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German Pages 283 [284] Year 2014
Die Macht des Mythos
Tillich Research
Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich
Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Werner Schüßler, Mary Ann Stenger and Erdmann Sturm
Volume 5
Die Macht des Mythos Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext
Herausgegeben von Christian Danz und Werner Schüßler
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-035161-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035367-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038787-2 ISSN 2192-1938 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Vom 5. bis 7. April 2013 fand in der Evangelischen Akademie Hofgeismar die Jahrestagung der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft e.V. zum Thema Die Macht des Mythos statt. Die Referate dieser Jahrestagung sind – erweitert um weitere einschlägige thematische Beiträge – in den vorliegenden Band aufgenommen. Mit dem Mythosbegriff wendet er sich einem grundlegenden Element von Paul Tillichs Religionsphilosophie und Theologie zu, welches in der bisherigen Forschung nur am Rande bearbeitet wurde. Die Beiträge des Bandes thematisieren erstmals Tillichs Mythosverständnis in seinem problemgeschichtlichen Kontext sowie in einer werkgeschichtlichen Perspektive. Auf diese Weise wird sein Verständnis des Mythos vor dem Hintergrund der vielschichtigen Kontroversen um diesen Begriff in den philosophischen und theologischen Debatten des 20. Jahrhunderts prägnant herausgearbeitet. Der Band wäre ohne die vielfältigste Unterstützung nicht zustande gekommen. Danken möchten wir Herrn Alexander Schubach (Wien), in dessen Händen sowohl die Vereinheitlichung der Texte als auch die Erstellung der Register lag, sowie Herrn Dr. Albrecht Döhnert vom Verlag De Gruyter in Berlin für die gute Zusammenarbeit. Wien und Trier August 2014
Christian Danz Werner Schüßler
Inhalt Vorwort
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Christian Danz/Werner Schüßler Die Macht des Mythos 1 Einleitung Christoph Jamme Mythos und Wahrheit
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Dietrich Korsch Notwendigkeit als Weg zur Freiheit Einige Bemerkungen zur Konzeption der Mythologie bei Schelling
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Stefan Dienstbeck Vom Mythos zum Dogma Paul Tillichs Aufnahme und Interpretation des Mythosbegriffs im 49 Anschluss an den späten Schelling Roderich Barth Gebrochener Mythos Tillichs religionsphilosophischer Mythosbegriff
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Erdmann Sturm „Wir sind entfremdet von unserem wahren Wesen […].“ 91 Der Mythos vom „Fall“ in Tillichs Deutung Christian Danz Die politische Macht des mythischen Denkens Paul Tillich und Ernst Cassirer über die Ambivalenz des Mythos Ulrich H.J. Körtner Mythos und Entmythologisierung Paul Tillich und Rudolf Bultmann
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VIII
Inhalt
Werner Schüßler „Die ewige Wahrheit des Mythos“ Paul Tillich und Karl Jaspers im Vergleich
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Elisabeth Grözinger Mythos bei Carl Gustav Jung und Paul Tillich
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Michael Murrmann-Kahl „Urgeschichte der Subjektivität“ Mythos und Aufklärung bei Tillich und Adorno/Horkheimer
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Linus Hauser Neomythen als spezifisch moderne Form von Tillichs „abwehrendem“ 255 Mythos Autorenverzeichnis Namensregister Sachregister
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Christian Danz/Werner Schüßler
Die Macht des Mythos Einleitung
