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German Pages [238] Year 2017
»wiederholungstäter«
kunst · geschichte · gegenwart band 5
»wiederholungstäter« die selbstwiederholung als künstlerische praxis in der moderne herausgegeben von verena krieger und sophia stang
2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Gustave Courbet, Portrait de Jo, la belle irlandaise, siehe: Daniela Stöppel, Courbets Repliken, S. 44–45, Abb. 4–7.
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Claudia Holtermann, Bonn Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Finidr,Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50748-0
inhalt verena krieger/sophia stang wiederholungstäter die selbstwiederholung als künstlerische praxis in der moderne
7
michael lüthy serialität als selbstreflexion
19
daniela stöppel courbets repliken erschaffung und aufhebung des originals in der kopie
29
kerstin borchhardt die ewige wiederkehr der variationen ein neuer blick auf arnold böcklins triton und nereide 49 kerstin thomas die kunst der unablässigen reprise gauguins spätwerk zwischen selbstvergewisserung und experiment
63
bärbel küster die zeitdimension der selbstwiederholung prozessästhetik bei henri matisse
81
paolo baldacci giorgio de chirico als wiederholungstäter zwischen ‚aura‘ und kunstmarkt
95
sophia stang giorgio de chirico, der unmoralische maler selbstwiederholung in text und bild
113
gerd roos giorgio de chirico zwei bemerkungen zum falsario di se stesso 127
verena krieger malewitschs schwarze quadrate und andere selbstwiederholungen zwischen anpassung, innovation und auratisierung
143
judith elisabeth weiss figurationen der wiederholung im werk von max ernst analogien zur psychoanalyse und ihre überschreitung
161
lars blunck die replik als erinnerungsbild über marcel duchamps re-mades
181
linn burchert identität und differenz in yves kleins blauen monochromen
195
geraldine spiekermann performance-déjà-vu 209 autorinnen und autoren
225
abbildungsnachweis 231
wiederholungstäter die selbstwiederholung als künstlerische praxis in der moderne
verena krieger/sophia stang Die Wiederholung ist ein zentrales Prinzip künstlerischen Schaffens, ja eine „Grundoperation der Kunst seit ihren Anfängen“ und als solche über Jahrhunderte anerkannt.1 Doch mit der Durchsetzung der Konzepte von Originalität und Einzigartigkeit in der Moderne wurde sie zunehmend diskreditiert. Erst seit der Jahrtausendwende hat die kunsthistorische Forschung das Thema der Wiederholung – das Zitieren, Kopieren, Fälschen, Appropriieren von Kunstwerken – aufgegriffen und zum Gegenstand einer breiten Debatte gemacht, in deren Zentrum zwar die Gegenwartskunst steht, die jedoch teilweise auch die ältere Kunstgeschichte mit einbezieht.2 Vor dem Hintergrund postmoderner Theorie und zeitgenössischer künstlerischer Praktiken wurde die Wiederholung in eine neue Perspektive gerückt, die sie nicht pauschal entwertet, sondern ihre historische Vielfalt und kreativen Potenziale hervorhebt. So sehen wir heute Zitat, Kopie, Paraphrase und Collage – die Formen der Auseinandersetzung mit dem bereits Existenten – als der künstlerischen Produktion per se eingeschriebene Verfahren. Der vorliegende Band spitzt diese Themenstellung nun in zweifacher Hinsicht neu zu. Erstens fokussieren wir das Thema auf einen bislang wenig berücksichtigten Aspekt der Wiederholung: die Selbstwiederholung von Künstlern. Zweitens legen wir einen Schwerpunkt auf die Kunst der Klassischen Moderne. Wir wenden uns damit einem Brennpunkt der Debatte zu, erfuhren doch die modernen Paradigmen der Originalität, Innovationskraft und Einzigartigkeit von Künstlern und Kunstwerken gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Die Selbstwiederholung läuft – zumindest vordergründig – diesem Anspruch zuwider. Sie erscheint als problematischer, ja geradezu peinlicher Aspekt in einem Künstlerœuvre. Rückgriffe auf frühere Stilphasen, das Anfertigen von Repliken, das Wiederholen und Variieren einmal gefundener Motive und Kompositionen erfahren weit geringere Beachtung als die radikalen ‚neuen Würfe‘ und sind tendenziell mit dem Vorwurf der Einfallslosigkeit oder gar der Profitgier belegt. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass insbesondere auch in der Klassischen Moderne eine bewusst eingesetzte und ausgesprochen produktive Praxis des Wiederholens eigener Schöpfungen existiert, die von Künstlerinnen und 1 Michael Lüthy, „Alles ist Wiederholung.“ Facetten einer Grundoperation der Kunst, in: Claudia Blümle/Till Julian Huss (Hg.), Kunst & Wiederholung. Strategie – Tradition – ästhetischer Grundbegriff, Berlin 2017 (im Erscheinen), S. 27–50, hier S. 31; vgl. auch den Beitrag von Michael Lüthy in diesem Band, S. 19–28. 2 Vgl. zuletzt: Ariane Mensger (Hg.), Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube. Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2012, Bielefeld 2012; Frédéric Döhl/Renate Wöhrer (Hg.), Zitieren, appropriieren, sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten, Bielefeld 2014; Claudia Tittel (Hg.), Die Kunst der Re-*Produktion. Strategien der Wiederholung in zeitgenössischer Kunst, Fotografie und Film, Berlin 2017 (im Erscheinen).
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Künstlern aus unterschiedlichsten Gründen und Motiven und auf vielfältigste Arten betrieben wurde. In diesem Buch werden nun einige der zahlreichen Facetten dieser künstlerischen Praxis beleuchtet. Der Band versammelt die Beiträge des gleichnamigen Symposiums, das wir im April 2016 an der Staatsgalerie Stuttgart durchgeführt haben. Zeitgleich war dort die Ausstellung Giorgio de Chirico. Magie der Moderne zu sehen. De Chirico war einer dieser Wiederholungstäter der Klassischen Moderne; von ihm ist eine umfangreiche Praxis der Selbstwiederholung bekannt, die im Rahmen unseres Symposiums nach dem neuesten Erkenntnisstand beleuchtet wurde. Zahlreiche weitere bedeutende Künstlerinnen und Künstler von Gustave Courbet über Arnold Böcklin, Paul Gauguin, Henri Matisse und Kasimir Malewitsch, Max Ernst und Marcel Duchamp bis hin zu Yves Klein und Marina Abramović haben gleichfalls eigene Motivfindungen, Stilphasen, Kompositionen oder ganze Werke wiederholt. Ihr Umgang mit dem eigenen Werk ist dabei höchst unterschiedlich. Sie arbeiten, wie die hier publizierten Beiträge zeigen, mit verschiedenen Verfahren, Formen und Funktionen der Selbstwiederholung. Es erwies sich daher bereits bei der Konzeption unseres Symposiums als fruchtbar, den Begriff der Selbstwiederholung weit zu fassen. Die Kunstgeschichte verfügt über klare Begriffe, mit denen sich verschiedene Kategorien künstlerischer Selbstwiederholung benennen lassen. Es gibt die Replik als Wiederholung eines Werks durch seinen Urheber, im Unterschied zur Kopie durch einen anderen Künstler. Davon zu unterscheiden ist die Variante, welche zwar erkennbar ein bereits existierendes Werk wiederholt, jedoch zugleich Abweichungen von diesem aufweist. Und schließlich gibt es die Version (oder Fassung), bei der eine Werkidee unter Aufrechterhaltung des motivischen und kompositionellen Zusammenhangs neu formuliert wird.3 Diese an der älteren Kunst entwickelten Kategorien erweisen sich, so klar und nützlich sie sind, am konkreten Einzelfall – zumal in der modernen Kunst – vielfach als unzureichend. So existieren innerhalb dieser Kategorien vielfältige Ausprägungen, die weitere Differenzierungen des jeweiligen Begriffs notwendig werden lassen. Die Selbstwiederholungen – ob Replik, Variante oder Version – entstehen vor jeweils spezifischen historischen Hintergründen, basieren auf divergierenden Motiven, nehmen ganz unterschiedliche Formen an und können mit besonderen künstlerischen Konzepten verbunden sein. Die Beispiele in diesem Buch zeigen, dass nicht selten sogar innerhalb eines Œuvres verschiedene Grade und Formen des Umgangs mit den eigenen Kunstwerken zu finden sind. Es gibt nicht ‚die eine‘ Selbstwiederholung. Sie ist vielmehr ein grundlegendes Prinzip des Kunstschaffens, das sich insbesondere in der Moderne in einer Vielzahl von Facetten äußert.
selbstwiederholung in der modernen kunst Was ist das Besondere, Spezifische an der künstlerischen Selbstwiederholung in der Moderne? Lange Zeit war die Wiederholung eines Kunstwerks durch seinen Urheber 3 Vgl. Bild und Vorbild. Kopie, Replik, Variante, Fassung, Variation, Pasticcio, Fälschung, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart 1971, mit weiteren Begriffsdefinitionen und Beispielen aus den Beständen der Staatsgalerie.
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ebenso wenig problematisch wie das Kopieren von Werken anderer Künstler. Wie die Ausstellung Déjà-vu? in Karlsruhe vor einigen Jahren vor Augen geführt hat, war die Wiederholung im Mittelalter, aber auch nachdem sich ab 1500 die Konzepte von Originalität, Innovation und Einzigartigkeit zunehmend durchsetzten, vielfach gebräuchlich und mit positiven Wertungen verbunden.4 So blieb die Selbstwiederholung in der Kunst der frühen Neuzeit ein gängiges und sinnvolles Verfahren. In erster Linie reagierten die Künstler dabei auf die Wünsche von Auftraggebern oder allgemein auf Markterfordernisse – man denke an Lucas Cranachs unzählige Wiederholungen seiner erfolgreichen Darstellungen Luthers, des Sündenfalls, der Venus und anderer beliebter Motive. Ein berühmtes Beispiel künstlerischer Selbstwiederholung ist Raffaels Porträt des Papstes Julius II., das der Künstler unmittelbar nach Fertigstellung 1511 gleich zweimal wiederholte. Die drei überlieferten Versionen weisen einige Unterschiede auf. Die im Frankfurter Städel Museum befindliche erste Wiederholung wurde eilig und mit Unterstützung der Werkstatt erstellt, sie musste offenbar rasch fertiggestellt werden, da der Papst sie der Kirche San Marcello in Rom stiften wollte. Die zweite Wiederholung, die im Besitz der Uffizien in Florenz ist, konnte Raffael mit seinen Mitarbeitern in aller Ruhe malen, da sie wohl als Erinnerungsstück für die Papstfamilie della Rovere gedacht war. Beide Wiederholungen weisen gegenüber dem Original in der National Gallery London kleine, aber signifikante Veränderungen nicht nur in der Qualität der Ausführung, sondern auch hinsichtlich des Bildausschnitts und des Betrachterblickpunkts auf. Die zweite Wiederholung (Uffizien) ist besonders filigran und naturnah ausgearbeitet, und die Situierung des Papstes zum Betrachter ist am überzeugendsten.5 Raffaels Selbstwiederholung ist also mehr als Wiederholung – der Künstler hat zugleich an seinem Werk weitergearbeitet. Die Familie della Rovere dürfte mit ihrer Version hochzufrieden gewesen sein – nach den Maßstäben der Moderne hingegen hat die (vom Künstler selbst geschaffene) Wiederholung stets einen etwas geringeren Status als die erste Ausführung eines Motivs, das als das eigentliche Original gilt. Wie die verschiedenen Schwarzen Quadrate Kasimir Malewitschs erzeugen auch die zahlreichen Beunruhigenden Musen Giorgio de Chiricos den irritierenden Eindruck, es nicht mit einem einzigen originalen Kunstwerk zu tun zu haben. Das moderne Originalitätsparadigma hat also einerseits eine große, bis heute nahezu ungebrochene Wirkungsmacht. Andererseits wurde es, wie Rosalind Krauss am Beispiel des als großer Innovator und Originalitätsgenie in die Kunstgeschichte eingegangenen Auguste Rodin aufzeigte, in der künstlerischen Praxis schon immer unterlaufen. Sie bezog sich auf Rodins skulpturales Werk, bei dem die Wiederholung bereits in der Faktizität des Mediums Bronzeguss liegt, der etliche Abgüsse ermöglicht. Hiervon ausgehend deutete Krauss die Selbstwiederholungen moderner Künstler als das 4 Karlsruhe 2012 (wie Anm. 2). 5 Vgl. Tafeln 1, 10 und 13 sowie die Beiträge von Jürg Meyer zur Capellen und Jochen Sander in: Jochen Sander (Hg.), Raffael und das Porträt Julius II. Das Bild eines Renaissance-Papstes, Ausst.-Kat. Städel Museum Frankfurt a. M., Petersberg 2013. Einen differenzierten Vergleich der drei Versionen gibt Christoph Osterloh, Papstporträts der Renaissance, Masterarbeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institutsexemplar, 2015, S. 15–21.
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verdrängte Andere der modernen Genieästhetik und entlarvte die Originalität als einen „Mythos der Moderne“.6 So erreichte die inkriminierende Bewertung künstlerischen Wiederholens im Zuge der Klassischen Moderne offenbar ihren Höhepunkt, während gleichzeitig selbstwiederholende Praktiken von den Künstlerinnen und Künstlern weiterhin eingesetzt wurden. Michael Lüthy löst diesen vermeintlichen Widerspruch, indem er sich in seinem Beitrag der Spezifik modernen Selbstwiederholens über eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Wiederholung nähert. In der interdisziplinären Forschung wurde das Wiederholen in den Künsten als sinnstiftendes Prinzip, als „Ausdruck einer bewussten kompositorischen und Ordnung stiftenden Praxis“ benannt.7 Lüthy verdeutlicht nun, dass die Wiederholung das Kunstfeld intern und extern strukturiert. Während in der mimetischen Kunst der Vormoderne dabei ein Außen wiederholt werde, konzentriere sich die Kunst der Moderne auf die eigene Autonomie. Innerhalb dieses (im Sinne Pierre Bourdieus) selbstreferenziell funktionierenden Feldes der Kunst richte sich der Künstler auf dessen „eigengesetzliche Innensteuerung“.8 Diese Selbstreflexivität weist Lüthy als Mechanismus der modernen Kunst aus, indem er Subjekt und Medium als ihr duales Fundament konstatiert. Das Wiederholen als universales Prinzip der künstlerischen Produktion sei in der modernen Kunst untrennbar in diese Koppelung von Subjekt und Medium eingebunden: Es sei eine „mediale Verdoppelung (...) und zugleich ein Akt, in welchem sich ein Subjekt zu sich selbst verhält“.9 Das künstlerische Wiederholen sei in der Moderne also immer zugleich eine Selbstwiederholung. Der moderne Anspruch auf Innovation und Fortschrittlichkeit erscheint in diesem Zusammenhang als Folge der von Lüthy so benannten „autonomieästhetischen Internalität“.10 Trotz (oder gerade wegen) der Überschneidungen mit anderen, nicht künstlerischen Feldern sei das moderne Kunstfeld bestrebt, die Eigengesetzlichkeit mit den entsprechend gültigen Parametern abzusichern. Die (Selbst-)Wiederholung erweist sich also als ein Organisationsprinzip, das Identität und Orientierung garantiert, zugleich aber die Einmaligkeit des Wiederholten in Frage stellt und so das moderne Originalitätsparadigma unterläuft. Die Produkte dieses Prinzips wurden in der Forschung daher treffend als „Kippfiguren“ benannt.11
6 Rosalind Krauss, The Originality of the Avant-Garde. A Postmodernist Repetition, in: October, 18, fall 1981, S. 47–66, dt.: Die Originalität der Avantgarde, in: Herta Wolf (Hg.), Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam/Dresden 2000, S. 197–219. 7 Joachim Jacob, „Triumf! Triumf! Triumf! Triumf!“ Magie und Rationalität des wiederholten Wortes, in: Károly Csúri/Joachim Jacob (Hg.), Prinzip Wiederholung. Zur Ästhetik von System- und Sinnbildung in Literatur, Kunst und Kultur aus interdisziplinärer Sicht, Bielefeld 2015, S. 61–78, hier S. 64. 8 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst – Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999 (Übersetzung der frz. Ausgabe von 1992); Zitat Michael Lüthy in diesem Band, S. 24, Hervorhebung im Original. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Svenja Flaßpöhler/Tobias Rausch/Christina Wald (Hg.), Kippfiguren der Wiederholung. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Figur der Wiederholung in Literatur, Kunst und Wissenschaft, Frankfurt a. M./Berlin/Bern u. a. 2007.
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Die Bewertungslogik der Moderne beeinflusste entscheidend die Perspektive der Zeitgenossen und der kunstwissenschaftlichen Forschung bis zur Debatte der Postmoderne. Bis heute verleitet sie dazu, angesichts von verschiedenen Repliken oder Versionen eines Werks nach dem ‚wahren‘ Original zu suchen. Es ergibt sich aber aus dem Großteil der in diesem Buch versammelten Beispiele, dass die wiederholten Werke weder der Hierarchie vom hochwertigem Original und minderwertigen Repliken folgen noch eine gegenläufige Logik festzumachen ist, die das wiederholende Arbeiten – im Sinne von Steigerung oder Perfektionierung – hin zu einem finalen Kunstwerk als Movens der Selbstwiederholung bestimmt. Aufgabe kunsthistorischer Forschung ist es daher, jenseits der bloßen Dichotomie von Original und Replik, die vielfältigen Intentionen, Verfahren und Funktionen der Selbstwiederholungen am jeweiligen Einzelfall, bezogen auf den Kontext und im Detail, zu analysieren.
facetten der selbstwiederholung Wenn Künstlerinnen und Künstler eigene Motive, Stile, Kompositionen oder ganze Werke wiederholen, dann haben sie dafür zunächst häufig rein praktische Gründe. Da gibt es etwa die Notwendigkeit, verloren gegangene oder gerade nicht verfügbare Werke zu rekonstruieren oder auch besondere Geschmacksvorlieben des Publikums zu bedienen. Es kann dabei um merkantile Zwecke gehen oder auch um das schlichte Überleben – oder um etwas zwischen diesen Polen. Wie viele andere arbeitete auch Gustave Courbet auf Bestellung, seine Wiederholungen von gleichen Bildthemen in Schnellmalerei sind durchaus als zeitgemäße Antwort auf die Marktsituation von Angebot und Nachfrage zu sehen. Daniela Stöppel weist in ihrem Beitrag nach, dass sich hierin eine Begründung jedoch nicht erschöpfen kann: Merkantile und künstlerische Gründe koexistieren. Sie zeigt auf, dass das Kopieren der Alten Meister bei Courbet nicht als reproduktives, gar mechanisches Verfahren, sondern als ein schöpferischer Prozess des Nachschaffens zu begreifen ist: Der eigene ästhetische Gehalt der ‚Meisterkopie‘ weise sich dabei über das Kriterium der Lebendigkeit aus. Den „kompetitive(n) und emulative(n) Aspekt der Verbesserung“ beobachtet Stöppel ebenso bei Courbets Wiederholungen eigener Werke.12 Sie schließt daraus, dass Courbet die normative Unterscheidung von Original und Kopie oder Replik bewusst unterlaufen habe. Während bei Courbet die Konsequenz der Selbstwiederholung in der Aufhebung dieser beiden Kategorien liegt, erweist sich das Wiederholen des eigenen Werks bei Giorgio de Chirico als strategische Arbeit mit dem Originalitätsparadigma. Wie Gerd Roos und Paolo Baldacci aufzeigen, ist das Replizieren und Variieren von Werken durch den Künstler von den 1920er bis in die 1970er Jahre eng an die Nachfrage des Kunstmarktes geknüpft. Unter dem Eindruck des in der Moderne gewandelten Verhältnisses der Öffentlichkeit zu Bildern und ihrer allgegenwärtigen Verfügbarkeit wiederholte de Chirico seine besonders geschätzten, jedoch nicht besonders zahlreichen frühen metaphysischen Kompositionen, um sie auf Ausstellungen zeigen und verkaufen zu 12 Daniela Stöppel in diesem Band, S. 46.
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können. Roos und Baldacci führen vor, wie de Chirico sich dabei der Strategien eines klassischen Fälschers bediente. Schriftliche Beglaubigungen von Hand des Künstlers und gemeinsam mit seinem Galeristen lancierte erfundene Provenienzen für seine rückdatierten Selbstwiederholungen sollten diese als das jeweils tatsächliche Original erscheinen lassen. Widersprüchliche Angaben führten de Chirico in Erklärungsnöte, die, so Roos, angesichts des 1955 erschienenen Werkkataloges in der Denunzierung des eigenen Werks kulminieren: Die (eigenhändigen) Repliken wurden von ihm zu Fälschungen erklärt. Wenn de Chirico aufgrund seines freien Umgangs mit (selbst) wiederholenden Praktiken also mit gewissem Recht als Vorläufer der Pop Art auserkoren wurde, so handelte es sich gleichwohl, wie Baldacci resümiert, bei seinen Selbstwiederholungen um einen Verrat am eigenen Schaffen, da sie de Chiricos Konzeption einer metaphysischen, ‚geistigen‘ Malerei zuwiderlaufen. Ein wichtiges Movens für Selbstwiederholungen mag jedoch auch genau diese Arbeit an der eigenen künstlerischen Maxime oder an einem künstlerischen Problem sein. Das immer wieder neue Ansetzen am selben Motiv oder einer ähnlichen Komposition ließe sich als ein solches Kreisen um eine selbst gesetzte Problematik deuten. Insofern kann die Selbstwiederholung auch Selbstkritik und Selbstrevision bedeuten, die sich gerade in der feinen Differenz gegenüber dem wiederholten Vorbild manifestiert. Ausgangspunkt dieser Selbstrevision könnte die Bearbeitung eines Themas oder des eigenen Werks unter unmittelbarem Eindruck der zeitgenössischen Umstände sein. So schuf Kasimir Malewitsch Ende der 1920er Jahre, nachdem er bereits internationale Bekanntheit als Begründer des Suprematismus erlangt hatte, eine Reihe von Gemälden nach neoimpressionistischen und neoprimitivistischen Vorbildern seines eigenen Frühwerks und datierte sie zurück. War der äußere Auslöser die praktische Notwendigkeit, eine Retrospektive zu bestücken, so zeigt Verena Krieger auf, dass Malewitsch seine Nachschöpfungen zugleich stilistisch in Richtung einer naturalistischen Darstellungsweise relativierte. Diese retrospektiven ‚Korrekturen‘ waren, wie Krieger darlegt, durch das verschärfte politische Klima in der Sowjetunion bedingt, das Anpassungen erzwang, beinhalten jedoch gleichzeitig eine selbstbewusste Weiterentwicklung des eigenen Schaffens. Die Wiederholungen von Motiven und Werken im Œuvre von Arnold Böcklin sind im Sinne einer Aktualisierung im Kontext zeitgenössischer Ideen zu interpretieren. Wie Kerstin Borchhardt am Beispiel der Motivgruppe Triton und Nereide aufzeigt, nutzte der Künstler die Selbstwiederholung als künstlerischen ‚Experimentierboden‘. Anhand der verschiedenen Fassungen des Motivs weist Borchhardt nach, dass Böcklin in seinen Bildern die Darstellungstraditionen der Meerwesen aus Antike und Neuzeit auf Basis des zeitgenössischen Geschlechtermodells neu formulierte. Seine Selbstwiederholungen erwachsen ‚mythopoietischen‘ Transformationen, in denen er die Kombination von tradierten Motiven mit Erfahrungen aus seiner individuellen Erlebniswelt erprobte. Michael Lüthy definiert in seinem Beitrag Claude Monets Serie der Kathedralbilder letztlich auch im Sinne einer solchen Selbstrevision. Das Subjekt – der Künstler – trete mit dem Medium – dem Kunstwerk – in Relation zur Welt. Nicht mehr die Repräsentation derselben ist der Impetus, sondern die Bilder sollen das Sehen respektive die Wahrnehmung im Medium der Malerei sichtbar machen. Diese „Verflechtung von
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Bewusstseinsprozessen und medialen Prozessen“, so Lüthy, manifestiere sich in der Selbstwiederholung.13 Kein Einzelwerk kann mehr der Wahrnehmung der komplexen Wirklichkeit gerecht werden, sondern Monet bearbeitet diese in einer unabschließbaren Bilderfolge von Ansichten der Kathedrale von Rouen. Indem die Wiederholung neben das Wiederholte tritt, liegt in der künstlerischen Selbstwiederholung grundsätzlich dieser Ansatz zur Serialität und damit zur Schaffung einer größeren ästhetischen Einheit. Serielles Schaffen kann auf Optimierung abzielen, aber auch – wie im Falle Monets – auf Diversität. In beiden Fällen ist die Serie mehr als das Einzelwerk. Eine der Serie entgegenstehende Zeitlichkeit konstatiert Bärbel Küster in ihrem Beitrag zur Selbstwiederholung bei Henri Matisse. Die permanente Selbstrevision äußere sich im Schaffen von Matisse durch wiederholtes Überarbeiten, das als Anlagerung von Schichten eines Bildes sichtbar bleibe. Nur auf diese Weise, so Matisse, erhalte das Kunstwerk einen verdichteten und dauerhaften Ausdruck.14 Küster weist nach, dass dies für verschiedene selbstwiederholende Prinzipien des Künstlers gilt, auch wenn unterschiedliche künstlerische Techniken aufeinandertreffen. Wenn Matisse in Ausstellungen fotografische Stadien seiner Werke integrierte, koexistierten diese auf der Leinwand. Er sei ein Prozessästhetiker. Sein „Konzept einer heteronomen Werkauffassung“ realisiere sich paradoxerweise gerade in seinen Selbstwiederholungen, die sich als Akt der Koexistenz (und nicht einer seriellen Abfolge oder als ein Nebeneinander) erweisen.15 Matisse beschrieb das wiederholte Überarbeiten seiner Werke als Verdichtung von Empfindungen; er setzte es ein, um das Werk „als Abbild seines Geistes“ wiedererkennen zu können.16 Die Selbstwiederholungen erweisen sich bei Matisse und Monet also in erster Linie als Realisierungen ihrer subjektiven Wahrnehmung. Bei Böcklin und Courbet ist die Selbstrevision hingegen als ein Kreisen um ein selbst gesetztes Thema oder eine Problematik zu verstehen. Während Böcklin dabei in erster Linie mit Motiv- und Ideenfragmenten arbeitete, ist bei Courbet die Perfektionierung der künstlerischen Technik Mittel und Ziel zugleich. All diese (und auch die folgenden) Beispiele bestätigen, dass in der Moderne die künstlerische Produktion und der Prozess des Entstehens der Kunstwerke in den Vordergrund rückte. Ziel ist das Kunstschaffen und nicht mehr eine Nachahmung oder Repräsentation der Welt. So liegt es nahe, dass der Selbstwiederholung auch Aspekte des Übens, des Rituals und der Meditation innewohnen können. Sowohl in der künstlerischen Produktion als auch in der Rezeption kann Wiederholung zu gesteigerter Erlebnisintensität führen. Als ein Beispiel hierfür können die mystischen und abstrakten Köpfe von Alexej Jawlensky dienen, die nicht nur als individuelle Werke, sondern gerade auch in ihrer Vielzahl eine starke Wirkung ausüben. Wiederholung kann insofern ein Mittel der Auratisierung sein – jedenfalls bewirkt sie nicht zwingend eine Minderung der Aura des einzelnen Werks. Dies zeigt das Beispiel von Yves Klein, der behauptete, für in Form und Ausführung identisch scheinende blaue Monochrome verschiedene Preise erhalten zu haben. Er definierte 13 14 15 16
Michael Lüthy in diesem Band, S. 24. Siehe Bärbel Küster in diesem Band, S. 82, Anm. 8 Ebd., S. 90. Zit. n. ebd., S. 82, Anm. 8.
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ihre unterschiedliche Wertigkeit über die von ihm so benannte ‚pikturale Sensibilität‘. Linn Burchert legt in ihrem Beitrag dar, dass Klein eine über die materielle Erscheinung hinausgehende Qualität in seinen Bildern behauptete. Die Differenzen zwischen den Wiederholungen einer Bildidee definieren sich demnach über das Immaterielle. Dadurch hält der Künstler, so Burchert, am Konzept von Originalität und Einzigartigkeit fest. Der Betrachter müsse die nötige Sensibilität mitbringen, um diesen objektiven Wert erkennen und die atmosphärische Kraft aufnehmen zu können. Die künstlerische Arbeit an seinen Werken sei eine Stabilisierung dieser ‚Aura‘, die Selbstwiederholung werde damit zu einer „Übung im Sammeln und Ausströmenlassen von Energie“.17 Eine quasisakrale Strahlungskraft lässt sich nach Verena Krieger ebenso den zahlreichen Schwarzen Quadraten von Kasimir Malewitsch zuschreiben, insofern deren Bildkonzept eine strukturelle Ähnlichkeit zur Ikonenmalerei zugrunde liege. So wie jede einzelne der zahlreichen einem identischen Kompositionsschema folgenden Ikonen gemäß der ostkirchlichen Theologie eine Inkarnation des göttlichen Urbilds sei, inkarniere jedes einzelne suprematistische Bild Malewitschs konzeptuellen Akt des Erfindens des Suprematismus. Aus diesem Grund habe Malewitsch sein Schwarzes Quadrat nicht nur selbst mehrfach wiederholen, sondern es auch von seinen Studierenden und Künstlerkolleginnen und -kollegen verwenden lassen können, ohne dass dies zu einem Auraverlust geführt habe. Die einzelnen Selbstwiederholungen hätten dabei überwiegend praktische Gründe wie die Erstellung von Exponaten für wichtige Ausstellungen und die Bekanntmachung der Idee des Suprematismus in einer breiten Öffentlichkeit gehabt. Die Selbstwiederholung kann auch eine psychologische Komponente haben. Sigmund Freud beobachtete bei seinen Patienten eine Tendenz, bereits erfahrene und mit Unlust verbundene Situationen immer wieder selbst herbeizuführen. Diesen neurotischen „Wiederholungszwang“ beabsichtigte er in der Analyse produktiv zu wenden durch ein „Wiederholenlassen“, verbunden mit einem „Bändigen“ der Wiederholung, um so ein seelisches „Durcharbeiten“ des zu bewältigenden Traumas zu ermöglichen.18 Hat der Wiederholungszwang also einen krankhaften Zug, so kann die Wiederholung im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung eine heilende Wirkung erlangen. Allerdings sind die Selbstwiederholungen im Werk von Max Ernst, dessen enge Beziehungen zur Psychoanalyse bereits häufig herausgestellt wurden, nicht aus dieser freudschen Theorie zu erklären. Judith Elisabeth Weiss zeigt in ihrem Beitrag anhand des Bandes Répétitions, einer Gemeinschaftsarbeit von Max Ernst und Paul Éluard, und des Eva-Zyklus auf, dass die Wiederholung bei Ernst vielmehr im Sinne einer produktiven Revision zu verstehen ist. Die Arbeit an Répétitions sei eine „Erprobung von Bildern mit der Öffnung eines Schauplatzes“.19 Auch die mit Materialexperimenten verbundene produktive Bearbeitung des Motivs der Eva interpretiert Weiss als permanente Erneuerung. Die Selbstwiederholung als ästhetische Praxis bei Ernst entspringe daher 17 Linn Burchert in diesem Band, S. 205. 18 Sigmund Freud, Wiederholen und Durcharbeiten (Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II, 1914), in: Studienausgabe, Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt a. M. 1975, S. 205–215, Zitate S. 210, S. 211 und S. 213. 19 Judith Elisabeth Weiss in diesem Band, S. 163.
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gerade nicht dem freudschen Wiederholungszwang, sondern sei vielmehr ein Schöpfen aus der Wiederholungsfreiheit. Der wiederholte Rückgriff auf eigene Motive oder Themen kann im Besonderen von einer Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte getragen sein. So ist die Bearbeitung des Motivs der Eva bei Ernst unmittelbar mit der biografischen Dimension, der Verkörperung der Geliebten Gala, verbunden. Auch bei Paul Gauguin ist die Darstellung des tahitischen Paradieses eng an die eigenen Erlebnisse geknüpft. Kerstin Thomas zeigt in ihrem Beitrag, wie Gauguin durch die künstlerische Selbstwiederholung die exotische Welt eines erträumten Tahiti öffentlichkeitswirksam zu etablieren suchte. Für das Künstlerbuch Noa Noa experimentierte Gauguin mit eigenen tahitischen Bildmotiven in verschiedenen Techniken. Der Künstler wollte mit diesem Reisebericht die Aufnahme und den Verkauf seiner Werke befördern. Es sollte „die Identität der tahitischen Welt (...) beschwören, als deren Teil er sich verstanden wissen wollte“.20 Thomas bestimmt die Rückgriffe in Gauguins Werk als Reprisen, in denen die Motive eingespannt in die dichotomische Struktur von Beständigkeit und Wandel wiederkehren. Letztlich erweist sich das Buch, so Thomas, als Kompilat, das als Resultat eines intertextuellen Prozesses ein künstlerisch imaginiertes Tahiti vorführt. Die Bezüge zum eigenen Werk, zu biografischen Erlebnissen und Erinnerungen zeigten auf, dass die Selbstwiederholung bei Gauguin zugleich der Selbstvergewisserung diene. Für den ‚Wiederholungstäter‘ kann der Rückgriff auf das eigene Schaffen also auch ein identitätsstiftender Prozess sein. In der Moderne sind die Künstlerinnen und Künstler herausgefordert, sich aufgrund der gesellschaftlichen und medialen Veränderungen gegenüber der Öffentlichkeit in Gestalt von Publikum, Kunstmarkt und Kunstkritik zu positionieren. Die Selbstwiederholung kann daher weiterhin einen Beitrag zur Konstruktion einer Künstleridentität leisten. Sie kann darauf abzielen, einem Œuvre stilistische Einheit und Wiedererkennbarkeit zu verschaffen oder auch eine eigene Schule zu begründen und zu behaupten. So werden Originalität und Autorschaft durch Selbstwiederholung vielfach erst konstituiert und für die Öffentlichkeit wahrnehmbar gemacht. Auf diese Weise interpretiert auch Sophia Stang die vielfältigen Ausprägungen des Wiederholens bei Giorgio de Chirico. Sie zeigt auf, wie seine Selbstwiederholung als konstruktives Verfahren in Text und Bild im Dienste von Selbstvermarktung und Selbsthistoriografie steht. In seinen kunsttheoretischen und häufig autobiografischen Schriften präsentierte de Chirico verschiedene Entwürfe seiner künstlerischen Identität, indem er in ihnen tatsächliche oder auch fiktive Elemente seiner Biografie je nach sozialen Bedingungen kombinierte. Die gewählten Beispiele zeigen, dass diese Modifizierung seiner Künstlervita, so Stang, de Chiricos alleiniges Urheberrecht an der Pittura Metafisica der 1910er Jahre untermauern sollte. Auch die bildlichen Wiederholungen dieses Frühwerks – ob Variation oder rückdatierte Replik – ließen sich als Stärkung dieser auf dem Kunstmarkt besonders gefragten Schaffensphase auffassen. Der Künstler wollte so seinen Ruhm gegenüber den Zeitgenossen behaupten und seinen Platz in der Kunstgeschichte sichern. 20 Kerstin Thomas in diesem Band, S. 72.
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Eine ebenso geschichtsbildende Funktion schreibt Lars Blunck den Re-Mades im Werk von Marcel Duchamp zu. Duchamp wollte mit den Readymades gegen die „Redundanz des Malens“ opponieren;21 sie sollten keine ‚Kunst‘ sein. Den Flaschentrockner dann dezidiert als Kunstobjekt neu zu schaffen, widersprach der eigenen Praxis und machte daher den Reiz für Duchamp aus. Blunck zeigt auf, dass die Re-Mades jedoch keine tatsächlichen Wiederholungen der Readymades sind: Sie seien Nachbauten, die im Gegensatz zu den tatsächlichen Readymades nie Flaschentrockner waren. Mit rückweisenden Aufschriften referierten diese darüber hinaus auf einen initialen Flaschentrockner von 1914, den es so nie gegeben habe und der ein historisches Kontrafakt sei. Die Repliken konstituieren also überhaupt erst ein vermeintliches Originalkunstwerk und die künstlerische Autorschaft Duchamps. Daher bestimmt Blunck sie in Anlehnung an Karl Siegbert Rehberg als „Erinnerungsbilder“ mit „‚Stille-Post‘-Effekten“.22 Die Wiederholung kann also im Sinne einer Erinnerung zurückwirken, zugleich bringt sie etwas Vergangenes im Prozess des Wiederholens in die Gegenwart. Geraldine Spiekermann beschreibt in ihrem Beitrag über die Reperformances von Marina Abramović die Selbstwiederholung als Déjà-vu. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde die bis dahin als ephemeral begriffene Performancekunst erstmalig wiederholt. Unter der Prämisse des ‚seeing it live‘ komme Abramović zu einer Aktualisierung und Neuinterpretation der Jahrzehnte zuvor uraufgeführten Performances. In dieser bereits durch den zeitlichen Abstand gewährten Differenz – Ort, Betrachter, Anlass und Performerin haben sich verändert – liege das Potenzial der Reperformance begründet. Sie greife zudem, so Spiekermann, auf Formen des Erinnerns zurück: Dokumente, Fotografien, Objekte und Erinnerungen an die erste Performance vermischen sich mit der veränderten, aktiven Wiederholung. Die Selbstwiederholung sei daher im Sinne der Kierkegaard’schen Wendung eine „Erinnerung in Richtung nach vorn“.23
(selbst-)wiederholung als neu-konstruktion Mit den hier vorgestellten Facetten der künstlerischen Selbstwiederholung in der Moderne ist das Phänomen nicht erschöpfend behandelt. Die in diesem Band versammelten Beispiele zeigen jedoch die Bandbreite ihrer Ausprägungen. Die Autorinnen und Autoren nähern sich diesen Ausprägungen aus verschiedenen Perspektiven und kommen zu entsprechenden Termini, die die Charakteristiken und Funktionen der jeweils in den Blick genommenen Spielarten der Selbstwiederholung umschreiben. Zu diesen gehören: Serialität (Monet), Meisterkopie (Courbet), Experimentierboden (Böcklin), Reprise (Gauguin), Koexistenz (Matisse), Fälscherstrategie/Künstleridentität (de Chirico), Selbstkorrektur/Inkarnation eines Urbilds (Malewitsch), Erprobung (Ernst), Erinnerungsbild (Duchamp), immaterielle Qualität (Klein), Déjà-vu (Abramović). Sie belegen damit, dass allein die Suche nach einer hierarchischen Abfolge von Original und Wiederholung dem Phänomen der Selbstwiederholung in der modernen Kunst 21 Lars Blunck in diesem Band, S. 183. 22 Ebd., S. 193. 23 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung. Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin, Frankfurt a. M. 2005, S. 7.
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nicht gerecht wird. Vielmehr erweist sich die Prozessualität als zentrale Kategorie der Selbstwiederholung. Daher ist auch die Unabschließbarkeit im Umgang mit dem Vergangenen – wie in vielen der Beiträge erwähnt – eine ihrer genuinen Eigenschaften. Die Wiederholung ist, wie der Begriff schon sagt, eine Wieder-Holung: Etwas, das fort ist, weil es zeitlich abgeschlossen und/oder sich materialiter andernorts befindet, wird aufs Neue hervorgebracht und ihm damit leibliche Präsenz verschafft. Der Prozess des Wiederholens impliziert ein zeitliches Danach und ein räumliches Woanders. Damit ist der Wiederholung das Prinzip der Differenz eingeschrieben. Die Wiederholung ist niemals identisch mit dem Wiederholten, sondern setzt zugleich stets eine Andersartigkeit voraus. Sie ist immer auch Variation. Repetition und Variation sind, wie der Literaturwissenschaftler Peter Pütz formuliert, Gegen- und Komplementärbegriffe, sie sind einander entgegengesetzt und bedingen einander zugleich.24 „Wiederholung bewegt sich (…) stets im Spannungsfeld zwischen dem Bestreben um Identität und dem Bestehen auf Differenz, die überhaupt die Ermöglichung des Wieder bietet.“25 Streng genommen kann es also keine reine Repetition geben. Mit Recht betont daher die postmoderne Sprach- und Performanztheorie,26 dass es sich bei der Wiederholung stets auch um ein Anderes und Neues handelt. Das gilt ebenso für die künstlerische Selbstwiederholung – schließlich kann man, nach Heraklit, nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Unser erster herzlicher Dank geht an die Referentinnen und Referenten für ihre Beteiligung an unserem Symposium und an die Autorinnen und Autoren, deren Beiträge nun in dieser Publikation versammelt sind. Martin Weidlich sind wir sehr dankbar für die Übersetzung des Textes von Paolo Baldacci. Wir möchten auch der Staatsgalerie Stuttgart, namentlich Prof. Dr. Christiane Lange und Birgit Langhanke, nochmals für die Gastfreundschaft und den organisatorischen Rahmen unseren Dank aussprechen. Elena Mohr und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Böhlau Verlages danken wir für die umsichtige, genaue Produktion und die bewährte vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ein großer Dank geht an Anita Rieche für ihre redaktionelle Mitarbeit an diesem Buch. Nicht zuletzt danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung von Symposium und Drucklegung im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsprojektes „Giorgio de Chiricos künstlerische Identitätskonstruktion. Seine autobiografischen und kunsttheoretischen Schriften im Kontext der Valori Plastici“.
24 Peter Pütz, Wiederholung als ästhetisches Prinzip, Bielefeld 2004, S. 7. 25 Ebd. 26 Vgl. u. a. Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998.
serialität als selbstreflexion michael lüthy das duale fundament der modernen kunst Den hier zu entfaltenden Gedankengang möchte ich mit einem längeren Zitat des amerikanischen Malers Robert Motherwell beginnen: „Der Fehler so mancher psychologischer Literatur über künstlerische Aktivität und das Unbewusste hängt mit dem Unvermögen zusammen, in einer verbal ausgerichteten Kultur die Tiefe und die Intimität der Vermählung zwischen dem Künstler und seinem Medium zu verstehen. Ein Gemälde ist kein Bild von irgendetwas vor deinen Augen. (…) Es ist vielmehr ein Angriff auf das Medium, das dadurch etwas ‚bedeutet‘. (…) Das Sujet existiert nicht schon davor. Es entsteht erst in der Interaktion zwischen Künstler und Medium. Deshalb, und nur auf diese Weise, kann ein Gemälde kreativ sein, und deshalb können seine Resultate nicht vorherbestimmt werden. (…) Ein künstlerisches Medium ist der einzige Gegenstand in der menschlichen Existenz, bei dem man genauso viel Gefühl spürt wie bei Menschen selbst. Und nur, wenn man davon ausgeht, dass das Medium dasselbe Potenzial hat wie ein anderer Mensch, beginnt man zu verstehen, in welcher Weise der Künstler involviert ist – wie es ihm selbst erscheint … (Das Medium ist, M. L.) kein lebloses Objekt, aber auch kein Regelset der Komposition (…), sondern eine lebendige Zusammenarbeit, die nicht nur jede Nuance des eigenen Seins reflektiert, sondern auch zu Hilfe kommt, wenn man sich verlassen fühlt; und zwar nicht willkürlich und kapriziös (wie die griechischen Göttinnen, wenn sie in die menschliche Fügung eingriffen), sondern ernst, akkurat und ganz konkret sich an dich wendet, beispielsweise wenn eine Leinwand zu dir sagt: Diese leere Stelle in mir muss pinker sein; oder eine Form sagt: Ich will größer und expansiver sein; oder das Format sagt: Diese Bildkonzeption ist zu groß oder zu klein für mich, sie hat keinen Maßstab; oder ein Streifen sagt: Drücke mich stärker – du bist zu höflich und elegant; oder ein Grau sagt: Ein wenig mehr Blau – mein jetziger Ton ist unbequem und fügt sich nicht in meine Umgebung ein.“1
1 Robert Motherwell, A Process of Painting, in: Stephanie Terenzio (Hg.), The Collected Writings of Robert Motherwell, New York 1992, S. 138–141, hier S. 138f., Hervorhebungen im Original, dt. Übers. des Verfassers; zu Motherwells Text und allgemein zur psychischen Dynamik zwischen Subjekt und Medium siehe Donald Kuspit, Identifikation mit dem Medium – der Trost der Materie, in: Michael Lüthy/Christoph Menke (Hg.), Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Berlin 2006, S. 127–155, zuvor erschienen als Kapitel 3 in: Ders., Psychostrategies of Avant-Garde Art, Cambridge 2000, S. 122–148.
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Mit diesen Sätzen, 1963 auf der Jahreskonferenz der American Association of Psychotherapists vorgetragen, beschreibt Motherwell anhand eigener Erfahrungen den künstlerischen Prozess, und er beschreibt diesen Prozess als ein eigentümliches Wechselverhältnis zwischen künstlerischem Selbst und seinem Ausdrucksmedium, in welchem beiden Seiten, dem Subjekt und dem Medium, Handlungs- und Wirkmacht (agency) eigen ist. Diesem Zitat sei hier ein zweites, ähnlich gelagertes hinzufügt. Im ausführlichen Gespräch, das Louise Bourgeois 1988 mit Donald Kuspit führte, kommt Bourgeois darauf zu sprechen, dass sie harte Materialien bevorzuge und es ihr dabei um den Widerstand dieses Materials gehe, den es stets aufs Neue zu überwinden gelte. Kuspit bezieht dies auf ihre Familienbiografie, deutet es als Arbeit gegen den Vater und als Rächen der Mutter. Bourgeois indes korrigiert ihn: „Ich bin mir dieser Dinge nicht so gewiss. Ich glaube, was in meinen Skulpturen vor sich geht, ist (…) persönlicher. Der Widerstand des Steins ist meine Unfähigkeit dafür zu sorgen, dass ich geliebt werde.“2 Was genau sagt Bourgeois mit diesem mehrere Haken schlagenden Satz? Erneut geht es um ein osmotisches Austauschverhältnis von Subjekt und Medium. Der Widerstand des Steins sei ihre Unfähigkeit, dafür zu sorgen, dass sie geliebt werde. Am Stein zu arbeiten heißt also, am Selbst zu arbeiten. Indem sie den Widerstand des Steins überwindet und ein gelingendes Objekt erschafft, überwindet sie, so müsste man folgern, ihre Unfähigkeit, selbst ein Objekt der Liebe zu sein. Wie weit das gelingt, darüber schweigt sich Bourgeois aus. Sicher aber ist, dass die Steine das Objekt von Bourgeois’ eigener Liebe sind, so wie alle Bildhauer ihre Steine lieben. Doch insbesondere lieben Bildhauer den Widerstand ihrer Steine, und so kann es auch Bourgeois nicht darum gehen, den Widerstand des Materials wirklich zu brechen, sofern sie ihre Kunst nicht aufs Spiel setzen will. Der stets erneuerte Kampf mit dem Material ist die Unruhe im Uhrwerk der künstlerischen Tätigkeit – als Tätigkeit, worin Gelingen und Misslingen sich kreuzen und worin Subjekt und Medium eins werden und doch nie eins sein können. Diese beiden Beispiele deuten auf etwas, was mir für die künstlerische Praxis der Moderne grundlegend zu sein scheint. In der Moderne wird, so die These, der wechselseitige Umschlag zwischen Subjekt und Medium zum eigentlichen Fundament der Kunst und zugleich zu jenem Prozess, durch den die Kunst, wie Motherwell es formuliert, „etwas ‚bedeutet‘“.3 Das aber ist, verglichen mit der Vormoderne, eine veritable Revolution des Bedeutens, und diese vollzieht sich in der Epoche auch anderer Revolutionen, am Beginn der Moderne im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Als in jener Zeit die kulturellen und sozialen Referenzrahmen der Kunst in vielerlei Hinsicht aufbrachen, orientierte sich die Aufmerksamkeit der Künstler um. Sie begannen, auf die Grundlagen ihres Tuns zurückzugehen. Sie erforschten sich selbst, indem 2 Zit. n. Donald Kuspit, Ein Gespräch mit Louise Bourgeois, übers. von Volker Ellerbeck, Bern 2011, S. 59. 3 Siehe Zitat Anm. 1.
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sie ihre Selbst- und Weltwahrnehmung prüften, und versuchten zugleich, sich über ihr Gestaltungsmedium Rechenschaft zu geben. Die Selbstbezüglichkeit des Künstlers und die Selbstbezüglichkeit des Mediums wurden dann, da die alten Bezugsgrößen (das Prinzip der Nachahmung, das Modell der Repräsentation, aber auch die hierarchische Gliederung nach Gattungen und Darstellungsmodi) ihre Normativität verloren, zu den neuen Fundamenten künstlerischer Praxis.4 Ob diese Fundamente tragen, ist die autonomieästhetische Wette, welche die Kunst seither eingeht. So beflügelt die Erwartung, der Rückgriff auf die Eigenart des künstlerischen Mediums lasse ein sicheres Fundament der Kunst entdecken, viele Künstler insbesondere der Klassischen Moderne, und Clement Greenbergs ‚Modernismus‘-Theorie hat ihren argumentativen Kern in der Behauptung, die Selbstvergewisserung der Kunst könne durch die ‚Essenzialisierung‘ des jeweils verwendeten Mediums geleistet werden.5 Diese Hoffnung auf die Selbstvergewisserung der Kunst im Medium muss allerdings zwiespältig bleiben. Greenbergs Annahme, der Legitimationsschwund der Kunst könne durch deren mediale ‚Essenzialisierung‘ aufgefangen werden, wird schon dadurch in Frage gestellt, dass jede Selbstvergewisserung, die sich auf die Besonderheit des eingesetzten Ausdrucksmediums beruft, ein Moment der Entfremdung einschließt, indem die Selbstvergewisserung durch etwas Äußeres garantiert werden soll. Das Subjekt, als der andere Pol moderner künstlerischer Selbstreflexion, ist eine ebenso prekäre Basis. Es kann sich nicht unmittelbar artikulieren, so als stünde das Hervorgebrachte in direkter Verbindung mit dem Inneren des Künstlers, dessen Präsenz sich in ihm ausdrückte. Die künstlerische Expression ist vielmehr doppelt vermittelt. Das Kunstwerk ist nicht einfach das nach außen gestellte Selbst des Künstlers, sondern dieser muss sich – erstens – einer bestimmten Darstellungsform bedienen, die – zweitens – nie ganz seine sein kann, sondern stets Elemente einer allgemein geteilten Sprache enthält. Die Artikulationseigenart moderner Kunst tritt folglich dann hervor, wenn weder das Subjekt noch das Medium, sondern vielmehr deren Wechselbeziehung als das dynamische duale Fundament der Kunst angesehen werden. Subjekt und Medium stehen dabei in einem bald metonymischen, bald metaphorischen Verhältnis füreinander ein. Sie verbinden sich im Produktionsakt, dem das Kunstwerk seine Entstehung verdankt und der, analog zum literaturwissenschaftlichen Konzept des ‚Schreibens‘, als eine écriture 4 Zur Vorgeschichte der modernen künstlerischen Selbstreflexion siehe Victor I. Stoichita, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998; bezüglich der Frage, wie moderne und vormoderne Selbstreflexion zu unterscheiden sind, vgl. die Kritik von Christiane Kruse in ihrer Rezension des Buches (in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 62/1999, S. 585–594), Stoichita verenge das Phänomen einer selbstreflexiven ‚Metamalerei‘ auf das 17. Jahrhundert. Kruse möchte den Begriff stattdessen auf alle Epochen ausweiten, denn von den antiken Künstlerlegenden bis in die Moderne finde sich ein selbstreflexives Moment: „Metamalerei/ Metabildlichkeit ist bildimmanent.“ (ebd., S. 589). Gleichwohl liegt eine epochenspezifische Differenz darin, dass die modernen Formen der Selbstreflexion jenseits des Repräsentationsmodells operieren, das Stoichitas Beispielen (exemplarisch Velázquez’ Meninas) zugrunde liegt. Meine Bemühungen in diesem Essay laufen also genau konträr zu Kruses Entdifferenzierung und Enthistorisierung künstlerischer Selbstreflexionsformen, indem sie für die Moderne jene Präzisierung vornehmen möchten, die Stoichita (allerdings wesentlich umfassender) für das 17. Jahrhundert leistet. 5 Clement Greenberg, Modernistische Malerei, in: Ders., Die Essenz der Moderne – Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. von Karlheinz Lüdeking, Amsterdam/Dresden 1997, S. 265–278.
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begriffen werden kann, das heißt als ein Hervorbringen, das seine Pointe darin besitzt, sich an der Nahtstelle von Medium und Subjekt anzusiedeln. In der Moderne wird diese écriture zur eigentlichen Aussage der Kunst und zwar im Rahmen einer umfassenden Transformation künstlerischen Bedeutens, in deren Verlauf das Produzierende über das Produkt und der Prozess über das Ergebnis gestellt wird. Wiederholung wird zu einem substanziellen Teil dieses Prozesses, und sowohl das Konzept der écriture als auch die eingangs zitierten Aussagen Motherwells und Bourgeois’ deuten darauf hin, dass dieses Wiederholen von Selbstwiederholung kaum zu trennen ist. Wie aber lässt sich dieses Wiederholungsmoment – als wesentliches Moment des künstlerischen Prozesses in der Moderne – historisch spezifizieren? Inwiefern ist dieses Wiederholen modern?
wiederholung als interner und externer strukturbegriff des kunstfeldes Nehmen wir den historischen Faden an seinem Anfang auf. Schon in den frühesten Definitionen der Kunst ist der Wiederholungsbegriff zentral. Der wirkmächtigste kunsttheoretische Begriff der griechischen Antike, Mimesis, gewöhnlich übersetzt mit Nachbildung oder nachahmender Darstellung, meint nichts anderes als eine Wiederholung der Wirklichkeit in der Kunst, oder genauer und ursprünglicher: deren Wiederaufführung in den Darstellungsmedien des Theaters oder der Kunst. Ein ähnlich weites Bezugsnetz spinnt sich um den zweiten Zentralbegriff, den die Antike der Kunstreflexion hinterließ, den lateinischen Begriff der Repräsentation. Das Wiederholungsmoment kommt hier in anderer Akzentuierung ins Spiel, nämlich eingespannt in die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, Gegenwart und Abwesenheit. Der Begriff der Repräsentation betont den Akt des wieder Holens – wobei das wieder Geholte nicht als solches vor Augen gestellt wird, sondern in einem anderem Medium vergegenwärtigt wird. Bereits diese knappen begrifflichen Hinweise machen deutlich, dass das Wiederholen eine Grundoperation der Kunst seit ihren Anfängen ist.6 Jüngere Kunstentwicklungen, beispielsweise das ostentative Kopieren der Pop Art, die radikalisierte Serialität des Minimalismus oder die künstlerischen Strategien der Appropriation Art, haben dem universalen Wiederholungsphänomen in der Kunst lediglich zu einer gesteigerten Prominenz verholfen. Allerdings wirkt das Phänomen in diesen rezenten Varianten insofern komplexer, als hier zum Wiederholungsbegriff korrelative Begriffe, etwa diejenigen des Originals, der Kopie oder des Authentischen, problematisiert werden, ja sogar an deren Entleerung gearbeitet wird. Wiederholung erweist sich damit als ein Begriff, der das Kunstfeld intern strukturiert, beispielsweise als historische Differenzierung verschiedener Modi künstlerischen Wiederholens. Doch der Begriff hat noch weitere Dimensionen. Bereits Bourgeois’ Verknüpfung zwischen ihrer fortgesetzten Arbeit am Stein und ihrer Arbeit am eige6 Siehe dazu ausführlicher Michael Lüthy, „Alles ist Wiederholung.“ Facetten einer Grundoperation der Kunst, in: Claudia Blümle/Till Julian Huss (Hg.), Kunst & Wiederholung. Strategie – Tradition – ästhetischer Grundbegriff, Berlin 2017 (im Erscheinen), S. 27–50.
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nen Selbst macht deutlich, wie unmittelbar die Kunst qua Wiederholung mit anderen menschlichen Praktiken verknüpft ist. Der Wiederholungsbegriff wird auf diese Weise zugleich zu einem externen Strukturbegriff, anhand dessen unterschiedliche Überlappungen zwischen künstlerischen und benachbarten nicht künstlerischen Feldern erfasst werden können. Zu solchen Feldern, die qua Wiederholung mit der Kunst in produktiver Wechselwirkung stehen, gehören – um nur drei sehr unterschiedliche Beispiele zu geben: – die Ethnologie mit ihren einschlägigen Wiederholungsbegriffen wie Ritual, Tradition oder Wiedergeburt; – die Psychologie mit ihrem Konzept personaler Identität als Selbstfestigung qua Erinnerung und Routine sowie, in anderer Akzentuierung, die Psychoanalyse mit ihrer Terminologie von Verdrängung und Wiederkehr, Wiederholungszwang und Regression; – oder die Theologie und ihre Begriffe wie Liturgie oder Anamnese. Bei jeder Kunstform, ja letztlich bei jedem Kunstwerk lohnt sich die Analyse, wie es sich, unter dem Wiederholungsaspekt betrachtet, kunstintern, etwa historisch, und kunstextern, das heißt auf andere Praxisfelder bezogen, positioniert. Eine solche doppelte Positionierung ergibt dann beispielsweise bei der Appropriation Art, welche an Marcel Duchamp anknüpfend Konzepte wie Autorschaft oder Originalität befragt, ganz andere Ergebnisse als etwa bei der seriellen Minimal Art, welche Konzepte des Singulären und des Regelhaften, des Einen und des Vielen gegeneinander ausspielt. Aus dem bislang Gesagten ist in methodischer Hinsicht zu folgern, dass wir dem ebenso umfassenden wie zugleich vielgestaltigen Wiederholen in der Kunst am ehesten gerecht werden, wenn wir darin die Überkreuzung mehrerer Felder erkennen, oder systemtheoretisch formuliert: wenn wir beobachten, inwiefern die Wiederholungsoperationen eines Systems, zum Beispiel der katholischen Liturgie mit ihrer stetigen Wiederaufführung des Erlösungsgeschehens in jeder Messe, in das andere System der Kunst hinüberkopiert werden, und wenn wir des Weiteren beobachten, was dieses jeweils spezifische Hinüberkopieren motiviert und welche Effekte es erzeugt.
zur spezifik modernen wiederholens An diesem Punkt lässt sich die Frage nach den modernespezifischen Wiederholungsphänomenen in der Kunst präzisieren, und zwar als Frage, welche Interaktion welcher Systeme im Hinblick auf die künstlerische Moderne zu berücksichtigen ist. Da gibt es einerseits die einschlägigen modernen (und postmodernen) Theorien des Wiederholens wie Walter Benjamins Denken des Besonderen im Zeitalter der technischen Wiederholbarkeit, Gilles Deleuzes Korrelieren von Wiederholung und Differenz, Jacques Derridas Begriff der différance als unendlicher Aufschub von Identität oder Roland Barthes’ Autorschaftskritik im Zeichen der Intertextualität. In all diesen Theorien werden Bewusstseinsprozesse und mediale Prozesse in ihrer Verwobenheit vorgeführt, beispielsweise indem Denken und Schreiben als nicht aufeinander reduzierbare Parallelprozesse begriffen werden, in welchen sowohl das Subjekt als auch das Medium Akteurcharakter besitzen. Blicken wir andererseits auf die künstlerischen Phänomene
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der (Selbst-)Wiederholung, welche in den Beiträgen dieses Bandes im historischen Spektrum von Gustave Courbet bis Marina Abramović aufgefächert werden, sei es als Reprise eigener Arbeiten oder als Paraphrase der Werke Dritter, dann treffen wir auf dieselbe Verflechtung von Bewusstseinsprozessen und medialen Prozessen, etwa wenn die Wiederholung eines Werks eine mediale Verdoppelung ist und zugleich ein Akt, in welchem sich ein Subjekt zu sich selbst verhält – in welcher Weise auch immer. Damit bin ich wieder bei meiner Grundthese angekommen, dass in der wechselseitigen Koppelung von Subjektivität und Medialität der Basiscode moderner Kunstpraxis zu erkennen ist, oder anders formuliert: dass moderne Kunstpoetiken gleichermaßen (und in wechselseitiger Spiegelung) bewusstseinstheoretisch und medientheoretisch erläuterbar sind. Was also unterscheidet dann, erneut gefragt, diesen Basiscode moderner Kunst von den älteren Fassungen des Problems, welche in den Begriffen der Mimesis und der Repräsentation greifbar sind? Der Unterschied ist fundamental. Wenn die vormoderne Kunst im Zeichen von Mimesis und Repräsentation ein Außen wiederholt, dann tut sie das nicht zuletzt deshalb, weil es die Aufgabe der Künstler ist, dieses Außen in der Kunst zu wiederholen – beispielsweise weil es darum geht, mit dem Malen eines Porträts, eines Schlachtengemäldes oder einer Grablegung ein jeweiliges Außen (einen bestimmten Menschen, ein historisches Ereignis oder einen Glaubensinhalt) in seinem Wert und seiner Gültigkeit zu behaupten. Wenn die Moderne, im Gegensatz dazu, sich der Wiederholung verschreibt, dann deshalb, weil sie eine solche Außensteuerung gerade ablehnt und auf Autonomie, sprich: auf die eigengesetzliche Innensteuerung des künstlerischen Prozesses umstellt. Deshalb ist das Wiederholen der Moderne keine Mimesis und keine Repräsentation mehr, sondern ein Wiederholen, das zugleich Selbstwiederholung ist: die Selbstwiederholung der Kunst als Kunst und die Selbstwiederholung eines künstlerischen Aktes, die deshalb fortlaufend wiederholt werden, weil es darum geht, das eigene Metier in seiner Eigenlogik abzusichern. Mimesis und Repräsentation sind Wiederholung im Zeichen heteronomer Externalität der Kunst, moderne Wiederholung ist Wiederholung im Zeichen der autonomieästhetischen Internalität der Kunst.
monets serien als beispiel Wenn ich die irreduzible Koppelung von Subjektivität und Medialität des künstlerischen Prozesses als Basiscode der Moderne bezeichnet habe, dann soll der Begriff des Basiscodes signalisieren, dass diese Koppelung nicht schon die Bedeutung des jeweiligen Kunstwerks ist, sondern lediglich das moderne-spezifische strukturelle Allgemeine darstellt, aus dem das Besondere des einzelnen Kunstwerks – als Besonderheit der jeweils realisierten Inbeziehungsetzung von Subjektivität und Medialität – zuallererst heraustritt. An einem einzigen Beispiel sei daher die Spezifik einer solchen Koppelung etwas genauer untersucht.7 Ich wähle es aus einem Bereich, der in unserem Zusam7 Das in Kunstwerke mündende und in ihnen sichtbar werdende Verhältnis von Subjekt und Medium hat mich über das hier herangezogene Beispiel hinaus immer wieder beschäftigt; siehe dazu Michael Lüthy, Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne. Delacroix – Fontana – Nauman, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 46/2001, S. 227–254. Die
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1 Claude Monet, Cathédrale de Rouen, symphonie en gris et rose, 1892, Öl auf Leinwand, 100,1 × 63 cm, National Gallery of Art, Chester Dale Collection, Washington D.C.
menhang unmittelbar einschlägig ist: aus demjenigen der seriellen Kunst. Das Beispiel markiert zugleich den Augenblick der Genese künstlerischer Serialität, wodurch es sich als Kippmoment erweist zwischen der älteren Auffassung der Kunst als repräsentierender Verdoppelung der Wirklichkeit und dem modernen Verständnis des Untersuchungen zu Nauman und Fontana wurden später vertieft: Ders., Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman, in: Erika Fischer-Lichte/Robert Sollich/Sandra Umathum/Matthias Warstat (Hg.), Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München 2006, S. 57–74, sowie: Ders., Fontanas Schnitte, in: Mateusz Kapustka (Hg.), Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, Berlin 2015, S. 25–38; des Weiteren: Ders., Subjektivität und Medialität bei Cézanne – mit Vorbemerkungen zu Dürer, Kersting und Manet, in: Ders./Menke 2006 (wie Anm. 1), S. 189–207; Ders., Warhols Disaster-Diptychen: Das Dementi als Bildform, in: Anke Hennig/Georg Witte (Hg.), Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 71), Wien/München 2008, S. 475–507; Ders., Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst, in: Martin Vöhler/Dirck Linck (Hg.), Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 2009, S. 199–230.
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2 Detail von Abb. 1
Kunstwerks als Moment in einem selbstbezüglichen Prozess. Das Beispiel ist Claude Monets zwischen 1892 und 1894 entstandene, 33 Gemälde umfassende Serie der Cathédrale de Rouen (Abb. 1–3). Monets Kathedralbilder verdanken sich einer Bildidee, die ein bestimmtes Motiv und zugleich eine bestimmte Darstellungsform durchgängig beibehält. Das eigentliche Sujet der Cathédrales ist die malerische Realisierung des Sehens. Es handelt sich um das Experiment, den unsichtbaren Bewusstseinsprozess des Sehens sichtbar zu machen – zwar nicht als solchen, sondern übersetzt in Malerei. Was aber meint hier Sehen?8 Zu jener Zeit, als Monet seine Cathédrales malte, hatte sich in der Medizin, der Psychologie und der Sinnesphysiologie die Idee einer subjektiven und körpergebundenen Wahrnehmung durchgesetzt. Das Sehen wurde von einem zwingenden und stabilen Verhältnis zur äußeren Welt abgelöst. Stattdessen entwickelte sich die Idee einer autonomen Wahrnehmung, in welcher sich passive Rezeption und aktive Konstruktion, inneres und äußeres Sehen miteinander verzahnten. Diese neue Auffassung des Sehens, das nun als Prozess zwischen Auge und Hirn verstanden wurde, betonte dessen beständigen 8 Ich rekurriere im Folgenden auf Jonathan Crary, Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge, MA 1999, bes. Kap. 2: „1879: Unbinding Vision“, S. 81–149.
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3 Claude Monet, Cathédrale de Rouen, brouillard matinal, 1894, Öl auf Leinwand, 101 × 66 cm, Museum Folkwang, Essen (Detail)
Krisenzustand, in welchem die Realität als eine immer erst zu erreichende Synthese erkannt wurde – als eine Synthese, die aus vielerlei Gründen auch misslingen kann. Insgesamt etablierte sich eine Auffassung des Sehens, das nicht länger auf einer Optik der Repräsentation, sondern vielmehr auf einer Ökonomie unterschiedlicher (physiologischer, psychologischer, kognitiver) Kräfte beruhte. Dieser permanente Krisenzustand, der im Akt des Sehens erkannt wurde, erfasste zeitgleich auch das Medium der Malerei – als umfassende, sich auf mehreren Ebenen niederschlagende Krise der Repräsentation. Bei Monet zeigt sich diese Krise zum einen in der Entscheidung, das finite Einzelwerk durch eine unabschließbare Bilderfolge zu ersetzen, welche die Synthese von Wahrnehmung und Wahrgenommenem beständig in die Zukunft verschiebt. Sie zeigt sich zweitens auf der Ebene des einzelnen Bildes, und zwar als erhebliches Schwanken der malerischen Bildzustände, die bald konvulsivisch aufgeworfene Oberflächen, bald ebenmäßig weiche Texturierungen aufweisen (vgl. Abb. 2 und 3). Und sie manifestiert sich schließlich drittens als Lockerung des Bezuges zwischen
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malerischem Signifikant und gegenständlichem Signifikat.9 Wie auf der Detailaufnahme des Washingtoner Gemäldes sichtbar wird (Abb. 2), ist dessen Oberfläche deutlich reliefiert, ja beinahe krustig. Monets Farbauftrag ist hier ohne klare Ausrichtung, gewissermaßen omnidirektional – mit der Folge, dass man das Detail auch andersherum betrachten könnte, ohne dass es auffiele. Häufig malte Monet auf bereits getrockneten Farbschichten, bemalte also gewissermaßen die eigene Malerei. Das betrifft hier insbesondere die lila Schlieren und Flecken, die entweder als Lichtreflexe des strahlend blauen Himmels oder aber als Schattenwürfe einzelner Fassadenteile aufgefasst werden können. Schatten wirft aber auch (wie das im Streiflicht von oben aufgenommene Detail gut sichtbar macht) die Malerei selbst, sodass in demselben Bild durch Malerei dargestellte Schatten und zugleich reale, von der Malerei auf die Bildoberfläche geworfene Schatten auftreten, mit anderen Worten ikonische und indexikalische Schatten miteinander konkurrieren. Wahrnehmung, verstanden als Gesamtheit jener Prozesse, die in unserem Bewusstsein die Welt zur Erscheinung bringen, und Malerei, verstanden als Gesamtheit jener medialen Prozesse, die im Gemälde ein Bild der Welt aufscheinen lassen, fließen in Monets Kathedralbildern ineinander. In der Bildoberfläche, deren ontologischer und semantischer Status bei Monet nicht zu fixieren ist, schlagen Figur und Grund, Wahrnehmungsprozess und Darstellungsprozess, Innen und Außen, Materie und Bewusstsein auf eine Weise ineinander um, als sei die Bildoberfläche weniger eine mit Farbe bedeckte Leinwand, sondern vielmehr eine Membran, in der sich das wahrnehmende Subjekt und die wahrgenommene Welt berührten. Monets Malerei ist eine sehr besondere Konkretisierung dafür, was hier in allgemeiner Weise behauptet wird: dass sich in den Kunstwerken der Moderne Bewusstseinsprozesse und mediale Prozesse ineinander spiegeln und wechselseitig aufeinander verweisen, bei Preisgabe jeder stabilen Relation zwischen ihnen. Was Monets malerische écriture zeigt, ist keine Repräsentation der Welt, sondern eine bestimmte, temporalisierte und prinzipiell offene Relation zur Welt. Deutlich wird, dass die Vermittlung von Selbst und Welt, die sich in dieser écriture ereignet, auf die Punktualität des Vollzugs beschränkt bleibt: auf je besondere Wahrnehmungsmomente, die zum Ausgangspunkt für prinzipiell immer wieder neue Darstellungsakte werden, welche diese Wahrnehmungsmomente einfangen wollen. Die Serialität, als Ausdruck eines grundsätzlich unabschließbaren künstlerischen Prozesses, ist eine der Konsequenzen, welche die Kunst aus der modernespezifischen Einsicht zieht, dass es keine stabilisierbare Synthesis zwischen Darstellung und Dargestelltem, das heißt keine Repräsentation im alten Sinne, mehr geben kann. Die ‚Berührung‘ von Innen und Außen, Selbst und Welt, die sich bei Monet im Zeichen der Wahrnehmung vollzieht, ist von deren malerischer Performanz nicht ablösbar, mit der Folge, dass Monet sie immer aufs Neue wiederholt – als Wiederholung eines Bildes und als Wiederholung seiner selbst.
9 Eine brillante Analyse von Monets Malweise, der das Folgende zentrale Argumente (sowie die Detailaufnahme des Gemäldes) verdankt, bei James Elkins, What Painting Is, London 1999, S. 9–19.
courbets repliken erschaffung und aufhebung des originals in der kopie
daniela stöppel Gustave Courbet kann als notorischer Wiederholungstäter gelten: Etwa ein Drittel seines Œuvres weist selbstwiederholenden Charakter auf, wie ein vergleichender Blick in die bestehenden Werkverzeichnisse zeigt.1 Neben Repliken seiner eigenen Werke fertigte er zahlreiche Kopien nach alten und zeitgenössischen Meistern sowie Pastichen an, und auch das Aufgreifen von eigenen Bildelementen muss als ein wesentlicher Aspekt seines Schaffens angesehen werden. Diese von Courbet offensiv betriebene Wiederholungspraxis wurde bislang in der Forschung nur selten und wenig differenziert betrachtet, sodass hier zunächst eine genauere Charakterisierung der einzelnen Werkgruppen, die wiederholende Aspekte enthalten, gegeben werden soll. Daran schließen sich Fragen nach der spezifischen Funktion der (Selbst-)Wiederholung bei Courbet an. Dies soll insbesondere am Beispiel seiner Repliken, der werkgetreuen Kopien eigener Bilder aus seiner Hand, geschehen. Eine solche Analyse gibt nicht nur Aufschluss über Courbets künstlerisches Selbstverständnis, sondern auch über die Konflikte, die das Originalitätsgebot der beginnenden Moderne und die neuen technischen Reproduktionsmedien für einen Künstler aufwerfen, dessen Kopierpraxis sich aus tradierten Formen der Künstlerausbildung und aus einem historistisch geprägten Kunstverständnis ableiten lässt. So soll hier nicht etwa versucht werden, die bis in unsere Gegenwart hinein eher abwertende Haltung gegenüber den selbstwiederholenden Aspekten in Courbets Schaffen in ihr Gegenteil zu wenden, indem man ihm beispielsweise eine Art Protoserialität und damit künstlerische Originalität zuspräche, sondern es soll gezeigt werden, dass die normative Unterscheidung in Original und Kopie im Falle Courbets nicht greifen kann und von Courbet sogar bewusst unterlaufen wurde. Eine formelhafte Wiederholung von Bildmotiven und deren versatzstückhafte Verwendung findet sich in zahlreichen Werken Courbets: So kommen vor allem Landschaftsmotive, wie bestimmte Baum- oder Steinformationen, aber auch identische Tier- oder Personengruppen in immer wieder neuen Konstellationen vor.2 Eine solche Praxis ist nicht nur charakteristisch für Courbet, sondern bestimmt die westliche Malerei 1 Robert Fernier, La vie et l’œuvre de Gustave Courbet, 2 Bde., Lausanne 1978/79; Pierre Courthion, Tout l’œuvre peint de Courbet, Paris 1987 (Mailand 1985). 2 Als ein Beispiel kann hier das Motiv einer Baumgruppe genannt werden, das in mehreren Gemälden variiert wird: Eine Herbstlandschaft Entrée de forêt (Fernier 1978/79 [wie Anm. 1], WVZ-Nr. 477), die sich in Abwandlung auch als Winterlandschaft findet (ebd., WVZ-Nr. 486) und heute als Arbres sous la neige in Edinburgh aufbewahrt wird. Eine weitere Landschaft (ebd., WVZ-Nr. 266) mit dem Titel La forêt, l‘hiver zeigt in der linken Bildhälfte ebenfalls ein ähnliches Motiv mit drei Rehen (heute im Cincinnati Art Museum). Verwendung fand das Motiv außerdem in der großen Figurenkomposition Le repas de chasse (ebd., WVZ-Nr. 231), die im Kölner Wallraf-Richartz-Museum verwahrt wird.
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im Grunde seit ihren Anfängen. Die Wiederaufnahme von Motiven ist vor allem einem effizienten Arbeiten und dem Ausschöpfen bewährter Bildfindungen geschuldet. Die schematische Wiederverwendung bestimmter Motive oder auch Kompositionsschemata hing häufig nicht nur mit einem arbeitsteiligen Werkstattbetrieb, in dem auf Vorlagenbücher und Ähnliches zurückgegriffen wurde, zusammen, sondern gewährleistete auch eine gewisse Typik und damit Wiedererkennbarkeit. Courbets Atelier war zwar nicht als Werkstattbetrieb im engeren Sinne organisiert, aber der Künstler arbeitete vor allem während seines Schweizer Exils mit verschiedenen Assistenten zusammen. Insbesondere die Produktion ab den 1870er Jahren wurde in der Forschung häufig negativ bewertet. So spricht beispielsweise Meier-Graefe von den „zahlreichen Banalitäten seiner ungezügelten Produktion“ oder von „kritikloser Überproduktion, um mit den drückenden Schulden fertig zu werden“ und bezeichnet es als „Leichtsinn Courbets“, „weil er sich in den Jahren nach 70 geringer Mitarbeiter bediente und seine Signatur durch eine Menge kaum von ihm berührter Landschaften entwertete“.3 Tillier hingegen sieht in dieser Zusammenarbeit eine bewusst gewählte kollaborative Praxis und wendet damit den Vorwurf des schematischen Werkstattbetriebes ins Positive.4 Zielführender scheint indes eine andere Einschätzung zu sein, wie sie unter anderem Berthold Hinz am Beispiel der Cranach-Werkstatt aufgezeigt hat.5 Ihm zufolge herrschte insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der kunsthistorischen Forschung eine grundsätzlich abwertende Haltung gegenüber kollaborativen Praktiken vor, was nicht nur dazu geführt habe, dass insbesondere Cranachs Spätwerk durch Händescheidung und „Datierungsbetrieb“ in Archetypen und Abwandlungen qualitativ unterschieden werden sollte, sondern auch dazu, dass man sich mit den Variantenbildungen nur wenig beschäftigt habe. Hinz stellt hierzu fest, dass sich „solche tendenziell seriellen Leistungen“ zwar vor allem der Marktnachfrage verdankten, dies aber „eine inspirierte Leistung keineswegs“ ausschließe. In der „konfektionellen Praxis“ der Cranach-Werkstatt könne er indes durchaus ein „Spiel der Gedanken und Sinne“ erkennen.6 Courbets Arbeitsweise steht damit eher in einer Traditionslinie mit überkommenen Praktiken, als dass diese ihn davon abhöbe. Denn es scheint ebenfalls einer effizienten Bildproduktion geschuldet zu sein, wenn Courbet ganze Bildfindungen wiederholte, diese aber beispielsweise durch die Hinzufügung von Staffagefiguren oder durch andere kleine Änderungen individualisierte. So konnte eine einmal gefundene Bildkomposition mehrfach verwendet und angepasst werden. Solche Variantenbildungen lassen sich vielfach nachweisen, hier sei das Beispiel einer Landschaftsszene, die einmal ohne Staffage, einmal mit einer Schäferin und ein drittes Mal mit einer Fischerszene ausge3 Julius Meier-Graefe, Courbet, München 31924, S. 28, S. 46 und S. 54. 4 Vgl. Bertrand Tillier, Pour une pratique collective de la peinture, in: Gustave Courbet. Les Années Suisses, Ausst.-Kat. Musée Rath, Musées d’Art et d’Histoire de la Ville de Genève 2014/15, Paris 2014, S. 30–35. 5 Berthold Hinz, „Sinnwidrig zusammengestellte Fabrikate?“ Zur Varianten-Praxis der Cranach-Werkstatt, in: Claus Grimm/Johannes Erichsen/Evamaria Brockhoff (Hg.), Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken, Ausst.-Kat. Festung Rosenberg Kronach/Museum der Bildenden Künste, Leipzig/Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg, Regensburg 1994, S. 174–179. 6 Ebd., S. 175.
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führt wurde.7 Auch in Courbets Korrespondenz finden sich Belege für eine derartige Produktionsweise. So berichtet er 1865 an seinen ‚Galeristen‘ Jules Luquet über ein Seestück, von dem er drei gleiche bereits verkauft habe.8 Dieser offene Umgang mit dem Thema lässt bereits vermuten, dass Courbet Wiederholungen und Abwandlungen nicht nur aus ökonomischen Gründen vornahm, sondern dass er die Idee des singulären, einzigartigen Kunstwerks, wie es das Verständnis der Moderne bestimmen sollte, in dieser Form nicht teilte. Im Zeitalter aufkommenden Originalitätsdenkens handelte ihm diese Praxis freilich von Kritikern den Vorwurf ein, von der Stange und für den Markt zu produzieren und dem Authentizitätsgebot nicht zu genügen. Interessanterweise wird dieser Vorwurf insbesondere von den Vertretern der social art history weitergeführt, so spricht Timothy James Clark noch 1973 davon, die Landschaften Courbets seien „imprisoned with a formula“.9 Insbesondere in Verbindung mit Courbets eigentümlicher Bildorganisation, bei der das Hauptmotiv oft räumlich unverbunden vor dem Hintergrund steht und damit einen fast collagehaften, montierten Eindruck erzeugt, konnte diese Mehrfachverwendung von Einzelmotiven jedoch auch als in Einklang mit ‚modernen‘, collageartigen Bildprinzipien wahrgenommen werden. Dies wurde insbesondere von einer jüngeren Künstlergeneration als innovative Bildform erkannt, aufgegriffen und weitergetrieben.10 Neben diesen Motivwiederholungen finden sich bei Courbet die ‚Serien‘ der Puits noir, der Marines, der Vagues, des Felsens von Étretat oder des Château de Chillon. Der Begriff ‚Serie‘ wird von Courbet selbst unscharf verwendet. So bezeichnete er damit nicht nur die oben genannten Werkgruppen, sondern in seinen Augen bildeten auch die motivisch sehr unterschiedlichen Bilder Les casseurs de pierre und Les paysans de Flagey revenant de la foire eine ‚Serie‘11 – in diesem Fall benennt er die Folge Sur la grande route.12 Aber auch erstere ‚Serien‘ sind nicht in einem engen Sinne als ‚serielle künstlerische Praxis‘ zu werten, wenngleich dies immer wieder behauptet wurde.13 Denn sie widmen sich zwar je einem immer gleichen Motiv auf unterschiedliche Art, 7 Siehe Fernier 1978/79 (wie Anm. 1), WVZ-Nr. 567, 568, 569. 8 Petra ten-Doesschate Chu (Hg.), Correspondance de Courbet, Paris 1996 (Chicago 1992), S. 236, Brief-Nr. 65-11: „(…) la petite Marine que vous avez, je désire la vendre 290. La pareille a été vendue à M. Fanton, 300; une autre pareille au peintre de paysage qui reste rue de S(ain, P. t-D. C.)ts-Pères et quai Voltaire, 300; un autre à M. Gaudin des Saintes, 300.“, dt. Übers. der Autorin: „Das kleine Seestück, das Sie haben, wünsche ich für 290 zu verkaufen. Das gleiche ist verkauft worden an M. Fanton, für 300. Ein weiteres gleiches an den Landschaftsmaler, der in der Rue Saint-Père und am Quai Voltaire wohnt, für 300; ein weiteres an M. Gaudin in Saintes, für 300.“ 9 Timothy James Clark, Image of the People. Gustave Courbet and the 1848 Revolution, London 1999 (1973), S. 172. 10 Vgl. dazu insbes. das Werk von Frédéric Bazille, beispielsweise das Gemälde Scène d’été, 1869, Cambridge Fogg Art Museum, Harvard University. 11 Fernier 1978/79 (wie Anm. 1), WVZ-Nrn. 101 und 107. 12 Brief Courbets an Francis Wey, datiert auf den 22. Dezember 1853, in: Chu 1996 (wie Anm. 8), S. 110f., Brief-Nr. 53-7. 13 So bei Mary Morton, Courbet, Cézanne: L’art de peindre en série, in: Denis Coutagne (Hg.), Courbet/Cézanne. La vérité en peinture, Ausst.-Kat. Musée Gustave Courbet Ornans, Lyon 2013, S. 72–85 (dort zur ,Serie‘ der Puits noir) oder auch Antoine Rufenacht, Avant-propos, in: Annette Haudiquet/Jean-Pierre Mélot (Hg.), Vagues, Ausst.-Kat. Musée d’art moderne André Malraux Le Havre, Paris 2004, S. 9f., hier S. 9.
