzahlung. Wird er doch noch in anderer Weise geltend gemacht — ich erinnere an den bekannten Fall von Bestrafung eines Lehrers wegen Abendmahlserschleichung x) —, so empfindet inan das mit Recht allgemein als nur in Mecklenburg möglich. Für Abendmahls- und Gottesdienstbesuch ist jede Bindung ver­ pönt. Für den Vollzug der Taufe, der Konfirmation, der Trauung, des Begräbnisses bleibt der Einzelne an seinen Pfarrer gewiesen; und wo Seelsorgcbezirke eingerichtet sind, kann das wohl als Verschärfung der Bindung empfunden werden?); aber Dispens ist jederzeit üblich und wird vielfach begehrts). Dem Verlangen der Gemeinschaftskreise nach Abendmahlsfeiern für ihre Anhänger ist sogar die preußische Landeskirche ziemlich weit entgegengekommen 4).

') Akten des Falles des Lehrers Rehin in Pampow, herausgegeben vom Landes-Lehrerverein in Mecklenburg-Schwerin, 1907. ’) Wenigstens mag das gelten im Verhältnis zu der Zeit vor der Bezirksteilung; damals hatte in großen Gemeinden manchmal jedes Gemeindemitglied für jede Amtshandlung die ganz freie Wahl unter den Pfarrern der Gemeinde. •) Auch ein anderer Weg ist vielfach gangbar gemacht worden: die Gemeindeglieder haben das Recht, sich aus ihrem Bezirk (ihrer Gemeinde) in einen anderen umpfarren zu lassen. Vgl. P. Grün berg, Die evangelische Kirche, ihre Organisation und ihre Arbeit in der Groß­ stadt (1910), @.33 ff. *) Vgl. die Denkschrift des Evang. Oberkirchenrats an die preußische Generalsynode 1909. Genaue Inhaltsangabe bei I. Schneider, Kirchl. Jahrbuch 1910, S. 149 ff.

6 Dem gleichfalls individualistischen Bedürfnis nach religiöser Er­ bauung in kleinen Kreisen setzen nur noch vereinzelt Pfarrer kleiner Gemeinden, die das elq xoipavoq earto in lutherisches Amts­ bewußtsein übertragen haben, lauten Widerspruch entgegenl). Es ist uns Heutigen einfach ein Rätsel, daß noch bis vor etwa dreiviertel Jahrhunderten derartige Konventikel polizeilich verfolgt worden sind. Ein Parochialrecht existiert noch, aber es ist nur ein Schatten dessen, was es ürt 17. und bis ins 18. Jahrhundert war.

Noch deutlicher zeigt sich die Rücksicht auf die Einzelnen in der weitgehenden Freiheit, die ihnen mit Bezug auf Begehren oder Nichtbegehren der kirchlichen Handlungen über­ haupt gegeben ist. Man bedenke, daß das Zivilstandsgesetz im Deutschen Reich erst von 1875 datiert! Vorher bestanden in den meisten deutschen Ländern große Schwierigkeiten, wenn ein Paar eine Ehe ohne kirchliche Trauung eingehen wollte: heut ist der Weg dazu ohne weiteres frei. Zwar die Kirchengemeinden haben in manchen Landeskirchen Recht und wohl auch Pflicht, die Unter­ lassung von Taufe, Konfirmation, Trauung, auch die Überlassung

aller Kinder einer Mischehe an das andere Bekenntnis mit der Entziehung gewisser kirchlicher Rechte zu beantworten2). Aber entzogen werden dabei Rechte, die von den Betroffenen fast nie in Anspruch genommen waren und werden, auf die sie also gar kein Gewicht legen; und außerdem machen viele Gemeinden von diesen Bestimmungen so gut wie keinen Gebrauch3). Daß Dissi­ dentenkinder zum Besuch des konfessionellen Religionsunterrichts *) Daß bei vielen Pfarrern solcher Widerspruch sich regt, ohne zum lauten Ausdruck zu kommen, ist freilich gewiß. In kleinen Verhält­ nissen, also in Dorfgemeinden, bringen derartige Privatzirkel ja auch sehr leicht eine Störung des ganzen Gemeindelebens mit sich, sodaß der Widerstand des Pfarrers auch aus sachlichen Gründen voll begreiflich ist- In großen Gemeinden liegen die Dinge anders. Doch muß auch hier der Widerspruch gegen ein planmäßiges Entgegenwirken gegen gemeindliche Geschlossenheit sachlich begründet erscheinen. Unter diese Rubrik fällt z. B. das Vorgehen der Stadtmission in einigen Berliner „liberalen" Gemeinden. Vgl. Deutsch-Evangelisch, 1910, S. 381 f. ’) Z. B. in Altpreußen durch Kirchengesetz vom 30. 7. 1880 betr. Verletzung kirchlicher Pflichten. •) Vgl. z. B. Drews, Ev. Kirchenkunde, Bd. II. (Schlesien), S. 210 f.

7 gezwungen werden, fällt nicht der kirchli chen, sondern der staat­ lichen Praxis zur Last^). An diese Beobachtung schließt sich aufs Engste eine andere. Die evangelische Gemeinde des 16. und 17., ja der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wandte ihren Gliedern gegenüber ein ganzes System von Maßregeln der Kirchenzucht an. Bis zum Jahre 1746 kam in Preußen z. B. eine öffentliche Kirchenbuße gefallener Mädchen vor; erst Friedrich d. Gr. machte ihr endgültig ein ®nbe2). Heut erscheint uns derartiges als mittelalterlich. Gewisse Maß­ regeln einer Kirchenzucht haben sich — auch abgesehen von der vorhin erwähnten Gegenwirkung gegen Verschmähung kirchlicher Handlungen — erhalten?) Aber selbst so wohl begründbare wie die Gewährung oder Verweigerung der Ehrenprädikate beim Aufgebot sind in den Stadtgemeinden fast ganz, in den Land­ gemeinden zum Teil verschwunden. Noch weniger konnte sich die Versagung kirchlicher Beerdigung bei Selbstmördern oder gar im Falle der Feuerbestattung 4) auf die Dauer durchsetzen. Die Zeit scheint nicht fern, da selbst in bem lange widerstrebenden Preußen mit der gesetzlichen Zulassung der Feuerbestattung jede unterschied­ liche kirchliche Behandlung nach dem Modus der Bestattung aufhören wird. Wer sich innerhalb der Kirche oder der Gemeinde trotz allem noch beengt fühlt, dem ist der Austritt aus der Kirche, ob mit, ob ohne Anschluß an eine andere Kirchengemeinschaft, heut­ zutage verhältnismäßig so leicht gemacht, daß Tausende und Aber­ tausende in den letzten Jahren diesen Weg gegangen sind. Und wenngleich die kleinen Kirchengemeinschaften noch immer im staatlichen *) Vgl. E. Foerster, Art. Dissidenten. Die Religion in Gesch. und Gegenwart, Bd. 2. Dort nähere Nachweise. a) Nachweis in meinem Aufsatz: Aus den Königl. Verordnungen des Oberkonsistoriums zu Glogau zur Zeit Friedrichs des Großen. Korresp.-Blatt des Vereins für Gesch. der evang. Kirche Schlesiens, Bd. 7 (1900) S. 90. Übrigens hatte schon Friedrich Wilhelm I. diese Form der Kirchenbuße aufgehoben; nur war sein Edikt nicht durchgeführt worden. s) Vgl. meinen Art. Kirchenzucht. Die Religion in Gesch. und Gegen­ wart, Bd. 3. *) Vgl. meinen Art. Feuerbestattung, kirchliche Mitwirkung. Die Relig. in Gesch. und Gegenwart, Bd. 2.

8 Recht gegenüber den privilegierten Religionsgesellschaften zurück­ gesetzt sind, ja auch gelegentliche Schikanen gegen ihre Anhänger noch vorkommen, so ist doch im ganzen genommen ihre Stellung seit einem reichlichen halben Jahrhundert so außerordentlich viel günstiger geworden, daß auch in dieser Hinsicht der Einzelne, der sich zu ihnen rechnen will, in seiner freien Entschließung sich nicht

als gehemmt betrachten kann. Und die evangelischen Kirchen erkennen diesen Zustand als durchaus richtig an; sie verzichten immer mehr darauf, diesen kleinen Gemeinschaften etwa durch Anrufung der Staatshilfe das Leben sauer zu machens. Während so die Einengung des Einzelnen durch kirchlichen oder gemeindlichen Zwang immer geringer, seine Freiheit gegen­ über allen kirchlichen und gemeindlichen Ordnungen immer größer geworden ist, hat auf der anderen Seite der Einzelne ein Mitbe­ stimmungsrecht bekommen, von dem noch vor hundert Jahren niemand sich träumen ließ. Die Selbstverwaltung in Gemeinden und Synoden gibt dem Ausdruck. Allerdings gehen meist nur die Gemeindekörperschaften, nicht die Synoden aus Urwahlen hervor; und auch das Wahlrecht zu den Gemeindekörperschaften ist hier und da von der Erfüllung bestimmter Vorbedingungen abhängig gemacht^): daß es aber ein geheimes, gleiches und direktes ist, *) Man vergleiche die gegenwärtigen Zustände nicht mit irgend einer Konstruktion, sondern mit der Lage vor 1848! Eine sehr instruktive geschichtliche Darstellung dieser Verhältnisse bei F.L o o f s, Religionseinheit und Religionsfreiheit in Deutschland vom Westfälischen Frieden bis zur Gegenwart. Deutsch-Evangelisch, 1911, S. 398 ff, bes. S. 405 ff. Be­ weise für die freilassende Stellung der Kirchen bieten das nicht ohne das Gutachten des Kirchenregiments erlassene Gesetz über die Rechts­ stellung der evangelisch-altlutherischen Kirche in Preußen von 1908 (s. Stephan und Schian, Altlutheraner. Die Religion in Gesch. und Gegenwart, Bd. 1, Sp. 418). Zusammenstöße zwischen Kirchen und freikirchlichen Gemeinden begegnen am häufigsten auf dem Gebiet der Friedhöfe. E. Goes (Die Friedhofsfrage, 1905; Frieden für den Fried­ hof, 1909) hat die in den letzten Jahren vorgefallenen sehr sorgfältig verzeichnet. Er wird dabei mir der Position der Kirchengemeinden nicht überall völlig gerecht; gegenüber dem aggressiven Verhalten mancher Sekten kann man es jenen nicht verargen, wenn sie das Hausrecht auf den ihnen gehörigen Friedhöfen nicht aus der Hand geben. *) Die viel angefochtene Anmeldung zur kirchlichen Wählerliste, die in Preußen Vorbedingung für die Ausübung des kirchlichen Wahlrechts

9 entspricht ganz der modernen Schätzung des Individuums.

Die

Ausdehnung des Wahlrechts auf die Frauen, die in der Konsequenz dieses Prinzips liegt, wird erörtert und erstrebt **).