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thematisieren aber Temporalität oder allgemein zeitliche Abfolge nicht auf eine konzeptionelle, reflektierte Weise. Wenngleich Claude Monet von Courbets Serien, die Édouard Manet als „heures“ bezeichnete,14 zu seiner eigenen seriellen Praxis angeregt worden sein dürfte, kann für Courbet eine strenge serielle Arbeitsweise nicht nachgewiesen werden. Vielmehr scheint es Courbet um eine Form von Schnellmalerei gegangen zu sein, die im Impressionismus zwar aufgegriffen wurde, sich aber einer anderen Motivation, auf die noch einzugehen sein wird, verdankt. Innerhalb dieser Werkgruppen, sowohl bei den großen Wellenbildern als auch bei den Darstellungen von Le château de Chillon, finden sich zudem auch ‚echte‘ Repliken; also nicht nur Motivadaptionen oder -abwandlungen, sondern werkgetreue, eigenhändige Kopien einzelner Bilder. Solche Repliken sind indes nicht auf die ‚Serien‘ beschränkt, sondern Courbet kopierte auch viele seiner singulären Kompositionen, darunter einige Hauptwerke und zentrale Selbstporträts, wie L’homme blessé oder das Selbstporträt mit der Pfeife.15 Von diesen eigenhändigen Repliken abzugrenzen sind zudem Gemeinschaftsarbeiten, Nachahmungen und Fälschungen.16 Die Vielzahl der Werke, die Courbet nicht eindeutig zuzuschreiben sind, erschwert bis heute die kunsthistorische Forschung und hat möglicherweise auch die Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Selbstwiederholung blockiert. Neben der Frage der Authentizität, die bei vielen Courbet zugeschriebenen Werken letztlich nicht zu entscheiden ist, stellen sich Probleme der Datierung. Diese Schwierigkeiten spiegeln sich nicht zuletzt in den unscharfen Werkverzeichnissen von Fernier und Courthion wider. Sie veranlassten auch Klaus Herding 1981, die bereits 1977 von Hélène Toussaint geäußerte Feststellung, insbesondere das Spätwerk Courbets, und darunter vor allem die Landschaften, sei schlicht nicht datierbar, zu bestätigen.17 Herding wies außerdem darauf hin, dass etwa 300 der knapp 1500 bei Fernier gelisteten 14 In einem Brief Manets der 1870er Jahre an Jean Béraud „à propos de Monet“ heißt es: „J’insiste sur ce dernier mot (heure), car Courbet a eu un cri sublime, en répondant Daubigny, qui le complimentait sur un étude de mer: ‚Cela n’est pas une étude de mer, c’est une heure.‘ Voilà ce que l’on ne comprend pas encore assez, c’est que l’on ne fait pas un paysage, une marine, une figure; on fait l’impression d’une heure de la journée dans un paysage, dans une marine, sur une figure.“, zit. n. Juliet Wilson-Bareau (Hg.), Manet par lui-même. Correspondance et conversations, peintures, pastels, dessins et estampes, Paris 1991, S. 169, dt. Übers. der Autorin: „Ich bestehe auf diesem letzten Wort (Stunde), denn Courbet hat einen überwältigenden Aufschrei gemacht, als er Daubigny antwortete, der ihn zu einer Meeresstudie beglückwünscht hatte: ‚Das ist keine Meeresstudie, das ist eine Stunde.‘ Hier sieht man, was man noch nicht genug versteht, nämlich, dass man nicht eine Landschaft, ein Seestück oder eine Figur macht; man macht den Eindruck einer Stunde des Tages in einer Landschaft, in einem Seestück oder auf einer Figur.“ 15 Zu L’homme blessé siehe Fernier 1978/79 (wie Anm. 1), WVZ-Nrn. 51 und 546. Zu L’homme à la pipe siehe ebd., WVZ-Nrn. 39, 40 und 41. 16 Vgl. dazu Vincent Chenal, Le marché de l’art dans la région lémanique, in: Genf 2014/15 (wie Anm. 4), S. 36–41. 17 Zu den Werkverzeichnissen siehe Anm. 1; Klaus Herding, Rezension von Robert Fernier, Gustave Courbet. Catalogue raisonné I/II, Lausanne/Paris 1977–78, in: Bruckmanns Pantheon. Internationale Zeitschrift für Kunst 3, 39, 1981, S. 282–286, hier S. 282; Toussaints Äußerung in: Gustave Courbet (1819–1877), Ausst.-Kat. Grand Palais, Paris 1977/Royal Academy of Arts, London 1977/78, Paris 1977, S. 140.
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1 Gustave Courbet, Le château de Chillon, 1874, Öl auf Leinwand, 86 × 100 cm, Musée Gustave Courbet, Ornans
Werke, darunter auch Repliken, falsch zugeschrieben seien. Bereits zu Courbets Lebzeiten seien Fälschungen bekannt geworden, ein Phänomen, das auch in den Jahrzehnten nach seinem Tod nicht abriss.18 Aber nicht nur die empirische Grundlagenforschung stößt angesichts der Wiederholungspraxis Courbets auf Schwierigkeiten, sondern auch die Erklärungen dafür, warum Courbet überhaupt so viel kopiert, wiederverwendet und repliziert hat, bleiben schematisch und folgen nicht selten einer herabsetzenden, wenn nicht gar inkriminierenden Bewertungslogik, die Kopien, Repliken und Gemeinschaftsarbeiten dem ‚Original‘ als minderwertig unterordnet. So vertritt Petra ten Doesschate-Chu die Ansicht, Courbet habe, insbesondere während der finanziell klammen Zeit im Schweizer Exil, seine Bilder von Le château de Chillon als touristische Massenware konzipiert und diese an eine internationale Käuferschicht adressiert (Abb. 1).19 Auch die Landschaften, die etwa zwei Drittel des 18 Herding 1981 (wie Anm. 17), S. 286. 19 Petra ten-Doesschate Chu, Le „Marketing“ du château de Chillon, in: Genf 2014/15 (wie Anm. 4), S. 186–193: „Cette production presque industrielle fait penser à la fabrication en masse de souvenirs pour touristes.“ (S. 187) und „(…) il cherche à placer ses scènes de paysages helvètes sur le marché international.“ (S. 192), dt. Übers. der Autorin: „Diese fast industrielle Produktion lässt an die Massenfabrikation von touristischen Souvenirs denken. (…) er versuchte seine Schweizer Landschaftsszenen auf dem internationalen Markt zu platzieren.“
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Gesamtwerks Courbets ausmachen, seien ausschließlich für den Markt produziert und je nach Stilistik an unterschiedliche Bevölkerungsgruppen gerichtet gewesen.20 Chu bricht somit nicht mit der klassischen Bewertungslogik von ‚gutem‘, in künstlerischer Autonomie erschaffenem, und ‚schlechtem‘, für den Markt erzeugtem Kunstwerk. Wie Chu selbst konstatiert, ist Marktorientierung ein wesentliches Charakteristikum des modernen Künstlertums und die Feststellung, dass Courbet seine Produktion gezielt am Markt ausrichtete, ist sicherlich ebenfalls nicht falsch.21 Sie verleitet aber leicht dazu, insbesondere das Spätwerk und die Landschaften pauschal als künstlerisch weniger bedeutend zu klassifizieren und ikonografische wie auch formale Leistungen Courbets auf diesem Gebiet zu übersehen als auch das Potenzial der Wiederholung selbst als künstlerische Strategie außer Acht zu lassen. Viele Landschaften und insbesondere die zahlreichen Versionen und Fassungen des Schlosses von Chillon werden in der Kunstgeschichte eher als Produktion minderer Qualität abgetan, was nicht zuletzt auch die 2014 in Genf gezeigte Ausstellung suggerierte, bei der diese Werkgruppe als einzige in Petersburger Hängung präsentiert wurde. Versionen des Motivs lassen sich jedoch durchaus in den Sammlungen von bekannten Sammlern und Freunden des Künstlers nachweisen, was die These einer touristenorientierten Massenware relativiert. So schenkte Jean-Paul Mazaroz, der im Besitz zahlreicher Werke Courbets war, 1886 dem Musée des Beaux-Arts in Lons-le-Saunier eine Ansicht von Chillon.22 Der Keramiker Max Claudet, der mit Courbet befreundet war, fertigte nach Courbets Tod einen Sammelteller mit dem gleichen Motiv.23 Ganz offensichtlich sollte hier an den im Exil verstorbenen Künstler erinnert werden. Gemälde mit dem Motiv der Puits noir lassen sich ebenfalls in Sammlungen von Courbet nahestehenden Personen nachweisen.24 Größere Wertschätzung indes genießen heute die Gruppen der Marines und der Vagues, die Courbet zwar ebenfalls in hohen Stückzahlen und als Messermalerei sehr schnell ausgeführt hat, aber aufgrund ihres vergleichsweise hohen Abstraktionsgrades moderne Bildkonzepte stärker zu antizipieren scheinen. Wie oben bereits angedeutet, können Courbets Wellenbilder und Seestücke aber allenfalls als Resultate eines Arbeitens ‚in Serie‘, nicht jedoch eines ‚seriellen Arbeitens‘ gelten. Auch Courbet selbst betonte die Serialität der Arbeiten nicht, sondern hob in einer autobiografischen Notiz von 1866 einen anderen Aspekt vor: „Courbet produit par série, quand son idée ou sa situation le porte à un sujet appartenant à la société moderne. Il en résulte vingt ou 20 Petra ten-Doesschate Chu, The most arrogant man in France. Gustave Courbet and the nineteenth century media culture, Princeton/Oxford 2007, S. 146f. Auch die Grottenbilder seien für Touristen gemalt worden (ebd., S. 154). Siehe auch Dies., Courbet et la commercialisation de son œuvre, in: Jörg Zutter/Dies. (Hg.), Courbet. Artiste et promoteur de son œuvre, Ausst-Kat. Musée Cantonal des Beaux-Arts Lausanne 1998/99/Nationalmuseum Stockholm 1999, Paris 1998, S. 53–81, insb. S. 54 und S. 81. 21 Ebd., S. 81. 22 Musée des Beaux-Arts in Lons-le-Saunier, Inv.-Nr. 2006.1.1. 23 Musée Max Claudet, Salins-les-Bains, Inv.-Nr. 1987.1.7. 24 Vgl. Catalogue de Tableaux Anciens des Écoles Française, Flamande et Hollandaise. Tableaux modernes parmi lesquels 24 Œuvres importantes de G. Courbet formant la Collection de M. Mazaroz-Riballier. Hotel Drouot Paris 1890, S. 9, Nr. 13 (Le ruisseau de Puits noir) und S. 11, Nr. 17 (Le Puits noir). Vgl. auch Chu 1996 (wie Anm. 8), S. 176 (Bericht über einen Käufer aus der Franche-Comté).
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2 Gustave Courbet, Marée basse à Trouville, 1865, Öl auf Leinwand, 59,5 × 72,6 cm, Walker Art Gallery, Liverpool
trente tableaux.“25 Bildserien verdanken sich, möchte man Courbets Einschätzung teilen, also der Modernität des Motivs. Eine ähnliche Haltung findet sich auch im Katalog seiner Pariser Einzelausstellung 1867 wieder, wo es zu seinen Marines heißt: „MARINES DIVERSES, exécutées, ainsi que les précédentes, au cours d’une saison de bains de mer à Trouville, pendant l’été de 1865.“26 Courbet hielt folglich seine Schnellmalerei nicht geheim, sondern stellte diese im Gegenteil sogar offensiv in den Vordergrund und begriff sie als der Modernität der Sujets angemessene Arbeitsweise. Nichtsdestotrotz ließen sich die Seestücke (Abb. 2) aufgrund ihrer informellen Machart und ihres formalen Abstraktionsgrades in das teleologische Modell des Modernismus besser einschreiben als das formal und motivisch eher konservativ anmutende Schloss von Chillon. 25 Zit. n. Pierre Courthion (Hg.), Courbet. Raconté par lui-même et par ses amis. Ses écrits, ses contemporains, sa postérité, 2 Bde., Genf 1948/50, Bd. 2, S. 30, dt. Übers. der Autorin: „Courbet produziert in Serie, wenn seine Idee oder seine Lage ihn zu einem Motiv führen, das zur modernen Gesellschaft gehört. Es ergeben sich daraus zwanzig oder dreißig Bilder.“ 26 Exposition des Œuvres de M. G. Courbet, Ausst.-Kat. Rond-Point du Pont de L’Alma Paris 1867, Paris 1867, S. 17, dt. Übers. der Autorin: „VERSCHIEDENE SEESTÜCKE, ausgeführt, wie die vorherigen, im Laufe einer Strandbadesaison in Trouville, während des Sommers 1865.“
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Ich möchte mich hier jedoch keinem der genannten Erklärungsversuche, weder dem ökonomischen Argument der social art history noch der Protoabstraktionsthese der modernistischen Lesarten, anschließen. Produktiver erscheint mir hingegen eine medienhistorische Kontextualisierung mit der Fotografie, die – darauf hat bereits Stephanie Marchal hingewiesen –, als wiederholendes Bildgebungsverfahren durchaus Vorbildcharakter für Courbet hatte. So weist Marchal auf Courbets Überlegungen hin, nicht verfügbare Selbstbildnisse in Ausstellungen als Kopien zu zeigen, und legt dar, dass Courbet im Katalog zu seiner Einzelschau von 1867 angeboten habe, die Exponate auf Wunsch in beliebiger Größe eigenhändig zu ‚kopieren‘. Sie vergleicht dies mit der Arbeit eines Fotografen, „der unbegrenzt viele Abzüge von seinen Lichtbildern machen und feil bieten (sic) kann“.27 Ähnliches legen bereits die beiden oben zitierten Textpassagen nahe, in denen Courbet seine Sujets wie fotografische Motive beschreibt, die er nicht erfindet, sondern denen er ‚begegnet‘. Auch über Théophile Silvestres Courbet-Biografie, die 1856 in der Reihe Les Artistes français erschien, ist uns eine durchaus technikgeleitete Einstellung Courbets zum Wiederholen von Bildern bekannt: „La peinture est pour maître Courbet un art ‚volontaire, mathématique‘. ‚Le peintre puissant, dit-il, doit être capable d’effacer et de refaire dix fois de suite sans hésitation son meilleur tableau pour prouver qu’il n’est l’esclave ni du hasard ni de ses nerfs.‘ Cette affectation de raison, de logique et de volonté refroidit les facultés naturelles de notre ami. (…) Le geste lui manque. (…) Que vaut l’exactitude sans l’expression.“28 Ein Künstler, der nicht Sklave des Zufalls oder seiner Nerven sein wolle, müsse in der Lage sein, sein bestes Bild zehnmal hintereinander zu wiederholen, so Courbet. Silvestre erklärt damit die Kälte und das Fehlen einer individuellen Handschrift in Courbets Werken, was er als Mangel beklagt. Die Analogie zur Maschine respektive zur Mathematik führe nach Silvestre zu einem Defizit an künstlerischem Stil, an Geste oder touche und damit zu rein mechanischer Reproduktion. Courbet, der diese Nähe zu technischen Reproduktionsmedien offenbar selbst gesucht hat und damit wohl vor allem die Objektivität, die der Realismus beanspruchte, betonen wollte, hat die Lesart seiner Bilder als rein mechanische Wiederholungen selbst provoziert. Da das Reproduktive bei Courbet aber nie nur die innerkünstlerische Selbstwiederholung meint, sondern auch und vor allem sein Verhältnis zum Gegenstand, und demnach 27 Stephanie Marchal, Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen, München 2012, S. 348. Dies konnte anhand des genannten Katalogs von 1867 nicht verifiziert werden. 28 Théophile Silvestre, Courbet, in: Ders., Les artistes français. Ingres – Eugène Delacroix – Corot – Chenavard – Decamps – Barye – Diaz – Courbet – Préault – Rude. Études d’après nature, Paris (nach 1878) (11855/56), S. 112–144, hier S. 136, dt. Übers. der Autorin: „Die Malerei ist für Meister Courbet eine ‚willentliche, mathematische‘ Kunst. ‚Der fähige Maler‘, so sagt er, ‚muss fähig sein, sein bestes Gemälde auszuführen und zehnmal ohne Zögern in Folge zu wiederholen, um zu beweisen, dass er weder der Sklave des Zufalls noch seiner Nerven ist‘. Diese affektierte Rationalität, Logik und Willentlichkeit kühlten die natürlichen Fähigkeiten unseres Freundes ab. (…) Ihm fehlt die Geste. (…) Was zählt die Genauigkeit ohne den Ausdruck.“
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das mimetische Repräsentationsverhältnis an sich beschreibt, kann das Verhältnis zum repräsentierten Gegenstand nicht von dem Verfahren der Wiederholung selbst getrennt werden. Diesen Bezug stellt auch Gabriele Brandstetter her: „Die Leitdifferenz von ‚originell‘ und ‚imitativ‘ meint den Autorbegriff: die Vorstellung von Autorschaft als Schöpfertum, den Gedanken von Mimesis im Sinne der ‚natura naturans‘.“29 Das imitative Verhältnis Courbets zu seinem Gegenstand rückte ihn also in die Nähe der hervorbringenden Natur und weg vom schöpferischen Genie. Bereits 1863 schrieb sein Freund Max Buchon: „À voir Courbet un instant à l’ouvrage, on dirait qu’il produit ses œuvres (…) comme un pommier produit des pommes.“ Er stellt dies in direkten Zusammenhang mit der Schnellmalerei: „Pour mon compte, je n’ai jamais compris qu’il fut possible de déployer plus de puissance et de rapidité dans le travail. Sous ce rapport au moins, Courbet, doit être le premier peintre du monde.“30 Der Kunsttheoretiker Thoré-Bürger rückte Courbets Schaffen 1866 noch weiter in die Nähe natürlicher Selbsthervorbringung: „Courbet a déjà peint mille tableaux peut-être et je ne crois pas qu’il ait jamais fait une hérésie contre son idée, qui est d’exprimer la vie vivante, ‚la nature naturante‘, ce qu’il peut saisir de visu. Aussi peint-il vite et juste.“31 Nach seinem Tod greift die Naturalisierung Courbets vollends Raum: So zählt Camille Lemonnier Courbet zu den „vaches laitières de l’art“, zu den Milchkühen der Kunst,32 womit ihm jegliches Originalitätsdenken abgesprochen und sein Schaffen gezielt verharmlost wurde.33 Das Reproduktive war nach dieser Lesart natürlichen Schöpfungsprozessen gleichgesetzt und damit entpolitisiert. Durchaus noch dieser Traditionslinie verhaftet wertet auch Meier-Graefe Courbets Schnellmalerei als lustvoll und animalisch.34 Courbet wird bei ihm zur „Mutter der Modernen“, denn: „Die Milch, die Courbet aus hundert Brüsten strömen ließ, hätte kein anderer dem Kind 29 Gabriele Brandstetter, „Fälschung wie sie ist, unverfälscht“. Über Models, Mimikry und Fake, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hg.), Mimesis und Simulation, Freiburg i. Br. 1998, S. 419–449, hier S. 420. 30 Max Buchon, Noëls et chants populaires de la Franche-Comté, Salins 1863, S. 8, dt. Übers. der Autorin: „Wenn man Courbet einen Moment am Werk sähe, würde man sagen, dass er seine Werke produziere, wie ein Apfelbaum seine Äpfel produziere. (…) Ich meinerseits habe nie verstanden, dass er in der Lage war, so viel Kraft und Geschwindigkeit in der Arbeit zu entfalten. Unter diesem Aspekt jedenfalls müsste Courbet der erste Maler der Welt sein.“ 31 Théophile Thoré-Bürger, Salons de W. Bürger, Bd. 2, 1861 à 1868, Paris 1970, S. 281, dt. Übers. der Autorin: „Courbet hat vielleicht bereits tausend Bilder gemalt, und ich glaube nicht, dass er je eine Häresie gegen seine Idee verübt hat, die bedeutet, das lebende Leben, die ‚natura naturans‘ auszudrücken, die man de visu begreifen kann. Auch malt er schnell und richtig.“ 32 Camille Lemonnier, G. Courbet et son œuvre, Paris 1878, S. 67. 33 Vgl. Linda Nochlin, The De-Politicization of Gustave Courbet: Transformation and Rehabilitation under the Third Republic (1982), in: Dies., Courbet, London 2007, S. 116–127. 34 Meier-Graefe 1924 (wie Anm. 3), S. 11.
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der neuen Zeit gereicht.“35 Meier-Graefe betont jedoch auch die Provokation, die in Courbets Fokussierung auf das rein Materielle liegt, denn: „Etwas Ungeistiges kommt in die Kunst.“ – und führe damit zu einer grundsätzlichen Beunruhigung.36 Dass im Reproduktiven, vor allem in den Abdruck-Verfahren, auch ein Akt des Widerständigen, Anti-Akademischen und Anti-Idealistischen gesehen werden kann, wurde jedoch erst wieder von Georges Didi-Huberman betont – ohne dies freilich direkt auf Courbet zu beziehen.37 Courbets Werk kann allerdings nur schwer auf einer rein technisch-reproduktiven Ebene verstanden werden. Dazu weichen seine Bildfindungen zu sehr von dem ab, was man als naturalistisch wiedergegebene ‚Wirklichkeit‘ bezeichnen könnte. Schon den Zeitgenossen war klar, dass Malerei nie einer fotorealistischen Wiedergabe von Wirklichkeit entsprechen kann. So fasste Champfleury zusammen: „La reproduction de la nature par l’homme ne sera jamais une reproduction, ni une imitation, ce sera toujours une interprétation.“38 Auch der Vorwurf der trockenen, unterkühlten Wiedergabe wurde schon von Zeitgenossen korrigiert. So wurden Lebendigkeit und Fleischlichkeit durchaus als charakteristische Merkmale von Courbets Malerei wahrgenommen. Emile Zola zählte ihn zu den „faiseurs de chair“, den „Fleisch-Machern“.39 Diese Sichtweise wurde aber offenbar von Courbet selbst nicht forciert und damit auch von seinem ersten Biografen Silvestre nicht aufgenommen. Gerade diese Frage nach Lebendigkeit in der Kunst stellt sich jedoch auch in einem Bereich, den man ebenfalls lange unter dem Aspekt der mechanischen Reproduktion betrachtet hat: dem der werkgetreuen Reprise oder Kopie. Denn interessanterweise verzichtet gerade die Praxis des Kopierens im 19. Jahrhunderts nicht auf die normative Kategorie der Lebendigkeit. Wenn beispielsweise an einer – schlechten – Kopie kritisiert wurde, sie sei „nicht so lebendig wie das Original“,40 dann macht sich hier die Forderung nach Lebendigkeit zumindest ex negativo geltend. So war eines der meist kopierten Werke des 19. Jahrhunderts Tizians Venus von Urbino, das gerade aufgrund der Lebendigkeit und Fleischlichkeit des dargestellten Frauenakts zur Nachahmung in der Kopie herausforderte.41 Wenn Franz von Lenbach, der das Bild im Auftrag von Alexander Graf von Schack kopieren sollte, diesem versichert, er wolle es „nochmal 35 Ebd., S. 53. 36 Ebd., S. 52. 37 Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999. 38 Champfleury, Quelles sont à peu près les tendances pratiques du réalisme, in: Max Buchon (Hg.), Le réalisme. Discussions esthétiques. Recueillis et commentées, Neuchâtel 1856, S. 34, dt. Übers. der Autorin: „Die Wiedergabe der Natur durch den Menschen wird niemals eine Reproduktion, noch eine Imitation sein, sie wird immer eine Interpretation sein.“ 39 Émile Zola, Mes Haines. Causerie littéraires et artistiques, Paris 1866, S. 35. 40 So eine Kritik an einer Tizian-Kopie von August Wolf, zit. n. Ilka Voermann, Die Kopie als Element fürstlicher Gemäldesammlungen im 19. Jahrhundert, Berlin 2012, S. 57. 41 Vgl. zu Kopien der Venus von Urbino als Wettstreit und Übertrumpfung: Tamara F. Hufschmidt, Die ‚Venus von Urbino‘ im Paragone. Tizians Werk in der Rezeption Jean-Auguste-Dominique Ingres’, Abraham Constantins und Lorenzo Bartolinis, in: Martina Hansmann (Hg.), Pittura italiana nell’Ottocento. Convegno del Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut, Florenz, 7. bis 10. Oktober 2002, Venedig 2005, S. 515–534.
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existieren machen“,42 dann deutet sich hier ebenfalls an, dass er nicht nur eine mechanische Reproduktion im Sinn hatte, sondern die Neuschöpfung des Werks. Zudem ist überliefert, dass Schack Kopien die Fähigkeit zuerkannte, dieselben Empfindungen hervorzurufen wie Originale.43 Den Gradmesser für eine gute beziehungsweise schlechte Kopie stellte im Historismus also nicht das Kriterium einer künstlerischen Ab- und Anverwandlung des Motivs dar, sondern dessen Verlebendigung und Neuschöpfung in der Kopie. Eine Kopie mithin nur dann als ‚schöpferisch‘ zu bezeichnen, wenn sie das Vorbild abändert, ist ein weit verbreitetes Missverständnis, das letztlich das moderne Originalitätsgebot widerspiegelt.44 Das Kopieren von alten und zeitgenössischen Meistern erfüllte indes mehrere Funktionen. Es diente der Künstlerausbildung, und auch Courbet fertigte in seinen ersten Jahren in Paris zahlreiche Kopien an, die heute allerdings größtenteils nicht mehr erhalten sind oder übermalt wurden.45 Die Kopien dienten zugleich zur Finanzierung des Lebensunterhaltes, da sich diese wenngleich nicht teuer, aber doch gut verkaufen ließen. Im Falle Courbets ist belegt, dass er für einen gewissen „Panier“ sowie für einen Engländer Kopien anfertigte, die je für etwa 150 F. verkauft wurden.46 Durch die Auswahl der zu kopierenden Künstler positionierte man sich zugleich innerhalb der Malereigeschichte: So kann beispielsweise der Rückgriff Courbets auf Tizian als gezielte Positionierung im Kontext der venezianischen Malerei verstanden werden. Sein Selbstporträt L’homme à la ceinture en cuir, das über seine Kopie von Tizians Mann mit dem Handschuh gemalt wurde, stellte Courbet in seiner ersten Personale von 1855 als Études des venetiens aus und meint damit wohl nicht nur den Stil des finalen Bildes, sondern erweist auch dem übermalten Tizian damit eine gewisse Reverenz.47 Ein Landsmann Courbets, Edmé Gustave Frédéric Brun, schuf 1838 mit seinem Selbstporträt in der Haltung des Mann mit dem Handschuh eine solche Verschmelzung von eigener künstlerischer Identität mit Tizian.48 42 Zit. n. Andrea Pophanken, Graf Schack als Kunstsammler. Private Kunstförderung in München (1857–1874), München 1995, S. 140. 43 Ebd., S. 157. 44 Pophanken kommt indes zu der Einschätzung, die Kopien der Schack-Sammlung seien nur Verweise oder Substitute und keine „Faksimile“ (ebd., S. 159) und bewertet die „schöpferischen Kopien“ höher als die Werke „sklavischer Nachahmer“ (ebd., S. 156); auch die Pariser Ausstellung Copier Créer führte zwar Kopieren und Schöpfen gleichberechtigt im Titel, meinte mit Letzterem aber die ‚schöpferische‘ Altmeisterkopie, die sich eben gerade nicht im Detail an die Vorlage hält, sondern eine künstlerische Adaption vornimmt. Siehe: Laurence Posselle/ Jean-Pierre Cuzin (Hg.), Copier Créer. De Turner à Picasso. 300 œuvres inspirées par les maîtres du Louvre, Ausst-Kat. Musée du Louvre Paris, Paris 1993; die Courbet-Retrospektive von 1977/78 bewertete die Rembrandt-Kopie Courbets vor allem deswegen positiv, weil diese angeblich eine unabhängige Interpretation darstellt. Paris/London 1977/78 (wie Anm. 17), Kat.-Nr. 115, S. 206. 45 Vgl. Fernier 1977/78 (wie Anm. 1), WVZ-Nrn. 9, 14 und 62. 46 Vgl. Chu 1996 (wie Anm. 8), S. 38, Brief-Nr. 41-1 und S. 40, Brief-Nr. 41-2; zum allgemeinen Preisniveau vgl. Anm. 8. 47 Fernier 1977/78 (wie Anm. 1), WVZ-Nr. 93. 48 Gustave Brun, Autoportrait, 1838, Öl auf Leinwand, Musée des Beaux-Arts de Dole, Inv.-Nr. 147, abgebildet in: Éclectique XIXe. Les Beaux-arts à Dole 1820–1880, Ausst.-Kat. Musée des Beaux-Arts de Dole, Dole 2014, S. 38, Kat.-Nr. 10.
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3 Gustave Courbet, Malle Babbe (Kopie nach Frans Hals), 1869, Öl auf Leinwand, 85 × 71 cm, Hamburger Kunsthalle
Über die Vorbilder ließ sich nicht nur eine eigene Genealogie erschaffen, sondern man konnte sich durch die Wahl ungewöhnlicher Beispiele durchaus von akademischen Regeln abheben. Dieses Prinzip wurde im Übrigen auch von den Sammlern produktiv genutzt, die ihre Kollektionen gezielt mit Kopien ergänzten.49 Der genealogische Aspekt verband sich zudem mit einer kompetitiven Motivation: So stellte man sich als den Alten Meistern ebenbürtiger Künstler dar, der die Prinzipien der Malerei nicht nur beherrschte, sondern möglicherweise sogar noch zu steigern in der Lage war.50 Die Kopie hatte damit nicht nur die Aufgabe, das Bild möglichst identisch wiederzugeben, sondern diesem auch in puncto Lebendigkeit gleichzukommen oder dieses gar zu übertreffen. In Bezug auf Courbet existieren mehrere Anekdoten, die diesen Wettbewerbsaspekt bestätigen. So habe er eine Kopie der Malle Babbe (Abb. 3) in München an die Stelle des Originals gehängt, ohne dass dies bemerkt wurde.51 Oder aber, ein Schüler Courbets habe einem berühmten Kunstkritiker, der Courbet 49 Vgl. Voermann 2012 (wie Anm. 40). 50 Vgl. dazu insbes. Boimes Kapitel „The Copy“, in: Albert Boime, The Academy and French Painting in the Nineteenth Century, London 1971, S. 122–132. Dort insbes. zur Identifikation mit dem Vorbild (S. 123), zur Schwierigkeit, locker gemalte und spontan erscheinende Vorlagen zu kopieren (ebd.), zur Verbesserung des Vorbildes (S. 126) und zum „fetishistic view of the copy“ (S. 124). 51 Paul Collin, Courbet à la Tour-de-Peilz (1877), in: Courthion 1948/50 (wie Anm. 25), Bd. 2, S. 245–266, hier S. 257.
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äußerst ablehnend gegenüberstand, eines seiner unsignierten Bilder als Werk eines unbekannten Meisters zur Prüfung überlassen. Nach acht Tagen kam der Kritiker zu dem Schluss, es könne sich nur um einen Velázquez handeln. Der Schüler deckte die Täuschung auf – und machte Courbet somit zum doppelten Sieger: über Velázquez sowie über die Ressentiments des Kritikers.52 Dies schließt an die Anekdote aus Vasaris Vita des Andrea del Sarto an, nach der del Sarto Raffaels Porträt von Leo X. kopiert habe, um es an Stelle des Originals an den Herzog von Mantua zu schicken. Dort sei es selbst von Giulio Romano, einem Raffael-Schüler, nicht als Kopie erkannt, sondern als Original gefeiert worden.53 Eine ähnliche Anekdote findet sich auch bei Schack, der von Lenbachs Tizian-Kopie des Bildes Himmlische und irdische Liebe ebenfalls behauptete, man könne die Bilder austauschen, ohne dass dies bemerkt würde.54 Die hier erwähnten Altmeister-Kopien nach Rembrandt, Frans Hals und Velázquez hatte Courbet 1869 während eines München-Besuches angefertigt. Bei der Wahl der Vorlagen fällt nicht nur auf, dass sich diese sämtlich in eine Genealogie des Realismus einschreiben, sondern auch, dass die Bilder in einer Malweise ausgeführt sind, die sich aufgrund ihrer Spontanität und ihrer touche eigentlich gerade nicht zum Kopieren eignet. Insbesondere die von Courbet kopierte Malle Babbe von Frans Hals steht für einen spontanen und individuellen Farbauftrag.55 So verbürgt im französischen Kunstdiskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Matthias Krüger gezeigt hat, die touche Authentizität und damit Unwiederholbarkeit.56 In der Bewältigung dieser Aufgabe zeigt sich Courbet als ein Künstler, der nicht nur schematisch kopierte (wie dies das bei Silvestre angeführte Zitat nahelegt), sondern der versuchte, gerade die Unwiederholbarkeit des Bildes zu wiederholen. In diesem performativen Widerspruch liegt nicht nur der Beweis für Könnerschaft, sondern das eigentliche schöpferische Potenzial des Kopierens. In der Meisterkopie gelingt jedoch genau die Überwindung dieses Paradoxes: Die im Grunde tote Materie, das seelenlose Abmalen, in einen Prozess der Nach- und Neuschöpfung zu transformieren. Das Phantasma einer beseelten Malerei, deren Körper lebendig wird, zeigt sich also mitnichten nur im Originalitätsdenken der Moderne, sondern auch in ihrem ideologischen Gegenpart: der Kopie. Kopieren konnte also durchaus als schöpferischer Akt begriffen werden, auch wenn keine künstlerische Adaption oder Veränderung der Vorlage erfolgte, sondern das Original im Grunde identisch nachgeschaffen wurde.57 Diese Originaltreue ist allerdings nicht zu verwechseln mit bloßer ‚Richtigkeit‘.58 Die künstlerische Tätigkeit des Kopierers erscheint hier 52 Jules Vallès, Courbet (1866), in: Courthion 1948/50 (wie Anm. 25), Bd. 2, S. 223–231, hier S. 229. 53 Giorgio Vasari, Das Leben des Andrea del Sarto, Berlin 2005, S. 52–55. 54 Siehe Pophanken 1995 (wie Anm. 42), S. 143. 55 Fernier 1977/78 (wie Anm. 1), WVZ-Nr. 670 (85 × 71 cm), Hamburger Kunsthalle. 56 Matthias Krüger, Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850– 1890, München/Berlin 2007, S. 272–280. 57 Zum Phantasma der Leibhaftigkeit des Bildes allgemein: Georges Didi-Huberman, Die leibhaftige Malerei, München 2002 (1985); zu seiner Rembrandt-Kopie meinte Courbet selbst: „(…) qui est égal à l’original“, zit. n. Chu 1996 (wie Anm. 8), S. 429, dt. Übers. der Autorin: „(…) die gleich(wertig) mit dem Original ist.“ 58 Vgl. Voermann 2012 (wie Anm. 40), S. 56–63.
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vielmehr vergleichbar mit der eines Musikers, der ein Musikstück nicht neu schafft, aber eben doch – durch seine Interpretation – zu neuem Leben erweckt. Wenn Courbet also davon spricht, ein guter Künstler müsse ein Bild zehnmal ohne Qualitätsverlust wiederholen können,59 dann schließt dies das Kriterium des Schöpferischen nicht aus, sondern ein. Indes darf nicht der Fehler gemacht werden, im ‚Schöpferischen‘ etwas ‚Originelles‘ erblicken zu wollen, denn damit würde das Originalitätsdenken der Moderne über den Umweg des Schaffensprozesses erneut Einzug halten. Wie das Beispiel von Courbets Kopierpraxis nahelegt, geht das historistische Kopienverständnis von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit von Vor- und Abbild aus, nicht von einer per se gegebenen wertenden Hierarchie, wie es die heute vorherrschende Terminologie von Original versus Kopie immer noch impliziert. Dies heißt jedoch nicht, dass im Historismus nicht zwischen dem historischen Original und der zeitgenössischen Kopie unterschieden wurde. Der historische Wert und die verbürgte Eigenhändigkeit spielten selbstverständlich eine wichtige Rolle. Die Kopie war aber dennoch nicht nur bloßes Substitut, sondern galt als durchaus in der Lage, den künstlerischen Gehalt eines Werks tatsächlich transportieren zu können. So scheint vor allem die Qualität des Bildes von Bedeutung gewesen zu sein, weniger sein Status in Hinblick auf die Originalität. Zwar wird das Original durch die Tätigkeit des Kopierens überhaupt erst geschaffen (denn gäbe es nur Originale, wäre die Unterscheidung und damit der Begriff des Originals überflüssig), zugleich hebt die historistische Vorstellung einer Neuschöpfung die damit implizierte Hierarchie auf der Erfahrungsebene wieder auf. Auch kann der Akt des Kopierens selbst, der ja in der Künstlerausbildung primär dazu dienen sollte, sich die jeweilige Technik anzueignen, im Sinne einer reflexiven Handlung als Kreationsakt verstanden werden, der zwar nicht neu schöpft oder erfindet, aber dennoch schafft und lebendig macht. Mit aktuellen Theorien des Reenactments, die im Wiederholen nicht nur ein reproduzierendes Verhalten sehen, kann dem ästhetischen Gehalt der Kopie daher möglicherweise eher beigekommen werden.60 Zudem fertigte Courbet in seinen frühen Jahren zahlreiche Pastichen, also Werke, die im Stile anderer Maler gehalten sind.61 Dies weist ebenfalls in Richtung einer performativen wie inhaltlichen Annäherung an seine Vorbilder. Denn auch Pastichen konnten als schöpferisch verstanden werden, so attestierte zumindest Schack den pasticheartigen Porträts von Lenbach, sie seien „eine selbstschöpferische Kunst, die sich an den Mustern der alten Zeit gebildet hat“.62 59 Siehe Anm. 28. 60 So lassen sich an Boimes Überlegungen (vgl. Anm. 50) durchaus Theorien des Reenactments anschließen. Zu Letzteren findet sich ein guter Überblick in: Sven Lütticken (Hg.), Life, Once More. Forms of Reenactment in Contemporary Art, Ausst.-Kat. Witte de With, Center for Contemporary Art, Rotterdam 2005. 61 Georges Riat, Gustave Courbet. Peintre, Paris 1906, S. 28: „De cette époque et de ces préoccupations datent: une Tête de jeune fille, pastiche florentin; un Paysage Imaginaire, imité des Flamands; un Portrait de L’Auteur, pastiche des Vénitiens (…).“, dt. Übers. der Autorin: „Aus den Beschäftigungen dieser Zeit datieren: ein Portrait eines jungen Mädchens, florentinisches Pastiche; eine imaginäre Landschaft, den Flamen nachempfunden; und ein Portrait des Malers, venezianisches Pastiche (…).“ 62 Zit. n. Pophanken 1995 (wie Anm. 42), S. 156.
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Dass sich dies bei den Repliken Courbets ganz ähnlich verhält, kann an einem abschließenden Beispiel gezeigt werden: den vier Fassungen von Jo, la belle irlandaise, dem Porträt der Irin Jo Hifferman, Freundin James Whistlers, die gemeinsam mit Courbet den Sommer 1865 in Trouville verbrachte. Die vier bekannten Fassungen, die alle annähernd das gleiche Format aufweisen, befinden sich heute im Stockholmer Moderna Museet (Abb. 4), im New Yorker Metropolitan Museum of Art (Abb. 5), in Kansas City im William Rockhill Nelson Gallery and Atkins Museum (Abb. 6) sowie ehemals in der Züricher Privatsammlung Weinberg (Abb. 7).63 Das Stockholmer Bild galt lange Zeit als erste Fassung, da es 1881 aus dem Nachlass von Courbet erworben wurde und sich bis zu seinem Tod in seinem Schweizer Atelier befand.64 Man nahm also an, wie Ann Dumas schreibt, Courbet habe „the original version“ behalten.65 Vergleicht man nun jedoch die vier Fassungen im Detail, lässt sich feststellen, dass die Werke in Stockholm, Kansas und das ehemals in Zürich befindliche kompositorisch identisch sind, während das Bild des Metropolitan Museums deutliche Abweichungen aufweist: So ist dort keine Haarsträhne durch die Finger geführt, die Haarbüschel am Scheitel sind etwas krauser wiedergegeben als auf den übrigen drei Fassungen, und auffallend ist auch die kleinteilige Wiedergabe der Spitzenbluse, die in den anderen Werken sehr viel summarischer behandelt wurde. Gerade aus dieser letzten Tatsache und auch wegen des Fehlens des inhaltlich nicht unwichtigen Details der durch die Finger gleitenden Haare lässt sich schließen, dass die New Yorker Fassung vor den übrigen drei Bildern entstanden sein muss. Diese wiederum unterscheiden sich nicht in der Anlage der Komposition, sondern lediglich in der malerischen Durchführung. So kann die Stockholmer Fassung aus Courbets Atelier als die qualitativ beste der drei Varianten gelten: Inkarnat und Haar sind mit hoher Sensibilität wiedergegeben. Insbesondere die geröteten Wangen von Jo Hifferman vermitteln den Eindruck von Lebendigkeit und durchbluteter Haut. Die erotische Aufladung, die wohl auch das persönliche Verhältnis zwischen Hifferman und Courbet charakterisierte,66 vermittelt sich über eine taktil differenzierte Oberflächenbehandlung und äußerst fein abgestufte Pinselführung. Die 63 Die Stockholmer Fassung hat die Maße 54 × 65 cm (Fernier 1977/78 [wie Anm. 1], WVZ-Nr. 537), die New Yorker Fassung die Maße 57 × 66 cm (ebd., WVZ-Nr. 538), die Fassung in Kansas 55 × 64 cm (ebd., WVZ-Nr. 539). Riat zufolge wurde die New Yorker Fassung am 26. Februar 1868 von Émile Durier erworben (Riat 1906 [wie Anm. 61], S. 259), und zwar direkt aus der Ausstellung 1868 in Besançon. Die stark restaurierte Kansas-Fassung stammt laut Fernier aus dem Besitz des Malers Trouillebert, der diese ebenfalls 1868 bei Courbet für den verhältnismäßig günstigen Preis von 500 F. erworben haben soll (Fernier 1977/78 [wie Anm. 1], Bd. 2, S. 12). Die ehemals Züricher Fassung (54 × 64 cm) befand sich in der Sammlung Rolf Weinberg und ist nicht in den Werkverzeichnissen von Fernier oder Courthion gelistet, sondern wurde am 2. November 2001 bei Sotheby’s New York versteigert (Lot 101). 64 Courbets Schweizer Arzt Collin berichtet, dass Henri Rochefort bei einem Besuch in La Tour de Peilz das Bild für 5000 F. kaufen wollte, Courbet dies aber verweigerte und Rochefort mit einem spontan gemalten Seestück abspeiste; siehe Collin 1877 (wie Anm. 51), S. 255f. 65 Vgl. dazu Ann Dumas, 53. Portrait of Jo, the Beautiful Irish Girl, in: Sarah Faunce/Linda Nochlin (Hg.), Courbet Reconsidered, Ausst.-Kat. The Brooklyn Museum New York 1988/89/The Minneapolis Institute of Arts 1989, New Haven/London 1988, S. 162f., hier S. 163. 66 Kathryn Calley Galitz, 158. Jo, the Beautiful Irishwoman/159. Jo, the Beautiful Irishwoman, in: Gustave Courbet, Ausst.-Kat. The Metropolitan Museum of Art, New York, Ostfildern-Ruit 2008, S. 332f., hier S. 333.
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4 Gustave Courbet, Portrait de Jo, la belle irlandaise, 1866, Öl auf Leinwand, 54 × 65 cm, Nationalmuseum Stockholm
5 Gustave Courbet, Portrait de Jo, la belle irlandaise, 1856/66, Öl auf Leinwand, 57 × 66 cm, The Metropolitan Museum, New York
zwei weiteren Fassungen hingegen sind – trotz gleichen Bildformats – summarischer und flacher aufgefasst. Wir wissen über Courbet, dass er Werke, die für ihn einen hohen künstlerischen Stellenwert besaßen, in seinem Atelier als Teil seiner privaten Sammlung behielt. In einem Brief an Luquet erklärt Courbet, dass er das Bild L’homme blessé auf keinen Fall verkaufen wolle, aber eine Kopie für 2000 F. anzubieten habe.67 Dies hatte nostalgische wie auch repräsentative Gründe, diente aber auch ganz pragmatisch dem Aufbau einer Vorlagensammlung, anhand derer Kunden Repliken bestellen konnten. Es ist somit anzunehmen, dass Courbet nach seiner ersten Fassung von Jo eine zweite, 67 Chu 1996 (wie Anm. 8), S. 266, Brief-Nr. 66-26.
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6 Gustave Courbet, Portrait de Jo, la belle irlandaise, o. J., Öl auf Leinwand, 54 × 64 cm, ehemals Privatsammlung Zürich
7 Gustave Courbet, Portrait de Jo, la belle irlandaise, o. J., Öl auf Leinwand, 55 × 64 cm, The Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City
verbesserte malte und diese als Referenzwerk behielt, nicht zuletzt, um davon weitere Kopien anfertigen zu können, während die erste Kopie verkauft wurde.68 Eine solche Verbesserung von Werken ist bei Courbet auch an anderer Stelle belegt, so schreibt er im Januar 1854 an Bruyas:
68 Dies deckt sich mit den Überlegungen von Sarah Faunce zu dem Bild. Sarah Faunce, Gustav Courbet, New York 1993, S. 108.
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„J’ai repris mon Retour de Foire auquel il manquait bien des choses et dans lequel il y avait un défaut de perspective, puis je l’ai agrandi d’un quart. Je viens d’en faire une petite reproduction pour un amateur de notre pays.“69 Auch bei den Beschreibungen der Kopien seiner Selbstporträts wählte Courbet Formulierungen, die eher auf einen gleichwertigen Status schließen lassen. So heißt es zu den Selbstporträts L‘homme à la pipe und einem weiteren Selbstbildnis im Profil: „Ce sont des copies mais qui valent les originaux.“70 Wenig später wird der Wert dieser Kopien sogar noch höher eingeschätzt: „Ce sont de copies exactes mais plus habiles que les originaux.“71 Bezeichnend ist, dass sie zusammen mit Courbets Sammlung Alter Meister in Wien gezeigt werden sollten, in die man auch die Kopien nach Hals und Rembrandt integrieren wollte.72 Der kompetitive und emulative Aspekt der Verbesserung, der schon bei den Kopien nach Alten Meistern leitend war, lässt sich also auf Courbets eigenes Schaffen übertragen. Demnach erscheint es weniger sinnvoll, in ein primäres ‚Original‘ und diesem folgende Kopien zu unterscheiden, als von ‚Fassungen‘ zu sprechen, die sich vor allem qualitativ unterscheiden. Das erste Bild muss nicht zwangsläufig das beste sein und muss auch nicht zwingend die Matrix für alle Folgebilder darstellen. Das Beispiel der Jo zeigt, dass für Courbet die Replik keinen niedrigeren Stellenwert als das Original besaß, sondern diese als gleich- oder sogar höherwertig anzusehen war, wenn sie tatsächlich eine Steigerung darstellte. Das Beispiel macht außerdem nochmals deutlich, dass Courbet kaum oder zumindest nicht ausschließlich für einen anonymen Markt auf Vorrat produzierte, wie dies die These von der touristischen Massenware nahelegt, sondern auf konkrete Bestellung hin arbeitete. Vervielfältigung erweist sich damit nicht als abwertende Praxis, sondern im Gegenteil als Aufwertungsstrategie. Denn nur wenn das Motiv zirkuliert, kann sich auch die mit ihm verbundene Idee verbreiten. Es bleibt abschließend festzuhalten, dass das Kopieren in unterschiedlichster Form für Courbet und seine Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit darstellte, die sich aus der Ausbildungspraxis, aber auch aus dem tradierten Werkstattbetrieb ableiten lässt. Im Kontext eines historistischen Werkverständnisses waren Werke ,im Stil von‘, Pastichen und andere inhaltliche wie formale Rückbezüge auf gegenwärtige und Alte Meister allgemein üblich und kennzeichnen auch das Werk Courbets. Die Wiederaufnahme eigener Kompositionen bis hin zum Anfertigen von Repliken eigener Werke 69 Courbet in einem Brief an Bruyas, Januar 1854, zit. n. Chu 1996 (wie Anm. 8), S. 112, Brief-Nr. 54-1, dt. Übers. der Autorin: „Ich habe mit meiner Rückkehr von der Messe neu angefangen, der einige Dinge fehlten und in der es einen Perspektivfehler gab, dann habe ich sie noch um ein Viertel vergrößert. Ich habe gerade eine kleine Reproduktion für einen Liebhaber aus unserer Region gemacht.“ 70 Courbet an Castagnary, Ende Januar 1873, zit. n. Chu 1996 (wie Anm. 8), S. 424, Brief-Nr. 73-7, dt. Übers. der Autorin: „Das sind Kopien, aber sie sind genauso viel wert wie die Originale.“ 71 Courbet an Alphonse Legrand, am 16. Februar 1873, zit. n. Chu 1996 (wie Anm. 8), S. 429, Brief-Nr. 73-15, dt. Übers. der Autorin: „Das sind exakte Kopien, aber gekonnter als die Originale.“ 72 Ebd.
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stellt ebenfalls eine gängige Praxis des Kunstbetriebs der Mitte des 19. Jahrhunderts dar. Courbet stellte diese Praxis rhetorisch gezielt in den Zusammenhang mit neuesten Methoden technischer Reproduzierbarkeit. Aus heutiger Perspektive muss diese scheinbar rein technisch motivierte Wiederholungspraxis jedoch deutlich relativiert werden: Viel eher spielte die Annäherung an die Alten Meister im Medium der Kopie eine wesentliche Rolle für Courbets künstlerische Entwicklung und von einer rein mechanischen Wiederholungspraxis sind seine Werke ebenfalls weit entfernt. So offenbart sich gerade in seinen Repliken ein durchaus historistisches Werkverständnis, das das Anfertigen von werktreuen Kopien eigener oder fremder Werke nicht nur als mechanische Wiederholung begriff, sondern im Nachschaffen selbst einen schöpferischen Prozess erblickte. Wichtiges Kriterium für die Qualität einer Kopie oder Replik stellte nicht nur deren Werktreue, sondern vor allem deren Lebendigkeit dar. Dieses Surplus, das die Meisterkopie von bloßen Reproduktionen unterscheidet, macht auch den Kopisten zum schaffenden Künstler. Das Originalitätsdenken der Moderne ist demnach einerseits aufgrund des ungebrochen affirmativen Verhältnisses des Historismus zur Kopie von diesem abzugrenzen. Andererseits scheinen ‚moderne‘ respektive ‚modernistische‘ Vorstellungen von Lebendigkeit und damit verbunden von Einzigartigkeit, Leibhaftigkeit und Echtheit im Historismus antizipiert und haben die modernistische Vorstellung vom Original vorbereitet. Courbet steht gleichsam an einer Schnittstelle von einer ungebrochenen Tradition des Kopierens und beginnendem Authentizitätsdenken. Diesen Übergang bewältigt er nicht widerspruchsfrei, weist damit aber auch auf Praktiken voraus, mit dem sich verstärkenden Antagonismus zwischen Original und Kopie produktiv umzugehen.73
73 Patricia Mainardi ist ebenfalls der Ansicht, Courbets Kopierpraxis habe ihn in Konflikt mit dem im Verlauf des 19. Jahrhunderts wachsenden Originalitätsgebot gebracht. Erst Künstler wie Monet reagierten mit ihren Serien auf diese gewandelte Situation. Patricia Mainardi, L’exposition complète de Courbet, in: Lausanne/Stockholm 1998/99 (wie Anm. 20), S. 101–127, hier S. 111–116.
die ewige wiederkehr der variationen ein neuer blick auf arnold böcklins triton und nereide
kerstin borchhardt Jauchzende Nixen, kampferprobte Zentauren, melancholische Musikanten und elegische Eilande: Das Werk des Schweizer Malers Arnold Böcklin (1827–1901) ist durch eine große Vielfalt an ebenso phantasievollen wie wirkmächtigen Motiven gekennzeichnet.1 Trotz der facettenreichen Sujets – von den ausgelassenen Meeresbewohnern in Im Spiel der Wellen (1886) und den düsteren Gestaden der Toteninsel (1880–1886) bis hin zu Pan im Schilf (1856–1859) oder Zentaurenkampf (1872–1878) – zeichnet sich bei vielen seiner Gemälde eine Gemeinsamkeit ab: Nahezu alle seiner populärsten Ideen führte der Künstler nicht nur in einer, sondern in mehreren Fassungen aus. Auch wenn dafür in einigen Fällen kommerzielle Gründe angenommen werden können,2 sind diese nicht ausschließlich als maßgebliche Ursachen für das in Böcklins Werk häufig zu beobachtende Phänomen der Selbstwiederholung anzuführen. Im Gegenteil stellt die Selbstrepetition nach Ansicht der Autorin ein zentrales Strukturelement im Œuvre des Schweizers dar, das er gezielt nutzte, um sowohl seine Kunstauffassung als auch seine Weltsicht ausdrucksstark in Szene zu setzen. Dabei arbeitete er mit einem komplexen Wechselspiel aus Repetitionen und Variationen auf verschiedenen Ebenen.3 Wie im dargelegten Beitrag exemplarisch an Triton und Nereide untersucht werden soll, entwickelte Böcklin verschiedene Grundmotive, die sich thematisch immer wieder aufeinander beziehen. Ein Großteil seiner Einzelwerke bildet Variationen zu diesen, die in unterschiedlichen Motivgruppen zusammengefasst werden können. Oft veränderte der Künstler in den einzelnen Variationen durch Details die Gesamtaussage und brachte Nebengedanken in die Bilder. Besonders interessierte ihn hier das Verhältnis zwischen der Rezeption tradierter mythologischer Motive und deren Aktualisierung im Kontext zeitgenössischer Ideen. Im Folgenden soll analysiert werden, wie Böcklin das Verfahren der Selbstwiederholung als eine Art künstlerischen Experimentierboden nutzte, um mögliche Synthesen zwischen diesen beiden Impulsen in verschiedenen Spielarten auszutesten.
1 Siehe Werküberblick in: Bernd Wolfgang Lindemann (Hg.), Arnold Böcklin, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel 2001/Musée d’Orsay Paris 2001/02/Neue Pinakothek München 2002, Heidelberg 2001. 2 Zur finanziellen Situation der Böcklins sowie dem Verhältnis Arnold Böcklins zu seinen Auftraggebern vgl. Ferdinand Runkel (Hg.), Böcklin-Memoiren. Tagebuchblätter von Böcklins Gattin Angela, mit dem gesamten brieflichen Nachlaß, Berlin 1910, S. 77–84. 3 Peter Pütz, Wiederholung als ästhetisches Prinzip (= Aisthesis Essay, 17), Bielefeld 2004, S. 7f.
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1 Arnold Böcklin, Triton und Nereide, 1873/74, Tempera auf Leinwand, 105,3 × 194 cm, Schack-Galerie, Bayerische Staatsgemäldesammlung, München
Die Motivgruppe Triton und Nereide (1872–1877, Abb. 1–3) umfasst zwei Gemälde und vier dazugehörige Skizzen.4 Charakteristisch und namensgebend für sie ist die Grundkomposition des ungleichen Paares in Form eines polymorphen Tritons und einer anthropomorphen Nereide, das auf einem Felsen inmitten der rauen See platziert ist. Sowohl in der ersten Fassung von 1873/74 (Abb. 1) als auch in der späteren Farbskizze (Abb. 3) zu einer nie ausgeführten dritten Variation zeigt Böcklin außerdem eine gewaltige Seeschlange im Bildvordergrund, die von der Nereide liebkost wird. Nicht nur durch das Fehlen der Schlange nimmt die von zwei Skizzen vorbereitete zweite Fassung von 1875 eine Sonderstellung in dieser Bildgruppe ein (Abb. 2),5 sondern auch durch den Umstand, dass der Künstler parallel dazu das Derivat Triton, eine Nereide auf dem Rücken tragend in einem Entwurf und einem Gemälde anfertigte. Auffallend ist dabei, dass die Tritonen in diesen beiden Umsetzungen sowohl die gleiche Typologie eines Ichthyozentauren mit Fischschwanz und Pferdebeinen als auch eine ähnliche Physiognomie mit dem verträumtem Blick und den langen um das Gesicht fallenden Haaren aufweisen.6 Im Gegensatz zu Triton und Nereide, das die Protagonisten auf einem Felsen beim Müßiggang zeigt, sind der Meermann und seine Partnerin in den Abwandlungen auf ihrer Reise durch die raue See dargestellt. Böcklins Intention, die hinter der Anfertigung der unterschiedlichen Fassungen von Triton und Nereide sowie den Derivaten im Kontext von Repetition und Variation steht, 4 Zu der Werkgruppe siehe Ulrike Krenzlin, Ein Blick auf Böcklins „Triton und Nereide“, in: GerdHelge Vogel (Hg.), Die Kunst als Spiel des Lebens. Romantik und Realismus. Festschrift für Hannelore Gärtner, Greifswald 1999, S. 153–158, hier S. 153f. 5 Das Werk wurde wahrscheinlich 1945 bei einem Bunkerbrand in Berlin zerstört. Ebd., S. 153. 6 Arnold Böcklin, Triton, eine Nereide auf dem Rücken tragend, Entwurf, 1875, Leinwand, 55 × 80 cm, verschollen; Arnold Böcklin, Triton, eine Nereide auf dem Rücken tragend, 1875, Holz, 41,5 × 66 cm, Privatbesitz; siehe Rolf Andree (Hg.), Arnold Böcklin: Die Gemälde (= Œuvrekataloge Schweizer Kunst, 2), Basel 21998, S. 38, Nr. 295 und Nr. 296.
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2 Arnold Böcklin, Triton und Nereide, 1875, Öl auf Leinwand, 165 × 202 cm, seit 1945 verschollen
lässt sich durch einen Blick auf Böcklins Kunstauffassung genauer untersuchen. Wie vor allem aus Aussagen von Zeitgenossen und auch aus Briefen des Künstlers zu entnehmen ist, war ihm maßgeblich daran gelegen, eigene Perzeptionen möglichst wirkmächtig in seinen Werken zu inszenieren.7 Nach Thode und Wölfflin ging es ihm dabei weniger um die Narration von Geschichten als vielmehr um die Evokation von Stimmungen.8 Leider lieferte der Künstler selbst keinerlei Definition, was die Termini ,Stimmungen‘ oder ,Eindrücke‘ für ihn bedeuten. Textpassagen aus den Überlieferungen von Freunden lassen jedoch vermuten, dass Eindrücke beziehungsweise Stimmungen im Sinne Böcklins mentale Verknüpfungen von Fragmenten verschiedener intensiver Wahrnehmung der mannigfaltigen Erlebniswelt darstellen, die sowohl Naturbeobachtungen und Aspekte aus dem sozialen Umfeld als auch Impressionen von Kunstwerken mit einschließen.9 7 Siehe Gustav Floerke, Zehn Jahre mit Böcklin. Aufzeichnungen und Entwürfe, München 1901, S. 41; Adolf Frey, Arnold Böcklin: nach den Erinnerungen seiner Zürcher Freunde, Stuttgart u. a. 21912, S. 114; Henry Thode, Arnold Böcklin, Heidelberg 1905, S. 6. 8 Thode 1905 (wie Anm. 7), S. 13; Heinrich Wölfflin, Arnold Böcklin: Festrede gehalten am 23.10.1897, in: Ders., Kleine Schriften, hg. von Joseph Gantner, Darmstadt 1946, S. 109–118, hier S. 110. 9 So bei Albert Fleiner, Mit Arnold Böcklin, Frauenfeld 1915, S. 38f., S. 41; Frey 1912 (wie Anm. 7), S. 114; Otto Lasius, Arnold Böcklin: Aus den Tagebüchern von Otto Lasius (1884–1889), hg. von Maria Lina Lasius, Berlin 1903, S. 60 und S. 138f.; Thode 1905 (wie Anm. 7), S. 6f.
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3 Arnold Böcklin, Triton und Nereide, 1877, Farbskizze auf Leinwand, 44,5 × 65,5 cm, Stiftung Oskar Reinhart, Winterthur
Trotz der wiederholten Betonung der Wichtigkeit des Erlebnischarakters malte der Künstler meist nicht aus dem unmittelbaren Erlebnis heraus. Im Gegenteil bewahrte er die von diesem evozierten Eindrücke mitunter jahrelang in seinem Gedächtnis auf und kombinierte sie mit anderen Erinnerungen, sobald ihm die zündende Idee zu einem Kunstwerk kam.10 In diesem setzte er die verschiedenen Impressionsfragmente dann so zusammen, dass sie beim Betrachter ähnlich intensive Eindrücke re-evozieren sollten, wie sie Böcklin einst in der Lebenswelt empfangen hatte. Zur Suggestion eines derartigen Kunsterlebnisses ist es nötig, den Brückenschlag zwischen dem individuellen Erleben des Künstlers und dem Kollektiverleben der Rezipienten zu vollziehen. Das maßgebliche ästhetische Mittel dazu stellte für Böcklin die anthropomorphe oder hybride mythologische Figur – eine im ausgehenden 19. Jahrhundert noch weit verbreitete und kanonische Bildformel – in ihrem Kompositionsgeflecht zu anderen Figuren sowie der sie umgebenden Landschaft dar.11 Dabei versuchte Böcklin nicht die alten Mythen wiederzuerwecken, vielmehr kommt hier ein bildgebendes Transformationsverfahren des Persönlichen ins Überpersönliche zum Ausdruck, das von Gottfried Boehm als „Mythopoiese“ bezeichnet wurde.
10 Vgl. Fleiner 1915 (wie Anm. 9), S. 38f. und S. 187. 11 Zur Bedeutung der mythologischen Figuren in Böcklins Werk sowie zum kulturgeschichtlichen Hintergrund siehe Wilfried Ranke, Böcklinmythen, in: Andree 1998 (wie Anm. 6), S. 64–91.
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„Er (Böcklin, K. B.) arbeitet mit seinem eigenen Erfahrungsstoff (in den mannigfaltige zeitbedingte beziehungsweise historische Aspekte einfließen) und wendet diese Erfahrungen um, so daß sie als das Tun und Leiden ‚Anderer‘ erscheinen: mythischer Wesen.“12 Zur Realisation dieser mythopoietischen Transformation kombinierte Böcklin Erfahrungen aus der individuellen Erlebniswelt mit Motiven aus der traditionellen Kunst als kollektivem Kulturgut. In seinen Bildern sind somit nicht nur Persönliches und Überpersönliches, sondern gleichermaßen auch historisch disparate Konditionen aus Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschmolzen. Die Feinstruktur derartiger Synthesen lässt sich an den einzelnen Fassungen der Motivgruppe Triton und Nereide untersuchen. Zur ersten Version (Abb. 1) bemerkte Böcklin selbst, dass es eine wichtige Aufgabe des Werks sei, die unheimliche Stimmung, die der Anblick der aufgewühlten See bei zahlreichen Menschen auslöst, beim Betrachter zu re-evozieren.13 Auch wenn, wie bereits Vischer, Kleinerberg und Kohle feststellten,14 die Personifikation von Naturempfindungen in Böcklins Werken generell eine wichtige Rolle spielt, darf deren Aussage nicht darauf reduziert werden. Denn wie Schmidt, Ranke und Krenzlin vollkommen zu Recht bemerkten, tragen die Bilder häufig auch einen „gesellschaftlichen Stempel“, der sich aus dem Beziehungsgefüge des Bildpersonals ablesen lässt.15 Besonders die eigentümliche Paarkomposition in Triton und Nereide regte zahlreiche Interpreten zu psychologisierenden und soziologisierenden Deutungen an.16 Dies liegt nahe, da sich bei genauerer Betrachtung – vor allem in der ersten Fassung (Abb. 1) – diverse Spannungen zwischen den Protagonisten abzeichnen, die bereits durch ihre unterschiedlichen Typologien augenfällig werden: Er ist mischgestaltig mit satyrhafter Körperbehaarung und Flossenfüßen, sie hingegen ist anthropomorph, sodass beide bereits optisch nicht so recht zusammenpassen wollen. Außerdem inszeniert der Künstler die zwei Meerwesen nicht nur in einander abgewandter Haltung, sondern er zeigt sie auch überhaupt nicht miteinander beschäftigt, was eine gewisse Distanz zwischen ihnen suggeriert.17 Ein zusätzliches Spannungspotenzial generiert die Präsenz der Schlange in der ersten Fassung und der Skizze zur dritten Version (Abb. 1 und 12 Gottfried Boehm, Böcklins Mythen, in: Margit Kern/Thomas Kirchner/Hubertus Kohle (Hg.), Geschichte und Ästhetik: Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, München/Berlin 2004, S. 411–420, hier S. 416. 13 Runkel 1910 (wie Anm. 2), S. 276. 14 Zur Naturpersonifikation in Böcklins Werk vgl. Friedrich Theodor Vischer, Eine Reise, in: Ders., Kritische Gänge, hg. von Robert Vischer, 6 Bde., Bd. 1, München 21922, S. 309–450, hier S. 333–335; Günther Kleineberg, Die Entwicklung der Naturpersonifizierung im Werk Arnold Böcklins (1827–1901): Studien zur Ikonographie und Motivik in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971; Hubertus Kohle, Böcklins Halluzinationen: Malerei im Zeitalter der Psychologie, in: Kunstgeschichte, Texte zur Diskussion, EJournal 2008, unter: http://www. kunstgeschichte-ejournal.net/98/ (Letzter Zugriff: 20. September 2016). 15 Vgl. Ranke 1998 (wie Anm. 11), S. 83, Zitat ebd.; Georg Schmidt, Böcklin heute, in: Andree 1998 (wie Anm. 6), S. 51–63, hier S. 59; Krenzlin 1999 (wie Anm. 4), S. 153–156. 16 Wie Anm. 15. 17 Darauf wurde auch in der Forschung bereits mehrfach hingewiesen; vgl. dazu Krenzlin 1999 (wie Anm. 4), S. 153–158.
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3). Diese wurde von unterschiedlichen Autoren mal als Haustier,18 mal als Liebhaber oder „Hausfreund“ der Nereide19 und ein andermal als paarungsbereites Weibchen, das von der Musik des Tritons angezogen wird,20 gedeutet. Doch gleichgültig in welcher Lesart man das gigantische Reptil betrachtet, es scheint in jedem Fall die traute Zweisamkeit zwischen den Protagonisten zu stören. Daraus ergibt sich eine eigentümliche Dreieckskonstellation: Der Triton flötet gedankenversunken vor sich hin, während die Nereide so mit der Schlange beschäftigt ist, dass sie vom Meermann offenbar gar keine Notiz nimmt. Derartige Dissonanzen zwischen ‚Mann‘ und ,Frau‘, die bei Böcklin oft als ungleiche Geschöpfe verschiedener Typologien und in distanzierter Haltung vor verschiedenen Hintergründen inszeniert sind, kennzeichnen zahlreiche seiner Werke, so zum Beispiel Pan und Dryaden (1879) oder Odysseus und Kalypso (1882).21 Traeger konstatiert, dass derartige sexuelle Spannungen Reflexe auf die nicht unproblematische Ehe zwischen Arnold Böcklin und seiner Frau Angela (geb. Pascucci) seien, wobei sich der Künstler von seiner Frau gleichermaßen angezogen wie eingeengt und unverstanden gefühlt habe.22 Die problematische Beziehung zwischen den Geschlechtern war darüber hinaus ein Topos, der um die Wende zum 20. Jahrhundert als hochaktuelles Problemfeld in der Gesellschaft präsent war. Es fand sowohl in der sich herausbildenden Psychoanalyse, wie in Otto Weiningers (1880–1903) Geschlecht und Charakter (1903), als auch in der Presse und der Kunst einen starken Widerhall.23 Dabei dominierte in großen Teilen der bürgerlichen Schichten Mitteleuropas ein bipolares Geschlechtermodell, bei dem Männern und Frauen nicht nur verschiedene soziale Rollen zugedacht waren, sondern beide auch als von Natur aus unterschiedliche Wesenheiten betrachtet wurden. Einige Autoren wie etwa Thomas W. Laqueur vertraten die provokante und umstrittene These, dass das bipolare Geschlechterbild ein soziales Konstrukt mit Ursprüngen im 19. Jahrhundert sei.24 In jedem Fall bezeugen die Werke Böcklins und anderer Künstler die große Sensibilität zahlreicher Menschen in dieser Zeit für geschlechtsspezifische Bipolarität. In den verschiedenen Versionen von Böcklins Triton und Nereide sind ,Männlein‘ und ,Weiblein‘ jedenfalls Wesen unterschiedlicher Art, was sich nicht zuletzt an den verschiedenen Typologien der Protagonisten zeigt. Daraus darf allerdings keineswegs 18 Kerstin Borchhardt, Böcklins Bestiarium. Mischwesen in der modernen Malerei, Berlin 2017. 19 Schmidt 1998 (wie Anm. 15), S. 59. 20 Pamela Kort, Arnold Böcklin, Max Ernst und die Debatten um Ursprünge und Überleben in Deutschland und Frankreich, in: Dies./Max Hollein (Hg.), Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle, Frankfurt a. M. 2009, Köln 2009, S. 24–91, hier S. 59. 21 Zu den Werken vgl. Heidelberg 2001 (wie Anm. 1), S. 254f. und S. 277f. 22 Jörg Traeger, Eros ohne Erlösung. Zur Kunst Arnold Böcklins, in: Studien zur Kinderpsychoanalyse 19/2003, S. 148–166, hier S. 155f. 23 Vgl. Floerke 1901 (wie Anm. 7), S. 77f.; Schmidt 1998 (wie Anm. 15), S. 59; Karl Siegfried Guthke, Ist der Tod eine Frau? Geschlecht und Tod in Kunst und Literatur, 2. durchges. Aufl., München 1998, S. 188–194 und S. 211–221; Hansdieter Erbsmehl, Konflikt der Geschlechter in Max Klingers Kunst, in: Ursel Berger/Conny Dietrich/Ina Gayk (Hg.), Max Klinger – Auf der Suche nach dem neuen Menschen, Ausst.-Kat. Georg-Kolbe-Museum, Berlin 2007/Edwin Scharff Museum, Neu-Ulm 2007/08, Leipzig 2007, S. 48–63. 24 Thomas Walter Laqueur, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge, Mass., u. a. 1992.
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4 Andrea Riccio, Triton und Nereide, 1532, Bronze, H: 23 cm, Museo Nazionale del Bargello, Florenz
der Schluss gezogen werden, der Künstler hätte diesen Kontrast als Motiv in der Kunst erfunden. Ganz im Gegenteil rekurriert er in Triton und Nereide auf eine weit verbreitete, bis in die Antike zurückreichende Tradition der Meerwesendarstellungen. Zu den wichtigsten motivischen Vorbildern zählen die römischen Meerwesensarkophage, deren Reliefs auch in der Neuzeit rezipiert wurden.25 Diese zeigen Poseidon mit seinem Viergespann oder Venus begleitet von Eroten, hybriden Wassertieren und Paaren bestehend aus anthropomorphen Nereiden und mischgestaltigen Tritonen. Die Liebe mache – so Zanker und Ewald – hier die monströsen Wassermänner zahm und die Nereiden blind für deren hässliche Gestalt.26 Dass einige der antiken und neuzeitlichen Vorbilder auch Böcklin bekannt gewesen sein müssen, belegen seine Werke. In Triton, eine Nereide auf dem Rücken tragend (1875) zeigt der Künstler typologische und kompositionelle Zitate aus der Meerwesen-Tradition, wie den die Nereide tragenden Triton.27 Darüber hinaus kombinierte er diese formalen Anleihen mit der potenziellen Spannung, die aus der 25 Paul Zanker/Björn Christian Ewald, Mit Mythen leben. Die Bilderwelt der römischen Sarkophage, München 2004, S. 341. 26 Ebd., S. 342. 27 Andree 1998 (wie Anm. 6), S. 382.
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Kombination des ungleichen Paares resultiert. Wenn vielleicht nicht inhaltlich, so doch wenigstens in der Komposition schwingen latente Dissonanzen bereits in den traditionellen Darstellungen mit: Bei zahlreichen Paaren der Meerwesensarkophage sitzen die Nereiden in Rückenansicht auf den frontal oder im Profil präsentierten Tritonen, sodass beide voneinander abgewandt sind.28 Bei den neuzeitlichen Vollplastiken, die antike Vorbilder referieren, wird diese abgewandte Haltung häufig noch gesteigert. Eine der bekanntesten ist wahrscheinlich Andrea Riccios (1470–1532) Triton und Nereide (Abb. 4), bei der die Vorderseiten der beiden Protagonisten nicht aus derselben Perspektive wahrgenommen werden können. Der Betrachter muss das allansichtige Werk umrunden, um abwechselnd entweder den Triton oder die Nereide frontal betrachten zu können. Da es von Riccios Modell zahlreiche Abgüsse und Reproduktionen gibt,29 ist es wahrscheinlich, dass Böcklin diesen Bronzetypus kannte und daraus Inspirationen für seinen rückenansichtigen Wassermann in der ersten Fassung von Triton und Nereide erhielt (Abb. 1). Die Distanz zwischen den Figuren steigerte der Künstler noch dadurch, dass seine Meerwesen – im Gegensatz zu den Vorbildern, bei denen die Wasserfrauen meist auf ihren Partnern reiten – einander nicht umarmen oder liebkosen, sondern auseinandergerückt sind. Bei dieser Komposition verband er die Motivfragmente aus antiken und neuzeitlichen Kunstwerken auch mit Zitaten und Versatzstücken aus seinem eigenen Œuvre. Einen kompositionellen Prototyp für die erste Fassung von Triton und Nereide (Abb. 1) bildet der Frühling von 1862, der bereits einen Jungen in Rückenansicht und ein vor ihm liegendes Mädchen zeigt.30 Außerdem rekurriert Böcklins Triton durch seinen behaarten Körper, das Blasen des Tritonshorns und die Rückenansicht ebenfalls auf den einsamen, melancholisch die Syrinx spielenden Bocksgott aus Pan im Schilf.31 Lediglich seine Füße sind im Meeresbild in Flossen umgewandelt, was ihn als maritimes Geschöpf ausweist. Nach Meinung der Autorin transformierte Böcklin durch die Neukombination verschiedener Referenzen sowohl aus der Motivgeschichte als auch aus seinem eigenen Werk in Triton und Nereide die kompositorische ‚Abgewandtheit‘ der Protagonisten aus den Vorbildern in eine inhaltliche Distanzierung beider voneinander. Im Gegensatz zu den Figuren der Vorbilder interagieren die Figuren hier nicht miteinander. Weder kommt es zum Austausch von Zärtlichkeiten noch zu irgendeiner Form der Kommunikation, und jeder der Protagonisten ist nur mit sich selbst beschäftigt. Durch diese Inszenierung soll eine implizite Spannung zwischen den Wassergeschöpfen als ein Symptom der Entfremdung der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts suggeriert werden. Die Zuhilfenahme mythologischer Figuren sowie deren Neuinterpretation im zeitgenössischen Kontext ist dabei einerseits als eine Form der modernen Mythenaktualisierung zu verstehen, andererseits verleiht der Künstler dem Zeitgenössischen durch die Verwendung des 28 Zanker/Ewald 2004 (wie Anm. 25), S. 342 und S. 346. 29 Siehe Lars Olof Larrson, Antike Mythen in der Kunst. 100 Meisterwerke, Stuttgart 2009, S. 62f. 30 Vgl. Dorothea Christ/Christian Geelhaar, Arnold Böcklin. Die Gemälde im Kunstmuseum Basel, Einsiedeln 1990, S. 66. 31 Vgl. Basel/Paris/München 2001/02 (wie Anm. 1), S. 183; vgl. Ranke 1998 (wie Anm. 11), S. 69f.
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tradierten mythologischen Personals ebenso den Anschein von etwas Überzeitlichem, dessen Anfänge bereits in den mythengenerierenden Wurzeln der abendländischen Kultur liegen. Zeitgebundene Stereotypen werden hier als anthropologische Grundkonstanten inszeniert, wobei der Künstler durch die Verwendung der halbtierischen Mischgestalt gleichzeitig über das Humane hinaus auf die animalischen Ursprünge in der Naturgeschichte verweist.32 Diese mythenschaffende Überhöhung des Humanen ins Transhumane wird vor allem durch die Betrachtung der späteren Fassungen von Triton und Nereide deutlich. Denn Böcklin kopierte hier das Grundmotiv des dissonanten maritimen Paares nicht einfach nur, sondern er veränderte es auch an entscheidenden Punkten, wie etwa in der Komposition oder bei der Typologie der Tritonen. Während der Künstler seine Nereide immer anthropomorph darstellte, variierte er die Gestalt des Meermannes von Fassung zu Fassung. So ist der Triton der zweiten Version kein satyrartiges Wesen mit Flossenfüßen mehr, sondern ein gewaltiger Ichthyozentaur mit dem Unterleib eines Meeressäugers (Abb. 2). Auch für diese groteske Kreatur existieren formale Vorbilder, allerdings weniger aus der klassischen bildenden Kunst, dafür aber aus naturwissenschaftlichen Illustrationen. Andrea Linnebach zeigte erstmals ausführlich, dass einige Wasserwesen in Böcklins Werken von den Meerwesen-Darstellungen in der Sarkophagtradition abweichen und stattdessen formale Parallelen zu den Meeressäugern in Brehms Tierleben (1864–1869), dem deutschen bürgerlichen Tierlexikon des 19. Jahrhunderts schlechthin, aufweisen.33 So platzierte der Künstler zahlreiche Wassergeschöpfe ähnlich wie die Robben in den Brehm-Illustrationen auf einem von Wellen umspülten Felsen,34 wohingegen sich in tradierten bildkünstlerischen Darstellungen die Meerwesen fast immer im offenen Wasser tummeln.35 Ähnlich wie einige von Brehms Meeressäugern (Abb. 5) besitzt auch Böcklins Triton einen massiven, auf dem Fels lastenden Körper mit angewinkelten Flossen, weißem Bauch und geflecktem Fell – dies sind Merkmale, die sich bei den Ichthyozentauren in der traditionellen bildenden Kunst nicht nachweisen lassen. Derartige Referenzen auf die Anatomie der Robben in Brehms Tierleben sind höchstwahrscheinlich nicht einfach originelle künstlerische ,Spielereien‘ mit dem Formenreichtum der maritimen Fauna, vielmehr stehen sie im Kontext des im späten 19. Jahrhundert gesteigerten bürgerlichen Interesses an Tieren und biologischen Zusammenhängen,36 das nicht zuletzt durch das Aufkommen der Deszendenztheorie angefacht wurde. Bekannt wurde diese vor allem durch Charles Darwins (1809–1882) 1859 erschienenes Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, das seit seiner Veröffentlichung 32 Vgl. Borchhardt 2017 (wie Anm. 18). 33 Andrea Linnebach, Arnold Böcklin und die Antike. Mythos, Geschichte, Gegenwart, München 1991, S. 62–64. 34 Ebd., S. 62f. 35 Zu den antiken Reliefs siehe Zanker/Ewald 2004 (wie Anm. 25), S. 342 und S. 346. 36 Siehe dazu Gerhild Kaselow, Die Schaulust am exotischen Tier: Studien zur Darstellung des zoologischen Gartens in der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts (= Studien zur Kunstgeschichte, 129), Hildesheim u. a. 1999, S. 29; Cornelia Ortlieb/Patrik Ramponi/Jenny Willner (Hg.), Das Tier als Medium und Obsession. Zur Politik des Wissens von Mensch und Tier um 1900, Berlin 2015, S. 22.
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5 Robert Kretschmer, Seehunde, aus: Brehms Tierleben, 1864–1869, Bd. 2
heftige Debatten zwischen Darwin-Anhängern und vor allem christlich-kreationistisch geprägten Gegnern auslöste.37 Wenn auch umstritten, war es in jedem Fall sehr populär und bereits einen Tag nach seiner Veröffentlichung vergriffen.38 Im Gegensatz zum landläufigen heutigen Verständnis der Evolutionstheorie bestand die Neuartigkeit von Darwins Ideen jedoch nicht einfach in der mit der Floskel „Der Mensch stammt vom Affen ab“ verklausulierten Auflösung der tradierten Grenzen zwischen Mensch und Tier. Wie Kemp gezeigt hat, war das Setzen und Auflösen solcher Grenzen bereits seit der Antike ein diskursiver Prozess.39 Das tatsächlich Neue an Darwins Theorie war sein Verständnis der Natur als evolvierendes Prinzip. Anders als bei traditionellen, christlich geprägten Weltbildern und idealistischen Stufenleiterkonzepten erschien die Natur hierbei nicht länger als etwas Metaphysisches und Unveränderliches, im Gegenteil erhielt sie nun selbst eine über das Selektionsprinzip gesteuerte Entwicklungsgeschichte, in die Menschen und (andere) Tiere gleichermaßen mit eingewoben waren. Der Kerngedanke der Selektionsidee („natural selection“) ist, dass die Lebewesen mehr Nachwuchs produzieren, als zur Aufrechterhaltung ihrer Spezies notwendig wäre. Alle diese Nachkommen weisen individuelle Merkmale auf, durch die sie sich 37 Vgl. Bernd Herkner, Die Welt des Charles Darwin, in: Frankfurt a. M. 2009 (wie Anm. 20), S. 258–263, hier S. 258. 38 Ebd. 39 Vgl. Martin Kemp, The human animal in Western art and science (= The Louise Smith Bross lecture series, 1), Chicago u. a. 2007, z. B. S. 4–9.
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von ihren Artgenossen unterscheiden.40 Aufgrund der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen geraten die einzelnen Individuen in einen permanenten Konkurrenzkampf, in dem nur die mit den für das Überleben in ihrer Umwelt vorteilhaftesten Merkmalen weiterbestehen, sich fortpflanzen und ihre nützlichen Merkmale vererben können.41 Dies führt zu einer allmählichen Veränderung der Art und deren Aufsplitterung und Weiterentwicklung in neue Spezies. Dieser Prozess verläuft nicht sprunghaft, sondern graduell über diverse Übergangsformen, wie die Ichthyostega, die als eine der frühesten nachweisbaren Wirbeltierspezies das Wasser (teilweise) verließ und eine Art Übergangsform zwischen Wasser- und Landbewohner bildete. Das Besondere an den Meeressäugern im Kontext der Evolutionstheorie ist jedoch, dass sie keine maritimen Vorfahren terrestrischer Säugetiere sind, sondern von Landbewohnern abstammen, die ins Wasser ‚zurückgekehrt‘ sind. Dieses Konzept einer Rückkehr ins Wasser lässt sich als eine Art künstlerische Analogie zur biologischen Deszendenztheorie auch auf Böcklins Meerwesen übertragen, da sie – zumindest wenn man sich ihre chronologische Stellung in der Motiventwicklung seines Œuvres ansieht – aufgrund ihres Körperbaus wie die Nachfahren der terrestrischen Mischwesen wirken. Bei der Betrachtung der verschiedenen Fassungen von Triton und Nereide wird dies besonders deutlich. Der in der ersten Version (Abb. 1) dargestellte Meermann erinnert durch seinen behaarten Körper sowie seine Haltung noch stark an den Pan im Schilf, der hier lediglich Flossen statt Ziegenhufen hat. In der zweiten Version zeigt der Künstler den bereits beschriebenen Ichthyozentaur, der als ein Geschöpf mit Unterleib eines Meeressäugers, Pferdebeinen und Flossen bereits mehr Merkmale eines Meeresbewohners aufweist (Abb. 2). Der amphibienartige Triton auf der Skizze zur dritten Version (Abb. 3) zeigt noch stärkere maritime Charakteristika, indem es sich bei ihm um eine Kombination aus Menschenoberleib mit froschartig verbreitertem Gesicht und einem einzelnen riesigen Fischschwanz handelt. Mit derartigen fiktiven ,Übergangsstadien‘ zwischen Land- und Meereshybriden spielte Böcklin auch in anderen Werken, so zum Beispiel im Spiel der Wellen (1883) oder in der Magna Mater (1868).42 In letztgenanntem Werk, einem Fresko im Naturhistorischen Museum in Basel, das die schöpferische Naturkraft als die Urmutter allen Lebens zeigt,43 sind die ihre Muschel tragenden Tritonen zwar immer aus den Elementen Mensch, Fisch und Pferd kombiniert, dennoch gleicht kein Triton dem anderen. Da die verschiedenen tierischen Applikationen bei den einzelnen Figuren in unterschiedlicher Gewichtung auftreten, sodass einige mehr Fisch- und die anderen mehr Pferde- oder Menschenmerkmale aufweisen, wirken auch sie wie Übergangstadien – diesmal vom 40 Vgl. Charles Darwin, The works of Charles Darwin, hg. von Paul H. Barrett/R. B. Freeman, 29 Bde., Bd. 15: On the origin of species, 1859, London 1988, S. 47. 41 Ebd.; vgl. Thomas Junker, Die Entdeckung der Evolution. Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte, Darmstadt 22009, S. 21. 42 Arnold Böcklin, Magna Mater, 1868, Fresko, 475 × 269 cm, Wandbild im Treppenhaus des Museums an der Augustinergasse in Basel (heute Museum der Kulturen); Linnebach 1991 (wie Anm. 33), S. 59, S. 165; Kort 2009 (wie Anm. 20), S. 27–33. 43 Andree 1999 (wie Anm. 15), S. 152; Margarete Pfister-Burkhalter, Arnold Böcklin: die Basler Museumsfresken, Basel 1951.
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maritimen zum terrestrischen Mischwesen.44 In den einzelnen Meeresbildern Böcklins lassen sich somit verschiedene Bewegungsrichtungen eines fiktiven evolutionären Prozesses erkennen, der entweder progressiv vom Ursprung aus voranschreitet, wie in der Magna Mater, oder auch regressiv zum Ursprung zurücklaufen kann, wie es sich an den verschiedenen Fassungen von Triton und Nereide zeigt. Die Autorin vertritt die These, dass Böcklins Hybriden als bewusst gestaltete Figuren dabei weniger fiktive ausgestorbene Entwicklungsstadien oder mythische Relikte der Geschichte darstellen,45 sondern dass sie als ,simultane Verdichtung‘ verschiedener Augenblicke der Evolution des Lebens und der Kultur verstanden werden können.46 Ähnlich wie der Künstler in seinen Hybriden unterschiedliche Momente der Naturgeschichte ‚verschmolz‘, führte er durch den Rückgriff auf motivische Vorbilder aus der Antike und der Neuzeit, die er mit ästhetischen und weltanschaulichen Ideen der Moderne verband, auch disparate Momente der Kulturgeschichte zusammen. Aus diesem Grund schließen die mythologische und die darwinistische Interpretation von Böcklins Werken einander nicht aus, ganz im Gegenteil: Sie komplettieren einander im Konzept der mythopoietischen Verdichtung von Geschichte.47 Diese Verdichtung vollzog der Künstler sowohl über die kombinierten Typologien als auch durch die Inszenierung seiner Kreaturen im Bild. Denn Böcklin hat für seine Darstellungen wie Triton und Nereide keine großen historischen Momente gewählt, sondern zeigte unspezifische, grundlegende Interaktionen zwischen Lebewesen, wie Spiel-, Liebes- oder Kampfszenen. All dies sind Konflikte, die nicht nur einer bestimmten historischen Epoche und auch nicht nur der Gattung Mensch zuzuordnen sind, sondern sich in zahlreichen humanen und tierischen Sozialstrukturen in jeder Zeit wiederholt haben.48 Bei der Darstellung solcher als überzeitlich inszenierten Grundprinzipien des Lebens ging es dem Künstler nicht um die Visualisierung der „stehenden Sekunde“ des Impressionismus,49 sondern antithetisch dazu um eine Sekunde, in der sich sehr lange Zeiträume in einem einzelnen absolut gegenwärtigen intensiven Augenblick verdichten.50 Diese künstlerische Intention schlägt sich auch in der bei Böcklin so häufig zu beobachtenden Selbstwiederholung nieder, bei der er für die Inszenierung seiner ,simultanen Verdichtungen‘ verschiedene Kombinationen von Bild- und Ideenfragmenten sowohl aus verschiedenen visuellen Traditionen als auch aus der eigenen Erlebniswelt austestete, um diese so wirkmächtig wie möglich zu inszenieren. Trotz der zahlreichen Anleihen bei der Tradition war Böcklins Blick dabei gerade nicht
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Vgl. Borchhardt 2017 (wie Anm. 18), S. 201–207. Diese Ansicht vertrat z. B. Kort; vgl. Kort 2009 (wie Anm. 20), S. 32. So auch in Borchhardt 2017 (wie. Anm 18), S. 211f. Ebd., S. 212. Angelika Wesenberg, Idylle und Hesperidenland, in: Dies. (Hg.), Hans von Marées: Sehnsucht nach Gemeinschaft, Ausst.-Kat. Alte Nationalgalerie, Berlin 2008/09, Dresden 2008, S. 9–16, hier S. 9. 49 Vgl. Gottfried Boehm, Das neue Bild der Natur. Nach dem Ende der Landschaftsmalerei, in: Manfred Smuda (Hg.), Landschaft (= Suhrkamp-Taschenbuch, 2069), Frankfurt a. M. 1986, S. 87–110, hier S. 90. 50 Wölfflin 1946 (wie Anm. 8), S. 110f.
die ewige wiederkehr der variationen 61
nostalgisch in die Vergangenheit gerichtet,51 sondern ganz bewusst auf Aktualität und Präsenz – im Sinne eines historischen Epochenkonstrukts sowie einer antizipierten Lebenswelt – fokussiert.
51 Dieses nostalgische Element lasen zahlreiche Autoren in den Werken Böcklins. Floerke 1910 (wie Anm. 7), S. 14; Fleiner 1915 (wie Anm. 9), S. 38f.; Patricia Merivale, Pan the Goat-God: His Myth in Modern Times, Cambridge, Mass., 1969, S. 22 und S. 48f.; Elizabeth Barnes Putz, Classical Antiquity in the Painting of Arnold Böcklin, Ann Arbor, Mich., 1979.
die kunst der unablässigen reprise gauguins spätwerk zwischen selbstvergewisserung und experiment
kerstin thomas Paul Gauguin hat insbesondere in seinem Spätwerk die Praxis der unablässigen Reprise zum bestimmenden Faktor seines Werks gemacht. In seinem Œuvre finden sich zahlreiche Motivübernahmen aus eigenen Werken, häufig übersetzt Gauguin auch die Motive in ein anderes Medium. Ein Beispiel hierfür ist die Motivübertragung aus dem heute in der Staatsgalerie Stuttgart befindlichen Gemälde E haere oe i hia (Wohin gehst Du?) (Abb. 1) von Gauguins erstem Tahiti-Aufenthalt aus dem Jahr 1892. Das durch die zwei hockenden Frauen und das dörfliche Haus im Hintergrund als Genreszene angelegte Motiv, dessen belangloser Titel Wohin gehst Du – eine Frage, die offensichtlich an die große Frauenfigur im Vordergrund gerichtet ist – seine Alltäglichkeit unterstreicht, ist in seiner Mehrdeutigkeit erst durch die späteren Reprisen erfahrbar. So schuf Gauguin, mittlerweile wieder nach Paris zurückgekehrt, zwei Jahre später eine Skulptur aus Steingut mit partiellem Emailleüberzug (Abb. 2), der er den Namen Oviri (Wild) gab und die eine groteske Frauenfigur zeigt, welche in ähnlicher Haltung wie die große Vordergrundfigur auf dem Gemälde ein Wolfsjunges an ihren Oberschenkel presst.1 Gauguin hat dieser Figur keine spezifische Bedeutung verliehen, sie schien ihm aber so ausdrucksstark, dass er sie im selben Jahr noch einmal als Aquarell-Monotypie ausführte sowie einen Holzschnitt von ihr anfertigte (Abb. 3). Der Holzschnitt ist nur in geringer Auflage von 18 Exemplaren gedruckt worden, alle wurden per Hand von Gauguin abgezogen und teils handkoloriert. Zwei Abzüge, einen schwarzen und einen ockerfarbenen, gedruckt auf einem Bogen, übersandte Gauguin an den von ihm bewunderten Dichter Stéphane Mallarmé mit der Widmung: „à Stéphane Mallarmé. Cette étrange figure cruelle énigme. P. Gauguin 1895“.2 In der Skulptur tritt jene Grausamkeit, die Gauguin in der Widmung anspricht, am deutlichsten hervor, zertritt hier doch die weibliche Figur mit groben Gesichtszügen und einer tierhaften Mähne eine Wölfin, die stark blutet und ihr Maul zum Schrei aufgerissen hat, während es nicht ganz deutlich wird, ob sie das Wolfsjunge mit ihren großen Händen birgt oder es zerquetscht. Zurückgewendet auf das Gemälde erscheint nun die Szenerie weit weniger harmlos, und auch die starke perspektivische Vergrößerung der Frauenfigur im Vordergrund 1 Näheres zur Entstehungs- und Ausstellungsgeschichte dieser Figur, die Gauguin so wichtig war, dass er sie auf sein Grab aufstellen lassen wollte, bei Anne Pingeot, Oviri, 1894, in: Gauguin Tahiti. L’atelier des tropiques, Ausst.-Kat. Galeries nationales du Grand Palais, Paris 2003/04/Museum of Fine Arts, Boston 2004, Paris 2003, S. 186–196. 2 Dt. Übers. der Autorin: „Für Stephane Mallarmé. Diese fremdartige grausame Figur Rätsel, P. Gauguin 1895“, siehe Richard Brettell/Françoise Cachin/Claire Frèches-Thory u. a. (Hg.), The Art of Paul Gauguin, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington D.C. 1988/Art Institute of Chicago 1988/Galeries nationales du Grand Palais, Paris 1988/89, Paris 1989, Kat.-Nr. 213, S. 365.
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1 Paul Gauguin, E haere oe i hia (Wohin gehst Du?), 1892, Öl auf Leinwand, 96 × 69 cm, Staatsgalerie Stuttgart
sowie ihre starre Haltung können deutlich als Verfremdungsmittel erkannt werden, durch die Gauguin offenbar einer tahitischen Genreszene eine abgründige Bedeutung unterlegen wollte. In ihrer Versteinerung nimmt die Figur der Oviri in Gemälde und Holzschnitt einen Zwischenstatus von Mensch und Skulptur ein. In der Forschung hat lange das Interesse an der Bedeutung von Gauguins Motiven vorgeherrscht. Motivübertragungen wurden dementsprechend als Hinweise zur Deutung seiner oft undurchdringlichen Ikonografie herangezogen, in dem Sinne, dass Gauguin hier eine eigene Symbolwelt geschaffen habe, in der jedes Motiv eine spezifische Bedeutung trage.3 Eine Ausstellung, die 2014 im Museum of Modern Art, New York, 3 Christopher Gray versteht Oviri als Verkörperung der destruktiven weiblichen Kräfte, wie sie in vielen Mythologien vorkommt. Die Frau zertrete hier die Wolfsmutter und nehme ihr das Junge weg. Die Figur bringe die Vorstellungen von Leib, Grab, Tod und Geburt zum Ausdruck. Gray verbindet dies mit der seelischen Verfassung Gauguins, seiner Depression und Desillusion. Christopher Gray, Sculpture and Ceramics of Paul Gauguin, Baltimore 1963 (Reprint New York 1980), S. 64–66. Vojtěch Jirat-Wasiutyński sieht demgegenüber im Wolf das männliche Tier, das Oviri befruchtet habe, welche ein Wolfsjunges gebar. Vojtěch Jirat-Wasiutyński, Paul Gauguin in the Context of Symbolism, Diss., New York/London 1978, S. 378. Weiteres bei Pingeot 2003 (wie Anm. 1).
stattfand, widmete sich demgegenüber explizit den Metamorphosen bestimmter Motive in Gauguins Bildern und spätestens in dem dort zusammengetragenen Material wird deutlich, dass eine ikonografische Lesart das Phänomen nicht hinreichend zu erklären vermag.4 So greift etwa Gauguin die Oviri-Figur in einem späten Holzschnitt, gedruckt in 17 Exemplaren während seines zweiten und letzten Tahitiaufenthaltes, wieder auf (Abb. 4). Hier ist nun Oviri als erhabenes Idol am äußeren Rand neben einer Früchte pflückenden Frau dargestellt, in einer Szene, die hell und friedfertig ist und in nichts von der Grausamkeit der Skulptur zeugt. Offensichtlich hat Gauguin zwar die Ausdruckskraft der Figur geschätzt, ihr jedoch keine feste Bedeutung verliehen, sodass sie bei jeder Reprise jeweils unterschiedliche Bedeutungen annehmen konnte. Gleichbleibend ist einzig gerade ihre Mehrdeutigkeit. Die Mensch-Statuen-Transformation, wie sie Oviri vollzieht, dient dem Künstler dabei als unterstützendes Mittel, um ebenjenen Charakter des Mysteriösen und Uneindeutigen zu erzeugen. Dies wird auch in seinen Schriften deutlich, in denen Gauguin immer wieder das Bild einer Zwischenfigur zwischen Mensch und Statue aufruft. So beschreibt der Künstler in Diverses choses, einem in loser Folge zwischen 1896 und 1898 verfassten Notizbuch, „Le Tableau que je veux faire“ wie folgt: „La figure principale sera une femme se transformant en statue conservant la vie pourtant, mais devenant idole.“5 Wie hier deutlich wird,
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2 Paul Gauguin, Oviri (Wild), 1894, Steingut, mit partiellem Emailleüberzug, 75 × 19 × 27 cm, Musée d’Orsay, Paris
4 Starr Figura (Hg.), Gauguin: Metamorphosen, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York, Ostfildern-Ruit 2014. 5 Paul Gauguin, Diverses choses, 1896–1897, unediertes Manuskript, eingebunden in Noa Noa. Voyage de Tahiti, S. 105 r.–177 v. Als Faksimile reproduziert auf CD-Rom: Gauguin écrivain, Paris 2003, S. 130 v., dt. Übers. der Autorin: „Das Bild, das ich malen will (...) Die Hauptfigur wäre eine Frau, die sich in eine Statue verwandelt und dennoch das Leben bewahrt, aber zum Idol wird.“
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3 Paul Gauguin, Oviri (Wild), 1894, Holzschnitt in Schwarz und Ocker auf Japanpapier, 20,8 × 12 cm, The Art Institute of Chicago, Print and Drawing Department
führen Gauguins Motivübernahmen gerade nicht zur Bedeutungsübertragung auf Basis einer eindeutigen Symbolsprache. Die Figur der Oviri ist – so wie auch andere Figuren – eher eine Art Ausdruckschiffre, wie es ja auch Gauguins Widmung an Mallarmé nahelegt, in der er die Figur als eigenartig, rätselhaft beschreibt. Gauguin nutzte die Reprisen, so könnte man präzisieren, gerade nicht als Symbol oder ikonografisches Zeichen, um eine feststehende Bedeutung zu vermitteln, sondern seine Rückgriffe auf die eigenen Motive dienen ihrer Bedeutungserweiterung ins Ungewisse bei gleichzeitiger Versicherung einer zugrunde liegenden suggestiven Wirkkraft. Der Begriff der Metamorphose, den die Ausstellung im Museum of Modern Art gewählt hatte, ist geeignet, um diesen dynamischen Aspekt der Motive in Gauguins Werk gegenüber dem Begriff des Symbols herauszustellen. Insbesondere der Prozess der Versteinerung, wie er sich in der Figur Oviri vollzieht, wird durch den Begriff der Metamorphose sinnfällig. Ihr besonderes Augenmerk richteten die Kuratoren dabei auf den experimentellen Aspekt der Reprisen, der durch die Transformationsprozesse, denen die Motive im Medienwechsel unterworfen sind, zusätzlich stimuliert wird.6 Dennoch ist Gauguins Bildpraxis auch mit der Charakterisierung als ‚Metamorphose‘ noch nicht hinreichend erfasst. Die Assoziation mit natürlichen Transformationspro6 Starr Figura, Gauguins Metamorphosen. Wiederholung, Transformation und die Druckgrafik als Katalysator, in: New York 2014 (wie Anm. 4), S. 14–35.
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4 Paul Gauguin, Früchte pflückende Frau und Oviri, 1896–1897, Holzschnitt in Schwarz auf Japanpapier, 11,6 × 8,8 cm
zessen, die ohne Zutun von außen ablaufen, wird dem energischen Gestaltungswillen und der Marktorientierung des Künstlers nicht gerecht.7 Darüber hinaus trifft auch die mit der Metamorphose verbundene Auffassung von Dingen, die sich in ihrer Gestalt wandeln, nur partiell die Merkmale von Gauguins Reprisen. Denn ebenso oft wie eine Verwandlung ist bei Gauguin eben auch ein Rückgriff auf Motive zu beobachten, deren Formen identisch bleiben. Somit weist der inhaltliche Bezug sowohl Identität als auch Differenz auf. Der in diesem Band vorgeschlagene Begriff der Wiederholung erscheint mir deshalb zunächst geeigneter, um Gauguins Praxis der Reprise zu erfassen. Denn wo die Metamorphose den Aspekt der stetigen Wandlung anzeigt, bei dem der ursprüngliche Zustand verlassen wird zugunsten eines neueren, ist zumindest im philosophischen Begriff der Wiederholung ebenso Dauer wie Differenz aufgehoben, und die Wiederholung zieht aus diesem doppelten Moment ihre Spannung. Man kann bei Gauguin beobachten, wie in der Wiederholung von Motiven sowohl die ihnen unterlegte Bedeutung reproduziert wird als auch neue Bedeutungsschichten hinzukommen. Diese Form der Rückbezüglichkeit, bei der Identität und Differenz von gleicher Bedeutung sind, basiert dabei nicht auf einem stabilen, kontextinvarianten Sprachsystem. Sie ist vielmehr die konsequente Ausformung einer zentralen Bildpraxis von Gauguin, welche bestimmt ist durch zahllose intertextuelle und interpikturale Bezüge, sowohl 7 Zu Gauguins Marktorientierung siehe Elise Eckermann, „En lutte contre une puissance formidable“. Paul Gauguin im Spannungsfeld von Kunstkritik und Kunstmarkt, Weimar 2003.
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im engeren, hermeneutischen Sinne – als intentionale Bezüge – als auch im weiteren Sinne als nicht intentionale Bezüge. Besonders deutlich zeigt sich diese Bildpraxis dort, wo Gauguin Motive außereuropäischer Kunst aufgreift. Sein Künstlerkollege Camille Pissarro empfand diese Übernahmen exotischer Motive durch Gauguin als Raubzüge im Feld fremder Kulturen. So schrieb er in einem Brief an seinen Sohn Lucien: „J’ai vu Gauguin qui m’a fait des théories sur l’art et m’a assuré que là était le salut pour les jeunes: se retremper dans ces sources lointaines et sauvages! Je lui ai dit que cet art ne lui appartenait pas, qu’il était un civilisé et à ce titre était tenu de nous montrer des choses harmoniques, nous nous sommes quittés sans nous convaincre. Gauguin certainement ne manque pas de talent, mais quel mal il a à se ressaisir, il est toujours à braconner sur les terrains d’autrui, aujourd’hui il pille les sauvages de l’Océanie.“8 Pissarro fällt hier mit seiner Beschreibung der eklektischen Bildpraxis ein moralisches oder vielleicht auch nur eurozentrisch motiviertes Verdikt über Gauguin. Diese Praxis lässt sich jedoch ebenso als produktive Appropriation deuten, als Aneignung von etwas Fremdem, das durch Umformung produktiv gewendet wurde.9 Ebenjenes Prinzip, das Gauguin im Bezug auf die außereuropäische Kunst anwendet, liegt auch seinen Motivwiederholungen zugrunde. Mit jeder Wiederholung legt sich eine neue Bedeutungsschicht um das Motiv und erweitert seine Dimension. Betrachtet man etwa die Figuren aus Parau na te varua ino (Worte des bösen Geistes), so wird deutlich, wie die unterschiedlichen Bedeutungen ineinandergreifen, sich überlagern und neue Bedeutungsdimensionen entstehen. Die Frauenfigur des Vordergrundes ist erkennbar eine Übertragung des Motivs der aus dem Paradies vertriebenen Eva. Im Hintergrund hockt der böse Geist, auf den im Titel hingewiesen wird. In Verbindung mit der Frauenfigur in pudica-Pose übernimmt er in dem Gemälde die Rolle der Schlange im Paradies. Doch mit der Gestaltung als böser Geist wiederholt Gauguin nicht den europäischen Bildkanon, sondern er schafft eine neue, eigenständige Figur. Der Künstler verfährt nun mit dieser Neuschöpfung ähnlich wie mit einem ikonografischen Motiv, indem er die Figur unzählige Male in seinen Gemälden selbst wiederholt und ihr damit eine Art symbolischen Charakter verleiht. Im Unterschied zu einem Symbol 8 Brief von Camille Pissarro an seinen Sohn Lucien, Paris, 23. November 1893, in: Janine Bailly-Herzberg (Hg.), Correspondance de Camille Pissarro, 4 Bde., Paris 1980–1988, Bd. 3: 1891–1894, Paris 1988, S. 400, dt. Übers. der Autorin: „Ich habe Gauguin gesehen, der mir viel von Kunsttheorien redete und der mir versicherte, dass das Heil der jungen Künstler darin liege, wieder einzutauchen in die fernen und wilden Ursprünge! Ich habe ihm gesagt, dass er dieser Kunst nicht angehöre, dass er zivilisiert sei und deshalb gehalten sei, uns harmonische Dinge zu zeigen, wir haben uns getrennt, ohne uns gegenseitig überzeugen zu können. Gauguin ist sicher nicht untalentiert, aber wie viel Mühe hat er, sich zusammenzureißen, er ist beständig dabei, in fremdem Terrain zu wildern, heute raubt er die Wilden aus Ozeanien aus.“ 9 Zum Begriff der produktiven kulturellen Appropriation: James O. Young, Cultural Appropriation and the Arts, Oxford 2010. Diesen Aspekt habe ich eingehend behandelt in: Kerstin Thomas, Das Künstlerbuch als Palimpsest. Paul Gauguins Noa Noa, in: Caroline Fischer/Diego Saglia/ Brunhilde Wehinger (Hg.), Produktive Rezeption – Imitatio, Intertextualität, Intermedialität, Tübingen 2015 (Konzepte der Rezeption, Bd. 1), S. 135–161.
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5 Paul Gauguin, Te po (Die Nacht), aus der Suite Noa Noa, 1893–1894, Holzschnitt zweimal gedruckt, in Ocker und Schwarz auf rosafarbenem Velinpapier, 27,6 × 41,9 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Harris Brisbane Dick Fund
oder einem ikonografischen Motiv spielt Gauguin bei seinen Motivwiederholungen jedoch die Mehrdeutigkeit der wiederholten Figuren aus, indem sie in einem neuen Bildzusammenhang eine jeweils neue Bedeutung erhalten können. So ist etwa der böse Geist aus Parau na te varua ino (Worte des bösen Geistes) auch in dem Holzschnitt Te po (Die Nacht) aus der Noa-Noa-Suite zu sehen (Abb. 5).10 Ebenso wie im Gemälde blickt er auch hier frontal aus dem Bild. Seine Bedeutung im Zusammenhang mit diesem Bild erschöpft sich jedoch nicht in seiner Rolle als ‚böser Geist‘. Er erfährt vielmehr eine Bedeutungserweiterung – wie dies Charles Stuckey mit Hinweis auf das Motiv eines ähnlichen Bildes ausgeführt hat. Der Dichter Charles Morice hatte dem Bild im Katalog einen Text beigegeben, in dem es heißt: „Quelqu’un conte une dangereuse histoire et dans la naïveté d’un des écoutants, la légende a pris corps, elle déforme terriblement la nature aux yeux agrandis, phosphorescents, du crédule, et la nuit douce de Tahiti s’est peuplée d’êtres redoutables, inconnus, innommées, anciennes divinités déchues ou vieux morts qui veillent (...).“11 10 Abb. des Holzdruckstocks und von vier Zuständen in: New York 2014 (wie Anm. 4), Kat.-Nr. 65–69, S. 124–126. 11 Charles Morice, Introduction, in: Exposition d’œuvres récentes de Paul Gauguin, Ausst.-Kat. Paris 1893, S. 10f., zit. n. Charles F. Stuckey, in: Washington, D.C./Chicago/Paris 1988/89 (wie Anm. 2), Kat.-Nr. 147, S. 267–269, hier S. 267, dt. Übers. der Autorin: „Jemand erzählt eine gefährliche Geschichte und in der Naivität eines der Zuhörer hat die Erzählung Gestalt angenommen, sie verformt auf furchtbare Weise die Natur in den vergrößerten, phosphoreszierenden Augen
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Stuckey beschreibt die Figur daher als Verkünder der Angst, die die Tahitianer überfällt, wenn nachts die bösen Geister erwachen. In Te po (Die Nacht) ist die hockende Gestalt mit den phosphoreszierenden Augen Teil einer Szene aus einer schlafenden und drei wachenden Figuren, die von einer Öllampe beleuchtet werden. Da sie mitten unter den sinnierenden, wachen Tahitianern sitzt, könnte sie gleichermaßen eine Verkörperung des bösen Geists sein wie auch von der Angst vor Übernatürlichem zeugen. Diese zusätzliche Bedeutung lagert sich um die Figur. Sie verleiht in einer weiteren Reprise auch der Eva-Allusion eine neue psychologische Bedeutungsdimension. So wiederholt Gauguin in einer Abdruck-Zeichnung die verschiedenen Motive des Gemäldes Parau na te varua ino (Worte des bösen Geistes): Die Zeichnung zeigt die Frauenfigur in pudica-Pose, die bedrohlichen Figuren im Hintergrund als auch erstmals eine Schlange und trägt den Titel Eva (Der Albtraum).12 Die Bedeutung von Eva und dem Sündenfall sowie die von Angst, Nacht und Albtraum werden hier explizit miteinander verbunden, ohne sich zu einer eindeutigen Bedeutung aufzulösen. Im Gegenteil scheinen die Reprisen der Motive die Bilder weiter zu verdunkeln. Gauguin nutzte die in der Wiederholung liegende Spannung zwischen Identität und Differenz, um den Effekt des Vertrauten und gleichzeitig eine Vielschichtigkeit der Bedeutung zu erzeugen. Gleichbleibendes und Verändertes überlagern sich so zu einer dichten Ausdruckschiffre. Das Umkreisen und Wiederholen der immer gleichen Motive und deren Kombination mit Neuem dient dem Versuch, sie zu verdichten, um ihre suggestive Ausdruckskraft zu potenzieren. Es ist auffällig, dass zwischen 1893 und 1895, in den Jahren, in denen Gauguin von seinem ersten Tahiti-Aufenthalt nach Paris zurückkehrte, bevor er 1895 endgültig wieder nach Tahiti abreiste, die Anzahl der Reprisen stark ansteigt. Zudem sind gerade in diesen Jahren auffällige Verknüpfungen verschiedener Ausdruckschiffren in einem Bild zu finden. Die Bilder gleichen großen Kompilationen alter und erprobter Motive. Im Mittelpunkt dieser Praxis der Wiederholung steht die Druckgrafik, mit der Gauguin in der Pariser Phase intensiv experimentierte und die das Zusammenspiel von Identität und Differenz im besonderen Maße befördert.13 Gauguin erprobte hier unterschiedliche experimentelle Techniken und Verfahren, wie Zinkografie, Holzschnitt, Lithografie sowie Abklatschverfahren, Monotypie und Durchdruckzeichnung.14 Mit den obsessiven Wiederholungen in der Pariser Zeit versuchte Gauguin offenbar außerdem, eine neue künstlerische Position zu etablieren, die auch eine wirtschaftliche Verbesserung mit sich bringen sollte. So begann Gauguin einen großen Teil seiner druckgrafischen des Gläubigen, und die sanfte Nacht Tahitis füllte sich mit furchterregenden, nie gesehenen, unbenannten, alten, gestürzten Gottheiten oder alten Toten, die wachen (...).“ 12 Paul Gauguin, Eva (Der Albtraum), Abklatschzeichnung in schwarzer und ockerfarbener Tinte, 64,2 × 48,9 cm, Los Angeles, J. Paul Getty Museum. Abb. in Washington, D.C./Chicago/Paris 1988/89 (wie Anm. 2), Kat.-Nr. 251. 13 Figura 2014 (wie Anm. 6). 14 Für eine Übersicht von Gauguins Druckgrafik: Elizabeth Mongan/Eberhard W. Kornfeld/Harold Joachim, Paul Gauguin – Catalogue Raisonné of His Prints, Bern 1988; Tobia Bezzola/Elisabeth Prelinger (Hg.), Paul Gauguin. Das druckgrafische Werk, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 2012/13, München/London/New York 2012. Speziell zu den Abklatschtechniken: Richard S. Field (Hg.), Paul Gauguin – Monotypes, Ausst.-Kat. Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 1973; Erika Mosier, Gauguins technische Experimente in Holzschnitt und in Durchdruckzeichnungen in Öl, in: New York 2014 (wie Anm. 4), S. 60–71.
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Arbeiten 1893 nach der enttäuschenden Erfahrung seiner Einzelausstellung in den Räumen des Kunsthändlers Paul Durand-Ruel, die dazu gedacht war, ihn mittels seiner aus Tahiti mitgebrachten Gemälde und Zeichnungen ins Zentrum der Avantgarde zu katapultieren und seine Werke auf dem Kunstmarkt zu etablieren. Doch die Ausstellung wurde zumindest in ökonomischer Hinsicht zum Misserfolg: Gauguin konnte nur fünf seiner Bilder verkaufen, was unmittelbar zum Absturz der Preise seiner Werke auf dem Kunstmarkt führte. Das Publikum und die Kritik bemängelten die Unverständlichkeit seiner Bilder. Die Druckgrafik war als Mittel gedacht, dem Publikum und den unterrichteten Kunstkreisen sein Tahiti-Œuvre näherzubringen, um endlich die von ihm ersehnte Anerkennung zu erhalten.15 Das Projekt, das dieses Ziel ermöglichen sollte, war das Buch Noa Noa; ein Reiseroman, in dem Gauguin seine Erlebnisse in Tahiti schildern wollte und der mit Druckgrafiken angereichert werden sollte.16 Das Buch, das die exotische Welt Tahitis beschwört, sollte auch die Aufnahme seiner Gemälde mit tahitischen Motiven befördern. Ursprünglich bereits für die Ausstellung bei DurandRuel geplant, wurde nun nach deren Misserfolg das Buch von dringlicher Bedeutung. Insofern waren die intertextuellen und interbildlichen Verweise des Buches und der hierfür geschaffenen Grafiken von vorneherein motiviert durch den Versuch, eine eigene tahitische Welt zu schaffen, deren Authentizität durch die Wiederholung einzelner Motive im Bild- und Textmedium zusätzlich bekräftigt werden sollte. Wie die unterschiedlichen erhaltenen und überarbeiteten Manuskripte zeigen, tat Gauguin sich zunächst schwer, für das Buch den richtigen literarischen Ton zu finden.17 In Form eines Reiseromans verfasst, wollte Gauguin seine Erlebnisse während seines zweieinhalbjährigen Aufenthaltes auf Tahiti schildern, mit den Sitten des Landes vertraut machen und der französischen Kunstwelt demonstrieren, dass sein Leben sich mit dem der Polynesier verbunden hatte. Es sollte die Geschichte einer vollständigen Assimilation zeigen, welche auf glücklichste Weise seinen künstlerischen Horizont erweitert hatte, wie es der Kritiker Octave Mirbeau bereits in einer der wenigen wohlwollenden Besprechungen der Ausstellung von Gauguins Tahiti-Gemälden in der Galerie Durand15 Zum Misserfolg am Pariser Kunstmarkt: Richard Brettell, Le Retour en France, in: Washington, D.C./Chicago/Paris 1988/89 (wie Anm. 2), S. 297–302. 16 Jean Loize, Noa Noa par Paul Gauguin, Paris 1966; Richard Field wies als Erster überzeugend nach, dass die Holzschnitte der Suite als Bildtafeln für das Buch gedacht waren: Richard S. Field, Gauguin’s Noa Noa Suite, in: The Burlington Magazine 110/1968, Nr. 786, S. 500–511; vgl. auch Nicholas Wadley (Hg.), Noa Noa. Gauguin’s Tahiti, Salem, New Hampshire 1998; Alastair Wright/Calvin Brown, Gauguin’s Paradise Remembered. The Noa Noa Prints, Ausst.-Kat. Princeton University Art Museum 2010/11, New Haven/London 2010. 17 Gauguin, Noa Noa, Manuskript, in drei Fassungen erhalten: 1. Manuskript ohne Illustrationen, o. D. (J. Paul Getty Museum, Los Angeles), erste Publikation in Faksimile Paris 1954; 2. Manuskript mit zahlreichen Illustrationen, in Zusammenarbeit mit Charles Morice, 1893–1897 (Musée d’Orsay, Paris, aufbewahrt im Louvre, Département des Arts graphiques), Faksimile-Edition Berlin 1926, vollständige Reproduktion auf CD-ROM: Gauguin 2003 (wie Anm. 5); 3. Manuskript ohne Illustrationen, in Zusammenarbeit mit Charles Morice, 1897 (Charles Morice Papers, Special Collections Research Center, Temple University Libraries, Philadelphia); zur Genese von Noa Noa vgl. Wadley 1998 (wie Anm. 16), insbes. S. 85–107; Isabelle Cahn, Noa Noa – Voyage de Tahiti, in: Paris/Boston 2003/04 (wie Anm. 1), S. 135–162; siehe auch Elizabeth C. Childs, Gauguin as Author. Writing the Studio of the Tropics, in: Van Gogh Museum Journal 2003, S. 70–87; die folgenden Ausführungen zu Noa Noa beziehen sich auf meine Publikation von 2015: Thomas 2015 (wie Anm. 9).
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Ruel beschrieb.18 In einem Brief an seine Frau schrieb Gauguin: „Je prépare en outre un livre sur Tahiti et qui sera très utile pour faire comprendre ma peinture.“19 Die Welt Tahitis sollte in Text und Bildern als einheitliche Matrix erscheinen. Das Buch war zur Ausstellungseröffnung im November nicht fertiggestellt. Gauguin beschloss, den symbolistischen Poeten und Kritiker des Mercure de France, Charles Morice, an dem Buch zu beteiligen. Doch dieser lieferte nur wenige der eingeplanten Textstellen ab. Gauguin verließ Frankreich im Juli 1895 mit dem unfertigen Buch in Richtung Tahiti. Das vervollständigte Manuskript sollte zu Lebzeiten des Künstlers nicht mehr erscheinen. In der illustrierten Fassung von Noa Noa nutzte Gauguin die Wiederholung von Bildmotiven, um die Identität der tahitischen Welt zu beschwören, als deren Teil er sich verstanden wissen wollte. Bereits mit der Wahl des tahitianischen Titels Noa Noa (Wohlriechend) betont Gauguin seine intime Kenntnis der Kultur der Inselbewohner. In seinem Vorwort bezeichnet sich Gauguin deshalb auch als „sauvage“, als Wilden und damit Eingeweihten. Diese Rolle des Initiierten, die insbesondere Stephen F. Eisenman in seiner Publikation 1997 beleuchtet hat, spricht auch aus Gauguins Wahl tahitianischer Bildtitel, die die Besucher der Ausstellung bei Durand-Ruel so verstört hatten und an denen er dennoch festhielt.20 Durch dieses Narrativ der Verschmelzung mit der fremden Kultur markiert Noa Noa einen deutlichen Unterschied zu den klassischen Reiseberichten, wie etwa der Voyage aux îles du Grand Océan von Jacques-Antoine Moerenhout von 1837. Aus diesem Text, den er studiert und transkribiert hatte, plagiierte er für seine Studie Ancien culte mahorie große Teile, die auch in Noa Noa wieder auftauchen.21 Den Status des Initiierten in ein verlockendes exotisches Paradies, den Gauguin mit seinem tahitianischen Titel Noa Noa behauptet, unterstreicht er in der illustrierten Fassung auch durch die bildliche Gestaltung des Umschlags, auf welchen ein Aquarell mit einem Ausschnitt aus dem Gemälde Nava nave fenua (Herrliches Land) von 1894 geklebt ist. Das Bild des tahitischen Paradieses mit Eva und Schlange legt nahe, dass das Herrliche Land paradiesisch, aber in seiner Unschuld bedroht ist: eine Einstellung, die Gauguin
18 Nach der ausführlichen Beschreibung der erfolgten Assimilation schließt Mirbeau: „Gauguin a tellement mêlé sa vie à celle des Maories que tout ce passé, il le reconnaît comme sien. Il n’a plus qu’a le traduire en œuvre.“, Octave Mirbeau, Retour de Tahiti, in: L’Echo de Paris, 14. November 1893, S. 1, dt. Übers. der Autorin: „Gauguin hat sein eigenes Leben derart vermengt mit dem der Maori, dass er all diese Vergangenheit wie seine eigene empfindet. Er muss sie einfach nur in Werke übertragen.“ 19 Brief von Paul Gauguin an seine Frau, o. D. (Oktober 1893), in: Maurice Malingue (Hg.), Gauguin, Lettres à sa femme et à ses amis, Paris 1946, Brief CXLIII, S. 249, dt. Übers. der Autorin: „Ich bereite außerdem ein Buch über Tahiti vor, das sehr nützlich sein wird, meine Gemälde verständlich zu machen.“; vgl. auch Cahn 2003 (wie Anm. 17), S. 136. 20 Stephen F. Eisenman, Gauguin’s Skirt, London 1997. 21 Bengt Danielsson legte in seiner Monografie von 1966 die Quellen Gauguins, wie Moerenhouts Reisebericht, offen und beschuldigte Gauguin des Plagiats: Bengt Danielsson, Gauguin in the South Seas (schwedische Fassung 1964), Garden City, NY 1966, S. 168–170; Richard Field zeigt, dass Gauguin seinen Freunden begeistert von Moerenhouts Buch erzählt und die Quelle unbekümmert genutzt hat, ohne Ansprüche auf Originalität zu erheben: Richard Field, Paul Gauguin. The Paintings of the First Voyage to Tahiti, New York 1977, Kap. 3; vgl. auch Wadley 1998 (wie Anm. 16), S. 108–119; Childs 2003 (wie Anm. 17), S. 75f.
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zu Beginn seines Reiseberichts in Noa Noa ausführt und die dem typischen kolonialen Diskurs Frankreichs gegenüber Polynesien seit dem 18. Jahrhundert verpflichtet ist.22 Gleich das Titelbild gibt also den Ton vor, indem es, Gauguins Gemälde wiederholend, einen Zusammenhang zwischen Literatur und Bildern herstellt und so deutlich macht, dass beide Medien von der gleichen Welt zeugen und sich dabei bekräftigen. Diese Welt ist zwar einerseits das reale Tahiti, das im Reiseroman angesprochen ist, es ist aber auch – was in der Forschung unzureichend analysiert wird – zugleich ein imaginäres Land, ein Land der Dichter. So hebt Charles Morice in der Vorrede Songerie, die in keiner der bislang veröffentlichten Buchausgaben von Noa Noa abgedruckt wurde, den Anteil des Poetischen gegenüber dem Dokumentarischen hervor. Hierbei wird deutlich, dass das poetische Prinzip nicht auf die von ihm verfassten Teile zu beschränken ist, sondern sich auch auf das Vorgehen des Künstlers erstreckt. Er entgegnet einem fiktiven Einwand: „L’invention que tu lui reprochais, dont tu le défiais, c’est précisement l’âme de son œuvre, le souffle qui la vivifie, c’est la chaleur et c’est l’eau qui manqueraient aux feuilles coupées, tôt dessechées. C’est l’invention qui fait la vie de l’Esprit comme elle fait la vie des œuvres, l’invention qui circule comme un sang dans les éléments empruntés par l’imitation à la Nature. – Voici donc Tahiti fidèlement imaginée.“23 Die Auslassung der Vorrede in den Publikationen hat dazu geführt, dass die Analyse von Noa Noa bislang zu einseitig verlaufen ist. Denn da diese selbstreflexive Passage, in der der fiktive Charakter des Buches beschrieben wird, keine Berücksichtigung erfahren konnte, wurde Noa Noa als Reisebericht verstanden. Nachdem Bengt Danielsson in seinen ethnologischen Studien sowohl Gauguins Quellen offengelegt als auch nachgewiesen hatte, dass die soziale Realität Tahitis und die des Künstlers erheblich von dessen Bericht abwichen, konzentrierte sich die Forschung auf die kritische Dekonstruktion des vermeintlichen Authentizitätsanspruchs des Buches.24
22 Rod Edmond, Representing the South Pacific. Colonial Discourse from Cook to Gauguin, New York/Cambridge 1997, S. 240; zur Behandlung dieser Frage aus transkultureller Perspektive vgl. Victoria Schmidt-Linsenhoff, Die Ästhetik des Diversen. Victor Segalen und Paul Gauguin, in: Dies., Ästhetik der Differenz, 2 Bde., Marburg 2010, Bd. 1, Kap. 4, S. 87–108. 23 Charles Morice, Songerie, in: 2. Manuskript Gauguin 1893–1897 (wie Anm. 17), S. 11; Gauguin 2003 (wie Anm. 5), folio 7 r., dt. Übers. der Autorin: „Die Erfindung, die Du ihm vorwirfst, aufgrund derer Du ihm misstraust, ist gerade die Seele seines Werks, der Atem, der es belebt, es ist die Wärme und es ist das Wasser, die den abgeschnittenen Blättern fehlen, welche bald vertrocknen. Es ist die Erfindung, die das Leben des Geistes ausmacht, ebenso wie das Leben der Werke; die Erfindung, die wie Blut in den Elementen, welche der Imitation der Natur entstammen, zirkuliert. – Hier ist folglich das naturgetreu imaginierte Tahiti.“ 24 Danielsson 1966 (wie Anm. 21); Abigail Solomon-Godeau, Going Native. Paul Gauguin and the Invention of Primitivist Modernism, in: Norma Broude/Mary D. Garrard (Hg.), The Expanding Discourse. Feminism and Art History, New York 1992, S. 313–329; Peter Brooks, Gauguin’s Tahitian Body, in: Ebd., S. 331–346; David Sweetman, Paul Gauguin: A Complete Life, London 1995, S. 370; Childs 2003 (wie Anm. 17), S. 78–87.
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6 Paul Gauguin, Manaò tupapaú (Der Geist der Toten wacht), 1892, Öl auf Sackleinen auf Leinwand, 73 × 92,4 cm, Albright-Knox Art Gallery Buffalo, New York
In den Holzschnitten, die Gauguin für Noa Noa anfertigte, dienen die Überlagerungen zahllos wiederholter Motive zwar der Beschwörung eines treuen Abbilds Tahitis, das aber gleichermaßen ein künstlerisch imaginiertes Tahiti ist – ein „Tahiti fidèlement imaginée“, wie es Morice in der Vorrede bezeichnete.25 Insofern kennzeichnet die palimpsesthafte Selbstwiederholung Gauguins das Buch als Melange zwischen Erinnerung, Wahrnehmung und künstlerischer Fiktion. Deutlich wird dieses Verfahren in der Reihe der Bilder, die Reprisen des Gemäldes Manaò tupapaú (Der Geist der Toten wacht) sind. Dieses (Abb. 6) ist gegen Ende des ersten Tahitiaufenthalts entstanden und zeigt ein nacktes Mädchen, welches bäuchlings auf einem Bett liegt, während im Hintergrund der Geist als scharfes Profilbild mit leuchtenden Augen wacht – ganz ähnlich dem bösen Geist in Parau na te varua ino (Worte des bösen Geistes). Fantasiegestalten bevölkern den Raum im Hintergrund. Gauguin wiederholte das Motiv in verschiedenen Medien, 25 Gauguin 1893–1897 (wie Anm. 17), S. 11; Gauguin 2003 (wie Anm. 5), folio 7 r; zu den Holzschnitten vgl. Field 1968 (wie Anm. 16); Barbara Stern Shapiro, „Des formes et des harmonies d’un autre monde“, in: Paris/Boston 2003/04 (wie Anm. 1), S. 164–184; Calvin Brown, Paradise Remembered. The Noa Noa Woodcuts, in: Princeton 2010/11 (wie Anm. 16), S. 101–126; Elizabeth Prelinger, Die Noa Noa-Suite, in: Zürich 2012/13 (wie Anm. 14), S. 59–85.
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7 Paul Gauguin, Manaò tupapaú (Der Geist der Toten wacht), 1894–1895, Holzschnitt, zweimal gedruckt, in Ocker und Braunrot auf geripptem Papier, 31 × 41 cm, Musée du quai Branly, Paris
wobei er das Bild um andere tahitische Elemente und Motive erweitert, als wolle er die Szene der verängstigten Tahitianerin, die er auch in Noa Noa beschreibt, immer wieder aufs Neue beschwören. So zeigt eine schematische Aquarell-Zeichnung in dem 1893 entstandenen Cahier pour Aline die Hauptmotive des Bildes, während Gauguin eine Lithografie um die Zugabe einer rätselhaften Statue erweiterte, die auch in anderen Gemälden bereits aufgetaucht war.26 Ein Holzschnitt fokussiert allein auf den Kopf des Mädchens und des Geistes im Profil, die mit einem Gespinst vegetabiler Formen verbunden werden. In einer Fassung mit brauner Druckfarbe (Abb. 7) verschwimmen die Formen zu einer einzigen düster-nebligen Wolke, in der die Stimmung des Sujets aufgeht. Auch mit weiteren Reprisen des Motivs in abgewandelter Form beschwört Gauguin sein „Tahiti fidèlement imaginée“: In dem für Noa Noa angefertigten Holzschnitt Te po (Die Nacht) (Abb. 5) liegt die verhüllte Figur bewacht von dem Geist im Dunkeln. Ein zweiter Holzschnitt der Suite Noa Noa ist wie das Gemälde Manaò tupapaú (Der Geist der Toten wacht) betitelt. Er weicht jedoch von dessen Motiv ab, 26 Paul Gauguin, Cahier pour Aline, 1893, Manuskript, Institut national d’histoire de l’art, Collection Jacques Doucet, Paris. Abb. der illustrierten Seite in: Suzanne Greub (Hg.), Gauguin Polynesia, Ausst.-Kat. Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen 2011/Seattle Art Museum 2012, München 2011, Kat.-Nr. 197, S. 216; Abb. der Lithografie ebd., Kat.-Nr. 198, S. 217.
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indem er eine in Embryonalstellung zusammengekauerte Figur auf einem hellen Laken mit der bekannten geisterhaften Profilfigur im dunklen Hintergrund zeigt.27 In einem weiteren Blatt mit dem Titel Manaò tupapaú, welches ebenfalls aus der Suite Noa Noa stammt, erweitert Gauguin die Szene um Bildmotive, die den Anschluss zu seinen Tahiti-Gemälden bilden: Die Zusammengekauerte, der Luchs und die um das Standbild Tanzenden sind aus Mahana no atua (Der Tag Gottes) bekannt. Die sitzende Statue wiederum taucht in dem Holzschnitt Maruru (Befriedigt) aus der Suite wieder auf. Analoge Beobachtungen ließen sich mit zahllosen weiteren Motiven aus Gauguins tahitischem Œuvre fortsetzen.28 Gauguin bildete auf diese Weise ein intertextuelles und interbildliches Netz, in dem alles bekannt vorkommt und das somit geeignet ist zur gegenseitigen Beglaubigung des wahrhaft Gesehenen oder getreu Imaginierten. Die Motiv- und Bildwiederholungen sind Resultate einer Strategie wechselseitiger Bestätigung und poetischer Beschwörung einer eigenen, neu geschaffenen Welt. Die Wiederholung diente ebenso der Selbstversicherung wie der Marktplatzierung seiner Arbeiten. Dies wird auch an dem Rahmen deutlich, in dem Gauguin die Blätter der Noa Noa-Suite 1894 erstmals ausgestellt hat. Alles folgte hier einer kalkulierten Inszenierung. Gegenüber dem Misserfolg bei DurandRuel wollte Gauguin nun die Betrachter in seine Welt hineinziehen und sie mit dem Zauber seiner exotischen Bildwelt anstecken. Der Besucher betrat das kleine Atelier, das Gauguin in der rue Vercingétorix in Paris angemietet hatte, durch eine Tür, deren Glaseinsatz durch Farbe opak gemacht worden war. Es sollte deutlich werden, dass sich ihm der Zugang zu einer anderen Welt öffnete. Auf den leuchtend gelb gestrichenen Wänden waren die Blätter und Gemälde angebracht. Im schummrigen Halbdunkel des Raums waren zudem zahlreiche ethnografische Objekte aufgestellt.29 Die Besucher sollten in Gauguins Motiven und der primitivistischen Bildsprache den direkten Ausfluss einer anderen, exotischen Welt verspüren und seine Bilder gleichermaßen als getreue Wiedergaben wie als originäre Schöpfungen wertschätzen. Mit der wechselvollen Geschichte des Buchprojekts veränderte sich noch einmal Praxis und Funktion der Wiederholung und des Selbstzitats bei Gauguin. Denn als der Künstler im Frühjahr 1895 wieder nach Tahiti abreiste, hatte Charles Morice immer noch nicht die für das Buch zentralen Partien der sogenannten vivos (Gesänge) eingefügt. Sie waren jedoch notwendig, um den Charakter eines Reiseromans zu unterlaufen, indem eine weitere poetische und fremdartige Stimme eingeführt wurde. Gauguin verzichtete deshalb darauf, das Buch alleine fertigzustellen, auch wenn sein Text und die Drucke 27 Paul Gauguin, Manaò tupapaú (Der Geist der Toten wacht), 1893–1894, aus der Suite Noa Noa, Holzschnitt, 20,4 × 35,5 cm, verschiedene Zustände; Abb. von vier Zuständen in: New York 2014 (wie Anm. 4), Kat.-Nr. 72–75, S. 128f. 28 Paul Gauguin, Manaò tupapaú (Der Geist der Toten wacht), 1894–1895, aus der Suite Noa Noa, Holzschnitt, 23,5 × 58 cm, Museum of Fine Arts, Boston; Abb. in: New York 2014 (wie Anm. 4), Kat.-Nr. 76, S. 130; Paul Gauguin, Maruru (Befriedigt), 1893–1894, aus der Suite Noa Noa, Holzschnitt, 20,5 × 35,5 cm, verschiedene Zustände; Abb. des Holzdruckstocks und von drei Zuständen in: New York 2014 (wie Anm. 4), Kat.-Nr. 90–92 und 94, S. 140–143. 29 Es sind zeitgenössische Beschreibungen dieser Inszenierung überliefert: Charles Morice, L’Atelier de Paul Gauguin, in: Le Soir, 4. Dezember 1894, S. 2; Jules Leclercq, Choses d’art – Exposition Paul Gauguin, in: Mercure de France 13/1895, Nr. 61, S. 121f.; vgl. Brettell 1989 (wie Anm. 15), S. 301.
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für das Buch vorlagen. Er versuchte von Tahiti aus noch jahrelang, das Buch zum Abschluss zu bringen, doch Morices Texte kamen nur sporadisch bei ihm an.30 Gauguin ließ weiße Seiten in seinem Buch, in die die Holzschnitte sowie die noch fehlenden Gedichte von Morice eingefügt werden sollten. Er gab es schließlich auf, auf die noch ausstehenden Verse zu warten und füllte die restlichen leeren Seiten sukzessive selbst aus.31 Hier nun entfaltete Gauguin ein ganzes Universum an tahitischen Motiven, die Wiederholungen in zahllosen Variationen enthalten. Da Gauguin mit der Arbeit an jenem Künstlerbuch zumindest nicht mehr unmittelbar auf eine Vermarktung zielte, ist die Praxis der Wiederholung hier stark selbstreferenziell und vielschichtiger als zuvor. Für die Bebilderung des Buches griff Gauguin neben den bereits bekannten Techniken der Motivübernahme auch auf buchstäbliche Formen von Wiederholung zurück. So fertigte er etwa zahlreiche Zeichnungen und Aquarelle bereits vorhandener Gemälde an und klebte Ausschnitte dieser Zeichnungen in das Buch ein. Ebenso verfuhr er mit den Druckgrafiken, die er nach Motiven der Gemälde erstellt hatte und die er überall ins Buch heftete. Eine besonders extreme Form der Wiederholung stellt dabei die zweifache Weiterverwendung einer Reproduktion seines Gemäldes Ia orana Maria von 1891 dar. Das Gemälde selbst wiederholt bereits ein fotografisches Motiv des in Port-Saïd tätigen Fotografen Hippolyte Arnoux, wie Bärbel Küster zeigen konnte.32 Dieses Gemälde wurde zur Illustration eines Zeitungsartikels von Armand Dayot im Figaro illustré im Januar 1894 reproduziert. Der Künstler verwendete nun für Noa Noa ausgerechnet das massenmediale Produkt jener vielfachen Reproduktion, indem er es aus der Zeitung ausschnitt, einklebte und kolorierte.33 Dies hat wohl nur am Rande den Zweck des Dokumentarischen im Sinne eines Werkkatalogs, denn Gauguin integrierte auch fotografische Wiederholungen seiner Zeichnungen in das Buch und nutzte somit die Möglichkeit der unmittelbaren Reproduktion seiner Werke, ohne den Umweg eines Zeitungsdrucks in Anspruch nehmen zu müssen.34 Das zwischen 1883 und 1901 entstandene Künstlerbuch ist ein einziges Kompilat von Zeichnungen, Fotografien, Druckgrafiken, Aquarellen und Zeitungausschnitten, wobei jedes einzelne Bild zugleich auf zahllose andere verweist und sich das Buch somit als Resultat eines Prozesses „produktiver Intertextualität“ im Sinne Karlheinz Stierles beschreiben lässt.35 Gauguin knüpfte auf diese Weise ein dichtes Netz aus Bezügen zu biografischen Erlebnissen, literarischen Vorlagen, eigenen Werken und Erinnerungen – jede Wiederholung bekräftigt dabei das auf diese Weise geschaffene Konstrukt. 30 Wadley 1998 (wie Anm. 16), S. 100–107, und Cahn 2003 (wie Anm. 17), S. 138–139, führen Briefe Gauguins an, in denen er Morice daher Illoyalität vorwarf. 31 Beispiele hierfür in: Thomas 2015 (wie Anm. 9), S. 144, dort Anm. 11. 32 Bärbel Küster, Eine Fotografie im Gepäck Gauguins auf der Reise nach Tahiti, in: Kunstchronik 5/1999, S. 181–185. 33 Vgl. Alastair Wright, Paradise Lost. Gauguin and the Melancholy Logic of Reproduction, in: Princeton 2010/11 (wie Anm. 16), S. 49–99, hier S. 89, mit Abbildung. 34 So etwa ein Foto der Zeichnung der tahitischen Eva aus Parau na te varua ino/Paroles du diable: Gauguin 1893–1897 (wie Anm. 17), S. 51; Gauguin 2003 (wie Anm. 5), folio 28 r. 35 Karlheinz Stierle, Werk und Intertextualität, in: Ders./Rainer Warning (Hg.), Das Gespräch, München 1984, S. 139–150, hier S. 140. Näheres hierzu in: Thomas 2015 (wie Anm. 9), S. 135–142.
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Wiederholung ist bei Gauguin somit zentrale künstlerische Praxis, die der Selbstvergewisserung und der künstlerischen Entwicklung dient. Die Vorstellung von einem Original und dessen Variationen oder Repliken wird bei diesem Verfahren obsolet. Stattdessen kann man hier von Intertextualität sprechen, bei der in alle Richtungen zugleich Beziehungen geknüpft werden. Die einzelnen Bilder sind offene Kompositionen, oder, wie dies Gottfried Boehm im Hinblick auf die Frage nach Serie und Wiederholung am Beispiel Monets charakterisiert hat, „Konstellationen“.36 Das heißt, das einzelne Bild stellt keine organisch geschlossene Komposition dar, welche zur Vorlage des darauf folgenden Bildes wird. Auch die Bilder Gauguins, die im Umkreis von Noa Noa entstehen, gehorchen keiner Abfolge. Ein Bild entsteht nicht aus dem anderen, sondern potenziell entstehen alle gleichzeitig oder könnten in umgekehrter Reihung entstanden sein. Und wie dies Boehm bei Monet analysiert, findet auch bei Gauguin die Praxis der Wiederholung eine Entsprechung in einer unhierarchischen Bildkomposition. In den Werken um Noa Noa brechen die Motivwiederholungen, auf ein Blatt gesetzt, bereits die Kontinuität des Bildraums – eine Tendenz, die sich in Gauguins letzter Schaffensphase auf Tahiti und den Marquesas fortsetzt, in Gemälden und Druckgrafiken, die immer mehr Friesen mit unverbundenen Motiven ähneln. Gauguins Bildwelt ist Resultat der vom Künstler stets erneut vollzogenen Plünderung des eigenen und fremden Bildmaterials. In ihrer offenen Struktur stellen seine Werke stets neue Annäherungen an ein „naturgetreu imaginiertes Tahiti“ dar und partizipieren damit an der Unabschließbarkeit, die Boehm als Movens künstlerischer Wiederholungen der Moderne beschreibt.37 In dem Charakter formelhafter Reprisen zeigt sich jedoch noch eine weitere Dimension der Wiederholung bei Gauguin. So diente ihm die produktive Appropriation nicht allein der Errichtung eines „naturgetreu imaginierten Tahiti“, es diente auch seiner Selbstvergewisserung. Gauguin bezeichnete sein privates Bildarsenal, aus dem er in steter Wiederholung schöpfte, mit den Worten: „Je porte mon petit monde avec moi.“38 In der Einsamkeit der Südsee blieb Gauguin auf diese Weise seiner Welt verbunden – ein überlebenswichtiges Motiv, wie man aus seinen Briefen und seinen späten Schriften erkennen kann. Private Erinnerung, Traditionen, Bedeutungsspuren, Beobachtetes und Angelesenes liegt in Gauguins tahitischem Werk nebeneinander. 36 Gottfried Boehm, Werk und Serie. Probleme des modernen Bildbegriffs seit Monet, in: Daniel Hees/Gundolf Winter (Hg.), Kreativität und Werkerfahrung. Festschrift für Ilse Krahl, Duisburg 1988, S. 17–24, hier S. 21. 37 Ebd., S. 24; sowie Ders., Die Logik der Verwandlung. Zur Bildgeschichte der klassischen Moderne, in: Dietmar Elger (Hg.), Die Metamorphosen der Bilder, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover 1992/93, Hannover 1992, S. 16–29. 38 Brief von Paul Gauguin an Odilon Redon, zit. n. Roseline Bacou, Odilon Redon, 2 Bde., Genf 1956, Bd. 1, S. 186f., dt. Übers. der Autorin: „Ich trage meine kleine Welt bei mir.“ Das private Bildarsenal hatte seinen Platz in Gauguins Hütte, wie er in seinem Manuskript Diverses choses beschrieb: „Dans ma case, il y a des choses bizarres, puisque non coutumières: Des estampes japonaises, photographies de tableaux, Manet, Puvis de Chavannes, Rembrandt, Raphaël, Michel Ange, Holbein. Après ces noms, rien de moi: (je n’ose).“, Gauguin 2003 (wie Anm. 5), Diverses choses, S. 133 r, dt. Übers. der Autorin: „In meiner Hütte gibt es Dinge, die bizarr sind, weil sie nicht gewöhnlich sind: japanische Drucke, Fotografien von Gemälden von Manet, Puvis de Chavannes, Rembrandt, Raffael, Michelangelo, Holbein. Nach diesen Namen, nichts von mir: (Ich wage es nicht).“
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Mittels der Praxis der Wiederholung setzt Gauguin somit Kunst und Leben in eins. Die intertextuellen Bezüge seiner Werke sind unabschließbar und unauflösbar verstrickt. Mit der beständigen Wiederholung schafft sich Gauguin seine eigene künstlerische Identität, durch Aneignung und Selbstzitat bestätigt er diese. Dabei trägt die Praxis der Wiederholung, die den hermetischen und selbstreferenziellen Charakter seiner Bilder steigert, paradoxerweise dazu bei, dass auch die Betrachter durch die Wiedererkennbarkeit der verdichteten Ausdrucksfiguren an der unablässigen Bedeutungsproduktion durch Wiederholung teilhaben. In diesem Sinne ist die Wiederholung bei Gauguin ein unabgeschlossenes und auch unabschließbares Verfahren – sowohl von Seiten des Künstlers als auch von Seiten der Betrachter. Mit der Praxis der unablässigen Reprise nutzte Gauguin die potenziell in der Wiederholung liegende Spannung von Identität und Differenz aus, indem er weder der einen noch der anderen Seite den Vorrang gab. Er band vielmehr jede Erweiterung, die die Variation eines Motivs erhält, wieder zurück an seine ursprüngliche Gestalt, welche stets aufs Neue wiederkehrt. Nicht die Variation, sondern die Wiederkunft des Gleichen verbürgt daher die existenzielle Dimension seiner Bildwelt, wie sie jener zudem die Schwere nimmt und sie in den Raum ästhetischer Offenheit überführt.
die zeitdimension der selbstwiederholung prozessästhetik bei henri matisse
bärbel küster Die künstlerische Existenz von Henri Matisse spielte sich in einer permanenten Wiederholungsschleife ab. Er erarbeitete Werke und Motive exzessiv repetitiv, er variierte nicht nur eigene Werke, sondern entwickelte diese Arbeitstechnik der permanenten Selbstinterpretation zu einem Prinzip der Prozessästhetik weiter. Dieses Vorgehen wurde zum wesentlichen Moment der Entwicklung nicht nur seines Werks, sondern der modernen Malerei überhaupt. Sie hatte die Auflösung eines eindeutigen Werkbegriffs zur Folge, dessen Ziel, wie es Gottfried Boehm ausdrückte, nicht mehr die „Einzigkeit“ war.1 Zahlreiche Publikationen haben diese Ästhetik der Wiederholung und Serialität in der Moderne seit Monet und Cézanne beschrieben.2 Dennoch bleibt für Matisse die Besonderheit zu beschreiben, wie die Multiplizierung der Werketappen, das Verhältnis des Einzelwerks zu einem Motiv, Thema oder Formproblem konzipiert wurde. Matisse nahm zwar vorweg, was für die seriellen Verfahren der Generation von Ad Reinhardt, Josef Albers und anderer später zum Leitmotiv wurde, entwickelte jedoch in seinem Werk eine der Serie gerade entgegenstehende Zeitlichkeit. Hans Belting sah die Kunst der Moderne vor allem auf der Ebene der Repräsentation den Werkbegriff untergraben.3 Ausgehend von Boehms Feststellung, dass die „Substanz des einzigen Werkes (sich, B. K.) verwandelt (…) in die Struktur einer Serie, deren Glieder durch Wiederholung verbunden sind“, wie er für Monets Heuhaufen-Bilder exemplarisch ausführte, kann man umgekehrt für Matisse reklamieren, dass er jenseits der planvollen Serialität mit seiner Prozessästhetik den Werkbegriff als materielle Einheit hinterfragt, gerade weil dieser zwischen den einzelnen Werken eine zeitliche Dimension eröffnet. Ich möchte im Folgenden verdeutlichen, dass den Werken von Matisse bereits um 1909 ein konzeptuelles Moment der Wiederholung zugrunde liegt, das zu der Vorstellung eines heteronomen Werkbegriffs führen kann.4 1 Gottfried Boehm, Werk und Serie. Probleme des modernen Bildbegriffs seit Monet, in: Daniel Hees/Gundolf Winter (Hg.): Kreativität und Werkerfahrung, Duisburg 1988, S. 17–24, hier S. 17. 2 Vgl. Eik Kahng (Hg.), The Repeating Image. Multiples in French Painting from David to Matisse, Ausst.-Kat. The Walters Art Museum, Baltimore 2007/08/Phoenix Art Museum, Phoenix 2008, New Haven/London 2007; Claude Monet ... bis zum digitalen Impressionismus, Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Riehen/Basel, München/Berlin/London u. a. 2002; Elke Bippus, Serielle Verfahren. Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art und Postminimalism, Berlin 2003. 3 Ein Argument für die Untergrabung des Werkbegriffes waren ihm u. a. die zahlreichen Fotografien, die der Künstler selbst von sich und anderen vor diesen Werken anfertigten. Hans Belting, Der Werkbegriff der künstlerischen Moderne, in: Cornelia Klinger/Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, München 2004, S. 65–79. 4 Vgl. den Begriff des heteronomen Werks bei Jeffrey Weiss, The Matisse Grid, in: Baltimore/ Phoenix 2007/08 (wie Anm. 2), S. 172–193.
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Kann man so schließlich wörtlich nehmen, was Carl Einstein als Ausspruch Matisses in seiner Kunst des 20. Jahrhunderts zitierte: Matisse wolle nur aus der Gesamtheit seines Werks beurteilt werden, aus dem großen Bogen seiner Linie?5 Dieser große Bogen hieße, das Werk quasi durch alle Wiederholungen hindurch als ein heteronomes zu verstehen, deren materielle Oberflächen immer wieder aktualisiert und von einer Idee zusammengehalten werden. Matisse war ein Prozessästhetiker, sowohl im Sinne der von Rosalind Krauss für die Kunst der 1960er Jahre beschriebenen Aktivierung der Betrachter als auch, da seine Werke Repetitionen und Fortschritte selbst offenlegen.6 Ein Künstler wie Matisse steht nicht im Verdacht, eine Kunsttheoretikerin der Konzeptkunst wie Krauss zu interessieren – gleichwohl lässt sich bei Matisse das Werk als Heterotopie verstehen, in dem sich unterschiedliche Zeitschichten versammeln, ohne zwingend auf einen Abschluss des Prozesses zu zielen.7 Jedes Werk, jedes Werkteil, kann sich so nur in einem bestimmten Moment realisieren, der nicht wiederholbar ist. Schon 1908 in seinen Notizen eines Malers schildert Matisse, dass kein Bild wie ein vorhergehendes sein könne, weil der Zustand seines Denkens sich in jedem Moment verändere. „Ausdruck“ entstehe durch dieses moment- und prozesshafte Komponieren auf der Leinwand nach Proportionen und Farbrelationen. Die Verdichtung von Empfindung erreiche er durch wiederholtes Überarbeiten.8 Nicht der erste Entwurf zähle, sondern das Überarbeiten, um dem Bild aus der Abfolge von Augenblicken eine eigene Existenz und „dauerhaftere Interpretation der Wirklichkeit zu geben“.9 Dieses Streben 5 Einstein zitiert Matisse wie folgt: „Je voudrais n’être jugé que sur l’ensemble de mon œuvre, la courbe générale de ma ligne.“ Carl Einstein, Henri Matisse, in: Ders., Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Propyläen Kunstgeschichte, Berlin 1928, S. 24–33, hier S. 24, dort ohne Nachweis des Zitates. Einstein nimmt diesen „Bogen“ als rhetorische Vorlage, um Matisse heftig für seine dekorative Malerei zu kritisieren: Ohne den Raum in der Malerei „prangen Dekor und Geschmack, und das ‚Absolute‘ wird leicht ausgewalzter Gemeinplatz“. Ebd., S. 31. 6 Rosalind Krauss, Passages in Modern Sculpture, London 1977 setzte die Prozessästhetik in Opposition zu einer Objektästhetik und verwies damit auf eine Form von Zeitlichkeit, welche für die Rezeption der Werke wirksam ist. Sebastian Egenhofer hält dagegen in seiner Definition von Produktionsästhetik (ausgehend von Karl Marx) die Produktion für nicht darstellbar: „Die Darstellung kommt gegenüber der Produktion immer zu spät“, jede Darstellung sei von ihrem Gewordensein notwendig getrennt. Siehe Sebastian Egenhofer, Produktionsästhetik, Zürich 2010, S. 7; vgl. auch jüngst die Publikation von Johannes Lang, der Prozessästhetik als Begriff der Designtheorie auf die sozialen Prozesse, die Design initiieren kann und soll, überträgt: Johannes Lang, Prozessästhetik. Eine ästhetische Erfahrungstheorie des ökologischen Designs, Basel 2015. 7 Heterotopien sind nach Foucault Orte verschränkter Zeitlichkeit, die eine abwesende ‚u-topische‘ Dimension entwickeln wie bei einem Spiegel: ein „Ort ohne Ort“, in dem man etwas erblickt, das auf den wirklichen Raum nur verweisen kann. Vgl. Michel Foucault, Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1993, S. 36–46. Ich verwende den Begriff hier nicht auf Institutionen wie Friedhöfe, Museen oder Bibliotheken bezogen, sondern auf die Rezeption der Kunstwerke zwischen Künstler und Betrachter, in der sich verschiedene Zeiten und Zeitschichten überlagern und dadurch auf eine abwesende Idee verweisen. 8 Henri Matisse, Notizen eines Malers (1908), in: Jack Flam (Hg.), Matisse. Über Kunst, Zürich 1993, S. 64–77, hier S. 70f.: „Ich will den Zustand von Verdichtung der Empfindung erreichen (...).“ Matisse formuliert dort auch, er wolle „weiterarbeiten, um das Werk später als das Abbild meines Geistes wiedererkennen zu können“. Ebd., S. 70f. 9 Ebd., S. 71, dt. Übers. der Autorin.
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des Künstlers nach Dauerhaftigkeit eröffnet für die Frage der Selbstwiederholung einen interessanten Aspekt. Matisses besonderes Verhältnis zu Zeit und Wiederholung lässt sich an fünf Prinzipien festmachen.
fünf prinzipien der selbstwiederholung bei matisse Matisses erstes Wiederholungsprinzip ist die Replik in einem völlig veränderten ‚Stil‘. Dieses Prinzip, mit dem er viele zeitgenössische Kunstkritiker immer wieder verwirrte,10 erkennt man bei der Neufassung von Nature morte au Purro I (1904), das Matisse im Winter 1904/05 in kleinerem, eher einer Studie entsprechendem Format als postimpressionistische Fleckenmalerei aufgreift: Nature morte au Purro II (1904–05)11 strebt keineswegs eine wörtliche Übersetzung an, die farbigen touches sind nicht an der Illusion von Tonwerten interessiert, die Früchte werden nicht in ihren natürlichen Farben präsentiert, sondern in farblichen Klangräumen, die sich an ihren Nachbarn orientieren. Dadurch verlagert sich auch die räumliche Tektonik des Bildes in die Farbigkeit und die Oberflächengestaltung. Die völlig veränderte Bildwirkung vollzieht sich an denselben Objekten. Jack Flam nannte diesen Ansatz die Suche nach einer „absoluten Bildidee“, die mit der Freiheit einhergeht, sie in jeder verfügbaren Bildsprache umzusetzen. Bei Matisse konnte laut Flam das, „wonach er suchte, nicht in einem einzigen Bild erreicht werden“. Stil sei deshalb fast etwas Zufälliges.12 Schon mit der Abkehr vom Stildenken lässt Matisse eine für den kunsthistorischen Werkbegriff wichtige Zeitkategorie fallen. Das zweite Prinzip könnte man mit „die unmögliche Kopie“ betiteln: Matisse erhielt vom Moskauer Sammler Sergei Iwanowitsch Schtschukin (1854–1936) 1909 den Auftrag, das großformatige Gemälde La danse I für das Treppenhaus seiner Villa zu kopieren. La danse II von 1910 behielt fast exakt die Maße und die Figurenkomposition der ersten Version bei.13 Die Farbigkeit wandelte sich, auch der Ausdruck der Körper, die nun mit dunklen Binnenlinien feurig rot vor dem tiefblauen und grünen 10 Henri Matisse sah sich sowohl in Frankreich als auch in Deutschland in seinem Frühwerk massiv der Kritik eines Synkretismus ausgesetzt: Die Zeitgenossen bemängelten ein inkonsistentes Werk, er wechsle zu oft die Stile – zugleich heißt es jedoch in einer Anmerkung zur deutschen Übersetzung seiner Notizen eines Malers, dass derselbe „Willen zum Stil“ eine ganze Generation von Künstlern beherrsche. Siehe Henri Matisse, Notizen eines Malers, in: Kunst und Künstler 7/1909, S. 335–347, hier die Anmerkung der Redaktion auf S. 335. Gerade dieses Denken in Stilen stand der Modernität von Matisses Kunstauffassung jedoch diametral entgegen. 11 Henri Matisse, Nature morte au Purro I, 1904, Öl auf Leinwand, 59 × 72,4 cm, Privatsammlung, und Nature morte au Purro II, 1904–05, 27,9 × 35,6 cm, Privatsammlung, wurde 2004 bei Sotheby’s New York versteigert. Vgl. die Abbildung in John Elderfield (Hg.), Matisse. A Retrospective, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York 1992/93, New York 1992, S. 126 und S. 129. 12 Jack Flam, Henri Matisse. The Man and His Art, 1869–1918, London 1986, S. 380: „(…) since the absolute that Matisse was seeking was a spiritual rather than a stylistic notion, he felt free to seek it through any pictorial means at his disposal. What he wanted to achieve could not be realized in a single picture; every image that he painted seems to have led him to other, very different kinds of images. While Matisse produced some of the most formally inventive pictures in the history of Western art at this time, their styles are almost accidental, the results of seeking after ideas, which for him were always embodied in form.“, dt. Übers. der Autorin. 13 Henri Matisse, La danse I, Februar–März 1909, Öl auf Leinwand, 259,7 × 390,1 cm, Museum of Modern Art, New York (abgebildet in: New York 1992/93 [wie Anm. 11], S. 193); Henri
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Hintergrund ihren Tanz entfesseln. Die erste Version wirkt dagegen in ihrer farblichen und körperlichen Spannungslosigkeit geradezu elegisch. Die exakte Selbstwiederholung wäre handwerklich ein Leichtes gewesen, dem stand allerdings die oben zitierte Auffassung des Künstlers entgegen, jedes Bild sei aus dem jeweiligen Moment geschöpft. Matisses wichtigste Schaffensphase – die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts – fällt in eine Zeit, in der zahlreiche Künstler große Meister kopierten und nach Fotografien, Postkarten und Reproduktionen arbeiteten, um sich aktiv in die Malereitradition und Geschichte neu einzuschreiben. So verfuhr auch Matisse, vielfach sind ‚Vorlagen‘ für seine Werke rekonstruiert worden;14 sie interessieren hier nicht im Einzelnen, sind aber Teil des Werkprinzips Wiederholung, denn Matisse greift zum Beispiel eine eigene Kopie nach einem historischen Gemälde wieder auf. Damit kann als drittes Prinzip der Selbstwiederholung die indirekte Einschreibung in die Tradition bestimmt werden. Matisse erstellte 1893 im Louvre eine Kopie eines Stilllebens von Jan Davidsz. de Heem. Er beschäftigte sich zu dieser Zeit noch vornehmlich mit impressionistisch-atmosphärischen Stillleben und bürgerlichen Interieurs.15 Die pelzigen Oberflächen der Früchte und Stoffe dieser ersten Kopie verraten, wie sehr Matisse hier mit Jean-Baptiste-Siméon Chardin, einem von ihm hochverehrten französischen Stilllebenmaler des 18. Jahrhunderts, auf den Niederländer de Heem geschaut hatte. Während des Ersten Weltkriegs entstand 1915 eine Reprise dieser Kopie (Abb. 1). Dafür kaufte Matisse sein Jugendwerk aus dem Kunsthandel zurück und arbeitete im häuslichen Atelier in Issy-les-Moulineaux nun nach seiner eigenen Kopie.16 Diese zweite Beschäftigung mit dem Werk, genauer: mit der eigenen Beschäftigung mit dem Werk, eröffnete Matisse 22 Jahre später sowohl einige Freiheiten, was die Komposition angeht, als auch eine konzentrierte Beschäftigung mit der Lichtstimmung in de Heems Werk. Er greift die Vergitterung des Bildes durch farbige Flächen und ihre Kontraste auf und ‚beleuchtet‘ den gesamten Bildinnenraum mit dem Licht, das de Heem allein zwischen den Früchten und den glänzenden Gerätschaften auf dem Tisch entfaltet. Besonders sticht dabei die Übersetzung in eine türkise Tonigkeit hervor, die man bei de Heem im Himmelslicht, einem blauen Reflexpunkt auf der Silberkaraffe und der Beleuchtung der Früchte findet. Hatten sich bei de Heem tiefe Schattenzonen im Bild ausgebreitet, Matisse, La danse II, Herbst 1910, Öl auf Leinwand, 260 × 391 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg (abgebildet ebd., S. 204). 14 Vgl. zur Arbeit mit fotografischen Vorlagen: Albert Elsen, The Sculpture of Henri Matisse, New York 1972; Isabelle Monod-Fontaine, The Sculpture of Henri Matisse, Ausst.-Kat. City Art Centre, Edinburgh 1984/Hayward Gallery, London 1984/85/Leeds City Art Gallery 1985, London 1984, S. 13ff.; Bärbel Küster, Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900, Berlin 2003; Katharina Sykora, Auf den zweiten Blick. Henri Matisse und die Fotografie, in: Pia Müller-Tamm (Hg.), Henri Matisse. Figur Farbe Raum, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2005/06/Fondation Beyeler, Riehen/Basel 2006, Ostfildern-Ruit 2005, S. 331–342; Ellen McBreen, Matisse’s Sculpture. The Pinup and the Primitive, New Haven 2014; sowie zur Kopierpraxis: Roger Benjamin, Recovering Authors. The Modern Copy. Copy Exhibitions and Matisse, in: Art History 12, 2, 1989, S. 176–201. 15 Vgl. die abgebildeten Werke in: New York 1992/93 (wie Anm. 11), S. 88–107. 16 Vgl. Isabelle Monod-Fontaine/Claude Laugier, Éléments de chronologie (1904–1918), in: Dominique Fourcade (Hg.), Henri Matisse 1904–1917, Ausst.-Kat. Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris, Paris 1993, S. 61–126, hier S. 116. Die zweite Version von 1915 konnte er bereits im November des Jahres an Léonce Rosenberg verkaufen.
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1 Henri Matisse, Nature morte d’après ‚La desserte‘ de Jan Davidsz. de Heem, Sommer 1915, Öl auf Leinwand, 180,9 × 220,8 cm, Museum of Modern Art, New York
so übersetzt Matisse nun diese ‚Lichtlöcher‘ in eine kompositorische Verspannung der Mandoline, der Giebelform, der herabhängenden Troddeln des Vorhangs rechts und der Stofffalten. Mit schwarzem Pinselstrich entstehen eine tiefschwarze Fläche links, ein senkrechter Balken in der Mitte, Zickzackformen oben links und schräge Felder mit Schwarz-Abtönungen rechts.17 Das Werk, das für Matisses erst jüngst genauer untersuchte kubistische Werkphase eine eminente Bedeutung hat, entwickelt seine Besonderheit also weniger als geometrisch-kubistische Raumkomposition,18 sondern 17 Etwas Ähnliches wird ihm auch bei seinem Kürbis-Bild (Gourds, 1916, Museum of Modern Art, New York) vorgeschwebt haben, das John Gage für Matisses sogenannte Phase des Schwarzlichts heranzieht. Es geht um das vom menschlichen Auge nicht wahrnehmbare Licht, durch das Matisse hier der zeitlich-dreidimensionalen Malweise der Kubisten eine Interpretation durch die Farbe entgegenstelle. Vgl. John Gage, Colour and Meaning. Art, Science and Symbolism, London 1999, S. 236–240. 18 Im Winter 1913/14 wandte sich Matisse kubistischen Raumkonstruktionen zu. Sie wurden 2010 im Rahmen der Chicagoer Ausstellung Matisse. Radical Invention 1913–1917 im Detail und mithilfe von Röntgenaufnahmen und digitalen Visualisierungstechniken untersucht. Matisse opfere die Farbe, so die hier vertretene Meinung, den intensiven Überlegungen zu Raumkonstruktionen. Vgl. Stephanie D’Alessandro/John Elderfield (Hg.), Matisse. Radical Invention
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vielmehr als Konstruktion eines Raumes durch die An- und Abwesenheit von (farbigem) Licht. Auch der Kubismus war für Matisse keine Frage des Stils, sondern ihn interessierte dessen sukzessive Bildlichkeit, gerade weil er sich schon zuvor mit Abläufen der Wahrnehmung beschäftigt hatte. Das vierte Prinzip variiert das dritte Prinzip: In Gemälden von Matisse wimmelt es von Selbstzitaten – eine reflexive Geste seiner Malerei, die er von Cézanne übernimmt. Nicht nur in den Interieurbildern und Atelieransichten werden Skulpturen und Gemälde aus verschiedenen Werkphasen untergebracht, sondern auch in zahlreichen Stillleben. Besonders die beiden Versionen von La danse erscheinen auf zahlreichen Bildern im Hintergrund, teils als ganzes Bild, teils als Ausschnitt, wodurch Matisse deren flächenhafte Malerei noch einmal unterstreicht. Er treibt bei vielen Selbstzitaten sein Spiel mit den Wirklichkeitsebenen von Bild-im-Bild und echten Gegenständen, das er häufig auch mit Ausblicken durch Fenster und Spiegel im Bild kombiniert. Durch das häufige Wiederholen der eigenen Gemälde und Skulpturen in der Malerei vergewissert sich Matisse gleichsam der erreichten Ergebnisse. Sie schaffen zugleich neue Anknüpfungspunkte für den Künstler, aber auch für die Rezipienten, zwischen den verschiedenen Repräsentationen eine ‚Dauer‘ zu sehen.19 Im Anschluss hieran kann man die Selbstwiederholung quer durch verschiedene Materialien und Medien als fünftes Prinzip bezeichnen. In den großformatigen Skulpturen des Rückenaktes Nu de dos entstand unter Matisses Händen von 1908 bis 1931 ein zeitlich ausgedehntes ‚cross-media modelling‘, das von der Selbstwiederholung lebt. Von ‚Varianten‘ lässt sich dabei kaum mehr sprechen, denn die heteronomen Werkteile entstehen im Sinne der Arbeit an der Idee und an einem Formproblem als Teile ein und desselben Werks. Sie sind Elemente eines mentalen Bildes, dem Matisse sich wiederholt mit unterschiedlichen Medien anzunähern versuchte, und zwischen denen sich in der Rezeption ebenfalls eine eigene Art von Zeitlichkeit entwickelt. Marguerite, die Tochter von Matisse, sah in den entstandenen Skulpturen des in Gips und Ton modellierten und dann in Bronze gegossenen Rückenaktes eigentlich ein und dasselbe Werk.20 Im Werkprozess verschränkte Matisse verschiedene Medien: Das erste große (heute verlorene) Ton-Relief entstand zunächst im Zeitraum von April 1908 bis 1913–1917, Ausst.-Kat. The Art Institute of Chicago/Museum of Modern Art, New York, New Haven/London 2010, hier S. 254–259. 19 La danse findet sich als Bildzitat z. B. in Nature morte à la danse, 1909, Öl auf Leinwand, 89,5 × 117,5 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg (abgebildet in: New York 1992/93 [wie Anm. 11], S. 203), oder noch einmal, nachdem die Version für Schtschukin nach Moskau gesendet worden war, in der zweifachen Ausführung der Capucines à ‚la danse‘ (I) und Capucines à ‚la danse‘ (II) (beide abgebildet in: New York 1992/93 [wie Anm. 11], S. 222f.). Im späteren Stillleben Nature morte aux coloquintes, 1916, Öl auf Leinwand, 100 × 81,3 cm, Barnes Foundation, Merion/Pennsylvania (abgebildet in: Chicago/New York 2010 [wie Anm. 18], S. 265) sieht man das Gips-Modell des Jeanette V-Kopfes vom Sommer 1916. In Torse de plâtre, bouquet de fleurs, 1919, Öl auf Leinwand, 113 × 87 cm, Museu de Arte de São Paulo (abgebildet in: New York 1992/93 [wie Anm. 11], S. 316) treffen Selbstzitate in Form einer Gipsfigur, einer Skizze und eines Gemäldes aufeinander und konkurrieren mit dem im Vordergrund positionierten Strauß ‚echter‘ Blumen. 20 So Marguerite Matisse in einem Brief an Elderfield vom 26. April 1978, zit. in: John Elderfield (Hg.), Matisse in the Collection of the Museum of Modern Art, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York 1978, S. 194, dort Anm. 6 und Anm. 13.