3. Wir sehen nun auf die kirchliche Praxis im engeren Sinn, auf die se el sorg erliche Arbeit. Ist es zu viel behauptet, wenn ich sage: auch für sie ist die Rücksicht auf den Einzelnen

und seine Eigenart überall bestimmender Leitgedanke? Man könnte zum Erweis des Gegenteils auf die Konfirmationspraxis Hinweisen: auf den Unterricht, der durch den Katechismus

alle Kinder in ein Schema gleichen religiösen Denkens und Empfindens einzuspannen suche; — auf die Konfirmationshandlung, die durch Abforderung des Bekenntnisses und Gelübdes wiederum uniformiere. Richtig ist natürlich, daß kein Klassenuntericht völlig individualistisch sein kann; das ist nur einem Privatunterricht nach dem Vorbild von Rousseaus Emile möglich. Der Konfir­ mationsunterricht muß also selbstverständlich, einfach der Natur der Sache nach, auf Individualisierung bis in die feinsten Spitzen hinein verzichten. Andererseits hat auch er bereits von der neueren Pädagogik viel gelernt; soweit Klassenunterricht individualisieren kann, tut er es auch. Von der Gestaltung der Konfirmations­ handlung gilt das Gleiche; sie kann unmöglich mit jedem Wort auf jedes Kind Rücksicht nehmen. Sie darf es auch gar nicht: sie soll ja für alle Kinder den Eingang in die gleiche Kirchengemeinde bedeuten. Immerhin bleibt die Frage, ob ihre gegenwärtige Form nicht enger ist, als nötig; und ob sie nicht in der Art, wie ist, stellt wahrlich keine Einschränkung von Bedeutung dar. Eher gilt das von § 34 Abs. 4 No. 3 der altpreußischen Kirchengemeinde- und Synodalordnung, wonach vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen ist, „wer durch Verachtung des göttlichen Wortes oder unehrbaren Lebens­ wandel ein öffentliches, noch nicht durch nachhaltige Besserung gesühntes Ärgernis gegeben hat", und von ähnlichen Bestimmungen anderer

Kirchenordnungen (vgl. E. Friedberg, Das geltende Versassungsrecht der evangelischen Landeskirchen in Deutschland u. Österreich, 1888, S.278 f.). *) Damit will ich nicht gesagt haben, daß das individualistische Prinzip das einzige sei, welches für kirchliches Wahlrecht der Frau spricht; vgl. meinen Artikel: Frau, ihre Rechte in der Kirche. Die Rel. in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2.

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die Kinder zur Teilnahme an ihr gebracht werden, mehr Zwang anwendet, als richtig ist. Die lebhafte Bewegung auf Konftrmationsreform hin, die wir seit 1900 erlebten **), ist wohl als noch nicht abgeschlossen zu betrachten; aber ob nun endgültig die freiwilligkeitskirchlich oder die volkskirchlich orientierte Strömung siegt, in jedem Falle wird der Individualität ein weiterer Spiel­ raum eingeräumt werden. Siegt die erstere, so geschieht das durch die Betonung der Freiwilligkeit, mit der der Einzelne ein schweres Bekenntnis und Gelübde auf sich nimmt; siegt die letztere, so geschieht es durch Milderung des Drucks, den Bekenntnis, Gelübde und Abendmahlsteilnahme ü6en2). Auch der Gottesdienst hat seinem Wesen nach ein starkes antiindividualistisches Moment. Er ist doch eben gemeinsamer Verkehr vieler, die zu einer Einheit zusammengefaßt sind, mit Gott. Die Vielen müssen das gleiche Lied singen, an der gleichen Liturgie teilnehmen, dieselbe Predigt hören. Dennoch nimmt auch der Gottesdienst in wachsendem Maß individuelle Rücksichten. Ich erinnere an die mit steigender Energie verteidigte Anschauung von der völligen Souveränität der Einzelgemeinde hinsichtlich ihrer gottesdienstlichen Ordnungen2). Sie verbündet sich oft mit scharfem Protest gegen die Uniformität agendarischer Vorschriften. Ich weise ferner hin auf die ganz entschieden stark erhöhte Rücksicht auf die jeweilige Zusammensetzung der bestimmten Gemeinde und auf ihre im gegebenen Zeitpunkt vorauszusetzende Stimmung. Es ist deutlich, daß das Moment des Objektiven, Unbeweglichen in­ folge dieser Rücksicht zu gunsten des subjektiven, beweglichen Faktors *) Zusammenstellung der einschlägigen Äußerungen am besten durch E. Chr. Achelis: Tie Bestrebungen zur Reform der Konfirmations­ praxis und des Konsirmandenunterrichts. Theol. Rundschau 1901, 353 ff., 395 ff. und: Lehrbuch der Prakt. Theologie 3. Ausl., Bd. 2, S. 337. *) Ein Anzeichen dafür, das, die volkskirchliche Praxis in dieser Richtung eine, wenn auch leise Wandlung zu erfahren beginnt, find die Verhandlungen mehrerer Berliner Kreissynoden 1911; vgl. DeutschEvangelisch 1911, S. 382 ff. •) Diese Anschauung brachte soeben I. Sm end in seinem Vortrag „Der Gottesdienst als Gemeindefeier" auf der 2. Konferenz für evang. Gemeindearbeit in Darmstadt (Verhandlungen der 1. und 2. Kons, für evang. Gemeindearbeit, 1911, S. 62 ff.) scharf zum Ausdruck.

11 zurückgetreten ist. E. Chr. Achelis**) konnte weithin auf Zustimmung rechnen, als er jüngst unsere Gottesdienste unter dem Gesichts­ punkt der Wahrhaftigkeit untersuchte und kritisch beleuchtete; Wahr­ haftigkeit aber ist individualistisch in hohem Grad. Allen Einzelnen vermag ein Gemeindegottesdienst sich freilich nicht anzupassen; aber die Tendenz der Entwicklung geht dahin, es so weit als eben möglich zu tun. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Bewegung auf Umgestaltung des gottesdienstlichen Bekenntnisaktes zu ver­ stehen : das Bekenntnis selbst soll so weit reichender Mannigfaltig­ keit als angängig Raun» bieten; die Einführungsformel soll diese Rücksicht ausdrücklich hervorkehren. Ehe ich von der Predigt rede, konstatiere ich kurz, daß die Individualisierung bei den gottesdienstlichen Handlungen außerhalb des Gemeindegottesdienstes selbstverständlich, weil ein noch viel größeres Recht, so auch ein noch viel größeres Feld gefunden hat. Die Abendmahls feier ist ja ihrer Art nach durchaus Gemein­ schaftsfeier; aber die Einzelkelchbewegung schafft auch in ihr dem Individuum ein neues Recht2). Tie anderen kirchlichen Handlungen, als solche von geradezu individuellem Charakter, tragen der Be­ sonderheit der Situation und der Person natürlich noch in ganz anderem Maße Rechnung. Immer weniger will man dabei auf ein freies Wort verzichten, weil eben dies individualisieren kann. Die Taufhandlung ist vielfach ins Haus verlegt2), wodurch sie ihres gemeindlichen Charakters nahezu ganz entkleidet wird. Massentrauungen fanden zeitweis in Großstädten Eingang; soweit irgend möglich, hat man wieder damit aufgeräumt. Die Traurede wie die Grabrede muß so intim wie möglich auf die persönlichen Verhältnisse eingehen; das verlangt das Volksempfinden. Das Gleiche gilt von der Grabrede. Sie wird weder von» Pfarrer noch von den Angehörigen mehr als eine aus bestimmtem Anlaß stattfindende Gemeindehandlung aufgefaßt, in der der Amtierende in Anwendung auf einen konkreten Fall das Evange*) In dem Aufsatz: Die Wahrheit und Wahrhaftigkeit in unseren Gottesdiensten. Monatschr. f. Pastoraltheologie V. (1909/10), S. 403 ff. ') Ich weise nur hin auf F. Spitta: Die Kelchbewegung in Deutschland imb die Reform der Abendinahlsfeier. 1904. *) So z. B. vielfach in Hessen.

12 lium zu verkündigen hat; sondern sie gilt als Gedächtnisfeier zu Ehren des Verstorbenen*). Je reichlicher und genauer sie (selbstverständlich in freundlichem Sinn) auf das abgeschlossene Einzelleben eingeht, desto höher wird sie geschätzt. Die Verhält­ nisse großstädtischer Riesengemeinden erschweren das freilich. Aber selbst wenn ein Begräbnispfarrer auf dem Ohlsdorfer Friedhof bei Hamburg seine 10000. Grabansprache verzeichnet ^), ist dabei zu bedenken, daß in vielen dieser Fälle eine sicher ganz individuelle Rede im Hause vorangegangen war, und — daß auch der Ohls­ dorfer Pfarrer jedesmal einen Zettel in die Hand gedrückt be­ kommt, der ihm eine individuelle Wendung ermöglicht. Über die Predigt brauche ich in diesem Zusammenhang

nicht viel zu sagen. Sie hat von allen kirchlichen Akten von jeher am meisten zu individualisieren gesucht; sie geht in dieser Beziehung heut noch viel weiter als etwa in der die stärkere Besonderung einleitenden Periode des Rationalismus. F. Riebergall") hat Recht, wenn er die „empiristisch - realistische Erfassung der Hörer" als eins der wichtigsten Kennzeichen unserer Predigt­ lehre bezeichnet; ich unterschreibe auch seine Formulierung: „Die Predigt verliert also ihren monarchischen Charakter und wird konstitutionell." Rur vertrete ich gegen ihn die Ansicht, daß dieser Zug sich, namentlich soweit psychologisches Individualisieren und nicht bloß ein Differenzieren nach Ständen, Berufen und Gruppen in Frage kommt, heut viel ausgebildeter findet als im Zeitalter der Aufklärung. Ich behaupte nicht, daß jeder Prediger und jede Predigt individualisiert; aber von der Gesamterscheinung der Predigt gilt das allerdings. Endlich ein kurzes Wort über die Seelsorge. Daß sie individuelles Vorgehen nötig hat, wußte schon Gregor d. Gr., wußte schließlich jeder Seelsorger vom Anbeginn der Christenheit an. Dennoch sind auch hierin fortschreitende Entwickelungen zu *) Charakteristisch ist dafür die soeben erschienene Sammlung von Grabreden: „Lebensbilder iin Lichte der Ewigkeit" von E. Lachmann. Mit Vorwort von E. Niebergall. 1911. ') Chronik d. christl. Welt 1911, S. 243. ’) Die Predigtkunst in Deutschland. Jin Protokoll der Verhand­ lungen des 5. Weltkongresses für freies Christentum usw. Bd. 1, S. 262 ff.

13 verzeichnen. Erst die psychologischen Arbeiten der letzten Jahr­ zehnte haben uns in die wunderbaren Mannigfaltigkeiten und in die unendliche Kompliziertheit der menschlichen Psyche wirklich tief hineinschauen lassen; erst die allerjüngste Zeit hat die Aufgabe ernstlich angefaßt, die religiöse Erfahrung nach den gleichen Gesichtspunkten der Mannigfaltigkeit und der Kompliziertheit wirk­ lich klarzulegen: erst unsere Zeit hat die Bedingungen des Werdens und Wachsens religiösen Lebens intensiv ergründet; erst sie geht jenen geheimnisvollen Grenzgebieten zwischen gesunder Frömmigkeit und religiösem Wahn ernstlich nach. Das war gar nicht früher möglich als zu einer Zeit, in der man die Abhängigkeit des menschlichen Seelenlebens vom Leben des Körpers, von den Ein­ flüssen der äußeren und inneren Lebens bedingungen vorurteilsfrei zu untersuchen unternahm, Daß alle diese Forschungen und Er­ kenntnisse auch die Seelsorge viel mehr als vordem individualisieren mußten, ist ganz selbstverständlich*). Jrrenseelsorge, Gefangenen­ seelsorge wissen davon zu reden; aber auch die Gesundenseelsorge hat dadurch ganz neue Anregungen empfangen.