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Juni 1909 in einem Format, das sich demjenigen vieler Leinwandbilder dieser Zeit (zum Beispiel der zahlreichen Aufträge für Schtschukin) mit ihren fast zwei Metern Seitenlänge annähert.21 Die Rückenakte thematisieren die Sichtbarkeit der Figur und das Verhältnis von Figur zum Grund, eine Fragestellung, die in Matisses Malerei – wie beispielsweise bei La danse I von 1909 – eine zentrale Rolle spielte. Seine intensive Beschäftigung mit Ton erklärte Matisse damit, dass er sich so am besten von der Malerei erhole, um Ordnung in seine Gedanken und Gefühle zu bringen – den formalen Problemen blieb er dabei jedoch treu.22 Dass vielen seiner Zeichnungen eine reliefhafte Auffassung zugrunde liegt, ist bereits 1984 von Elderfield festgestellt worden.23 Die aufrecht stehenden Modelle sind mit einer schraffierten Schicht wie bei einem Relief hinterfangen. Ann Boulton hat überzeugend dargelegt, dass Matisse wie hier bei der 1913 vollendeten zweiten Version, Nu de dos II (Abb. 2), immer wieder direkt in Gipsmodellen gearbeitet hat.24 Mit hartem Werkzeug arbeitete er Vertiefungen im Rücken ein, änderte die Frisur. Die Schulterpartien deformierte er zu vereinzelten Formen, der körperliche Zusammenhalt des Rumpfes wird mit der Überarbeitung gestört und das Standbein seiner Anatomie beraubt. Jedes Körperteil wird einzeln auf die Fläche des Reliefs bezogen, die Grundfläche des Reliefs bleibt dagegen weitgehend gleich. Die Problemstellung Figur zur Fläche ließ Matisse auch während seiner zweiten Marokko-Reise zwischen Oktober 1912 und April 1913 nicht los und wurde zum 21 Die vier existierenden Akte werden bei Claude Duthuit (Hg.), Henri Matisse. Catalogue raisonné de l’œuvre sculpté, Paris 1997, Nr. 48 (S. 106), Nr. 57 (S. 134), Nr. 60 (S. 140) und Nr. 77 (S. 170) mit den Nummern I–IV geführt, während Elsen 1972 „five Backs“ beschrieben hatte und die verlorene Version „Back 0“ benannt hatte (Elsen 1972 [wie Anm. 14], S. 182–197). Die neueren Forschungen von Elderfield und D’Alessandro 2010 bezeichnen anders als Elsen den auf einem Foto von Eugène Druet von 1909 überlieferten ersten Zustand des stehenden Aktes nicht mehr als Version 0, sondern als Nu de dos I, um ihre Forschungen zu untermauern. Sie konnten mittels digitaler Techniken nachweisen, dass das Foto des Tonmodels weitgehend identisch ist mit Nu de dos I und Matisse nur im Gipsabguss noch weitere Änderungen vorgenommen hat. Sie bestimmen Nu de dos I als eines der Werke, mit denen seine Überarbeitungsmethode in verschiedenen Medien seinen Ausgangspunkt nahm. Siehe Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 73. Mit der Aufwertung der (bei Duthuit nicht einmal abgebildeten) Gipse variiert auch die Datierung der vier erhaltenen Rückenakte in der Forschung, vgl. ebd., S. 159, S. 103 und S. 163, dort Anm. 1; Boulton führt wie Elderfield und D’Alessandro die Möglichkeit weiterer Zwischenschritte auf. Siehe Ann Boulton, The Making of Matisse’s Bronzes, in: Dorothy Kosinski/Jay McKean Fisher/Steven Nash (Hg.), Matisse. Painter as Sculptor, Ausst.-Kat. Dallas Museum of Art and Nasher Sculpture Center 2007/ San Francisco Museum of Modern Art 2007/Baltimore Museum of Art 2007/08, New Haven/ London 2007, S. 73–98, hier S. 76; Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 103, dort Anm. 2 und Anm. 7. 22 Vgl. seine Äußerung im Gespräch mit Georges Charbonnier 1951, in: Flam 1993 (wie Anm. 8), S. 243–250, hier S. 248f. 23 John Elderfield, The Drawings of Henri Matisse, London 1984, S. 60–65, zeigt, dass die suchende Linie von Matisse, die mit immer wieder neu ansetzendem Stift Tiefe erzeugt, sich von seiner Cézanne-Auseinandersetzung der Jahre um 1900 bis zu den Zeichnungen des Kubismus entwickelte. Eine besondere Rolle spielten dabei auch die Rückenakte. Vgl. ebd., S. 256 den Eintrag zu einer Zeichnung von 1909, Nr. 21: „Standing Nude Seen from the Back“, National Gallery of Canada, Ottawa; zum Relief der Zeichnung vgl. Jay McKean Fisher, Drawing Is Sculpture Is Drawing, in: Dallas/San Francisco/Baltimore 2007/08 (wie Anm. 21), S. 27–48, hier S. 39. 24 Boulton 2007 (wie Anm. 21), S. 76.
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2 Henri Matisse, Nu de dos II, 1913, Bronze, 188 × 121 × 15,2 cm, 4/10, The Trustees of the Tate Gallery, London
Gegenstand zeichnerischer Auseinandersetzung (Abb. 3). Das Reliefthema ist für Matisse eine Reflexion über die Ein- und Ausschlussmechanismen der Bildfläche. Man sieht das Modell auf der rechten Seite der Rückenakt-Skizze mit dem Gesicht verdeckt der Stadt Tanger zugewandt. Der Zaun zieht gleichsam eine Grenze des privaten zum öffentlichen Leben, die bereits im Skizzenblatt selbst auf eine zweite Figur übertragen wird, die das Blatt in der Mittelachse fast ganz ausfüllt. Sie schirmt den linken Bereich des Blattes quasi gegen die realistisch-situative Interpretation eines Dachgartens in Tanger ab und erlaubt zu ihrer Linken keine weitere Darstellung – das weiße Blatt Papier kann hier in Analogie zur Grundfläche des großen Reliefs gesehen werden. Matisses sich wandelnde Auffassung von Figur und Fläche hatte vor allem Auswirkungen auf den Körper des Rückenaktes. Die Version von 1913 wurde 1916 noch einmal mit dem Spachtel als neuem Werkzeug überarbeitet: An einigen Stellen wurde Material hinzugefügt, an anderen weggenommen, die Körperformen wurden weiter geometrisiert und vertieft (Nu de dos III). Ob nun Nu de dos IV von 1930 am
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3 Henri Matisse, Nu de dos et vu de Tanger, Tusche auf Papier, 32 × 22,3 cm, entstanden während Matisses zweiter MarokkoReise, Oktober 1912–April 1913, Privatsammlung
Gipsmodell oder am Tonmodell gearbeitet wurde, ist in der Forschung umstritten.25 Aufschlussreich ist in unserem Zusammenhang, dass die Bronzen, welche uns als das ‚eigentliche‘ Werk erscheinen, vom Künstler nicht in ihrer ‚Einzigkeit‘ gesehen wurden. Die großen Rückenakte besaßen für Matisse stattdessen eher einen Skizzencharakter. Die erste erhaltene Version (Nu de dos I) wurde auf der zweiten Postimpressionistischen Ausstellung, organisiert von Roger Fry in der Londoner Grafton Galleries 1912, in der Gipsversion ausgestellt und zwar unter dem Titel Sketch.26 Die Rückenakte waren für den Künstler nie eine Serie, erst nachträglich wurden die Bronzen zusammengestellt; Nu de dos II wurde erst 1956 posthum gegossen.27 Zeitgleich mit den ersten ‚Versionen‘ von Nu de dos arbeitete Matisse in einem von 25 Die neuere Forschung geht von der direkten Bearbeitung in Gips aus, so Boulton ebd.: „(...) he presses sheets of clay into the piece model and again alters the clay“; in Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 103, Anm. 2 wird vermutet, dass Matisse jeweils zwei Gipsabgüsse der Rückenakte fertigen ließ, um auch in Gips weiterarbeiten zu können. 26 Second Post-impressionist Exhibition, Ausst.-Kat. Grafton Galleries, London 1912, London 1912, S. 23. 27 Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 159. Außer der ersten Version wurde zeitlebens keiner der Rückenakte ausgestellt. Der zweite Rückenakt war bis nach dem Tod des Künstlers
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1909 bis 1917 andauernden Prozess der wiederholten Überarbeitung an einer seiner größten Leinwände dieser Zeit, den Femmes à la rivière.28 Matisse dachte nicht in Serien, sondern hielt so konsequent an permanenter Interpretation und Überarbeitung fest, dass man vom Konzept einer heteronomen Werkauffassung sprechen kann. Dazu gehört nicht nur ein Prozess der Selbstwiederholung, sondern auch, dass Skizze und fertiges Werk nicht mehr zu trennen sind. D’Alessandro und Elderfield beschreiben, wie Matisse in seiner „Praxis der Replizierung“ mit verschiedenen Medien experimentiert habe und die gleichen Sujets zwischen verschiedenen Genres und Techniken habe hin- und herwandern lassen.29 Matisse erschloss damit auch eine zeitliche Dimension. Wie er selbst andeutete, kann man das plastische Arbeiten an den Rückenakten aus der Praxis seiner Malerei verstehen:30 Dieser komplizierte und unvorhersehbare Prozess des Auftragens, Auslöschens, Abkratzens und Neumalens von Farbschichten auf ein und derselben Oberfläche oder Leinwand stellt gemeinsam mit dem Erarbeiten eines ‚Ausdrucks‘ in verschiedenen Medien das fünfte Prinzip der Selbstwiederholung dar. In fast jedem seiner Werke ließ Matisse die Arbeitsspuren sichtbar stehen. Aus diesem Grund war eine genaue Replik für Matisse unmöglich;31 er produzierte vom Moment des subjektiven Empfindens aus etwas, das nur in einem Prozess des stetigen Wandels präexistiert und durch die Betrachter seiner Werke neu zu schöpfen ist. Matisses Ölbild Nu rose assis32 entstand von April 1935 bis 1936 in Zusammenarbeit mit Lydia Delectorskaya. Sie war eines seiner letzten Modelle und begleitete den Künstler bis zu seinem Tod. Seit dem 1930 ergangenen Auftrag, La danse für die Barnes Foundation in wandfüllender Version neu zu malen, hatte Matisse angefangen, systematisch seine Werke im Entstehungsprozess zu fotografieren. Es gibt von Nu rose assis mindestens 14 Stadien der Bearbeitung, die er fotografierte (Abb. 4). Diese Phasen verstand Matisse als einen wichtigen Bestandteil der Werke. Er zeigte diese Fotografien auch Besuchern, um seine Kompositionsmethode und Arbeitsweise zu erklären, und sie wurden in
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unbekannt, bis man die Gips-Version fand. Vgl. Hilary Spurling, Matisse der Meister. Eine Biografie, 1909–1954, Bd. 2, Köln 2007, S. 319 und S. 510, dort Anm. 28. Henri Matisse, Femmes à la rivière, 1909–17, Öl auf Leinwand, 260 × 392 cm, The Art Institute of Chicago, Charles H. and Mary F. S. Worcester Collection. Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 24; Jack Flam wies darauf hin, dass Matisse später über seine Scherenschnitte sagte: „(T)o cut directly into colour makes me think of a sculptor’s carving into stone.“ Matisse zit. n. Jack Flam, Matisse’s Backs and the Development of His Painting, in: Art Journal 30/1971, S. 352–361, hier S. 360, mit Verweis auf Henri Matisse, Jazz, Paris 1947 (unpaginiert). Vgl. Anm. 8 und Anm. 9. Im Fall des Auftrags von Albert C. Barnes für eine großformatige Ausführung des Motivs von La danse für den Hauptsaal der Barnes Foundation in Merion 1930 wurde eine Überarbeitung nötig, weil Matisse mit falschen Maßen geplant hatte. Die geänderten Maße führten jedoch zu einer komplett neuen Ausführung der Figuren, nicht etwa nur zu einer Anpassung der Größe. Vgl. Jack Flam, Histoire et métamorphoses d’un projet, in: Suzanne Pagé (Hg.), Autour d’un chef-d’œuvre de Matisse. Les trois versions de la danse Barnes (1930–1933), Ausst.-Kat. Musée d’art Moderne de la Ville de Paris 1993/94, Paris 1993, S. 23–91. Henri Matisse, Nu rose assis, Öl auf Leinwand, 92 × 73 cm, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris, siehe: Henri Matisse Processus/Variation, Ausst.-Kat. Musée national d’art occidental, Tokyo 2004, S. 184f.
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4 Henri Matisse, Fotografien von Nu rose assis, Stadien der Bearbeitung (Auswahl), April 1935–1936
Ausstellungen integriert.33 Matisse versah die Fotografien mit exakten Daten. Während der Akt zunächst nur mit leichten Schatten laviert wurde, kamen am 26. August 1935 größere Anteile Farbe mit einem wolkigen Pinselduktus in den monochromen Flächen hinzu. Ende August vollzog sich im Hintergrund eine auffällige Änderung: Matisse zog dort mit den (im Atelier tatsächlich vorhandenen) Kacheln eine Art Raster ein. Am 1. September 1935 erfolgte eine weitere Überarbeitung, die vor allem in Gesicht und Körper stärker lineare Qualitäten zurückholte. Die Beweglichkeit der Figur vom ersten Entwurf, alle Drehungen des Körpers sind im Endzustand noch sichtbar. Das Raster der gekachelten Rückwand, das in weißen Linien noch weiterwirkt, begründet im letzten Zustand nun auch die eckige Form des Arms und verklammert die Figur kompositorisch mit dem Hintergrund. Die Wirkung der tieferliegenden Schichten des Inkarnats, in denen noch immer Partien der ersten Linien sichtbar sind, macht aus der Gestalt eine vibrierende menschliche Figur, die in eine ruhende Form eingeschrieben ist. Die Auslöschungen am Oberarm rechts und in der Gesichtspartie evozieren vorherige Zustände des Bildes. Lydia Delectorskaya war nicht nur Modell, sondern half auch bei der Verfertigung der Bilder – genauer gesagt bei der Auslöschung von Zuständen.34 33 Vgl. die Ausstellungsansichten in der Galerie Maeght, Paris, Dezember 1945 bei Weiss 2007 (wie Anm. 4), S. 172. 34 Vgl. die Abbildung in: Lydia D. – Lydia Delectorskaya. Muse et modèle de Matisse, Ausst.-Kat. Musée Départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis/Musée Matisse de Nice, Paris 2010, S. 61. Hier sieht man Delectorskaya mit dem Terpentinlappen Partien aus dem Bild abnehmen. Vgl. auch die Schilderung von Delectorskaya ebd., S. 21.
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Die verschiedenen Arbeitsspuren der Oberfläche des Bildes sollen hier als eine Selbstwiederholung verstanden werden, die vorherige Zustände in der Gegenwart verändert, ohne sie restlos zu löschen, und so auch für den Betrachter eine weitere zeitliche Dimension des Sichtbaren erschließt. Die Vorstellung, die sich der Betrachter vom Dargestellten macht, hängt entscheidend an der Wirkung dieser Prozess-Spuren. Der Werkbegriff löst sich damit vom einzelnen Werk, von einem endgültigen Zustand, und erweitert sich nicht nur auf Skizzen und andere Materialien, sondern auch auf eine Zeitlichkeit der Spuren im Material, die zurückliegende Stadien der Arbeit aktiviert. Für einen Künstler, der aus einem Interieur in Blau kurzerhand eine Harmonie rouge macht35 – so geschehen wenige Tage vor der Ausstellungseröffnung des Salon d’Automne 1908 bei einem Auftragswerk für Schtschukin – und gerade nicht eine neue Version malt, erscheint es einleuchtend, diese Selbstwiederholungen eben als ein Werk und nicht im Sinne einer Replik oder Variantenbildung zu verstehen. Jeffrey Weiss konstatiert in seinem Beitrag zum Baltimorer Katalog The Repeating Image von 2007, dass Matisse ab circa 1935 im Arbeitsprozess ein ‚Matisse-Raster‘, ein System von Schwarz-Weiß-Reproduktionsfotografien als Teil des Werkprozesses entwickelt habe: Abgeleitet aus dem Raster eines Werkkataloges transformiere die Darstellung der sukzessiven Zustände eines Gemäldes auch die Konzeption seiner Malerei.36 Das Fotografieren während des Malprozesses und die fotografische Fixierung von Zuständen wurde zu einem eigenen künstlerischen Mittel, das nicht nur in Ausstellungen gezeigt wurde, sondern schließlich auch zu der Möglichkeit führte, seine Werke durch einen anderen Maler ausführen zu lassen – wie es bei der Version von La danse für die Barnes Foundation der Fall war – oder das Modell an den Auslöschungsvorgängen zu beteiligen. Weiss plädiert dafür, die Arbeitsweise von Matisse nicht unter der Rubrik ‚Thema und Variation‘ zu verstehen – denn die retrograde Aktivität, die durch die Fotografien, die Matisse seinen Betrachtern mitgab, ermöglicht wurde, mache aus dem gesamten Malprozess eine Art ‚Stop-Motion‘.37 Die Foto-Raster zögen die Ebene einer ‚Beschreibung‘ in den künstlerischen Prozess ein, von dem aus Matisse entschieden habe, ob er in seinen malerischen Lösungen voranschritt oder regredierte.38 Die fotografische Sequenz fungiere während der Arbeit des Künstlers 35 Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 87, dort Anm. 31: „Matisse would exhibit Harmony in Red (The Red Room) at the Salon d’Automne (No. 898) as Panneau décoratif pour salle à manger“; dazu auch Flam 1986 (wie Anm. 12), S. 318–322, der die Meinung revidierte, dass das Bild erst nach dem Salon übermalt worden sei. Dort ist auch die Verwandlung von Blau in Rot abgebildet, ebenso wie in: Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 84; Alfred H. Barr wies darauf hin, dass Matisse auf Rückfrage des Autors sogar noch von einer allerersten grünen Version berichtete. Er datierte das Bild auf 1909 analog zur These der späteren Übermalung, vgl. Alfred H. Barr, Matisse. His Art and His Public, Museum of Modern Art, New York (1951) 1974, S. 124f.; vgl. auch die Diskussion bei Albert Kosténévich, Matisse dans les collections russes, in: Ders./Natalia Sémionova (Hg.), Matisse et la Russie, Paris 1993, S. 57–160, hier S. 91–95. 36 Weiss 2007 (wie Anm. 4), hier bes. S. 180. Weiss baut die These dahingehend aus, dass Matisse sich vom Werkkatalog, den Christian Zervos mit zahlreichen kleinen Abbildungen ab 1932 herausgab, habe anregen lassen, seine Bilder als fotografische Abfolge zu präsentieren. 37 Ebd., S. 181. 38 Ebd.: „(…) if it is too extreme to claim that they were created for the camera, then it is certainly fair to say they were produced according to a regularized pattern of inventoried stages highly
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als eine Passage der Entleerung.39 Die Sequenz-Bildung bei Matisse eröffnet mit den fotografierten Werkstadien jedoch eine entscheidend andere zeitliche Dimension als bei der Herstellung von Werk-Sequenzen.40 Die fotografischen ‚Stadien‘ erzeugen erst im Nachhinein eine Abfolge und machen so gewissermaßen aus der Gegenwart des Sichtbaren die Vergangenheit komplexer. Der ‚Endzustand‘, in dem das Bild vor den Augen des Betrachters existiert, wird damit relativiert, sein Zustand mit einem Zeitstrom von Vergangenheit und Zukunft verknüpft. Insofern entsprechen die Fotografien verschiedener Stadien eines Werks den Selbstzitaten des vierten Prinzips der Selbstwiederholung. Matisse selbst sagte, dass jeder der Zustände eine Balance für ihn darstelle.41 Das bestehende Werk, Nu rose, wird retroaktiv zur Selbstwiederholung und damit sind Prozesse der Selbstwiederholung in ein fertiges Werk eingeschrieben. Auch für Matisses Skulpturen sind solche Zwischenschritte als „skulpturale Schnappschüsse“ existent: Von den meisten seiner Arbeiten entstanden noch im Werkprozess Ton-Kopien, direkte Abformungen, von denen ausgehend er weiterarbeitete.42
koexistenz als zeitdimensionen des heteronomen werks Man kann vielleicht am besten mit Henri Bergsons Begriffen verstehen, wie diese ‚Stop-Motion‘-Technik und andere Formen der Selbstwiederholung mit der Konzeption eines heteronomen Werks zusammenhängt. Bergson führt in seiner Schöpferischen Entwicklung von 1907 aus, wie Dauer in unserer Wahrnehmung erzeugt wird. Während wir uns permanent in einem Strom des Erlebens befinden, können wir immer nur behelfsmäßig einzelne ‚Aufnahmen‘ der Gegenwart erzeugen: „Wo ein Fließen flüchtiger Nuancen ist, die ineinander spielen, sieht sie schreiende, gleichsam starre Farben, nebeneinander gereiht wie verschiedene Perlen eines Halsbands.“43 Die Aufmerksamkeit reiht „Zustand neben Zustand (…), wo eine Kontinuität ist“.44 Analog nehmen wir von der Dauer nur „Momente“ wahr, deren Wahrnehmung gänzlich subjektiv verfährt.
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amenable to picture-taking.“ Weiss zitiert hier fernerhin aus einem Interview mit Matisse von 1945 über Werke der 1940er Jahre: „The photos taken in the course of the execution of the work, permit me to know if the last conception conformes more to the ideal than the preceding ones; whether I am advancing or regressing.“ Ebd., S. 182. D’Alessandro und Elderfield sehen die Sequenz als Werkprinzip. Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 25. Matisse zit. n. E. Tériade, Constance du fauvisme, in: Minotaure 2, 9, 15. Oktober 1936, S. 3, zit. n. Wiederabdruck in: Chicago/New York 2010 (wie Anm. 18), S. 303, dort Anm. 3: „My reaction to a state (étape) is as important as the subject. For this reaction originates from me and not from the subject. Stating with my interpretation I react continually until I find the work in agreement with me. Like someone putting together a sentence – reworking it, rediscovering it. At each state, I have a balance, a conclusion.“ Boulton verwendet die Bezeichnung dreidimensionale „snap shots in clay“. Boulton 2007 (wie Anm. 21), S. 87. Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung (Evolution créatrice, Paris 1907), Zürich 1927, S. 51. Ebd.
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Bergson spricht hier auch vom „kinematographischen Mechanismus des Denkens“, welcher der schöpferischen Entwicklung jedoch nicht gerecht werde.45 Dass die Erinnerung (an eine frühere Version) stets in der Gegenwart präsent bliebe und zugleich die gegenwärtige Version schon in der vergangenen enthalten sei, stellt eine der Kernaussagen von Bergson dar.46 Die Vergangenheit koexistiere mit der Gegenwart, insofern wir sie im jeweiligen Moment immer neu schöpfen. Diese permanente Konstitution des Vergangenen aus der Gegenwart findet sich auch im Konzept des heteronomen Werks bei Matisse. Frühere Versionen bleiben in den Matisse’schen Schichten als Prozess stehen, und zwar nicht als eine Abfolge, sondern als eine immer zu erneuernde Dauer eines absenten und nicht zu erreichenden Ideals. Die Bergson’sche Dauer ist weniger durch das Nacheinander als durch die Koexistenz bestimmt.47 Und die Koexistenz als Bewusstseinsmodus entspricht dem élan vital, der schöpferischen Entwicklungskraft, besser als jene kinematografische Abfolge von Zuständen. Wenn Matisse die Fotosequenzen der Stadien seiner Malerei für so wichtig hielt, dass er sie in Ausstellungen integrierte, heißt das für die Zeitdimension seiner Werke, dass das Verhältnis des uns vor Augen stehenden Werks zu vorhergehenden Stadien ebenfalls das einer Koexistenz ist: Die Prozesse der Verfertigung koexistieren mit dem Zustand auf der Leinwand. Sie zeigen, dass auch die künstlerische Selbstwiederholung ein Akt der Koexistenz und nicht der einer Abfolge ist. Die Prozessästhetik bei Matisse entwickelt sich so aus einem Paradox: Gerade weil Schichten, Arbeitsvorgänge, Auslöschungen und Reste vorheriger Zustände sichtbar bleiben, gerade weil Matisse Skizze und Skulptur nicht trennt, kollabiert die herkömmliche Hierarchisierung von Medien, die Abfolge und Zeitlichkeit der künstlerischen Arbeit hin zu einem fertigen Werk. Den in der Kunstwissenschaft am fertigen Werk orientierten Werkbegriff unterminieren die verschiedenen von Matisse praktizierten Prinzipien der Selbstwiederholung zu einer Bergson’schen Dauer der Koexistenz.
45 Zum filmischen Denken vgl. Bergsons Kapitel IV. Der kinematographische Mechanismus des Denkens und die mechanistische Täuschung, ebd., S. 275–357, hier bes. S. 309f.; zu den ‚Momenten‘ vgl. ebd., S. 56. 46 Gilles Deleuze, Bergson zur Einführung, Hamburg 1989, S. 69ff., dabei spielen zwei Formen des Gedächtnisses eine entscheidende Rolle (Erinnerungsgedächtnis und Kontraktionsgedächtnis). 47 Vgl. ebd., S. 80, mit Bezug auf: Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Jena 1914; in der kunstgeschichtlichen Forschung haben Ellen Charlotte Oppler, Fauvism reexamined, New York 1976, sowie Mark Antliff, Inventing Bergson. Cultural Politics and the Parisian Avant-Garde, Princeton 1993, Matisses Verhältnis zum Bergson’schen Denken untersucht. Es folgte Lorenz Dittmann, Matisse begegnet Bergson. Reflexionen zu Kunst und Philosophie, Köln 2008, der vor allem auf das Verhältnis der inneren und äußeren Erfahrung abhebt; Rémi Labrusse verdeutlichte, dass die Ideen Bergsons Matisse spätestens ab 1914 durch den englischen Byzantinisten Evans Pritchard vermittelt wurden, siehe: Rémi Labrusse, La condition de l’image, Paris 1999, siehe auch: Pierre Schneider, Matisse, München 1984, S. 732f.; Spurling 2007 (wie Anm. 27), S. 159–162; Todd Cronan, Against Affective Formalism. Matisse, Bergson, Modernism, Minneapolis/London 2014.
giorgio de chirico als wiederholungstäter zwischen ‚aura‘ und kunstmarkt paolo baldacci Wenn ein künstlerisches Bildwerk von seinem historischen Ort abgelöst wird, dann geschieht das, was Walter Benjamin den „Verlust der Aura“ genannt hat. Gemeint ist damit das Schwinden seiner romantischen Charakteristika Einzigkeit und Unwiederholbarkeit. Dabei erfährt das Bild einen konzeptuellen Wandel. Eng mit dem Verlust der ‚Aura‘ hängt zusammen, was geschehen kann, wenn man das Werk als Bild vom Werk als Hergestelltem löst. Diese Vorgänge wurden im vergangenen Jahrhundert durchaus reflektiert. Über das Thema Vervielfältigung und Authentizität haben sich die Protagonisten jener Zeit mit Wonne verbreitet. Unter ihnen ist auch Giorgio de Chirico zu nennen. Ein Künstler, der viel zu gebildet war und viel zu sehr Philosoph, um nicht zu wissen, was für Konsequenzen das Kopieren und Wiederholen für sein Œuvre haben würde: Eine Praxis also, die er einst ohne allzu viel Grübeln begonnen hatte. Ziel dieses Beitrags ist es, die Gründe für die Wiederaufnahme metaphysischer Motive durch de Chirico in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zu erläutern. Dabei werden bislang größtenteils vernachlässigte historische Schlussfolgerungen zu ziehen sein. Abschließend soll kurz untersucht werden, was nach 1945 geschah. Nach de Chiricos Tod 1978 hat sich die folgende und bis heute in der Publizistik beliebte Auffassung durchgesetzt: Dieser Maler ist ein Vorläufer der Pop Art und der konzeptuell vervielfältigten Kunstwerke gewesen.1 Zweifellos richtig ist aber nur der erste Teil dieser kaum je hinterfragten Sicht, der einige in der Tat von de Chirico vorweggenommene Aspekte der Pop-Poetik betrifft. Der zweite Teil dagegen ist zu überprüfen, ja höchstwahrscheinlich nicht zutreffend. In den 1980er Jahren habe auch ich angenommen, dass seine tiefe Übereinstimmung mit Nietzsches Denken auch künstlerisch, malerisch ‚die ewige Wiederkehr des Gleichen‘ rechtfertigen könne.2 Heute glaube ich das nicht mehr. Denn mittlerweile kenne ich den Künstler und 1 Die Neubewertung von de Chirico als Kopist seiner selbst begann mit dem grundlegenden Beitrag von Renato Barilli, De Chirico e il recupero del museo, in: Ders., Tra presenza e assenza. Due ipotesi per l’età postmoderna, Mailand 21981 (1974), S. 268–303. Im Abschnitt „La rivisitazione di se stesso“ (ebd., S. 290–294) setzte Barilli zum ersten Mal das Werk von de Chirico in Beziehung zu den Fragen, welche die konzeptionellen Künstler über die physischen, sozialen, ästhetischen und warenhaften Bedingungen eines Kunstwerks aufgeworfen hatten. Allerdings betonte er zu Recht, dass der Rückgriff auf die penible Kopie nur dank eines Paradoxes neu bewertet werden könne, und zwar nur dann, wenn er von einer explizierten Reflexion und einem manifesten Bewusstsein des Künstlers getragen wird. Dies sei bei den konzeptionellen Künstlern der Fall, welche diese Reflexion sogar in das Kunstwerk selbst hinein verlegt hatten – etwas, das für de Chirico eben nicht zutrifft. Die nachfolgenden Kritiker und Interpreten betrachteten dies weniger differenziert als Barilli. 2 Paolo Baldacci, De Chirico, le date, il tempo, la storia, in: Maurizio Fagiolo dell’Arco (Hg.), Giorgio de Chirico. I temi della metafisica, Ausst.-Kat. Galleria Philippe Daverio, Mailand 1985, S. 5–14.
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sein Werk genauer, ja derart bis ins Detail, dass ich den Formeln einer oberflächlichen Kunstkritik im Dienste des Marktes nicht in die Falle gehe.3 Den roten Faden dieser Untersuchung bildet die Geschichte des Gemäldes Le muse inquietanti vom Mai 1918 und seiner zahlreichen Kopien – insgesamt zwischen 60 und 70.4 Die Geschichte dieses Bildes werden wir vor dem Hintergrund anderer Wiederholungen metaphysischer Themen zu betrachten haben.5 An sich sind die Vorgänge um Le muse inquietanti nicht kompliziert. Aber von einem bestimmten Augenblick an kreuzten sie sich mit der ‚Psychose‘, die unter Kunstsammlern gegen Ende der 1930er Jahre grassierte. Einerseits stieg die Nachfrage nach frühen metaphysischen Werken, andererseits bemerkten die Sammler bereits damals, dass verschiedene Versionen und Repliken, die de Chirico von seinen metaphysischen Bildern bereits seit 1922 angefertigt hatte, auf dem Markt kursierten. Um die Bedeutung der metaphysischen Wiederholungen und deren Motivation zu verstehen, müssen wir uns vor Augen halten, dass ein wirklicher Markt für de Chirico bis Ende 1925 nicht existierte. Zu diesem Zeitpunkt entschloss sich der Maler, erneut von Italien nach Paris überzusiedeln. Dort bot sich ihm nämlich die Gelegenheit, wieder mit dem Galeristen Paul Guillaume zusammenzuarbeiten. Vor allem aber wurde der Kunsthändler Léonce Rosenberg zu einer für seine künstlerischen Entscheidungen und seinen Erfolg wegweisenden Persönlichkeit. Der Zeitraum von 1926 bis 1930 markiert seinen internationalen Durchbruch in Europa und in Amerika mit den von Rosenberg verlangten „surreal-neuklassischen“ Stoffen. In jener Phase waren die neueren Gemälde wesentlich teurer als die metaphysischen Bilder der 1910er Jahre. Das Blatt begann sich zu wenden, als Pierre Matisse 1931 seine Galerie in New York eröffnete und sich der Pittura Metafisica zuwandte. In kürzester Zeit erlebten die Gemälde aus den Jahren von 1910 bis 1918 einen durchschlagenden Erfolg. Unterstützung kam von der namhaftesten Kritik, und fortwährend schnellten die Preise in schwindelnde Höhen. De Chirico besaß keine metaphysischen Bilder aus den 1910er Jahren mehr. In Frankreich waren alle unter der Kontrolle Paul Guillaumes und der Surrealisten, und in Italien befanden sie sich in den Händen Mario Broglios, Giorgio Castelfrancos 3 Die in diesem Text zusammengetragenen Fakten sind das Ergebnis langjähriger Forschung. Der Großteil der entsprechenden Belege wird im Archivio dell’Arte Metafisica verwahrt oder sind in den einschlägigen Publikationen des Autors nachgewiesen. Unter diesen sind insbes. zu nennen: Paolo Baldacci, Betraying the Muse. De Chirico and the Surrealists, Ausst.-Kat. Paolo Baldacci Gallery, New York, London 1994; Ders., De Chirico 1888–1919. La metafisica, Mailand 1997. 4 Riccardo Dottori stellte die Zahl von „circa sessantacinque repliche“ in den Raum. Dottori publiziert seit vielen Jahren in Veröffentlichungen der Fondazione Giorgio e Isa de Chirico, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass er über direkte Kenntnisse des dortigen Archivs verfügt; Riccardo Dottori, De Chirico: classico, romantico o postmoderno? La seconda metafisica, in: Maurizio Calvesi (Hg.), Giorgio de Chirico. La „Metafisica continua“. Opere della Fondazione Giorgio e Isa de Chirico, Ausst.-Kat. Galleria d’Arte Moderna, Palermo, Mailand 2008, S. 49–59, hier S. 52. 5 Die Geschichte der Muse inquietanti wird hier stark zusammenfassend wiedergegeben, sie lässt sich in allen Punkten genau dokumentieren. Schritt für Schritt wird sie in dem von Gerd Roos und mir herausgegebenen Catalogue raisonné der Pittura Metafisica von 1909 bis 1943 (in Vorbereitung) rekonstruiert.
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1 Giorgio de Chirico, Figliol prodigo, 1922, Tempera auf Leinwand, 87 x 59 cm, Museo del Novecento, Mailand
und weniger anderer. Paul Guillaumes plötzlicher Tod Anfang 1934 schleuderte einen beträchtlichen Bestand an metaphysischen Werken dieser Zeit auf den internationalen Markt, der sich als ausschlaggebend erwies. Denn der Kunstmarkt war bis dahin in eher gering dosierten Verkäufen ausschließlich von Vertretern der surrealistischen Gruppe dominiert worden. Die Jagd auf den de Chirico der 1910er Jahre wurde jetzt zu einer Verpflichtung für die bedeutendsten Sammler. De Chirico hatte 1922 – nach einer einschneidenden Unterbrechung von beinahe vier Jahren – von Neuem begonnen, mit verschiedenen Techniken an metaphysischen Themen zu arbeiten.6 Manchmal transponierte er dabei das Motiv einer Zeichnung aus seiner Ferrareser Zeit in Malerei. Das ist der Fall bei Figliol prodigo von 1922 und 6 Zu diesem Wendepunkt in de Chiricos Schaffen siehe zuletzt Gerd Roos, Rezensionen und Reaktionen. Giorgio de Chirico, die Ausstellung in der Casa d’Arte Bragaglia im Februar 1919 und das Ende der pittura metafisica, in: Ders./Paolo Baldacci/Christiane Lange (Hg.), Giorgio de Chirico. Magie der Moderne, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Dresden 2016, S. 190–201.
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2 Giorgio de Chirico, Il condottiero, 1925, Öl auf Leinwand, 80,4 x 62,7 cm, Privatsammlung
bei Il condottiero von 1925 (Abb. 1 und 2). Manchmal entwickelte er auch Stoffe neu und weiter, die für ihn eine besondere Bedeutung hatten. Das betrifft zum Beispiel Il trovatore, den er 1922 für einen italienischen Sammler malte (Abb. 3). Und 1924 führte er ein Bild gleichen Titels im Auftrag von Paul Éluard aus (Abb. 4). Keines dieser Werke kann als Kopie im Sinne einer Eins-zu-eins-Wiederholung gelten. Sämtliche Wiederaufnahmen metaphysischer Stoffe aus der Phase von 1922 bis 1925 haben eine eigene schöpferische Autonomie. Zwar verlangten einige Auftraggeber ausdrücklich, dass die bestellten Bilder Themen oder Stimmungen spezifischer Werke wiederkehren lassen, aber selbst dann sind die neuen Gemälde doch mehr oder minder deutlich von ihren Erstfassungen entfernt. Entweder widerstrebte es de Chirico, sich banal zu wiederholen, oder ihm war daran gelegen, in völlig anderen Formen einen neuen Ausdruck für eine alte Vorstellung zu finden. Dies ist der Fall bei der 1924 für Paul Éluard gemalten Version von Il cervello del bambino (Abb. 5), eines Werks von 1914 aus dem Besitz von André Breton. Dagegen beschreibt die Bezeichnung ‚Kopie‘ passgenau die Ende 1924 ausgeführte erste Replik von Le muse inquietanti. Auf Fotografien ist die eine Fassung leicht mit der anderen zu verwechseln – was denn auch in der Tat geschehen ist. Die Kopie, mit der Paul Éluard im November 1924 de Chirico beauftragte (Abb. 6), weist in Zeichnung
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3 Giorgio de Chirico, Il trovatore, 1922, Tempera auf Leinwand, 85 x 60 cm, F.F.C. per l’Arte, Turin
und Komposition beinahe keinen Unterschied zum Original auf. Allerdings zeigt sie einen anderen Pinselstrich. Ihr fehlt völlig jene Nonchalance, die den Betrachter der ersten Fassung der Muse inquietanti so zu beeindrucken vermag. Tatsächlich hatte de Chirico Simone Kahn Breton schon am 10. März 1924 in einem Brief angeboten, für 1000 Lire eine „exakte Replik“ der Musen anzufertigen. Dabei hatte er versichert, die Kopie werde „keinen Fehler haben als den, mit schöneren Materialien und mit größerer technischer Virtuosität ausgeführt zu sein“.7 Die Bretons lehnten ab. An dieser Begebenheit sollten sich später die hochmoralisch auftretenden Polemiken des Dichters gegen den Maler entzünden. Éluard aber witterte das Geschäft und gab im folgenden November, sobald de Chirico wieder in Paris war, die Kopie für sich in Auftrag.8 7 Giorgio de Chirico, Lettre ad André e Simone Breton, in: Metafisica. Quaderni della Fondazione Giorgio e Isa de Chirico 1/2, 2002, S. 114–131, hier S. 125, dt. Übers. Martin Weidlich. 8 Vgl. den Brief von Paul Éluard an James Thrall Soby vom 27. März 1951: „(...) Pour les ,Muses inquiétantes‘, j’ai demandé en 1923 (recte: 1924) à Chirico de me le copier, puisque son propriétaire, Mr Castelfranco, ne voulait pas me le céder. Chirico le copia dans les mêmes
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4 Giorgio de Chirico, Il trovatore, 1924, Tempera auf Leinwand, 100 x 65 cm, Stichting tot Beheer Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam
Täuschend ‚echt‘ wirkt auch die zweite Fassung von Ettore e Andromaca. Sie befand sich früher im Besitz von René Berger und ist um den Jahreswechsel 1924/25 angefertigt worden (Abb. 7). Aber bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Serie metaphysischer Wiederholungen eine saubere Geschichte. Denn kein einziges Bild, auch nicht die Kopie der Muse inquietanti, wurde damals gemalt, um jemanden zu betrügen, also um die Kopie neueren Datums als frühes Original zu verkaufen. Anders verhält es sich dagegen bei Souvenir d’Italie, einer Neufassung der Melanconia9 von 1912, die einst zur Sammlung Herbert und Nannette Rothschild gehört hat (Abb. 8). De Chirico verkaufte sie Anfang 1926 als Werk aus den 1910er Jahren an Jacques Doucet.10 Indem aber der Maler so verfuhr, frönte er lediglich unter persönlicher Vorteilsnahme einem Schlendrian, der seine surrealistischen ‚Freunde‘ bereits erfasst dimensions et d’après une photographie. La manière en est tout à fait différente: au lieu de teintes plates, on a affaire à des touches très légères, comme des plumes irisées. (...)“, zit. n. Correspondenza J. T. Soby – P. Eluard, in: Metafisica. Quaderni della Fondazione Giorgio e Isa de Chirico 1/2, 2002, S. 139–145, hier S. 144. 9 Giorgio de Chirico, Melanconia/Solitudine, 1912, Öl auf Leinwand, 79 x 63,5 cm, Privatsammlung. 10 Luisa Spagnoli, Lunga Vita di Giorgio de Chirico, Mailand 1971, S. 21f. Nachdem Doucet von Breton auf die falsche Datierung aufmerksam gemacht worden war, gab er das Bild an de
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5 Giorgio de Chirico, Il cervello del bambino, 1924, Öl auf Leinwand, 76 x 63 cm, Privatsammlung
hatte. Die Protagonisten dieser Liederlichkeit waren die abgemalten Muse inquietanti und niemand anderes als Breton. Während nämlich das Original in Florenz bei seinem Eigentümer Giorgio Castelfranco verblieb, war es die Kopie, die durch die namhaftesten Sammlungen Europas und Amerikas wanderte. In den damaligen Publikationen erscheinen oft Fotografien der Replik anstelle von Reproduktionen des Originals.11 Datiert sind diese auf die Ferrareser Periode: meist auf 1917, einige Male auf 1916, aber nicht ein einziges Mal, wie es korrekt wäre, auf 1918. Die große Verwirrung um de Chiricos Werk kulminiert in dieser Geschichte von Le muse inquietanti. Und diese Geschichte erzählt uns, wie die geschäftlichen Gaunereien rund um die Datierungen begannen. Solchen Gaunereien entzog sich weder der Maler noch der ‚untadelige‘ Breton. Die Kopie aus dem Besitz Éluards prangte nämlich um 1926 im Schaufenster der Galerie Surréaliste, wie durch ein Foto dokumentiert ist.12 Jetzt offenbarte sich die ambivalente Haltung von Breton: Einerseits hatte ihm Éluards Musen-Replik den Anlass geliefert für die giftigsten Attacken gegen de Chirico. Andererseits hatte niemand anderes als er selbst, eigenem Bekunden zufolge, gerade dieses Gemälde weiterverkauft. Und zwar gewiss ohne dass er es als Kopie kenntlich gemacht hätte. Der Käufer war Chirico zurück, der es umgehend an Marcel Raval veräußerte, und zwar erneut als ein Werk der 1910er Jahre. 11 So z. B. in: Boris Ternovetz, Giorgio de Chirico, Mailand 1928, Tafel o. Nr.; James Thrall Soby, After Picasso, Hartford u. a. 1935, Tafel 37. 12 Abbildung in: De Chirico. Gli anni venti, Ausst.-Kat. Palazzo Reale, Mailand 1987, S. 87.
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6 Giorgio de Chirico, Le muse inquietanti, 1924, Öl auf Leinwand, 97 x 67 cm, Privatsammlung
der berühmte Modeschöpfer Jacques Doucet, dessen Sammlung Breton als Kurator vorstand.13 Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. 1928, ein Jahr vor dem Tode Doucets, bekundete der belgische Verleger René Gaffé die Absicht, das Bild zu kaufen. Er wandte sich an seinen guten Freund de Chirico mit der Bitte um Informationen zum Original und den Repliken. De Chirico antwortete ihm wortwörtlich wie folgt: „Die beunruhigenden Musen wurden 1917 oder 1918 gemalt. Von dem Gemälde existieren zwei Repliken, die im selben Zeitraum gemalt wurden. Sie befinden sich – oder zumindest befanden sich – bei Herrn Raynal (Maurice Raynal, P. B.) die eine und die andere bei Herrn Castelfranco.“14 13 André Breton, Entretiens, 1913–1952, avec André Parinaud, Paris 1969, S. 102f. 14 In seinem Brief vom 23. Oktober 1959 an James Thrall Soby zitiert René Gaffé diesen entscheidenden Satz aus einem Schreiben, das ihm de Chirico am 21. Mai 1928 aus Paris geschickt hatte: „Les Muses Inquiétantes a été peint vers 1917 ou 1918; il y a deux répliques de ces
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7 Giorgio de Chirico, Ettore e Andromaca, 1924–1925, Öl auf Leinwand, 90 x 60 cm, Privatsammlung
Mit diesem Coup wird die 1924 nach einem Foto von Castelfrancos Original für Éluard angefertigte Replik zur Originalversion erhoben. Zum ersten Mal spricht dabei de Chirico von mehreren identischen Versionen eines Gemäldes, die angeblich alle aus derselben Phase stammen. Denn wir erfahren von der Existenz einer zweiten Replik, die sich in der Sammlung Maurice Raynal befunden hat. Es handelt sich um die heute in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen befindliche Tempera auf Karton. Sie ist auf kurz vor 1928 zu datieren und wurde 1938 von den Nazis als ,entartete Kunst‘ beschlagnahmt.15 In diesem Fall haben wir es im Hinblick auf die verfolgten Absichten mit einer merkwürdigen Übereinstimmung zwischen den beiden Feinden André Breton und tableaux, exécutés à la même époque et qui se trouvent ou des moins trouvaient l’une chez Mr. Raynal et l’autre chez Mons. Castelfranco.“, dt. Übers. Martin Weidlich. Der Brief von Gaffé gehört zu den Soby-Papers, die im Archiv des Museum of Modern Art in New York aufbewahrt werden. 15 Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Pinakothek der Moderne, Inv. 12787.
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8 Giorgio de Chirico, Souvenir d’Italie, 1926, Öl auf Leinwand, 80,7 x 65,4 cm, Privatsammlung
Giorgio de Chirico zu tun: Doucet hatte wahrscheinlich geahnt, dass mit seinem Bild etwas nicht stimmte. Da ein handfester Skandal drohte, hofften alle, Breton zuallererst, dass es nach Belgien verschwinden würde. Gaffés Geld sollte gleich mehrere Machenschaften übertünchen. Dazu zählte auch das mehr als anrüchige Verhalten des Künstlers, der zum gefälligen Einkaufsberater mutiert war. Éluards Replik wurde also an Gaffé verkauft, der sie acht Jahre später, während der International Surrealist Exhibition in den New Burlington Galleries in London 1936, an einen amerikanischen Sammler weiterverkaufte. Ab Dezember desselben Jahres wurde sie ohne Datierung auf der berühmten Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealism im Museum of Modern Art in New York gezeigt.16 Daraufhin wanderte sie mit den unterschiedlichsten Datierungen von einer Sammlung zur anderen, bis der amerikanische Kunsthistoriker James Thrall Soby 1941 begann, die Dinge zurechtzurücken.17 Das Original der Muse inquietanti hatte im Februar 1939 der in Brescia ansässige Sammler Pietro Feroldi erworben. Damals musste Giorgio Castelfranco, der aus einer jüdischen Familie stammte, einige Werke verkaufen, um seine Kinder nach Amerika schicken zu können. Noch im Laufe dieser Transaktion entdeckte Feroldi, der 16 Alfred H. Barr (Hg.), Fantastic Art, Dada, Surrealism, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York 1936, Kat.-Nr. 214. 17 Soby veröffentlichte 1941 die erste maßgebliche Monografie über de Chirico, siehe James Thrall Soby, The Early Chirico, New York 1941.
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eine astronomische Summe bezahlt hatte, Reproduktionen eines beinahe identischen Bildes im Katalog der Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealism und in einigen Publikationen von 1928–29. Die damit aufgekommene Panik beendete de Chirico selbst durch eine Auskunft, die in krassem Widerspruch zu dem stand, was er elf Jahre zuvor René Gaffé gegenüber versichert hatte: Das Gemälde aus der Sammlung Castelfranco sei das Original, bestätigte er diesmal.18 Während des Zweiten Weltkrieges und auch in der frühen Nachkriegszeit hört man von Le muse inquietanti nichts mehr, mit Ausnahme einiger Ausstellungen, in denen das Bild zu sehen war.19 Bis 1948 tauchen keine neuen Versionen des Werks auf. Indessen hatte de Chirico schon 1933 mit der Produktion metaphysischer Werke aus rein kommerziellen Motiven begonnen. Anlässlich wichtiger Ausstellungen sah er sich ausdrücklich dazu aufgefordert, nicht nur jüngere Werke, sondern gerade auch solche aus der metaphysischen Periode zu zeigen. Dann tat er immer so, als liehe er sie sich von den Sammlern aus. Tatsächlich aber schloss er sich in sein Pariser Atelier ein, wo er sie neu malte. Wie Gerd Roos gezeigt hat, setzte diese Praxis mit der Einzelausstellung von 1933 im Kunsthaus Zürich ein und ist bis weit in den Krieg hinein nachzuweisen.20 Die Anzahl der so entstandenen Werke zu bestimmen, erweist sich als schwierig. In einigen Fällen sind nämlich genauere Termini ante quem oder post quem nicht zu ermitteln. Für das Jahrzehnt von 1933 bis 1942 ist jedoch von ungefähr 40 Gemälden auszugehen. Aus dieser Zeit ist jedoch keine einzige Replik der Muse inquietanti bekannt. Viele Italienische Plätze sind dabei, einige Metaphysische Interieurs, Troubadoure und Hektor und Andromache.21 Aber der Platz von Ferrara mit dem Castello Estense und den beiden so charakteristischen Pappmaschee-Puppen erschien nicht mehr. Offenkundig hatte dieses Motiv einen zu hohen Wiedererkennungswert, um nicht unbequeme Fragen zur Entstehungszeit auf den Plan zu rufen. Dem Briefwechsel zwischen dem Kritiker Carlo Belli und dem Sammler Pietro Feroldi aus jenen Jahren lässt sich entnehmen, wie de Chirico vorgegangen sein muss.22 Hauptsächlich malte er die ‚Fälschungen‘ metaphysischer Werke in Paris, abgeschirmt von indiskreten Blicken. Dann kehrte er nach Mailand zurück und verteilte sie zwischen der Galleria Barbaroux und der Galleria Il Milione. Dabei versäumte er nicht, die Bilder mit entgegenkommenden Datierungen zu versehen, an die alle Beteiligten zu glauben vorzogen, selbst wenn sie insgeheim Zweifel hegten. Das ging so lange gut, bis sich de Chirico eines Tages im Januar 1940 unvermittelt mit einer scharfen Reaktion der Brüder Ghiringhelli konfrontiert sah. Die Eigentümer der Galleria Il Milione setzten 18 Feroldi an Carlo Belli in einem Brief vom 22. März 1939, abgedruckt in: Giuseppe Appella (Hg.), Il Carteggio Belli – Feroldi, 1933–1942, Documenti del MART n. 7, Museo di Arte Contemporanea di Trento e Rovereto, Mailand 2003, S. 155f., hier S. 155. 19 1948 wurde es gezeigt auf der 24. Biennale di Venezia, 1949 in der Ausstellung Twentieth Century Italian Art im Museum of Modern Art, New York. 20 Gerd Roos, „Un ensemble complet de mon développement artistique“. Die Ausstellung von Giorgio de Chirico im Kunsthaus Zürich von 1933, in: Ders./Dieter Schwarz (Hg.), Giorgio de Chirico. Werke 1909–1971 in Schweizer Sammlungen, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur, Düsseldorf 2008, S. 149–184. 21 Eine Dokumentation der Repliken dieser Zeit befindet sich im Archivio dell’Arte Metafisica, Mailand. 22 Appella 2003 (wie Anm. 18), S. 186f.
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ihm nämlich die Pistole auf die Brust. Es ging um zwei metaphysische Gemälde, die de Chirico soeben auf dem Mailänder Kunstmarkt lanciert hatte. Sie sollten angeblich aus den 1910er stammen. Die Ghiringhellis aber warfen ihm zu Recht vor, sie erst im September 1939 in Vichy fabriziert zu haben.23 Allmählich trat das Problem der Datierungen ans Tageslicht. Die nicht selten auf alten, schon gebrauchten Leinwänden ausgeführten Themen waren allerdings sehr variationsreich, und die Erzählungen des Künstlers zu ihrer Herkunft recht genau und detailliert. In Ermangelung eines systematischen Katalogs der Pittura Metafisica als Bezugspunkt tappten daher alle Interessierten damals im Dunkeln. Offenkundig ist jedoch, dass eine weitere Replik der Muse inquietanti überhaupt nicht in Frage kam: Der Markt für Werke de Chiricos konzentrierte sich nämlich auf Mailand und Norditalien, und die Brüder Ghiringhelli oder der Sammler Feroldi hätten sie sofort entlarvt. Diese Vorsicht gab de Chirico allerdings nach dem Krieg auf, und die Musen betraten wieder die Bühne. Den Anlass dazu bot die sogenannte Ausstellung der Pittura Metafisca auf der Biennale in Venedig im Jahre 1948, der ersten nach dem Krieg. Mit der Verbreitung des Bandes The Early Chirico (1941)24 von James Thrall Soby in Italien nach 1946 hatten alle eins verstanden: Die Amerikaner, damals die Herren der Welt, sahen in Giorgio de Chiricos malerischem Werk aus den 1910er Jahren den bedeutendsten italienischen Beitrag zur modernen Kunst. Nun stellte die Ausstellung im Rahmen der 24. Biennale di Venezia de Chirico Carlo Carrà und Giorgio Morandi zur Seite. Nichtsdestoweniger sanktionierte sie – wie auch schon Sobys Monografie – für die öffentliche Meinung die unwiderrufliche Salbung des pictor optimus zum bedeutendsten italienischen Künstler des Jahrhunderts. Trotz der Kontroverse, welche die Ausstellung begleitete, ja, vielleicht gerade dank ihrer, beflügelte sie eine damals neu aufkommende Nachfrage nach frühen metaphysischen Werken. Die ließen dann auch nicht auf sich warten: Zwischen 1946 und 1949 waren unversehens neue auf dem Markt, allesamt rückdatiert. Aufgrund der durch die Ausstellung erlangten Berühmtheit und der von ihm selbst ausgelösten Polemiken wurde die Biennale von 1948 für de Chirico zu einem großen Geschäft. Sie bot ihm die Gelegenheit, zu schwindelerregenden Preisen zahlreiche rückdatierte metaphysische Werke zu verkaufen. Berühmt wurde der Fall eines reichen Hoteliers aus Venedig. Er hatte sich gerade aus Anlass der Biennale entschlossen, eine Sammlung ‚erster Fassungen‘ der Hauptwerke der Pittura Metafisica aufzubauen. De Chirico verkaufte ihm über den Galeristen Barbaroux vier soeben gemalte Neufassungen für über drei Millionen Lire – das war damals der Preis einer Luxuswohnung im Zentrum von Mailand: Le muse inquietanti (rückdatiert auf 1918), Ettore e Andromaca (rückdatiert auf 1916), La grande torre (rückdatiert auf 1915) und Il trovatore (rückdatiert auf 1915). Den Musen lag ein Begleitschreiben von de Chiricos eigener Hand bei. Darin wurde behauptet, das Bild sei die älteste und beste Fassung dieses Motivs. In der Monografie von 1955 kommt James Thrall Soby auf diese Begebenheit zu spre23 Ebd. 24 Soby 1941 (wie Anm. 17).
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chen: Als er, ein oder zwei Jahre nach jener spektakulären Transaktion, das Bild selbst in Augenschein genommen habe, sei ihm die Farbe darauf noch frisch erschienen.25 Mit Sobys Monografie existierte ein Referenzwerk, das de Chiricos Möglichkeit zu allzu grobem Zocken mit den Entstehungsdaten erheblich einschränkte. Nicht nur bei mittelmäßigen Kunsthändlern und in eher biederen Milieus kam er damit durch. Denn Geldgier öffnet viele Türen. Wir kennen einige amüsante Fälle rückdatierter metaphysischer Werke, die auf alte, bei Trödlern erstandene Leinwände gemalt waren. Von erstrangigen Händlern wurden sie an bekannte Großindustrielle Italiens verkauft.26 Nur den allerwenigsten ‚Wiederholungen‘ metaphysischer Werke lagen emotionale, intellektuelle und allgemein künstlerische Motive zugrunde. Diese jedoch, weniger als zehn, entstanden beinahe allesamt zwischen 1922 und 1925. Den Wendepunkt markiert nicht die Kopie der Musen (Ende 1924), sondern die Replik der Melanconia, die 1926 in der offenkundigen Absicht angefertigt wurde, sie als Original zu verkaufen. Bei dieser Gelegenheit wandte de Chirico erstmals technische Fälscherkniffe an, um das Bild älter wirken zu lassen. So erscheint es mit jenen ‚ärmlichen‘ Materialien geschaffen, die seine Malerei bis 1913 kennzeichneten. Allein kommerzieller Logik verdankt sich alles, was danach kommt: die etwa 40 metaphysischen Gemälde des Jahrzehnts von 1933 bis 1942 und die Hunderte von Repliken der Nachkriegszeit. Bei der Ausschlachtung des Erfolges und der Nachfrage nach metaphysischen Werken setzte de Chirico zunächst ganz auf Täuschung über deren Alter. Mit größerer Legitimität richtete er dann eine regelrechte Manufaktur zur Serienproduktion der Werke ein – nicht anders als Andy Warhol, für den allerdings Serialität ein konstitutives Element der Pop-Poetik war. Das genau war aber bei de Chirico nicht der Fall. Er gelangte nicht über eine bestimmte ‚Poetik‘ zu einer seriellen Produktion seiner Werke, sondern um die Nachfrage des Marktes zufriedenzustellen. Das lässt sich auch an seinen theoretischen Schriften und deren Entwicklung zeigen.27 In den Texten von 1911 bis 1913 bringt de Chirico ein neoromantisches Konzept des Kunstwerks zum Ausdruck. Jedes Gemälde sei die Frucht eines intuitiven Konzentrationsprozesses. Die vom Künstler sogenannte „Offenbarung“ zeichne sich durch „Einzigkeit“ und „Außergewöhnlichkeit“ aus und nähere ihn selbst dem Magier und dem Seher an. Daraufhin, zwischen 1915 und 1919, entwickelt er in seinen Schriften 25 James Thrall Soby, Giorgio de Chirico, New York 1955, S. 134. Siehe dazu auch: Paolo Baldacci/Gerd Roos, Piazza d’Italia (Souvenir d’Italie II). 1913 [luglio–agosto 1933]. Il più clamoroso sequestro del dopoguerra. Verità processuale e verità storica. Contributi al Catalogo di Giorgio de Chirico, 2, Archivio dell’Arte Metafisica, Mailand 2013, S. 82–84. 26 Dazu auch Gerd Roos in diesem Band, siehe S. 127–141. 27 Es gibt verschiedene Publikationen, in denen die hier im Folgenden behandelten Schriften de Chiricos eingesehen werden können. Eine korrekte und chronologisch präzise strukturierte Edition der frühen Pariser Manuskripte findet sich in: Giovanni Lista (Hg.), Giorgio de Chirico, L’Art métaphysique, Paris 1994. Für die späteren Texte vgl. die klassische Ausgabe von Giorgio de Chirico, Il meccanismo del pensiero. Critica, polemica, autobiografia 1911–1943, hg. von Maurizio Fagiolo dell’Arco, Turin 1985. In deutscher Sprache ist folgende Anthologie verfügbar: Giorgio de Chirico, Wir Metaphysiker. Gesammelte Schriften, hg. von Wieland Schmied, Berlin 1973. Zu de Chiricos Schriften siehe auch: Paolo Baldacci, Paure, segreti e maschere in de Chirico scrittore 1911–1940, in: Annali delle arti e degli archivi. Pittura scultura, architettura, Accademie Nazionale di San Luca 1/2015, S. 15–30.
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vor allem die Bildsprache der Arte Metafisica als ein System von Zeichen, die eine Vielfalt an Aspekten und Bedeutungen auszudrücken vermögen. Auch in dieser Phase bewegt sich de Chirico an der Grenze zwischen Nietzsches spätromantischem Denken und der neuen Sprachphilosophie mit ihren psychoanalytischen und strukturalistischen Konsequenzen. Das Bild als Zeichen nimmt darin einen zentralen Platz ein. Von Ende 1919 bis 1924 wendet sich de Chirico zwar den Themen Rückkehr zum Handwerk, Technik und Klassizität zu, stellt aber weiterhin stets „die metaphysische Seite der Malerei“ in den Vordergrund. Damit meint er ihre „geistige Seite“, die von der Zeichnung bis zur Meisterschaft der malerischen Ausführung ins Auge springe. Die Suche nach ‚klassischem‘ Ausdruck hat nichts mit akademischem Klassizismus zu tun, sondern fällt mit der Äußerung eines Urgefühls zusammen. De Chirico geht davon aus, dass es keine schöne Kunst geben kann, wenn diese kein Geist durchwirkt. Daher setzt er sich für ‚literarische‘ Malerei ein, also für Idee und Imagination. Eine Malerei literarischen Inhalts ist für ihn eine „überlegene Malerei. Sie ist gemacht für überlegene Menschen, und die anderen, die meisten, können sie nicht verstehen“.28 Dieser Gedanke ist immer noch gültig, als er 1923 beginnt, eine Theorie zu formulieren, in der die malerische Materie als eigenständiger Wert begriffen wird. Diesen Wert sieht er eng verbunden mit dem geistigen, lyrischen Wert von Bild und ‚Erzählung‘. Während er 1921 eine malerische Ästhetik des Zitats begründet, taucht in seiner theoretischen Reflexion ein neues Thema auf: das der legitimen Stilpluralität. Zu diesem Zeitpunkt ist de Chirico noch nicht zu metaphysischen Themen zurückgekehrt, die er erst 1922 wiederaufgreifen wird. Sein Gedankengang lässt sich als zweigleisige Fahrt beschreiben, die unterschiedliche Entwicklungsstadien durchquert. Ziel bleibt dabei jedoch – zumindest bis 1938 – das Geistige der bildenden Kunst. Konkret besteht dieses Geistige für ihn darin, philosophische, erzählerische, lyrische, im weitesten Sinne ‚literarische‘ Inhalte zur Anschauung zu bringen. In der zweiten Pariser Phase, zwischen 1925 und 1930, entwickelt er von Neuem Elemente der metaphysischen Poetik wie Erinnerung und Desorientierung. Dabei mischt er immer häufiger high and low, hohe und niedrige Ausdrucksregister, erhabene Kunst und Bilder der populären Massenkultur. Die Leitgedanken dieser Phase sind im Piccolo trattato di tecnica pittorica (Kleines Traktat über die Technik der Malerei) von 1928 dargelegt.29 Materielle und geistige Komponenten der Malerei sind darin nicht voneinander zu trennen: Die Technik sei kein Zweck, sondern ein Mittel, das im Dienste des angestrebten lyrischen Ausdrucks zu stehen habe. Mitte der 1930er Jahre steckte de Chirico sowohl in einer schweren persönlichen Krise als auch in finanziellen Schwierigkeiten. Damals suchte er nach einem Ausweg zwischen der Freiheit einer ‚phantastischen‘ Kunst einerseits, der er allerdings nicht zutraute, ihm ein Auskommen zu sichern, und einer naturalistischen Malerei bürgerlichen Geschmacks andererseits, die zum Ziel allein „das Material“, „die Modellierung“, 28 Giorgio de Chirico, Pro technica oratio (1923), in: De Chirico 1985 (wie Anm. 27), S. 238–244, hier S. 239: „(…) la pittura superiore; e fatta solo per uomini superiori i quali, (…) sono animali rarissimi cosí che gli altri, i più, non la possono capire.“, dt. Übers. Martin Weidlich. 29 Giorgio de Chirico, Piccolo trattato di tecnica pittorica (1928), in: De Chirico 1985 (wie Anm. 27), S. 284–314.
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„die Fluidität des Pinselstrichs“ etc. zu haben scheint.30 Anzeichen dieser Spaltung zeigen sich auch in den damaligen Schriften, in denen er sich theoretisch mit dem ‚Doppelgleis‘ seines künstlerischen Ausdrucks befasste. Gleichzeitig entwickelte er einen starken Schuldkomplex wegen der unterirdischen Existenz eines nicht eingestandenen dritten Gleises. Gemeint ist das der rückdatierten metaphysischen Repliken, die von Sommer 1933 an zu dem einzigen Zweck angefertigt wurden, den Markt zu betrügen. Die eigenhändige ‚Fälschung‘ seiner frühen Malerei ruft in ihm einen psychischen Konflikt hervor, der in gleichem Maße zu Frustration führt wie zu unbändigem Hass. Der Erfolg der Pittura Metafisica verdankte sich seinen Feinden (den Surrealisten). Wenn er sich also durch Tricksen mit den Entstehungsdaten der Bilder bereichern konnte, war nicht er schuld, sondern sie. Daher der Hass auf die Surrealisten, den er auf die gesamte Moderne ausdehnen wird. Im März 1938 erschien der Aufsatz Vox clamans in deserto von de Chirico.31 Er markiert den Beginn seiner Arbeit an einer Theorie der malerischen Materie als eines eigenständigen Wertes ohne jede Rückbindung an das Geistige eines Kunstwerks. Frühere Positionen werden geradezu auf den Kopf gestellt. Begriffe wie „Gefühl“, „Unruhe“, „Geheimnis“, „Traum“, das „Dramatische“ und selbst das Wort „Metaphysik“ werden beschuldigt, dem Vokabular „modernistischer Rhetorik“ anzugehören. Wie er behauptet, sei das Thema in der Malerei vollkommen irrelevant und das einzige, was zähle, sei „Qualität“. Geistiges und Lyrisches ohne Qualität gebe es nicht. Die endgültige Formulierung dieser Konzeption erfolgt 1945 in drei verschiedenen Schriften: in den Memoire della mia vita, der Essaysammlung Commedia dell’arte moderna und der Erzählung Monsieur Dudron. In all diesen Texten bringt de Chirico zwei Konzepte der Malerei und seiner Kunst zum Ausdruck, die zueinander in krassem Widerspruch stehen. Dieser Widerspruch löst sich in den darauffolgenden Jahren nicht mehr auf. 1. Geistigkeit, Inspiration, Lyrismus, Überraschung, Fremdheit und Geheimnis haben bei der Bestimmung des Wertes eines Kunstwerks keinerlei Gewicht. Das Einzige, was zählt und allein den Wert eines Werks ausmacht, ist die Qualität der malerischen Materie. Das Werk als Gemachtes hat sich vom Werk als Idee und als Bild restlos freigemacht. Nur für „Intellektuelle und Päderasten“, so de Chirico wörtlich, ist Malerei eine Frage des Dargestellten, denn diese verstünden nicht, dass „das Dargestellte nichts bedeutet“.32 2. Geistigkeit und metaphysische Aspekte sind eine Seite der Malerei, die ihn genauso anzieht wie die andere. Und zwar nicht einer bestimmten Gruppe seiner Zeitgenossen zuliebe (also „Intellektuellen“ und „Päderasten“). Wie er selbst sagt, widmet er sich
30 Giorgio de Chirico, Mostra personale di Giorgio de Chirico (1935), in: De Chirico 1985 (wie Anm. 27), S. 237: „(…) la bellezza della materia, l’unità dell’impasto, la finezza del modellato, la trasparenza e la purezza dei colori, la fluidità della pennellata, (…).” 31 Giorgio de Chirico, Vox clamans in deserto (1938), in: De Chirico 1985 (wie Anm. 27), S. 340–345. 32 Giorgio de Chirico, Monsieur Dudron, Bern/Berlin 2000, S. 37.
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schon immer und auch weiterhin einer Malerei, die aus Bildern als Konzentraten von Ideen besteht, also einer metaphysischen Malerei.33 Diese Positionen werden weder ästhetisch noch philosophisch gerechtfertigt. Ebenso wenig wird jemals eine theoretische Erklärung für das gegeben, was wir als Zweigleisigkeit einer künstlerischen Praxis beschrieben haben. Ab den 1940er Jahren lässt sich solche Zweigleisigkeit nicht länger als Stilpluralität verstehen, sondern nur mehr als eine ökonomisch motivierte Entscheidung. Dieser Wandel in de Chiricos künstlerischer Konzeption ist gerade im Gange, als Walter Benjamins Reflexionen über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit an Einfluss gewinnen. Obwohl dieser Essay 1936 immerhin zuerst in Paris in französischer Sprache erschien, hatte de Chirico wohl nie die Gelegenheit oder die Neugier, ihn zu lesen. Nun ist Benjamins Argumentation gewiss auf ein Ziel ausgerichtet, das wir heute als historisch begreifen müssen. Nichtsdestoweniger gründet sie sich auf Analysen, die für die zeitgenössische Kunst von tiefgreifender Bedeutung sein sollten. Der Gegensatz zwischen authentisch und falsch verliert im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit seinen Sinn, sagt Benjamin. Denn Reproduktion ermögliche ästhetische Erfahrung in Kontexten täglichen Konsums. Reproduktion wiederhole das Werk, indem es ihm die grundlegenden Eigenschaften Originalität und Authentizität, das heißt die Aura, abziehe. Dabei gestatte sie jedoch die gleiche ästhetische Erfahrung wie das Original. Vom unwiederholbaren Ereignis wird das Werk zum Konsumgut für die Massengesellschaft. Nicht in all seinen Konklusionen ist Benjamin heute noch zu folgen. So ist an die Stelle der einstigen Aura, die noch von ihrem religiösen Ursprung wusste, die übermächtige Aura des wirtschaftlichen Wertes getreten. Dennoch können wir heute überschauen, in welchem Maße sein Denken einige Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst geprägt hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten einige Künstler erkannt, dass in der Kunst der konzeptuelle Prozess gegenüber der technisch-handwerklichen Realisierung zunehmend an Bedeutung gewann. De Chirico war an dieser Entwicklung beteiligt gewesen, und zwar auf eine radikal innovative Weise. Malerei braucht der Natur nicht zu ähneln, hatte er damals gesagt, denn sie ist eine aus Zeichen bestehende Sprache. Alles Dargestellte zähle allein durch seine Bedeutung. Malerei wird so eine stumme Dramenhandlung der Erscheinungen, eine Phantasmagorie. Dadaismus und Surrealismus schöpfen bekanntlich mit vollen Händen aus de Chiricos Kunst und entwickeln viele seiner Intuitionen weiter. Hier wie dort war künstlerische Technik nur insoweit relevant, als sie der Erzielung bestimmter Wirkungen diente. Gerade damals, als das Dargestellte selbst gegenüber dem Wie der Darstellung Vorrang hatte, verfeinerten sich die Möglichkeiten technischer Vervielfältigung. Damit behielt Benjamin Recht: In der Tat beraubt die Reproduktion das Werk seiner Aura, da sie dem Rezipienten ästhetische Erfahrungen von nicht minderer Wirkung zu bieten vermag. Und das muss umso wahrer erschienen sein, je mehr in einem Kunstwerk die intellektuelle Komponente gegenüber der handwerklichen überwog. 33 Ebd.; Giorgio de Chirico, Memorie della mia vita, Mailand 1962, S. 176.
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Wenn aber das Kunstwerk ein Konsumgegenstand werden und seine Reproduktion die Eigenschaften des Originals usurpieren kann, dann ist es möglich, ja legitim, dass auch das Umgekehrte geschieht. Und genau das taten die besten Künstler der Pop Art und stellten damit Benjamins Argumentation auf den Kopf. So reproduzierte Roy Lichtenstein manuell einen Comic-Strip. Damit erzielte er die surreale Wirkung der Verwandlung eines Produktes der Massenkultur in ein künstlerisches Unikat. Aber Lichtenstein war kein Wiederholungstäter, Andy Warhol dagegen schon. In einem noch radikaleren Prozess transformierte Warhol einige von den Medien millionenfach reproduzierte, ungewöhnliche Bilder der Geschichte in Ikonen der Konsumgesellschaft. Er machte daraus regelrechte industrielle Serienprodukte. Die Konsequenz ist, dass diesen Bildern die archetypische Dimension des Mythos zuwächst. Dies geschieht in einem künstlerischen Prozess, der als teils konzeptuell, teils industriell zu charakterisieren ist und nur in geringem Maße als handwerklich-malerisch. Das bedeutet: Auch indem solche Bilder zu ‚Kunstwerken‘ werden, hören sie doch nicht restlos auf, Konsumgegenstände zu sein. Kehren wir zu der eingangs gestellten Frage zurück. Lässt sich nun de Chiricos Vorgehen mit demjenigen der Pop-Künstler vergleichen? Inwieweit kann es legitim sein, ihn in einem Atemzug mit Warhol zu nennen? Unstrittig ist, dass de Chirico mit bestimmten künstlerischen Strategien der Pop Art vorausgegangen ist. Zu fokussieren ist jedoch nun auf seine serielle Vervielfältigung von Bildern mit nicht technisch-industriellen, sondern handwerklichen Mitteln. Als de Chirico 1948 eine Kopie von Le muse inquietanti anfertigte, um sie als erstes und bestes Exemplar zu verkaufen, kann sein Tun sich auf keinerlei theoretische Rechtfertigung berufen. Dabei handelt es sich um nichts anderes als Betrug. Kein Betrug war dagegen die 1924 für Éluard gemalte Kopie; kein Betrug auch, soweit wir wissen, die Tempera-Replik aus den späten 1920er Jahren. Indem der Maler bald darauf mit der seriellen Reproduktion der Musen beginnt, macht er von einem ihm zustehenden Recht Gebrauch. Seine Kopien kann man mögen oder nicht. Aber niemand kann ihm das Recht bestreiten, ein von ihm erfundenes Motiv zu wiederholen. Denn daran hat er zweifellos das geistige und künstlerische Eigentum. Wenn dagegen einer seiner Mitarbeiter für sich eine Kopie anfertigt, die exakt denjenigen des Meisters gleicht, handelt es sich dabei um eine Fälschung. Das ist eine Frage des Copyrights. Die kunsthistorische Forschung – und da nehme ich, wie gesagt, mich selbst nicht aus – hat versucht, de Chiricos rückdatierte Repliken philosophisch zu rechtfertigen. Dabei hat sie an Nietzsches Theorem der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ angeknüpft. Aber angesichts der uns heute genauer bekannten, zunehmend deprimierenden Wirklichkeit erscheinen solche Annahmen nur mehr als philosophische Seiltänzereien. Außerdem tun wir de Chiricos Intelligenz und seiner über weite Strecken sehr hohen künstlerischen Moral Unrecht, wenn wir eine philosophische Begründung liefern für eine aus der Not geborene Gewohnheit. Diese zunächst also verzeihliche Gewohnheit speiste sich dann allerdings aus seiner Habgier und aus seiner Geringschätzung genau des Publikums, das nach Bildern der metaphysischen Phase verlangte. Sah er in diesem doch lediglich zum Verständnis großer Malerei unfähige „Intellektuelle und
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Päderasten“. Hinzu trat ein Verlangen nach Genugtuung für eine von Frustrationen gezeichnete Vergangenheit. Darüber hinaus wurde de Chiricos das Recht, sich zu wiederholen, mit der Begründung zugestanden, dass Authentizität, Spontanität und Originalität im Denken begründet seien und nicht in jedem einzelnem Werk. Doch solche Gedankengänge vermengen Poesie und Copyright. Statt Klarheit über sein Denken und sein künstlerisches Vorgehen zu schaffen, stiften sie nur Verwirrung. Vielmehr sind Wiederholung und Kopie, sofern sie nicht einen deutlich erklärten künstlerischen Gedanken umsetzen, eine bloße akademische Übungspraxis. Als solche sind sie auf eine metaphysische Malerei, also auf eine Malerei der Bilder als Konzentrat von Ideen, nicht anwendbar. Brauchbar sind sie hingegen im Dienste einer Malerei der handwerklichen Meisterschaft. Indem er die berühmtesten unter seinen Bildern als Ideen in ungezählten, zunehmend minderwertigen Kopien wiederholte, beging de Chirico einen doppelten Verrat. Er verriet sowohl die Ideen seiner Jugend als auch sein neues Ideal: die malerische Materie, deren „Magie, Tiefe und Geheimnis“ den technisch anspruchslosen, platten metaphysischen Repliken völlig abgehen. Es ist gerade so, als wollte er unter Beweis stellen, dass jene Pittura Metafisica, die er, eigenem Bekunden zufolge, „immer gemacht hat und weiterhin macht“, nichts wert sei. Nichts deutet in den stereotypen metaphysischen Wiederholungen über zwei Jahrzehnte hinweg, von 1948 bis 1968, auf theoretische Reflexion von Kunst und ihrer Kommunikation in der Massengesellschaft hin. Alles, was zu diesem Thema gesagt und darum herum konstruiert wurde, ist nachträgliche Erfindung, die mit dem Denken des Künstlers, wie es heute dokumentiert ist, nichts zu tun hat.
giorgio de chirico, der unmoralische maler selbstwiederholung in text und bild
sophia stang In der 1971 publizierten Biografie Lunga Vita di Giorgio de Chirico berichtet die Autorin Luisa Spagnoli von einer Anekdote aus der Mitte der 1920er Jahre und beruft sich dabei auf die Erzählungen von de Chiricos erster Ehefrau Raissa Gurievich: De Chirico habe dem Modedesigner und Kunstsammler Jacques Doucet, der sich eine frühe Piazza d’Italia des Jahres 1914 gewünscht hatte, eine vordatierte „Fälschung“ eines solchen Bildes verkauft; der Betrug sei durch Doucets sachverständigen Berater André Breton aufgedeckt worden.1 Die Biografin berichtet in dem mit I Falsi (Die Fälschungen) überschriebenen Kapitel auf den ersten 30 Seiten des Buches (bevor sie zu einem Bericht über de Chiricos Kindheit und Jugend kommt) vom „kindischen“ und „unmoralischen“ Verhalten des Künstlers, indem sie Raissa wie folgt zitiert: „Das hat natürlich nur passieren können, weil ich nicht in Paris war, er wusste ganz genau, dass ich ihm nicht die Erlaubnis gegeben hätte, eine solche Sache zu tun. (...) Sehen Sie, er war im Grunde in vielen Sachen wie ein Kind, nicht verantwortlich; (...) Was ihn in dem Moment interessierte? Geld zu haben, und dann hat ihm auch das Spiel gefallen (...). Eines Tages sagte ich zu ihm, ich weiß nicht bei welcher Gelegenheit: ‚Das ist moralisch nicht hinzunehmen‘, und er antwortete: ‚Ich bin nicht geboren, um Moralist, sondern um Maler zu sein.‘“2 Auch wenn die Publikation von Spagnoli in die Rubrik ‚Klatsch und Tratsch‘ eingeordnet wird,3 zeigt die Wiedergabe dieser Anekdote einen für die Rezeption von de Chiricos Bildwiederholungen charakteristischen Aspekt auf: Das Wiederholen in de Chiricos Werk wurde von seinen Zeitgenossen als Frage der Moral wahrgenommen und entsprechend bewertet. Richtungsweisend für die pauschalisierende Rezeption bis heute war sicherlich die entschiedene Verurteilung durch André Breton, der 1928 die „knechtischen Kopien“ von der Hand des Künstlers, vielmehr aber dessen stilistische
1 Luisa Spagnoli, Lunga Vita di Giorgio de Chirico, Mailand 1971, S. 21ff. Auf die tatsächliche Begebenheit wird hier nicht weiter eingegangen, siehe dazu: Paolo Baldacci, Betraying the Muse. De Chirico and the Surrealists, Ausst.-Kat. Paolo Baldacci Gallery, New York, London 1994, S. 111ff. sowie ders. in diesem Band, S. 100f. mit der Abb. des betreffenden Gemäldes S. 104; kritische Bemerkungen zur Biografie bei Maurizio Calvesi, La Metafisica schiarita. Da de Chirico a Carrà, da Morandi a Savinio, Mailand 1982, S. 229. 2 Raissa Gurievich Krol zit. n. Spagnoli 1971 (wie Anm. 1), S. 22f., dt. Übers. der Autorin. 3 So bei Luigi Cavallo, Metafisico primo il grande. Giorgio de Chirico e qualche amico pittore – Soffici, de Pisis, Carrà, Morandi, Rosai, Ausst-Kat. Galleria d’Arte Maggiore, Bologna 2004, S. 17.
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Wende um 1920 kritisierte und nur die Werke der 1910er Jahre wertschätzte.4 Von Kunstkritik und kunsthistorischer Forschung wurde de Chirico für die Selbstwiederholung in seinem künstlerischen Werk als korrupter und profitsüchtiger Selbstfälscher verurteilt.5 Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass es dieser Diskurs über sein Werk ist, auf den sich dann die Künstler der jüngeren Vergangenheit in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit de Chirico bezogen haben.6 Verschiedene Versionen von de Chiricos berühmtem Werk Le muse inquietanti (Die beunruhigenden Musen) wurden in Publikationen um 1980 nebeneinandergestellt (Abb. 1 und Buchumschlag). Die Buchdoppelseite mit den kleinen schwarz-weißen Reproduktionen war als „Pranger“ gedacht, „den ‚Wiederholungstäter‘ de Chirico zu überführen und bloßzustellen, gewann (aber, S. S.) für die Augen vor allem jüngerer Zeitgenossen eine unerwartete Faszination“.7 Nicht zuletzt über die Aneignung von de Chiricos Bildwiederholungen durch Andy Warhol oder die Rezeption seiner Werke in der Appropriation Art eröffnete sich dann für den stark moralisch wertenden Umgang der Kunstgeschichte mit de Chiricos künstlerischer Selbstwiederholung eine neue Perspektive: Der Künstler wurde als ihr Vorläufer ausgewiesen und zugleich sein künstlerisches Arbeiten als postmoderne Praxis interpretiert.8 In der Forschung erfolgte ein Umschwung von einer moralisierenden Bewertung hin zu einer gewissen ‚Überinterpretation‘ von de Chiricos Selbstwiederholungen als Ausdruck einer vom Künstler intendierten Strategie im Sinne eines konzeptuellen Werkbegriffs. In meinem Beitrag geht es nicht darum, ein finanzielles Interesse hinter de Chiricos Bildwiederholungen zu widerlegen und das Anfertigen von Repliken fernab von monetären Intentionen als Teil einer konzeptuellen Kunsttheorie auszuweisen. Vielmehr möchte ich aufzeigen, dass die vielfältigen Ausprägungen des Wiederholens – und zwar insbesondere die Selbstwiederholungen – konstitutives Element seines künstlerischen 4 André Breton, Der Surrealismus und die Malerei 1928, dt. Übers., Berlin 1967, S. 16ff., hier S. 22. Bereits in La Révolution surréaliste (Heft 6, 1. März 1926) hatte Breton de Chiricos Bild Oreste et Electre mit schwarzem Stift durchgestrichen abgedruckt. 5 Über de Chirico als „Fälscher“ (in Anlehnung an William Rubin) Claudia Peppel, Der Manichino. Von der Gliederpuppe zum technisierten Kultobjekt. Körperimaginationen im Werk Giorgio de Chiricos, Weimar 2008, S. 18; siehe auch Pia Müller-Tamm, Der „andere“ de Chirico. Zur Rezeption des Werkes in den achtziger Jahren, in: Paolo Baldacci/Wieland Schmied (Hg.), Die andere Moderne. De Chirico – Savinio, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2001/Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 2001/02, Ostfildern-Ruit 2001, S. 167–182, hier S. 170ff. 6 Müller-Tamm 2001 (wie Anm. 5), S. 170. 7 Wieland Schmied, Giorgio de Chirico – Die beunruhigenden Musen, Frankfurt a. M./Leipzig 1993, S. 93; 18 Versionen der Musen zuerst abgedruckt in: Carlo L. Ragghianti, Il Caso de Chirico. Saggi e studi. Florenz 1979, S. 10–13, als Doppelseite mit variierender Anordnung publiziert in den Katalogen der Wanderausstellung Giorgio de Chirico – der Metaphysiker 1982–1983, hier aus: William Rubin/Wieland Schmied/Jean Clair (Hg.), Giorgio de Chirico – der Metaphysiker, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München 1982/83/Centre Georges Pompidou, Paris 1983, München 1983, S. 70f. 8 Hierzu auch Paolo Baldacci in diesem Band, S. 95–112; siehe Müller-Tamm 2001 (wie Anm. 5), S. 171; zu de Chirico als Vorläufer Warhols siehe Achille Bonito Oliva (Hg.), Warhol verso de Chirico, Ausst.-Kat. Kapitolinische Museen, Rom, Mailand 1982 (u. a.); de Chirico als Vorläufer von Duchamp bei Adriano Altamira, De Chirico e Duchamp, in: Metafisica, Nr. 5/6, 2007, S. 65–79.