4. Bis hierher führte uns der Gesichtspunkt der Rücksicht auf Einzelpersönlichkeit und Eigenart der Gemeindeglieder. Aber der Einfluß der modernen Schätzung der Individualität auf die kirchliche Praxis wird erst ganz deutlich, wenn wir einen zweiten noch in ganz anderem Maße modernen Gesichtspunkt hinzunehnien: den der Rücksicht auf die Individualität der kirchlichenAmtsträger. Solche Rücksicht kannte man in den ersten Jahrhunderten des Protestantismus nur in äußerst geringem Maße. Man zog etwa die Verschiedenheit der Gaben, des Eifers und der Kraft in Erwägung, aber damit war die Rücksicht erschöpft. Dogmatische Individualität? Schon der Gedanke daran war im Zeitalter der Konkordienformel unmöglich. Religiöse Individualität beim Pfarrer? Wenn man geringe Ansätze dazu bedachte, so war man jedenfalls weit davon entfernt, ihnen einen Einfluß auf das Amt zuzugestehen.

*) Man vergleiche die die Individualisierung der Seelsorge be­ treffenden feinen und sorgfältigen Ausführungen bei H. A. Köstlin: Die Lehre von der Seelsorge, 2. Ausl., 1907, S. 253—314.

14 Als der Pietismus von solchem Einfluß des doch wahrhaftig be­ deutsamen individuellen Unterschiedes „bekehrt" oder „unbekehrt" zu reden begann*), protestierten die orthodoxen Lutheraner sehr kräftig. Es war ja eigentlich gar nicht der Prediger, welcher wirkte: es war das Wort! Und — noch objektiver! — das Sakrament! Wie haben sich seitdem die Zeiten gewandelt! Wo sind alle die objektiven Größen von ehemals, die die kirchliche Praxis bestimmten? Das Wort, die Bibel, die Lehre, das Be­ kenntnis? Nicht einmal das „Evangelium" ist mehr eindeutig. Stimmen in recht respektabler Zahl werden laut, die auch die geringste Bindung des Pfarrers an allgemeingültige Formulierungen verwerfen8). Freiheit für seine Eigenart ist die Parole: Freiheit gegenüber der Bibel, gegenüber dem Bekenntnis, gegenüber der Agende, gegenüber den Perikopen, gegenüber jedem Text, gegen­ über dem Herkommen, selbstverständlich auch gegenüber der Kirchen­ behörde. Warum? Natürlich nicht, weil Willkür des Pfarrers ein geborenes Recht sei; sondern weil alles ankomme auf seine religiöse Persönlichkeit, und weil die allergeringste Hemmung, die dieser widerfährt, auch seiner Amtswirksamkeit unheilbaren Schaden tue. Ganz wahrhaftig, ganz echt, ganz frei muß alles sein und auch deutlich erscheinen, was er tut. Denn nur, was er an religiösem Leben besitzt, ist das Mittel seiner Arbeit an Anderen. „Das, womit ich treu wuchern soll — sagt Veit —, ist mein Seelenleben, sind die Erfahrungen und die Erlebnisse, die ich am Evangelium gemacht habe. Diese habe ich in aller Treue zu verkündigen, und was darüber ist, das ist voin Übel, besonders

der Versuch, das Selbsterlebte durch eine objektive Religion, die für mich tot ist, zu ergänzen8)." Und was Veit hier von der

*) Vgl. Haucks Real-Enzykl. 3. Auft., Bd. 15, S. 683. ’) Ich erinnere an die zahlreichen Äußerungen, die anläßlich des Falles Jatho in dieser Richtung laut geworden sind. Unter ihnen ist, um ihrer radikalen Einseitigkeit willen, die ein völliges Vergessen der Forderungen religiösen Gemeinschaftslebens zur Folge hat, bemerkens­ wert: Artur Bonus, Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats, 1911. ’) W. Beit, Was soll der ev. Gemeindepfarrer sein: Priester, Evangelist oder Seelsorger? 1910, S. 53. Vgl. auch in derselbe», Schrift die Ausführungen über Sulzes Gemeindeideal (S. 55 ff.), ferner S. 58. Dort spricht Veit von „dem von uns geforderten subjektiven, auf gegen-

15 gesamten Amtswirksamkeit des Pfarrers sagt, das wird mit drei­ facher Energie zumal für die Predigt gefordert. Niebergall konstatiert, daß unsere ganze psychologische Erkenntnis immer mehr dem Pietismus in jener bekannten (oben erwähnten) Streit­ frage Recht gebe. Was er hinzufügt, zeigt sofort, wieviel individualistischer er doch unsere Art sein laßt im Vergleich zu der des Pietismus. „Wir lernen die Imponderabilien, wir lernen die hypnotisch-suggestiven Kräfte wenigstens als Anknüpfungsmittel immer mehr schätzen .. ." „Wir vertrauen vor allem auf die große, wenn auch nur einmal vorläufig suggestionell wirkende ansteckende Kraft der Ur- und Naturlaute des Glaubens .. ." *). Diesen Konstatierungen entsprechen vollkommen Weisungen wie die von Baumgarten: Zumal der Anfänger predige sich selbst! Das ist das sicherste Mittel, um anderen zu predigen8); aber, wenigstens in gewissem Maße, auch wie die von Rittelmeyer: „Besser predigen möchtest du können? Da hilft dich alles nichts: du mußt besser roerben!"8). In der Praxis macht sich dieser homiletische Individualismus vor allem bemerkbar in der Zurück­ stellung der Perikopenreihen4*),* *in der Art der Behandlung der frei­ gewählten Texte, in der Auswahl der Predigtstoffe, in der Aus­ schaltung von Gedankenreihen, die dem Prediger nicht liegen, — aber natürlich auch sonst in dem ganzen persönlich-subjektiven Habitus moderner Predigt. Ich verzichte darauf, auch für die übrigen Einzelgebiete der kirchlichen Praxis den Nachweis der Orientierung der Individualität des Pfarrers zu führen. Es scheint mir richtiger, noch einige allgemeine Beobachtungen, die zur Sache gehören, zu geben. Achten wir einmal darauf, welchen Klang heut solche Größen haben, denen eine antiindividualistische Tendenz innezuwohnen scheint; Kirche, Kirchenordnung, Bekenntnis, Sitte, Gemeinde —;

fettigem Seelenaustausch und Seelenverständnis ruhenden Ausbau des evangelischen Gemeinschaftslebens, in welchem dem Pfarrer als dem »Sachverständigen* in Seelenangelegenheiten seine dementsprechende Stellung und Aufgabe zuzuweisen ist." *) A. a. O. S. 268. *) Predigtprobleme, S. 53. •) Der Pfarrer. Erlebtes und Erstrebtes. S. 36. 4) Hier habe ich meine kleine Schrift „Wider die Perikopen" (1897) als Beispiel anzuführen.

16 und welchen Klang Begriffe von ausgesprochen individualistischer Tendenz besitzen wie ganz besonders der Begriff Persönlichkeit! Natürlich ist die Meinung auch gegenüber diesen Begriffsgruppen verschieden, wie denn ganze Schichten nicht fehlen, die allem modernen Individualismus bitter feind sind; aber daß, im Durch­ schnitt genommen, Persönlichkeit, Persönlichkeitskultur, und auf religiösem Gebiet persönliche Frömmigkeit, Religiosität, religiöse Persönlichkeit heut hoch im Kurs stehen, das wird man behaupten dürfen, auch ohne an Johannes Müller und Heinrich Lhotzky ausdrücklich zu erinnerns. Und daß dem Begriff Kirche mit allem, was damit zusammenhängt, in weiten Kreisen des evangelischen Volks geradezu feindselige Abneigung gilt, ist nicht erst zu be­ weisen. Vielleicht macht die Größe Gemeinde nicht ganz die gleiche Erfahrung dann liegt das einmal daran, daß die Ge­ meinde ihrerseits wieder etwas Individuelles bedeutet, anderseits daran, daß die Einzelgemeinde ihre Front nicht bloß gegen das Individuum kehrt, sondern auch, und zwar vielfach ganz energisch, gegen die Kirche. Jede Frontstellung gegen noch weniger indivi­ duelle Größen aber bringt selbst einer an sich auch nicht individuellen Größe Sympathien. Die Sitte teilt das Schicksal der anderen in Mißkredit gekommenen Größen. Auch die Sitte trägt das Moment des Zwanges in sich. Die kirchliche Sitte bindet den Einzelnen, ist ihm unbequem, nötigt ihn zu Handlungen, die nicht völlig seinem Fühlen entsprechen. Die Sitten der Kindertaufe, der Konfirmation, der kirchlichen Trauung, oft auch der kirchlichen Beerdigung, bringen vielen Modernen die unbehaglichsten Momente ihres Lebens, leider auch diejenigen Momente, in denen sie mit ihrer Wahrhaftigkeit am stärksten in Konflikt kommen. Die Sitte der Ehrenprädikate beim Aufgebot empfindet selbst der Landbewohner als starke Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit, zum mindesten, wenn er selbst der Betroffene ist. Dadurch wird auch die Sitte *) Vgl. die Aufsätze von G. Koch: Zur Beurteilung der modernen Persönlichkeitskultur (Christi. Welt, 1908, Sp. 399 ff.), sowie Johannes Müllers Antwort (ebenda Sp.656ff.) und Kochs Duplik(Sp. 722ff.); ferner Karl Haas, Heinrich Lhotzky, (Deutsch - Evangelisch 1911) ©.65 ff., 137 ff. ’) Aber sobald die Gemeinde als etwas „Objektives" gefaßt wird, erlebt sie das Gleiche; s. Veit a. a. O. S. 56ff.

17 verhaßt. Man studiert heutzutage die Sitten aus volkskundlichen Interessen, man pflegt sie, um Bodenständigkeit und Heimatsliebe zu erhalten, aber man hat dabei gegen die übermächtige Gewalt des Individualismus, auch, und nicht in letzter Linie, des reli­ giösen Individualismus zu kämpfen. Mehr aber noch als die Sitte ist der Begriff der Gewohnheit verhaßt geworden; Ge­ wohnheitschristentum hat vielfach den Sinn von totem Christentum bekoinmen. Kirche bedeutet Zwang, Sitte und Gewohnheit be­ deuten leere Formen. Aber Persönlichkeit bedeutet Leben I Und Individualität bedeutet Leben! Je lebendiger die Persönlichkeiten, um so mannigfaltiger ihre Gestaltung. Je lebendiger die einzelne Persönlichkeit, um so besonderer, eigentümlicher ihre Struktur. Es gibt Verehrer der modernen Persönlichkeitskultur, die aus solchen Gedankengängen heraus förmlich eine Vorliebe für die religiöse Spezialität haben, für die Sekte, für das Konventikel, für die „Gemeinschaft", für den Enthusiasten, für den Sonderling, für alles, was vom Weg abliegt. Überall dort scheint ihnen religiöses Leben zu fein1). Wo aber ruhige, nüchterne, besonnene Frömmigkeit ist, da finden sie sie der Fäulnis und des Todes verdächtig.

5. Eine Durchschnittsschilderung versuchte ich zu geben. Und zwar eine Schilderung der kirchlichen Praxis. Ich mußte ge­ legentlich dabei auch Äußerungen der theoretischen Praktischen Theologie heranziehen. Es ist nicht schwer, den Nachweis zu führen, daß sie zur Individualisierung der kirchlichen Praxis in den letzten zwei Jahrzehnten stark mitgeholfen hat. Das Buch von F. Niebergall8): „Wie predigen wir dem modernen Menschen?" hat in dieser Beziehung weithin Bahn gebrochen; die von P. D r e w s8) in sein Programm der Kirchenkunde aufge­ nommene Forderung einer religiösen Volkskunde hat nicht nur,

*) Charakteristisch für solche Stimmung scheint mir der Aufsatz von Artur Bonus: Sollen die Gemeinschaften in der Kirche bleiben? Christl. Welt, 1908, Sp. 1064 ff., namentlich ©p. 1066 s. ’) 1. Teil 1902, 3. Ausl. 1909, 2. Teil 1. und 2. Anst. 1906. ’) Vgl. P. Drews, Religiöse Volkskunde eine Aufgabe der prakt. Theologie. Monatschr. f. d. kirchl. Praxis. I (1901), S. 1 ff. Schian, Der moderne Individualismus und die kirchliche Praxis.

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18 aber auch in dieser Richtung gewirkt. Wiederum Niebergall') hat vor kurzem die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule umfassend dargestellt. Dabei fehlt nicht ganz der Blick auf die Gemeinde und auf die Masse oder das ganze Volk als auf Forschungsgegenstände der religions­ psychologischen Untersuchung; auch finden sich leise Andeutungen über Stimmungswerte und massenpsqchologische Pädagogik**). Aber die Darlegung als ganze demonstriert die Orientierung der Praxis an: Individuum. Aber gerade weil die Mitwirkung der Praktischen Theologie nach dieser Seite hin jedem bekannt ist, möchte ich um so weniger unterlassen, die Darstellung der Be­ ziehungen dieser Gedankenreihe zur praktisch-theologischen Wissen­ schaft zu vervollständigen. Die Praktische Theologie hat in der gleichen Zeit, in der die Individualisierung der kirchlichen Praxis derartige Fortschritte machte, nicht aufgehört, auch ganz anders orientierte Gedanken geltend zu machen. Wenn sie mit K. I. Nitzsch die Gemeinde als „aktuoses Subjekt" der kirchlichen Tätigkeit ermittelte, und zwar „die zuerst und im Allgemeinen nur von Christi Stiftung und Aint abhängige Gemeinde in der Selbigkeit und Allheit ihrer Mitglieder", also die Gemeinde im Sinne von Kirche*), so bedeutete das ein antiindividualistisches Moment. Wenn sie in dem meistverbreiteten Lehrbuch von E. Chr. Achelis die Praktische Theologie als „die Lehre von der Selbstbetätigung der Kirche zu ihrer Selbsterbauung" definiert*), so fügt sie der antiindividualistischen Subjektsbestimmung auch eine antiindividua­ listische Zielbestimmung hinzu. Die Kirche, die Gemeinde soll erbaut werden, nicht der Einzelne. Und, wie man auch über die Durchführung dieses Programms bei Achelis denke, auf alle Fälle sind starke Ansätze gemacht, um dieser Subjekts- und Ziel­ bestimmung Folge zu geben. Der Gottesdienst erfährt gerade unter dem Gesichtspunkt des Gemeindegottesdienstes ausführliche Behandlung®); für die Predigt wird die Beziehung des Predigers

*) Zeitschrift für Theologie und Kirche XIX (1909), S. 411—474. ’) Ich denke an die Ausführungen S. 471 ff. ') K.J. Nitzsch, Prakt.Theol. Bd. 1, 2. Anfl., S. 14. *) 3. Aufl. 1911, Bd. 1, S. 25. °) Achelis a. a. O. Bd. 2, S. 1 ff.; G. Rietschel, Lehrbuch der Liturgik Bd. 1, S. 23ff., des. S. 58ff.; I. Smend, Der evang. Gottes«

19 zu seiner Gemeinde besonders erörtert, nicht minder das Bestimmt­ sein des Predigtstoffs durch den Lebensinhalt der Gemeinde x); die Liebestätigkeit wird zum Leben der Kirche und Gemeinde ausdrücklich in Beziehung gesetzt^); und eine besondere Lehre vom Kirchenregiment fehlt nichts. Um aber einige besonders hervor­ stechende Betätigungen der Praktischen Theologie nach dieser Rich­ tung zu nennen, verweise ich auf G. Riet sehel^), der die Liturgik in besonders starkem Maße als Lehre vom Gemeindegottesdienst behandelt, auf Smend, für den das Wesen des evangelischen Gottesdienstes gerade darin besteht, daß er Gemeindefeier ist, auf H. A. Köstlin, der die Lehre von der Seelsorge in einer Weise als Lehre von der Seelsorgegemeinde gefaßt hat, wie das vorher gar nicht denkbar war^), auf W. Caspari, der die geschichtlichen Daten über das Werden der kirchlichen Einrichtungen und Hand­ lungen unter dem Titel „Tie geschichtliche Grundlage des gegen­ wärtigen evangelischen Gemeindelebens" zusammengefaßt hat8*).l * * 4 * * * Und als wissenschaftliche praktisch-theologische Arbeiten sind unter diesem Gesichtspunkt nicht zuletzt auch Emil Sulzes „Die evange­ lische Gemeinde" und die Neubearbeitung dieses Buchs „Die Re­ form der protestantischen Landeskirchen" zu nennens; im Zusamnienhang damit die Fülle von Schriften zur Gemeindefrage, von denen die meinige8) geradezu eine Eingliederung der leitenden Gedanken Sulzes in das Ganze der Praktischen Theologie an­ strebt. Endlich sei noch hervorgehoben, daß die neue praktisch­ theologische Disziplin der Kirch en künde sehr wichtige Aufgaben dienst, 1904, S. 12 ff.; Ders., Unser Gottesdienst als Gemeindefeier (Ver­ handlungen der 1. u. 2. Kons. f. ev. Gemeindearbeit, 1911, S. 62 ff.). l) Achelisa. a. O. Bd. 2, S. 117ff.;F. Niebergall, Wie predigen wir ... 2. Teil, S. 160 ff.; meine Prakt. Predigtlehre, 2. Allst., 1910, ©. 50 ff., 98 ff., 134 ff. Erinnert sei auch an die ausgedehnte Diskllssion über die Dorfpredigt (Literatur in m. Prakt. Predigtlehre, S. 63). -) Achelis a. a. O. Bd.3, S. 244 ff. 8) Achelis a. a. O. Bd. 3, S. 396ff. 4) Lehrbuch der Liturgik. Bd. 1, 1900, S. 9 s. 6) Die Lehre von der Seelsorge. In Herings Sammlung von Lehr­ büchern der Prakt. Theol. 2. Aust., 1907. °) 2. Aust. 1908. ’) Ersteres Buch 1891, letzteres 1907. 8) Die evang. Kirchgemeinde. Irr: Studien z. prakt. Theol. Bd. 1, 1907.

20 sieht in der Herausstellung des Sondercharakters ganzer Kirchen­ gebiete, ganzer Gemeinden und der in Kirchen und Gemeinden heimischen Sitten und Bräuche Z. Mit diesen Andeutungen muß ich mich begnügen. Sie zeigen jedenfalls, daß die Praktische Theologie selbst sich von ein­ seitigem Individualismus fern gehalten hat. Aber wenn wir von diesen Gedankenreihen her auf die kirchliche Praxis sehen, so wird nur um so deutlicher, daß diese gerade die kirchlich-gemeindlichen Anregungen der Theorie nur zu einem sehr geringen Teil aufge­ nommen hat. Daß die Kirche, daß die Gemeinde Subjekt der kirch­ lichen Tätigkeit sei, ist eigentlich ganz und gar Theorie geblieben; man erinnert sich ihrer, wenn es gilt, die Tätigkeit des Pfarrers in gutes Licht zu setzen; aber man zieht im übrigen herzlich wenig praktische Konsequenzen. Daß die Gemeinde näheres und ferneres Objekt dieser Arbeit ist, weiß jeder; aber in der Praxis wird die Gemeinde leicht als Summe von lauter Einzelnen genommen. Gemeindeorganisation haben wir in den letzten Jahrzehnten in Städten schaffen müssen; aber das schöne Schlagwort hat oft keinen anderen Inhalt als den angemessener Verteilung der Amts­ arbeiten unter mehrere Pfarrer. Nach wie vor herrscht in der kirchlichen Wirklichkeit die Vorstellung, als vollziehe sich im letzten Grund alle kirchliche Arbeit zwischen der Person des Pfarrers und der Person des einzelnen Gemeindegliedes. Nach wie vor bäumt sich die Individualität der Pfarrer gegen jede Beschränkung*), die Individualität des Gemeindegliedes gegen jede, auch die ge­ ringste, gemeindliche Zumutung auf, sofern diese eine moralische Pflicht bedeuten sollte. Die tiefergreifende, weiterführende Theorie hat sich nicht durchzusetzen vermocht.

6. Das ist die Situation. Nunmehr erhebt sich die Frage; wie ist diese Lage zu beurteilen? Da sei denn zuerst einmal darauf hingewiesen, daß die In­ dividualisierung der kirchlichen Praxis wenigstens zu einem Teil

') P. Drews, Evang. Kirchenkunde; seit 1902 5 Bde. ’) Die Beispiele liegen in den Verhandlungen über den Fall Jatho in Fülle vor.

21 von äußeren Verhältnissen abhängt, die abzustellen nicht in der Macht eines Einzelnen liegt, vielfach für die nächste Zeit nicht einmal in der Macht aller kirchlichen Faktoren zusammenge­ nommen, die aber ebensowenig durch Absicht oder Neigung ein­ zelner oder auch aller kirchlicher Faktoren entstanden sind. Die Individualisierung der kirchlichen Praxis hängt eng zusammen mit der Individualisierung des gesamten kulturellen Lebens. Sitte und Brauch haben in jedem Sinn des Worts an Einfluß ver­ loren. An die Stelle der Heimatgebundenheit ist die Freizügigkeit getreten; an die Stelle der patriarchalischen Arbeitsverhältnisse die freilassende Selbständigkeit vielfach schon der eben schulentlassenen Jugend. An die Stelle übersehbarer Gemeinden, in denen ein bindendes und verpflichtendes Gemeindebewußtsein möglich war, sind die kaum oder gar nicht mehr übersehbaren Niesengemeinden, die Jndustriegemeinden mit stark fluktuierender Bevölkerung ge­ treten *). Das alles mußte auch die kirchliche Praxis beeinflussen. Wenn Kirchenzucht nur als Gemeindezucht evangelische Berechtigung hat, dann fehlt eben in den meisten Gemeinden jetzt die Möglich­ keit, sie beizubehalten. Wenn eine Gemeinde Zehntausende von Mitgliedern zählt, dann kann sie keine Gemeindegottesdienste im genauen Sinn feiern, dann muß die Trauung, die Beerdigung rein als Familienfeier erscheinen, dann kann die Gemeinde nur in der Theorie Subjekt der Seelsorge sein, während in Wirklich­ keit einfach der Kirchenbeamte an ihre Stelle tritt. Es ist ganz außer Zweifel, daß nicht bloß die moderne Schätzung der Indi­ vidualität die gegenwärtigen Zustände heraufgeführt hat, sondern daß der Zusammenbruch vieler Lebensformen, welche die Gemein­ schaft gegenüber dem Einzelnen zur Geltung brachten, die Indivi­ dualisierung wie des Kultur-, so des kirchlichen Lebens zur Folge gehabt hat. Aber von der Frage des Wieso? und Warum? wollen wir jetzt absehen. Wir suchen eine Entscheidung über Wert und Unwert. Wir wissen: die Urteile gehen stark auseinander. T) Einzelschilderungen: Traugott Kühn, Skizzen aus dem sittlichen und kirchlichen Leben einer Vorstadt, 1902; Neue Folge 1904; — H. Bechtolsheimer, Die Seelsorge in der Jndustriegemeinde, 1907; P. Grünberg, Die ev. Kirche, ihre Organisation und ihre Arbeit in der Großstadt, 1910; ferner in den Darstellungen der Ev. Kirchenkunde.