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Arbeitens sind. Pragmatische Gründe für ihre Verwendung schließt dies nicht aus. Diese existieren ebenso, wie de Chiricos Umgang mit der Wiederholung eigener Motive und Bilder seinem künstlerischen Selbstverständnis entspringt. Die Selbstwiederholung muss als Teil seiner künstlerischen Praxis verstanden werden. Und Resultate dieser Praxis sind nicht nur de Chiricos Bilder, sondern auch seine Schriften. Ich werde im Folgenden den selbstreferentiellen Verfahren in de Chiricos Texten nachgehen und diese exemplarisch an einigen Schriften aus der Zeit um 1920 vorführen. Abschließend wird die Frage zu beantworten sein, welche Erkenntnisse über die bildliche Selbstwiederholung sich aus diesen Überlegungen gewinnen lassen. Der Künstler kam mit dem Jahreswechsel 1918/19 von Ferrara nach Rom und hatte bereits damit begonnen, nicht nur befreundete Schriftsteller und Kollegen um Besprechungen seiner Malerei zu bitten,9 sondern auch die Publikation seiner selbst verfassten Ausstellungsrezensionen, kunsttheoretisch-programmatischen Schriften oder dezidierten Autobiografien in verschiedenen Kunst- und Literaturzeitschriften zu lancieren. Die Texte aus der Zeit um 1920, die in Valori Plastici, Il Convegno, Il primato artistico italiano, La Vraie Italie, Cronache d‘Attualità und anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden, stehen im Zusammenhang mit de Chiricos Bestreben, sich in Italien bekannt zu machen und die Pittura Metafisica am Kunstmarkt zu etablieren. Mit Ende des Krieges sollten die Pläne für lang ersehnte Gruppen- und Einzelausstellungen endlich realisiert werden, und die erblühte Zeitschriftenlandschaft bot eine geeignete Plattform für die entsprechende Selbstvermarktung des Künstlers.10 Da sein Bitten um Biografien von anderer Hand nicht immer erfolgreich war, verfasste de Chirico Autobiografien in der 3. Person und verschleierte so seine Autorschaft. Im Jahr 1919 entstanden die zu dieser Zeit nicht publizierten Texte Autobiografia und Autopresentazione sowie eine in La Vraie Italie ohne Autorennennung veröffentlichte Autobiografie, die dem Redakteur der Zeitschrift, Giovanni Papini, zugeschrieben wurde. Sie wurde zu Teilen wieder abgedruckt in der kleinen ‚Monografie‘ des Verlagshauses Valori Plastici (1919), dort dann mit „Giovanni Papini“ unterzeichnet. Ein Missverständnis, das de Chirico bewusst nicht aufklärte.11 Das autobiografische Katalogvorwort zu der Ausstellung bei Léonce Rosenberg 1925 ist mit dem Namen seines Förderers Giorgio Castelfranco unterzeichnet. 1929 publizierte er dann unter dem Pseudonym Angelo 9 So Guillaume Apollinaire (Briefe publiziert in: Laurence Campa/Peter Read [Hg.], Guillaume Apollinaire. Correspondance Avec Les Artistes 1903–1918, Paris 2009, S. 783–796) oder Giovanni Papini (Briefe in der Fondazione Primo Conti, Fiesole und überwiegend publiziert bei Calvesi 1982 [wie Anm. 1] und in: Ders., Papini e la formazione fiorentina di Giorgio de Chirico, in: Paolo Bagnoli [Hg.], Giovanni Papini – l’uomo impossibile, Bologna 1982, S. 122–192). 10 Viele der einschlägigen Zeitschriftenbeiträge de Chiricos finden sich wieder abgedruckt in der Schriftensammlung: Giorgio de Chirico, Scritti/I (1911–1945). Romanzi e scritti critici e teorici, hg. von Andrea Cortellessa/Achille Bonito Oliva, Mailand 2008. Kritische Anmerkung zur Schriftenedition siehe Baldacci in diesem Band, S. 107, Anm. 27; zu den Planungen der Ausstellungen siehe zuletzt: Gerd Roos, Rezensionen und Reaktionen. Giorgio de Chirico, die Ausstellung in der Casa d’Arte Bragaglia im Februar 1919 und das Ende der pittura metafisica, in: Paolo Baldacci/Christiane Lange/Gerd Roos (Hg.), Giorgio de Chirico. Magie der Moderne, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Dresden 2016, S. 190–201. 11 So de Chirico auf einer Postkarte an Papini vom 8. Dezember 1919, Fondazione Primo Conti, Fiesole, Archivio Papini, Inv.-Nr. FC/AP XXVII C. 848.
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1 Doppelseite mit 18 Versionen von Le muse inquietanti, aus: Ausst.-Kat. Giorgio de Chirico – der Metaphysiker, München/Paris 1982/1983 (wie Anm. 7), S. 70f.
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Bardi.12 Auch ein Großteil der weiteren Schriften ist von autobiografischen Elementen durchsetzt; diese Texte sind folglich sui generis selbstreferentiell, an den Autor gebunden. Wie lässt sich das Spezifische der Selbstwiederholung aber als konstruktives Verfahren auf der Erzählebene in de Chiricos Texten beschreiben? Im ersten Heft der von Mario Broglio in Rom herausgegeben Zeitschrift Valori Plastici erschien im Herbst 1918 de Chiricos Beitrag Zeuxis, der Entdecker. De Chirico berichtet darin über die in Paris verbrachten Vorkriegsjahre 1911–15: „Um mich herum hetzte sich der internationale Haufen der modernen Maler törichterweise zwischen verbrauchten Formeln und unfruchtbaren Systemen ab. In meinem elenden Atelier der Rue Campagne-Première begann ich als einziger, die ersten Erscheinungen einer neuen Kunst zu erkennen, die umfassender, tiefer und schwieriger ist. (...) einer metaphysischeren Kunst.“13 In Bezug auf seine folgenden Jahre in Ferrara fährt er fort: „Als ich heimkehrte, kamen mir andere Boten entgegen. (...) Es entstanden die neuen, verheißungsvollen Bilder. Wie Früchte des Herbstes sind wir jetzt reif für die neue Metaphysik. (...) Wir sind Entdecker, bereit für neue Aufbrüche.“14 De Chirico verknüpft hier mit der autobiografischen Notiz zu seinen Pariser Jahren einen deutlichen Seitenhieb gegen die ‚moderne‘ französische Kunst; Italien, das namentlich nicht benannte Ferrara, ist dann die ersehnte ‚Heimkehr‘. Der Text ist Mario Broglio gewidmet und unterzeichnet mit „Rom, April 1918“. Im April war de Chirico wegen der bevorstehenden Gruppenausstellung Mostra d’Arte Indipendente in der Galleria L’Epoca von Ferrara nach Rom gereist und hatte den Herausgeber der Valori Plastici kennengelernt.15 Für de Chirico war Rom zum Sehnsuchtsort geworden; so schrieb er nach dem zehntägigen Aufenthalt an Carlo Carrà, dass Rom das wichtigste Zentrum für die neue Kunst werde, viel wichtiger als Paris: „So können wir die Grünschnäbel in der französischen Hauptstadt boykottieren, die glauben, dass sie alles erfunden hätten.“16 Zum einen lässt sich dies im Kontext der in de Chiricos Schaffen omnipräsenten nationalen Identifikation mit Italien deuten, zum anderen zeigt sich hier die in Briefwechseln mit seinen Zeitgenossen klar artikulierte Idee einer neuen metaphysischen Kunstbewegung. So schrieb de Chirico beispielsweise 12 Diese und weitere Texte in: De Chirico 2008 (wie Anm. 10). 13 Giorgio de Chirico, Zeusi l’esploratore, in: Valori Plastici, Heft 1, 15. November 1918, S. 10, zit. n. dt. Übers. in: Giorgio de Chirico, Wir Metaphysiker. Gesammelte Schriften, hg. von Wieland Schmied, Berlin 1973, S. 35; Hervorhebungen von mir nach dem ital. Original. 14 Ebd., S. 35f. 15 Zum Treffen in Rom zuletzt in Stuttgart 2016 (wie Anm. 10), S. 225. Zuvor hatte de Chirico den Text in La Raccolta abdrucken lassen wollen, erbat sich aber im April 1918 das Manuskript von Giuseppe Raimondi zurück. Ich danke Gerd Roos für den Hinweis sowie das entsprechende Material aus dem Fondo Guiseppe Raimondi, dessen Publikation in Vorbereitung ist. 16 Postkarte von de Chirico aus Ferrara an Carlo Carrà vom 1. Mai 1918, in: Massimo Carrà (Hg.), Giorgio de Chirico. Ventisette lettere a Carlo Carrà, in: Paradigma 4/1982, S. 301–321, hier S. 313, dt. Übers. der Autorin.
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an seinen Künstlerkollegen Francesco Meriano, dass eine Erneuerungsbewegung aus Meriano, Savinio, Carrà, Papini, Soffici und ihm selbst mit Poesie, Malerei und Musik das Fundament einer neuen Metaphysik und Lyrik bilden könne, vor dem selbst die brillantesten Jahrhunderte verblassen würden.17 Daher formuliert de Chirico im Text Zeuxis auch aus der Perspektive eines „Wir“; er sieht sich als Teil einer Gruppe von „Entdeckern“.18 Als erster Schritt der Realisierung galt de Chirico sicherlich die besagte Gruppenausstellung in Rom mit Werken von Carlo Carrà, Ardengo Soffici und ihm, über die er eine enthusiastische Ausstellungsbesprechung in der Gazzetta Ferrarese veröffentlichte.19 Auch dort betont de Chirico die Vorreiterstellung der neuen italienischen Kunst gegenüber Frankreich. Das nationalistisch gefärbte Interesse, Teil einer Gruppe italienischer Maler zu sein, ist in den wenigen Texten der Anfangszeit der Valori Plastici präsent. Der Künstler – später bekannt als absoluter Einzelgänger – wollte die Zugehörigkeit zu einem Kreis für seine Selbstvermarktung nutzen und hatte die Zeitschrift Valori Plastici als mögliches öffentlichkeitswirksames Organ einer solchen Bewegung angenommen.20 Zugleich trat er in einen Wettbewerb mit seinen Künstlerkollegen. Zeuxis, der Entdecker hat den Charakter eines gemeinsamen Manifests, zugleich aber formuliert de Chirico klar seinen Anspruch, alleiniger Erfinder der metaphysischen Malerei zu sein, und verortet diese Erfindung in Paris („In meinem elenden Atelier [...] begann ich als einziger [...]“). Diese Verteidigung gegenüber seinem Rivalen Carlo Carrà, der in den Jahren nach den gemeinsam in der Villa del Seminario bei Ferrara verbrachten Monaten ebenfalls Schriften zur Pittura Metafisica publizierte, war ein zentraler Impetus seiner regen Öffentlichkeitsarbeit um 1920. Carrà hatte im Dezember 1917 in Mailand eine Ausstellung seiner Ferrareser Bilder; de Chiricos Arbeiten wurden erst im Anschluss gezeigt.21 De Chirico hatte Ende März 1918 an den befreundeten Schriftsteller Giovanni Papini geschrieben, er wolle einen Artikel publizieren, um ‚Missverständnissen‘ vorzubeugen.22 Denn während Carràs Werke nun in einer Einzelschau dem Publikum präsentiert worden waren, wurden de Chiricos Arbeiten ‚nachgeschoben‘. Ein Ziel seiner Selbstvermarktung dieser Zeit war es daher, 17 Postkarte vom 15. April 1918, Fondazione Primo Conti, Fiesole, Archivio Francesco Meriano, Inv.-Nr. 136 II.2/825, abgedruckt bei Ester Coen, Documenti ferraresi, in: Alberto Savinio. Ausst.-Kat. Galleria Civica d’Arte Moderna, Palazzo dei Diamanti, Ferrara, Cento 1980, o. S. 18 De Chirico 1973 (wie Anm. 13), S. 35f. 19 Giorgio de Chirico, L’arte metafisica della mostra di Rom, in: La Gazzetta Ferrarese, 17. Juni 1918, dt. Übers. in: Giorgio de Chirico, Das Geheimnis der Arkade – Erinnerungen und Reflexionen, hg. von Marianne Schneider, Freiburg i. Br. 2011, S. 205–209. 20 So etwa in seinen Texten Impressionismo und Autobiografia, abgedruckt in: De Chirico 2008 (wie Anm. 10), S. 314–318 und S. 678–681. Tatsächlich wurde die Zeitschrift als Organ der Pittura Metafisica von Zeitgenossen und späterer kunsthistorischer Forschung rezipiert. Eine Untersuchung, die der Zeitschrift mit ihren 46 Autoren gerecht wird und sie als Teil der sog. ‚holding‘ Valori Plastici um Mario Broglio einordnet, steht noch aus. 21 Es lässt sich u. a. in den Briefen von de Chirico an Carrà nachvollziehen, dass de Chiricos Bilder für die Ausstellung in der Galleria Chini in Mailand verspätet eintrafen, siehe Carrà 1982 (wie Anm. 16), S. 306ff. 22 Postkarte von de Chirico an Giovanni Papini vom 31. März 1918, Fondazione Primo Conti, Fiesole, Archivio Papini, Inv.-Nr. FC/AP XXVII C.848, publ. in: Marco Marchi/Jole Soldateschi (Hg.), Giovanni Papini 1881–1981, Ausst.-Kat. Fondazione Primo Conti, Fiesole, Florenz 1981, S. 103.
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sich als Erfinder der Pittura Metafisica gegenüber Carrà zu behaupten. Als Konsequenz sparte de Chirico das gemeinsame Arbeiten und die in Ferrara verbrachten Jahre in seinen verschriftlichen Biografien meist aus.23 In der ein gutes Jahr nach dem ZeuxisText ebenfalls im Kontext der Valori Plastici verfassten und unpubliziert gebliebenen Autobiografia kommt dies deutlich zum Ausdruck: „Vier Jahre Militär, vom Krieg auferlegt, haben sein Arbeiten ein wenig verzögert. Man sieht bei ihm keine starken unmittelbaren Einflüsse anderer Maler (...).“24 Hier beschreibt er dann seine Pariser Jahre – in seinen Texten verwendet als Folie für die Genese seiner metaphysischen Malerei – in einem anderen Licht. Hatte er im früheren Text nur das „elende Atelier“ erwähnt, so betont er nun die „glückliche Zeit des künstlerischen Arbeitens“, seine Beteiligung an den Salons sowie seine Kontakte zu Guillaume Apollinaire und seinem Galeristen Paul Guillaume.25 Auch in der zeitgleich entstandenen Autopresentazione, wie die Autobiografia für de Chiricos erste kleine ‚Monografie‘ aus dem Verlagshaus Valori Plastici verfasst, betont der Künstler seinen „Ruhm“ in Frankreich und im weiteren Ausland.26 Diese Schriften – und Gleiches ließe sich noch für weitere Texte der Zeit und für andere narrative Motive in ihnen festhalten – stehen in Zusammenhang mit de Chiricos erster Einzelausstellung in Rom, die im Februar 1919 in der Casa d’Arte Bragaglia stattfand.27 Die Ausstellung war ein „Fiasko“,28 die Werke wurden von der Kunstkritik verrissen. Gerd Roos hat jüngst die bisher unterschätzte Bedeutung der vernichtenden Resonanz auf diese Ausstellung für de Chiricos weiteres Schaffen herausgestellt.29 Für seine Schriften lässt sich dies exemplarisch an seinem Bericht über die Pariser Jahre vorführen: Die positive Umdeutung seines Lebensabschnittes in Autobiografia und Autopresentazione soll die Würdigung seines Werks und seine internationale Reputation 23 Eine Ausnahme bilden etwa die Memoiren, in denen er Carrà Plagiieren unterstellt und vorwirft, die Ausstellung in der Galleria Chini in Eile organisiert zu haben, um sich selbst als Erfinder der metaphysischen Malerei darzustellen. Giorgio de Chirico, Memorie della mia vita, Mailand 2008, S. 105f. 24 Autobiografia ist ein editorischer Titel. Das mit „Prefazione“ überschriebene Manuskript stammt aus dem Archiv Broglio, heute: Centro Documentazione Avanguardie-Storiche, Fondazione Primo Conti, Fiesole, Inv. FC/VP Ms. 4.1, abgedruckt in: De Chirico 2008 (wie Anm. 10), S. 678–681, hier S. 680, dt. Übers. der Autorin. 25 Ebd., S. 679. 26 Zu Lebzeiten unveröffentlicht, aus dem Archiv Broglio stammend und mit editorischem Titel versehen: Autopresentazione, abgedruckt in: De Chirico 2008 (wie Anm. 10), S. 682f., hier S. 683; siehe zu Autobiografia und Autopresentazione zuletzt: Sophia Stang, Identitätskonstruktion zwischen Zeitgeist und Tradition – Giorgio de Chiricos frühe Autobiografia (1919), in: Beate Böckem/Olaf Peters/Barbara Schellewald (Hg.), Die Biographie – Mode oder Universalie. Zu Geschichte und Konzept einer Gattung in der Kunstgeschichte, Berlin 2016, S. 143–153. 27 Als unmittelbare Reaktionen auf die vernichtende Kritik sind die beiden im Februar 1919 entstandenen Texte Wir Metaphysiker und die in La Vraie Italie abgedruckte, aber nicht als solche gekennzeichnete Autobiografie zu nennen. Ersterer wurde im hauseigenen Organ von Bragaglia abgedruckt, eine editorische Notiz kündigte an, der Künstler wolle hier seine Kunst erklären. Publiziert in: De Chirico 2008 (wie Anm. 10), S. 269–276. 28 So de Chirico selbst in: Giorgio de Chirico, De Chirico ci racconta la sua vita, in: Corriere d’Informazione, Mailand, 14. März 1956. 29 Siehe Roos 2016 (wie Anm. 10). Dort finden sich auch einige der ital. Ausstellungsrezensionen in dt. Übersetzung.
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vor Augen führen. Bei Zeuxis stand noch die Idee eines italienischen Zentrums moderner Kunst in Abgrenzung zur französischen Kunst im Vordergrund. Durch die fehlende Wertschätzung seiner Werke in Italien jedoch – so resümiert auch Roos – wendet sich der Künstler immer mehr Frankreich zu.30 Einige Jahre später, in der französischsprachigen, unter dem Pseudonym Angelo Bardi publizierten Autobiografie von 1929, legt er dann einen Schwerpunkt seines biografischen Berichtes auf ebenjene Jahre in Paris, die die „heroische Zeit“ der modernen Kunst gewesen seien und bejubelt seine Rückkehr in die „Hauptstadt der Künste“, in der er seit 1925 lebte.31 Nichtsdestotrotz wird Italien auch in dieser Autobiografie als Wurzel seiner Kunst ausgewiesen. Hier und in weiteren Texten ab 1919, die sich der programmatischen „Rückkehr zum Handwerk“ widmen, stilisiert er Aufenthalte in der Renaissancestadt Florenz zum Ursprung seiner Malerei; in einigen Fällen werden diese Aufenthalte überhaupt erst erfunden.32 Exemplarisch zeigen diese Beispiele, wie de Chirico in seinen autobiografisch geprägten Schriften mit variierender Verwendung von biografischen Versatzstücken seine künstlerischen Identitäten konstruiert. Hierfür rekurriert er auf ein selbst angelegtes Grundmuster von Themen und Motiven. Abhängig von den sozialen Rahmenbedingungen des Künstlers und dem Kontext der jeweiligen Publikation wird die Wiedergabe einzelner Lebensabschnitte von de Chirico entsprechend abgeschwächt, banalisiert, betont oder überzeichnet.33 Die in meinem Beitrag herausgestellten Beispiele zielen auf die Demonstration seiner Rolle als Maler, als Erneuerer der Kunst und auf die Abwertung anderer. Dafür vereinnahmte er bestimmte Orte (Paris, Rom, Florenz und andere) und nutzte die nationale Identifikation als vielseitige Folie: Italien steht für den Wert der Kunst und ihre Tradition, während Frankreich Synonym ist für den Anschluss an die internationale Kunstszene und Anerkennung. Andere Bestandteile seiner Biografie sind fiktiv oder werden verschwiegen – so wie beispielsweise der Aufenthalt in Ferrara und die Zusammenarbeit mit Carrà oder die zentrale Rolle seines Bruders Alberto Savinio bei der Grundlegung der metaphysischen Ästhetik in den Jahren vor Paris.34 Die Wiedergabe von Lebensgeschichten in autobiografischen Texten ist nie ‚richtig‘. Die Selbstreferenz ist als erinnernde Wiederholung zu verstehen, die immer schon die Reflexion des Autors selbst enthält.35 Auf der narrativen Ebene ist die Wiederholung 30 Ebd., S. 200. 31 Giorgio de Chirico (Angelo Bardi), La vie de Giorgio de Chirico, in: Cahier de Sélection VIII/1929, zit. n. dt. Übers. in: De Chirico 2011 (wie Anm. 19), S. 180–191, hier S. 186 und S. 190. 32 Beispielsweise beschreibt de Chirico 1921 in einem Katalogvorwort einen Aufenthalt in Florenz 1908–10 als Ursprung seiner Malerei, obwohl er erst im Januar 1910 für ein gutes Jahr dort lebte. Giorgio de Chirico, Prefazione (Galleria Arte, Mailand), dt. Übers. in: De Chirico 2011 (wie Anm. 19), S. 173–176. 33 Anhand der Autobiografia untersucht in Stang 2016 (wie Anm. 26). 34 Zu der fruchtbaren Zusammenarbeit der Brüder siehe u. a.: Paolo Baldacci, „Zu zweit hatten wir einen einzigen Gedanken“. Die concordia discors der Dioskuren, in: Düsseldorf/München 2001/02 (wie Anm. 5), S. 44–79. 35 Diese Reflexion wird häufig nach Deleuzes Prinzip ‚Differenz und Wiederholung‘ bestimmt. So auch von Silke Röckelein, Identität und Weltbild. Die Wiederholung im Schaffen von Außenseiter-Künstlern, Taunusstein 2008, S. 60. Funktional lässt sich die Wiederholung in Kunst und Literatur übereinstimmend beschreiben. Jüngst wurde sie aus interdisziplinärer Perspektive als Verfahren der künstlerischen Komposition und ‚Sinnbildung‘ in den Künsten untersucht. Károly
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biografischer Elemente ein wichtiges Strukturierungsmittel in de Chiricos Texten; autobiografische Anekdoten flicht er in alle seine Schriften ein. Dabei wird bei de Chirico das Individuelle in der modifizierten Wiederholung häufig zu einem Stereotyp, und Erlebtes verschmilzt mit adaptierten Rollenmodellen. „Der Krieg hinderte Giorgio de Chirico nicht daran, weiter an seinem Werk zu schaffen; und in Kasernen, Lazaretten, improvisierten Baracken, überall zeichnete und malte er unermüdlich weiter; die Produktion der Kriegsjahre stellte er im vergangenen Monat in der römischen Galerie Bragaglia aus.“36 In dieser ebenfalls 1919 entstandenen und in La Vraie Italie abgedruckten Autobiografie bedient er sich bei der Umschreibung seiner in der Schreibstube verbrachten Kriegsjahre in Ferrara des Bildes vom leidenden, heroischen Künstler. Wie auch bei der Schilderung des einsamen Arbeitens im „elenden“ Pariser Atelier möchte er damit seinen Anspruch auf die Erfindung der Pittura Metafisica untermauern. Darüber hinaus zielt die Beschreibung des Arbeitens während der Kriegsjahre auf eine Aufwertung der von den Zeitgenossen zunächst abgelehnten Ferrarerser Gemälde und Zeichnungen, die bei Bragaglia ausgestellt waren.37 Ein Blick auf die Relationen der Texte de Chiricos untereinander und die jeweiligen sozialen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung macht die variierende Selbstwiederholung als Verfahren zu Produktion identitätsstiftender Semantik sichtbar. Neben dem systematischen und variierenden Wiederholen ist es auch das dezidierte Nicht-Wiederholen biografischer Bausteine, mit dem de Chirico in seinen Texten arbeitet. Wie ich gezeigt habe, modifiziert er seine historische Rolle nach seinem aktuellen künstlerischen Selbstverständnis und seiner Situation. Zugleich zielt er damit auf die Zukunft und sichert sich seinen Platz in der Kunstgeschichte, die bei ihm konzipiert ist als Wissenschaft, die erst durch die historische Distanz zu ‚gerechten‘ Urteilen kommen wird: „(...) der Tag wird kommen, an dem sie (die Menschheit, S. S.) sich diese Kunst im Museum ansehen und studieren wird; (...).“38 Entscheidend ist für de Chirico dabei auch die Rolle der Künstler, die – wie er selbst auch – mit Anspruch auf Deutungshoheit selbst als Kunstkritiker tätig sind. Csúri/Joachim Jacob (Hg.), Prinzip Wiederholung. Zur Ästhetik von System- und Sinnbildung in Literatur, Kunst und Kultur aus interdisziplinärer Sicht, Bielefeld 2015. 36 Giorgio de Chirico, Giorgio de Chirico, in: La Vraie Italie, I, 2, März 1919, zit. n. dt. Übers. in: De Chirico 2011 (wie Anm. 19), S. 170. Zu der Verwirrung um die Urheberschaft siehe hier S. 115. 37 Als Beispiel für die gegenteilige Auslegung durch den Künstler lässt sich eine anlässlich der Einzelausstellung 1928 bei Léonce Rosenberg verfasste Autobiografie anführen. Er hatte Italien den Rücken gekehrt und betont in dem Text seine Verbindungen nach Frankreich. Die Kriegsjahre 1915–18 werden lediglich als Zeit des Militärdienstes erwähnt. Abgedruckt in: De Chirico 2008 (wie Anm. 10), S. 828f. (frz. Original), S. 1032f. (ital. Übers.). 38 Giorgio de Chirico, Sull’arte metafisica, in: Valori Plastici, Heft 4/5, 1919, S. 15–18, zit. n. dt. Übers. in: De Chirico 2011 (wie Anm. 19), S. 122. Zu der an Zeitlichkeit gekoppelten Objektivität und dem Verhältnis von Kunstgeschichte und Kunstkritik um 1900 siehe z. B. Melanie Sachs, Die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit. Zur Rechtfertigung des kunstkritischen Urteils in Geschichten der Kunst um 1900, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Der Ort der Kunstkritik in der Kunstgeschichte 1/2015, S. 32–44.
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Welche Erkenntnisse lassen sich nun über de Chiricos bildliche Selbstwiederholung aus diesen Überlegungen gewinnen? In der hier fokussierten Zeit um 1920 entstanden auch die ersten dezidierten Repliken. Wiederholungen von eigenen Bildern fertigte er auf Nachfrage an.39 Mit Ende des Krieges begann de Chirico, auf die Realisierung der in den vergangenen Jahren geschmiedeten Pläne, die Etablierung am Kunstmarkt und auf ein öffentliches Ansehen hin zu arbeiten, dies natürlich verbunden mit dem Wunsch nach kommerziellem Erfolg. Das misslungene Debüt in der römischen Kunstszene führte zu einem Wendepunkt in seinem künstlerischen Schaffen; und auch das Anfertigen der Repliken lässt sich zumindest als mittelbare Konsequenz dieses Wendepunktes begreifen. Zentraler Ausdruck dieses Wendepunktes war die „Rückkehr zum Handwerk“, die programmatische Wende hin zur malerischen Technik, die de Chirico in seinen Schriften ab 1919 forderte und in seinen Werken der Zwanzigerjahre vorführte. Sie lässt sich als Folge der Kritik zu seiner ersten Einzelausstellung in Rom deuten: Auf den Vorwurf, nicht wirklich Malerei zu produzieren, reagierte er mit der Zuschaustellung seines malerischen Könnens.40 De Chirico fertigte seine klassizistisch geprägten Gemälde in Temperafarben und kopierte Werke von Michelangelo oder Raffael. Er betonte in Schriften und Briefwechseln den Prozess des Kopierens (Wiederholens) als anspruchsvolle künstlerische Arbeit.41 Noch Jahrzehnte später kam er immer wieder darauf zurück, dass die Künstler die wahre Kunst bei den Alten Meistern und in eben jenem Nachvollzug ihrer Werke zu suchen hätten: „Man spricht von Individualität, die es zu kultivieren gilt, und vergißt darüber das Arbeiten.“42 Die Kopien nach fremden Bildern sind als Umsetzungen seines Postulats zu verstehen, sie dienten ihm zur Perfektionierung der Technik und stellten diese zur Schau. Den Resultaten dieser akademischen Übung brachte er besondere Wertschätzung entgegen und präsentierte sie gemeinsam mit anderen Werken in Ausstellungen. Auch für die Wiederholungen seiner eigenen Bilder behauptete er 1924 eine besondere malerische Umsetzung: De Chirico hatte Simone Breton, der Frau von André 39 Zu den in den 1920er Jahren auf Bitten von Freunden, Bekannten oder zahlungskräftigen Sammlern gefertigten Neufassungen metaphysischer Bilder siehe beispielsweise Baldacci 1994 (wie Anm. 1), S. 109ff.; Gerd Roos, Im Labyrinth von Giorgio de Chirico. Kopien und Repliken, Varianten und Variationen von eigener und fremder Hand, in: Ariane Mensger (Hg.), Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube. Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2012, Bielefeld 2012, S. 108–115, insb. S. 110; Baldacci in diesem Band S. 96ff. 40 Gerd Roos bringt die plötzliche „Rückkehr zum Handwerk“ in kausalen Zusammenhang mit der vernichtenden Resonanz der Ausstellung bei Bragaglia, siehe Roos 2016 (wie Anm. 10). 41 De Chirico berichtet Armando Spadini im September 1920, die Kopie nach Michelangelo sei fast fertig, sie habe ihn sehr viel Mühe gekostet: Postkarte vom 7. August 1920 im Archivio Contemporaneo „Alessandro Bonsanti“, Gabinetto G. P. Vieusseux, Firenze, Fondo Spadini, Nr. 31. Im Vorwort zu seiner Einzelausstellung in der Galleria Arte in Mailand (29. Januar–12. Februar 1921), die u. a. die Kopie nach Michaelangelo und eine nach Dosso Dossi zeigte, beschreibt er Michelangelos Gemälde Heilige Familie, „das am schwierigsten zu interpretieren und zu kopieren ist. Mit dieser Kopie, zu deren Ausführung ich sechs Monate brauchte, habe ich mich bemüht, soweit es mir möglich war, das Aussehen von Michelangelos Werk zu reproduzieren: mit seiner Farbigkeit, seinem hellen, trockenen Impasto, mit dem komplizierten Geist seiner Linien und seiner Formen. Denen, die es nicht nach ihrem Geschmack finden sollten, würde ich antworten: Probieren Sie’s selbst!“, dt. Übers. in: De Chirico 2011 (wie Anm. 19), S. 173f. 42 Interview mit Giorgio de Chirico, Bei den alten Meistern lernen, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 8./9. Juli 1978.
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Breton, „exakte“ Repliken von zwei Werken angeboten, die sich in anderem Besitz befanden. Er schrieb ihr: „Diese Repliken hätten keinen anderen Fehler als dass sie in besserem Materiel und einer gekonnteren Technik ausgeführt wären.“43 De Chiricos Repliken (also Kopien nach eigenhändigen Werken im Gegensatz zu denen nach Alten Meistern) hatten jedoch nicht die Funktion, die künstlerische Technik auszuloten, denn gerade ihre malerische Umsetzung wird in den folgenden Jahrzehnten glatter, mechanischer und an Werkstattmitarbeiter übergeben. Allerdings lässt sich vermuten, dass sein freier Umgang mit der Selbstwiederholung hier seinen Ursprung hat, denn der Künstler hatte das Kopieren als Teil seiner künstlerischen Praxis benannt sowie angewandt und so eine mögliche abwertende Distanz oder Skepsis abgelegt. In dem zitierten Brief an Simone Breton bot de Chirico unter anderem eine Replik des Bildes I pesci sacri (Die heiligen Fische) für 1000 italienische Lire an. Mario Broglio, der aktuelle Besitzer, verlangte für das Original 5000 Lire.44 Eine nicht geringe Zahl an Werken hatte de Chirico Mario Broglio im Herbst 1919 für fest vereinbarte Preise auf Kommission überlassen, darunter auch I pesci sacri, das er bei dieser Gelegenheit für 250 (!) italienische Lire an Broglio selbst verkaufte. Dieser hatte sich mit kaufmännischem Geschick zudem vertraglich beinahe die gesamte Produktion des Künstlers von 1919–21 gesichert; monatlich sollte de Chirico ein Gemälde liefern, das dann nach Größe der Leinwand bezahlt wurde.45 Und da Broglio und sein Geschäftspartner Mario Girardon gezielt an Wertsteigerung ihrer Sammlung und Weiterverkäufen mit Gewinnmaximierung arbeiteten, setzten sie die Preise hoch an. Es waren demnach kaum Arbeiten am Markt verfügbar; auch de Chirico selbst hatte wenige oder keine, die er hätte verkaufen können. Zudem waren die meisten Werke in italienischem Besitz, und die Bretons waren für de Chirico wichtige Sammler, die insbesondere seine erneute Orientierung in Richtung Paris befördern konnten. Also vermehrte er die Bilder, die gefragt waren. Diese Vermehrung seiner Bilder hatte gleichzeitig den für die Texte schon benannten Grund: De Chirico fühlte sich durch Carlo Carrà seines Urheberrechts an der metaphysischen Malerei beraubt (das begann 1919 und setzte sich bis zum Lebensende fort). Eine größere Verbreitung seiner Gemälde im In- und Ausland, eine möglichst große Präsenz dieser frühen Bilder der 1910er Jahre, die er in den folgenden Jahrzehnten auf unterschiedliche Arten nachempfand oder wiederholte, sollte seine vorrangige Autorschaft vor Augen führen. So wie er bestimmte Lebensabschnitte seiner Biografie besonders hervorhob, seine Vergangenheit 43 Brief an Simone Breton, Frau von André Breton, vom 10. März 1924, transkribiert in: Metafisica. Quaderni della Fondazione Giorgio e Isa de Chirico, 1/2, 2002, S. 125 (hier fälschlich „500 lire italiane“ als Preis des besitzenden Sammlers angegeben), Abdruck des Briefes in engl. Übers. in Baldacci 1994 (wie Anm. 1), S. 201 (hier als Adressatin fälschlich Gala angegeben), dt. Übers. der Autorin. 44 Tatsächlich war das Bild mittlerweile in den gemeinsamen Besitz von Broglio und Mario Girardon übergegangen. Ziel war Weiterverkauf mit Preissteigerungen. Vertrag vom 3. April 1921 in: Fagiolo dell’Arco 1984, S. 920f. (Teilabschrift, Original: Rom GNAM Fondo VP, Sezione I, Serie 3, UA 89, Nr. 3). 45 Die Kommissionsliste ist Teil des Vertrages zwischen de Chirico und Broglio vom 23. Oktober 1919. Sie ist gemeinsam mit der Abschrift des Vertrages und der Quittung für den Kauf von I pesci sacri abgedruckt in: Maurizio Fagiolo dell’Arco, Giorgio de Chirico. Il tempo di „Valori Plastici“ 1918/1922, Rom 1980, S. 83.
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modifizierte, versuchte er damit, diese frühe – ab Mitte der Zwanzigerjahre nicht zuletzt durch die Surrealisten besonders wertgeschätzte – Schaffensphase zu stärken. Dass de Chirico seine Bildwiederholungen ab etwa 1940 auch vordatierte, scheint in diesem Zusammenhang nur konsequent.46 Viele Facetten der bildlichen Selbstwiederholung sind in de Chiricos Œuvre präsent. Neben dem Kopieren fremder und eigener Bildlösungen ist auch die variierende Wiederholung von eigenen und angeeigneten, fremden Motiven charakteristisch für seine Malerei (Artischocke, Eisenbahn, Ariadne, Architekturmotive ...). Dieses Verfahren habe ich hier für seine Schriften exemplarisch aufgezeigt. Alle diese Bezugnahmen lassen sich als Fortschreiben von Geschichte verstehen. Dass sie zu einem großen Teil biografisch sind, macht noch einmal deutlich, dass es um das Fortschreiben seiner Geschichte geht. Der Blick auf die Selbstwiederholung als konstruktives Verfahren im Text konnte zeigen, wie sie im Dienste von Selbstvermarktung und Selbsthistoriografie steht. Dabei ergibt sich aus den sozialen Bedingungen, wie de Chirico die Selbstwiederholung als kompositorisches und historisierendes Verfahren in Text und Bild nutzte, um seine Vergangenheit so zu modifizieren, dass sie ihm den angestrebten Platz in der Kunstgeschichte sicherte. Für seinen Ruhm – verbunden mit dem entsprechenden wirtschaftlichen Erfolg – versuchte er, das Schreiben der Kunstgeschichte selbst zu übernehmen und seine Rolle als Künstler ins rechte Licht zu rücken. Luisa Spagnoli, die Autorin der besagten Biografie, bat de Chirico während einer Unterhaltung im Caffè Greco um Zusammenarbeit für ihr Buch. Einmal habe de Chirico erzählt, er sei 1908 mit seinem Bruder und seiner Mutter nach München gegangen, am nächsten Tag habe er erzählt, er sei nie in München gewesen. Als sie ihn etwas hilflos fragte „Was wollen Sie, dass ich schreibe?“, habe der Künstler ihr den Rat gegeben (mit bekräftigender Wiederholung seiner Worte): „Schreiben Sie 150 Seiten lang de Chirico ist ein Genie, de Chirico ist ein Genie, de Chirico ist ein Genie (...).“ Und dann habe er in gedämpftem Ton hinzugefügt: „Und was denken Sie von mir? Finden Sie nicht, dass ich ein außergewöhnlicher Mann bin?“47
46 Zu den rückdatierten Repliken siehe: Roos 2012, S. 112 sowie in diesem Band die Beiträge von Gerd Roos, S. 127–141, und Paolo Baldacci, S. 95–112. 47 Spagnoli 1971 (wie Anm. 1), S. 33.
giorgio de chirico zwei bemerkungen zum falsario di se stesso
gerd roos Bei Giorgio de Chirico kommt dem Begriff ‚Wiederholungstäter‘ eine besondere Bedeutung zu. Damit ist ausdrücklich nicht das Phänomen des jahrzehntelangen Replizierens und Variierens der Ikonen seiner frühen metaphysischen Bildwelt als solches gemeint, auch wenn es in seiner schieren Quantität einzigartig dastehen dürfte.1 Vielmehr geht es um einen Sonderfall dieser Praxis, nämlich darum, eine Reihe solcher Gemälde rückzudatieren und damit den potenziellen Käufer hinsichtlich einer essentiellen Dimension seiner Erwerbung zu täuschen.2 Über das zentrale Motiv dürften heute keine Zweifel mehr bestehen: Je früher ein de Chirico entstanden ist, desto teurer wird er gehandelt – so lautet seit den späten 1930er Jahren das eiserne Gesetz des Kunstmarkts. Tatsächlich wird der Künstler aber erst durch den Akt des Rückdatierens in betrügerischer Absicht zum ‚Täter‘, zum falsario di se stesso – so nachvollziehbar sein Verhalten aus biografischer Perspektive auch sein mag. Die Formel falsario di se stesso hat sich bei de Chirico als feststehender Ausdruck eingebürgert. Dabei betonte nicht nur Wieland Schmied immer wieder von Neuem, dass ein Künstler sich nicht selber fälschen könne: Das, was er mache, sei immer ein Original. Er könne schlimmstenfalls falsch datieren – und damit sind wir beim Thema. Die Strategie des Rückdatierens verfolgte de Chirico von den 1920ern bis in die 1970er Jahre, wobei die Schwerpunkte in den 1930er und erneut in den späten 1940er Jahren liegen. Falsche Angaben sind, grob geschätzt, für gut 100 Gemälde festzumachen – eine bemerkenswerte Größenordnung. Dabei konnte er sich bis in die Kriegsjahre auf 1 Das zwischen Ende 1908 und Anfang 1919 geschaffene und mit gut 140 Gemälden eher schmale Frühwerk ist verzeichnet in: Paolo Baldacci, De Chirico. 1888–1919. La Metafisica, Milano 1997. Mit Blick auf die Wiederholungen muss man sich immer wieder die Größenordnungen vor Augen führen, für die hier ein Beispiel genügen mag. Allein von dem 1918 entstandenen Gemälde Le muse inquietanti soll der Künstler„circa sessantacinque repliche“ gemalt haben. Vgl. hierzu den Beitrag von Paolo Baldacci im vorliegenden Sammelband, S. 96. Im Übrigen replizierte der Maler keineswegs nur metaphysische Motive, sondern jede seiner Bildinventionen, die sich als kommerziell erfolgreich erwies. Exemplarisch seien hier die 1929 gemalten Chevaux antiques genannt, von denen er im Laufe von vier Jahrzehnten gut 40 Fassungen anfertigte. Ein Überblick bei: Gerd Roos, Im Labyrinth von Giorgio de Chirico. Kopien und Repliken, Varianten und Variationen von eigener und fremder Hand, in: Ariane Mensger (Hg.), Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube. Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2012, Bielefeld 2012, S. 108–115. 2 Einige juristische Facetten des Sich-Wiederholens und des Rückdatierens bei verschiedenen Künstlern beleuchtete jüngst der „avvocato dell’arte“: Fabrizio Lemme, Ri-creazione o retrodatazione – La datazione costituisce elemento identitario, in: Il Giornale dell’Arte, 340, März 2014, S. 12. Eine erweiterte Fassung dieses Textes stellte Lemme unter dem bezeichnenden Titel „L’artista falsario di se stesso“ auf seiner Website ein: https://studiolemme.files.wordpress. com/2012/06/artistafalsariodisestesso.pdf (Letzter Zugriff: 6. Dezember 2016).
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zwei Vorgehensweisen beschränken: erstens auf das Aufbringen einer unzutreffenden Jahreszahl auf der Leinwand; zweitens auf die mündliche oder schriftliche Erklärung, wonach ein auf der Leinwand selbst nicht datiertes Gemälde zu diesem oder jenem Zeitpunkt entstanden sei. In dem Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg reichten diese beiden Behauptungen allein offensichtlich nicht mehr aus. Das Repertoire musste deshalb durch einige weitere Elemente erweitert und verfeinert werden. Zwei seiner Vorgehensweisen scheinen aus heutiger Sicht für diese – und nur für diese – biografische Periode charakteristisch zu sein. Die eine besteht in der fantasievollen Erfindung einer glaubhaften Provenienz, also einer märchenhaften Erzählung, die den Verkauf begleitete und vielleicht sogar erst ermöglichte. Der andere Trick betrifft das verwendete Material, in diesem Fall also das mehr oder minder systematische Recycling von gebrauchten Bildträgern, um atelierfrische, aber rückdatierte Bilder tatsächlich als ‚alt‘ erscheinen zu lassen. Dies offenbarten uns einige Röntgenaufnahmen, die bislang nur als isolierte Einzelfälle betrachtet worden waren. Das erste Beispiel – oder genauer gesagt, der erste Fall – ist Il grande metafisico (110 × 80 cm) aus der Nationalgalerie in Berlin.3 Das angebliche Entstehungsjahr hat de Chirico – deutlich sichtbar unterhalb seiner Signatur – mit 1916 angegeben. Tatsächlich entstand das Gemälde erst in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre.4 Die in der Forschung erst Ende der 1990er Jahre bekannt gewordene Röntgenaufnahme (Abb. 1) aus den frühen 1970er Jahren machte die ursprüngliche Bildanlage sichtbar: eine narrativ-dekorative Komposition mit antikisierenden Elementen. Sie dürfte fraglos eher für das 19. als für das 20. Jahrhundert charakteristisch sein. Für die kunsthistorische Forschung stand außer Frage, dass es sich dabei nur um eine Komposition aus der akademischen Frühzeit von de Chirico handeln kann. Um eine Szenerie also, die zwischen 1906 und 1908 in München entwickelt worden sein muss. Und tatsächlich schien sich darin sogar der eine oder andere Nachhall der Bildwelt seines Professors Carl von Marr auffinden zu lassen.5 Damit war ein bis heute von niemandem in Frage gestelltes Deutungsmodell geboren, das auf zwei Annahmen beruht: 3 Sofern nicht anders angegeben, befinden sich die hier behandelten Gemälde in privaten Sammlungen. 4 An der Datierung auf 1916 wurden bereits Mitte der 1950er Jahre Zweifel angemeldet und stattdessen eine Entstehungszeit um 1925 angenommen. Dieser Vorschlag wurde später im Werkverzeichnis kodifiziert: Maurizio Fagiolo dell’Arco/Paolo Baldacci (Hg.), Giorgio de Chirico. Parigi 1924–1929. Dalla nascita del Surrealismo al crollo di Wall Street, Mailand 1982, S. 480, Nr. 6: Il grande metafisico, 1926. Neuere Einsichten führen dazu, die Entstehungszeit gut zwei Jahrzehnte später anzusetzen: Paolo Baldacci/Gerd Roos, Adriano Pallini collezionista di de Chirico, in: Nicoletta Pallini Clemente (Hg.), Atelier Pallini. Storia di una collezione italiana 1925–1955, Mailand 2014, S. 18–37. 5 Paolo Baldacci, „Zu zweit hatten wir einen einzigen Gedanken“. Die concordia discors der Dioskuren, in: Ders./Wieland Schmied (Hg.), Die andere Moderne. De Chirico – Savinio, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf 2001/Städtische Galerie im Lenbachhaus München 2001/02, Ostfildern-Ruit 2001, S. 44–79, hier S. 55; vgl. auch Paolo Baldacci/Gerd Roos (Hg.), De Chirico, Ausst.-Kat. Palazzo Zabarella Padua, Venedig 2007, S. 4f.
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1 Radiografie von Giorgio de Chirico, Il grande metafisico, um 1948, Öl auf Leinwand, 110 x 80 bzw. 80 x 110 cm, Nationalgalerie, Berlin
1. Die Röntgenaufnahme des späten Gemäldes ermöglicht einen Einblick in das ansonsten nahezu unbekannte akademische Frühwerk von de Chirico.6 2. Der Künstler hat um 1908 in München begonnen, auf der Leinwand eine epigonale Komposition zu gestalten, das unvollendete Bild dann über Jahrzehnte eingelagert und schließlich um 1948 in Rom mit Il grande metafisico übermalt. Der zweite Fall ist analog gelagert. Diesmal handelt es sich um eine Variation der Piazza-d’Italia-Serie, die unter der Bezeichnung Pomeriggio d’autunno (110 × 73 cm) geführt wird. De Chirico datierte auch dieses Gemälde auf 1916, obwohl er es erst gegen Ende der 1940er oder sogar erst Anfang der 1950er Jahre geschaffen hatte. Die 2004 veröffentlichte Röntgenaufnahme (Abb. 2) zeigt das Brustbild eines jungen Manns mit offenem Kragen, der vom Typus her an einen Bohemien der Jahrhundertwende gemahnt. Erneut schien nichts anderes denkbar, als in dem ursprünglichen Porträt ein weiteres Frühwerk von de Chirico aus der Zeit an der Akademie der Bildenden Künste in München zu erkennen, in diesem Fall das Bildnis eines seiner griechischen Kommilitonen.7 6 Zur Studienzeit in München siehe Gerd Roos, Giorgio de Chirico e Alberto Savinio. Ricordi e documenti. Monaco – Milano – Firenze 1906–1911, Bologna 1999. 7 Jole de Sanna, Matematiche Metafisiche, in: Metafisica. Quaderni della Fondazione Giorgio e Isa de Chirico, 3/4, 2004, S. 23–110, hier S. 52, Fig. 26, und passim. Die Autorin, die damals als Expertin der Fondazione Giorgio e Isa de Chirico angehörte, versuchte im Übrigen, durch manipulativen Umgang mit historischen Dokumenten, die falsche frühe Datierung von
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2 Radiografie von Giorgio de Chirico, Pomeriggio d’autunno, späte 1940er oder frühe 1950er Jahre, Öl auf Leinwand, 110 × 73 cm, Privatsammlung
In der Forschung kam somit erneut das skizzierte Deutungsmodell zum Tragen: Wie schon die Komposition unter Il grande metafisico war offenbar auch dieses Porträt in München nicht vollendet worden. Die Leinwand verblieb deshalb im Besitz des Künstlers und diente ihm Jahrzehnte später in Rom als Träger für Pomeriggio d’autunno. Das dritte Beispiel stellt das Gemälde Ettore e Andromaca (75 × 50 cm) dar. Es ist, schon wieder, mit 1916 datiert, obwohl es erst um 1947 gemalt wurde. Die falsche Datierung zertifizierte de Chirico sogar in Form einer autentica, einer handschriftlichen Erklärung auf der Rückseite einer Fotografie: „Dichiaro che la presente fotografia riproduce un quadro da me dipinto nel 1916: Ettore e Andromaca. misura centi.: 75 × 50. Giorgio de Chirico 22 – 7 – 194(?, G. R.)“8 Pomeriggio d’autunno zu bekräftigen. Vgl. zu diesem Skandal das Kapitel: „A chi giova tutto questo?“, in: Paolo Baldacci, La rivista „Metafisica“ e la ricerca su Giorgio de Chirico, Mailand 2006, S. 27–47. 8 „Ich erkläre, dass die umseitige Fotografie ein Gemälde reproduziert, das von mir 1916 gemalt wurde: Hektor und Andromache, 75 × 50 cm, Giorgio de Chirico, 22.7.194(?).“, dt. Übers. des
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3 Radiografie von Giorgio de Chirico, Ettore e Andromaca, um 1947, Öl auf Leinwand, 75 × 50 cm, Privatsammlung
Dieses Bild hat eine besondere Geschichte. Ungeachtet der eigenhändigen Erklärung des Künstlers, die bezüglich seiner Autorschaft an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt, und ungeachtet aller stilistischen und dokumentarischen Evidenz ist das Gemälde nämlich 2002 von den beiden Experten der Fondazione Giorgio e Isa de Chirico, Paolo Picozza und Jole de Sanna, mündlich gegenüber dem damaligen Eigentümer für ein apokryphes Werk erklärt worden. Um die eigentlich fraglose Authentizität von Ettore e Andromaca zu beweisen, wurde unter anderem eine Röntgenaufnahme (Abb. 3) angefertigt. Darauf ist das Porträt einer Dame mit ausladendem Hut und hochgeschlossenem Kleid zu erkennen. Die Mode deutet daraufhin, dass das Bildnis aus den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg stammen dürfte. Als Entstehungsort käme wiederum auch München in Frage. Damit standen der Forschung jetzt in Form von Röntgenaufnahmen drei Kompositionen zur Verfügung, die einen Eindruck vom akademischen Frühwerk de Chiricos Autors. Eine Fotokopie des Dokuments befindet sich im Archivio dell‘Arte Metafisica, Mailand. Die letzte Ziffer der Datumsangabe ist nicht eindeutig zu lesen.
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4 Radiografie von Giorgio de Chirico, Piazza d’Italia, um 1950, Öl auf Leinwand, 63 × 50 cm, Privatsammlung
zu vermitteln schienen. Stilistisch und ikonografisch passten sie gut zu den spärlichen Zeugnissen, die über seine Arbeit in Deutschland zwischen 1906 und 1908 bekannt sind.9 In der wissenschaftlichen Diskussion blieb der interpretatorische Fokus bei diesen Radiografien immer auf die frühe Zeit in München gerichtet. Nirgends wurde hingegen die umgekehrte Perspektive thematisiert: Welche Implikationen sind eigentlich mit der Verwendung alter und bereits bemalter Leinwände als Träger frischer, aber rückdatierter metaphysischer Gemälde in den 1940er Jahren verbunden? Diese Einseitigkeit wird in Zukunft sicherlich einer differenzierteren Sicht weichen müssen, denn der nächste Fall stellt die bisherigen Annahmen und Deutungen grundlegend in Frage. Erneut geht es um eine Piazza d’Italia (63 × 50 cm), auch diese ist auf 1916 datiert. Für de Chirico, so könnte man ironisch sagen, war das ein offenbar höchst produktives Jahr. Tatsächlich stammt das Gemälde erst aus der Zeit um 1950. Allerdings versicherte der Maler mit seiner autentica der Eigentümerin schriftlich die Korrektheit der aufgebrachten Datierung: „a Marisa Nasi, con i miei omaggi, Giorgio
9 Siehe Roos 1999 (wie Anm. 6).
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de Chirico. (L’opera riprodotta su questa foto è autentica ed è del 1916). Giorgio de Chirico“.10 In diesem Fall bedurfte es notwendigerweise einer derart expliziten Erklärung: Wie sonst wäre die eklatante Diskrepanz zwischen der angeblichen Entstehungszeit 1916 und der ölig-glatten, erst für die 1950er Jahre charakteristischen Malweise zu überbrücken gewesen? Darüber hinaus offenbart die 2009 angefertigte Radiografie (Abb. 4) eine echte Überraschung.11 Sie zeigt nämlich eines der offiziellen Porträts von Papst Pius IX., der von 1792 bis 1878 gelebt hat. Ein solches Bildnis war für katholische Amtsräume bestimmt und dürfte während seines Pontifikats in zahllosen Exemplaren verbreitet gewesen sein. Das Papst-Porträt unter der Piazza d’Italia stammt zweifellos nicht von de Chirico. Es wäre absurd, dieses Bildnis – in Analogie zu den vorherigen Beispielen – in seinen Münchner Jugendjahren verorten zu wollen. Vielmehr handelt es sich um eine von fremder Hand bemalte Leinwand, die de Chirico nicht zufällig um 1950 in seinem Atelier gefunden haben kann. Stattdessen müssen wir davon ausgehen, dass er sie mit einer konkreten Intention auf einem Flohmarkt in Rom gekauft hat. Damit stehen wir vor einem doppelten Problem. Zum einen werden neue Fragen zu unserem heutigen Bild von seiner Arbeit als Jugendlicher aufgeworfen: Können wir ihm jetzt immer noch alle Gemälde zuschreiben, die wir auf den drei anderen Radiografien erkennen? Hat er tatsächlich derart viele und zum Teil großformatige Leinwände aus der Münchner Zeit über Jahrzehnte aufbewahrt? Bei unzähligen Ortsund Wohnungswechseln zwischen 1908 und 1948? Kurzum: Müssen wir unsere Sicht auf sein akademisches Frühwerk, soweit sie auf jenen Radiografien basierte, nicht grundlegend revidieren? Zum anderen demonstriert das Papst-Bildnis eine neue Qualität der Arbeit des falsario di se stesso. Es beweist, dass de Chirico sich aktiv auf die Suche nach geeignetem Material begeben hat, um seine Täuschungen auch physisch plausibel erscheinen zu lassen. Die Wahl alter Leinwände als Träger rückdatierter metaphysischer Bilder blieb ja nicht auf den einen oder anderen, letztlich singulären und isolierten Fall beschränkt. Das Recycling scheint vielmehr Teil einer Strategie gewesen zu sein – ungeachtet der Frage, ob er dabei Gemälde von eigener oder von fremder Hand wiederverwendete. Das Motiv ist eindeutig. Das ersichtliche und unbestreitbar hohe Alter der Leinwand soll die falsche Datierung des darauf gemalten Bildes beglaubigen. Auch der Grund liegt auf der Hand. In den 1930er Jahren reichten die einfachen Formen des Rückdatierens – die falsche Jahreszahl auf dem Bild oder eine entsprechende Erklärung – zur Täuschung aus. Immerhin wurde beides durch die noch ungebrochene Autorität des Künstlers beglaubigt. Trotz André Bretons Anklage von 1926, de Chirico habe „un grand nombre de faux caractérisés (....), d’ailleurs pour la plupart antidatées“ in Umlauf 10 „für Marisa Nasi, mit besten Grüßen, Giorgio de Chirico. (Das auf diesem Foto reproduzierte Werk ist authentisch und ist von 1916). Giorgio de Chirico“, dt. Übers. des Autors. Die Erklärung ist reproduziert in: Auktions-Kat. Asta di opere d’arte moderna provenienti da raccolte private, Farsettiarte, Prato, 1. Dezember 2007, Auktion 142 II, Lot 726. 11 Eine Fotokopie der Aufnahme befindet sich im Archivio dell’Arte Metafisica, Mailand.
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gebracht, scheint es damals nicht vorstellbar gewesen zu sein, dass er tatsächlich zu einem solchen Akt des Betrugs fähig wäre.12 Nach dem Krieg verringerte sich die Glaubwürdigkeit des Künstlers allerdings stetig. Mit der Monografie von James Thrall Soby war ab 1941 ein erstes Referenzwerk zur metaphysischen Kunst verfügbar.13 Darin sind immerhin 70 von insgesamt gut 140 Gemälden der 1910er Jahre reproduziert und chronologisch eingeordnet. Bedingt durch den Krieg, war der Bildband in Europa allerdings erst nach 1945 verfügbar. Um also weiterhin atelierfrische Repliken mit dem Nimbus von frühen Originalen verkaufen zu können, benötigte de Chirico ab diesem Zeitpunkt neue argumentative Strategien. Aus diesem Grund bediente er sich in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre im Arsenal eines ‚echten‘ Fälschers und verwendete zum Beispiel recycelte Bildträger. Das quantitative Ausmaß dieser Facette des falsario di se stesso lässt sich heute noch nicht einmal annäherungsweise konturieren. Man darf gespannt sein, welche ursprünglichen Kompositionen die Röntgenaufnahmen anderer Repliken und Varianten aus jenen Jahren in Zukunft noch zu Tage fördern werden. Auch die Dimensionen des zweiten Phänomens, das ich eingangs angedeutet habe, sind heute noch nicht abzuschätzen. Das Grundproblem ist leicht zu skizzieren: Wie ein klassischer Fälscher musste de Chirico stets von Neuem eine Geschichte erfinden, um das späte Auftauchen eines frühen, aber allseits unbekannten Meisterwerks plausibel zu machen. Es galt also, für jedes rückdatierte Gemälde eine – notwendigerweise erfundene – Provenienz zu etablieren. Der Maler wurde somit zum ‚Märchenerzähler‘ in eigener Sache. In den meisten Fällen sind solche Geschichten nicht mehr zu rekonstruieren, da sie in der Regel nur mündlich im Dreieck Künstler – Galerist – Sammler verbreitet wurden. Insofern ist es ein Glücksfall, dass wir dank einiger Quellen diese Facette wenigstens exemplarisch näher beleuchten können. Einen erhellenden Einstieg in die arbeitsteilig organisierte Vermarktung rückdatierter Bilder eröffnet uns die Fassung von Ettore e Andromaca (120 × 75 cm), die heute dem Ohara Museum of Art im japanischen Kurashiki gehört. Unterhalb der Signatur hat de Chirico das Gemälde – zur Abwechslung – auf 1918 datiert, tatsächlich aber erst 1944 geschaffen. Auf den Keilrahmen ist ein einfacher Zettel geklebt, auf dem er handschriftlich nicht nur die frühe Jahreszahl bestätigte, sondern zugleich versicherte: „Dichiaro che il quadro ‚Ettore e | Andromaca‘ che ho ritrovato dal | maggiore Del Corso, in palazzo | Torlonia, è stato dipinto da me | a Roma, nel 1918. | Giorgio de Chirico | Roma 11 Ottobre 1944. –“14 Inhaltlich handelt es sich bei diesem Satz um eine freie Erfindung des Künstlers. Mit seiner ‚Erzählung‘ variierte er einen in der Geschichte des Fälschens hinlänglich be12 André Breton, Le surréalisme et la peinture, in: La Révolution surréaliste, 7, Juni 1926, S. 3–6, hier S. 5. 13 James Thrall Soby, The Early Chirico, New York 1941. 14 „Ich bestätige, dass das Gemälde ‚Hektor und Andromache‘, das ich bei Major Del Corso im Palazzo Torlonia wiedergefunden habe, 1918 von mir in Rom gemalt worden ist. Giorgio de Chirico, Rom, den 11. Oktober 1944.“, dt. Übers. des Autors.
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kannten Topos: den Topos vom lange vergessenen oder verschollenen Meisterwerk, das erst heute dank eines glücklichen Zufalls wiederaufgefunden werden konnte – meistens auf einem Dachboden, gern auch in einem alten Koffer. Unter strategischen Gesichtspunkten ist die von de Chirico verwendete Formel klug gewählt: Als Abbreviatur einer komplexen Erzählung eröffnet sie der Fantasie des potentiellen Erwerbers viel Raum. Und wer hätte – 1944! – schon Verdacht geschöpft und daraufhin die Geschichte zu verifizieren versucht? Für uns ist hingegen noch ein anderer Aspekt interessant. Wer war jener „Major Del Corso“? Das war niemand anderes als der römische Kunsthändler Gasparo Del Corso. Er hatte nach Befreiung von Rom im Sommer 1944 die Libreria La Margherita in eine Galerie verwandelt und bald darauf die in den 1950er und 1960er Jahren international renommierte Galleria d’Arte L’Obelisco gegründet. Unmittelbar nach dem Krieg setzte eine gut fünf Jahre währende Zusammenarbeit zwischen Del Corso und de Chirico ein. Der besagte Zettel beweist dabei ihre frühe Komplizenschaft bei der Vermarktung rückdatierter Bilder, denn er kann nur in beiderseitigem Einverständnis formuliert und aufgeklebt worden sein. Ihr Zusammenwirken wird exemplarisch durch die Geschichte jener Fassung von Ettore e Andromaca (100 × 71 cm) belegt, die heute der Menil Collection in Houston gehört.15 Auch dieses Bild hat de Chirico auf 1918 datiert, tatsächlich aber erst 1944 oder 1945 gemalt. Die Provenienz ist schnell erzählt: Anfang 1946 verkaufte Del Corso das Werk an den New Yorker Galeristen Alexandre Iolas,16 der es nur wenige Wochen später an John und Dominique de Menil veräußerte. Zusammen mit einigen weiteren Bildern verschiffte Del Corso das auf 1918 gealterte Bild 1946 in die USA. Die Fracht wurde von einem gewissen Andrea De Angelis begleitet: Als Agent sollte er sich um den Verkauf dieser Arbeiten bemühen. In New York erzählte er Dominique de Menil eine detailreiche und fraglos spannende Geschichte. Radikal verkürzt kritzelte er die angebliche Provenienz abschließend noch auf einen kleinen Zettel: „De Chirico Ettore e Andromaca Esposto 1920 Roma chez Bragaglia A(nton) G (iulio) – Acquistato da Mr Riccardo Luzzato di Trieste e regalato (nozze) Irene Brin 1937 Plusieurs mois caché sous les ruines de la maison de I B a Gênes mais a été recuperé (sic) en tres (sic) bonnes conditions en oct 1945 Controlé (sic) par Chirico (...). (in anderer Handschrift, G. R.) Note given to Dominique by M di (sic) Angelis“17 15 Die im Folgenden zitierten Dokumente stammen aus den Archiven des Museum Folkwang in Essen und der Menil Collection in Houston. Ihre Kenntnis verdanke ich Mario-Andreas von Lüttichau, Kustos am Museum Folkwang. 2007 hatten wir den Versuch unternommen, die Provenienz der Piazza di Ferrara zu erhellen, die 1974 von seinem Haus erworben wurde. Zu diesem Bild s. u., S. XX. 16 Ich danke Flavia Matitti, Rom, für ihre Hilfe bei den Recherchen zu dieser Transaktion. 17 „De Chirico Hektor und Andromache. Ausgestellt 1920 bei Bragaglia A(nton) G(iulio). Erworben von Riccardo Luzzatto aus Triest und geschenkt (Hochzeit) Irene Brin 1937. Mehrere Monate
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Der Hinweis auf Anton Giulio Bragaglia bezieht sich auf die berühmte Casa d’Arte Bragaglia in Rom, in der de Chirico im Februar 1919 seine erste Einzelausstellung gezeigt hatte.18 Der besagte Riccardo Luzzato aus Triest ist hingegen nicht eindeutig zu identifizieren. Bei Irene Brin wiederum handelt es sich – welch ein Zufall! – um niemand anderen als die Ehefrau von Gasparo Del Corso. Der Kunsthändler verkaufte also sein eigenes Hochzeitsgeschenk. Als ‚Beweis‘ für die Rahmendaten seiner story brauchte De Angelis das Bild nur umzudrehen und die überdeutlich lesbare Erklärung auf dessen Rückseite vorzuführen: „questo quadro l’ho dipinto | a Roma nel 1918 | G. de Chirico | pictor optimus | Roma Novbre 1945“19 Gesagt, gesehen, gekauft – so könnte man den Verlauf des Treffens auf den Punkt bringen. Erst fünf Jahre später unternahm John de Menil den Versuch, die von De Angelis rapportierte Geschichte zu verifizieren. Zu diesem Zweck schickte er der besagten Irene Brin am 26. Juni 1951 einen langen Brief nach Rom. Darin heißt es unter anderem: „(...) From a little note scribbled in handwriting and which Mr. de Angelis left me – if my recollection is correct – this painting was given to you in 1937 as a wedding present by Mr. Ricardo Luziatro (sic) of Trieste. Is this information correct? Could you give me the address of Mr. Luziatro (sic) so that I may ask him when he acquired the painting and whom he had acquired it from. The above scribbled note also mentions that the painting was exhibited at Bragaglia in 1920. Is there any catalogue of this exhibition and how could I obtain it? It is also said in this same scribbled note that this painting was in your house in Genoa when it was bombed and that it remained for several months under the ruins but it was recovered in October 1945. (...)“ Den letzten Satz formulierte de Menil zwar als sachliche Feststellung, aber natürlich bat er auf diese Art und Weise um eine Bestätigung des Inhalts. Die Antwort aus Rom ist wirklich bemerkenswert – und zwar deshalb, weil sie für keine einzige der Fragen und Bitten eine direkte Erklärung enthält. Stattdessen schickte ihm Del Corso am 8. August eine autentica, eine Fotografie des Gemäldes, auf dessen Rückseite Bragaglia und de Chirico je eine kurze handschriftliche Versicherung abgegeben hatten: begraben unter den Ruinen des Hauses von I B (Irene Brin, G. R.) in Genua, aber im Oktober 1945 in sehr gutem Zustand geborgen. Begutachtet von Chirico (...). (in anderer Handschrift, G. R.) Notiz, die Dominique von M de Angelis erhalten hat“, dt. Übers. des Autors. 18 Vgl. dazu Gerd Roos, Rezensionen und Reaktionen. Giorgio de Chirico, die Ausstellung in der Casa d’Arte Bragaglia im Februar 1919 und das Ende der pittura metafisica, in: Paolo Baldacci/Christiane Lange/Ders. (Hg.), Giorgio de Chirico. Magie der Moderne, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Dresden 2016, S. 190–201. 19 „Dieses Gemälde habe ich 1918 in Rom gemalt. Giorgio de Chirico, Pictor optimus, Rom, im November 1945“, dt. Übers. des Autors.
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„Questo quadro fu esposto | nella prima esposizione | di de Chirico nella mia | Casa d’Arte | A(nton) G(iulio) Bragaglia Quest’opera è autentica. | Giorgio de Chirico | Roma 7 agosto 1951“20 Daraufhin erwiderte de Menil gegenüber Del Corso am 21. August, er habe ja gar keine Zweifel an der Echtheit des Gemäldes, sondern er wolle nur die Provenienz so detailliert wie möglich rekonstruieren. Damit endet die Korrespondenz, denn ein weiteres Schreiben scheint er aus Rom nicht mehr erhalten zu haben. Offensichtlich wollte Del Corso 1951 das 1946 erfundene Märchen von der Ausstellung 1920 bei Bragaglia und dem frühen Ankauf durch den ominösen Luzzato, von dem Hochzeitgeschenk und der wundersamen Wiederauffindung unter dem Bombenschutt nicht mehr bestätigen. Seine Motive sind leicht nachvollziehbar. In den vergangenen fünf Jahren hatte sich die Galleria dell’Obelisco zu einer außerordentlich erfolgreichen, seriösen und international renommierten Galerie entwickelt. Es ist mehr als verständlich, dass ihr Inhaber nichts mehr mit seinen ‚Jugendsünden‘ aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zu tun haben wollte. Der Ausdruck ‚Jugendsünden‘ ist hier mit Bedacht in den Plural gesetzt. Tatsächlich hatten Del Corso und de Chirico angesichts des Erfolgs ihrer Geschichte offensichtlich nicht gezögert, sie um 1946 ein zweites Mal zu benutzen – und zwar diesmal für die sogenannte Piazza di Ferrara (52 × 37 cm), die seit 1974 dem Museum Folkwang in Essen gehört. Das Gemälde datierte der Künstler – wieder einmal! – auf 1916, obwohl es tatsächlich erst von 1945–46 stammt. Im New Yorker Auktionshaus Sotheby Parke Bernet & Co. war es 1973 mit folgenden Angaben zur Provenienz versteigert worden: Galleria Bragaglia, Rome Riccardo Luzzatto, Trieste Francesca Tullia Ricci, Gorizia Galleria L’Obelisco, Rome Hugh J. Chisholm, Jr., New York21 Wir haben es zum Teil also mit denselben Namen zu tun, die uns bereits bei Ettore e Andromaca aus der Menil Collection begegnet waren: Bragaglia, Luzzatto – diesmal mit doppeltem t – und Del Corso. Die Pointe dieser Provenienz findet sich in dem einzigen historischen Dokument, das die Essener Piazza di Ferrara offenbar über Jahrzehnte begleitet hat. Formal und inhaltlich handelt es sich wiederum um eine autentica, in diesem Fall um die teils maschinen-, teils handschriftlichen Erklärungen (Letztere hier kursiv gesetzt) von gleich drei Personen auf der Rückseite ein und derselben Fotografie: 20 „Dieses Gemälde ist in der ersten Ausstellung von de Chirico in meiner Casa d’Arte ausgestellt worden. A G Bragaglia. Dieses Werk ist authentisch. Giorgio de Chirico, Rom, den 7. August 1951“, dt. Übers. des Autors. 21 Auktions-Kat. Important 19th and 20th Century Paintings, Drawings and Sculpture, Sotheby Parke Bernet & Co., New York, 2.–4. Mai 1973, Auktion 3510, Lot 101.
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„Dichiaro che questo quadro di Giorgio de Chirico rappresentante una piazza con torre rossa e statua bianca sdraiata, fu esposto nella prima esposizione personale del pittore, da me fatta nel 1918 nella mia Galleria di Via Condotti. Roma, 10 marzo 1947 Anton Giulio Bragaglia. Anton Giulio Bragaglia. Dichiaro che il quadro riprodotto a verso fu acquistato nel 1920 dall’Avv. Riccardo Luzzatto di Trieste, mio cugino, che lo tenne presso di sé fino al 1937. In tale anno, mese di aprile, mi fu da lui regalato per le mie nozze. Francesca Tullia Ricci/Erede Luzzatto Francesca Tullia Ricci Gorizia, 12 giugno 1947. Confermo quanto sopra G. de Chirico“22 Damit schließt sich der Kreis. Die Parallelen der beiden Geschichten sind offenkundig, ungeachtet einzelner pittoresker Ausschmückungen. Sämtliche Recherchen zur Prüfung der behaupteten Fakten würden ergebnislos im Sande verlaufen, eben weil die beiden Provenienzen von A bis Z erfunden sind. Evident ist aber auch, dass die Etablierung solcher Geschichten nur möglich war dank des Zusammenwirkens von de Chirico, Del Corso und Bragaglia – wobei das Verhalten des Letzteren und der Grund, weshalb dieser sich an den Betrügereien beteiligte, fraglich bleibt. Mit Blick auf de Chirico können wir hingegen konstatieren: Als falsario di se stesso bediente er sich nach dem Krieg ausgiebig im Arsenal eines klassischen Fälschers – falsche Datierungen und falsche Erklärungen, die Verwendung alter Leinwände und die Erfindung detailreicher Provenienzen. Jeder Versuch, dieses Verhalten heute noch durch irgendwelche kunsttheoretischen Überwölbungen rechtfertigen zu wollen, scheint mir am eigentlichen Thema vorbeizugehen. Mit einer guten Portion schwarzen Humors könnte man sagen: Wenn de Chirico schon Gemälde mit Methoden eines Fälscher fabrizierte – ist es dann auf eine absurde Art und Weise nicht sogar konsequent, sie irgendwann auch zu Fälschungen zu erklären?
22 „Ich erkläre, dass dieses Gemälde von Giorgio de Chirico, welches eine Piazza mit rotem Turm und einer liegenden weißen Statue darstellt, in der ersten Einzelausstellung des Malers, die ich 1918 in meiner Galerie in der Via Condotti gemacht habe, gezeigt worden ist. Rom, den 10. März 1947, Anton Giulio Bragaglia, Anton Giulio Bragaglia. Ich erkläre, dass das rückseitig reproduzierte Gemälde 1920 von dem Anwalt Riccardo Luzzatto aus Triest gekauft worden war, meinem Cousin, der es bis 1937 bei sich behielt. In diesem Jahr, im Monat April, wurde es mir von ihm zu meiner Hochzeit geschenkt. Francesca Tullia Ricci/Erbin Luzzatto, Francesca Tullia Ricci, Gorizia, den 12. Juni 1947. Ich bestätige das Obige, Giorgio de Chirico“, dt. Übers. des Autors.
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5 Giorgio de Chirico, Ettore, 1944 oder 1945, Öl auf Leinwand, 71,5 × 50,8 cm, Privatsammlung
Der letzte Fall dient dazu, diese einzigartige Spielart von angewandtem Dadaismus zu beleuchten.23 Es geht dabei um Ettore (71,5 × 50,8) (Abb. 5), den de Chirico, wieder einmal, mit 1916 datiert hat. Die frühe Provenienz lässt sich in einem Satz skizzieren: Das tatsächlich erst 1944 oder 1945 entstandene Gemälde wurde von Del Corso umgehend an Costanzo Mongini, einen Mailänder Händler, verkauft, der es bereits im Juni 1946 an den Mailänder Sammler Antonio Mazzotta veräußerte. 1956, also nur ein Jahrzehnt später, wurde Ettore in einem Bildband zur modernen Kunst reproduziert24 – und seither von de Chirico mehrfach zu einer Fälschung erklärt.25
23 Wieland Schmied gab in Gesprächen gerne ein Bonmot von Max Ernst wieder: „De Chirico ist der letzte Dadaist!“ Gemeint ist damit, dass der späte de Chirico den destruktiven, aber nach außen auf die bürgerliche Kunst zielenden Impuls der Dadaisten selbstzerstörerisch auf das eigene Œuvre umgelenkt habe. 24 Guido Ballo, Pittori italiani dal futurismo a oggi, Rom 1956, Farbtafel S. 39. 25 Siehe z. B.: Giorgio de Chirico, De Chirico parla dei „suoi“ falsi (titolo redazionale), in: Candido. Settimanale d’Attualità e Politica, Mailand, 48, 30. November 1958, S. 19, mit Abbildung.
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Der düpierte Sammler trug daraufhin Zeugnisse und Dokumente zusammen, um die Authentizität des Gemäldes zu beweisen. Nach einem Treffen mit Del Corso 1969 schickte Mazzotta diesem ein Gesprächsresümee. Darin bezog er sich auch auf eines seiner Schreiben an den besagten Mailänder Händler: „Nella copia della lettera (N. 2) vi è la storia del dipinto che, come giustamente mi ha fatto rilevare lei, non avrebbe suscitato alcun rilievo di De Chirico se il dipinto non avesse avuta la data del 1916.“26 Der springende Punkt ist folglich nicht, dass das Gemälde tatsächlich gefälscht wäre, sondern dass die inskribierte Jahreszahl falsch ist. Das aber wusste niemand besser als Del Corso, der ja seit Mitte der 1940er Jahre in die Vermarktung von Bildern mit betrügerischen Rückdatierungen involviert war. Und wenigstens mündlich gestand er Ende der 1960er Jahre offensichtlich freimütig ein, warum de Chirico heute für eine Fälschung erklärt, was sie beide gemeinsam gestern noch als Original verkauft hatten. Tatsächlich sah sich der Künstler ab einem bestimmten Zeitpunkt immer wieder von Neuem der gleichen und für ihn offenbar ausweglosen Situation ausgesetzt – und zwar eben aufgrund seiner Rückdatierungen. Ein entscheidender Wendepunkt ist präzise zu bestimmen: Es ist das Jahr 1955. Einerseits gewann er zwar in der dritten Instanz den Prozess, der 1947 gegen ihn angestrengt worden war, als er eine vordatierte Replik zu einer Fälschung erklärt hatte.27 Andererseits – und das ist bei Weitem bedeutsamer – ist es das Jahr, in dem James Thrall Soby seine zweite, noch reichhaltiger illustrierte Monografie über das metaphysische Œuvre der 1910er Jahre publiziert hat.28 Seitdem stand jedem Kritiker, jedem Händler und jedem Sammler ein solides Referenzwerk zur Verfügung, in dem immerhin etwa 100 von den gut 140 Gemälden des Frühwerks reproduziert sind. Eine der Folgen waren bohrende Fragen nach dem tatsächlichen Entstehungsdatum vieler Bilder, die angeblich in den 1910er Jahren entstanden sein sollten, die aber nicht im ‚Soby‘ figurierten.29 Sie stürzten de Chirico immer wieder in den gleichen Konflikt: Einerseits würde er sich nach 1955 einfach nur lächerlich machen, wenn er auf den frühen Datierungen später Repliken bestehen würde. Andererseits fehlte ihm die Souveränität, den einstigen Betrug zuzugeben und für alle moralischen, eventuell sogar straf- oder zivilrechtlichen Konsequenzen einzustehen. Was also tun? Wieland Schmied, ein langjähriger Freund des Künstlers, analysierte die ‚Lösung‘ dieses Konflikts: 26 „In der Kopie des Briefes (Nr. 2) findet sich die Geschichte des Gemäldes, dem, worauf Sie mich richtigerweise aufmerksam gemacht haben, de Chirico keinerlei Bedeutung beigemessen hätte, wenn das Gemälde nicht die Datierung 1916 erhalten hätte.“, dt. Übers. des Autors. Fotokopien der verschiedenen Briefe befinden sich im Archivio dell’Arte Metafisica, Mailand. 27 Paolo Baldacci/Gerd Roos, Piazza d’Italia (Souvenir d’Italie II). 1913 [luglio–agosto 1933]. Il più clamoroso sequestro del dopoguerra. Verità processuale e verità storica. Contributi al Catalogo di Giorgio de Chirico, 2, Archivio dell’Arte Metafisica, Mailand 2013. 28 James Thrall Soby, Giorgio de Chirico, New York 1955. 29 Man muss sich auch vergegenwärtigen, dass Soby sich mit der zweiten Monografie endgültig als die international anerkannte Instanz in Fragen zu „De Chirico metafisico“ etabliert hatte. Über Jahrzehnte hinweg bemühte er sich unermüdlich, ‚echt‘ von ‚falsch‘, aber auch ‚früh‘ von ‚spät‘ zu scheiden.
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„Es liegt die Vermutung nahe, daß er wieder einmal den schlechtest möglichen Ausweg wählte und die Bilder schlichtweg für falsch erklärte. (...) Bald mag sich eine bestimmte Abwehrhaltung verfestigt haben und zum stereotypischen Handlungsmuster geworden sein – der Ausweg, mit dem Verdikt des ‚falso‘ sich jeder Verantwortung zu entziehen.“30 Mit dieser Volte, die radikaler kaum sein könnte, hat de Chirico uns Kunsthistorikern eine wahrlich singuläre Aufgabe hinterlassen. Immer wieder müssen wir die Authentizität einer der späten Repliken früher metaphysischer Ikonen beweisen, die Folgendes gemeinsam haben: Erst hat der falsario di se stesso sie teils mit Methoden eines ‚echten‘ Fälschers fabriziert, hat sie rückdatiert und erfolgreich auf dem Kunstmarkt lanciert. Später aber hat er sie als Fälschungen von fremder Hand denunziert. Diese Konstellation dürfte es nur bei Giorgio de Chirico geben – und auch wegen solcher dunklen Seiten ist er ein einzigartiger, schillernder, zutiefst faszinierender Künstler.31
30 Wieland Schmied, Der Künstler, dem die Welt ein Rätsel blieb. Neunmal Giorgio de Chirico, Weitra 2008, S. 24f. 31 Ich danke Paolo Baldacci, Mailand, Sophia Stang, Köln, und Martin Weidlich, München, für die kritische und konstruktive Durchsicht meines Textes.
malewitschs schwarze quadrate und andere selbstwiederholungen zwischen anpassung, innovation und auratisierung verena krieger Malewitsch gilt als einer der großen Innovatoren der modernen Kunst. Innerhalb von nur einer Dekade vollzog er eine rasante stilistische Entwicklung vom Spätimpressionismus über Symbolismus und Primitivismus zum Kubofuturismus und Alogismus, bis er 1915 in der Avantgarde-Ausstellung 0,10 in Petrograd mit einem Paukenschlag seinen programmatisch alle bisherigen Ismen übertrumpfenden Suprematismus der Öffentlichkeit präsentierte. Mit dieser Malerei, als deren Konzentrat ihm das Schwarze Quadrat (1915) galt, wurde Malewitsch schon zu Lebzeiten von begeisterten Anhängerinnen und Anhängern als revolutionärer Neuerer gefeiert. Posthum wurde er weltberühmt und ging in die Kunstgeschichte als Begründer der Gegenstandslosigkeit ein. Doch Malewitsch war nicht nur ein radikaler Neuerer, er war auch ein Meister der Selbstwiederholung. Zur Überraschung seines Umfelds begann er nämlich im Jahr 1928, wieder figurative Bilder zu malen. Dabei griff er auf verschiedene Stilrichtungen zurück, die in seinem früheren Œuvre eine Rolle gespielt hatten. So schuf er eine Gruppe von Werken, die vornehmlich Landschaftsmotive im neoimpressionistischen Stil zeigen, wie er sie zu Beginn seiner malerischen Entwicklung gemalt hatte, und datierte sie zurück. Ebenso entstand eine Reihe von Kompositionen, die seiner kubofuturistischen Stilphase in den Jahren 1912–14 entsprechen, auch diese wurden rückdatiert. Die Werke beziehen sich dabei motivisch wie stilistisch auf konkret ermittelbare Vorbilder aus seinem Frühwerk, teils handelt es sich auch um Wiederholungen ganzer Kompositionen. Malewitschs Künstlerkollegen reagierten auf dieses Vorgehen irritiert. So schrieb El Lissitzky nach einem Besuch 1930 an seine Frau: „Alt wird er, und sehr schwere Situation. Soll im Herbst wieder ins Ausland, und malt, malt darstellende Kunst und unterzeichnet 1910 etc. Jämmerliche Geschichte. Macht es sehr ernst und denkt Dumme zu fangen (...).“1 Da die falschen Datierungen jedoch vom Kurator der Tretjakow-Galerie in den Ausstellungskatalog von 1929 übernommen wurden,2 blieben sie jahrzehntelang wirksam. Obwohl schon in den 1970er Jahren Zweifel an den vermeintlichen Frühwerken aufkamen,3 1 El Lissitzky, Brief vom 19.7.1930, in: El Lissitzky. Maler Architekt Typograf Fotograf. Erinnerungen Briefe Schriften übergeben von Sophie Lissitzky-Küppers, Dresden 1992, S. 88. 2 Andréi Nakov, Kazimir Malewicz. Catalogue raisonné, Paris 2002, S. 437f. 3 Vgl. Troels Andersen, Malevich. Catalogue raisonné of the Berlin exhibition 1927, including the collection in the Stedelijk Museum Amsterdam, with a general introduction to his work,
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1 Kasimir Malewitsch, Schnitterin, 1928/29, Öl auf Sperrholz, 72,4 × 72 cm, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg
wurden die Gemälde noch lange mit den falschen frühen Datierungen ausgestellt und publiziert.4 Erst Mitte der 1990er Jahre wurden die Datierungsprobleme offen thematisiert,5 und im Jahr 2000 deklarierte das Russische Museum in St. Petersburg, in dessen Besitz sich ein Großteil der Werkgruppe befindet, diese offiziell als Malewitschs Spätwerk.6
Amsterdam 1970, S. 36; Charlotte Douglas, Malevich’s Painting. Some problems of chronology, in: Soviet Union/Union sovietique, Bd. 5, Teil 2, 1978, S. 301–326. 4 So u. a. in Jürgen Harten (Hg.), Kasimir Malewitsch (1878–1935). Werke aus sowjetischen Sammlungen, Ausst.-Kat. Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1980; Rainer Crone/David Moos, Kazimir Malevich. The climax of disclosure, München 1991 (trotz Kenntnis der Debatte, vgl. S. 208); Jevgenija Petrova (Hg.), Kasimir Malewitsch – Künstler und Theoretiker, Weingarten 1991. 5 Jelena Basner, Malewitschs Malerei: Mythen und Fakten, in: Evelyn Weiss (Hg.), Kasimir Malewitsch. Werk und Wirkung, Ausst.-Kat. Museum Ludwig Köln 1995/96, Köln 1995, S. 74–80. 6 Jevgenija Petrova (Hg.), Malevich in the Russian Museum, Bad Breisig 2000, hier die Beiträge von Jevgenija Petrova, Malevich’s works in the Russian Museum and their new datings (S. 11–14) und Elena Basner, Malevich’s paintings in the collection of the Russian Museum (the matter of the artist’s creative evolution) (S. 15–27). Vgl. auch den darauf basierenden Ausstellungskatalog: Thomas Kellein (Hg.), Kasimir Malewitsch. Das Spätwerk, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld, Ostfildern-Ruit 2000.