22 Auch heut fehlen die Stimmen nicht, die in der Rückkehr zu alter Zucht und Ordnung, zu wirksamer Autorität das Heil sehen. Und noch weniger schweigen die anderen, die unbedenklich, ja freudig auch die letzten Reste aller den Einzelnen beengenden Sitten und Einrichtungen beseitigen möchten. Wer hat Recht? Welchen Weg wollen wir gehen? Wer nicht einseitig urteilen will, wer sich einen klaren Blick bewahrt hat für die praktischen Notwendigkeiten, der muß auf solche Fragen zuerst mit einem freudigen Dank für den reichen Gewinn antworten, den die Individualisierung unserer Praxis ge­ schenkt hat. Zuvörderst in der Erkenntnis, daß die Pflege persön­ lichen Lebens unter unseren Aufgaben in allererster Linie stehen muß. Diese Erkenntnis mag ja im Protestantismus nie völlig verschüttet gewesen sein; welche ungeheuere Bedeutung für die Praxis sie hat, das haben doch erst die letzten Zeiten uns wieder ganz erfassen lassen. Wenn die Praxis, als das feste Gefüge der Tradition zn wanken begann, alsbald in die Tiefen der Einzel­ seelen hineinschaute, so verdient sie dafür nur hohe Anerkennung. Es kann ja gar keine Frage sein: nur über und durch die ein­ zelnen Herzen geht der Weg zum Bau des Reiches Gottes, der das Endziel aller kirchlichen Praxis ist. Wohl kann darüber ver­ handelt werden, ob diese einzelnen Herzen nur individualistisch anzufassen sind; wohl wird zu erwägen sein, ob sie einzeln bleiben dürfen. Aber ohne die Einzelnen geht es auf keinen Fall. Ohne sie ist jeder kirchliche Fortschritt unmöglich. Ein Fortschritt in den Ordnungen kann nur im Zusammenhang seiner Wirkungen auch auf die Einzelnen richtig gewürdigt werden, und ohne Ver­ mittlung des lebendigen Willens der Einzelnen gibt es. überhaupt keinen wirklichen Fortschritt. Wohlverstanden: nicht der Einzelne, das Seelenheil des Einzelnen ist Maßstab und Endziel aller kirch­ lichen Arbeit, sondern der Bau des Reiches Gottes. Aber ohne die Einzelnen ist dieses Ziel unerreichbar. Von hier aus tritt auch die Rücksicht auf die Eigen­ art, welche die kirchliche Praxis nehmen gelernt hat, in das rechte Licht. Der Einzelne soll in seinem persönlichen Leben ge­ fördert werden; aber der Einzelne ist ohne solche Rücksicht gar nicht zugänglich. Er will persönliches Interesse sehen, er will

23 Verständnis für seine persönlichen Nöte, Eingehen auf seine per­ sönlichen Wünsche, Antworten auf seine persönlichen Fragen. Und ob er das ausspricht oder nicht: er öffnet sein Herz nur dem ge­ rade für seines Herzens Tür gearbeiteten Schlüssel. Die moderne Schätzung der Individualität hat die Einzelnen in diesen An­ sprüchen bestärkt; aber geschaffen hat sie sie nicht erst. Sie be­ stehen vielmehr, so lange es Menschen gibt. Sie sind nur ver­ zweigter, mannigfaltiger imb nachdrücklicher geworden, seitdem die Individualitäten einmal komplizierter geworden, sodann sich des Rechts ihrer Eigenart stärker bewußt geworden sind. Indem die individualisierende Praxis den Zugang zu den Einzelnen findet, ist sie noch keineswegs an der Grenze ihrer Erfolge. Sie will nicht bloß jeden Einzelnen individuell an­ packen, um ihn dann um so sicherer nach dem Allgemeinschema zu bilden: sie will ihn auch individuell sich entfalten lassen. Sie verzichtet grundsätzlich auf uniforinierende Beeinflus­ sung. Allerdings bildet das persönliche Christentum den geniein­ samen Treffpunkt aller Bestrebungen der kirchlichen Praxis mit Bezug auf den Einzelnen. Aber das persönliche Christentum schließt eben, wenn wir es recht verstehen, eine außerordentliche Mannigfaltigkeit ein. Wir erkennen das Recht nicht bloß religiöser Typen, sondern religiöser Individualitäten an. Wir beschränken das Recht nicht auf das intellektuelle, also auf das dogmatische Gebiet; wir erstrecken es auf das ganze Gebiet religiöser Lebens­ äußerungen, sogar auf dasjenige sittlicher Betätigung. Wir sind durchdrungen davon, daß auf allen diesen Gebieten nicht bloß in­ folge verschiedener Stimmungen, sondern infolge verschiedener Naturanlagen auch verschiedene religiöse und ethische Charaktere sich entwickeln müssen. Und wir sehen auch vom Standpunkt kirchlicher Praxis in der Pflege dieser Mannigfaltigkeit ein Ziel, das des Schweißes der Edlen wert ist. Nur dem Menschen mit engem Gesichtskreis »nag sie als ein notwendiges Übel, als ein gerade eben zu tragendes Hemmnis erscheinen. Uns dünkt sie Verlebendigung zu bedeuten und Bereicherung, ja Vertiefung. Wir freuen uns der Möglichkeiten, die verschiedenen Gaben und Kräfte auch für die verschiedenen Aufgaben des Gemeindelebens verwenden zu können.

24 Wir wollen den gleichen Gedankengang auch auf die Geltend­ machung der Eigenart des Pfarrers anwenden. Natürlich (ohne daß diese Seite der Sache hier näher darzulegen wäre) werden hier Schranken nicht bloß durch das persönliche Christen­ tum gezogen sein, sondern auch durch Amt, Auftrag und Ord­ nung. Aber innerhalb der so gezogenen Grenzen: welcher Segen liegt in der eigenartigen Entfaltung der Kräfte! Welcher Segen schon darin, daß wir den Prediger nicht mehr zwingen, nach dreiteiligem Normalschema eine Kunsthomilie auszuarbeiten! Daß wir den Seelsorger nicht mehr in den Zwang der Beicht­ stuhlseelsorge nötigen! Daß wir den: persönlichen Verkehr zwischen Pfarrer und Gemeindeglied ein so ungleich größeres Gewicht zu­ schreiben als früher! Wer den Vortrag von Veit*) auf dieser Konferenz vor zwei Jahren gehört hat, der hatte eine Betrachtung der kirchlichen Praxis unter dem ganz und gar persönlichen Ge­ sichtspunkt vor sich, die unmöglich ohne Eindruck bleiben konnte. Ob man diese Art, die kirchliche Praxis 311 betrachten, für er­ schöpfend und ausreichend hält oder nicht, von jedem Standpunkt aus mußte man anerkennen, daß sie Wege wies, die gerade durch die Pflege des Persönlichen, durch die Einsetzung der Persönlich­ keit zu reichen Erfolgen führen können. Aber wir begrüßen nicht bloß die Rücksichtnahme auf die Eigenart, sondern auch das Ei gen recht der Einzelnen. Denn es ist ganz selbstverständlich, daß wir über die Zeiten eines au­ toritativen Zwangskirchentums hinaus sind. Noch erheben sich ge­ legentlich Stimmen der Klage über die Einführung des Zivil­ standsgesetzes 2); aber über diese Klagen lächelt jeder Besonnene. Die Nötigung zu Taufe und Trauung füllt die Kirchenbücher, aber nicht das Buch des Lebens. Wiederum erwarten heut manche 0 Siehe oben S. 14. ’) Ter Reichsbote betrachtet nach wie vor das Zivilstandsgesetz lediglich als Erfolg antikirchlicher Agitation. Vgl. Nr. 144 (22. Juni 1911): „Es sind ja dieselben Leute, welche das Christentum imfc die Kirche von der Eheschließung durch die Zivilehe, von der Schule durch die kon­ fessionslose Schule oder nod) lieber durch gänzliche Beseitigung des Religionsunterrichts aus der Schule, wie jetzt mt§ der Fortbildungs­ schule, und mm durch die Feuerbestattung von den Todesfällen auszuschließen suchen."

25 die Neugewinnung der schulentlassenen Jugend von der Einfüh­ rung eines obligatorischen Religionsunterrichts in der obligato­ rischen Fortbildungsschule. Man mag sehr ernstlich erörtern, ob er nützlich und wünschenswert sei: die Hoffnung, daß er unsere Verhältnisse wesentlich uingestalten wird, wird auf wenige beschränkt bleiben. Ob das kirchliche Wahlrecht an Bedingungen zu knüpfen sei oder nicht, mag fraglich sein: niemand will die Beteiligung der Einzelnen an der Kirchenleitung grundsätzlich aufheben. War­ um nicht? Weil wir erkannt haben, daß es auf persönliche Reli­ gion und nicht auf kirchliche Form ankommt; weil wir wissen, daß Religion nicht durch einfache Unterstellung unter Gottes Wort gemacht werden kann, sondern daß sie in Freiheit wachsen muß. Wir haben eingesehen, daß Gott der Herr jedem Menschen das wesentlichste Persönlichkeitsrecht verliehen hat: das Recht, im eigenen Herzen der eigene Herr zu sein. Leidet auch dieser Gedanke von der Rücksicht auf das Eigen­ recht des Einzelnen Anwendung auf den Pfarrer? Hier treffen Eigenrecht und Anitsordnung aufeinander. Indem er das Amt übernimmt, beschränkt er selbst sein Recht. Aber auch ihm wird zugute kommen, was über das eingeborene Recht jeder religiösen Persönlichkeit gesagt ist. Für ihn gilt ja, daß er das Amt nur segensreich führen kann, wenn Amt und Person zusammenstinnnen. So wird es nur nützlich sein, wenn das Amt ihn nicht mit eisernen Reifen bindet, sondern mit elastischen Bändern. Wenn man ihn nicht zum Maschinisten macht, sondern einen Charakter sein läßt. Das tut ja nicht bloß um seinetwillen not, sondern auch um derer willen, für die er da ist. Nur eine Persönlichkeit eigenen Wuchses kann eigengewachsenen Persönlichkeiten dienen ’). In dem, was ich so gum Lob der individualisierenden kirchlichen Praxis gesagt habe, liegt bereits eine andere im letzten Grund entscheidende Anerkennung beschlossen. Diese Praxis darf sich auf das Weseu des evangelischen Christentums berufen. Katholizismus und Protestantismus werden sich für alle Zeiten an der Schätzung des Individuums und der Individualität scheiden. Der Katholizismus verneint das Recht beider Größen. Willkür-

*) Viele ernste Sätze nach dieser Richtung hin bei F. Rittelmeyer, Der Pfarrer, 1909. S. 3 ff.: Der Pfarrer als Pfarrer.

26 lich setzt dort die Kirche fest, ob und inwieweit der Einzelne über­ haupt irgendwelche eigene Bewegung besitzen solle. Die Kirche ist alles, das Individuum nichts. Anders der Protestantismus. Es bleibt nun einmal wahr, daß der Sieg der Reformation auch den Sieg der Persönlichkeit bedeutete. Daß das Wort Glaube zum Korrelat das Wort „Ich" braucht. Ist das aber richtig, dann darf das Ich seine Rücksicht verlangen, sowohl das Ich des Gemeindegliedes wie das Ich des Pfarrers. Dann müssen solche Größen, wie persönliche Überzeugung, Gewissen, Eigenart, nicht bloß aus taktischen oder anderen praktischen Rücksichten eine Rolle spielen, sondern aus grundsätzlichen. Ich betone schon jetzt, daß ein Recht der Persönlichkeit auf unbeschränkte Geltung, ein An­ spruch des Individuums darauf, den alleinigen Maßstab zu bilden, nicht im Wesen des Protestantismus liegt. Aber insoweit als der Einzelne als selbstoerantwortliche, selbstentscheidende Persönlich­ keit in religiösen Dingen anzuerkennen ist, — und dieser Anspruch folgt aus dem allgemeinen Priestertum —, insoweit hat die kirch­ liche Praxis mit dem Einzelnen zu rechnen. Wir sehen: die Rücksicht auf die Individualität ist heilsam und ist gut protestantisch. Sie ist heilsam, weil sie gut prote­ stantisch ist.

7. Aber es ist nicht meine Absicht, mit diesem Lobpreis des kirchlichen Individualismus zu schließe». Was ich zu seinem Lobe sagte, das bedeutet allerdings nicht bloß eine notgedrungene An­ erkennung, sondern eine volle, frohe Zustimmung. Aber es ver­ langt eine Ergänzung. Und gerade darauf kommt es mir jetzt an, diese Ergänzung recht nachdrücklich zu fordern. Die kirchliche Praxis ist auf dem Wege, sich einseitig am Individuum zu orientieren, einseitig den protestantischen Gegensatz des persönlichen Gewissens gegen die kirchliche Führung zu betonen, einseitig die Eigenart herauszustreichen. Ich denke zunächst an den Pfarrer. Sobald wir ihn nennen, wird es deutlich, daß die Rücksicht auf das Individuum nicht der Weisheit letzter Schluß ist. Denn, man mag das Pfarr­ amt auffassen, wie man will, allemal ist es ein Amt. Und ein

27 Amt bindet seinen Träger. Im selben Augenblick, wo ich ein Amt auf mich nehme, verzichte ich freiwillig auf unbeschränkte Geltend­ machung meines Ich. Beim Pfarramt aber gilt das noch in besonderem Sinn. Denn das Pfarramt ist ein Amt des Dienens. Dienen aber verlangt immer ein Sichanpassen, ein Sicheinfügen. Endlich, es ist ein Dienst an der Gemeinde, nicht an irgend einem oder einigen Einzelnen. Es verlangt also nicht bloß ein Sichanpassen an eine oder einige andere, vielleicht gleichgerichtete Individualitäten, sondern an eine Gesamtheit, die auch ihrerseits einen Gesamtcharakter besitzt, der möglicherweise der Eigenart des Pfarrers nicht entspricht. Dabei rede ich noch nicht, will auch noch nicht reden von dem kirchlichen Verband, dem die Gemeinde wieder angehört. Nun steht mir sehr lebhaft vor Augen, was die Freunde eines reinen Individualismus hierzu sagen werden. Erstens können sie geltend machen, daß niemand seine Seele verkaufen, seine Überzeugung verleugnen, seine Art verstecken darf. Gut. Diesen Satz unterschreibe ich. Nur führt er nicht dazu, den Pfarrer souverän zu machen. Würde sein Dienst, sein Amt ihn in eine Lage bringen, in der er seine Seele verkaufen müßte, so müßte er sein Amt eben aufgeben. Ich möchte es einmal aussprechen, daß es beinahe eine merkwürdige Erscheinung ist, wenn in einer Zeit so harter religiöser Kämpfe so selten die Kunde kommt, daß ein Pfarrer sein Amt aufgegeben hat. Wie sollen wir diese Erscheinung deuten? Sie samt Zweierlei sagen: erstens, daß denn doch unser Pfarramt der Individualität des Pfarrers einen recht weiten Spielraum läßt. Oder aber: daß noch mancher bereit ist, Bedenken, Kämpfe und Zweifel um des Amtes willen zurückzustellen. Beides wird zutreffen, manchmal sogar beides im selben Fall. Doch das nebenbei. Für uns kann keine Frage sein, daß jener Ausweg die ultima ratio bei ein­ tretender übergroßer Spannung zwischen Person und Amt ist. Der Einwand schlägt also nicht durch. — Schwerer wiegt ein zweiter Einwand: gerade der Pfarrer ist verpflichtet, mit seinem Allereigensten zu dienen. Gerade er muß wuchern mit dem Pfunde seines persönlichsten Seelenlebens. Wir erinnern uns an manchen geharnischten Vertreter solcher These; in erster Linie

28 steht Schleier ln ach er: die Totalität der Amtsführung des Pfarrers auch „die Totalität seiner ganzen religiösen Selbstdar­ stellung" *). Wir machen uns unschwer die Kehrseite dieses Satzes klar: wo keine religiöse Selbstdarstellung, da auch keine Amts­ führung, die ihrem Begriff genügt. Sicher folgt hieraus, daß auf das religiöse Selbst des Pfarrers sehr viel ankonlmt; daß es da­ mit souverän gesprochen sei, darf dennoch niemand behaupten. Es nluß immer ein Selbst sein, dessen Selbstdarstellung der Aufgabe des Pfarramts entspricht. Das liegt in der Natur der Sache. — Ein dritter Einwand: gerade der Pfarrer ist Führer der Ge­ meinde; er hat sie zu gestalten, ihr religiöses Leben zu beeinflussen. Also darf er nicht von der Gemeinde abhängig gemacht werden. In diesem Satz, der weniger theoretisch verfochten als praktisch geübt wird, liegt eine merkwürdige Verschmelzung zweier anderer Sätze. Betont man nämlich, daß der Pfarrer die Gemeinde im Sinn des Evangeliums beeinflusse, dann mag seine Unab­ hängigkeit, nein, seine Autorität gelten. Aber das gilt eben nur hinsichtlich des von ihnl vertretenen Evangeliums, nicht hinsichtlich seiner Individualität. Wollte er diese über die Gemeinde stellen, so versündigte er sich ja an dem Jndividualitätsprinzip in der Anwendung auf die Gemeinde! Vielleicht ist diese theoretische Zurückweisung pastoraler Jndividualitätssouveränietät überflüssig? Aber mir scheint, daß sie in praxi nicht selten geltend gemacht wird, und zwar heut, mit be­ wußter oder unbewußter Beziehung auf derartige Argumente, besonders kräftig. Pastorale Jndividualitätssouveränität zeigt sich nicht nur, wenn der Pfarrer einer kleinen Dorfgemeinde eine Sprechstunde von 5—6 Uhr ansetzt und, sobald es 6 geschlagen hat, kein Gemeindeglied mehr empfängt; sie zeigt sich auch, wenn er die Lieder zum Gottesdienst nur nach dem eigenen Geschmack aussucht, die Texte für die Predigt nach dem eigenen momentanen Bedürfnis wählt2), die Spendeformel beim Abendmahl nach *) Praktische Theologie ed. Frerichs, S. 205. s) Manche Gemeindeglieder, namentlich auf dem Land, sind aller­ dings geneigt, als selbstverständlich anzunehmen, daß ihr Pfarrer so ver­ fahre. Ich erfuhr einst, daß eine wackere Frau die Wahl des Morgen­ liedes und bett in die gleiche Woche fallenden Geburtstag des Pfarrers in derartige Beziehuttg brachte.

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eigenstem Wunsch bestimmt. Ich sage es mit großem Ernst: sie zeigt sich überall dort, wo der Pfarrer eine Richtungsgemeinde zu schaffen sucht, sie sei positiv oder liberal. Denn damit will er ihr den Stempel seiner Individualität aufdrücken, und zwar seiner subjektiven Individualität. Sie tritt auch dort hervor, wo er eine bestimmte Frömmigkeit als die allein berechtigte verkündigt; auch der Gemeinschaftsmann als Pfarrer macht oft seine Eigenart in unberechtigter Weise geltend. Und, um diesen wichtigen Punkt noch besonders zu berühren: es ist gewiß etwas, ja viel Richtiges in dem Satz, daß der Pfarrer sich selber predigen muß*). Aber der Satz ist doch sehr einseitig formuliert. Nicht sich selbst, wie dies Selbst auch sei, soll er predigen. Sondern sein christ­ liches Selbst, sofern er eins hat. Und das christliche Selbst so, daß es der Gemeinde Förderung bringt. Es ist doch deutlich, daß die ehrlichen, wahrhaftigen Expektorationen eines mit dem Christentum halb Zerfallenen nicht auf die Kanzel gehören. Baumgarten hat das natürlich auch nicht sagen wollen; aber seine Formulierung ist mißverständlich und, weil sie übertreibendem Individualismus Vorschub leistet, gefährlich. Nicht alle Pfarrer bedürfen solcher Warnung. Aber Pfarrer in allen Lagern. Tenn wenn im alten lutherischen Amtsbewußtsein auch die Überzeugung steckt, daß der Pfarrer einfach das objektive

Evangelium vertrete, — in Wirklichkeit ist es oft auch nicht viel Anderes als die objektiv verkappte Individualität des Pfarrers, die dabei herrschen will. Selbst in der Vertretung der Verbalinspiration steckt außerordentlich viel Subjektivismus. Mit der Verbalinspiration verband sich die allegorische Exegese: gab es wohl stärkeren Indi­ vidualismus ? Mit der Verbalinspiration verbindet sich heut bei Sekten und Gcmeinschastsbewegung wuchernder Subjektivismus in der Bibelauslegung. Der im Gegensatz zur Kritik verteidigte Satz: Wir müssen die Bibel nehmen, wie Gott sie uns gegeben hat, klingt ganz objektiv; aber dahinter steckt der subjektivste Eigensinn: man will eben nicht anerkennen, daß Gott sie uns in einer Gestalt gegeben hat, die kritische Methoden fordert. Aber die individualistische Gefahr liegt heut ebenso vor bei kritischen Theologen. Und zwar bei ihnen aus grundsätzlicher Überschätzung des Individuellen *) Siehe oben S. 15.

30 heraus.

Bei ihnen ist es nicht das Amtsbewußtsein, das sie trtibt,

sondern die Wissenschaft, die moderne Erkenntnis und ähnliche Größen, schließlich geradezu das Recht des eigenen Ich. Ich glaube, daß es an der Zeit ist, zu warnen. Unser Amt ist ein Dienst. Aber ich will nicht allein beim Pfarrer verweilen. Es handelt sich auch um die Einzelnen in der Gemeinde. Auch mit Bezug auf sie ist die kirchliche Praxis in der Gefahr einseitig individualistischer Orientierung.