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2 Kasimir Malewitsch, Schnitterin, 1912, Öl auf Leinwand, 60 × 68 cm, Staatliche Gemäldegalerie, Astrachan
verwirrspiel zwischen prä- und postsuprematismus Malewitsch erzeugte mit seinen Nachschöpfungen also erfolgreich ein Verwirrspiel. Doch bei seinen Selbstwiederholungen handelt es sich, wie verschiedentlich beobachtet wurde, keineswegs um Repliken, vielmehr weisen sie gegenüber ihren frühen Vorbildern eine Reihe signifikanter Abweichungen auf, wie kurz an zwei Beispielen erläutert werden soll. Das Gemälde Schnitterin (1928/29, von Malewitsch 1909 datiert) (Abb. 1) ist zwar in der Komposition offenkundig an dem gleichbetitelten Werk von 1912 (Abb. 2) orientiert, jedoch sind dessen neoprimitivistische Züge deutlich relativiert: Die monumentale Statuarik der Frauenfigur, ihre abstrahierten Gliedmaßen, die an der Ikonenmalerei orientierten übergroß typisierten Augen und die antinaturalistische Farbigkeit weichen einer naturalistischeren Darstellungsweise. Noch deutlicher ist dies bei den Ährenbündeln und der Wiese der Fall. Ebenso ist Marfa und Wanka auf dem Weg zur Ernte (1928/29) (Abb. 3) offenkundig an der Komposition des frühen kubofuturistischen Werks Auf dem Feld (1912) (Abb. 4) orientiert, das verloren gegangen und nur durch eine Fotoreproduktion von 1913 überliefert ist. Hier manifestiert sich, wie Charlotte Douglas feststellte,7 die Differenz zwischen beiden Versionen in der kompositorischen Anlage. Zwar hat Malewitsch die Diagonalkonstruktion beibehalten, im Unterschied zum frühen Gemälde wird die Komposition jedoch durch einen Horizont nach oben hin abgeschlossen: Es ist eine Zentralperspektive angedeutet, und die Figuren sind perspektivisch wie anatomisch korrekt in den Landschaftshintergrund 7 Douglas 1978 (wie Anm. 3), S. 302f.
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3 Kasimir Malewitsch, Marfa und Wanka auf dem Weg zur Ernte, 1928/29, Öl auf Leinwand, 82 × 61 cm, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg
eingefügt. Zudem sind die auf dem Feld arbeitenden Bäuerinnen im Hintergrund wesentlich naturalistischer dargestellt als in der Version von 1912. Man kann also konstatieren, dass Malewitsch bei seinen Selbstwiederholungen das ästhetisch innovative Moment seiner frühen Werke tendenziell zurückgenommen und durch den stärkeren Einsatz naturalistischer Gestaltungsmittel in eine konventionellere Malweise umgebogen hat. Zugleich trug er jedoch Sorge, dass die Wiedererkennbarkeit seiner frühen Motive und stilistischen Eigenheiten gewährleistet blieb. Er vollzog also einen Spagat zwischen Wiederholung und ‚Korrektur‘. Das lässt sich historisch erklären. Malewitsch hatte, mit seinem Suprematismus berühmt geworden, nach der Oktoberrevolution zunächst eine steile Karriere gemacht. 1919 wurde er Dozent an der neuen Kunstschule in Witebsk, bald darauf Dozent und schließlich Direktor des 1924 gegründeten avantgardistischen Staatlichen Instituts für künstlerische Kultur in Leningrad (GINChUK). Jedoch geriet die Avantgarde im Verlauf der 1920er Jahre immer stärker unter Druck, bereits 1926 wurde das GINChUK geschlossen. Im Jahr 1927 unternahm Malewitsch eine Reise nach Warschau und Berlin, wo er mit Einzel
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4 Kasimir Malewitsch, Auf dem Feld, 1912, Öl auf Leinwand, verschollen
ausstellungen reüssierte. Offenbar in der Hoffnung, bald erneut nach Deutschland reisen zu können, ließ er die von ihm mitgeführten 70 Werke in Berlin. Zurück in der Sowjetunion, erhielt er dann überraschend das Angebot einer Einzelstellung für 1929 in der Tretjakow-Galerie in Moskau. Dies war wohl der äußere Anlass, weshalb Malewitsch begann, sich selbst zu wiederholen. Da zahlreiche Werke in Deutschland geblieben und andere in den neu gegründeten Museen für Malereikultur in verschiedenen Sowjetrepubliken verstreut waren, wollte er offenbar für seine Retrospektive die fehlenden Werke rekonstruieren.8 Bemerkenswert ist, dass er sich dabei fast ausschließlich auf seine präsuprematistischen Perioden konzentrierte, obwohl vor allem suprematistische Werke in Berlin geblieben waren. Es muss für diese Wiederholungen also neben der Rekonstruktion auswärtig befindlicher Werke noch andere Gründe gegeben haben. Möglicherweise hängt die Rückwendung zur neoimpressionistischen und primitivistischen Phase damit zusammen, dass Malewitsch ab 1926 Anstellungen zunächst am Kunsthistorischen Institut und dann am Russischen Museum in Leningrad innehatte, was ihn dazu veranlasste, sich mit früheren Strömungen moderner Malerei auseinanderzusetzen. Vielleicht hat auch der Kunsthistoriker und Avantgarde-Theoretiker Nikolaj Punin, der damals die Abteilung für moderne Kunst am Russischen Museum leitete, Malewitsch darauf gebracht, sich wieder dem Neoimpressionismus 8 Basner 2000 (wie Anm. 6), S. 20.
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5 Kasimir Malewitsch, Sportler, 1930/31, Öl auf Leinwand, 142 × 164 cm, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg
zuzuwenden.9 Doch diese Erklärungen bleiben unvollständig, wenn man nicht hinzufügt, dass – was in den jüngeren russischen Publikationen zu diesem Thema ignoriert oder beschönigt wird10 – Malewitsch, Punin und ihre avantgardistischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu dieser Zeit unter dem Eindruck scharfer Angriffe standen.11 9 So die Vermutung von Basner, ebd., S. 25. 10 Die Direktorin des Russischen Museums St. Petersburg, Jevgenija Petrova, und die Kuratorin Jelena Basner lassen in ihren Untersuchungen von Malewitschs Rückdatierungen die zunehmend repressive Atmosphäre der 1920er Jahre in der Sowjetunion außer Acht. Sogar die offenkundig unter stalinistischen Vorzeichen entstandene „Selbstkritik“ des Avantgardekünstlers Iwan Kljun, er sei „zu weit gegangen mit meiner gegenstandslosen Kunst“, die „unverständlich für moderne Betrachter“ geworden sei, wird unkritisch als Beleg für eine rein kunstimmanente Selbstrevision der Avantgardekünstler interpretiert. Statt einer historischen Rekonstruktion der Umstände versuchen sie, Malewitschs Selbstwiederholungen ausschließlich als besonders originelle Innovation des Künstlers zu beschönigen und versuchen damit, sie in den Originalitätsdiskurs der Moderne zu integrieren. Vgl. Petrova 2000 (wie Anm. 6), S. 12 und Basner 2000 (wie Anm. 6), S. 20. 11 Dies schlägt sich auch in Malewitschs theoretischen Schriften nieder, die ab 1921/22 zunehmend einen verbitterten und pessimistischen Zug aufweisen. Siehe dazu Verena Krieger,
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Bereits 1922 verurteilte die einflussreiche Assoziation der Künstler des revolutionären Russland (AChRR) die „abstrakten Konstruktionen, die unsere Revolution vor dem internationalen Proletariat nur diskreditieren“, und in demselben Maße, wie sich die Attacken gegen den ‚Formalismus‘ steigerten, ging die Toleranz der staatlichen Institutionen gegenüber den Künstlerinnen und Künstlern der Avantgarde zurück.12 Dies erklärt meines Erachtens, weshalb Malewitsch bei der Rekonstruktion seines Œuvres nicht nur seine suprematistische Phase fast völlig außer Acht ließ, sondern auch bei den Nachschöpfungen seines neoimpressionistischen und kubofuturistischen Frühwerks dessen nunmehr unter dem Verdikt des ‚Formalismus‘ stehenden ästhetischen Neuerungen relativierte. Malewitschs Selbstwiederholungen von 1928/29 sollten sein bisheriges Œuvre offenkundig nicht nur rekonstruieren, sondern umschreiben.13 Sie lassen sich als verzweifelten Versuch werten, das eigene Lebenswerk durch retroaktive Anpassung an die veränderten politischen Umstände zu sichern. Doch Malewitschs Spätwerk hat nicht nur einen Zug zur Anpassung, sondern enthält auch grundlegende Neuerungen. Wie diese beiden Tendenzen ineinandergreifen, ist gut an Marfa und Wanka auf dem Weg zur Ernte (Abb. 3) zu sehen: Die Bäuerinnen im Hintergrund sind, anders als im frühen Vorbild Auf dem Feld (Abb. 4), eher naturalistisch dargestellt, aber eine Figur weicht deutlich davon ab. Es handelt sich um die frontal mit leicht nach rechts gewendetem Blick stehende Frau rechts neben Marfas Kopf, deren Kleidung anders als bei den anderen Bauersfrauen am Ober- und Unterkörper jeweils farblich zweigeteilt ist, sodass sich eine symmetrische farbliche Teilung der Figur ergibt. Damit gleicht diese Bäuerin einem neuen Typ der Figurendarstellung, den Malewitsch gleichfalls ab 1928 entwickelt hat und der exemplarisch im Gemälde Sportler (1930/31) (Abb. 5) zu sehen ist: Vor einem abstrakten, durch Streifen irrealer Farbigkeit markierten Landschaftshintergrund stehen schematisierte menschliche Figuren, deren harlekinartige Trikots durch wechselnde, symmetrisch in der Körpermittelachse getrennte Farbflächen bestimmt sind. Abgesehen von den Händen, bei denen ein Inkarnat angedeutet ist, sind die Figuren von Kopf bis Fuß von dieser Struktur überzogen, sodass sie auch über keine individuellen Gesichter verfügen und vollständig typisiert sind. In ihrer Gesichtslosigkeit und mit dem flächenhaften, in verschiedenfarbige Kompartimente aufgeteilten Kleid gleicht die Bäuerin im Hintergrund von Marfa und Wanka auf dem Weg zur Ernte diesem neuartigen Typus der Figurendarstellung, der charakteristisch für den Postsuprematismus ist. Malewitschs Spätwerk entstand zwar unter den Bedingungen eines wachsenden Drucks in Richtung ‚Realismus‘, passte sich diesem jedoch nur vordergründig an. Im Postsuprematismus hat Malewitsch die Darstellungsprinzipien des Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne, Köln/ Weimar/Wien 2006, S. 195f. 12 Deklaration der Assoziation der Künstler des revolutionären Russland (AChRR), Mai 1922, dok. in: Hubertus Gaßner/Eckhard Gillen (Hg.), Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979, S. 269f., hier S. 269. 13 Wie sein Schüler Lev Judin am 9. Februar 1937 in seinem Tagebuch notierte, bezeichnete Malewitsch dieses Vorgehen als „die Vergangenheit umarbeiten im Einklang mit aktuellen Konzepten“. Zit. nach Basner 2000 (wie Anm. 6), S. 20. Allerdings entstand diese Notiz einige Jahre später, als Malewitsch bereits verstorben war.
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Suprematismus gewissermaßen anthropomorphisiert. Auf diese Weise gelang es ihm, zur Figuration zurückzukehren, ohne den Suprematismus aufzugeben. Die vermeintliche Wiederholung des frühen kubofuturistischen Werks Marfa und Wanka auf dem Weg zur Ernte vereint insofern zwei gegenläufige Tendenzen: Einerseits hat es einen Zug zu konventionelleren Darstellungsweisen (Perspektive, Naturalismus) und andererseits leuchtet hier bereits Malewitschs subversive Reformulierung des Suprematismus auf.
suprematistische selbstwiederholungen Es gibt eine zweite Gruppe von Selbstwiederholungen in Malewitschs Œuvre, und diese betrifft seine suprematistische Phase – namentlich das Schwarze Quadrat, das von Beginn an in Malewitschs Œuvre einen besonderen Status als Quintessenz des Suprematismus innehatte. Auch dieses sein Hauptwerk hat Malewitsch wiederholt. Neben dem Original von 1914/15 existieren etliche weitere Schwarze Quadrate von ihm. Zusätzlich zu einer Reihe eigenhändiger Verarbeitungen des Motivs in Grafik und angewandter Kunst sind heute insgesamt vier gemalte Versionen bekannt, die zwischen 1914/15 und 1930/31 entstanden. Da ist zunächst die früheste Version – das Original, das 1915 in der Ausstellung 0,10 erstmals zu sehen war und sich seit 1929 im Besitz der Tretjakow-Galerie in Moskau befindet (Abb. 6). Ausgelöst wurde seine Entstehung durch Malewitschs Arbeit am Bühnenbild der futuristischen Oper Sieg über die Sonne im Jahr 1913, in deren Zusammenhang er erstmals mit dem Motiv des schwarzen Quadrats experimentierte.14 Aus diesem Grund datierte er selbst das Gemälde auf 1913; die Forschung ist sich allerdings seit Langem sicher, dass er es frühestens im Winter 1914/15, wahrscheinlich im Frühjahr 1915 gemalt hat.15 Wie Restauratoren im Jahr 2013 mithilfe einer neuen Infrarottechnik ermittelten, schuf Malewitsch das Schwarze Quadrat auch keineswegs – wie man lange geglaubt hatte – gewissermaßen ‚in einem Wurf‘ als erstes suprematistisches Werk, aus dem alle folgenden suprematistischen Kompositionen generiert wurden: Denn unter ihm befinden sich zwei andere Kompositionen, eine kubofuturistische und eine suprematistische.16 Da Malewitsch die unter dem Quadrat liegende suprematistische 14 Vgl. Jewgeni Kowtun, „Sieg über die Sonne“. Materialien, in: Christiane Bauermeister/Nele Härtling (Hg.), Sieg über die Sonne. Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin und Berliner Festwochen, Berlin 1983, S. 27–52, insbes. S. 37; Joseph Kiblitsky, „Sieg über die Sonne“, in: Köln 1995/96 (wie Anm. 5), S. 28–32. 15 Möglicherweise lässt sich aufgrund eines schon seit Langem bekannten Briefs von Malewitsch an Michail Matjuschin das Schwarze Quadrat sogar, wie zuletzt von Aleksandra Shatskikh vorgeschlagen, exakt auf den 21. Juni 1915 (neuer Zeitrechnung) datieren. Vgl. Aleksandra Shatskikh, Black square. Malevich and the origin of suprematism, New Haven, Conn. 2012, S. 47. 16 Die Tageszeitung vom 19./20. Dezember 2015, S. 12. Neu ist daran nur die Entdeckung der untersten kubofuturistischen Schicht, denn schon 1990 hatte eine Röntgenaufnahme ergeben, dass das Schwarze Quadrat über einer suprematistischen Komposition liegt. Daraus ist zu schließen, dass die komplexen und dynamischen Figurationen des Suprematismus zeitgleich mit oder sogar vor den später von Malewitsch als Grundformen des Suprematismus bezeichneten Quadrat, Kreis und Kreuz entstanden sind; vgl. Matthew Drutt, Auf der Suche nach 0,10. Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei, in: Ders. (Hg.), Auf der Suche nach 0,10.
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Komposition in ungetrocknetem Zustand übermalt hat, konnte die schwarze Farbe nur unregelmäßig trocknen, und es entstanden schon kurz nach Fertigstellung erste Craqueluren.17 Trotz späterer Restaurierungsversuche des Künstlers befindet sich das Gemälde in einem extrem schlechten Zustand. Die zweite Version, die sich im Russischen Museum in St. Petersburg befindet, entstand im Jahr 1923 (Abb. 7). Sie ist Teil einer Dreier-Suite von Schwarzem Kreis, Schwarzem Quadrat und Schwarzem Kreuz, die Malewitsch für die Biennale von Venedig 1924 schuf.18 Auf ihren Rückseiten befinden sich Originalaufschriften des Künstlers, in denen er sie als Grundformen der suprematistischen Malerei bezeichnet und auf 1913 rückdatiert.19 Tatsächlich entstanden sie zehn Jahre später. Und sie stammen auch nicht von Malewitschs eigener Hand, sondern wurden nach seiner Anweisung von einem Mitarbeiter und zwei Studierenden erstellt.20 Für Malewitsch war es offensichtlich nicht wichtig, die Bilder eigenhändig zu realisieren. Er wollte mit ihnen die Grundidee des Suprematismus veranschaulichen, ein ideelles Projekt, für das die individuelle künstlerische Handschrift nicht von Belang war. Offenbar um seinem programmatischen Anspruch mehr Nachdruck zu verleihen, wählte er für die drei Gemälde das gegenüber dem Ur-Quadrat deutlich größere Format von 106 × 106 cm. Es ist eine tragische Fußnote der Kunstgeschichte, dass die drei Werke auf der Biennale, wohl aufgrund von Ressentiments der Verantwortlichen gegenüber der gegenstandslosen Kunst, wahrscheinlich gar nicht ausgestellt waren.21 Sie blieben nach ihrer Rückkehr aus Venedig bis zu seinem Tod in Malewitschs Privatbesitz. Eine berühmte Fotografie zeigt den in seiner Wohnung aufgebahrten Malewitsch umgeben von seinen Werken, über seinem Kopf hängend ein großformatiges Schwarzes Quadrat, bei dem es sich um die Version von 1923 handeln muss.22 Aufgrund einer Schenkung
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Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei, Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Basel-Riehen, Ostfildern-Ruit 2015, S. 15–45, hier S. 30, mit Verweis auf den Bericht der Restauratorinnen Milda Vikturina/Alla Lukanova, A Study of Technique. Ten Paintings by Malevich in the Tretjakov Gallery, in: Jeanne d’Andrea (Hg.), Kazimir Malevich 1878–1935, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington 1990/The Armand Hammer Museum of Art and Cultural Center, Los Angeles 1990/91/The Metropolitan Museum of Art, New York 1991, Los Angeles 1990, S. 187–197. Ebd., S. 195; vgl. Jeannot Simmen, Kasimir Malewitsch. Das schwarze Quadrat. Vom Anti-Bild zur Ikone der Moderne, Frankfurt a. M. 1999, S. 84. Ausst.-Kat. La XIV Esposizione Internazionale d’Arte della Città di Venezia, Venedig 1924, Nr. 111–113. Basner 2000 (wie Anm. 6), S. 19. Tatsächlich gab es offenbar schon 1915 einen Schwarzen Kreis und ein Schwarzes Kreuz, Letzteres ist auf der Ausstellungsfotografie von 0,10 zu sehen. Vgl. ebd. Die Ausführenden waren Nikolai Suetin, Anna Leporskaja und Konstantin Roschdestwenski. Im Katalog der Biennale waren die drei suprematistischen Werke Malewitschs als Nr. 111–113 gelistet, jedoch waren weit mehr Kunstwerke nach Venedig geschickt worden als Ausstellungsfläche zur Verfügung stand. Das Schicksal, nicht ausgestellt zu werden, teilte Malewitschs Dreier-Suite mit etlichen anderen gegenstandslosen Werken avantgardistischer Künstlerinnen und Künstler. Vgl. Vivian Endicott Barnett, Der russische Beitrag zur Biennale von Venedig 1924. Eine Rekonstruktion, in: Bettina-Martine Wolter/Bernhart Schwenk (Hg.), Die große Utopie. Die Russische Avantgarde 1915–1932, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt a. M. 1992, S. 163–170. Fotografie von 1935 abgebildet u. a. in: Köln 1995/96 (wie Anm. 5), S. 249.
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6 Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1914/15, Öl auf Leinwand, 79,5 × 79,5 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau
7 Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1923, Öl auf Leinwand, 106 × 106 cm, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg
von Malewitschs Witwe im Jahr 1935 befinden sich die drei Werke heute im Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg. Die dritte Version (Abb. 8) entstand 1929 zusammen mit den bereits besprochenen Wiederholungen der präsuprematistischen Gemälde und war wie diese für Malewitschs Einzelausstellung in der Tretjakow-Galerie gedacht. Das ist insofern bemerkenswert, als sich die Originalversion des Schwarzen Quadrats bereits in deren Besitz befand, eine Wiederholung also gar nicht erforderlich gewesen wäre.23 Da das Original jedoch schon damals, also keine 15 Jahre nach seiner Erstellung, von Rissen durchzogen war, bat Alexej Fjodorow-Dawydow, Leiter der neu gegründeten Abteilung für zeitgenössische Kunst an der Tretjakow-Galerie und Kurator der Ausstellung, Malewitsch um eine Replik.24 Aus diesem Grund hat dieses Schwarze Quadrat auch dasselbe Format wie die erste Version. Jedoch wurde es kurz vor Ausstellungseröffnung zurückgezogen, wobei unbekannt ist, auf wessen Entscheidung das zurückging.25 Auch dieses zweite eigens für eine Ausstellung neu geschaffene Schwarze Quadrat wurde also auf dieser letztlich doch nicht präsentiert. Auffällig ist, dass sich im Verzeichnis der Exponate dieser Einzelausstellung unter den 53 ausgestellten Werken nur vier mit Titel genannte suprematistische Gemälde sowie vier unbetitelte und vier Architektona befanden. Alle 23 Das Werk war durch das 1919 gegründete Museum für Malereikultur – eine öffentliche Sammlung zeitgenössischer Kunst, geleitet von Avantgardekünstlerinnen und -künstlern – angekauft worden und ging 1929 bei der Abwicklung dieser Institution zusammen mit einem Großteil der anderen Werke in den Bestand der Tretjakow-Galerie über. Vgl. Christiane Post, Künstlermuseen. Die russische Avantgarde und ihre Museen für Moderne Kunst, Berlin 2012, S. 81–136. 24 Nakov 2002 (wie Anm. 2), S. 205. 25 Ebd., Kat.-Nr. S-131, S. 208.
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8 Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1929, Öl auf Leinwand, 79,2 × 79,5 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau
9 Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1930/31, Öl auf Leinwand, 53,5 × 53,5 cm, Staatliches Eremitage Museum, St. Petersburg
anderen Exponate zeigten figurative Malerei, wobei es sich größtenteils um neu geschaffene Werke handelte.26 Offenbar wurde der Anteil gegenstandsloser Malerei aus Gründen politischer Opportunität stark beschränkt. Das vierte Quadrat (Abb. 9) ist 1992 überraschend auf dem russischen Kunstmarkt aufgetaucht. Es stammt aus dem Nachlass von Malewitschs Witwe, die zwar 1935 dem Russischen Museum ein Konvolut von hinterlassenen Werken des Künstlers geschenkt, aber dieses späte Schwarze Quadrat offenbar behalten hatte. Ihre Nachfahren verkauften das Werk an die russische Bank Inkombank, die während der russischen Finanzkrise 1998 Bankrott ging, sodass ihre Kunstsammlung zwangsversteigert wurde. Ein Oligarch erwarb das Gemälde 2002 für einen Kaufpreis von rund 1 Mio. US-Dollar und schenkte es der Staatlichen Eremitage in St. Petersburg.27 Dieses Quadrat hat mit 53,5 × 53,5 cm ein besonders kleines und intimes Format. Malewitsch hat es handschriftlich auf der Rückseite auf 1913 rückdatiert; restauratorische Untersuchungen kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass es erst in den 1920er Jahren entstanden sein kann.28 Den entscheidenden Hinweis für die Datierung gibt jedoch eine Fotografie der Malewitsch-Abteilung in der Jubiläumsausstellung 15 Jahre Sowjetkunst (Abb. 10), auf der dieses kleinformatige 26 Vgl. ebd., S. 437f. Nakov geht davon aus, dass die unbetitelten Exponate suprematistisch waren, was insofern wahrscheinlich ist, als sie nach den vier gelisteten suprematistischen Werken aufgeführt werden. Unklar bleibt allerdings, ob nur das Schwarze Quadrat zurückgezogen wurde oder auch andere suprematistische Arbeiten. 27 So im Onlinemagazin Russia beyond the headlines: http://de.rbth.com/kultur/2014/12/28/ oligarchen_als_maezene_die_teuersten_kunstkaeufe_russischer_milliardae_32215 (Letzter Zugriff: 4. Januar 2017). 28 Dmitrij Sarabjanov auf der Website des Auktionshauses Gelos: http://www.gelos.ru/result/ inkom/blacks3.html (Letzter Zugriff: 4. Januar 2017).
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Schwarze Quadrat neben dem Roten Quadrat: Malerischer Realismus einer Bäuerin in der vierten Dimension (1915) fast identischen Formats an zentraler Stelle oberhalb von verschiedenen suprematistischen Kompositionen hängt.29 Andrej Sarabjanow vermutet deshalb, dass Malewitsch es 1930/31 eigens für diese Ausstellung geschaffen habe30 – eine Datierung, die sich die Eremitage zu eigen gemacht hat.31 Allerdings hat sich bislang offenbar niemand die Frage gestellt, weshalb Malewitsch überhaupt eine Neuanfertigung des Schwarzen Quadrats für erforderlich hielt,32 hätten doch die Version von 1923 im Russischen Museum und die beiden Fassungen von 1915 und 1929 in der Tretjakow-Galerie zur Verfügung gestanden. Meines Erachtens ist dies nur aus der speziellen Hängungskonzeption dieser Ausstellung zu erklären, bei der – anders als zuvor – nicht mehr das Schwarze Quadrat allein eine Sonderstellung einnimmt, sondern Schwarzes und Rotes Quadrat gleichwertig nebeneinander hängend gewissermaßen in der ‚Elternrolle‘ für die suprematistische Malerei fungieren. Eine solche quasibiologische Genealogie wurde noch dadurch unterstützt, dass das Rote Quadrat mit dem Titelzusatz Malerischer Realismus einer Bäuerin in zwei Dimensionen bereits eine Vergeschlechtlichung erfahren hatte. Das kleinere Format der vierten Version dürfte insofern darauf zurückzuführen sein, dass das Rote Quadrat mit seinen Maßen 53 × 53 cm als Vorbild diente. Die vier Schwarzen Quadrate haben eines gemeinsam: Sie sind unregelmäßig, sicher nicht mit Lineal und Winkelmesser konstruiert worden – also im strengen geometrischen Sinne keine Quadrate, sondern einfache Vierecke. Genau so – als Viereck – hatte Malewitsch sein erstes Quadrat auch ursprünglich betitelt.33 Seinen Studierenden erklärte er, dass der Verzicht auf geometrische Korrektheit ein künstlerisches Gesetz sei (womit er sich von den Konstruktivisten abgrenzte).34 Aufgrund ihrer Unregelmäßigkeit haben die vier Versionen jeweils eine ausgesprochene Individualität. Nicht nur stehen sie auf unterschiedliche Weise mehr oder weniger windschief auf der quadratischen Leinwand, auch die Relation von schwarzer Fläche und weißem Rand fällt unterschiedlich aus. So ist in der Version von 1923 die schwarze Fläche im Verhältnis zur weißen Fläche deutlich größer als bei der ersten Fassung von 1914/15 und deren Rekonstruktion von 29 Vgl. Post 2012 (wie Anm. 23), S. 250–262 zu dieser Ausstellung im Kontext der sowjetischen Ausstellungspolitik ab 1930. Kasimir Malewitsch, Rotes Quadrat. Malerischer Realismus einer Bäuerin in zwei Dimensionen (1915), in: Köln 1995/96 (wie Anm. 5), Nr. 92. 30 Andrej Sarabjanov auf der Website des Auktionshauses Gelos: http://www.gelos.ru/result/ inkom/blacks5.html (Letzter Zugriff: 4. Januar 2017). 31 Auskunft des Kurators für Malerei an der Staatlichen Eremitage St. Petersburg, Dr. Boris Asvariš, vom 10. März 2016. 32 So auch nicht Dmitrij Sarabjanov (wie Anm. 28) und Aleksandr Arzamascev, Čërnyj kvadrat, 2002: www.gelos.ru/result/inkom/blacks4.html (Letzter Zugriff: 4. Januar 2017). 33 Dagegen wird etwa in der Exponatenliste der Einzelausstellung 1929 in der Tretjakow-Galerie der Titel Quadrat verwendet. Vgl. Nakov 2002 (wie Anm. 2), Kat.-Nr. S-116, S. 205. Es gibt ein weiteres Viereck in Malewitschs Œuvre, das ausdrücklich kein Quadrat ist, sondern ein querrechteckiges Viereck. Es befindet sich in der Sammlung Costakis. Laut Restaurierungsbericht ist auch dieses Schwarze Viereck über eine andere Komposition gemalt. Es handelt sich um eine alogische Komposition. Aus der Tatsache, dass kein Staub zwischen den Malschichten liegt, schloss die Restauratorin, dass das Viereck wohl noch 1914 gemalt wurde und folglich eines der frühesten suprematistischen Gemälde überhaupt ist. Vgl. Basel-Riehen 2015 (wie Anm. 16), S. 224. 34 Vgl. Simmen 1999 (wie Anm. 17), S. 12.
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10 Arbeiten von Kasimir Malewitsch in der Ausstellung 15 Jahre Sowjetkunst im Russischen Museum in Leningrad, 1932
1929 – was in der Version von 1930/31 noch ein wenig gesteigert ist. Dieser Unterschied lässt sich damit erklären, dass Malewitsch sein Schwarzes Quadrat erst im Nachhinein zum zentralen ‚Grundelement‘ des Suprematismus erhoben hat. Um diesen Status zu unterstreichen, wollte er bei den beiden Nachschöpfungen von 1923 und 1930/31 – die ja anders als die Version von 1929 nicht explizit als Rekonstruktion des ‚Ur-Quadrats‘ gedacht waren, sondern in wichtigen Ausstellungen eine programmatische Rolle spielen sollten – dem Quadrat größeres Gewicht im Verhältnis zur Bildfläche verleihen. Durch die so gesteigerte Monumentalität sollte offenbar der besondere Stellenwert des Quadrats manifestiert werden. Eine Folge der unterschiedlichen Größen und Größenrelationen sowie der unregelmäßigen geometrischen Ausführung ist, dass die vier Versionen trotz des identischen Motivs gut mit bloßem Auge zu unterscheiden sind. Es ist nicht ausgeschlossen, dass neben diesen vier Gemälden weitere gemalte Schwarze Quadrate existieren oder existierten. So ist am linken Rand der berühmten Schwarzweiß-Fotografie von Malewitschs Ausstellungsraum in 0,10 ein kleinformatiges Gemälde mit einem Quadrat uneindeutiger Farbe zu sehen, das heute als verschollen gilt.35 Auch hat Malewitsch das Motiv in anderen Farben wiederholt – so etwa das 35 Abb. in: Aust.-Kat. Basel-Riehen 2015 (wie Anm. 16), S. 54f. Vgl. auch die Ausführungen von Anatolij Strigalev, Auf den Spuren der Ausstellung 0,10, in: Ebd., S. 46–78.
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bereits erwähnte Rote Quadrat: Malerischer Realismus einer Bäuerin in zwei Dimensionen (1915)36 –, und darüber hinaus hat er es in unzähligen Kompositionen mit anderen geometrischen Formen kombiniert.37 Weiterhin existieren zahlreiche grafische Versionen des Schwarzen Quadrats, die teilweise auch der Propagierung des Suprematismus dienten.38 Außerdem hat Malewitsch das Motiv im Kontext angewandter Kunst verarbeitet, so etwa als Dekoration für Rednertribünen, für Porzellan oder als Buchillustration.39 Seine begeisterten Studierenden trugen das Schwarze Quadrat als Emblem auf Fahnen umher und nähten es auf ihre Ärmel auf;40 anlässlich der Feierlichkeiten zum dritten Jahrestag der Oktoberrevolution überzogen sie ganz Witebsk mit suprematistischen Formen.41 Auch befreundete Künstlerkolleginnen und -kollegen griffen das Motiv auf, so verarbeiteten El Lissitzky, Anna Jermolaewa und Ilja Tschaschnik das Motiv in den unterschiedlichsten Kontexten, während Nikolai Suetin gar eine schlichte Wiederholung des Gemäldes schuf.42 So kommt es, dass die Zahl der Schwarzen Quadrate von Malewitschs und anderer Hand nahezu unüberschaubar ist.43 Diese explosionsartige Vermehrung des Motivs geht wesentlich auf Malewitsch selbst zurück, der dem Schwarzen Quadrat einen besonderen Status zugesprochen hatte. In seinen in den Jahren nach der Ausstellung 0,10 veröffentlichten Schriften bezeichnete er es als „das Antlitz der neuen Kunst“ und den „erste(n) Schritt des reinen Schöpferischen in der Kunst“44 und schließlich als „das grundlegende suprematistische 36 Abb. in: Frankfurt a. M. 1992 (wie Anm. 21), Nr. 2. 37 So etwa Selbstporträt in zwei Dimensionen (1915), abgebildet in: Geurt Imanse (Hg.), Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde, Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle Bonn, Bielefeld 2014, S. 92; Malerischer Realismus. Junge mit Tornister – farbige Massen in der 4. Dimension (1915), abgebildet in: Basel-Riehen 2015 (wie Anm. 16), S. 128; Rotes Quadrat auf Schwarz (um 1922), abgebildet in: Köln 1995/96 (wie Anm. 5), Nr. 107. 38 Vgl. etwa die Zeichnungen in: Köln 1995/96 (wie Anm. 5), Nr. 100–102, sowie: Das grundlegende suprematistische Element – Das Quadrat, in: Bauhausbuch Nr. 11: Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose Welt, München 1927, abgebildet in: Basel-Riehen 2015 (wie Anm. 16), S. 16. 39 So etwa Rednertribüne (1919), in: Köln 1995/96 (wie Anm. 5), Nr. 156; Entwurf für ein suprematistisches Kleid (1923), in: Basel-Riehen 2015 (wie Anm. 16), S. 221. 40 Basner 1995 (wie Anm. 5), S. 74. 41 Larissa A. Shadowa, Kasimir Malewitsch und sein Kreis. Suche und Experiment. Aus der Geschichte der russischen und sowjetischen Kunst zwischen 1910 und 1930, Dresden 1978, S. 79. 42 El Lissitzky, Ohne Titel (Rosa Luxemburg) (1919/20), in: Frankfurt a. M. 1992 (wie Anm. 21), Nr. 216; El Lissitzky, Zyklus Von zwei Quadraten (1920), in: El Lissitzky 1992 (wie Anm. 1), o. S.; Anna Jermolaewa, Entwurf für eine Festdekoration in Witebsk (1920), in: Köln 1995/96 (wie Anm. 5), Nr. 165; Ilja Tschaschnik, Suprematistisches Relief (um 1922/23), in: Ebd., Nr. 124; Nikolai Suetin, Schwarzes Quadrat (1920), in: Frankfurt a. M. 1992 (wie Anm. 21), Nr. 137. 43 Eine Übersicht über die von Malewitsch selbst geschaffenen Spielarten des Schwarzen Quadrats enthält der Catalogue raisonné von Andréi Nakov, der in der Rubrik „Éléments fondamentaux“ unter den Nummern S-113 bis S-171 zahlreiche Quadrate und Vierecke verschiedener Farben und Varianten auflistet. 44 Kasimir Malewitsch, Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus. Der neue Realismus in der Malerei (Moskau 1916), dok. in: Uwe M. Schneede (Hg.), Chagall, Kandinsky, Malewitsch und die russische Avantgarde, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1998/99/Kunsthaus Zürich 1999, Ostfildern-Ruit 1998, S. 259–271, hier S. 269.
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Element“, aus dem heraus sich alle anderen Kompositionen entwickelt hätten.45 Auch wenn wir heute wissen, dass das Quadrat nicht am Beginn der Genese des Suprematismus stand, sondern eher umgekehrt von Malewitsch aus den komplexeren Kompositionen gewissermaßen extrahiert wurde,46 erlangte Malewitschs Selbstdeutung größte Wirkungsmacht. Dazu trug wesentlich bei, dass er das Schwarze Quadrat zum Symbol der 1919 in Witebsk von ihm gegründeten Künstlergruppe UNOWIS (Bekräftiger der Neuen Kunst) gemacht hat. In dieser besonderen Funktion stand es allen Beteiligten für eine unbegrenzte Reproduktion zur Verfügung – zugleich bewahrte Malewitsch damit jedoch für alle in der Folge geschaffenen Quadrate seine ideelle Urheberschaft.
jenseits kunstwissenschaftlicher kategorien Wie kann man das Wiederholungsmoment bei Malewitsch fassen? Die zahlreichen Selbstwiederholungen des Künstlers lassen sich nicht auf einen einzigen Nenner bringen. Bei den späten neoimpressionistischen und neoprimitivistischen Gemälden handelt es sich um aus äußerer Notwendigkeit geborene Rekonstruktionen früherer Werke. Doch diese zunächst aus pragmatischen Gründen entstandenen Werke sind keine wirklichen Repliken, sondern aus der Erinnerung oder auf Grundlage von Zeichnungen oder Fotos entstandene Nachempfindungen, welche mit Korrekturen verbunden sind. Diese Korrekturen weisen unterschiedliche Tendenzen auf, teils handelt es sich um Anpassungen an den vorherrschenden Realismus, teils um ästhetische Neuerungen im Sinne des Postsuprematismus. Das heißt, Malewitsch hat in seinen Wiederholungen seine früheren künstlerischen Ideen unter teils innen-, teils außengeleiteten Gesichtspunkten verändert und durch die Rückdatierungen sein Œuvre rückwirkend umzuschreiben versucht. Auch bei den Schwarzen Quadraten gab es jeweils spezifische pragmatische Gründe für die Wiederholungen, doch damit allein ist ihre Existenz nicht zu erklären. Die Gründe liegen wesentlich auch in Malewitschs künstlerischem Prinzip selbst. Ein schwarzes Quadrat ist schon von seiner Gestalt her das Gegenteil einer individuellen Handschrift. Damit ist ihm die Wiederholbarkeit von Beginn an als Möglichkeit eingeschrieben. Die Originalität liegt hier nicht in der perfekten Ausführung, sondern in dem einmaligen Wurf seiner Erfindung, und Malewitschs künstlerische Schöpferkraft manifestiert sich gerade darin, den Suprematismus als allgemein verfügbare Formensprache geschaffen zu haben. Es handelte sich also um einen konzeptuellen Akt, der durch die zahlreichen Wiederholungen nicht etwa entwertet, sondern immer wieder neu bestätigt wird. Wenn das Phänomen der Schwarzen Quadrate auch konzeptuell begründet ist, so lässt es sich doch nicht in den postmodernen Diskurs einordnen, der in der Wiederholung 45 Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose Welt, Bauhausbücher 11, München 1927, Faksimile-Nachdruck mit einem Vorwort von Stephan von Wiese, Mainz 1980, S. 67. Exemplarisch für die Selbststilisierung Malewitschs ist auch seine Aussage auf S. 66, dass er „im Jahre 1913 in meinem verzweifelten Bestreben, die Kunst von dem Ballast des Gegenständlichen zu befreien, zu der Form des Quadrats flüchtete und ein Bild, das nichts als ein Schwarzes Quadrat auf weißem Felde darstellte, ausstellte (…)“. 46 Vgl. Anm. 16.
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einen Beleg für die Abwesenheit von Aura und Originalität47 oder gar ein Moment der „Ironisierung“48 sieht. Historisch gibt es keine Hinweise auf eine Relativierung von Malewitschs Autorschaftsanspruch oder gar auf eine ironische Haltung – ganz im Gegenteil. Wenn die Existenz der vier und mehr Schwarzen Quadrate mit einer Infragestellung des modernen Originalitäts- und Autorschaftskonzepts verbunden ist, so geschieht dies nicht aus einer postmodernen Haltung, sondern unter Bezugnahme auf die prämoderne Tradition der Ikonenmalerei. Malewitsch selbst hat sein Schwarzes Quadrat bekanntlich mit der Ikone in Verbindung gebracht, indem er es in der Ausstellung 0,10 nach dem Vorbild christlich-orthodoxer Praxis wie eine Ikone in die obere Ecke des Raumes hängte und in einer berühmt gewordenen Wendung als „die nackte, ungerahmte Ikone meiner Zeit“ bezeichnete.49 Mit dieser Referenz auf die altrussische religiöse Bildkunst stand er keineswegs allein, vielmehr war der positive Rekurs auf die Ikonenmalerei ein Grundzug der russischen Avantgarde. Etliche Avantgardekünstlerinnen und -künstler sammelten alte Ikonen und stellten diese zusammen mit eigenen Werken aus, übernahmen von der Ikone formale Gestaltungsmittel und stellten in ihren Schriften Analogien zwischen ihrer Kunst und den traditionellen Bildwerken her.50 Für dieses gesteigerte Interesse der Avantgarde an der Ikone gab es verschiedene Gründe. Da spielt erstens ein im Vorfeld des Ersten Weltkrieges aufblühender Nationalismus eine Rolle, der wie in den westeuropäischen Ländern auch in Russland viele Künstlerinnen und Künstler erfasste. Wichtiger noch ist zweitens die frühe Avantgarde-Strömung des russischen Neoprimitivismus, aus dessen Perspektive gerade die nicht akademische, antinaturalistische Malweise der Ikone als Vorbild für eine moderne Formensprache galt. Und als wichtigster Aspekt kommt drittens die spirituelle Dimension der Ikone hinzu, die eben gerade nicht die äußere Wirklichkeit abbildet, sondern eine andere, göttliche Wirklichkeit repräsentiert, woraus auch die ihr zugeschriebene göttliche Wirkungsmacht resultiert. Die christlich-orthodoxe Theologie leitet dies aus der Inkarnationslehre ab: So wie Jesus Christus die Inkarnation Gottes ist, inkarniert die Ikone das göttliche Urbild.51 Aufgrund dieses spezifischen, im Neuplatonismus wurzelnden Bildkonzeptes unterscheidet sich die Ikonenmalerei grundlegend von der westlichen Bildtradition, in der schon seit dem frühen Mittelalter eine substanzielle Differenz zwischen Urbild und Abbild festgeschrieben ist. Zu den zentralen Wesensmerkmalen, die die ostkirchliche Ikone von der neuzeitlichen Kunst des Westens unterscheiden, gehört auch, dass es bei ihr nicht auf die 47 So Margarita Tupitsyna, Russia!, in: Artforum international 44/Nov. 2005, S. 247 und S. 289. 48 So Graham Bader, Die absolute Besonderheit von Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat, in: Hubertus Gaßner (Hg.), Das schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Ostfildern-Ruit 2007, S. 201–206, hier S. 204. 49 Brief Malewitschs im Mai 1916 an den Kunstkritiker Alexander Benois, engl. in: Kasimir Malevich, Essays on Art 1915–1933, Bd. 1: 1915–1928, hg. von Troels Andersen, Kopenhagen 1968, S. 42–48, Zitat S. 45, hier zit. n. dt. Übers. in: Werner Haftmann, Einleitung zu: Kasimir Malewitsch, Suprematismus – Die gegenstandslose Welt, Köln 1962, S. 19. 50 Ausführlich hierzu Verena Krieger, Von der Ikone zur Utopie. Kunstkonzepte der russischen Avantgarde, Köln/Weimar/Wien 1998; zur Bedeutung der Ikone speziell für Malewitschs Suprematismus S. 120–135. 51 Vgl. ebd., S. 50–58. Ausführlich zu Theologie und Bildkonzept der Ikone vgl. Konrad Onasch, Die Ikonenmalerei. Grundzüge einer systematischen Darstellung, Leipzig 1968, S. 9–28.
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originelle Bilderfindung ankommt, sondern auf die getreue Wiederholung festgelegter Bildtypen.52 Die Verehrungswürdigkeit der Ikone resultiert gerade aus ihrer Ähnlichkeit zu einem Prototyp, der wiederum in substanzieller Beziehung zum göttlichen Urbild steht. Diese Ähnlichkeit wird aber nicht als sklavische Nachahmung aufgefasst, sondern kann durchaus mit Variationen verbunden sein. Auch Malewitschs Selbstwiederholungen zielen nicht darauf ab, das Vorbild möglichst exakt zu kopieren, sondern basieren auf dem Spannungsverhältnis von Ähnlichkeit und Variation. Gerade aus der fruchtbaren Verbindung von Reproduzierbarkeit und Variierbarkeit des Motivs ‚schwarzes Quadrat‘ resultiert der enorme Variantenreichtum der suprematistischen Werke. In der kunstwissenschaftlichen Terminologie, die auch ich bis jetzt verwendet habe, bezeichnet man das Schwarze Quadrat von 1914/15 als das Original; die Tatsache, dass es in der legendären Ausstellung 0,10 gezeigt wurde, verleiht ihm eine besondere Aura, die im Erleben der Rezipierenden durch die Craqueluren noch eine Steigerung erfahren mag. Beim Schwarzen Quadrat von 1929 handelt es sich um eine Replik; die beiden anderen Schwarzen Quadrate können aufgrund des größeren beziehungsweise kleineren Formats und der veränderten Relationen von schwarzer und weißer Fläche als Varianten gelten. Doch so treffend und hilfreich diese Kategorien in museologischer Hinsicht sind, sie werden Malewitschs künstlerischem Selbstkonzept nicht gerecht und vermögen daher den Status seiner Schwarzen Quadrate nicht vollständig zu erfassen. Malewitsch sah sich – vergleichbar einem Religionsstifter – als Begründer der reinen Gegenstandslosigkeit, welche sich in seinen sämtlichen suprematistischen wie postsuprematistischen Gemälden manifestiert. So wie er das Schwarze Quadrat (kontrafaktisch) im Nachhinein zum Ur-Element des Suprematismus erklärte, aus dem alle weiteren Kompositionen entstanden seien, signierte er auch alle seine Schwarzen Quadrate (ebenso kontrafaktisch) auf 1913, also ebenjenes Jahr, in dem er das Bühnenbild für die Oper Sieg über die Sonne schuf, aus der die Idee des Suprematismus entstand, welche dann allerdings erst 1914/15 realisiert wurde. Seine letzten, in den Jahren 1932/33 entstandenen Gemälde signierte Malewitsch sogar nur mehr mit einem kleinen schwarzen Quadrat,53 was einerseits ein in die renaissancehaften Porträts gewissermaßen ‚hineingeschmuggeltes‘ Bekenntnis zur Gegenstandslosigkeit ist und andererseits das schwarze Quadrat zum suprapersonalen Repräsentanten der Idee des Suprematismus erhebt. Die Bezugnahme auf die Ikonenmalerei ist nicht in einem religiösen Sinne zu verstehen54 – Malewitschs Suprematismus ist weder eine Religion noch religiös fundiert. Vielmehr haben wir es hier mit einer strukturellen Analogie der Bildkonzepte zu tun: So wie nach orthodox-christlichem Verständnis eine Ikone den dargestellten Heiligen respektive das göttliche Prinzip inkarniert, stellt nach Malewitschs eigenem Verständnis jedes einzelne seiner Schwarzen Quadrate eine materielle Realisation der suprematistischen Idee dar. Neoplatonisch eingefärbt, begegnet uns hier also die moderne Konzeption 52 Vgl. ebd., S. 107–113; sowie Egon Sendler, The Icon. Image of the Invisible. Elements of Theology, Aesthetics and Technique, Redondo Beach, Cal. 1988. 53 Vgl. Köln 1995/96 (wie Anm. 5), Nr. 311–316, Abb. S. 215–219. 54 Tupitsyn 2005 (wie Anm. 47), S. 247 missversteht die von mir und anderen Autorinnen und Autoren herausgestellte Analogie von Suprematismus und Ikone als einen „religious-bound discourse“, gegen den sie sich verständlicherweise abgrenzt.
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des Schöpfer-Genies in radikalisierter Form: Nicht das einzelne materielle Kunstwerk ist die zentrale schöpferische Tat des Künstlersubjekts, sondern die der Gesamtheit der Werke zugrunde liegende Idee. Eine kleine Anekdote mag das unterstreichen: Im Gespräch mit Alexej Fjodorow-Dawydow, dem Kurator von Malewitschs Einzelausstellung in der Tretjakow-Galerie 1929, hatte Malewitsch gesagt, das Schwarze Quadrat sei „unwiederholbar“55 – obwohl er es ja faktisch mehrfach wiederholte. Dieses Paradox lässt sich nur so auflösen, dass es sich bei der Erfindung des Schwarzen Quadrates (wie des Suprematismus) um einen einmaligen, unwiederholbaren Akt handelt, das materielle Artefakt dagegen auch in mehrfacher Ausfertigung existieren kann. Vor diesem Hintergrund können ‚Original‘, ‚Replik‘ und ‚Variante‘ zwar als formell zutreffende Termini technici gelten, doch auf konzeptueller Ebene trifft diese Differenzierung den Status von Malewitschs Bildern nicht. Vom Standpunkt ihres Urhebers aus gesehen müssen vielmehr alle Versionen als prinzipiell gleichwertig gelten. Die Reproduzierbarkeit des schwarzen Quadrats bewirkt nicht etwa einen Aura-Verlust, sondern eher im Gegenteil eine Aura-Akkumulation. Gemäß der Konzeption Malewitschs verfügt ein jedes Schwarze Quadrat, gerade in der dezidierten Einfachheit und Unregelmäßigkeit seiner Ausführung, über die quasisakrale Strahlungskraft der idealen Verkörperung des Suprematismus.
55 Zit. nach Dmitrij Sarabjanov (wie Anm. 28).
figurationen der wiederholung im werk von max ernst analogien zur psychoanalyse und ihre überschreitung
judith elisabeth weiss Psychoanalyse und Surrealismus sind bekanntermaßen zwei paar Stiefel. So unverzichtbar Freuds Kategorie des Unbewussten für surrealistische Paradigmen ist, so wenig lässt sich der Surrealismus als eine bloß künstlerische Umsetzung der Psychoanalyse begreifen. Nicht im Mindesten waren seine Apologeten an den therapeutischen Absichten Freuds interessiert, die auf eine Normalisierung zielte, betrieben sie ihre Kunst doch gerade als „Pioniere einer ersehnten umfassenden Denormalisierung“.1 Auch wenn der ‚Fall Freud‘ und die surrealistischen Annäherungs-, Abgrenzungs- und Überbietungsversuche in der Fülle der Forschungsliteratur unterschiedlich bewertet werden, so herrscht Einigkeit darüber, dass es vor allem die surrealistischen Transformationsprozesse waren, die psychoanalytische Begriffe, Motive und Methoden für die künstlerische Bewegung fruchtbar werden ließen.2 Tatsächlich stand im Surrealismus auch nicht die systematische Aneignung psychoanalytischen Wissens im Vordergrund des Interesses, vielmehr ging es um gezielte Anleihen bei Metaphern und Denkfiguren aus den Schriften Freuds und um die Ausschöpfung ihrer Suggestionspotenziale. Ödipus, Narziss, Gradiva, Zensur, Traum, Verdrängung und andere gehören zu den grundlegenden Figuren und Begriffen, deren psychoanalytische Setzungen es in ästhetische Umbesetzungen zu überführen galt. In der einschlägigen Forschung zum Verhältnis von Surrealismus und Psychoanalyse kommt Max Ernst eine Sonderrolle zu. Auf die psychoanalytische Modellierung seiner künstlerischen Verfahren wurde verschiedentlich hingewiesen, sein Status als „psychoanalytischer Maler, und zwar der erste“,3 herausgestellt. Max Ernst war ein passionierter Leser, und als einem solchen waren ihm die Schriften aus den Anfängen der Psychoanalyse wie etwa die Studien über Hysterie (mit Josef Breuer, 1895), Die Traumdeutung 1 Jürgen Link, Zur erotischen Faszination durch die nicht normale passante in und nach dem Surrealismus, in: Nanette Rißler-Pipka/Michael Lommel/Justyna Cempel (Hg.), Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz, Bielefeld 2010, S. 33–48, hier S. 38. 2 Vgl. Stefan Matuschek, Zensur der Zensur. Zur Theorie des Surrealismus, in: Peter Brockmeier/ Gerhard R. Kaiser (Hg.), Zensur und Selbstzensur in der Literatur, Würzburg 1996, S. 193–203; Renate Schlesier, Drei Visiten. Aus der Geschichte des Verhältnisses von Surrealismus und Psychoanalyse, in: Ortrud Gutjahr (Hg.), Kulturtheorie. Freiburger Literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 24, Würzburg 2005, S. 185–216, hier bes. S. 211. Zur Motivübernahme aus der Psychoanalyse siehe Briony Fer, Surrealism, Myth and Psychoanalysis, in: Dies./David Batchelor/Paul Wood, Realism, Rationalism, Surrealism. Art between the Wars, New Haven/London, 1993, S. 171–249. Zur surrealistischen ‚Interpretation‘ siehe David Lomas, The Haunted Self. Surrealism – Psychoanalysis – Subjectivity, New Haven/London 2000. 3 Ralph Ubl, Prähistorische Zukunft. Max Ernst und die Ungleichzeitigkeit des Bildes, München 2004, S. 110.
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(1900), Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905) und andere Texte von Freud bekannt; für seine künstlerische Arbeit zog er sie immer wieder heran.4 Das Prinzip der Wiederholung gibt sich mit Blick auf sein Frühwerk dabei in immer neuen Bezügen zwischen Surrealismus und Psychoanalyse zu erkennen. Um Wiederholung als konstituierenden Bestandteil der künstlerischen Arbeit Max Ernsts und als einen der fundamentalen Bausteine der psychoanalytischen Theorie zu konturieren, wird im Folgenden eine synoptische Leseweise vorgeschlagen. Gleichwohl sind die Arbeiten Max Ernsts keine Verdoppelungen respektive „Randbemerkungen“ zur psychologischen Literatur seiner Zeit.5 Dass er sich selbst verhalten, ja geradezu ausweichend gegenüber psychoanalytischen Zuschreibungen seines Werks positionierte, darf als belegt gelten.6 Ausgehend von der Frage, inwieweit Wiederholung im analytisch-therapeutischen Konzept von Freud in Einklang mit jener in der künstlerischen Praxis steht, gilt es die Analogien und Überschreitungen herauszuarbeiten, und mit ihnen die epistemische Dimension des Phänomens. Exemplarisch wird zu zeigen sein, dass Wiederholung im Surrealismus vor allem Differenz markiert.
der traum als ort der wiederholung: répétitions (1922) Als ein Mann des Buches war Max Ernst nicht nur ein interessierter Leser und sammelte sein Leben lang enzyklopädisch Zeitschriften, Bücher und Texte, er gestaltete auch selbst Bücher: Gemeinschaftsarbeiten mit befreundeten Dichtern, Collagenromane und Anthologien. Sein erstes illustriertes Buch erschien 1922, im Jahr seiner Übersiedlung nach Paris, als Kollektivarbeit mit Paul Éluard.7 Die Zusammenarbeit an diesem Band mit dem Titel Répétitions, der 33 Gedichte und elf Collagen versammelt, gestaltete sich weniger als synchrones Arbeiten an einem gemeinsamen Corpus. Vielmehr wählte Éluard aus einem bereits vorhandenen Collagen-Fundus seines Freundes Max Ernst verschiedene Blätter für seine Gedichte aus. Dies ist einigermaßen erwähnenswert, denn alleine das Verfahren gibt Aufschluss über das Prinzip der Wiederholung. Dieses ist zunächst einmal das Doppelspiel des Poeten und des bildenden Künstlers, im Text wiederholt sich Dargestelltes im Bild und umgekehrt. Doch gemäß der surrealistischen Maxime der Gleichrangigkeit von Bild und Text führen beide ein Eigenleben. Sie illustrieren sich nicht gegenseitig, bilden keine Interdependenzen und vereinen sich dennoch im gemeinsamen Bezug. Gedicht und Bild führen ein Zwiegespräch, in dem sich Wiederholung als ein komplexes Gefüge von Korrespondenzen zu erkennen gibt: 4 Vgl. Cornelis de Boer, Selbstzitat als Selbstporträt in Max Ernsts Notes pour une biographie. Die Identität des Künstlers als Collage, in: Klaus Beekman/Ralf Grüttemeier (Hg.), Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam 2000, S. 81–106, hier S. 84; Werner Spies, Max Ernst. Collagen – Inventar und Widerspruch II, Berlin 2008, S. 41f.; Werner Spies, Max Ernst und die Psychoanalyse, in: Ders., Die Rückkehr der schönen Gärtnerin. Max Ernst 1950–1970, Köln 1971, S. 38–44, hier S. 38. 5 Spies 2008 (wie Anm. 4), S. 37. 6 Vgl. hierzu Elizabeth Legge, Max Ernst. The Psychoanalytic Sources, London 1989, S. 28; siehe auch Spies 1971 (wie Anm. 4), S. 42. 7 Max Ernst/Paul Éluard, Répétitions, Paris 1922.
figurationen der wiederholung im werk von max ernst 163
Es sind die Verrätselungen, die Umkehrungen, die disparaten Bestandteile innerhalb von Text und Bild, die den poetischen Funken der „image-collision“8 von inneren und äußeren Bildern zünden. Vergeblich sucht man in dem Band, der die Wiederholung so prominent im Titel führt, mimetische Rückbezüge im Sinne eines Wiedererkennens des Gleichen. Die Kohärenz, die aus der Verknüpfung der Texte und Bilder in diesem Band hervorgeht, zielt nicht auf ein nochmaliges Abbilden im jeweils anderen Medium oder auf die Erinnerung an etwas Vorgängiges. Hinzu kommt, dass die Text-Bild-Kombinationen in der deutschen Ausgabe aus dem Jahr 1962, deren Gedicht-Übersetzungen von Max Ernst stammen, von der französischen Version abweichen. Dies verdeutlicht einmal mehr die Autonomie im Verhältnis von Text und Bild, ja geradezu das Spiel mit den Möglichkeiten der Rekombination. Jürgen Pech hat darauf hingewiesen, dass sich der Titel des Buches auf die Entstehung der Gedichte beziehen lässt: Éluard hatte Aufzeichnungen der letzten acht Jahre erneut gelesen und als Fundstücke der Erinnerung miteinander kombiniert. Dieses Konvolut aus Textfragmenten, Notizen von Träumen und automatischen Sätzen bezeichnete er als „Abfälle“ seiner Gedichte und ihren Entstehungsprozess als „Gedächtnisübung“.9 Texte und Bilder entsprechen sich somit in ihrer Genese, denn in einem Prozess des erneuten Konsultierens erfolgte ihre disparate Zusammensetzung. Wie lässt sich nun das Prinzip Wiederholung in Répétitions fassen, wenn es nicht in Bereichen des Mimetischen aufgehoben ist? Der französische Terminus ‚répétitions‘ eröffnet eine Dimension, die vor allem mit Blick auf die Collagen von Max Ernst von Bedeutung ist. Es handelt sich nämlich um einen Begriff aus der Theaterpraxis, der den Prozess bezeichnet, aus dem eine Inszenierung hervorgeht, auf Deutsch die ‚Proben‘. Die auf der Bühne gezeigten Inszenierungen beziehen ihre Existenzform alleine aus der ständigen Wiederholung in den Aufführungen. Wiederholung ist ein Modus des Denkens, den das Theater praktisch vollzieht.10 Répétitions versteht sich in diesem Sinne als eine Erprobung von Bildern mit der Öffnung eines Schauplatzes. Verschiedentlich wurde auf die besondere Anmutung der Räume, ja Bühnenräume, in den Collagen von Max Ernst aufmerksam gemacht.11 Unter dem Boden, so suggerieren einige der Blätter aus Répétitions, befindet sich ein weiterer Boden, und hinter Räumen öffnen sich andere Räume, einer Bühne gleich, auf der sich augenblicklich das Geschehen abspielt. Das Sujet des Bühnenraumes als Schauplatz durchzieht den gesamten Band: Eine Hand mit einem Blütenzweig reckt sich aus einer Öffnung am Boden, ein Frauentorso, ein Rinder- und ein Pferdekopf ragen aus dem Boden heraus, als ob darunter ein weiter Boden sei, auf einem Sockel steht ein Hirsch, während auf dem Boden dahinter verrenkte Gestalten liegen. Dabei entfaltet sich ein paradoxes Zueinander von Anwesenheit und Abwesenheit – Hände greifen von der Seite in die Szenerie, Figuren schauen aus dem Bild 8 Vgl. Werner Spies, Surrealismus mehr als Kunst, in: Friederike Reents (Hg.), Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur, Berlin/New York 2009, S. 11–22, hier S. 14. 9 Jürgen Pech, Die Fokussierung der Phantasie, in: Werner Spies (Hg.), Max Ernst. Une semaine de bonté. Die Originalcollagen, Ausst.-Kat. Albertina, Wien 2008/Max Ernst Museum Brühl 2008/Hamburger Kunsthalle 2008/09, Köln 2008, S. 286–305, hier S. 287f. 10 Siehe hierzu Dagmar Deuring, „… was dazu gehört, ein Mensch zu sein“. Wiederholung und Zeugenschaft. Zu einem Theater-Denken „nach Auschwitz“, München 2006. 11 Werner Spies, Max Ernst. Collagen – Inventar und Widerspruch I, Berlin 2008, S. 378f.
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heraus, Rückenansichten schaffen Uneindeutigkeit durch die verborgene Vorderseite, Bildelemente werden angeschnitten und fragmentiert. Der Betrachter „extrapoliert seine Imagination in die Nebenräume des Bildes“ und ist aufgefordert, nicht nur das Gezeigte zu registrieren, sondern das Bild auch außerhalb seiner Grenzen weiter zu denken.12 Was fehlt, ist das Weggeschnittene, das Ausgeblendete, das Überlagerte. Diese motivischen ‚Leerstellen‘, die über das Bild hinausdrängen, appellieren an eine Erweiterung des alltäglichen Sehens um die Dimension der Imagination. Der „andere Schauplatz“ des Sehens findet sich in der epochemachenden Traumdeutung von Sigmund Freud. 13 Mit der Aufrufung eines Ortes, auf den sich die Blicke richten, eben die Schaubühne, markiert Freud jenen Platz, auf den sich das Unbewusste zurückzieht unter den Bedingungen des Traumes, der Fantasie und der Halluzination. Freud beschreibt den Traum als Königsweg zu den libidinösen Leidenschaften des Unbewussten – und deshalb traf er auch ins Zentrum surrealistischer Interessen.14 Der Traum, so Freud, sei eine Wiederholung von Erfahrungen, die das Subjekt ins Unbewusste verschoben hat, in ihm manifestiere sich Verdrängtes. Die systematische Entschlüsselung der Träume stehe im Dienste der Erkenntnis des Träumenden und seiner Erfahrungen in der Kindheit. Sie sei ein Instrument der psychischen Diagnostik und Grundlage der therapeutischen Arbeit. Den Ausgangspunkt der analytischen Arbeit mit dem Traum nennt Freud den manifesten Trauminhalt, also die Traumerzählung, die den Traum wiedergebe. Die freie Assoziation des Träumers über seine Traumerzählung führe ihn dann bekanntlich zu den latenten, zu den tieferen Gründen. Innerhalb dieses Wiederholungsgeschehens bilden die ständigen Reformulierungen die Glieder der „psychischen Verkettung“.15 Die verschiedenen Texte, die das Subjekt in der Analyse und in der Therapie zu seinem Traum produziert, vermögen auf ihre Weise und gerade auch in ihren Entstellungen und Variationen wichtige Aspekte über das Unbewusste, über das Verdrängte auszudrücken. Mit dem Schauplatz als gemeinsamem Referenzpunkt ist es naheliegend, Répétitions als einen Versuch zu lesen, den kreativen Prozess analog zum Traum in Bild und Text zu erkunden. Verkettung ist auch hier das konstituierende Prinzip, das das surrealistische Gedicht im Allgemeinen und Paul Éluards Gedichte in Répétitions im Besonderen auszeichnet – Metaphernketten nämlich, in denen jedes Einzelbild an das ihm vorausgehende gebunden ist.16 Suite Dormir, la lune dans un œil et le soleil dans l’autre Un amour dans la bouche, un bel oiseau dans les cheveux, 12 Ebd., S. 379. 13 Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud/ Edward Bibring/Willi Hoffer u. a., Bd. 2/3, Frankfurt a. M. 1999, hier S. 51, siehe auch S. 541. 14 Vgl. Élisabeth Roudinesco/Michel Plon, Wörterbuch der Psychoanalyse. Namen, Länder, Begriffe, Wien/New York 2004, S. 1026 (Eintrag „Traum“). 15 Freud 1999 (wie Anm. 13), S. 121. 16 Eckart Pastor, Studien zum dichterischen Bild im frühen französischen Surrealismus. Untersuchungen zum Bildbereich des Feuers mit Hilfe einer systematischen Bildkonkordanz, Paris 1972, S. 30f.
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Parée comme les champs, les bois, les routes et la mer, Belle et parée comme le tour du monde Puis à travers le paysage Parmi les branches de fumée et tous les fruits du vent, Jambes de pierre aux bas de sable, Prise à la taille, à tous les muscles de rivière, Et le dernier souci sur un visage transformé Folge Schlafen – in einem auge den mond und die sonne im andern, Eine liebe im mund, einen schönen vogel im haar, Geschmückt wie die felder, die wälder, die wege, das meer, Schön und geschmückt, wie eine reise um die welt. Fliehe quer durch die landschaft, Zwischen den zweigen aus rauch und allen früchten des windes, Beine aus stein mit strümpfen aus sand, Bei der taille erfasst, bei allen flüssigen muskeln, Und mit der letzten sorge in einem erneuten gesicht.17 Auf den ersten Blick erlaubt ein solches Gedicht nicht, von einem symbolisierenden Verweisungszusammenhang zu sprechen. Daher mag es auch den Anschein erwecken, als ob es einem reinen Automatismus entsprungen sei. Schlafen steht am Beginn, und von hier aus breiten sich die assoziativen Pfade aus: Kosmologische Motive wie Sonne und Mond, Referenzen auf Flora und Fauna, der Topos der Liebe und die Auflösung des Körpers – dies sind die Sujets, die sich in den Gedichten begrifflich stetig wiederholen. Und dabei lässt sich im Zusammenprall gegensätzlicher sprachlicher Fügungen wie das Helle und Dunkle, das Feste und Flüssige, die belebte und unbelebte Natur mehr Kontrolle entdecken, als dem Surrealismus gemeinhin zugesprochen wird. Das eine Auge hängt mit dem anderen zusammen, Liebe steht in Korrespondenz zum Haar, der schöne Vogel ist an die Feder in der nächsten Zeile gebunden, die Wälder, die Wege, das Meer präfigurieren die Reise um die Welt, die Zweige deuten auf die Früchte, der Rauch auf den Wind, die Beine auf die Strümpfe und die Steine auf den Sand, das Flüssige (rivière) zielt auf das Verwandelte (transformé). Semantische Wiederholungen wechseln mit Modulationen des Klangs der Worte. Rhetoriken der Wiederholung – in den Gedichten tauchen sie etwa in Form der Anapher auf, der einmaligen oder mehrfachen Wiederholung von Worten am Anfang aufeinanderfolgender Verse und Strophen – können mit Oswald Schwemmer auf eine einfache Formel gebracht werden: „Wo sich nichts wiederholt, erkennen wir überhaupt keine Struktur.“18 Sie sind Mittel der 17 Max Ernst/Paul Éluard, Répétitions, Köln 1971 (1962), o. S., dt. Übersetzung von Max Ernst/ Rainer Pretzell; für die frz. Fassung 1922, siehe Anm. 7. 18 Oswald Schwemmer, Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005, S. 66; siehe auch Svenja Flaßpöhler/Tobias Rausch/Christina Wald, Vorwort, in: Dies. (Hg.),
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Akzentuierung und dienen dem Surrealismus zur obsessiven Mythologisierung seiner Hauptthemen: die Verkehrung der Welt und die Aufhebung der Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wahn und Vernunft, zwischen Subjekt und Objekt. Kongruent zu den Gedichten Éluards entfaltet sich in den Collagen Max Ernsts ein Verfahren der semantischen Wandelbarkeit, das in der Fragmentierung von Motiven und der Kollision von Disparatem gewollte Sinnstörungen hervorruft. Verkehrungen, wie etwa „Beine aus stein mit strümpfen aus sand“ im obigen Gedicht, finden ihre Entsprechung in Collagen wie der bewaffneten Kuh, die auf ihren Schlächter zielt, einer Figur, die außerhalb des Bildes imaginiert werden kann. Es ist der Topos der verkehrten Welt, der hier aufscheint. Schlafen, Auge, Mond und Sonne im zitierten Gedicht von Éluard korrespondieren mit dem Augapfel, der, von einem Faden durchbohrt, zwischen den Händen gehalten wird, ein Bild, das immer wieder mit dem Schnitt durch das Auge in Un chien andalou (1929) von Luis Buñuel in Verbindung gebracht wird (Abb. 1). Das durchbohrte Auge mit seiner Referenz auf die mythologische Gestalt des Ödipus ist eines der Hauptmotive Max Ernsts, dem man in zahlreichen seiner Werke begegnen kann. Das Motiv ist ein Grundmuster, das die Kategorie der Erinnerung an das eigene Werk gleichsam in das künstlerische Verfahren einbezieht. Der enteignete Blick und die verlorene Souveränität des Sehens – und nichts anderes ist Blendung und Blickstörung durch den Traum – führt zu der bereits erwähnten Erweiterung des Sehens. Es ist die Blindheit des Sehers, die zu einer Schärfung des Erkennens führt.19 Zeitgleich mit der Psychoanalyse kommt in Répétitions ein Verfahren zur Anwendung, in dem Verschiebung, Verdichtung und Konversion als künstlerische Strategien analog zu Traumbild und Traumerzählung ihre Kraft entfalten. Im gleichen Zuge präsentiert sich das Werk gerade nicht als psychoanalytischer Schaukasten der Traumarbeit, der die Funktionsweisen des Unbewussten und des psychischen Apparates vor Augen führte. Erinnert sei an dieser Stelle an Max Ernsts Traumprotokolle, die 1927 in der Zeitschrift La Révolution Surréaliste erschienen sind und die sich ganz offensichtlich als Dokumente der psychoanalytischen Bearbeitung zu erkennen geben wollen.20 Ganz nach dem Muster der Traumprotokolle in Freuds Die Traumdeutung finden sich in ihnen klassische Urszenen sexueller Art, Fehlleistungen der Erinnerung und ein Gewebe miteinander verbundener Verdichtungen. Die symbolischen Aufladungen der protokollierten Szenen legen eine innerpsychische Zensur nahe und orientieren sich an der von Freud aufgeführten Ätiologie einer Neurose. Die ästhetische Umkehrung besteht jedoch in der Ironisierung: Die Selbstpathologisierung und die Semantik von Trauma und Zensur werden mit dem Mittel des Humors und dem Instrument des Kalküls konterkariert. Auch hier geht es wieder um Sinnstörung. Später sollte Max Ernst in seinem Aufsatz Qu’est-ce que le surréalisme? (1934) schreiben: Kippfiguren der Wiederholung. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Figur der Wiederholung in Literatur, Kunst und Wissenschaft, Frankfurt a. M./Berlin/Bern u. a. 2007, S. 7–16, hier S. 8. 19 Zu Blendung und Blindheit im Surrealismus siehe Judith Elisabeth Weiss, Das Bett der Bilder. Zur Augenmetaphorik im Surrealismus, in: Reinhard Spieler (Hg.), Gegen jede Vernunft. Surrealismus Paris – Prag, Ausst.-Kat. Wilhelm-Hack-Museum und Kunstverein Ludwigshafen 2009/10, Stuttgart 2009, S. 214–219. 20 Max Ernst, Visions de demi-sommeil, in: La Revolution Surrealiste 9–10/Oktober 1927, S. 7; siehe auch Max Ernst, Écriture, Paris 1970, S. 237.
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1 Max Ernst, ohne Titel, Collage, 1920, aus: Max Ernst/Paul Éluard, Répétitions, Köln 1971 (1962), o. S.
„Wenn man also von den Surrealisten sagt, sie seien Maler einer stets wandelbaren Traumwirklichkeit, so darf das nicht etwa heißen, daß sie ihre Träume abmalen (das wäre deskriptiver, naiver Naturalismus), (sic) oder daß sich ein jeder aus Traumelementen seine eigene kleine Welt aufbaue, um sich in ihr gütlich oder boshaft zu gebärden (das wäre ‚Flucht aus der Zeit‘), sondern daß sie sich auf dem physikalisch und physisch durchaus realen (‚surrealen‘), wenn auch noch wenig bestimmten Grenzgebiet von Innen- und Außenwelt frei, kühn und selbstverständlich bewegen, einregistrieren, was sie dort sehen und erleben, und eingreifen, wo ihnen ihre revolutionären Instinkte dazu raten.“21 Wiederholung, so eine mögliche Lesart von Répétitions, bezeichnet einen Prozess der permanenten künstlerischen Reformulierung und Erneuerung. Das Buch ist das Ergebnis der Begegnung zweier Künstler und das Produkt eines Auswahlverfahrens, in dem zu bereits vorhandenen Texten vorhandene Collagen „zitiert“ wurden.22 Das
21 Max Ernst, Was ist Surrealismus?, in: Ders., Schnabelmax und Nachtigall. Texte und Bilder, Hamburg 32012, S. 77–85, hier S. 81f. 22 Spies 2008 (wie Anm. 11), S. 391.
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so verstandene Zitat, nämlich die Lösung von der identischen Wiederholung, kann immer nur Abweichung sein, ein Abweichen im Dienste der Novität.
collage als wiederherholung von bildern „Als ein der Collage verwandter Vorgang kann auch die – früher ‚Zusammenarbeit‘ genannte – systematische Verschmelzung der Gedanken von zwei oder mehr Autoren in einem Werk bezeichnet werden.“23 Wenn Max Ernst hier das Konzept des ‚Systematischen‘ ins Feld führt, so spielt er damit auch auf das grundlegende Verfahren der Collage an. In der Ganzheit der Collage sind deren Einzelelemente in einer Weise miteinander verbunden und aufeinander bezogen, dass eine sinngebundene Einheit, eine innerbildliche Logik entsteht, die Ernst „systematisch“ nennt. Die Schaffung von Collagen fasst er nicht als eine Bildstrategie auf, die es ermöglichte, alles mit allem zu kombinieren. Wie Werner Spies besonders in Inventar und Widerspruch herausgearbeitet hat, steht der Unendlichkeit des bereits existierenden Materials und vorhandenen Formenschatzes, dessen Max Ernst sich bedient – eben des Inventars –, die dezidierte Einschränkung des Materials – der Widerspruch – entgegen.24 Gegen die scheinbar uferlosen Kombinationen der Bilder und die schiere Unbegrenztheit des Materials tritt die Verarbeitung an. Die Herstellung von Collagen resultiert nicht nur aus einem Akt der Auswahl, einem Prozess der Integration und Verarbeitung, sondern entspringt ebenso einem acte de résistance, einer Widerständigkeit gegenüber dem Material- und Bildangebot: Diese Bilder werden ausgewählt und andere ausgespart.25 Der Terminus der „Zensur“ aus der Traumdeutung fungiert durchaus als ästhetische Kategorie der Verarbeitung, denn „die einmal kanonisierte Struktur filtert das Material“ und „dient als wählende Instanz“.26 Für den Verdrängungsmechanismus verwendete Freud die Metapher der Zensur als Ausdruck für den Umgang mit psychischen Inhalten, die Widerstände auslösen und daran gehindert werden, ins Bewusstsein zu treten. Unter den manifesten Trauminhalt fällt alles, woran sich der Träumende nach dem Aufwachen erinnern kann, Bilder, die dem Träumenden wie ein Rätsel oder ein fantastisches Gebilde erscheinen können. Im latenten Trauminhalt indes lässt sich nach Freud die eigentliche Traumbotschaft finden, er ist der Ort des Verdrängten, Tabuisierten, des Traumas und der sexuellen Wünsche. Freud beschreibt die sekundäre Bearbeitung des Traumes als einen Vorgang, in dem die ungeordneten und disparaten Traumbilder zusammengefügt und ihre Lücken und Zwischenräume gefüllt werden, indem die Traumerzählung eine relative Kohärenz des Traumes schafft. Zwei psychische Kräfte sind dabei im Spiel, der Wunsch und die Zensur – im surrealistischen Verfahren: Auswahl und Widerstand. 23 Max Ernst, An einem Regentag in Köln oder Die Entstehung der Collage, in: Ernst 2012 (wie Anm. 21), S. 86–93, hier S. 90–92. 24 Spies 2008 (wie Anm. 4) und Spies 2008 (wie Anm. 11). 25 Werner Spies (Hg.), Max Ernst. Skulpturen, Häuser, Landschaften, in: Ders. (Hg.), Max Ernst. Skulpturen, Häuser, Landschaften, Ausst.-Kat. Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, Köln 1998, S. 11–223, hier S. 21. 26 Spies 2008 (wie Anm. 11), S. 57; vgl. auch Paris/Düsseldorf 1998 (wie Anm. 25), S. 21.
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2 Max Ernst, ohne Titel, Collage, 1921, aus: Max Ernst/Paul Éluard, Répétitions, Köln 1971 (1962), o. S.
Auf die Praxis der Verarbeitung im Surrealismus und jene der Bearbeitung bei Freud kann hier nicht weiter eingegangen werden. Die Collagen von Max Ernst unterscheiden sich grundlegend von den kubistischen papiers collés, denn die Nähte des Zusammenfügens, die Unterschiede des Papiers und seine Schichtung verschwinden durch den folgenden Schritt der Reproduktion. Das materielle Zusammenfügen und die Verwendung vorgefundenen Materials werden zur Gänze ausgeblendet. Die Materialcollage wird zur rein semantischen Collage, und hierin liegt die wichtigste Innovation: Die Collagen als solche sind nicht mehr zu erkennen, es entsteht vielmehr die Illusion eines einzigen Bildes, der Traumarbeit vergleichbar. Nicht zuletzt deshalb wurden sie von einigen ihrer Interpreten als Analogie zur Traumdeutung aufgefasst und der Surrealismus entsprechend zwischen Manifestation und Latenz situiert. Zwischen Wiederholung und Zensur, zwischen den sich offenbarenden und den verborgenen Terrains der menschlichen Psyche ereignet sich aus dieser Perspektive der Surrealismus. In seiner Glosse zum Surrealismus Traumkitsch (1927) würdigte Walter Benjamin Max Ernst als Collageur von Traumbildern der Moderne. Es ist jene Collage, die den Band Répétitions eröffnet, die auch Benjamin ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, nämlich das Bild der vier Schuljungen (Abb. 2): „Sie wenden dem Leser, dem Lehrer und dem Katheder den Rücken und blicken über eine Balustrade hinaus, wo in der Luft ein Ballon steht. Mit seiner Spitze wiegt auf der Brüstung sich ein riesiger Bleistift. Die Repetition der kindlichen Erfahrung gibt zu bedenken: Als wir klein waren, gab es noch den beklemmenden Protest gegen die Welt unserer Eltern nicht. Als Kinder mitten in ihr zeigten
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wir uns überlegen. Mit dem Banalen, wenn wir es ergreifen, ergreifen wir das Gute, das, sieh, so nah liegt.“27 Durch die mimetische Identifikation mit den alten Formen seines Kinderzimmers offenbart sich „in Träumen wie in Satz und Bild gewisser Künstler (…) ein Wesen, das der ‚möblierte Mensch‘ zu nennen wäre“.28 Benjamin war das Ausgangsmaterial der Collage – eine Werbe-Illustration für Schultafeln aus der Jahrhundertwende – nicht bekannt. Auf dieser Abbildung schreiben vier Schuljungen unter dem wachsamen Auge des Lehrers Rechenaufgaben auf eine Tafel (Abb. 3). Max Ernsts künstlerischer Eingriff in das Bild lässt die Wand des Klassenzimmers verschwinden, stattdessen öffnet sich ein großes Fenster. Mit dieser geringfügigen Änderung im Bild ändert sich seine semantische Ebene: Die Schulkinder stehen nicht mehr brav an der Tafel, sondern wenden dem Lehrer den Rücken zu, und sie schreiben nicht, sondern halten die Hand wie zur Sichtverstärkung an die Augen, um in die Ferne zu schauen. Nur noch das große Stück Kreide, das auf der Spitze balanciert, erinnert an das Schreiben, während sich der Ständer zur Rechten zu einer Art Signalmast wandelt. Die unveränderte Pose des Lehrers erscheint umso grotesker, als es nun der surrealistische Unfug ist, der als ernsthafter Lehrgegenstand in Szene gesetzt wird.29 In Benjamins Deutung ist es der romantische Ausweg des Träumerischen und Wunderbaren, die sich der autoritären Instanz entgegenstellt. Stets hat Benjamin in seinen Schriften geschichtliche Konstellationen im Blick, in diesem Falle die verlorene Kindheit und den Verlust von Vorgängigem durch epochalen historischen Wandel. Siegfried Giedion erkennt ganz in diesem Sinne den therapeutischen Wert der Collagen von Max Ernst. Das surrealistische Interieur begreift er als eine Psychoanalyse, die vom unbewussten Fortwirken des bürgerlichen Ambientes befreit.30 Indem Max Ernst Bildmaterial vornehmlich aus Journalen des 19. Jahrhunderts und der Vorkriegszeit montierte, lässt sich der Schnitt der Collage gleichsam als Schnitt durch die historische Zeit begreifen. Die Methode der Wiederherholung von Motiven aus dem Reservoir unseres kulturellen Bildgedächtnisses wird so zu einer Reflexionsfigur des Ungleichzeitigen. Manifest Sichtbares und visuelle Latenz koppeln die Gegenwart des Sehens „mit einer verstellten, überblendeten, verschütteten, abgeschirmten, kurz: vergangenen oder künftigen Wahrnehmung“.31 Der wichtige Theoretiker der Wiederholung, Søren Kierkegaard, hat Wiederholung als ein zeitlich-räumliches Gefüge in Kippstellung beschrieben: Wessen man sich erinnert, das wird rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung vorwärts erinnert wird. Wiederholung ist so verstanden eine Relektüre, eine Revision 27 Walter Benjamin, Traumkitsch, in: Ders., Gesammelte Schriften, Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. II.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1989, S. 620–622, hier S. 621. 28 Ebd., S. 622. 29 Vgl. Burkhardt Lindner, Versuch über Traumkitsch. Die blaue Blume im Land der Technik, in: Heinz Brüggemann/Günter Oesterle (Hg.), Walter Benjamin und die romantische Moderne, Würzburg 2009, S. 229–246, hier S. 233f. 30 Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a. M. 1987, S. 400–402; vgl. auch Ubl 2004 (wie Anm. 3), S. 7f. 31 Ubl 2004 (wie Anm. 3), S. 7.
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3 Werbung für Königs Roll-Schultafeln, um 1900
des Dagewesenen, die „ein die Gegenwart durchwirkendes Verhältnis zur Zukunft unterhält“.32 Auf einer symbolischen Ebene wird die Wiederherholung von Motiven auch in einem Werk von Max Ernst buchstäblich zur Kippfigur. La femme chancelante aus dem Jahr 1923 ist das erste Gemälde, in dem Bildmotive in Collagetechnik durch Rekombination arrangiert werden. Als Bildvorlage dienten zwei technische Erfindungen: eine Maschine, die mit Öl die Meereswogen glättet, und eine Akrobatin, die mit magnetischen Schuhen an der Decke spaziert, zwei Illustrationen, die nebst technischer Beschreibung dem wichtigsten Formenreservoir des Künstlers entstammen, nämlich der Zeitschrift La Nature der 1880er Jahre.33 Max Ernst fügte diese beiden Komponenten zusammen, stellte die akrobatische Dame wieder auf die Füße, ohne jedoch die Auswirkungen der Schwerkraft eines Kopfstandes aufzuheben. Die Wiederholung lebt aus ihrem Versprechen auf eine andere Wiederholung. Max Ernst hat, wie aus diesen Beispielen deutlich wird, keine Verschlüsselung des Ausgangsmaterials vorgenommen und sich auch nicht auf die Suche nach seinem verschütteten Inhalt gemacht, den es rehabilitierend ins Bewusstsein zu überführen gälte. Das Freud’sche Modell des Rückschlusses vom Manifesten auf das Latente verkehrt sich in der Wiederherholung vielmehr in eine Entstellung von Bildern und ihrer semantischen Schichten.