Das gilt zunächst, weil sie soziale Rücksichten außer Ansatz läßt. Unsozial bedeutet meist auch individualistisch. Ich habe nicht die Absicht, alle kirchlichen Einrichtungen, die man als unsozial bezeichnet hat oder bezeichnen samt1), hier wieder auf­

zuzählen. Manche von ihnen nehmen nur berechtigte Rück­ sicht auf die Individualität. Die meisten entstammen auch nicht erst dem 19. oder 20. Jahrhundert; diese Art Individualismus ist viel älter. Aber jede Rücksichtnahme auf Stand und Ver­ mögen, die meist auch in kirchlicher Beziehung für selbstverständ­ lich galt, wird heut bitter empfunden. Mir liegt ein Anderes näher. Unter sozialem Gesichtspunkt erhebe ich ein ernstes Be­ denken gerade gegen die ganz aufs Persönliche sich stellende pfarr­ amtliche Praxis. Sie gerade nimmt vorwiegend auf die ge­

bildeten Stände Rücksicht. Gerade wer mit in dem eigenen Seelenleben das Pfund sieht, mit dem er zu wuchern hat, neigt dazu, an die Kreise sich zu wenden, die derart zugespitzt persön­ licher Beeinflussung am ersten offen stehen. Und das sind die Kreise der Gebildeten, die kraft ihrer größeren Feinfühligkeit auch Sinn für religiöse Feinheiten haben. Es sei fern von mir zu leugnen, daß auch Angehörige des Arbeiterstandes für derart per­ sönliche Art Verständnis haben und daß viele Pfarrer auch diesen Ständen in Treue nachgehen. Nur die Gefahr konstatiere ich, die in überstarker Betonung des persönlichen Seelenlebens des Pfarrers ‘) Verwiesen sei auf O. Baumgarten, Kirchliche Einrichtungen, die antisozial wirken. Vortrag auf dem 16. Evang.-soz. Kongreß in Hannover, 1905 (Verhandlungen S. 80 ff.). Zu vergl. ist auch die an­ schließende Debatte. Einiges auch bei F. R end torff, Volkskirche, Kirchengemeinde, Gemeinschaft, und bei I. S m e n d, Unser Gottesdienst als Gemeindefeier; beide Vorträge in den Verhandl. der 1. u. 2. Konf. für ev. Gemeindearbeit, 1911.

31 liegt. Zwischen ihr und der Rücksicht auf alle sozialen Schichten der Gemeinde ist eine Spannung; und die niederen Schichten, denen der Pfarrer selber nicht angehört, die ihm eben darum ferner stehen, die auch weder Zeit noch Fähigkeit haben, ihr Denken und Fühlen bis in die Feinheiten hinein auszubilden, leiden unter dieser Spannung am leichtesten. Dagegen wird auch die Beseitigung unsozialer Einrichtungen nicht viel helfen. Ent­ weder müßte man der Gefahr durch Schaffung von Standes­ pfarrern entgegentreten, was ich aus vielen guten Gründen, namentlich aus sozialen Rücksichten, ablehne *), oder man muß das Verhältnis von Pfarrer und Gemeinde weniger aufs BloßIndividuelle stellen, mehr auf das Gemeinsame. Hiermit hängt eng ein Zweites zusammen. Je stärker eine Individualität ausgebildet ist, je mehr sie sich ihres Eigen­ rechtes bewußt ist, um so schwerer wird es ihr, sich in andere In­ dividualitäten hineinzuversehen. Es mag sein, daß bis zu einem gewissen Grad eigenes Erleben auch Verständnis für anderes Er­ leben Anderer weckt. Aber das gilt nur, solange »mn sich der rein subjektiven Bedingungen und also des rein sub­ jektiven Rechts dieses eigenen Erlebens klar und scharf bewußt bleibt. Sobald man das eigene Erleben als nor­ mal anzusehen sich gewöhnt oder doch wenigstens als das unter nor­ malen Bedingungen selbstverständliche, alsobald verbaut man sich das Verständnis für das Erleben Anderer. Der Individualismus führt dann zum Mechanismus und Methodismus, zu Schablonenmacherei x) Auch Veit (ex. ex. O. S. 54f.) lehnt diesen Vorschlag ab. Er will den höchsten und eigentlichen Gesichtspunkt für die Einwirkung des Pfarrers auf die Seele nicht von einem Gesichtspunkt, der dem äußeren Gebiet angehört, durchkreuzt sehen. Dem stimme ich zu. Aber er selbst gesteht im gleichen Zusammenhang zu, daß dieser äußere Gesichtspunkt starken Einfluß auf das Seelenleben habe. Also ist es doch nicht bloß ein äußerer Gesichtspunkt, sondern einer, der für die Einwirkung auf die Seele alle Beachtung verdient. Veit verfolgt diesen Gedanken nur insofern weiter, als er „recht verschiedene Pfarrerindividualitäten für die Schichtung im Seelenleben unseres Volkes" desideriert. Mir scheint aber, daß infolge des engen Zusammenhanges von äußerer Stellung, Bildung, Arbeit usw. auf das Seelenleben diese Schichten zugleich soziale Schichten sein würden. Schließlich käme man also doch auf Standes­ pfarrer heraus!

32 und Hochmut. Die Beispiele, und zwar die beweisenden Beispiele, sind uns in der Geineinschaftsbewegung *) vor Augen. Wir sollten uns aber nicht der Illusion hingeben, als sei die Gefahr auf die Kreise dieser Bewegung beschränkt. Jeder Theologe unterliegt bekanntlich der Gefahr, auf seine Gemeindemitglieder theologische Maßstäbe anzuwenden. Jeder Pfarrer mit ausgeprägt eigen­ artigem Seelenleben unterliegt der Gefahr, andere genau die gleichen Wege führen zu wollen, die er geht. Er setzt dieselben intellektuellen Sorgen und Zweifel voraus, die er durchgemacht hat, sogar — merkwürdiger Weise — dieselbe biblisch-theologische Schulung, die er empfangen hat. Er meint, jeder Christ müsse auf die gleichen Eindrücke genau ebenso reagieren, wie er selbst. In dieser Beziehung bedarf es noch eines intensiven Studiums der religiösen Psychologie für die kirchliche Praxis^): nicht bloß, da­ mit wir über die möglichen Mannigfaltigkeiten staunen, oder auch allerhand Dinge ergründen, die uns merkwürdig vorkommen» sondern vor allen«, damit wir gründlich begreifen, daß alle Anderen ganz anders sind als wir und daß wir nicht um ein Haar breit mehr Recht haben, unser individuelles religiöses Erleben als normal zu betrachten, als andere dieses Recht für das ihrige besitzen. Dann erst wird der großen Gefahr begegnet sein, daß wir richtig, weil individualistisch zu verfahren glauben, wenn wir mit eigenem Seelenleben wuchern; wir verfahren damit einseitig individualistisch, weil andere ein anderes Seelenleben haben, und wir verfahren damit unrichtig, weil wir statt des uns und jenen gemeinsamen Gutes unser Sondergut in den Vordergrund schieben. Und benachteiligt werden dabei wieder zumeist die minder fein organisierten Naturen. Sie sind uns weder besonders interessant, noch scheinen sie uns auch nur vollentwickelt. Als Stumpfe, als Philister, als Zurückgebliebene beurteilen wir sie. Die religiösen Denker oder auch nur Sinnierer, die Grübler und die Zweifler, die Einsamen und die Besonderen, die Rätsellöser und Problem­ wälzer, die Naturen mit starken inneren Dissonanzen, die energisch *) Vgl. mein Schriftcheu: Die moderne Geineinschaftsbewegung, 1909, S. 9. ’) Vgl. Niebergall in dem genannten Aufsatz Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 1909, S. 424 ff.

33 ihr Eigenrecht Betonenden heischen und erhalten Rücksichten; wer nichts Besonderes hat, weder in der Intensität noch in der Art seiner Frömmigkeit, läßt uns kalt. Ich sage nicht, daß es die Regel sei; aber ich behaupte, daß das eine große Gefahr ist, die im Gefolge des Individualismus geht. Aber es sind der Gefahren noch mehr. Ich erinnere an die Stellung, die der Pfarrer gegenüber der Gemeinde hat. Gewiß: er handelt ini Auftrag der Gemeinde. Aber in ihrem Auftrag doch zugleich als Erzieher. Wer, wie ich, die evangelische Ge­ meinde als religiös-sittliche Gesinnungsgemeinschaft definiert'), wird nicht das Mißverständnis befürchten, als hielte er zu wenig von der Selbständigkeit der Gemeinde. Erzieher in dem Sinn, daß er eines von Gott gestifteten, über der Gemeinde stehenden Erzieheramtes zu walten hätte, ist der Pfarrer nicht. Aber, ob­ wohl Beauftragter der Gemeinde, ist er doch, nach ihrer eigenen Absicht, zugleich Erzieher. Erzieher der Unmündigen und Unreifen, Erzieher aller, sofern sie irgend noch unreif sind. Diesem erzieh­ lichen Moment wird die individualisierende Praxis nicht gerecht. Sie erkennt das Recht des Einzelnen an, aber sie vergißt, dieses Recht zu begrenzen, zu beschneiden, die Eigenart zu berichtigen, zu läutern, zu klären. Sie hat ja — wenigstens in sich selbst — keine Maßstäbe, nach denen sie die Einzelnen zu bilden suchen könnte, kein gemeinsames Ziel in Denkweise und Frömmigkeit, dem sie sie zuführen könnte. Sie kann nur die Individualität geltend machen; gerade diese aber hat keine erzieherische Autorität; maßt sie sich sie an, so geschieht es per nefas. Bisher gingen wir ganz auf die von der individualisierenden Praxis gewiesene Fragestellung ein. Wir erwogen immer das Verhältnis des Pfarrers zum einzelnen Gemeindeglied, das ganz „auf gegenseitigem Seelenaustausch und Seelenverständnis" 2) be­ ruht. Wir müssen diese Fragestellung jetzt verlassen. Denn eben sie ist bereits einseitig. Eben sie isoliert ja das einzelne Gemeinde­ glied, setzt es in Beziehung lediglich zu einer anderen Individua­ lität, nämlich zu der des Pfarrers, nimmt es heraus aus anderen Beziehungen. Theoretisch geschieht diese Isolierung selten mit *) Die evangelische Kirchgemeinde, 1907. ') Veit a. a. O. S. 58.

S. 15.

Lchian, Der moderne Individualismus und die kirchliche Praxis.

34 aller Entschiedenheit und Einseitigkeit; aber die Praxis selbst verfährt so. Unsere kirchliche Praxis begnügt sich tatsächlich in unzähligen Fällen mit der Einwirkung des Einzelnen auf den Einzelnen. So faßt sie die Seelsorge, so die kirchlichen Handlungen, so die Predigt, so sogar den ganzen Gottesdienst auf. Gemein­ schaft? Es gibt keine andere als eine unsichtbare Größe, nämlich die durch Nehmen und Geben von Seelenleben (NB. zwischen Pfarrer und Gemeindeglied) geschaffene. Gottesdienstliche Gemeinde? „Die Kirchenglocken rufen sie aus ihrer Unsichtbarkeit hervor, aber mit dem Segenswunsch kehrt sie wieder in ihr Dunkel zurück*)". Solcher unsichtbaren und vorübergehenden Gemeinschaft aber kann natürlich weder eine Aufgabe zugemutet noch eine Einwirkung zu­ getraut werden. Dieser Auffassung liegen mancherlei und recht verschiedene Motive zu Grunde. Zuerst das der pastoralen Alleinwirksamkeit. Man setzt kirchliche Arbeit und pastorale Arbeit trotz allem immer wieder gleich. Der Pfarrer muß alles machen; er aber macht es natürlich durch persönliche Einwirkung. Sodann spricht der alte kirchliche Aberglaube mit, daß alles sich machen lasse. Man vergißt die unbewußten empfangenen Eindrücke, das stille innere Werden, das heimliche Reifen, das geheimnisvolle Empfangen. Zudritt unterläßt man, das Moment der Abhängigkeit des Ein­ zelnen von der ihn umgebenden Umwelt in Rechnung zu stellen. Der Missionar unter den Heiden weiß, daß er ohne Bildung von Gemeinden nicht weiter kommt; wir vergessen ein über das andere Mal das, was sich daraus für unsere Verhältnisse notwendig er­ gibt. Es ist nicht wahr, daß der Mensch auf sich allein steht. Kaum von den ganz Großen gilt das; geschweige denn vom Durchschnittsmenschen. Bis er er selber geworden ist, wirken unge­ zählte Einflüsse auf ihn ein; und wenn er er selber geworden ist, vollzieht sich diese Einwirkung zwar leiser, unmerklich vielleicht, vorhanden ist sie doch. Es gibt ganz selbständige Naturen, solche, die scheinbar sich selbst allein Gesetz sind. Oft genug ist ihre Selbständigkeit nur Schein. Sie bestimmen sich nicht durch Zu-

*) B.Doerries, Die Erziehungspflicht der Kirchengemeinden gegen­ über sozialen Mißständen. Verhandl. des 12. Evang.-soz. Kongresses in Hannover, 1901, S. 13 f.

35 stimmung zu ihrer Umgebung, sondern durch Widerspruch. Aber abhängig sind auch sie von ihr. Ist das aber richtig, dann ist jede kirchliche Praxis, die diese Wahrheit ignoriert, die den Ein­ zelnen auf den Einzelnen weist, einseitig individualistisch. Dann bedarf sie der Ergänzung durch die Pflege der Gemeinschaft in jeder Form: angefangen von der Gemeinschaft der Ehe, der Familie, über die Gemeinschaft des Freundeskreises, des Vereins, bis zu der Gemeinschaft in der Gemeinde, ja zu der in der Kirche. *) Auf dasselbe Ergebnis führen andere Erwägungen. Der Einzelne steht nicht allein, weder als Gewordener und Werdender, also als Beeinflußter, noch als Beeinflussender. Man darf nie­ mandem das Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit verkleinern, auch dem Geringsten nicht. Manchmal übt der Ge­ ringe, weil sich ihm willig das Ohr erschließt, stärkeren persön­ lichen Einfluß als der Große. Also gilt es, gerade diesem Um­ stand Rechnung zu tragen. Wir dürfen nicht bloß den Einzelnen für sich bilden wollen; wir müssen ihn als Glied der Gemein­ schaften, in denen er steht, beeinflussen. Wir müssen den Einfluß derer, die christliche Frömmigkeit besitzen, nutzbar machen durch die Pflege der Gemeinschaften, von der Familie an über Freundes­ kreis und Verein bis zu Gemeinde, Kirche und Staat. Wenn wir endlich außer dem Abhängigkeits- und dem Ver­ antwortlichkeitsbewußtsein auch die Dankbarkeit gegen die Gemeinschaften, in deren Mitte und durch deren Hilfe wir das werden, was wir sind, lebendiger machen, als sie zu sein pflegt, so werden wir ein Motiv mehr für freundliche Pflege dieser Ge­ meinschaften, auch der Kirchgenleinde, auch der Kirche, in Tätig­ keit setzen. Auf diese Weise wird sich ein anderes Bild der kirchlichen Praxis allmählich ergeben. Jetzt ist sie typisch darzustellen im Bilde des Seelsorgers, der, ob predigend, ob trauend und be­ grabend, ob mit dem Gemeindeglied verkehrend, von Person zu Person wirkt. Von ihm konunt, auf ihm ruht alle Einwirkung. Nachher wird sie zu charakterisieren sein biiuf) das Bild einer Ge') Angedeutet habe ich diese Gedankenreihe auch in dem Vortrag auf der 1. Konferenz für evang. Gemeindearbeit. Monatschr. f. prakt. Theol. 1909/10, (s. 426 f. u. Verhandlungen, 1911, S. 15.

36 meinschaft von Gleichgesinnten und Gleichstrebenden, in deren Mitte der Pfarrer wirkt, auf ihren Auftrag hin und in ihrem Sinn, aber in aller seiner Arbeit getragen durch den Willen der Gemeinschaft und in aller Wirksamkeit gefördert durch die Ge­ meinschaftsenergie, die hinter ihm steht. Nicht er allein ist an der Arbeit, sondern mit ihm viele andere, Helfer, Mitarbeiter, Gleich­ gesinnte, nicht abhängig von ihm, aber mit ihm zusammenmirkend. Sie alle in Gemeinschaft pflegen die Gemeinschaft, das gemein­ same Bewußtsein der Verpflichtung, die gemeinsame Tat der Liebe, die gemeinsame Feier des Verkehrs mit Gott, die gemeinsame Teilnahme am Leide und an der Freude des Einzelnen. Sie alle gemeinsam bilden eine starke, wuchtige Phalanx gegen feindliche Anläufe, einen sicheren Hafen für alle Ruhebedürftigen, eine bergende Heiniat für alle Einsamen. Sie bilden solche Gemein­ schaft, indem sie eine Gemeinde bilden: den Stützpunkt und die Grundlage auch für kleinere und größere Gemeinschaften.

Die Stimmen aus Theorie und Praxis, die, einseitigem In­ dividualismus abhold, zu solcher Betonung des Wertes der Ge­ meinschaft neigen, scheinen sich zu mehren. Emil Sülze, der Veteran, trägt noch immer die Fahne voran. Aber andere ge­ sellen sich ihm. I. S m e n d weist überaus ernst im Anschluß an F. W. Robertson darauf hin, in welchem Grad der Einzelne den Gemeindegottesdienst braucht, um nicht zu versanden und zu versinken?) Nieder galt**), empfiehlt, allerdings mit einigem Pessimismus der Großstadt gegenüber, doch die Schaffung von Gemeinschaft auf das Nachdrücklichste; er betont, daß wir viel zu sehr gewohnt sind, den Einzelnen auf sich selbst zu stellen, und daß wir uns von Fr. W. Försterb) QUf ejnc protestantische Fassung der Überlieferung und Gemeinschaftsautorität Hinweisen lassen müssen. O. Baumgarten will im Interesse der religiösen Er­ ziehung der Zersetzung der religiösen Haussitten, der Hausandacht, der Gebetsgewohnheiten und der religiösen Feiertagssitten ein Halt geboten sehen, weil eben diese Zersetzung unser Volks- und *) Verh. der 1. u. 2. Kons. f. ev. Gemeindearbeit, 1911, S. 70. *) Ebenda S. 83 ff., bes. S. 84. ’) Gemeint ist natürlich dessen „Autorität und Freiheit*, 1910.

37 Familienleben um alle pädagogischen Kräfte betrogen hat1). H. Matthes will den Religionsunterricht in den Dienst der Er­ ziehung innerhalb der religiösen Gemeinschaft gestellt wissen?) Und ein Mann wie E. T r o e l t s ch, der vielen nur von fern Unter­ richteten gewiß als einer der Hauptträger alles Subjektivismus gilt, spricht in scharfer Formulierung die Erkenntnis aus: „Eine Religion ohne Kultus und ohne die von ihm ausströmende Ver­ lebendigung der gemeinsamen Lebensgehalte, ohne die von ihm geschaffene massenpsychologische Verstärkung der Gefühle und Ge­ danken wäre rettungslos eine absterbende Religion"; er erklärt, daß die Autonoinie persönlicher und gewissensmächtiger Überzeugung

hier so wenig als sonstwo die radikale Traditionslosigkeit und die völlige augenblickliche Spontaneität bedeuten dürfe; daß auf den: religiösen Gebiet „nur von einer Durcharbeitung und Verinner­ lichung der historischen Mächte, aber nicht von einer endlos va­ riierenden Eigenerkenntnis und Neubildung" die Rede sein könne. „Damit rücken aber auch Gemeingeist und Überlieferung und das Gefäß beider, die organisierte Gemeinschaft, wieder in ihre Be­ deutung ein"s). Die ausgezeichnete Würdigung kirchlichen Gemein­ schaftslebens und sogar der Opfer, die es von dem Einzelnen, der sich in seinen Dienst stellt, fordern darf, durch P. Wernle will ich nur kurz erwähnen4). Das alles sind wohl Anzeichen dafür, daß die Erkenntnis in: Wachsen begriffen ist: der individualistischen Einseitigkeit der kirchlichen Praxis muß durch energische Betonung des Gemeinschaftsmoments und aller in seinem Gefolge ziehenden Mächte gewehrt werden. Ich begnüge mich damit, diese Notwendigkeit festzustellen. Auf die Durchführung des Gedankens gehe ich nicht ein. Das muß anderen Gelegenheiten überlassen bleiben.

*) In dem Vortrag: Die relig. Erziehung in Deutschland. Protokoll des 5. Weltkongresses für freies Christentum usw., Bd. I, S. 277. ’) Der Religionsunterricht im Dienst der Erziehung innerhalb der religiösen Genreinschaft. Religionspädagogische Bibliothek Nr. 5, 1910. Vgl. auch desselben „Aussichten und Aufgaben der evang. Landeskirchen in der Gegenwart". Stud. z. prakt. Theol., Bd. 3, 1909. ’) Die Möglichkeit eines freien Christentums. 5. Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt. Protokoll. Bd. I, S. 333 ff., die Zitate S. 344 f., 346 f. 4 P.Wernle, Einführung in das theolog. Studium, 1.Ausl.,S.20.

38 Nur einem Einwande will ich zum Schlüsse noch begegnen. Wir haben festgestellt, daß der Individualismus ein gutes evan­ gelisches Recht hat. Stürzt dieses Recht nicht unsere Gemeinschaftsund Gemeindewünsche um? Gelingt es denn, sie gleichfalls aus dem Wesen des Protestantismus zu begründen? Laufen wir nicht Gefahr, mit ihnen wieder in die katholischen Bahnen zu münden? Ist nicht gerade Fr. W. Förster ein Beweis für das Vor­ handensein dieser Gefahr^)?) Ich erwidere: das Individuum hat durch die Reformation sein ewiges Recht erhalten. Aber cs hat auch durch sie nicht die Möglichkeit erhalten, in der Welt allein zu stehen imb allein zu gelten. Die gottgesetzte Abhängig­ keit eines Menschen von den anderen Menschen, die gottgesetzte Verantwortlichkeit eines Menschen für die anderen Menschen muj$; auch der Protestantismus anerkennen; andernfalls erkennt er Gottes Ordnungen nicht an. Wenn aber gerade der Protestantis­ mus die natürlichen Ordnungen des Menschenlebens anzuerkennen, für seine besondere sittliche Pflicht hält, so soll er nicht an dieser gottgefügten Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und der Ge­ meinschaft vorübergehen. Mag die Betonung der Autorität gegen­ über der Freiheit, der Fr. W. Förster in seinem bekannten Buch2)Worte geliehen hat, über das Maß hinausgehen, das prote­ stantischer Anschauung möglich ist: wir dürfen, wenn einer im Ausbau des Gedankens die Grenzlinien überschreitet, darum die Gedanken selbst nicht beiseite tun. Mit der rasch bereiten Anklage auf Katholizismus fördert man nur die ausgesprochenste Einseitig­ keit. Selbstverantwortlichkeit, Selbstentscheidung, Selbstentfaltung, müssen bleiben um der evangelischen Grundanschauung willen. Aber Gemeinschaft im Nehmen und Geben, im Lernen und Lehren, im Arbeiten und Schaffen muß auch bleiben. Und beide wider­ sprechen einander nur für die, welche vor lauter Prinzipien die Tatsachen des Lebens nicht mehr zu sehen vermögen. Nur eine andere Formulierung des gleichen Einwands ist