32 Flaßpöhler/Rausch/Wald 2007 (wie Anm. 18), S. 13; Zitat nach: Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, Düsseldorf 1955. 33 Appareil pour lancer l’huile à la mer, in: La Nature, 1887.2, S. 120; La marche au plafond exécutée dans un cirque par une acrobate américaine au moyen de patins pneumatiques, in: La Nature, 1890.2, S. 256.
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eva oder wiederholung als permanente erneuerung Kurze Zeit nach dem Erscheinen von Répétitions kommt es zur Schaffung eines Werkkomplexes, der einer Serie gleich das Singuläre noch einmal vor Augen führt. Es handelt sich um Eve, la seule qui nous reste, ein Sujet, das Max Ernst 1925 wiederholt aufgegriffen hat.34 Angeregt wurde dieser Titel offensichtlich durch die Bemerkung eines Zeitungsverkäufers, der Max Ernst auf die Frage nach der Frauenzeitschrift Eve das letzte Exemplar mit dem Hinweis überreichte: „La seule qui nous reste.“35 Alleine diese Begebenheit mit dem Hinweis auf die „Einzige“ ist mit Blick auf die Praxis der Wiederholung von surrealistischer Raffinesse. In Diskursen um den Topos des Originals und des Originellen wird Wiederholung häufig mit der Zerstörung oder Subsumtion der Einzigartigkeit zusammengedacht. Im Eva-Zyklus hingegen wird die Unaufhebbarkeit des Singulären durch Wiederholung in den Blick gerückt.36 Als letztes Blatt des Zyklus Historie Naturelle präsentiert Eva, die einzige, die uns bleibt als Vollendung der Naturgeschichte nichts weiter als Hals, Nacken und Hinterkopf (Abb. 4). Das Motiv und das Verfahren der Frottage gehen dabei eine spannungsreiche Liaison ein. Einerseits realisiert sich im Durchreiben von Gegenständen der Prozess vom Taktilen zum Visuellen, vom Verborgenen zum Augenscheinlichen. Was hier als Hauptmotiv im Zentrum steht – Evas Haar – offenbart eine metaphorische wie auch metonymische Beziehung zwischen Bildmotiv und Frottierunterlage: Die Frottage eines Kamms bildet die Textur von Evas Haar. Im gleichen Zuge ist das Motiv der Rückenfigur eine visuelle Trope der Unzugänglichkeit, eine paradoxe Schwellenfigur, die zwischen Suggestion und Uneindeutigkeit oszilliert. Eva als Urfigur der weiblichen Gestalt, die endlos im kulturellen Erinnerungsreservoir aufscheint, präsentiert sich als antinomische Gestalt, in der Zeigen und Verbergen zusammenfallen. Gleichzeitig wird sie zur Figur der Übertragung, denn die göttliche Abkehr vom Menschen im Moment der Vertreibung aus dem Paradies spiegelt sich in der Blickabkehr der Eva: Es ist die Naturgeschichte des Menschen, die nun beginnen kann. Und so erschließt die Frottage mit der Erstarrung der durchgeriebenen Gegenstände eine fossile, eine zeitenthobene und – mit der Abkehr der Eva – eine menschenleere Welt. Innerhalb der Histoire Naturelle verwendet Max Ernst identische Formen in unterschiedlichen Strukturzusammenhängen. Die Frottage des Kamms lässt das Haar der Eva hervortreten und beendet den Zyklus in der Hervorbringung der Wellen.
34 Im Werkkatalog sind sechs Versionen unter dem Titel Eve, la seule qui nous reste aus dem Jahr 1925 aufgeführt. Weitere Arbeiten aus diesem Jahr ähneln dem Werk in Struktur und Komposition, siehe Werner Spies (Hg.), Max Ernst. Œuvre-Katalog, Werke 1925–1929, Köln 1976, S. 17 und S. 79–81. 35 Zit. n. Werner Spies, Die Desaster des Jahrhunderts, in: Wien/Brühl/Hamburg 2008/09 (wie Anm. 9), S. 10–71, hier S. 68, Anm 33. 36 Zur Unaufhebbarkeit des Singulären siehe Samuel Weber, Einmal ist Keinmal. Das Wiederholbare und das Singuläre, http://hydra.humanities.uci.edu/derrida/sam1.html (Letzter Zugriff: 30. September 2016): „Einmal ist keinmal, wenn das eine Mal erst durch Wiederholung zu dem wird, was es ‚eigentlich‘ sein soll: etwas, das mit sich identisch ist und als solches erkennbar.“
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4 Max Ernst, Eve, la seule qui nous reste, 1925, Frottage, Bleistift auf Papier, 43,1 × 26,1 cm, aus der Serie Historie Naturelle, 1926, Museum of Modern Art, New York
Die Überführung der Frottage-Strukturen in die Ölmalerei (Abb. 5) bändigen die fein ziselierten Durchreibungen, mit denen Max Ernst eine bildliche Entsprechung der écriture automatique in den Surrealismus eingeführt hat. Mündet die Wiederherholung von Bildern in der Collage in Differenz, so resultiert die Selbstwiederholung bei Max Ernst in der Modulation eines Motivs, die mit explorativen und lustvollen Materialexperimenten einhergeht. Im Gestischen der Malerei deuten die Haare in Ansatz und Nacken eine forma serpentina an, die in der surrealistischen Variante von Max Ernst einer absurden Verkehrung unterliegt. Denn zumindest in ihrer Idee lädt die figura serpentinata den Betrachter dazu ein, sie zu umschreiten und von allen möglichen Blickwinkeln aus zu betrachten. Die hartnäckig in Rückansicht verharrende Figur konterkariert gleichsam die Bewegung des Haars. Vielleicht sind es die Schlangen- und Vulva-artigen Figurationen im Haar, die die Figur dazu prädestinieren, sie als Eva/ Maria im Kontext ihrer religiösen Konnotationen zu reflektieren: Eva als Urmutter der Menschheit und Maria als Begründerin des Neuen Testaments und Symbol der Hoffnung werden als „einzige, die uns bleibt“ aufgerufen.37 37 Werner Spies/Anja Müller-Alsbach (Hg.), Max Ernst. Im Garten der Nymphe Ancolie, Ausst.-Kat. Museum Tinguely, Basel, 2007/08, Ostfildern-Ruit 2007, S. 110.
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5 Max Ernst, Eve, la seule qui nous reste, 1925, Öl auf Leinwand, 46,2 × 29 cm, Fondazione Marguerite Arp, Locarno
Flankiert von einer roten Rose mit Dornen, einem hochbesetzten Motiv in der christlichen Ikonografie, das auf die Passion Christi und sein Blut verweist, begegnet uns Eva in Amour violent wieder, einem Werk, das ebenfalls 1925 entstanden ist (Abb. 6). Das in Struktur und Komposition an die Frottage angelehnte Werk greift auf einer inhaltlichen Ebene nachdrücklich den Topos der Liebe auf. Die weibliche Gestalt wird flankiert von einer roten Rose mit Dornen, einem hoch besetzten Motiv in der christlichen Ikonografie, das auf die Passion Christi und sein Blut verweist und in Amour violent als Gewalt der Liebe deutbar wird. Es sind die Schichten, die es in der Grattage wegzukratzen gilt, um das Bild hervortreten zu lassen. Diese wiederholte Bearbeitung des eigenen Formenschatzes führt deutlich die idealtypische Synthese von Inhalt und Technik vor Augen. Unerbittliche Kratzspuren im Bild lassen sich mit der Dornenrose in Verbindung bringen ebenso wie mit dem Schriftzug „amour violent“. Das Trauma der Liebe, es scheint von der mit dem Schriftzug korrespondierenden Signatur von Max Ernst authentifiziert. Das Register des assoziierbaren Schmerzes verleiht der Darstellung etwas Zwingendes. Wiederholung als Zwang? Das in Verbindung mit dem Zyklus kursierende Kompositum Eva/Gala suggeriert es, und es ist naheliegend, dass der Werkkomplex der sich abkehrenden Eva in der Max-Ernst-Forschung auch biografisch gedeutet wurde. Zum Zeitpunkt seines Entstehens war die Ménage-à-trois zwischen Max Ernst, Paul Éluard
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6 Max Ernst, Amour violent, 1925, Öl auf Karton, 71 × 50 cm, Sammlung Caspar H. Schübbe
und Gala gerade zu Ende gegangen – und die sich abwendende Eva wurde, wie im Übrigen auch La femme chancelante und weitere Werke, zum Teil des Gala-Mythos.38 In zwei Versionen bindet Max Ernst die Figur der Eva an ihren Schatten, der in Form eines Phallussymbols auf der Wand zur Rechten gleichsam als Gegenpart und Negativ der weiblichen Gestalt aufscheint. Es ist zu vermuten, dass dem Autor von Jenseits der Malerei (1936) die grundlegende Schrift Freuds, die die Wiederholung im Traum um das Trauma erweitert, bekannt war.39 In Jenseits des Lustprinzips (1920) und einige Jahre zuvor im Aufsatz Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten (1914) reflektierte Freud die Wiederholung
38 Etwa bei Ubl 2004 (wie Anm. 3), S. 107; Robert McNab, Ghost Ships. A Surrealist Love Triangle, New Haven/London 2004, S. 222. 39 Max Ernst, Jenseits der Malerei, in: Günter Metken (Hg.), Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Stuttgart 1976, S. 326–332; siehe auch: Max Ernst, Au-delà de la peinture, in: Cahiers d’Art XI, 6/7, 1936, S. 149–184.
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als grundlegendes regulatorisches Prinzip.40 Hier entwickelte er die theoretischen Bedingungen, um die Konzepte Zwang und Wiederholung zu verbinden. Der Wiederholungszwang trage einem unbewussten und unbeherrschbaren Vorgang Rechnung, der das Subjekt dazu veranlasse, leidvolle und schmerzhafte Erfahrungen, Gedanken und Träume zu wiederholen. In der psychoanalytischen Therapie komme es zu Formen des Wiederholungszwangs, die nicht dem Lustprinzip unterstehen, sich eben ‚jenseits des Lustprinzips‘ artikulieren. Freud rekurriert auf die schmerzhaften Kindheitserinnerungen oder Kriegstraumata seiner Patienten, die nicht erinnert, sondern wiederholt würden, und zwar in der Übertragung, in Träumen und in Zwangshandlungen. Im Wiederholungszwang melde sich Verdrängtes und sein konservierender Charakter. Dem Leser seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips präsentiert Freud zunächst nicht die Erzählung von Neurosen, sondern ein theatralisches Kinderspiel: Ein kleiner Junge wirft eine Garnspule immer wieder über sein Bettchen, lässt sie verschwinden und holt sie am Faden wieder zurück. Dieses Spiel begleitet er fortwährend mit Lauten, die „fort“ bedeuten, und einem freudigen „da“, wenn die Spule wieder auftaucht. In der Deutung Freuds bearbeitet der Junge damit die schmerzliche Trennung von seiner Mutter und ihr Wiederkommen. Die Wiederholung der Situation sei gleichsam die Entschädigung, um das Fortgehen der Mutter ohne Sträuben zulassen zu können.41 Freuds Psychoanalyse zielt auf eine Bewusstwerdung, die den Wiederholungszwang aussetzen soll – durch die Erinnerung, die mit dem Durcharbeiten des Traumas einsetzt. Folgt man der Einschätzung Theodor W. Adornos, so betreibt der Surrealismus weniger das Durcharbeiten als vielmehr die Wiederholung von historisch (und biografisch) Unbewusstem: „Man wird also die Affinität zur Psychoanalyse nicht in einer Symbolik des Unbewußten vermuten dürfen, sondern im Versuch, durch Explosionen Kindheitserinnerungen aufzudecken. Was der Surrealismus den Abbildern der Dingwelt hinzufügt, ist, was uns von der Kindheit verlorenging.“ Es ist allerdings nicht die „Selbstversenkung“, sondern das Bild als Fetisch, an das „Libido sich heftete“.42 Psychoanalytischen Explikationen surrealistischer Werke und methodischen Analogien erteilt Adorno eine klare Absage mit der Kritik der ästhetischen Banalisierung und Verharmlosung des Surrealismus. Das werkkonstituierende Prinzip der Wiederholung entfaltet sich im Œuvre von Max Ernst in unterschiedlichen Facetten. In Répétitions mag es uns als heuristische Kategorie begegnen, die Bereichen des Nicht-Mimetischen zugeordnet werden kann. 40 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Anna Freud/Edward Bibring/Willi Hoffer u. a., Bd. 13, Frankfurt a. M. 1999, S. 3–69; Ders., Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Anna Freud/Edward Bibring/Willi Hoffer u. a., Bd. 10, Frankfurt a. M. 1999, S. 125–136. 41 Freud 1999 (wie Anm. 40), S. 12f. 42 Theodor W. Adorno, Rückblickend auf den Surrealismus, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, S. 101–105, hier S. 104.
figurationen der wiederholung im werk von max ernst 177
7 Max Ernst, Eve, la seule qui nous reste, 1925, bemalter Gips auf Leinwand, 48 × 33,5 cm, Sprengel Museum Hannover
In der Wiederherholung vorhandener Bildrepertoires im Verfahren der Collage indes lässt sich das Ausgangsmaterial wiedererkennen, Wiederholung mündet aber auch hier in eine verblüffende Differenz. Als Werke führen einige der Collagen ein Doppelleben, nämlich als kolorierte Originale mit Titeln und als Reproduktionen in den Gemeinschaftsbüchern und Collagen-Romanen, wo sie durch das Fehlen der Titel einer noch größeren Unbestimmtheit überführt werden. Auf einer motivischen Ebene kehren bei Max Ernst einzelne Themen in Schleifen wieder, legen hier und dort in Werkserien möglicherweise einen Zwischenstopp ein, um schließlich durch die stete Wiederholung ihren echoartigen Widerhall beim Betrachter zu bewirken. Dies können Formkonkordanzen und toposhafte Motivketten wie das bereits erwähnte (durchstoßene) Auge sein, der Wald, der Vogel, aber auch Themen wie die kopflose Frau, die schöne Gärtnerin oder Eva, die in schöpferischer Wandelbarkeit durch das Œuvre wandern. Die Wiederverwendung des Gleichen dient dem Programmatischen und Manifesthaften, sie verleiht dem Gesamtwerk eine erkennbare Identität. Künstlerische Strategien entfalten sich ebenfalls als archivierende Geste der Bewahrung, wenn die Bilder auf der Stelle treten. Im gemeinschaftlichen Buch Les malheurs des immortels (1922) von
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Paul Éluard und Max Ernst taucht die Garnspule, nebenbei bemerkt, in Vermählung mit insektenhaften Nähnadeln und einem Revolver auf.43 Wie gezeigt wurde, geht die Wiederholung in der surrealistischen Welt der entstellten Identitäten über die Wiederkehr des Verdrängten hinaus. Dies gilt es in der allzu unbeschwerten Analogisierung von Surrealismus und Psychoanalyse zu bedenken. Während Freud die rindenartige Verhärtung des Ichs beschreibt, inszenieren Max Ernsts Bilder, „wie diese Schicht Risse erhält und in Bewegung gerät, von Vexierbildern zerschnitten und auf tiefere Schichten hin geöffnet wird“.44 In einer weiteren Inkarnierung der Eve, la seule qui nous reste kehrt sich der Prozess der Frottage vom Taktilen zum Ikonischen um (Abb. 7). Der Figur als Gipsrelief verleiht Max Ernst eine haptische Qualität, gerade so, als ob er das Ungreifbare der Rückengestalt mit der begreifbaren Objekthaftigkeit durchkreuzen wolle. Die zerklüftete Beschaffenheit von Figur und Grund bildet eine einheitliche Fläche, lediglich eine schwarze Kontur markiert die Gestalt der Eva, die gleichsam zum Strukturträger wird. In diesem Sinne ist es nicht die Morphologie des Werks von Max Ernst, die zum Vorbild werden konnte, sondern die prinzipielle Strukturierung von Freiheit,45 einer Freiheit des Gestaltens, die jene eingangs erwähnten ästhetischen Umbesetzungen von psychoanalytischen Setzungen erlaubt. In einem gleichsam nachgetragenen Selbstkommentar, den wir in unserem Zusammenhang nicht umgehen können, führt Max Ernst in Jenseits der Malerei die Entdeckung der Frottage auf einen „visuellen Zwang“ zurück: „An einem regnerischen Tag in einem Gasthaus an der Küste wurde ich gepackt von dem visuellen Zwang und der Irritation, die vom Anblick Tausender von Kratzspuren auf den Fußbodendielen ausgingen. Ich entschloß mich, der Symbolik dieses zwanghaften Vorgangs nachzugehen, und machte zur Unterstützung meiner meditativen und halluzinatorischen Fähigkeiten eine Reihe von Zeichnungen der Dielen. Dabei legte ich willkürlich Zeichenblätter auf den Boden und rieb mit der Bleistiftmine darüber.“46 Die Beharrungsmacht der Wiederholung weicht den Kinderspielen, die ganz bewusst und kontrolliert eingesetzt werden. Zerschneiden von Bildern, Gegenstände durchreiben, Herauskratzen von Motiven, Übermalen – das Spiel reicht bis hin zur Inszenierung des eigenen ‚Unbewussten‘ und einer Ironisierung des Psychopathologischen in den surrealistischen Traumprotokollen, die den Freud’schen Sprachduktus wiederholen oder den niedergeschriebenen Kindheitserinnerungen, die gezielte Anrufungen regressiver und ödipaler Situationen sind. Das repetitive Unbewusste, so könnte man vielleicht resümieren, weicht einem produktiven Unbewussten und der „visuelle Zwang“ dem Spiel mit der Unvermeidlichkeit der Bilder. Mit dem Befund, dass sich Bilder allenthalben aufdrängen, schließt sich zwar wieder der Kreis zwischen Freud und dem Surrealismus: 43 Max Ernst, Le fagot harmonieux, in: Paul Éluard/Max Ernst, Les malheurs des immortels, Paris 1922, S. 16. 44 Ubl 2004 (wie Anm. 3), S. 130. 45 Vgl. Spies 2008 (wie Anm. 4), S. 218. 46 Ernst 1976 (Anm. 39), S. 327.
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Wiederholung ist die Wiederkehr des Verdrängten, das Verdrängte jedoch wiederholt sich niemals in genau der exakt gleichen Weise wie das traumatische Erlebnis selbst. Die Wiederholung des Gleichen mündet niemals im Selben. Der fundamentale Unterschied ist jedoch, dass der psychische Apparat einen Wiederholungszwang hervorbringt, während die ästhetische Praxis aus Wiederholungsfreiheit schöpft.
die replik als erinnerungsbild über marcel duchamps re-mades
lars blunck Marcel Duchamp (1887–1968) war, so scheint es zumindest, einer der großen Wiederholungstäter in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Wie kaum ein anderer Künstler zuvor hat Duchamp über Jahrzehnte hinweg eigene Werke reproduziert. Bereits im Jahr 1914, im Alter von nicht einmal 28 Jahren, hat er eigene handschriftliche Notizen faksimiliert und die Faksimiles in Schachteln als Auflagenobjekte in einer Edition von fünf Exemplaren versammelt. Ein Jahr später ließ er sein berühmtes Gemälde Nu descendant un escalier von 1912 fotomechanisch reproduzieren und retuschierte den Abzug eigenhändig. Seit den 1930er Jahren dann hat Duchamp sich, wenn man so will, permanent selbst wiederholt. 1934 faksimilierte er erneut Dutzende Notizen und edierte diese, diesmal in einer hohen Auflage von immerhin 320 Schachteln (die sogenannte Boîte verte). Im gleichen Jahrzehnt begann er die Arbeit an seiner berühmten Boîte-en-valise, seine portable Miniatur-Retrospektive im Kofferformat, die heute in vielen Hundert Exemplaren überkommen ist. Vor allem aber sind es seine sogenannten Readymades aus den 1910er und frühen 1920er Jahren, die Duchamp insbesondere seit den 1950er Jahren immer wieder ‚wiederholt‘ hat. Bereits die entsprechenden Angaben in Duchamps Catalogue raisonné zeigen an, dass er seine ursprünglichen, oder besser: seine initialen „Readymade-Objekte“1 dutzendfach, wenn nicht – je nach Zählweise – sogar hundertfach ‚wiederholt‘ hat.2 Was sich auf den ersten Blick als klarer Fall darstellt, offenbart sich bei genauerer Betrachtung als ausgesprochen vertrackt. Denn Duchamp war – in einer praxologischen Perspektive – beileibe nicht jener Wiederholungstäter, für den man ihn zunächst halten könnte. In einer solchen Perspektive, die das „praxische Wesen der Kunst“ in ihr Zentrum rückt und die Kunst primär von den „Prozessen des Schaffens“, vom „Akt des Kunst-Machens“ und nicht von den Kunstobjekten her begreift,3 erweist sich das Gegenteil als zutreffend: Duchamp hat es gerade vermieden, sich zu wiederholen. Ja, er hat die Wiederholung zeitlebens vehement abgelehnt. 1967, ein Jahr vor seinem Tod, soll Duchamp im Gespräch mit Werner Spies erklärt haben: „Ich achte immer fanatisch darauf, mich nicht zu wiederholen.“4 1 Marcel Duchamp, Interview mit Jeanne Siegel, 1967, dt. abgedruckt in: Serge Stauffer, Marcel Duchamp. Interviews und Statements, hg. von Ulrike Gauss, Ostfildern-Ruit 1992, S. 212–220, hier S. 215. 2 Arturo Schwarz (Hg.), The Complete Works of Marcel Duchamp, New York 2000, S. 597–691. 3 Anke Haarmann, Praxisästhetik, in: Daniel Martin Feige/Judith Siegmund (Hg.), Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, Bielefeld 2015, S. 215–232, hier S. 226. 4 Marcel Duchamp, Interview mit Werner Spies, 1967, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 231f., hier S. 231.
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die masturbation der wiederholung und die idee des readymades „Es gibt nichts Langweiligeres als die Wiederholung“,5 deklamierte Duchamp 1967. „Die Idee der Wiederholung scheint mir schrecklich“,6 hatte er bereits ein Jahrzehnt zuvor erklärt. Als Künstler könne man „drei, vier verschiedene Dinge machen. Alles andere ist Wiederholung. Renoir, zum Beispiel: ein Akt, zwei Akte, drei Akte – dann war alles nur noch gleich“.7 Renoir habe einen „Wiederholungsjob“8 erledigt. Er habe allein aus einem „Bedürfnis der Gewohnheit“9 heraus „so viele Akte“ produziert; ein Bedürfnis, das letztlich zur permanenten Wiederholung geführt habe. Und dennoch – absurd genug – werde ausgerechnet in der Malerei ein „Kult des Originals“,10 ein „Kult der Einmaligkeit“11 gepflegt. Duchamp mag seine Kritik an der Wiederholung in seiner zweiten Lebenshälfte ebenso rigide wie ironisch zugespitzt haben, gleichwohl entsprach seine altersweise Kritik Duchamps lebenslanger Grundüberzeugung, etwa wenn er erklärte, die Wiederholung sei „eine Form des Todes“,12 sie sei „ ganz allgemein der große Feind der Kunst“.13 Die „Wiederholung bei einem Künstler“ sei für ihn „eine Art von Masturbation“.14 Dabei war Duchamps Ablehnung der Wiederholung auf das Engste verbunden mit seiner Aversion gegen die Malerei, die der junge Marcel spätestens seit dem Jahr 1913 ausgebildet hatte und die den älteren Duchamp später zu teils heftigen Polemiken verleiten sollte. So meinte Duchamp in hohem Alter feststellen zu dürfen, dass Maler geradezu abhängig von der Malerei seien. Malerei sei der blanke „Olfaktorismus“.15 5 Marcel Duchamp, Interview mit Jean-Paul Deron, 1967, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 220f., hier S. 220. 6 Marcel Duchamp, Interview mit Joan J. Tharrats, 1958, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 71f., hier S. 72. 7 Marcel Duchamp, Interview mit Rosa Regás, 1965, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 189–192, hier S. 190. Der nachfolgende quellenkritische Rückgriff auf die Aussagen Duchamps legitimiert sich aus methodologischen Prämissen, die ich andernorts ausführlich dargelegt habe. Siehe hierzu u. a. Lars Blunck, Theoriebildung als Praxis. Zum kunsthistorischen Stellenwert der Künstlertheorie, in: Eva Ehninger/Magdalena Nieslony (Hg.), Theorie2. Potenzial und Potenzierung künstlerischer Theorie, Bern 2014, S. 17–32; Ders., „Der Mob schaut zu“. Zum kunsthistorischen Quellenwert des Künstlergesprächs – seit Duchamp, in: Lars Blunck/Michael Diers/Hans Ulrich Obrist (Hg.), Das Interview. Formen und Foren des Künstlergesprächs, Hamburg 2013, S. 170–194. 8 Marcel Duchamp, Interview mit Otto Hahn, 1964, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 174–177, hier S. 174. 9 Marcel Duchamp, Interview mit Georges Charbonnier, 1960, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 87–116, hier S. 90. 10 Marcel Duchamp, Interview mit Otto Hahn, 1966, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 200–207, hier S. 205. 11 Marcel Duchamp, Interview mit Katherine Kuh, 1961, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 117–121, hier S. 120. 12 Marcel Duchamp, Interview mit Jean-Marie Drot, 1963, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 158–168, hier S. 167. 13 Marcel Duchamp, Interview mit Francis Roberts, 1963, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 153–158, hier S. 156. 14 Marcel Duchamp, Interview mit Georges Charbonnier, 1960 (wie Anm. 9), S. 90. 15 Marcel Duchamp, Interview mit Alain Jouffroy, 1961, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 129–137, hier S. 132.
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Maler würden malen, da sie „Olfaktorier“ seien, die „vor allen Dingen das Bedürfnis“ hätten, „Terpentinöl zu riechen“, Malen sei eine „olfaktorische Masturbation“, Malerei sei „eine Form der großen einsamen Lust, onanistisch fast“.16 Gleichsam aus ihrer Sucht heraus malten Maler, bis sie tot umfielen. Dabei sei, wie Duchamp 1958 so kokett wie wortspielerisch bemerkte, „seit die Generäle nicht mehr à cheval – hoch zu Ross – sterben, (...) die Maler nicht mehr gezwungen, à leur chevalet – an ihrer Staffelei – zu sterben“.17 Maler jedoch hätten dieses „olfaktorische Bedürfnis“, sie würden sich wiederholen, weil sie den „Terpentingeruch“18 bräuchten. Sein „Bedürfnis nach Gewohnheit“19 veranlasse den Maler zu unablässigen Wiederholungen der immer gleichen Tätigkeit: „Brot, Butter, Terpentin – das“, erklärte Duchamp 1958, „wird zur Gewohnheit“.20 Unweigerlich stelle sich bei Malern die Wiederholung ein. Und die „Wiederholung derselben Sache“ werde zu Habitus, zu Stil, Manier, zur permanenten Selbstwiederholung, mithin „zu einem Geschmack“.21 Der Maler als unreflektierter Terpentinjunkie und leinölschnüffelnder Triebtäter: Maler wären demnach die wahren Wiederholungstäter in der Kunst! Sie fänden Gefallen daran, immer das Gleiche zu tun. Und ganz so, wie sich als Künstler zu wiederholen, bedeute, seinem Geschmack zu verfallen, ziehe umgekehrt der Geschmack unweigerlich Gewohnheit und Wiederholung nach sich. Duchamp hatte das Verhältnis von Wiederholung und Geschmack mithin als reziprok aufgefasst. Geschmack erzeuge Wiederholung, Wiederholung sei geschmacksbildend: ein nachgerade undurchtrennbares Möbiusband künstlerischer Wiederholungstäterschaft. Da nun Duchamp so strikt gegen den Geschmack, zumal gegen den „persönlichen Geschmack“22 sowie explizit gegen die damit eng verknüpfte künstlerische Selbstwiederholung opponierte, hatte er sich konsequenterweise bereits in den 1910er Jahren davor hüten müssen, Wiederholung und Geschmack in seiner künstlerischen Praxis walten zu lassen. Aus seinem vehementen Widerspruch gegen die Wiederholung resultierte eine alternative Form künstlerischer Praxis: das Readymade. Mit dem Readymade wollte Duchamp der Redundanz des Malens entkommen. „Das Readymade“, erklärte Duchamp 1964, „ist die Konsequenz aus der Weigerung, die mich sagen ließ: ‚Es gibt so viele Leute, die von Hand Bilder machen, daß man so weit kommen müsste, die Hand nicht mehr zu gebrauchen.‘“23 Das frühe Readymade war folglich eine Opposition gegen das „artistische Handwerk“24 der Maler, gegen „die leichte Hand, die irgendetwas auf die Leinwand schmeißt und zu einem Bild macht“.25 Mit dem Readymade habe er 16 Marcel Duchamp, Interview mit Georges Charbonnier, 1960 (wie Anm. 9), S. 90. 17 Marcel Duchamp, Interview mit Alain Jouffroy, 1958, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 72–74, hier S. 74. 18 Marcel Duchamp, Interview mit Georges Charbonnier, 1960 (wie Anm. 9), S. 90. 19 Ebd. 20 Marcel Duchamp, Interview mit Joan J. Tharrats, 1958 (wie Anm. 6), S. 71. 21 Marcel Duchamp, Interview mit James Johnson Sweeney, 1955, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 53–61, hier S. 57. 22 Marcel Duchamp, Interview mit Katherine Kuh, 1961 (wie Anm. 11), S. 120. 23 Marcel Duchamp, Interview mit Otto Hahn, 1964 (wie Anm. 8), S. 174. 24 Marcel Duchamp, Interview mit James Johnson Sweeney, 1955 (wie Anm. 21), S. 61. 25 Marcel Duchamp, Interview mit Jean-Marie Drot, 1963 (wie Anm. 12), S. 164.
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sich gegen das auf Wiederholung angelegte „Rezeptemachen“26 aufgelehnt. Für ihn, so Duchamp rückblickend, sei seit den frühen 1910er Jahren die Vorstellung „vom Maler und seinem Pinsel, seiner Palette, seinem Terpentingeist“ schlichtweg „nicht mehr verbindlich“27 gewesen. Im Gegenteil: Duchamp wollte mit ‚Kunst‘ nichts mehr zu tun haben, wollte, wie er sagte, nicht mal mehr „Künstler genannt werden“.28 In einer Notiz aus den frühen 1910er Jahre hatte Duchamp sich die Frage vorgelegt: „Kann man Werke machen, die nicht ‚Kunst‘ sind?“29 Das Readymade war der Versuch einer Antwort. Die „Readymade-Idee“,30 wie Duchamp sie nannte, hatte sich seiner Erkenntnis verdankt, dass es keine creatio ex nihilo gebe, alles sei ein Machen mit bereits Gemachtem! So würden Maler mit vorfabrizierten Tubenfarben malen; warum aber sich dann nicht auf etwas anderes bereits Gemachtes zurückziehen, wenn es gilt, die ‚Kunst‘ zu vermeiden, wenn es gilt, der Frage beizukommen, ob man Werke machen könne, die gerade keine ‚Kunst‘ seien, kein manieriertes künstlerisches Handwerk, keine Frage des Geschmacks, keine Wiederholung der immer gleichen Tätigkeit? Duchamp gelangte dazu, bloß mehr Readymade-Objekte auszuwählen, sie zu inskribieren und bisweilen zu signieren – eine neue, kaum mehr artistisch, eher an-artistisch zu nennende Form künstlerischer Praxis. Über den berühmten Flaschentrockner beispielsweise berichtete Duchamp rückblickend: „1914 habe ich den Flaschentrockner (Porte-bouteilles, L. B.) gemacht. Ich habe ihn einfach im Hôtel-de-Ville-Warenhaus gekauft. (...) Es gab eine Beschriftung auf dem Flaschentrockner, aber an den Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern. Als ich nämlich damals aus der rue Saint-Hippolyte auszog, um nach Amerika zu gehen, haben meine Schwester und meine Schwägerin alles abgeholt und auf den Müll geworfen. (...) Es war vor allem 1915, in den Vereinigten Staaten, als ich auch andere Objekte beschriftete (...). Zu dieser Zeit machte sich auch das Wort ‚ready-made‘ bemerkbar, das mir als Bezeichnung für diese Sachen sehr adäquat erschien, weil sie weder fertige Kunstwerke, noch Entwürfe, noch Dinge waren, auf welche die herkömmlichen Begriffe der bildenden Kunst zutrafen.“31 26 Marcel Duchamp, Interview mit Belle Krasne, 1952, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 43–46, hier S. 46. 27 Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp (frz. 1967), Köln 1972, S. 100. 28 Marcel Duchamp, Interview mit Dore Ashton, 1966, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 196–200, hier S. 199. 29 Marcel Duchamp, Notiz, undatiert, zit. in: Serge Stauffer (Hg.), Marcel Duchamp. Die Schriften, Zürich 1994, S. 125. 30 Marcel Duchamp, Interview mit Belle Krasne, 1967, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 221–227, hier S. 225. 31 Pierre Cabanne, Entretiens avec Marcel Duchamp, Paris 1967, S. 83, zit. n. dt. Übers. in: Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972, S. 66f. Im Text vom Autor geänderte Übersetzung. Obgleich die deutschsprachig publizierten Interviews und Schriften Duchamps dringend einer kritischen Neu-Edition bedürften, werden sie in diesem Aufsatz entsprechend der vorliegenden deutschsprachigen Übersetzungen zitiert. Lediglich in diesem Fall musste, aufgrund eklatanter Übersetzungsfehler, die Übersetzung im Rückgriff auf den originalsprachlichen Text geändert werden.
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So wie Duchamp es hier und auch andernorts schildert, habe er, erstens, 1914 einen Flaschentrockner zu einem Readymade „gemacht“. Dieser Flaschentrockner sei, zweitens, bei einer Wohnungsauflösung auf dem Müll entsorgt worden, weshalb er nicht überkommen sei. Doch habe er, drittens, über eine Aufschrift verfügt, die Duchamps Gedächtnis allerdings entfallen sei, und viertens habe all dies seinerzeit wenig mit Kunst zu tun gehabt. Denn eine „fertige Sache“32 zum Readymade zu „machen“, sei eben, wie Duchamp später insistierte, „nicht die Tat eines Künstlers, sondern die eines Nicht-Künstlers“.33 Duchamp löste sich also von dem seinerzeit mit ‚Kunst‘ verbundenen Anspruch auf handwerkliche Fertigkeit und Geschmack. Folglich durfte das Auswählen von „Readymade-Objekten“ in den 1910er Jahren nicht selbst zur künstlerischen Gewohnheit werden, zumal, so Duchamp, „große Zahlen an sich unverzüglich einen persönlichen Geschmack“34 und damit Wiederholung, Manier etc. erzeugen würden. Folglich hätte er sich damals entschlossen, „die Produktion von ‚Readymades‘ auf eine kleine Anzahl pro Jahr zu beschränken“, um „diese Ausdrucksform nicht unterschiedslos zu wiederholen“.35 Duchamp hatte gefürchtet, dass eine permanente Wiederholung dessen, was er später seine „Readymade-Geste“36 nennen sollte, zu einem „System“ hätte werden können, „das genauso tadelnswert ist, (sic) wie dasjenige, das ich getadelt hatte“.37 Das Readymade sollte nicht zur Manier, nicht zur Gewohnheit, in Duchamps Worten: nicht zur künstlerischen „Masturbation“ werden. „(A)us diesem Grunde musste ich die Zahl meiner Readymades begrenzen! Hätte ich viele davon produziert, das wäre das Ende des Readymades und seine Verurteilung gewesen (...).“38 1963 führte er in einem Interview aus: „Die Wiederholung ist gefährlich. Immer. Und die Wiederholung beunruhigte mich so sehr, dass ich pro Tag ein Readymade machen könnte (...). Also, um (...) das zu verhindern, machte ich mir zunächst zur Regel, nur wenige im Jahr zu machen.“39 Die Konsequenz war, ein „Readymade von Zeit zu Zeit“ auszuwählen, „aber nicht zehn am Tag. Die Mäßigkeit hat hier also eine Rolle gespielt!“.40 Zugleich musste die Auswahl eines jeden Readymade-Objekts ohne jeglichen Geschmack erfolgen. Denn zur Idee des Readymades gehöre es, „ein Objekt zu finden, das keinerlei Anziehung hatte vom ästhetischen Standpunkt aus“.41 Wichtig war Duchamp, 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Marcel Duchamp, Interview mit Georges Charbonnier, 1960 (wie Anm. 9), S. 104. Marcel Duchamp, Interview mit Francis Roberts, 1963 (wie Anm. 13), S. 155. Marcel Duchamp, Interview mit Katherine Kuh, 1961 (wie Anm. 11), S. 120. Marcel Duchamp, Hinsichtlich der „Readymades“ (engl. 1961), in: Stauffer 1994 (wie Anm. 29), S. 242. Marcel Duchamp, Interview mit Georges Charbonnier, 1960 (wie Anm. 9), S. 106. Ebd., S. 105. Marcel Duchamp, Interview mit Alain Jouffroy, 1961 (wie Anm. 15), S. 134. Marcel Duchamp, Interview mit Jean-Marie Drot, 1963 (wie Anm. 12), S. 166. Marcel Duchamp, Interview mit Georges Charbonnier, 1960 (wie Anm. 9), S. 105. Marcel Duchamp, Interview mit Francis Roberts, 1963 (wie Anm. 13), S. 155.
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„dass die Wahl dieser ‚Readymades‘ nie von einer ästhetischen Lust diktiert wurde. Diese Wahl beruhte auf einer Reaktion visueller Indifferenz, bei einer gleichzeitigen totalen Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack ... in der Tat eine völlige Anästhesie.“42 Er müsse „etwas auswählen“, mit einem „Gefühl der Indifferenz“,43 ohne „ästhetisches Ergötzen“.44 Er müsse „ein Objekt wählen“, das absolut uninteressiert gewesen sei „und das nie die geringste Chance“ habe, „schön, hübsch, angenehm zum Anschauen oder hässlich zu werden“.45 Die ausgewählten Readymade-Objekte durften, soweit sich dies überhaupt vermeiden ließ, keine, wie Duchamp sagte, „ästhetische Vergangenheit“ und keine „ästhetische Zukunft“46 haben.
der antiquitätswert der readymades und der widerspruch der re-mades Allerdings musste Duchamp später erkennen, dass Gegenstände auf Dauer immer einen ästhetischen Reiz entwickeln, den er „Antiquitätswert“ nannte.47 Sein im Jahr 1960 in einem Interview angeführtes Beispiel macht dies sehr anschaulich: „Sie könnten eine heute gemachte Zahnbürste und eine Schreibmaschine in eine Kiste legen, diese auf den Grund der Seine versenken und sie erst in fünfhundert Jahren wieder öffnen, das wäre in fünfhundert Jahren eine außergewöhnliche Sache.“48 Dieser, wie Duchamp auch sagte, „Respekt vor der Vergangenheit“ musste natürlich früher oder später zwangsläufig auch die verschiedenen Readymade-Objekte ereilen.49 „Die Tatsache, dass sie jetzt“, erklärte Duchamp 1963, „mit derselben Verehrung betrachtet werden wie Kunstobjekte, bedeutet wahrscheinlich, dass es mir nicht gelungen ist, das Problem des Versuchs einer völligen Abschaffung der Kunst zu lösen.“50 Legendär ist Duchamps argwöhnische Bemerkung, dass sein Porte-bouteilles – „dieser verdammte hérisson“ – inzwischen als „eine schöne Skulptur“ verehrt würde und mittlerweile „zu gut“ aussehe.51 „Die ganze Welt“ liebe ihn und er befinde sich „heute in allen Büchern“, er sei „ eine Skulptur, die man bewundern“ müsse.52 Insofern verfügten Duchamps initialen, weitgehend an-ästhetisch, ja an-artistisch intendierten Readymade-Objekte 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51
Marcel Duchamp, Hinsichtlich der „Readymades“ (engl. 1961) (wie Anm. 35), S. 242. Marcel Duchamp, Interview mit Jeanne Siegel, 1967 (wie Anm. 1), S. 215. Marcel Duchamp, Interview mit Alain Jouffroy, 1961 (wie Anm. 15), S. 134. Ebd. Marcel Duchamp, Interview mit Georges Charbonnier, 1960 (wie Anm. 9), S. 106. Ebd., S. 115. Ebd. Ebd. Marcel Duchamp, Interview mit Francis Roberts, 1963 (wie Anm. 13), S. 155. Marcel Duchamp, Interview mit Don Morrison, 1965, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 188. 52 Marcel Duchamp, Interview mit Jean-Marie Drot, 1963 (wie Anm. 12), S. 167.
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der 1910er Jahre über, wie man mit Peter Geimers Ausführungen zur „Kunstlosigkeit“ sagen könnte, eine „Potenzialität“, nämlich über „eine Art Standby-Modus“, der etwas „im nächsten Augenblick zu Kunst werden“ lassen kann.53 Zwar ließ „der nächste Augenblick“, von dem Geimer hier spricht, im Fall Duchamps Jahre, ja Jahrzehnte auf sich warten, doch wusste bereits Duchamp, dass alle „bildnerischen Phänomene (...) auch wenn sie aller Konvention widersprechen, eine Tages ‚Kunst‘ (werden, L. B.). Das ist nur eine Frage der Zeit.“54 Auch wenn es, so Duchamp, für den Künstler immer darum gehen müsse, „nie hinzunehmen, dass man zu einem gout, zu einer Geschmackssache“ werde,55 musste er bereits in den 1930er Jahren (zur Hochzeit des Surrealismus) und mehr noch Ende der 1950er Jahre (mit Aufkommen von Neo-Dada und Nouveau Réalisme) erkennen, dass er zu einem solchen „Gout“ geworden war. Die zwischenzeitlich weitgehend verloren gegangenen Readymade-Objekte waren Kunst geworden. Warum aber dann, so könnte Duchamp sich gefragt haben, nicht die Readymades – einerseits – als Objekte wiederholen, um – andererseits – sich selbst damit gerade nicht zu wiederholen? Warum nicht – einerseits – den Readymades als Objekten künstlerische und historische Geltung verschaffen und – andererseits – der eigenen Praxis damit widersprechen? 1964, im Alter von 77 Jahren, hat Duchamp sein Plazet erteilt, Repliken der frühen Readymade-Objekte nach detaillierten Konstruktionsplänen zu produzieren: Die sogenannte Schwarz-Edition (benannt nach seinem Mailänder Kunsthändler Arturo Schwarz) wurde in einer Auflage von jeweils acht plus vier Exemplaren distribuiert, darunter auch der Porte-bouteilles (Abb. 1).56 Diese Edition hat Duchamp noch zu Lebzeiten den Vorwurf der Inkonsequenz, ja der Korrumpiertheit eingetragen. Duchamp hätte in den 1960er Jahren, meinte etwa Werner Spies, in seinem Atelier in Neuilly „wie ein Schwindler unter den Repliken“ gesessen, „die ihm eilfertige Kunsthändler abgerungen“ hätten.57 1966 in einem Interview mit derlei Vorwürfen konfrontiert und danach gefragt, ob „die Herstellung von Repliken“ nicht im Widerspruch zu seinen „ursprünglichen Prämissen“ gestanden habe,58 antwortete Duchamp: „In dem Augenblick, wo die Leute sagen: ‚Das ist schändlich!‘ bin ich bereit, genau das zu tun. Es lockt mich.“59 Und im Folgejahr führte er in einem anderen Interview aus, „eine Reproduktion“ sei eben, „nicht dasselbe wie die Sache selbst“, wobei er ergänzte: „Es
53 Peter Geimer, Kunstlosigkeit, in: Jörn Schafaff/Nina Schallenberg/Tobias Vogt (Hg.), KunstBegriffe der Gegenwart, Köln 2013, S. 123–128, hier S. 125. 54 Marcel Duchamp, Interview mit H. Th. Flemming, 1965, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 188f., hier S. 189. 55 Marcel Duchamp, Interview mit Otto Hahn, 1966 (wie Anm. 10), S. 205. 56 Siehe zum Porte-bouteilles grundlegend Lars Blunck, Porte-bouteilles, Nürnberg 2014; siehe zur sog. Schwarz-Edition jüngst Adina Kamien-Kazhdan, Mirrorical Return. Marcel Duchamp’s Editioned Readymades, in: Emily Florido (Hg.), Marcel Duchamp, Ausst.-Kat. Gagosian Gallery New York, New York 2014, S. 79–115. 57 Werner Spies, Es gibt eine Antwort, die sich entzieht (1987), in: Ders., Rosarot vor Miami. Ausflüge zur Kunst und Künstlern unseres Jahrhunderts, München 1989, S. 11–16, hier S. 11f. 58 Marcel Duchamp, Interview mit Dore Ashton, 1966 (wie Anm. 28), S. 198. 59 Ebd.
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1 Marcel Duchamp, Porte-bouteilles, 1914/64, verzinkter Stahl, genietet und geschweißt, H: 64,2 cm, Ø 37 cm, Nr. 1 aus einer Edition von acht plus vier Exemplaren, Staatsgalerie Stuttgart
gibt einen absoluten Widerspruch, aber genau das ist angenehm, nicht wahr?“60 Vor dem Hintergrund eines solchen Widerspruchs wird nunmehr auch Duchamps späte Aussage verständlich, nach der das Reproduzieren von Readymades für ihn ein Weg gewesen sei, „aus dieser Sackgasse“ der Einmaligkeit – entstanden durch die oben zitierte, selbst auferlegte Limitierung der Anzahl von Readymades – herauszukommen und den Readymades „die Freiheit der Wiederholung zurückzugeben, die sie verloren hatten“.61 Duchamp konnte die Readymade-Objekte äußerlich reproduzieren – doch produzierte er zugleich etwas vollkommen anderes. Jedenfalls hielt Duchamp es für „keine Übertreibung“, seinen Porte-bouteilles derart replizieren zu lassen, „wie eine Skulptur, wie ein (Antoine, L. B.) Bourdelle oder 60 Marcel Duchamp, Interview mit Philippe Collin, 1967, dt. abgedruckt in: Philippe Collin, Marcel Duchamp spricht über Ready-mades, in: Marcel Duchamp, Ausst.-Kat. Museum Jean Tinguely Basel, Ostfildern-Ruit 2002, S. 37–41, hier S. 38. 61 Marcel Duchamp, Interview mit Robert Lebel, 1967, dt. abgedruckt in: Stauffer 1992 (wie Anm. 1), S. 221–227, hier S. 224.
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2 Carola Giedion-Welcker, Plastik des XX. Jahrhunderts, Stuttgart 1955, S. 82
sonstwer“.62 Er sehe, versicherte er 1967 seinem ersten Monografen Robert Lebel nicht ohne Augenzwinkern, „keine Einwände, dass man Editionen davon macht wie für Skulpturen, da doch Flaschentrockner als eine Skulptur im Buch von M(ada)me Giedion-Welcker abgebildet ist“ (Abb. 2).63 Nun ist zwar in Carola Giedion-Welckers Buch Plastik des XX. Jahrhunderts von 1955 (englischsprachige Ausgabe 1956) nicht der Porte-bouteilles aus dem Jahr 1914 abgebildet (von diesem existiert schließlich gar kein Foto), sondern ein erst Mitte der 1930er Jahre erworbener Flaschentrockner, wenngleich versehen mit der rückbezüglichen Bildunterschrift „Marcel Duchamp, Flaschenständer (Ready Made), 1914“. Doch hatte Giedion-Welcker den Porte-bouteilles tatsächlich als Skulptur im Feld der Bildhauerei verortet, wie dies zuvor schon Robert Motherwell in der Einleitung der von ihm 1951 herausgegebenen Anthologie The Dada Painters and Poets getan hatte. Motherwell hatte sogar bemerkt, „that the bottle rack he (Duchamp, L. B.) chose has a more beautiful form than almost anything made, in 1914, as sculpture“.64 In der zeitlich versetzten Rezeption hatte sich der Porte-bouteilles verändert; 62 Marcel Duchamp, Interview mit Philippe Collin, 1967, dt. abgedruckt in: Collin 2002 (wie Anm. 60), S. 38. 63 Marcel Duchamp, Interview mit Robert Lebel, 1967 (wie Anm. 61), S. 224. 64 Robert Motherwell, Introduction, in: Ders. (Hg.), The Dada Painters and Poets. An Anthology (1951), Reprint, Cambridge u. London 1981, S. 21–43, hier S. 32.
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er war zu einer Skulptur, er war zu ‚Kunst‘ geworden, genau das, was er 1914 gerade nicht hatte sein sollen. War der Flaschentrockner aus den 1910er Jahren noch, wie es in Duchamps Notiz hieß, ein „Werk, das keine Kunst sein sollte“, war er also gerade nicht auf Geschmack, nicht auf künstlerische Handschrift, nicht auf Originalität, kurz: nicht auf ‚Kunst‘ ausgerichtet, ja war der ihm zugedachte Ort ursprünglich überhaupt nicht in der institutionellen Sphäre der Kunst angesiedelt, so sollten Duchamps Re-Mades 1964 das exakte Gegenteil sein: Werke, die ‚Kunst‘ sind!
hypotypose und kontrafakt Rein äußerlich haben die Re-Mades die Gestalt der historischen Readymades, und dennoch sind es natürlich keine Readymades, obschon sie bis heute in der allgemeinen Kunstpublizistik als solche behandelt und in Museen derart exponiert werden. Auch wiederholen die Re-Mades, trotz ihrer äußerlichen Ähnlichkeit, die Readymades der 1910er Jahre nicht, schon gar nicht als „Neufassung“ oder als „Wiederauflage“.65 Denn sie sind ihnen nicht gleichartig. „Gleichartigkeit“, bemerkt Michel Foucault, „dient der Wiederholung“, „Ähnlichkeit“ hingegen „der Repräsentation“.66 Doch ‚repräsentieren‘ die Re-Mades die größtenteils verloren gegangenen Readymades der 1910er Jahre auf eine sehr besondere Weise; sie unterhalten ein ausgesprochen intrikates Verhältnis zu den Readymades, ein Verhältnis indes, das nicht nach der chronolinearen Logik von Vorbild und Nachbild, sondern sehr viel komplexer gestaltet ist. Die acht plus vier Exemplare des Porte-bouteilles aus der Schwarz-Edition beispielsweise scheinen Flaschentrockner zu sein, die sie indes niemals waren. Vielmehr handelt es sich um handwerklich akkurate Nachbauten, deren Erscheinungsbild sich an jenem 1936 erworbenen Flaschentrockner orientiert, dessen Fotografie sich später nicht nur in Giedion-Welckers Skulptur-Buch, sondern zuvor schon in Duchamps Boîte-en-valise findet, dort ebenso versehen mit der rückweisenden Etikettenaufschrift „Readymade // Paris 1914“. Anlässlich des Neudrucks von Etiketten für die Boîte ergänzte Duchamp das Etikett sogar um die Angabe „1er ÉTAT AVEC INSCRIPTION DISPARU“.67 Auf diese „verschwundene Aufschrift“ rekurrierte Duchamp auch 1960, als er einen ihm von Robert Rauschenberg zur Signatur vorgelegten Flaschentrockner mit der Aufschrift versah: „Impossible de me rappeler la phrase originale.“68 Und auch den Re-Mades aus dem Jahr 1964 verlieh Duchamp einen ähnlichen Fingerzeig in die Vergangenheit, findet sich doch auf einer kleinen Messingplatte auf der Innenseite einer jeden Flaschentrockner-Replik die Gravur: „PORTE-BOUTEILLES 1914“. Derlei rückweisende Aufschriften gehören einem Ensemble von Referenzen an, mit denen Duchamp, und zwar gerade über die Repliken des initialen Porte-bouteilles von 1914, die Existenz desselben historisch überhaupt erst greifbar machte. Immer wieder hatte Duchamp mittels 65 Hanne Loreck, Re*: Ästhetiken der Wiederholung – zur Einführung, in: Dies./Michaela Ott (Hg.), Re*: Ästhetiken der Wiederholung, Hamburg 2014, S. 7–11, hier S. 7. 66 Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983, S. 40. 67 Ecke Bonk, Marcel Duchamp. Die Große Schachtel, München 1989, S. 233. 68 Francis M. Naumann, Marcel Duchamp. The Art of Making Art in the Age of Mechanical Reproduction, New York 1999, S. 208–210.
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verschiedener Aufschriften – allen voran die Phrase „pour copie conforme“ – spätere Repliken in Bezug gesetzt zu deren Archetyp aus dem Jahr 1914. Man könnte sogar sagen: Die zahlreichen Repliken konstituieren ihren absenten Referenten überhaupt erst. Was beispielweise das Flaschentrockner-Foto in der Boîte betrifft, so zeigt dieses, wie gesagt, mitnichten den behaupteten „1er ÉTAT“, sondern die spätere Version aus den 1930er Jahren. Gleichwohl gelang es Duchamp mit seiner Bildunterschrift nicht nur auf den initialen Porte-bouteilles von 1914 zurückzuverweisen, sondern auch der Absenz einer einstmaligen Aufschrift Präsenz zu verschaffen; von der (vermeintlichen) Existenz einer solchen Aufschrift wissen wir überhaupt nur durch solche, um mit der Philosophin Michaela Ott zu sprechen, „reflexiven Rückbeugungen“.69 Um lediglich zwei Beispiele herauszugreifen: Ein heute in Pariser Privatbesitz befindlicher Flaschentrockner aus der Zeit um 1921 ist im untersten Ring innen in roter Farbe mit der Inschrift „Marcel Duchamp ‚antique‘ certifié“ versehen.70 Duchamp hatte diesen Flaschentrockner wohl bei einem Besuch in Paris in den frühen 1920er Jahren seiner Schwester Suzanne (die den initialen Porte-bouteilles seinerzeit entsorgt haben soll) zum Geschenk gemacht – und nicht versäumt, qua Inschrift das ‚Alter‘, ja die ‚Altertümlichkeit‘ dieses Stücks zu beglaubigen, sieben Jahre nachdem er einen Flaschentrockner in einem Pariser Warenhaus erworben hatte. Allerdings ist das Wort „antique“ in einfache Anführungszeichen gesetzt, sodass ein Wortgebrauch im uneigentlichen Begriffssinn indiziert wird. Was auch immer diese Aufschrift genau bedeuten sollte, unzweifelhaft verweist sie zurück auf den initialen Porte-bouteilles von 1914. Deutlicher noch ist ein solcher Rückbezug bei jenem Flaschentrockner, den der US-amerikanische Kunsthändler Irving Blum 1963 in einem kalifornischen Gebrauchtwarenladen erstanden und sich von Duchamp hatte signieren lassen.71 Duchamp versah das Objekt nebst Signatur mit der Inschrift „pour copie conforme“, was im Französischen einer notariellen Beglaubigungsformel nach Art von „Für die Richtigkeit“ entspricht. Überdies aber – und in unserem Zusammenhang wichtiger – konstruierte Duchamp eine Referenz, um nicht zu sagen: eine Rekursion, indem er bei der Datierung nicht nur das Jahr „1963“ angab, sondern die Datierung rückführte bis ins Jahr 1914, nämlich durch die retrograde Angabe „1963–14“. Allein diese Beispiele dürften deutlich machen, dass Duchamp mittels der ‚Repliken‘ nicht nur auf den initialen Porte-bouteilles rückverwies, sondern im Rückverweis das vermeintliche Original überhaupt erst historisch konstituierte und vor allem: es semantisch anreicherte. Michael Lüthy hat hierfür die schöne Formulierung einer „Poetik der Nachträglichkeit“ gefunden.72 Es wäre also wohl gar nicht mehr – objektivistisch – von
69 Michaela Ott, Re*: Ästhetiken der Wiederholung – zur Einführung, in: Dies./Loreck 2014 (wie Anm. 65), S. 12–15, hier S. 14. 70 Schwarz 2000 (wie Anm. 2), S. 615. 71 Siehe Naumann 1999 (wie Anm. 68), S. 235. 72 Michael Lüthy, Poetik der Nachträglichkeit oder Das Warten des Marcel Duchamp, in: Margit Kern/Thomas Kirchner/Hubertus Kohle (Hg.), Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, Berlin 2004, S. 461–469.
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‚Original‘ und ‚Wiederholung‘ zu sprechen, sondern vielmehr – praxologisch – von einem „referenziellen Verfahren“.73 Nun lässt sich mit den Differenzphilosophien von Gilles Deleuze und Jacques Derrida,74 ja bereits mit Søren Kierkegaards Buch Die Wiederholung,75 bekanntlich recht gut erfassen, wie wenig sich eine Wiederholung gleichsam niederrangig vom Wiederholten ableitet, und wie sehr sie ihren historischen Bezugspunkt immer auch mitkonstituiert. Für die Differenzphilosophie ist die „im Dienste der Wiederholung funktionalisierte Wiederholung gar keine Wiederholung“.76 Mithin könnte man in einer Loslösung aus einer „zeitlichen Definitionslogik von Ursprünglichem und Nachfolgendem“77 sogar recht kühn behaupten, dass – rezeptionsgeschichtlich gesehen – die nachgängigen Flaschentrockner das Primäre sind, aus deren Referenz sich etwas Sekundäres konstituiert, dem wir indes in der Logik zeitlicher Chronologie rückwirkend den Status des Primären zuschreiben. Gisela Fehrmann und andere sprechen auch von einer „metaleptischen Umkehrung der Ursache-Wirkung-Relation (...) bei der das vermeintlich primäre Original über Praktiken der Wiederholung und der Wiederaufnahme erst nachträglich als originär ausgewiesen“ wird, „und zwar dadurch, dass diese Praktiken sich selbst als sekundäre Verfahren zu erkennen geben“.78 Die Re-Mades funktionieren wie etwas, das die Quintilian’sche Rhetorik „Hypotypose“ nennt: ein Vor-Augen-Stellen, das dem Absenten unmittelbare Anschaulichkeit verleiht.79 Die Folgen der Hypotypose beschreibt, obgleich in ganz anderem Zusammenhang, der Wiener Romanist Jörg Türschmann: „Original und Kopie, Ursache und Wirkung, Vorlage und Beschreibung gehen ein solch enges Verhältnis ein, dass sie ununterscheidbar werden.“80 Bei Duchamps Flaschentrocknern kommt jedoch etwas hinzu, das nicht durch besagte differenzphilosophische Perspektiven erfasst wird. Denn die verschiedenen ‚Repliken‘ des initialen Porte-bouteilles beziehen sich in ihren expliziten Referenzen kontrafaktisch auf das vermeintliche Readymade Porte-bouteilles von 1914. Erstens: Duchamp hatte diesen Flaschentrockner 1914 zunächst lediglich als „Sculpture tout
73 Frédéric Döhl/Renate Wöhrer (Hg.), Zitieren, Appropriieren, Sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten, Bielefeld 2014. 74 Siehe Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992; Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1988; Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: Ders., Limited Inc., Wien 2001, S. 15–45. 75 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843, Köln 1955. 76 Petra Maria Meyer, Die Bewegung machen. Wiederholung und Ko-Affektion in Philosophie und künstlerischer Praxis mit Bezug auf Archiv, Gedächtnis und Performance, in: Loreck/Ott 2014 (wie Anm. 65), S. 148–161, hier S. 152. 77 Gisela Fehrmann/Erika Linz/Eckhard Schumacher/Brigitte Weingart, Originalkopie. Praktiken des Sekundären – Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004, S. 7–17, hier S. 9. 78 Ebd., S. 9f. 79 Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. von Helmut Rahn, Teil 2, Buch 9, Darmstadt 1995, S. 286f. 80 Jörg Türschmann, Die Metalepse, in: montage AV, Vol. 16, Nr. 2, 16. Februar 2007, S. 105–112, unter: http://www.montage-av.de/pdf/162_2007/162_2007_Joerg-Tuerschmann_Die-Metalepse.pdf (Letzter Zugriff: 14. August 2016).
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faite“81 erworben; im Januar 1916 schreibt er an seine Schwester Suzanne nach Paris, er wolle aus der Distanz aus diesem Flaschentrockner ein Readymade machen: „J’en fait en readymade a distance.“82 Der Flaschentrockner sollte also 1916 erst zu einem Readymade gemacht werden, er war 1914 noch gar kein solches gewesen. Und zweitens: Duchamp sandte Suzanne in jenem Schreiben vom Januar 1916 die Anweisung, eine Aufschrift anzubringen, die aber, soviel wir wissen, niemals aufgetragen wurde; der Flaschentrockner soll bekanntlich, so schilderte es ja Duchamp selbst, noch bei Räumung des Ateliers 1914/15 auf dem Müll gelandet sein. Damit aber laufen alle nachgängigen Referenzen auf das angeblich beschriftete Readymade Porte-bouteilles von 1914 gleichsam in eine historische Leerzone: Es hat den Porte-bouteilles als Readymade in den 1910er Jahren niemals gegeben, er ist ein historisches Kontrafakt. Bazon Brock sieht die „normative Kraft des Kontrafaktischen“ immer dann am Werk,83 wenn das theoretisch Mögliche, aber stofflich niemals Reale Einfluss nimmt auf das Faktische. Das Kontrafaktische verfügt, obwohl eben stofflich niemals wirklich vorhanden, über die enorme Fähigkeit, eine Gegenwelt zur Realität auszubilden; es handelt sich sogar, so hat es Heiner Mühlmann einmal beschrieben, „um eine die Realität formende Kraft“.84
erinnerungsbilder Marcel Duchamp hat seine Interviewaussagen einmal als „Erinnerungsrepliken von einer gewissen Tragweite“ bezeichnet.85 Mit solchen „Erinnerungsrepliken“ hat er die Konfabulation des Porte-bouteilles von 1914 zu einem Readymade betrieben. Ebenso haben die zahlreichen Repliken geschichtsbildend, das heißt mit der kontrafaktischen Kraft des Nachgängigen, auf den Porte-bouteilles von 1914 zurückgewirkt. So haben die Repliken, um beim Soziologen Karl Siegbert Rehberg den Begriff des „Erinnerungsbildes“ zu entlehnen, als „Erinnerungsbilder“ an der Konfabulation der Flaschentrockner-Geschichte nachhaltig teilgehabt. Durch „Erinnerungsbilder“ würden, schreibt Rehberg, „Bilder von ‚Dauer‘ erzeugt“.86 Rehberg spricht auch von einer „historisierende(n) Erzeugung institutioneller Dauer“, die insbesondere durch „Strom des Erzählens“ erzeugt werde, „der die einzelnen Ereignisse in immer neue Wiederholungen einbettet, wenn auch nicht ohne Variantenreichtum und jene ‚Stille-Post‘-Effekte, die in keiner Sinnübertragung fehlen“.87 Die Repliken der Readymades sind solche Erinnerungsbilder, mit allen für Duchamp, wie zu vermuten steht, willkommenen „‚Stille-Post‘-Effekten“. Aufschluss81 Marcel Duchamp, Schreiben an Suzanne Duchamp, Januar 1916, abgedruckt in: Francis M. Naumann/Hector Obalk, Affectt Marcel. The Selected Correspondence of Marcel Duchamp, Amsterdam 2000, S. 43. 82 Ebd. 83 Bazon Brock zit. n. Heiner Mühlmann, Kunst und Krieg. Das säuische Behagen in der Kultur, Köln 1998, S. 14. 84 Ebd. 85 Marcel Duchamp, Interview mit Robert Lebel, 1967 (wie Anm. 61), S. 221. 86 Karl-Siegbert Rehberg, Zur Konstruktion kollektiver „Lebensläufe“. Eigengeschichte als institutioneller Mechanismus, in: Gert Melville/Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Gründungsmythen, Genealogien, Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 3–18, hier S. 4f. 87 Ebd., S. 6.
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reich diesbezüglich ist Duchamps Bemerkung 1967 in einem Interview, wonach es „in den Erinnerungen stets eine Deformation“ gebe. „Und wissen Sie, selbst wenn sie eine Geschichte (...) erzählen, verändern Sie ganz gegen Ihren Willen die Geschichte (...), weil Sie kein exaktes Gedächtnis haben oder weil Sie dem Spaß zuliebe (lacht) die Geschichte sowieso verdrehen wollen.“88
88 Marcel Duchamp, Interview mit Jeanne Siegel, 1968 (wie Anm. 1), S. 219.
identität und differenz in yves kleins blauen monochromen linn burchert Yves Klein (1928–1962) ist ein schwieriger Fall für die kunsthistorische Forschung: Ähnlich wie Giorgio de Chirico haftet ihm ein Ruf als „Scharlatan“ an.1 So verfolgte er zum einen akribisch spirituelle Praktiken und Lehren (Judo, Rosenkreuzertum) und entwickelte utopische Entwürfe einer in Frieden und Gleichheit lebenden zukünftigen Menschheit, die er mittels der Kunst verwirklichen wollte. Zum anderen relativierte er den Ernst dieser Anliegen durch ironische Aktionen und allerlei Widersprüche. Nie kann man sich ganz sicher sein, wo die Grenze zwischen Ernst und Ironie bei Klein verläuft. Zudem war er ein Meister der Selbstinszenierung und Selbstvermarktung, der sich selbst und den Erinnerungen anderer gern in Texten und Interviews widersprach. Ein paradigmatischer Fall für solche Widersprüche offenbart sich etwa in der Praxis der Selbstwiederholung. Diese zeigt sich besonders am Beispiel der Mailänder Ausstellung Proposte monochrome, epoca blu (Die monochromen Vorschläge, blaue Epoche) im Jahr 1957, in welcher der Künstler zehn nach eigener Aussage identische blaue Monochrome präsentierte.2 In diesem Beitrag werden ausgehend von der Praxis der Selbstwiederholung Formen der Selbstinszenierung Kleins, Probleme der Identität, Wiederholung und Differenz von Kunstwerken sowie ihre Wert- und Preiszuweisungen thematisiert. Im Fokus stehen die zehn blauen Monochrome der Mailänder Ausstellung. Dabei werden verschiedene Fragestellungen berührt, die in den Beiträgen dieses Buches aus verschiedenen Per spektiven diskutiert werden: Neben den bereits genannten Aspekten spielen im Zusammenhang mit der Selbstwiederholung die Perfektionierung künstlerischer Praktiken, die Annäherung an ein finales Kunstwerk und grundlegende Konzepte künstlerischer Kreativität ebenso eine Rolle wie Fragen nach der Aura und der Wirkung scheinbar identischer Kunstwerke.
1 Rita Cusimano, Yves Kleins Pressealben, die Fama des Künstlers, in: Yves Klein. Die blaue Revolution, Ausst.-Kat. Museum Moderner Kunst Ludwig Wien, Wien/New York 2007, S. 214–219, hier S. 218. 2 Leider hat das Yves Klein Archiv einer Reproduktion von Fotografien der Ausstellung im Rahmen dieses Artikels widersprochen. Grund waren die hier getroffenen Aussagen, dass Klein sich in Selbstwidersprüche verwickelt und seine Arbeit mitunter ironisiert habe, sowie die Erwähnung seiner Bezüge zu den Rosenkreuzlehren.
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das international klein blue – kleins blaue monochrome Klein schuf in seiner recht kurzen künstlerischen Karriere von nur acht Jahren eine Vielzahl an Monochromen in ganz unterschiedlichen Formaten, mit und ohne Reliefs, rechteckig und auf gerundeten Bildträgern. Neben Gold und Magenta ist vor allem das ultramarine Blau – und damit verbunden die Marke International Klein Blue – eine wiederkehrende Farbe. Anders als in der Forschungsliteratur häufig behauptet, hat Klein sich das Ultramarin-Blau nicht patentieren lassen, sondern holte lediglich einen Schutzbrief für das Bindemittel ein.3 Dieses hatte er gemeinsam mit dem Farbenhändler Édouard Adam entwickelt. Die Mischung aus dem Ultramarin-Pigment 13111, Rhodopas und Polyvinylacetat ermöglichte es Klein, die Leuchtkraft des reinen Farbpigments nahezu ungetrübt auf die Leinwand aufzubringen und zu konservieren.4 Paul Wember, Kunsthistoriker und Vertrauter Kleins, erstellte 1969 ein Werkverzeichnis. Die Nummerierung und Zuordnung der Werke erfolgte eher unsystematisch unter Mitarbeit von Kleins Ehefrau Rotraut Uecker.5 Im Katalog sind 150 Monochrome in der Kategorie International Klein Blue (IKB) verzeichnet, die fortlaufend von IKB 1 bis IKB 149 nummeriert sind.6 Die IKBs beinhalten auch Reliefbilder, nicht jedoch die Schwammreliefs, welche gesondert verzeichnet sind. Die Nummerierung erfolgte weder streng chronologisch noch nach irgendeiner anderen konsequent eingehaltenen Systematik. Auch sind Angaben wie Medium, Entstehungsjahr und Standort häufig unvollständig. Gemäß Wember waren viele Angaben zu Werken in Privatbesitz trotz großer Bemühungen nicht ausfindig zu machen.7 Bei einer Durchsicht des Katalogs fällt auf, dass mitunter in bestimmten Schaffensperioden eine Reihe gleichformatiger IKBs entstanden. Für 1958 sind im Katalog sechs Bilder mit den Maßen 24 × 19 oder 24,5 × 19 cm und dem Vermerk „unregelmäßige Konturen“ eingetragen (IKB 5 bis IKB 10). 14 IKBs (IKB 82 bis IKB 95) haben die Maße 92 × 73 cm und stammen aus den Jahren 1959 bis 1961. Diese und andere Beispiele weisen darauf hin, dass Klein in bestimmten Schaffensphasen an gleichen Formaten sowie mit derselben Farbe und demselben Bindemittel arbeitete. Fraglich ist, wie ähnlich die einzelnen Arbeiten einander in der Erscheinung tatsächlich sind, ob Klein mit verschiedenen Verfahren und Formen des Reliefs arbeitete, um unterschiedliche Arten der Oberflächengestaltung zu erproben, oder ob hier je eine bestimmte Technik und Erscheinung mehrmals wiederholt wurde. Die Untersuchung der Ähnlichkeit dieser Arbeiten, die für die Betrachtung des Aspekts der Selbstwiederholung in Kleins Werk interessant ist, wird durch die nicht sehr sorgfältige Katalogisierung sowie die fehlende Erforschung dieser großen Anzahl ähnlicher Arbeiten erschwert, zumal sich die Werke heute an unterschiedlichen Or3 Denys Riout, Imprägnationen: Szenarios und Szenografien, in: Wien 2007 (wie Anm. 1), S. 86–101, hier S. 87. 4 Gilbert Perlein/Rébecca François, Enivrez-vous. [Baudelaire] – Get Drunk. [Baudelaire], in: Klein Byars Kapoor, Ausst.-Kat. Mamac Nizza 2012/ARoS Aarhus Kunstmuseum 2013, Monaco 2012, S. 27–36, hier S. 29. 5 Paul Wember, Yves Klein, Köln 21972. 6 Für ein IKB sind zwei Versionen verzeichnet. 7 Wember 1972 (wie Anm. 4), S. 7.
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ten und häufig in Privatbesitz befinden. Eine Ausstellung, zu der durch Forschung, zahlreiche Aussagen des Künstlers und andere Zeugnisse hingegen einiges an Material vorliegt, ist die eingangs erwähnte Mailänder Ausstellung Proposte monochrome, epoca blu, die für Klein selbst Anlass war, Selbstwiederholung, Identität und Differenz in seinem Werk zu thematisieren.
kleins monochrome vorschläge – proposte monochrome, epoca blu, mailand 1957 Vom 2. bis 12. Januar 1957 stellte Klein in Mailand in der Galleria Apollinaire zehn nach eigener Aussage identische, blaue Monochrome aus.8 Alle Werke hatten mehr oder minder die Maße von 78 × 56 cm und waren hochformatig an Haltekonstruktionen aus Holz in unterschiedlichen Höhen aufgestellt.9 Sie hatten jeweils einen Abstand von ca. 20 cm von der Wand, was ihren Objektcharakter besonders hervorhob.10 Die Ausstellung war der Beginn von Kleins selbst so betitelten „Blauen Periode“. Nach eigener Aussage hatte er mehr als ein Jahr an dem perfekten Ausdruck zur Präsentation der Farbe im Allgemeinen und des Blaus im Speziellen gearbeitet.11 Bereits seit 1946 arbeitete er an monochromen Werken, seine erste Ausstellung fand 1954 in Paris statt. In seinem kurzen autobiografischen Text Le dépassement de la problématique de l’art (nach 1957) schreibt Klein, dass er die damals entstandenen Arbeiten völlig unter Verschluss gehalten habe, denn er habe in ihnen keine „possibilité picturale“, kein Bildpotenzial, gesehen. Er habe in diesen Übungen Zugang zum „Absoluten“ gesucht.12
8 In der Literatur heißt es oftmals, es habe sich um elf gehandelt. Tatsächlich ist das elfte Mono chrom ein Ausreißer in Magenta. Es müsste sich um folgende Bilder laut Katalog handeln – die Angaben sind dabei nicht immer vollständig: IKB 96, 1957, 80 × 75 cm, Privatbesitz Turin; IKB 98, 1957, Leinwand auf Holzfaserplatte, 78 × 55,5 cm, Kaiser Wilhelm Museum Krefeld; IKB 100, 1956, Leinwand auf Holzfaserplatte, 77 × 56 cm, Sammlung Lucio Fontana Mailand; IKB 101, 1956, Leinwand auf Sperrholz, Dr. Peppino Palazzoli, Mailand; IKB 102, 1956, Leinwand auf Sperrholz, sign. verso: Yves 56; IKB 103, 1956, 78 × 56 cm, dat. verso, Jean Tinguely; IKB 104, 1956, sign. verso: Yves 56 á Guido Le Noci l’intrasigeant, Svensk Franska Konstgalleriet, Stockholm; IKB 105, 1957, Leinwand auf Holzfaserplatte, 77 × 56 cm, sign. verso: Yves 57, Sammlung Dr. Lidén, Stockholm; IKB 193, 1957, 78 × 55,5 cm, sign. verso: Yves 57, Françoise Choay, Paris; IKB 181, 1956, 73 × 56 cm, Besitz Mme R. Gaspérini. 9 Sidra Stich, Yves Klein, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 1994/95/ Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1994/95/Hayward Gallery, London 1995/Museo Nacional de Arte Reina Sofía, Madrid 1995, Ostfildern-Ruit 1994, S. 81 und S. 260, dort Anm. 1. 10 Kaira M. Cabañas, Yves Klein’s Performative Realism, in: Greyroom 31/2008, S. 6–31, hier S. 10. Auch in einer anderen Ausstellung im selben Jahr in der Galerie Schmela in Düsseldorf waren Kleins Propositions Monochromes nicht direkt an die Wand gehängt, sondern durch Holzlatten in einer leichten Schrägung und in einem Abstand vor die Wand gesetzt. Für eine Installationsansicht siehe: http://www.yveskleinarchives.org/documents/bio_img/ large/1957_apo_6.jpg (letzter Zugriff: 5. Juni 2017). 11 Yves Klein, Le dépassement de la problématique de l’art et autres écrits, hg. von Didier Semin/ Marie-Anne Sichère, Paris 2003, S. 82. 12 Ebd., S. 80f.
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Für die Mailänder Ausstellung hatte Klein das ultramarine International Klein Blue bei allen zehn Arbeiten mit einer Farbrolle aufgetragen, um einen gleichmäßigen Auftrag ohne sichtbares Relief oder individuellen Gestus zu gewährleisten. Bereits im Rahmen einer Ausstellung im Lacoste Publishing House am 15. Oktober 1955 betonte Klein diese Uniformität des Farbauftrags.13 Die Bilder der Ausstellung 1957 beschreibt der Künstler in seinem Text Ma position dans le combat entre la ligne et la couleur (1958) als „tous rigoureusement identiques en ton, valeur, proportion et grandeur“.14 Zur Gewährleistung der uniformen Wirkung der Monochrome ist das Fehlen sichtbaren Reliefs notwendig. Im Hinblick auf ein Projekt für das Theater in Gelsenkirchen reflektierte er die Problematik großformatiger monochromer Arbeiten, die Glätte der Farbfläche sollte auch hier nicht durch Unregelmäßigkeiten gestört werden. Da sich diese jedoch nicht ganz vermeiden lassen, dient letztlich die Farbe selbst als Korrektiv, denn in der Wahrnehmung, so Klein, töte Blau das Relief.15 Blau ist für Klein die Farbe der Uniformität und Glätte. Im Œuvre des Künstlers fällt jedoch auf, dass Klein durchaus sehr experimentell mit verschiedenen Formen von Relief und Oberflächengestaltung umging. Diese thematisiert er – Ausnahme sind seine späteren Schwammbilder – jedoch so gut wie gar nicht in seinen Schriften. Die Idee der Präsentation von zehn identisch erscheinenden blauen Monochromen fand seinen Ausgangspunkt in einer Ausstellung, die Klein zwei Jahre vor der Mailänder Proposte monochrome im Lacoste Publishing House in Paris hatte. Dort präsentierte er 1955 20 Monochrome in den Farben Grün, Rot, Gelb, Violett, Blau und Orange. Hier war Klein mit der Art und Weise, wie die Ausstellung und die Einzelwerke rezipiert wurden, nicht zufrieden, wie er 1959 in einem Vortrag an der Sorbonne thematisierte. Die einzelnen Werke wurden Klein zufolge vorrangig als Teil einer Gesamtinstallation betrachtet. Die Wahrnehmung der Einzelwerke wurde so gestört zugunsten einer Betrachtung des Zusammenspiels der verschiedenen Arbeiten und Farben. Jedoch ging es Klein nach eigener Aussage gerade um die Wahrnehmung der einzelnen Farbe und des Einzelwerks und nicht um das Zusammenspiel des Verschiedenen.16 Klein verstand die Bilder folglich nicht als Gesamtinstallation, sondern als voneinander unabhängige Einzelstücke. Für Mailand entschied er sich nun, identisch erscheinende Arbeiten auszustellen. Gerade an die Wiederholung scheinbar völlig identischer Werke waren für Kleins Kunstverständnis wesentliche Überlegungen gebunden, die sich insbesondere auch an der Frage nach dem qualitativen und dem monetären Wert der Arbeiten entspannen.
qualität, preis und wert der ‚identischen‘ arbeiten kleins In verschiedenen Texten betonte Klein, dass die zehn Arbeiten völlig identisch seien.17 Umso überraschter gerierte er sich, als die Käufer seiner Werke bereit waren, ganz 13 14 15 16 17
Ebd., S. 40. Ebd., S. 50, dt. Übers. der Autorin: „streng identisch in Ton, Wert, Proportion und Maßen“. Ebd., S. 78, im Original heißt es: „(…) je sais que le bleu tue le relief“. Ebd., S. 134f. Siehe Anm. 13 und Anm. 17 sowie Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 235.
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unterschiedliche Preise für diese zu zahlen. Darüber schreibt er in L’aventure monochrome (1958): „L’observation la plus sensationnelle fut celle des ‚acheteurs‘. Ils choisirent parmi les onze tableaux exposés, chacun le leur et le payèrent chacun le prix demandé. Les prix étaient tous différents, bien sûr. Cet fait démontre que la qualité picturale de chaque tableau était perceptible par autre chose que l’apparence matérielle et physique d’une part et, d’autre part, évidemment que ceux qui choisissaient reconnaissaient cet état des choses qui j’appelle la ‚Sensibilité picturale‘.“18 Dem vorausgehend schrieb Klein: „Chacune de ces propositions bleues, toutes semblables en apparence, furent cependant reconnues par le public bien différentes les unes des autres.“19 An diesem Zitat fällt sogleich auf, dass Klein an dieser Stelle nicht von der visuellen Identität der Arbeiten spricht, sondern von einer „Ähnlichkeit“; schaut man sich die Aufnahmen aus der Ausstellung an, fällt ebenfalls auf, dass die Bilder nicht ganz glatt sind und sichtbare Unterschiede aufweisen.20 Es scheint widersprüchlich, dass Klein im selben Artikel zur Mailänder Ausstellung die Werke auch als „streng identisch“ benannte. Obwohl sie, so Klein, im Herstellungsverfahren und der Materialität sowie Maßen und Medium identisch seien, konstatierte er, dass alle Werke einzigartig und dementsprechend auch unterschiedlich viel wert seien. Die unterschiedliche Wertigkeit machte Klein nicht an materiellen Aspekten fest, sondern an der sogenannten pikturalen Sensibilität. Dieses Konzept wird im Folgenden noch erläutert. Zunächst bleibt festzuhalten, dass den Werken durch Klein eine weitere, über das Physische hinausgehende Qualität zugeschrieben wurde, die als Distinktionsmerkmal diente. Die amerikanische Kunsthistorikerin Sidra Stich ist den Aussagen zur Preisgestaltung und Verkäufen nachgegangen. Dabei fand sie zum einen heraus, dass überhaupt nur drei der zehn blauen Monochrome einen Käufer fanden: Eines kaufte der Künstler Lucio Fontana (IKB 100), und zwei gingen an andere Sammler aus Mailand.21 In mehreren Artikeln, die während oder unmittelbar nach der Ausstellung erschienen, heiße es, dass die Arbeiten alle zum gleichen Preis von 25.000 Lire verkauft wurden; in einem davon soll Klein selbst dies bestätigen. Einen Monat nach der Ausstellung erschien hingegen
18 Ebd., S. 233, dt. Übers. der Autorin: „Die außergewöhnlichste Beobachtung war die der Käufer. Sie suchten unter den elf ausgestellten Bildern jeder das ihre und zahlten alle den angegebenen Preis. Die Preise waren natürlich unterschiedlich und dies zeigt, dass die Qualität eines jeden Bildes auf der einen Seite durch etwas anderes als die materielle Erscheinung und Physik wahrnehmbar war und auf der anderen Seite, dass jene, die auswählten die Eigenschaft der Dinge, die ich ‚Pikturale Sensibilität‘ nenne, erkannten.“ 19 Ebd., dt. Übers. der Autorin: „Jeder dieser blauen Vorschläge, alle ähnlich in der Erscheinung, wurden jedoch von der Öffentlichkeit sehr verschieden wahrgenommen.“ 20 http://www.yveskleinarchives.org/documents/bio_img/large/1957_apo_3.jpg (letzter Zugriff am 5. Juni 2017). 21 Diese Information stammt aus einem Interview mit Signora Le Noci am 17. September 1993 in Mailand, in: Köln/Düsseldorf/London u. a. 1994/95 (wie Anm. 8), S. 260, dort Anm. 7.
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ein französischer Artikel des Kritikers Michel Conil-Lacoste, in dem es heißt, Klein habe seine Monochrome zu unterschiedlichen Preisen verkauft.22 Stich geht davon aus, dass die von Klein in seinem Text L’aventure monochrome beschriebene Preisgestaltung in Wirklichkeit ein „Mythos“ war. Es handele sich aller Wahrscheinlichkeit nach um „eine seiner konzeptuellen Kreationen zur Verstärkung des Theatralischen seiner Kunst, die zudem ein interessantes Detail für seine Autobiografie lieferte, die er zu dieser Zeit gerade schrieb“.23 Da Klein mit den Verkäufen selbst nichts zu tun hatte und er als Künstler noch nicht etabliert war, hält Stich es für sehr unwahrscheinlich, dass hier unterschiedliche Preise veranschlagt wurden. Dieser Verdacht erhärtet sich auch durch die Aussage Pierre Restanys. Im Interview mit der Kunsthistorikerin gab Restany an, dass der Galerist Guido Le Noci für alle Bilder denselben Preis angesetzt hatte.24 Die Verschiedenheit der Bilder – ihre Originalität – war, unabhängig von der tatsächlichen Preispolitik, für Kleins künstlerisches Konzept jedoch zentral. Eben diese Einzigartigkeit eines jeden Bildes wurde vom Künstler im Anschluss an die Ausstellung über den monetären Wert verhandelt. Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit stellen schließlich wichtige Faktoren für die Wertzuweisung an ein Kunstobjekt dar,25 und auch die Bestimmung einer Qualität, für die Klein spezifische Kriterien und Konzepte suchte, ist hierfür zentral.26 Klein begab sich nach eigener Aussage auf die Suche nach ‚dem wahren Wert‘ des Kunstwerks –„cette valeur réelle“;27 hierbei sind, so Thierry de Duve, Wert und Preis in ein perfektes Entsprechungsverhältnis gesetzt.28 Doch woraus ergibt sich die Einzigartigkeit im scheinbar Identischen? Ebenfalls in L’aventure monochrome schreibt Klein: „(…) chaque monde bleu de chaque tableau, bien que du même bleu et traité de la même manière, se révélait être d’une tout autre essence et atmosphère; aucun ne se ressemblait, pas plus que les moments picturaux ni les moments poétiques ne se ressemblent.“29 Jedes Bild hat somit gemäß Klein eine andere Ausstrahlung, bilde eine andere Atmosphäre.
22 Ebd., S. 260f., dort Anm. 17; das Klein-Zitat findet sich in einer Rezension mit dem Titel „Il peint les tableaux uniformément bleus“. Der Artikel von Conil-Lacoste wurde unter dem Titel „Comparaisons“ am 15. Februar 1957 in Le Monde veröffentlicht. 23 Ebd., S. 260, dort Anm. 25; die Autobiografie ist nachgewiesen in Anm. 9. 24 Ebd. 25 Vgl. hierzu Otto Hans Ressler, Der Wert der Kunst, Wien 2007, S. 23f. 26 Ebd., S. 17. 27 Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 235. 28 Thierry de Duve, Yves Klein, or The Dead Dealer, übers. v. Rosalind Krauss, in: October 49/1989, S. 72–90, hier S. 78. 29 Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 233, dt. Übers. der Autorin: „Jede blaue Welt eines jeden Bildes, jedes im selben Blau und hergestellt auf dieselbe Weise, offenbarte eine ganz andere Essenz und Atmosphäre, sodass keines dem anderen mehr ähnelte als bildliche Momente und poetische Momente einander gleichen.“
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kleins konzept der ‚pikturalen sensibilität‘ Die geradezu mystische Begründung, die Klein für die unterschiedliche Qualität materiell identischer oder zumindest sehr ähnlicher Bilder (er-)findet, definiert den ‚wahren Wert‘ der Bilder gemäß der sogenannten pikturalen Sensibilität. Diese ist eine Art energetisch aufgeladene Aura, die Klein zufolge über die materielle Erscheinung hinausgeht.30 Die Sensibilität bestimmt Klein als eine universelle Lebenskraft, die das ganze Universum durchdringt und die Voraussetzung des Lebens darstellt.31 Dementsprechend beschreibt auch Restany sie als „vitalistisches Prinzip“,32 gleich einer „kosmischen Energie, die die eigentliche Essenz des Lebens“ darstelle.33 Die kosmische Sensibilität ist als „reine Energie“ zu verstehen.34 Sie bezeichnet einen Stoff, der als metaphysische Lebenskraft im Kosmos enthalten ist, aber in der Kunst Kleins in besonderer Intensität gesammelt und wirksam werden soll. Gemäß Klein stellt sie eine Qualität von Farbe dar. Farbe ‚bade‘ in kosmischer Sensibilität, diese Sensibilität habe keine Winkel und sei wie die Feuchtigkeit in der Luft.35 Die Wirkung von Kunst beschreibt der Künstler als „rayonnement“ – als ‚Ausstrahlung‘ von farbiger Energie.36 Wichtigste Maßnahme zur Steigerung der Strahlkraft der Werke war, wie bereits erwähnt, die Verwendung eines besonderen Bindemittels, mit dem die Leuchtkraft des reinen Farbpigments möglichst ungetrübt auf der Leinwand konserviert wurde. Wember erläutert, dass der Ausdruck der ‚Winkellosigkeit‘ der Sensibilität darauf verweise, dass Klein die „monochromen Farbtafeln ohne Form und praktisch ohne Begrenzung“ verstanden wissen wollte, „als Räumlichkeit, welche das All unermeßlich ausfüllt“.37 Das Bild erscheint so entrahmt und entgrenzt, seine Energie geht im Raum auf. Von jedem Bild geht gemäß Klein etwas aus, das die bloße physische Erscheinung übersteigt.38 Klein orientiert sich an der Beschreibung des Blaus als energetischer Farbe in Johann Wolfgang von Goethes Farbenlehre (1810). Hier ist Blau die Farbe der „höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts“.39 Wie die Luftfeuchtigkeit könne nach Klein auch die durch das Blau hergestellte Sensibilität als eine atmosphärische Kraft verstanden werden, die so eine durchdringende, durchtränkende Wirkung erhält. Als Modell dient auch der Schwamm, den Klein als ‚Porträt‘ und demnach als 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Klaus Ottmann, Yves Klein by himself. His Life and Thought, Paris 2007, S. 63. Ebd., S. 148. Pierre Restany, Yves Klein, München 1982, S. 8. Ebd., S. 39. Ulli Seegers, Alchemie des Sehens. Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert. Antonin Artaud, Yves Klein, Sigmar Polke, Köln 2003, S. 113. Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 49. Ebd., S. 84. Wember 1972 (wie Anm. 4), S. 14. Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 134, im Original heißt es: „(…) que la qualité picturale de chaque tableau est perceptible par autre chose que l’apparence matérielle et physique.“ Goethe zit. n. Wember 1972 (wie Anm. 4), S. 23. Im Original nachzulesen: Johann Wolfgang von Goethe, Farbenlehre. Vollständige Ausgabe der theoretischen Schriften, Tübingen 1953, S. 329.
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Repräsentation der Rezipientinnen und Rezipienten bezeichnete.40 Absorption, Imprägnierung und Durchdringung sind die zentralen Konzepte für die Werkrezeption. Dies verdeutlicht Klein in seinem Bildmodell: Die Wirkung seiner Kunst hebt auf den absorbierenden, imprägnierten Betrachter ab, der von den Energien der Bilder ganz durchdrungen wird. Die Idee eines immaterialisierten Bildes, das als atmosphärische Kraft auf die Rezipientinnen und Rezipienten einwirken soll, sowie die Suche nach einem Absoluten verbindet Klein mit den Utopien der Vorkriegsavantgarde, die gleichsam von einer rein energetischen Kunst träumte. Dabei rekurrierte Klein auch auf weitere Konzepte der Vorkriegsavantgarden – so etwa, wenn er im materiell fast Identischen, Wiederholbaren Unterschiede in der atmosphärischen Wirkung statuiert und so an Ideen der ‚Originalität‘ und ‚Einzigartigkeit‘ festhielt, die im Begriff der ‚Aura‘ kulminieren.
originalität und einzigartigkeit seit den 1950er jahren Klein bestand somit auf modernen kunsthistorischen Setzungen, die in den 1950er und 1960er Jahren zunehmend hinterfragt wurden. Während für Klein keine seiner Arbeiten austauschbar war, er an ihrer Originalität und Einzigartigkeit festhielt, radikalisierten andere Künstler die Austauschbarkeit ihrer Arbeiten. Der amerikanische Kunsthistoriker Irving Sandler erinnert sich, dass etwa Ad Reinhardt, anstatt seine in Museen ausgestellten schwarzen Monochrome reinigen zu lassen, einen anderen Vorschlag einbrachte: „Ad told him (the curator, L. B.) to ship it down to his studio and he would send another one up. The curator demurred: ‚But ours is the Museum of Art’s picture.‘ Ad replied: ‚I don’t know what you’re fussing about. I’ve got paintings here that look more like that painting than that painting does‘.“41 Für Reinhardt schien kein entscheidender, qualitativer Unterschied zwischen den verschiedenen monochromen Bildern zu bestehen. Wie Joy Kristin Kalu in ihrem Buch Ästhetik der Wiederholung schreibt, habe „Reinhardt den Wert der Originalität eines Bildes radikal infrage“ gestellt.42 Auch wenn die Bilder nicht völlig identisch sind – schließlich postulierte Reinhardt paradoxerweise, dass ein ähnliches Werk dem Original weitaus mehr gleiche – so sind die Unterschiede schlicht und einfach nicht relevant. Seine schwarzen Farbflächen lassen den persönlichen Gestus des Künstlers völlig in den Hintergrund treten, das Bild wird reproduzierbar. Bei der Frage, warum nicht gar andere seine Arbeiten schaffen könnten, gerät die Argumentation Reinhardts allerdings ins Schleudern: „Someone else can’t do them for me. They have to do their own for themselves. But I’m not quite sure why.“43 40 Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 54. 41 Reinhardt zit. n. Joy Kristin Kalu, Ästhetik der Wiederholung. Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances, Bielefeld 2013, S. 89. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 97f.
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Das Kunstwerk bleibt an den Künstler gebunden, warum dies jedoch so ist, erklärte Reinhardt nicht. Über genau diese Frage dachte auch Klein nach, kam allerdings zu einer ganz anderen Lösung und Argumentation: „Ich bin also auf der Suche nach dem eigentlichen Wert des Bildes, jener, der bewirkt, daß von zwei in allen ihren sichtbaren und lesbaren Erscheinungen wie Linien, Farben, Zeichnungen, Formen, Format, Dicke absolut identisch erscheinenden Bildern, von denen das eine von einem ‚Maler‘ und das andere von einem Handwerker gemalt ist, daß also dieser eigentliche, unsichtbare Wert es bewirkt, daß eins der beiden Objekte ein ‚Kunstwerk‘ ist und das andere nicht.“44 Der Künstler als Schöpfer einmaliger Werke wurde durch Klein gewissermaßen in die reproduzierbare Kunst hinübergerettet. Daraus ergibt sich auch eine interessante Theoretisierung des Auratischen, das in der ‚pikturalen‘ und der ‚kosmischen Sensibilität‘ bei Klein stets präsent ist.
die aura reproduzierbarer werke und ihre rezeption Wie Beate Epperlein in ihrer Schrift Monochrome Malerei. Zur Unterschiedlichkeit des vermeintlich Ähnlichen aufzeigt, verwendete Klein den Begriff der Aura selbst nicht. Sie regt dennoch an, das Benjamin’sche Aura-Konzept und den Atmosphäre-Begriff Kleins miteinander in Beziehung zu setzen.45 Nach Walter Benjamin ist die Aura „eine objektive Eigenschaft des Gegenstandes“.46 Ihre „Existenz bzw. Nicht-Existenz ist dabei an quantitative Faktoren, nämlich an die Anzahl der Reproduktionen gebunden, wobei ihre Präsenz allein durch die Einzigartigkeit des Originals gerechtfertigt wird“, so Epperlein.47 In Aura und Autonomie verdeutlicht Birgit Recki: „Indem Benjamin davon auszugehen scheint, daß die Quantität des numerisch Einmaligen zwangsläufig auch in der Wahrnehmung ausgezeichnet wird und per se die Qualität des ästhetisch Einmaligen nach sich zieht, gibt er dem materiellen Substrat für die Erfahrung der auratischen Erscheinung die ausschlaggebende Bedeutung.“48 Klein behauptet genau das Gegenteil: Die Qualität, die auratische Erscheinung, ergebe sich nicht aus der materiellen Gestaltung und Einmaligkeit. In der Erscheinung
44 Klein zit. n. Beate Epperlein, Monochrome Malerei. Zur Unterschiedlichkeit des vermeintlich Ähnlichen, Nürnberg 1997, S. 119. 45 Ebd., S. 125. 46 Ebd., S. 121. 47 Ebd., S. 121f. 48 Birgit Recki, Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, Würzburg 1998, S. 18.
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identische oder sehr ähnliche Werke haben bei Klein ebenfalls eine Aura und können zudem qualitativ verschiedene Auren entfalten. Wie aus den eingangs aufgeführten Zitaten Kleins deutlich wurde, ging der Künstler von einer objektiven Qualität und einem objektiven Wert des einzelnen Kunstwerks aus. Eine produktive Rolle der Rezeption und ein individueller Zugang zur Kunst werden somit stark eingeschränkt. Auch die Wahrnehmung von unterschiedlichen Qualitäten von Werken ergibt sich aus objektiv gegebenen Qualitätsunterschieden. Im Vergleich zu Rauschenberg etwa, der 1952 sieben weiße Leinwände ausstellte, ist der Betrachter bei Klein nicht als Mitproduzent gedacht. Im Werk selbst ist bereits alles angelegt.49 Kunst wird bei Klein als Widerfahrnis verstanden – anders als bei Robert Rauschenberg oder auch John Cage.50 Die Wahrnehmung der verschiedenen Qualitäten ist dabei jedoch nicht ganz selbstverständlich, sie hängt auch von der Sensibilität der Rezipientinnen und Rezipienten ab. Daher ließ Klein die Gelegenheit nicht aus, seinen Käufern zumindest indirekt zu schmeicheln, weil sie die nötige Sensibilität für die Wahrnehmung der qualitativen Unterschiede der identisch erscheinenden Werke besaßen.51 Epperlein erkennt in Kleins Aura-Konzept Parallelen zum Aura-Begriff des Theosophen Alfred Schuler.52 Dieser verortete die Aura nämlich weder eindeutig im Objekt, das heißt der materiellen Erscheinung, noch in der Rezeption: „Die auratische Vorstellung wird vorgestellt als eine bestimmte Existenzform des Kunstwerks, die sich im mystischen Erleben für alle auf gleiche Weise offenbaren soll.“ Schuler betonte, wie auch Klein, einen Anspruch auf „Objektivität bzw. Absolutheit“.53 Diese Verbindung zum theosophischen und allgemein esoterischen Denken ist durchaus naheliegend. Eine wichtige Inspirationsquelle für Klein war schließlich Max Heindels Die Weltanschauung der Rosenkreuzer oder mystisches Christentum (Ersterscheinen 1909 in englischer Sprache). Diese las Klein bis 1953 und zog daraus, wie Nicolas Charlet feststellt, vornehmlich die Grundidee, „Materie in reine Energie“ umzuwandeln.54 Wie in anderen theosophischen Lehren geht es auch im Rosenkreuzertum um geistige Atmosphären und Energien im Äther, die aus Handlungen sowie Gefühlen hervorgehen.55 Neben dem Feinstofflichen in der Tradition der westlichen Esoterik spielen jedoch auch ostasiatische Konzepte wie etwa das japanische ki eine wesentliche Rolle bei Klein. Festzuhalten bleibt vorerst, dass Klein von objektiven, nicht betrachterabhängigen Unterschieden zwischen seinen blauen Monochromen ausging. Zum Abschluss soll nun die Frage fokussiert werden, welche Bedeutung die Selbstwiederholung in der Mailänder Ausstellung für und in Kleins Verständnis der künstlerischen Produktion einnahm. Gezeigt werden konnte, dass er in der Rezeption auf der Wahrnehmung der 49 50 51 52
Vgl. Epperlein 1997 (wie Anm. 42), S. 127. Ebd., S. 128. Vgl. Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 233. Zu Alfred Schuler siehe Ludwig Klages (Hg.), Alfred Schuler: Fragmente und Vorträge aus dem Nachlass, Leipzig 1940. 53 Epperlein 1997 (wie Anm. 42), S. 126. 54 Nicolas Charlet, Yves Klein, München/London/New York 2000, S. 22. 55 Max Heindel, Die Weltanschauung der Rosenkreuzer oder mystisches Christentum. Eine grundlegende Abhandlung über die vergangene Entwicklung, die gegenwärtige Wesenheit und die künftige Entfaltung der Menschheit, Darmstadt 1991, S. 47–51.
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Einzelwerke im Gegensatz zur Wahrnehmung einer Gesamtinstallation bestand und am Auratischen festhielt. Damit sind noch weitreichendere, produktionstheoretische Konzepte verbunden, die Kleins Kunstkonzept konstituieren.
kunst als übung und die überwindung des bildes Wie bereits ausgeführt experimentierte der Autodidakt Klein einige Jahre mit der Monochromie und allem voran mit dem ultramarinen Blau, bevor er erste Arbeiten präsentierte und ihnen überhaupt ein Bildpotenzial zusprach. Dabei beschrieb Klein 1959 in Le dépassement de la problématique de l’art auch, dass er selbst ganz in den monochromen Raum eingetaucht sei, sich durchdringen ließ und so die Energien des Blaus aufsog.56 Auf diese Weise sei er „zu einer Art Atommeiler, einer Art Generator konstanter Strahlung“ geworden, der „die Atmosphäre mit seiner gesamten malerischen Präsenz imprägniert“.57 Klein mystifizierte sich als Individuum mit der besonderen Kraft, die aufgenommenen kosmischen Lebensenergien ausstrahlen zu können. Die Arbeit an den Monochromen und an seinen späteren, ins Immaterielle überführten Werken lässt sich mit Klein als ‚Stabilisierung‘ bezeichnen.58 Stabilisiert werden sollte jeweils die Aura, die Ausstrahlung der Werke, die ‚pikturale Sensibilität‘. Zu Beginn seiner Karriere wurde die Strahlungsenergie noch in monochromem Blau auf die Leinwand gebracht, wobei das Bild allerdings damals schon wie ein Objekt präsentiert wurde. Später fand Klein andere, immaterielle Medien, die die Rezipientinnen und Rezipienten gleichsam und nun noch stärker imprägnieren sollten. Die in Maßen und Oberflächengestaltung identischen Bilder der Mailänder Ausstellung unterschieden sich gemäß Klein durch die Menge oder Intensität an Energie, die von ihm in das Werk eingebracht worden war. Die Selbstwiederholung erscheint so als Übung im Sammeln und Ausströmenlassen von Energie. Je nachdem, wie gut dies glückte und mit fortschreitender Erfahrung und Kraft des Künstlers, entstanden so mehr oder weniger stark ausstrahlende Arbeiten. So kommt hinsichtlich der Selbstwiederholung auch die in dieser Publikation immer wieder angesprochene Perfektionierung künstlerischer Techniken zum Tragen, ebenso wie die gleichfalls diskutierte Annäherung an ein finales Kunstwerk, welches bei Klein in letzter Konsequenz in der Künstlerpersönlichkeit selbst besteht. Im Jahr der Ausstellung in Mailand schrieb Klein, dass ein Maler „beständig ein einziges Meisterwerk malen (müsse, L. B.) – sich selbst“.59 56 Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 81, im Original heißt es: „J’ai donc débouché dans l’espace monochrome, dans le tout, dans la sensibilité picturale incommensurable. Je n’y ai pas débouché, enfermé dans la personnalité, non. Je me suis senti, m’imprégnant volumétriquement, hors de toutes proportions et dimensions, dans le TOUT.“ 57 Klein zit. n. Thomas Wagner, Genie in Blau. Sich selbst als Meisterwerk schaffen: Yves Klein in Köln, Düsseldorf und Krefeld, in: Renate Damsch-Wiehager (Hg.), ZERO und Paris 1960. Und heute. Ausst.-Kat. Galerie der Stadt Esslingen 1997/Musée d’Art Moderne et Contemporain Nizza 1998, Ostfildern-Ruit 1997, S. 37–41, hier S. 36; Originaltextstelle in: Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 43f. 58 Vgl. Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 81. 59 Klein zit. n. Wagner 1997 (wie Anm. 55), S. 36; Originaltextstelle in Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 43f.
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Das teleologische Kunstkonzept Kleins wird auch darin deutlich, dass er sich im Laufe seiner Karriere vom Bild abwandte und ein Jahr nach der Mailänder Ausstellung in der Pariser Galerie Iris Clert ein gänzlich ‚immaterialisiertes Blau‘ präsentierte, dessen Wirkkraft nicht mehr über den Augensinn ‚gemindert‘ wurde, sondern direkt in den Betrachter eindringen sollte. Hier stellte Klein keine Monochrome aus, sondern weißte die Wände des Galerieraumes. Lediglich der Eingangsbereich war blau gestrichen, am Hauseingang hing ein blauer Baldachin. Beim Betreten der Ausstellung wurde den Besucherinnen und Besuchern ein blauer Cocktail gereicht. Kleins Beschreibung des Projekts in der Ausstellungseinladung lautet folgendermaßen: „Tout sera blanc pour recevoir le climat pictural de la sensibilité du bleu immatérialisé.“60 In seiner Programmatik Ma position dans le combat entre la ligne et la couleur (1958) formulierte er dieses Farbverständnis ebenfalls: „Il ne s’agit plus de voir la couleur, mais de la ,percevoir‘. (…) à présent mes tableaux sont invisibles (…).“61 Die künstlerische Arbeit diente Klein insofern als eine Übung zur Herstellung immaterieller Sensibilitätszonen, die der Künstler später auch kommerzialisierte und als „Zonen pikturaler Sensibilität“ verkaufte.62 Das Verständnis der künstlerischen Praxis als eine Art Übung und ein Ausströmenlassen von Energie lässt eine Verbindung zum Judo zu. In den sogenannten Kiai-Übungen, die Klein praktizierte, standen „Stimmund Atemübungen“ im Vordergrund, die dem „Judoka besondere Kontrolle über Körper und Geist verleihen sollen“.63 In einem Artikel schreibt Klein, dass man ihn oft gefragt habe, ob Judo für seine Malerei wichtig sei und erörterte dann, entgegen allen vorherigen Negierungen eines Verhältnisses von Judo und Malerei: „Judo has helped me to understand that pictorial space is, above all, the product of spiritual exercises. Judo is, in fact, the discovery of the human body in a spiritual space.“64 Der Begriff der Übung ist für Kleins Kunstpraxis somit grundlegend, der Bildraum entspricht dem spirituellen Raum, in den sich Klein auch in den Judo-Übungen begab. Bilder sind demnach Ergebnisse einer geistigen Konzentration. Ming Tiampo bringt Kleins Ansatz mit der Tradition der japanischen literati zusammen, einer traditionellen Schule der japanischen Kunst und Malerei, in der es darum geht, das ki „durch den Pinsel aufs Blatt zu bündeln und so geistige Resonanz (kiun) herzustellen“.65 Das ki ist insofern in Analogie zum bereits beschriebenen Konzept der ‚pikturalen‘ und ‚kosmischen Sensibilität‘, dem Pneuma66 sowie im allgemeinsten 60 Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 89, dt. Übers. der Autorin: „Alles soll weiß sein, um das pikturale Klima der blauen, immateriellen Sensibilität aufzunehmen.“ 61 Klein 2003 (wie Anm. 10), S. 51, dt. Übers. der Autorin: „Es handelt sich nicht darum, die Farbe zu sehen, sondern sie wahrzunehmen. (…) Gegenwärtig sind meine Bilder unsichtbar (…).“ 62 Vgl. Seegers 2003 (wie Anm. 32), S. 119. 63 Sidra Stich in: Köln/Düsseldorf/London u. a. 1994/95 (wie Anm. 8), S. 55; siehe auch Ming Tiampo, Abdrücke des Immateriellen: Yves Klein in Japan, in: Wien 2007 (wie Anm. 1), S. 169–178, hier S. 171. 64 Dieser Text findet sich in der französischen Gesamtausgabe von 2003 nicht, er ist in englischer Übersetzung entnommen aus: Klaus Ottmann, Overcoming the Problematics of Art. The Writings of Yves Klein, Putnam 2007, S. 4. 65 Tiampo 2007 (wie Anm. 61), S. 171. 66 Zum Begriff des Pneumas siehe Seegers 2003 (wie Anm. 32), S. 107 und S. 116f.
identität und differenz in yves kleins blauen monochromen 207
Sinne zum Begriff der kosmischen Energie zu stellen. Der Künstler zieht Energien aus seinen Übungen, aus der Farbe und lässt diese aus sich heraus in das Kunstwerk und so zurück in die Umgebung ausströmen. Im Kontext der Mailänder Ausstellung entstand eine Fotografie, die Klein dabei zeigt, wie er eher uninspiriert dazu anhebt, mit einer Farbrolle ein blaues Monochrom anzustreichen.67 Dadurch verliert sein Konzept an Überzeugungskraft. Es sind eben solche widersprüchlichen Gesten, die Klein zu einer so viel diskutierten, kritisierten und dadurch letztlich bekannten Künstlerpersönlichkeit avancieren ließen.
67 http://www.yveskleinarchives.org/documents/bio_img/large/1957_apo_5.jpg (letzter Zugriff am 5. Juni 2017).
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geraldine spiekermann
„Wiederholung und Erinnerung stellen die gleiche Bewegung dar, nur in entgegengesetzter Richtung; denn woran man sich erinnert, das wird in rückwärtiger Richtung wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung Erinnerung in Richtung nach vorn ist.“ Søren Kierkegaard1 Im Jahr 2014 stellt die Theaterwissenschaftlerin Susanne Foellmer eine „zunehmende Beschäftigung mit dem Wieder-Holen von vergangenen singulären Performanceereignissen“2 in den letzten Jahren fest. Leitend für die Wiederholung von Performances seien unter anderem Fragen danach, wie die temporären und singulären Ereignisse im historischen und kulturellen Gedächtnis präsent gehalten und bewahrt werden könnten.3 Ob es bei den Wiederholungen darum gehen sollte, die jeweilige Performance „möglichst nahe am ursprünglichen Geschehen detailliert zu reanimieren“, wie Foellmer es ausdrückt, oder ob nicht viel eher von den Künstlern/-innen der Versuch zu unternehmen sei, sich den ursprünglichen Werken mit einem „kritische(n), distanziertere(n) Ansatz“ anzunähern,4 werde von Kunstkennern/-innen und -kritikern/-innen divers diskutiert – falls eine solche Reperformance nicht von vorneherein als nostalgisch, kitschig und theatralisch sowie als ein Mittel zur kommerziellen Weitervermarktung abgewertet und damit generell für nicht diskussionswürdig befunden werde. Zu den bis heute populärsten Beispielen von ‚Selbstwiederholungstätern/-innen‘ im Bereich der Performancekunst zählt unter anderem die US-amerikanische Künstlerin Carolee Schneemann (*1939), die im April 2002, nach mehr als 30 Jahren, ihre Performance Meat Joy aus dem Jahr 1964 anlässlich der Ausstellung A Short History of Performance: Part One in der Whitechapel Art Gallery in London wiederholte. In derselben Ausstellung, die dem Titel zufolge die Geschichte der Performance widerzuspiegeln suchte, zeigte auch der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch (*1938) Wiederholungen einiger seiner bekanntesten Aktionen. Nur ein Jahr später, 1 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung. Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin (Gjentagelsen, 1843), Frankfurt a. M. 2005, S. 7. 2 Susanne Foellmer, Re-enactment und andere Wieder-Holungen in Tanz und Performance, in: Frédéric Döhl/Renate Wöhrer (Hg.), Zitieren, Appropriieren, Sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten, Bielefeld 2014, S. 69–92, hier S. 70. 3 Ebd. 4 Ebd.
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1 Marina Abramović, Lips of Thomas, 2005, Farbfotografie
2003, führte die japanisch-amerikanische Künstlerin Yoko Ono (*1933) in Paris mit einem ebenfalls sehr deutlichen Zeitabstand ihr berühmtes Cut Piece erneut auf, das sie Mitte der 1960er Jahre bereits einige Male an verschiedenen Orten gezeigt hatte. Im November 2005 schließlich wiederholte die 1946 in Jugoslawien geborene Performance künstlerin Marina Abramović in ihrer Ausstellung Seven Easy Pieces im Guggenheim Museum in New York gleich mehrere Performances namhafter Künstler/-innen aus den 1960er und 1970er Jahren.5 Diese sieben Performances wurden jeweils sieben Stunden lang an sieben aufeinanderfolgenden Tagen vor dem anwesenden Publikum auf einer runden Holzbühne im Zentrum der sich aufwärts windenden Treppenspirale des Museums von Abramović vollzogen (Abb. 1). Ein Unterfangen, das so noch nie
5 Siehe: Marina Abramović. 7 Easy Pieces, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Mailand 2007.
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2 Marina Abramović, Lips of Thomas, 1975, Schwarzweißfotografie
zuvor ein/e Performancekünstler/-in überhaupt in Erwägung gezogen hatte. In diesem besonderen Fall ist sie daher sogar eine absolute ‚Ersttäterin‘. Unter den von Abramović ausgewählten Werken von Bruce Nauman, Vito Acconci, VALIE EXPORT, Gina Pane und Joseph Beuys befindet sich auch eine ihrer eigenen Performances mit dem Titel Lips of Thomas sowie die neue Arbeit Entering the Other Side als finaler Höhepunkt der Ausstellung. Die ursprüngliche Performance von Lips of Thomas aus dem Jahr 1975 begann mit dem langsamen Verspeisen eines Liters Honig mithilfe eines Silberlöffels und dem Trinken von einem Liter Rotwein aus einem Kristallglas. Die vollkommen unbekleidete Künstlerin saß dabei in der Galerie Krinzinger an einem mit weißem Tuch bedeckten Tisch vor einem hellen Hintergrund. Anschließend zerbrach sie das Glas in ihrer rechten Hand und schnitt sich mit einer Rasierklinge die Bauchdecke sternförmig auf (Abb. 2). Sie peitschte sich selbst aus, bis sie keinen Schmerz mehr fühlte und legte sich dann rücklings auf ein Kreuz aus dicken transparenten Eisblöcken, während ein Heizstrahler über ihrem Bauch die Wunde anstrahlte und durch die Hitze offen hielt (Abb. 3). 30 Minuten lang blieb sie auf den Eisblöcken liegen, bis einige Personen aus dem Publikum die Aktion unerwarteterweise
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3 Marina Abramović, Lips of Thomas, 1975, Schwarzweißfotografie
aus Sorge um das leibliche Wohl der Künstlerin vorzeitig beendeten, indem sie diese in einen Mantel gehüllt von den Eisblöcken herunterholten.6 Insgesamt dauerte die Performance zwei Stunden. Bei der Planung zu den Wiederholungen von Lips of Thomas und den anderen Performances im Jahr 2005 lässt sich Abramović, wie es bei Foellmer anklingt und in der genannten Ausstellung der Whitechapel Art Gallery im Titel betont wird, von konservatorischen Fragen leiten, etwa davon, wie die vergängliche Kunstform der Performance angemessen repräsentiert und bewahrt werden könne:7 „(…) Seven Easy 6 Erika Fischer-Lichte, Die Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2012, S. 13–52, hier S. 46. 7 Die Theaterwissenschaftlerin Sandra Umathum macht darauf aufmerksam, dass damit „zugleich – oder sogar in erster Linie – die Möglichkeiten der Verewigung ihres eigenen künstlerischen Lebens und Werks“ für Abramović bedeutsam werden. Vgl. Sandra Umathum, Seven Easy
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Pieces examines the possibilities of representing and preserving an art form that is, by nature, ephemeral.“8 Sowohl das Publikum als auch die Kunsthistoriker/-innen und Kritiker/-innen hatten sich bis dahin daran gewöhnt, eine vergangene Performance als „ephemeral“, als flüchtig und nach ihrem Vorübergehen als unwiederbringlich verloren zu begreifen. Die Performancespezialistin Peggy Phelan konstatierte Mitte der 1990er Jahre, dass die Ontologie der Performance in ihrer Vergänglichkeit bestehe und dass sie sich als solche überhaupt erst durch ihr Verschwinden manifestiere: „Performance’s being (…) becomes itself through disappearance.“9 Dieses Credo wird über Jahre hinweg die allgemeine Vorstellung von Performancekunst maßgeblich bestimmen. Was von dem singulären Ereignis übrig bleibt, sind Spuren im Gedächtnis der Teilhabenden in Form von Erinnerungen oder in Archiven und Museen fotografisch festgehaltene Momentaufnahmen, schriftliche Dokumente oder einige wenige benutzte Objekte. Diese Relikte können das ursprüngliche Ereignis der Performance nur bruchstückhaft widerspiegeln; und dennoch haben viele der Fotografien einen nahezu ikonischen Bildstatus im kunstgeschichtlichen Bildgedächtnis erlangt: So beispielsweise zwei Fotografien der österreichischen Künstlerin VALIE EXPORT, aus dem Jahr 1969 mit dem Titel Aktionshose „Genitalpanik“, die Abramović im Rahmen der Seven Easy Pieces am dritten Tag als lebendes Bild nachstellte. Ihre Wiederholung ist dabei gerade nicht auf die Ursprungsaktion von EXPORT in einem Münchner Kinosaal bezogen, sondern dezidiert auf die fotografische Vorlage, von der sie allerdings abwich, indem sie sich bewegte und sogar Tränen vergoss.10 Auf diese Weise entstanden vollkommen neue Fotografien einer Performance, die eine Fotografie nachstellte, die einmal eine Aktion gewesen war. Gerade zu Beginn der Performancegeschichte in den 1960er Jahren mangelt es den visuellen Dokumentationsmaterialien, wie Fotografie und Videofilm, an Qualität und Quantität, und sie sind in vielen Fällen schlicht nicht vorhanden, da ganz bewusst auf deren Einsatz verzichtet wurde. Die ersten Performances wurden gezielt nicht dokumentiert, da, wie Abramović selbst berichtet, „most of us believed that any documentation – by video or photos – could not be a substitute for the real experience: seeing it live“.11 Obwohl wenig später bereits dazu übergegangen wird, via Dokumentationsmedien Spuren der Performances zu hinterlassen, vor allem, um sie einem größeren Publikum bekannt zu machen, werden diese den ephemeren Ereignissen niemals gerecht: Sie vermitteln oft nicht nur einen lückenhaften, sondern sogar einen falschen Eindruck und führen Abramović zufolge zu einer „total mystification and misrepresentation of the actual events. This created a huge space for projection and speculation“.12 Die Rezipienten/-innen sind gezwungen, diese imaginäre Kluft mit eigenen Vorstellungen und Interpretationen zu ergänzen und aufzufüllen, um ein
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Pieces oder von der Kunst, die Geschichte der Performance Art zu schreiben, in: Roselt/Otto 2012 (wie Anm. 6), S. 101–123, hier S. 120. Marina Abramović, Reenactment. Introduction, in: New York 2007 (wie Anm. 5), S. 9–12, hier S. 11. Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance, London/New York 1993, S. 146. Siehe New York 2007 (wie Anm. 5), S. 128. Abramović 2007 (wie Anm. 8), S. 9. Ebd., S. 10.
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imaginatives geschlossenes Gesamtbild zu erhalten. Nicht selten erlangen die Relikte, die der Erfahrung des ‚seeing it live‘ ermangeln, bei diesem Versuch einen Kultstatus, der von den Performern/-innen gar nicht intendiert worden ist. Die Aura des so nicht mehr Greifbaren wird auf das (be-)greifbare Ding übertragen, auch um den Glauben an das einmalige und einzigartige Geschehen aufrechtzuerhalten. Ursprünglich steht jedoch das singuläre Ereignis im Vordergrund und gerade nicht ein für den Kunstmarkt wiederverwertbares, vorzeigbares Objekt. Die Mystifizierung der ursprünglichen Performance und die mit ihr verknüpften Projektionen und Spekulationen und der unbedingte Glaube an die Unwiederholbarkeit des einmaligen Ereignisses erschweren vielen Kunsthistorikern/-innen und -kritikern/-innen den unvoreingenommenen Blick auf eine Reperformance. Die Kunsthistorikerin Mechtild Widrich stellt hierzu fest: „Wir haben über Jahre hinweg unsere Version dieser Arbeiten imaginiert: Keine Performance wird dieser Vorstellung gerecht werden können. (…) Bereits im Moment der authentischen Performance beginnt der Prozess der Imagination, immer wieder gespeist durch neue Wahrnehmungen und Erinnerungen und durch das Erleben und die Reaktionen anderer ZuschauerInnen, also die Kommunikation. (…) Das Problem ist nicht die Wiederholung, sondern der Anspruch auf Gesamtheit in der Reperformance. Er stört unsere eigenen Iterationen im Kopf.“13 Widrich und Abramović lehren die Rezipienten/-innen zweierlei: Zum einen kann es kein objektives Erleben und lückenloses Erinnern geben, denn die Wahrnehmung ist ein komplexer und subjektiver Prozess. Die Erinnerung aber ist eine aktive Konstruktion des Subjekts, gerichtet gegen das Verschwinden und Vergessen, und setzt bereits gleichzeitig mit der Wahrnehmung ein. Und zum anderen kann keine Wiederholung eines Erlebnisses der eigenen, einmal fixierten Vorstellung davon jemals gerecht werden. An dem ersten Punkt ist vermutlich nicht zu rütteln, wichtig ist, dass diese Subjektivität bewusst wahrgenommen wird und, um dem zweiten Punkt die Absolutheit zu nehmen, diese nicht als Maßstab aller Dinge gesetzt und die Reperformance an ihr gemessen wird. Genau das geschieht nahezu unbemerkt, ja unweigerlich durch den Vergleich zwischen dem Original und der Wiederholung vor allem dann, wenn das Fremdartig-Neue dem Altbekannten doch so merkwürdig ähnlich erscheint beziehungsweise das Altbekannt-Vertraute plötzlich so fremd und andersartig daherkommt. Wie bei einem Déjà-vu-Erlebnis interagiert die seltsame (Un-)Ähnlichkeit des Neuen mit dem Alten mit den einmal gemachten Vorstellungsbildern und stört die Erinnerung daran empfindlich. Was das ‚Wieder-Holen‘ eines temporären Ereignisses und das Déjà-vu gemeinsam haben, ist eine unmittelbare Beziehung zur Wahrnehmung und zur Erinnerung: wie Ereignisse im Gedächtnis behalten werden und wie diese wiederholt und mehr oder weniger überraschend aus dem Vergessen auftauchen. Zudem entsteht 13 Mechtild Widrich, Ge-Schichtete Präsenz und zeitgenössische Performance. Marina Abramovićs The Artist is Present, in: Uta Daur (Hg.), Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 147–166, hier S. 165.
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in beiden Fällen das Gefühl der Irritation und des Befremdens, das mit dem einmal vorgefassten Vorstellungsbild kollidiert. Dennoch bezeichnen beide Begriffe nicht dasselbe. Bei einem Déjà-vu handelt es sich um eine Form der Erinnerung, die das wahrnehmende Subjekt tatsächlich täuscht: Wenn ein Ereignis betrachtet oder erlebt wird, entsteht unmittelbar der Eindruck, das, was gerade gesehen oder erfahren wird, schon einmal ganz genauso gesehen oder erfahren zu haben.14 Dies widerspricht dem Wissen, dass das gar nicht sein kann. Eine Wiederholung ist dagegen eine bewusst vorgenommene, zielgerichtete Handlung, die mental auf dem Gesehenen oder Erlebten basiert. Das Déjà-vu und die Wiederholung basieren gleichermaßen auf Formen von Erinnerungen, ob im Archiv der Museen oder im eigenen Gehirn gespeichert. Im Übrigen müssen sich auch die Reperformer/-innen dieser Erinnerungen bedienen. Und sowohl die Reperformance als auch das Déjà-vu irritieren oder erschüttern das bislang vertraut Geglaubte. In den wenigsten Fällen stützt sich das sich erinnernde Subjekt allein auf eigene Erinnerungen und Erinnerungsbilder, sondern es vermischen sich mit den eigenen auch die Erinnerungen von Dritten, von Zeitzeugen oder Performern/-innen. Möglicherweise mischen sich Erinnerungsbruchstücke aus schriftlichen und/oder bildlichen Dokumentationsmaterialien mehr oder weniger (un-)bewusst mit hinzu, und so wird das Geschehen oder die Performance in der eigenen Vorstellung jeweils unter vollkommen subjektiven Vorzeichen imaginiert und fixiert. Zu glauben, eine Performance anhand der Sichtung aller Archivdokumente ganz genau zu kennen und sich ein richtiges oder gar umfassendes Bild von dieser gemacht zu haben, ohne live dabei gewesen zu sein, ist ein Irrglaube. Dennoch kommt vielen Kunsthistorikern/-innen das ursprüngliche Ereignis bestens vertraut vor, und so beschleicht sie im Angesicht des Unheimlich-Ähnlichen, das im Gewand der Reperformance so bekannt daherkommt, das verstörende Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses: das Empfinden des Vertrauten, das unmittelbar der Irritation und dem Befremden weicht. Mit anderen Worten: Die Reperformance ist das Bild, das aus dem (Vorstellungs-)Rahmen fällt. Dementsprechend herb fallen die Kritiken gegen Abramović aus, die in der Reperformance eine „reactionary nostalgia for an idealized, unmediated, live experience, (which) reifies performance, aligning it with the demands of the market for repro ducibility“ konstatieren.15 Damit einhergehend werde zugleich die gesamte Geschichte der Performance pervertiert, und zwar „from within creating the ‚pseudo-cyclical time‘ of spectacle“.16 Die Wiederholung eines singulären Performance-Ereignisses im musealen Kontext ist ungewohnt, vielleicht sogar ungewollt und wird als theatrales Spektakel, als nostalgischer Kitsch und rein kommerzielle Vermarktungsstrategie abgewertet. Dabei wirft gerade eine Reperformance ganz generelle und neue Fragen nach 14 Der Begriff „déjà-vu“ wird zum ersten Mal von dem französischen Philosophen Émile Boirac 1876 in einem Brief an den Herausgeber der Revue philosophique benutzt und später in seinem Buch L’Avenir des sciences psychiques von ihm verwendet. Siehe Revue philosophique 1/1876, S. 430f., und Émile Boirac, The Psychology of the Future, London 1918, S. 233. 15 Pila and Galia Kolletiv, Retro/Necro: From beyond the Grave of the Politics of Re-Enactment, in: Art Papers, November–December 2007, S. 45. 16 Ebd.; vgl. Guy Debord, La Société du spectacle, Paris 1992, S. 151 („temps pseudo-cyclique“).
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dem Wesen oder dem Sinngehalt einer Performance auf: Wie lässt sich das Sein eines ephemeren Werks begreifen, wenn es eben nicht verschwindet, sondern wieder und wieder zum Leben erweckt wird? Dass es bei einer Reperformance gerade nicht um eine reine Reanimation geht, sondern um eine Veränderung, eine Aktualisierung und Neuinterpretation – und dass sie damit ganz im Sinne der Kierkegaard’schen Wendung eine „Erinnerung in Richtung nach vorn“ ist17 – stellt die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte fest: „Eine ‚Auferstehung‘ von Performances ist nur um den Preis ihrer Veränderung zu haben.“18 Abramović fordert eine unmittelbare Neuinterpretation der Werke und entwickelt eigene Maßstäbe für die erneute Darstellung und damit aktive Erhaltung von Performances: „Ask the artist for permission. Pay the artist for copyright. Perform a new interpretation of the piece. Exhibit the original material: photographs, videos, relics. Exhibit a new interpretation of the piece.“19 Was Abramović also vorschlägt, ist ein eindeutiger Abstand zum Original durch die Neuinterpretation und ein ebenso unmissverständlicher Verweis auf das Original durch die Namensnennung und die Ausstellung der Archivmaterialien. Was Letztere bislang nur bruchstückhaft oder sogar falsch vermitteln konnten und was bar jeder Erfahrung für die Betrachter/-innen in den Ausstellungen gezeigt wird, wird von Marina Abramović über die aktive Wiederholung ‚in Richtung nach vorn‘ erst erfahrbar gemacht: „(…) these substitutable media never did justice to the actual performances. The only real way to document a performance art piece is to re-perform the piece itself.“20 Die Reperformance ermöglicht damit den Betrachtern/-innen genau das, was für die Performance als essenziell angesehen wird und durch nichts zu ersetzen ist, das ‚seeing it live‘. Die exakte Kopie der Werke ist per se unmöglich. Die Selbstwiederholung und damit die Wiederbelebung oder Neuinterpretation durch den oder die KünstlerIn weicht von der in geistigen wie musealen Archiven konservierten Erinnerung ‚in rückwärtiger Richtung‘ unweigerlich ab. In dieser Differenz zum Original liegt Daur zufolge genau das enorme Potenzial der Wiederholung begründet.21 Es liegen exakt drei Jahrzehnte zwischen Abramovićs Performance und Reperformance von Lips of Thomas; der zeitliche Abstand, der Ort, der Anlass und eine andere Generation von Betrachtern/-innen beeinflussen und verändern die Performance. Diese ist damit per se anders als das Original. Abramović ist natürlich noch immer Abramović, doch auch sie hat sich verändert und ist nicht mehr dieselbe wie dreißig Jahre zuvor. Die Differenz zum uneinholbaren, unwiederholbaren Ereignis ist mehr als offensichtlich. Die Theaterwissenschaftlerin Joy Kristin Kalu betont, dass sich die Performance Art der 1960er und 1970er Jahre gerade den „repetitive(n), serielle(n) und standardisierte(n) Verfahren der US-amerikanischen 17 18 19 20 21
Kierkegaard 1843 (wie Anm. 1), S. 7. Fischer-Lichte 2012 (wie Anm. 6), S. 45. Abramović 2007 (wie Anm. 8), S. 11. Ebd. Uta Daur, Einleitung, in: Daur 2013 (wie Anm. 13), S. 7–16, hier S. 11.
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Pop, Minimal und Concept Art(,) die essentialistischen Gebote der Originalität, Authentizität und Inspiration von Werk und Künstler unterwanderten“,22 mit dem Grundsatz der Unwiederholbarkeit deutlich entgegengestellt habe. Die Performances seien sogar durch „Zufallsverfahren, Improvisationen und Zuschauerpartizipation“23 in ihrer Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit mit Netz und doppeltem Boden gegen eine mögliche Wiederholung abgesichert. So habe die Performance „etwa bis zum neuen Millennium (…) als letzte Bastion einmaliger Kunst“ gegolten und habe „sich zur Fortschreibung des modernistischen Mythos der Originalität der Avantgarde“24 besonders gut geeignet. Sie wurde „als widerständiges Phänomen“ theoretisiert, „das sich den Wiederholungen, die sowohl die Herstellung als auch die Ästhetik der Pop und Minimal Art kennzeichneten, entzog: Performance und Wiederholung schlossen einander aus, wurden als antagonistische Pole im Spannungsfeld von Originalität und Reproduktion konzipiert“.25 Abramović hat genau diesen Standpunkt in den 1970er Jahren selbst vertreten: „In 1975, I made a statement: no rehearsal, no predictive end, and no repetition of any kind in performance. This was the statement. And then I also made a statement that I hate theater – I said this in 1975.“26 Sie betont das Jahr ihrer (ersten) Performance von Lips of Thomas gleich mehrfach, denn zu diesem Zeitpunkt zitiert sie sich selbst mit einem Abstand von annähernd vier Jahrzehnten und ist schon lange nicht mehr dieser Auffassung. Sie erklärt, dass sich ihre Einstellung mittlerweile geändert habe: „In 2013 I’m saying: re-performance is okay, and I’m saying theater is okay. And why? Because it’s been an enormous amount of time in between, and things change. I used to hate theater (…) I was establishing a new form of art, and theater was the biggest enemy because everything was fake. (…) I don’t need to hate anything now because I established my image very clearly and it’s there.“27 Wenn Abramović sogar dazu übergeht, nicht selbst ihr Werk zu zeigen oder zu wiederholen, sondern andere Personen stellvertretend einzusetzen, was sagt uns das über ihre Auffassung von Autorschaft? Denn 2010, nur fünf Jahre nach ihrer Ausstellung Seven Easy Pieces, wird die Künstlerin anlässlich ihrer großen Retrospektive The Artist is Present im Museum of Modern Art in New York – während sie selbst eine Performance mit Publikumsbeteiligung durchführt – ihre vergangenen Performances als Live-Event von Schauspielern/-innen darstellen lassen. Wie wichtig ist Abramović für eine Performance 22 Joy Kristin Kalu, Ästhetik der Wiederholung. Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances, Bielefeld 2013, S. 11. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Marina Abramović in: MONO.KULTUR 35/2013, S. 36. 27 Ebd.
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von Abramović überhaupt, und wie wichtig sind die Betrachter/-innen für Abramović oder Nicht-Abramović? Sowohl für ihre Performance als auch für die Wiederholung durch Schauspieler/-innen trifft zu, dass beide Ereignisse durch den Vollzug einer Handlung in der reellen Zeit durch den oder die Performer/-in oder Akteur/-in in propria persona und der unmittelbaren Wirkung der Performance auf das Publikum gekennzeichnet sind.28 Die Akteure befinden sich im Hier und Jetzt, sie vollziehen diese Handlung und sind sie selbst – niemand behauptet in diesen Wiederholungen von Abramović, Abramović zu sein. Diese rein performative Funktion wird durch das Wissen um die Wiederholung durch Schauspieler/-innen in der eigenen Wahrnehmung und Vorstellung unweigerlich von einem referenziellen Subtext begleitet: Dieser besagt, es handele sich um die Darstellung einer Person – Marina Abramović – und einer Handlung – eine ihrer Performances – und so fort. Wie können sich die Besucher/-innen der Ausstellung in einem Museum überhaupt von der Vorstellung lösen, dass es sich nicht um eine theatrale Darstellung handelt, nicht um die Übernahme der Rolle Abramovićs, wenn es doch eine Handlung ist, die nur mit ihr verbunden wird? Wie soll nicht eine fiktive Zeit, in der die Performance zum ersten Mal stattgefunden hat, evoziert werden, wenn das Ereignis in einer Retrospektive gezeigt wird, die mit belebten und bewegten Bildern so anschaulich in die Geschichte zurückblickt? Wie nicht ein theatral motiviertes So-tun-als-ob-man-Abramović-sei unterstellen? Das gelingt nur dann, wenn auch die Rezipienten/-innen distanziert und reflektiert mit ihren einmal vorgefassten Vorstellungsbildern umzugehen wissen und nicht glauben, bereits alles verstanden zu haben, noch bevor richtig hingeschaut wurde. Dann können sie wie Abramović akzeptieren, dass die Dinge sich ändern können: ‚things change‘. Die eigene Erfahrung des ‚seeing it live‘ ist essenziell und maßgeblich, ganz unabhängig von der Person, die es präsentiert, denn diese ist – bei der Wahrung und Nennung der Autorschaft an dem entsprechenden Werk – zugunsten der Live-Erfahrung austauschbar. Dezidiert zur Reperformance von Lips of Thomas stellt Fischer-Lichte fest, dass das im Wesentlichen unvoreingenommene Publikum ohne Zweifel das Ereignis mitkonstituierte und dass die Zuschauer/-innen es „offensichtlich weniger als eine kunsthistorische Demonstration denn als eine Aufführung (erlebten, G. S.), die sich hier und heute ereignete und sie zu involvieren und zu affizieren vermochte. Sie löste in ihnen physiologische, affektive, energetische und motorische Reaktionen aus und setzte zugleich Prozesse der Reflexion in Gang“.29 In dieser Wiederholung agierte die Künstlerin sieben statt zwei Stunden lang auf der weißen, runden Bühne im Mittelpunkt des gewundenen Treppenaufgangs (siehe Abb. 1). Allein schon diese immense Dauer hat zur Folge, dass der originale Ablauf der 28 Siehe hierzu Erika Fischer-Lichte, Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz, Frankfurt a. M. 2002, S. 277–300, hier S. 280. 29 Fischer-Lichte 2012 (wie Anm. 6), S. 47.
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4 Marina Abramović, Lips of Thomas, 2005, Farbfotografie
oben beschriebenen Einzelhandlungen der Seven Easy Pieces von Abramović variiert wurde. Es wurden kürzere Sequenzen durchgeführt, die wiederholt wurden. Auf diese Weise wurde der ganze Ablauf der Performance gleich mehrfach über sieben Stunden gezeigt, sodass innerhalb der Wiederholung weitere Wiederholungen stattfanden. Sie verzichtet bei der Reperformance darüber hinaus auf einige Handlungen oder variiert diese. So wird beispielsweise das Weinglas nicht von ihr zerbrochen und der Stern wird um 180 Grad gedreht in ihre Bauchdecke eingeritzt (Abb. 4). Er ist ein unmittelbarer Verweis auf den Stern, der als kommunistisches Symbol vor dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens die Mitte der Nationalfahne zierte. In der Originalperformance sieht nur die Künstlerin den Stern in genau dieser Symbolik, wenn sie selbst von oben herab an sich herunterblickt. Das Publikum von 1975 sieht aus seiner Perspektive hingegen ein Pentagramm (vgl. Abb. 2). In der Reperformance im Jahr 2005 dreht sie diesen Stern um 180 Grad und offenbart damit für die Betrachter/-innen klar erkennbar dessen
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5 Marina Abramović, Lips of Thomas, 2005, Farbfotografie
ursprüngliche kommunistische und nationale Bedeutung.30 Eine weitere Abwandlung wird durch die Hinzufügung neuer Elemente eingeführt, die ebenfalls auf die Historie ihres Heimatlandes Bezug nehmen. So präsentiert sie sich stehend in groben Lederschnürschuhen mit einem langen hölzernen Stock in der Hand und militärischer Kopfbedeckung (Abb. 5).31 An dem Stab ist ein Stück weißen Stoffes gebunden, der Blutspuren ihrer Sternwunde aufweist. Ein von Olivera Katarina im Jahr 2005 in Belgrad vorgetragenes Lied wird in dieser neu hinzugefügten Sequenz eingespielt und rührt die Künstlerin zu Tränen:
30 Vgl. Kristine Stiles, Cloud with its Shadow, in: Dies./Klaus Biesenbach/Chrissie Iles (Hg.), Marina Abramović, London/New York 2008, S. 33–95, hier S. 56. 31 Schuhe und Stock könnten m. E. der mit Ulay gemeinsam durchgeführten Performance The Lovers – The Great Wall Walk von 1988 entstammen. Vgl. die Fotografie von Paolo Canevari, in: New York 2007 (wie Anm. 5), S. 17.
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„O Lord, save Thy people / Blessed is Thy name / Forgive us, Lord, our sins / Committed on the Earth // Look upon us, Slavic Souls / Suffering in the world / Nobody understands us, / Our fate’s not worth a penny. // Remember the times of glory, / in Thy name to wars we went, / The war is our eternal cross, / Our life is of a true faith. / Long live our Slavic faith. // The war is our eternal cross, / Long live our Slavic faith.“32 Es bleibt für viele Zuschauer/-innen schwierig nachvollziehbar, wie diese Tränen in jeder der einzelnen Sequenzen echt und authentisch sein können. Wird Abramović jedes Mal von wirklicher Rührung ergriffen, ist das Gefühl in der Wiederholung der Wiederholung tatsächlich noch authentisch oder Teil der Inszenierung? Die Kunsthistorikerin Amelia Jones kommt angesichts der beiden großen Ausstellungen von Abramović zur nüchternen Erkenntnis: „Looking at Abramović’s re-enactments in Seven Easy Pieces and her selfrepresentation in The Artist is Present, I find that what her recent projects expose, in spite of claims in the media to the contrary, is that there cannot be a definetively ‚truthful‘ or ‚authentic‘ form of the live event even at the moment of its enactment – not even (if this could be imagined) as lodged within the body that originally performed or experienced it.“33 So lässt sich an dieser Stelle grundsätzlich fragen, worin die Originalität des Originals überhaupt besteht. Die Kunsthistorikerin Uta Daur stellt dazu fest, dass „das Authentische im allgemeinen Verständnis Wahrhaftigkeit, Originalität, Einmaligkeit und Echtheit“ bedeute, dagegen werde „Wiederholung mit Aneignungen, Kopien und Fakes verbunden“.34 Authentizität werde, so Susanne Knaller, in der Kunsttheorie mit der Bedeutung von „wahrhaftig, originell, unverfälscht“ belegt und bekomme damit zugleich Relevanz für die Echtheitsbestimmung und Zuschreibung von Kunstwerken.35 Diese sogenannte Objektauthentizität bezieht sich dem Historiker Achim Saupe zufolge beispielsweise auf authentische Texte, Kunstwerke oder Aufführungen, während die Subjektauthentizität auf die (Selbst-)Darstellung verweise, das heißt, sie bezeichne „die authentische Existenz sowie die authentische Verkörperung oder Darstellung des Selbst“.36 Damit wäre bei einer Performance demnach sogar eine zweifach potenzierte Form der Authentizität zu konstatieren, zum einen die Authentizität des temporären Werks (Objektauthentizität) und zum anderen die Authentizität des darstellenden Subjekts (Subjektauthentizität). 32 Zit. n. New York 2007 (wie Anm. 5), S. 202. 33 Amelia Jones, „The Artist is Present“. Artistic Re-enactments and the Impossibility of Presence, in: TDR (The Drama Review) 1/2011, S. 16–45, hier S. 19. 34 Daur 2013 (wie Anm. 21), S. 7. 35 Susanne Knaller, Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs, in: Dies./Harro Müller, Authentizität, München 2006, S. 17–35, hier S. 20. 36 Achim Saupe, Authentizität, o. J., unter: https://docupedia.de/zg/Authentizit%C3%A4t_Version_2.0_Achim_Saupe/Text (Letzter Zugriff: 3. September 2016).
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Was aber geschieht, wenn dieses authentische Subjekt in einer authentischen Performance die Bühne betritt und die eigene Biografie in einem Theaterstück als Darstellerin selbst verkörpert und nun also doch behauptet wird, in einer Wiederholung von Abramović auch Abramović zu sein, und es tatsächlich auch ist? Abramović selbst versteht sich jedenfalls nicht als Schauspielerin: „I am a performer not an actor.“37 Im Jahr 1992 zeigt Abramović in ihrem Theaterstück Biography unter anderen ‚realen‘ Ereignissen aus ihrem Leben auch Ausschnitte aus ihren Performances, darunter Lips of Thomas. Sie peitscht sich aus und schneidet schon hier, 13 Jahre vor den Seven Easy Pieces, den Stern zum wiederholten Mal mit einer Rasierklinge tief in ihre Bauchdecke ein, bis das wirkliche Blut aus diesem wirklichen Körper in der wirklichen Zeit zu fließen beginnt. Gleichzeitig aber befinden wir uns in diesem Bühnenstück mit der angeblich viel jüngeren Abramović in der fiktiven Zeit von 1975 und erleben live, wie das seinerzeit vergossene Blut wiederholt aus den alten/neuen Wunden fließt. In dieser hybriden Vermischung der Ebenen von Performance und Theater wird jedwede Vorstellung von Authentizität unterlaufen: „(…) neither genre of presentation could recapture the real time of the original nor the context of the originating artist’s or actor’s personal performance, despite her revitalization of the body works or her forceful, sometimes gripping, re-performances. This very hybridity, however, raises constructive debate for the future over the fine line between the nature of presentation and representation in Body Art and theatre, even if at best re-presentations of Body Art are nostalgic and at worst kitsch.“38 Die Authentizität lässt sich nicht am authentischen Körper als authentisch verifizieren und die Originalität lässt sich nicht auf ein Original zurückführen. Daur merkt an, dass im wissenschaftlichen Diskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Authentizitätsbegriff revidiert worden sei.39 Sie bezieht sich zunächst auf Rosalind Krauss’ Betrachtungen zur Originalität der Avantgarde40 aus den 1980er Jahren und die postmoderne Debatte um den Wiederholungsbegriff in der Appropriationskunst, der die „Bedeutung von Originalität in der Kunst relativierte“,41 um dann die Mitte der 1990er Jahre aufgestellte These des Historikers Hillel Schwartz aufzugreifen, die unsere Gesellschaft generell als eine „culture of the copy“ auffasst.42 Alle Lebensbereiche seien inzwischen von Reproduktions-, Simulations- und Digitalisierungstechniken durchdrungen und wir könnten zwischen Original und Kopie, Vorbild und Abbild 37 Zit. n. Pure Raw. Performance, Pedagogy, and (Re)presentation. Marina Abramović interviewed by Chris Thompson and Katarina Weslien, in: A Journal of Performance and Art 28.1/2005, S. 29–50, hier S. 39. 38 Stiles/Biesenbach/Iles 2008 (wie Anm. 30), S. 93. 39 Siehe Daur 2013 (wie Anm. 21), S. 10. 40 Rosalind Krauss, The Originality of the Avant-Garde: A Postmodernist Repetition, in: October 18/1981, S. 47–66. 41 Daur 2013 (wie Anm. 21), S. 10. 42 Hillel Schwartz, The Culture of the Copy. Striking Likenesses, Unreasonable Facsimiles, New York 1996.
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oder Realität und Fiktion kaum mehr unterscheiden.43 Nach Daur sei heute demnach eher von „Authentizitätssehnsüchten, Authentizitätsfiktionen, Authentizitätseffekten und Authentifizierungs- und Inszenierungsstrategien, die das Authentische hervorbringen“,44 zu sprechen. Abramović stillt in ihrer Reperformance Lips of Thomas die Authentizitätssehnsucht all derjenigen, die sie verspüren, und enttäuscht zugleich all diejenigen, die Authentizität von vorneherein als Fiktion verstehen und die Wiederholung als schlechte Kopie, im besten Fall als nostalgisch oder im schlimmsten Fall als Kitsch abwerten. Jede/r Zuschauer/-in erschafft sich jeweils seine/ihre eigene Aufführung, wie Fischer-Lichte feststellt,45 und jede/r Zuschauer/-in bringt das Authentische mit dieser hervor – oder eben auch nicht. Die Reperformance ermöglicht in erster Linie den sehenden und nicht vorweg schon alles verstanden habenden Betrachtern/-innen genau das, was für die Performance als essenziell angesehen wird und durch nichts zu ersetzen ist, das einmalige ‚seeing it live‘. Das Verschwinden der Performance ist eine natürliche Folge dieser Präsenz, doch das wahre Sein der Performanz ist sicherlich nicht dieses Verschwinden, sondern das Erleben des Moments, in dem sie vor den eigenen Augen stattfindet. Der ‚kritische, distanziertere Ansatz‘ in der Wiederholung ist der einzig gangbare Weg. Und zwar sowohl für die Reperformer/-innen als auch für die Rezipienten/-innen und Kunsthistoriker/-innen. Und doch gilt Letzteren der Angriff auf die Unwiederholbarkeit der Performance bis heute als Sakrileg und die Reperformance als ein sinnentleertes Spektakel. Mit dieser ablehnenden Haltung bleibt ihnen der Weg aus der Sackgasse der Einmaligkeit in die Freiheit der Wiederholung versperrt. Dass es unmöglich ist, in der Wiederholung das vergangene Ereignis in absoluter Totalität wiederzufinden und auch, dass sie unserer Erinnerung oder Vorstellung nie gerecht werden kann, beschreibt Søren Kierkegaard bereits 1843 unter dem Pseudonym Constantin Constantius sehr anschaulich. Er schildert den Versuch, eine verlorene Liebesbeziehung durch die möglichst genaue Wiederholung der ursprünglich mit der geliebten Person gelebten Ereignisse wieder heraufzubeschwören.46 In dieser Erinnerung ‚in rückwärtiger Richtung‘ muss er sein Scheitern erkennen und dass die einzig mögliche Wiederholung die Wiederholung des Unmöglichen ist. Die Gewissheit, dass das ursprüngliche Ereignis, die Erinnerung daran beziehungsweise unsere Vorstellung davon und das wiederholte Ereignis nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, muss allerdings nicht zwingend als ein Verlust von Originalität oder Authentizität und damit als ein Mangel oder Scheitern begriffen werden. Die Differenz zum Original kann durchaus positiv aufgefasst werden, etwa wenn sich daraus Erkenntnisse über das Sein der Dinge gewinnen lassen, über die Bedeutung von Raum und Zeit und die Eigenverantwortlichkeit in der Rezeption von Ereignissen. Es ist die Aufgabe der kunsthistorisch vorgebildeten Rezipienten/-innen, mit den einmal gefassten Vorstellungs- und Erinnerungsbildern reflektiert umzugehen und gegebenenfalls die Sicht auf die Dinge zu ändern und den ‚huge space for projection and speculation‘ aktiv wieder 43 44 45 46
Daur 2013 (wie Anm. 21), S. 11. Ebd., S. 10. Fischer-Lichte 2002 (wie Anm. 28), S. 283. Kierkegaard 2005 (wie Anm. 1).
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freizuräumen, um Platz für ein möglichst unvereingenommenes Erleben zu öffnen, dem ‚seeing it live‘. Kierkegard macht uns im Übrigen keine geringe Hoffnung, unser Glück gerade im Moment dieser Wiederholung zu finden: „Die Liebe der Wiederholung ist in Wahrheit die einzig glückliche. Sie hat wie die der Erinnerung nicht die Unruhe der Hoffnung, nicht die beängstigende Abenteuerlichkeit der Entdeckung, aber auch nicht die Wehmut der Erinnerung, sie hat die selige Sicherheit des Augenblicks.“47 Dies entspricht der grundlegenden Idee der Liveness, die die Künstlerin Abramović mit der Prämisse des ‚seeing it live‘ und die Theoretikerin Peggy Phelan gleichermaßen befürworten. Phelan stellt fest: „Performance’s only life is in the present.“48 Der restauratorisch-konservatorische und zugleich reperformatorisch-neuinterpretatorische Gedanke von Abramović lässt sich mit Kierkegaard, wie eingangs zitiert, als ein dynamischer Prozess verstehen, der in Richtung nach vorn entwickelt und nur im Augenblick erfahrbar wird.
47 Ebd., S. 7. 48 Phelan 1993 (wie Anm. 9), S. 146.
autorinnen und autoren paolo baldacci Freier Kunsthistoriker und Präsident des 2009 in Mailand gegründeten Archivio dell’Arte Metafisica. Studium der Alten Geschichte. Professur für Römische Geschichte und Lateinische Epigrafik an den Universitäten von Genua und Mailand 1970–1991. Forschungsschwerpunkt ist seitdem die italienische moderne Kunst des 20. Jahrhunderts. Experte für das Werk Giorgio de Chiricos, Alberto Savinios und der Pittura Metafisica, darüber hinaus des ersten und zweiten Futurismus, insbesondere für das Werk Giacomo Ballas, Gino Severinis und Luigi Colombos (Fillìa). Autor und Kurator von wichtigen Ausstellungen zu de Chirico, Savinio, Balla, Sironi u. a. Monografie u. a.: De Chirico 1888–1919. La metafisica (Mailand 1997, auch erschienen in frz. und engl. Übersetzung). Mit Gerd Roos zurzeit Vorbereitung des Catalogue raisonné der Gemälde de Chiricos und einer vollständigen Biografie des Künstlers.
lars blunck Seit 2013 Professor für Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Zuvor Gastprofessor (2008–2013) und wissenschaftlicher Assistent (2002– 2008) an der Technischen Universität Berlin. 2001 Dissertation zu performativen Assemblagen der 1950er und 1960er Jahre in den USA (Between Object & Event. Partizipationskunst zwischen Mythos und Teilhabe, 2003). 2005 Deubner-Preis für aktuelle kunsthistorische Forschung. Habilitation im Jahr 2007 an der Technischen Universität Berlin mit der Habilitationsschrift Dimensionen des Sehens. Studien zu Marcel Duchamps Präzisionsoptik (Duchamps Präzisionsoptik, 2008). Zahlreiche Publikationen zur modernen und zeitgenössischen Kunst. Publikationen zum Thema: Marcel Duchamp: Porte-bouteilles, Nürnberg, 2014; Re: Duchamp, in: Pia Müller-Tamm (Hg.), Bethan Huws. Forest, Ausst.-Kat. Kunsthalle Karlsruhe, Köln 2015; Lauter Originale. Ein Gespräch im Musée Imaginaire d’Art Moderne über die (Un)Wiederholbarkeit des Readymades, in: Pia Müller-Tamm (Hg.), Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube, Ausst.-Kat. Kunsthalle Karlsruhe, Heidelberg 2012; Wann ist ein Original?, in: Julian Nida-Rümelin/Jacob Steinbrenner (Hg.), Original und Fälschung, Kunst und Philosophie Bd. 3, Ostfildern-Ruit 2011.
kerstin borchhardt Universitätsassistentin und Habilitandin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig seit 2014. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Rezeption und Entwicklung mythologischer Bildmotive in der modernen Kunst, Malerei und Darwinismus, Trans
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humanismus, Theorien des Monströsen sowie amerikanische Superheldencomics. Förderung durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes (2005–2009), ein Promotionsstipendium der Gerda Henkel Stiftung (2010–2012) und eine Mentorenförderung durch das T.E.A.M. Förderprogramm für Nachwuchswissenschaftlerinnen der Universität Leipzig seit 2015. Dissertation zum Thema: Bestiarium Böcklinarum. Mythos und Evolution im Werk Arnold Böcklins (Böcklins Bestiarium. Mischwesen in der modernen Malerei, Berlin 2017). Monografie: Des Künstlers Alter Ego: Kreativität und Destruktivität in Arnold Böcklins „Selbstbildnis mit dem fiedelnden Tod“, Saarbrücken 2010. Aufsätze: Schwankende Ambiguität. Künstlerische Strategien der Befremdung in Max Klingers Triton und Nereide und Christus im Olymp, in: Schriften des Freundeskreises Max Klinger e. V., Bd. 4, Berlin 2015; Hybride Evolutionen. Eine etwas andere Körpergeschichte, in: Andrea Bartl/Hans-Joachim Schott (Hg.), Naturgeschichte, Körpergedächtnis. Erkundungen einer kulturanthropologischen Denkfigur, Würzburg 2014; Sensenmann, Heiland und Femme fatale. Gesichter des Todes in der modernen Malerei, in: Günter Seubold/Thomas Schmaus (Hg.), Ästhetik des Todes – Tod und Sterben in der Kunst der Moderne, Bonn 2013.
linn burchert Seit Oktober 2014 Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte am Seminar für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bei Prof. Dr. Verena Krieger. Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel: Das Bild als Lebensraum. Ökologische Konzepte in der abstrakten Moderne 1910–1960. Studium der Kulturwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik (2008–2012) sowie der Vergleichenden Literatur- und Kunstwissenschaft (2012–2014) an der Universität Potsdam. Während des Studiums u. a. studentische Hilfskraft in der Forschungsgruppe Art and Knowledge in Pre-Modern Europe am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte sowie Praktikantin am Goethe-Zentrum in Mendoza, Argentinien. Forschungsschwerpunkte sind Beziehungen zwischen Kunst-, Ideenund Wissenschaftsgeschichte, insbesondere Medizin, Heilkunde und Ökologie sowie Naturkonzepte und Naturzugänge in der Kunst des 20. Jahrhunderts.
verena krieger Seit 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Kunstgeschichte an der Universität Jena. 2008– 2011 Universitätsprofessorin an der Universität für angewandte Kunst Wien. Zuvor Lehre in Stuttgart, Bern, Jena, München und Karlsruhe. Forschungsschwerpunkte: Ambiguität in der Kunst, Avantgarde und Politik, Geschlechterkonstruktionen in der Frühen Neuzeit und Moderne, Konzepte des Künstlers und der Kreativität, Methodenfragen der Kunstgeschichte, Zeitgenössische Kunst als Erinnerungskultur. Buchpublikationen u. a.: Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas (2010); Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/
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innenforschung (2011); BrandSchutz // Mentalitäten der Intoleranz. Begleitbuch zur Kunstausstellung (2013); Sebastian Jung. Winzerla. Kunst als Spurensuche im Schatten des NSU (2015); When Exhibitions Become Politics. Geschichte und Strategien der politischen Kunstausstellung seit den 1960er Jahren (2017).
bärbel küster Zurzeit Vertretungsprofessur Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin. Zuvor Vertretungsprofessuren Kunstwissenschaften und Medientheorie (Hochschule für Gestaltung, HfG Karlsruhe) sowie Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie (Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart). Zahlreiche Publikationen zur Museums- und Sammlungsgeschichte seit der Aufklärung, zu Kunst im öffentlichen Raum und zum Kopieren in der Kunst. Forschungsschwerpunkte beruhen auf transkulturellen Fragestellungen, so auch das aktuelle Forschungsprojekt zur zeitgenössischen Fotografie in Bamako und Dakar (seit 2014). Publikationen u. a.: Skulpturen des 20. Jahrhunderts in Stuttgart (2006); Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900 (2003) sowie zahlreiche Aufsätze zu Museumsprojekten in Afrika, kolonialen Weltausstellungen und zur Kunst der Moderne.
michael lüthy Professor für Geschichte und Theorie der Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar. Studium der Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Basel und der FU Berlin, Promotion 2000 über Édouard Manet, Habilitation 2010 über die Produktivität moderner Kunst im Anschluss an Ludwig Wittgenstein. Von 2003 bis 2014 Koordinator des DFG-Sonderforschungsbereichs Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der FU Berlin, von 2010–2014 an derselben Universität Professor für Neuere und Neueste Kunstgeschichte. Arbeitsschwerpunkte: Französische Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Amerikanische Kunst nach 1945 sowie Kunsttheorie der Moderne.
gerd roos Freier Kunsthistoriker, Kurator und wissenschaftlicher Autor. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und politischen Wissenschaften in Bonn und Berlin. Forschungsstipendium der Fondazione Giorgio e Isa de Chirico in Rom (1996–1998). Forschungsschwerpunkte sind Leben und Werk von Giorgio de Chirico und Alberto Savinio. 2009 gemeinsam mit Paolo Baldacci Gründung des Archivio dell’Arte Metafisica in Mailand, Vizepräsident dieser Forschungsinstitution. Zurzeit mit Paolo Baldacci Vorbereitung eines Catalogue raisonné des metaphysischen Œuvres de Chiricos.
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geraldine spiekermann Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Künste und Medien an der Universität Potsdam. Studium der Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Promotion 2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin zu dem Thema Tränen in der modernen Kunst. Herausgeberin (mit B. Söntgen) des Tagungsbands Tränen (München 2008) sowie Veröffentlichung des Aufsatzes: Auf der Spur der Tränen. Zur Ambivalenz des Weinens in Kunst und Wissenschaft, in: Renate Möhrmann (Hg.), „So muß ich weinen bitterlich“. Zur Kulturgeschichte der Tränen (Stuttgart 2015). Forschungsschwerpunkte: Kunst seit den 1960er Jahren, Body Art und Performance, Körper und Geschlecht, Fotografie und Installationskunst.
sophia stang Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena bei Prof. Dr. Verena Krieger im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojektes: Giorgio de Chiricos künstlerische Identitätskonstruktion. Seine autobiografischen und kunsttheoretischen Schriften im Kontext der Valori Plastici. Studium der Kunstgeschichte, Deutschen Philologie sowie Kultur, Kommunikation und Management an den Universitäten Münster (WWU) und Berlin (HU). 2009–2011 wissenschaftliches Volontariat bei der Stiftung Museum Kunstpalast in Düsseldorf. Anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Estate of Sigmar Polke in Köln (2011–2013), bis heute freie Mitarbeit ebenda. Forschungsinteressen: Kunst und Kunsttheorie der (insb. italienischen) Moderne und Gegenwart, Künstlerschriften und -autobiografien.
daniela stöppel Seit Oktober 2015 akademische Rätin am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2008–2014 dort wissenschaftliche Assistentin. In München Studium der Kunstgeschichte, Soziologie und Kommunikationswissenschaften. 2008 Promotion mit einer Arbeit zu Visuellen Zeichensystemen (München 2014). Zurzeit Arbeit an einem zweiten Buch, das Gustave Courbet und seinen Verbindungen zur Naturwissenschaft gewidmet ist. Weitere Forschungsschwerpunkte sind: Kunstgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der historischen Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts, Selbstkonstitution der Moderne und Modernismuskritik, Designgeschichte und -theorie, Kunsthistoriografie (insbesondere der NS-Zeit), Diskursgeschichte der Malerei von 1945 bis zur Gegenwart, französischer Realismus.
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kerstin thomas Seit April 2016 Professorin für Moderne am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Klassischen Archäologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, dort 2006 Promotion mit einer Arbeit über Welt und Stimmung bei Puvis de Chavannes, Seurat und Gauguin (Berlin 2010). 2006–2009 wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris. Leitung der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe Form und Emotion an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2010–2016. Forschungsschwerpunkte: französische Kunst und Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, kunstgeschichtliche Emotionsforschung und Form- und Ausdruckskonzepte in Kunst, Wissenschaft und Ästhetik der Moderne.
judith elisabeth weiss Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL), Lehrbeauftragte an der Universität der Künste Berlin und langjährige Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst in verschiedenen Museen. Forschungsinteressen: Phänomene der Gegenwartskunst, Avantgarde und Surrealismus, Kulturen der Verweigerung, Figurationen des Verschwindens, Gesicht als Artefakt, kulturwissenschaftliche Bildtheorien. Jüngste Publikationen: Randgänge des Gesichts. Kritische Perspektiven auf Sichtbarkeit und Entzug (mit M. Körte); Sprache – Ein Lesebuch von A bis Z. Perspektiven aus Literatur, Forschung und Gesellschaft (Hg. mit C. M. Schmitz); Kunstverweigerungskunst Bd. I und II, Kunstforum International (Hg. mit H. Kopp-Oberstebrink); Surrealismus zwischen Subversion und Ordnung. Deutsche Nachkriegsmoderne und Ausstellungspraxis nach 1945, in: Isabel Fischer/Karin Schuller (Hg.), „Der Surrealismus in Deutschland (?)“, Münster 2017; „Give up Art!“ Manifeste der Kunstverweigerung, in: Burcu Dogramaci/Katja Schneider (Hg.), „Clear the Air“. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren, München 2017 (im Erscheinen).
abbildungsnachweis lüthy (1–2) Foto: National Gallery of Art, NGA Images Open Access. (3) Foto des Autors.
stöppel (1) Jörg Zutter/Petra ten-Doesschate Chu (Hg.), Courbet. Artiste et promoteur de son œuvre, Ausst-Kat. Musée Cantonal des Beaux-Arts Lausanne 1998/99/Nationalmuseum Stockholm 1999, Paris 1998, S. 47, Abb.-Nr. 42. (2) Sarah Faunce/Linda Nochlin (Hg.), Courbet Reconsidered, Ausst.-Kat. The Brooklyn Museum New York 1988/89/The Minneapolis Institute of Arts 1989, New Haven/ London 1988, S. 159, Abb.-Nr. 50. (3) Werner Hofmann (Hg.), Courbet und Deutschland, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1978/Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut 1979, Köln 1979, S. 305, Abb.-Nr. 289. (4) New York/Minneapolis 1988/89 (wie Abb. 2), S. 164, Abb.-Nr. 53. (5) Ebd., Abb.-Nr. 54. (6) Ebd., S. 165, Abb.-Nr. 55. (7) Ebd., S. 165, Abb.-Nr. 56. Abb. 4–7 hier auf Buchumschlag.
borchhardt (1) Bernd Wolfgang Lindemann (Hg.), Arnold Böcklin, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel 2001/Musée d’Orsay Paris 2001/02/Neue Pinakothek München 2002, Heidelberg 2001, S. 244. (2) Heinrich Alfred Schmid, Arnold Böcklin, Leipzig 21922, Tafel 46. (3) Rolf Andree (Hg.), Arnold Böcklin: Die Gemälde (= Œuvrekataloge Schweizer Kunst 2), Basel 21998, S. 299, Nr. 318. (4) Denise Allen/Peta Motture (Hg.), Andrea Riccio. Renaissance Master of Bronze, Auss.-Kat. Frick Collection, New York, London 2008, S. 106. (5) Andrea Linnebach, Arnold Böcklin und die Antike. Mythos, Geschichte, Gegenwart, München 1991, S. 62.
thomas (1) Gauguin Tahiti. L’atelier des tropiques, Ausst.-Kat. Galeries nationales du Grand Palais, Paris 2003/04/Museum of Fine Arts, Boston 2004, Paris 2003, S. 189.
232 abbildungsnachweis
(2) Starr Figura (Hg.), Gauguin: Metamorphosen, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York, Ostfildern-Ruit 2014, S. 148. (3) Richard Brettell/Françoise Cachin/Claire Frèches-Thory u. a. (Hg.), The Art of Paul Gauguin, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington D.C. 1988/Art Institute of Chicago 1988/Galeries nationales du Grand Palais, Paris 1988/89, Paris 1989, S. 365. (4) Paris/Boston 2003/04 (wie Abb. 1), S. 258. (5) New York 2014 (wie Abb. 2), S. 125. (6) Ebd., S. 121. (7) Paris/Boston 2003/04 (wie Abb. 1), S. 178.
küster (1) John Elderfield (Hg.), Matisse. A Retrospective, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York 1992/93, New York 1992, S. 257. (2) Isabelle Monod-Fontaine, The Sculpture of Henri Matisse, Ausst.-Kat. City Art Centre, Edinburgh 1984/Hayward Gallery, London 1984/85/Leeds City Art Gallery 1985, London 1984, Kat.-Nr. 39. (3) Jane Sweeney (Hg.), Matisse in Morocco. The paintings and drawings, 1912–1913, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington/Museum of Modern Art, New York/ State Pushkin Museum of Fine Arts, Moskau/Eremitage, St. Petersburg 1990/91, London 1990, S. 172. (4) Henri Matisse Processus/Variation, Ausst.-Kat. Musée national d’art occidental, Tokyo 2004, S. 184f.
baldacci (1–8) Fotos: Archivio dell’Arte Metafisica, Mailand/Berlin.
stang (1) William Rubin/Wieland Schmied/Jean Clair (Hg.), Giorgio de Chirico – der Metaphysiker, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München 1982/83/Centre Georges Pompidou, Paris 1983, München 1983, S. 70f.
roos (1, 3–5) Fotos: Archivio dell’Arte Metafisica, Mailand/Berlin. (2) Metafisica. Quaderni della Fondazione Giorgio e Isa de Chirico, 3/4, 2004, S. 52, Abb. 26.
krieger (1) Evelyn Weiss (Hg.), Kasimir Malewitsch. Werk und Wirkung, Ausst.-Kat. Museum Ludwig Köln 1995/96, Köln 1995, S. 183.
abbildungsnachweis 233
(2) Neiswestni russki awangard, Moskau 1992, Abb. 147. (3) Ingried Brugger/Joseph Kiblitsky (Hg.), Malewitsch, Ausst.-Kat. Kunstforum Wien, Bad Breisig 2001, S. 113. (4) Jevgenija Petrova (Hg.), Kazimir Malevich in the Russian Museum, Bad Breisig 2000, S. 21. (5) Köln 1995/96 (wie Abb. 1), S. 197. (6) Matthew Drutt (Hg.), Auf der Suche nach 0,10. Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei, Ausst.-Kat. Fondation Beyeler Basel-Riehen, Ostfildern 2015, S. 31. (7) Jevgenija Petrova (Hg.), Kasimir Malewitsch – Künstler und Theoretiker, Weingarten 1991, Nr. 130. (8) Basel-Riehen 2015 (wie Abb. 6), S. 105. (9) Oleg Neverov/Dmitrij Aleksinskij, The Hermitage. From the Age of Enlightenment to the Present Day, New York 2010, S. 303. (10) Christiane Post, Künstlermuseen. Die russische Avantgarde und ihre Museen für Moderne Kunst, Berlin 2012, S. 259.
weiss (1) Max Ernst. A Retrospective, Ausst.-Kat. The Metropolitan Museum of Art, New York, New Haven/London 2005, S. 163. (2) Ebd., S. 132. (3) Burkhardt Lindner, Versuch über Traumkitsch. Die blaue Blume im Land der Technik, in: Heinz Brüggemann/Günter Oesterle (Hg.), Walter Benjamin und die romantische Moderne, Würzburg 2009, S. 229–246, hier S. 234. (4) Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Klee, Wols und das surreale Universum, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover/Badischer Kunstverein Karlsruhe/Rupertinum Salzburg, Freiburg i. Br. 1994, S. 201. (5) Ebd., S. 155. (6) Werner Spies/Anja Müller-Alsbach (Hg.), Max Ernst. Im Garten der Nymphe Ancolie, Ausst.-Kat. Museum Tinguely, Basel 2007/08, Ostfildern-Ruit 2007, S. 109. (7) Hannover/Karlsruhe/Salzburg 1994 (wie Abb. 4), S. 156.
blunck (1) Foto: Staatsgalerie Stuttgart. (2) Carola Giedion-Welcker, Plastik des XX. Jahrhunderts, Stuttgart 1955, S. 82.
spiekermann (1) Mary Christian (Hg.), Marina Abramović. The Artist Is Present, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York 2010, S. 198. (2) Toni Stooss (Hg.), Marina Abramović. Artist Body. Performances 1969–1998, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, Mailand 1998, S. 106.
234 abbildungsnachweis
(3) Marina Abramović. 7 Easy Pieces, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Mailand 2007, S. 193. (4) Ebd., S. 199. (5) Ebd., S. 203.
bildrechte © der abgebildeten Werke von Giorgio de Chirico, Max Ernst, Marina Abramović bei VG Bild-Kunst, Bonn 2017 © The Estate of Marcel Duchamp/ VG Bild-Kunst, Bonn 2017 © Succession H. Matisse/ VG Bild-Kunst, Bonn 2017 Der Abbildungsnachweis wurde mit größter Sorgfalt erstellt. Sollten dennoch Namen oder Referenzen nicht korrekt aufgeführt sein, bitten wir, dies zu entschuldigen.
KUNST – GESCHICHTE – GEGENWART HERAUSGEGEBEN VON VERENA KRIEGER
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