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Mit diesen Worten eröffnet Thomas Mann seine Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder. Seine Version der Geschichte von dem ‚Gotteserfinder‘ Jakob und seinen Söhnen richtet sich gegen den nationalsozialistischen Mythos des 20. Jahrhunderts. Diesem setzt Mann in seiner Darstellung Josephs einen humanistischen Mythos entgegen.¹ Der Mythos schlägt auch in der Moderne die Menschen in seinen Bann. Doch wie lässt sich diese Macht verständlich machen, und was ist überhaupt ein Mythos? In seinem 1930 in dem Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart veröffentlichten Artikel Mythos und Mythologie hat Paul Tillich eine „symbolisch-realistische Theorie des Mythos“ vorgeschlagen, die es erlauben soll, diesen in seiner Eigenart angemessen zu erfassen.² Seine Theorie des Mythos setzt die denkerischen Bemühungen um dessen angemessenes Verständnis seit der Aufklärung voraus. Einige markante Wendepunkte in den vielschichtigen Kontroversen über den Mythos und sein Verhältnis zu der biblischen Religion sind kurz in Erinnerung zu rufen.³ Es gebe „kein einziges Volk“, so Bernhard le Bovier de Fontenelle in seinem Beitrag Über den Ursprung der Mythen, „dessen Geschichte nicht mit Mythen beginnt“. Allein das auserwählte Volk mache eine Ausnahme, da bei ihm „eine
Vgl. hierzu Jan Rohls, Die Theologie von Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“, in: ZNThG 19 (2012), 72– 103. Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 21978, 187– 195, hier: 188. – Die Werke Paul Tillichs werden in diesem Band wie folgt zitiert: EW = Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, bisher 18 Bde., Stuttgart, dann Berlin 1971 ff.; GW = Gesammelte Werke, hrsg. v. Renate Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959 ff.; MW = Main Works/Hauptwerke, hrsg. v. Carl Heinz Ratschow, 6 Bde., Berlin 1987 ff.; ST = Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1955 ff. Zur Geschichte des Mythosbegriffs vgl. Axel Horstmann, Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, in: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), 7– 54; Ders., Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythosbegriff bei Christian Gottlob Heyne, in: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), 60 – 85; Ders., Art. Mythos, Mythologie II–IV, in: HWPh, Bd. 6, hrsg. v. Karlfried Gründer/Joachim Ritter, Basel 1984, 283 – 295; Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt (Main) 1991. Vgl. auch den Beitrag von Christoph Jamme in diesem Band.
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besondere Fürsorge der Vorsehung die Wahrheit erhalten“ habe.⁴ Der Mythos, das lässt noch Fontenelle erkennen, bezieht sich auf Sagen und Erzählungen des heidnischen Altertums, wie sie zum Beispiel in der Ilias oder der Odyssee vorliegen. Im Gegenüber zur Wahrheit der biblischen Offenbarung ist er Fabula. Eine grundlegende Wandlung im Verständnis des Mythos erfolgte erst in der Zeit der späten Aufklärung. Der Göttinger Altphilologe Christian Gottlob Heyne prägte ein neues Verständnis im Sinne einer historiographischen Kategorie.⁵ Hiernach sind Mythen keine Fabeln, der Begriff bezeichnet vielmehr die Vorstellungsarten der Alten Welt. Die Menschheit auf der Stufe ihrer Kindheit konnte sich nur in den Formen einer sinnlichen Phantasie ausdrücken, da ihr – wie den Kindern – allgemeine und abstrakte Begriffe noch fehlten. Der Mythos steht für eine vergangene orale Kultur, die von der eigenen Gegenwart des 18. Jahrhunderts strikt unterschieden ist. Als historischer Methodenbegriff bezeichnet der Mythos nicht nur heidnische Götterlehren, er markiert eine kulturelle Differenz. Am Ende des 18. Jahrhunderts wird der Mythosbegriff zunehmend auch auf die biblischen Schriften angewandt, welche Fontenelle noch durch die Vorsehung vom Mythos verschont sein ließ. Der Orientalist Johann Gottfried Eichhorn,⁶ der ein Schüler von Heyne war, Johann Philipp Gabler und Johann Gottfried Herder deuteten die Urgeschichte der Bibel als Mythos. Für Herder beginnt wie für Fontenelle die Geschichte der Menschheit mit Mythen. „Der Denkart der Nationen bin ich nachgeschlichen“, schreibt er 1769 in dem Manuskript Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts, „und was ich ohne System und Grüblerei herausgebracht, ist: daß jede sich Urkunden gebildet, nach der Religion ihres Landes, der Tradition ihrer Väter und den Begriffen der Nation: daß diese Urkunden in einer dichterischen Sprache, in dichterischen Einkleidungen und poetischen Rhythmus erschienen: also ‚Mythologische Nationalgesänge vom Ursprung ihrer ältesten Merkwürdigkeiten‘“.⁷ Im Unterschied zu dem französischen Aufklärer werden von dem späteren Wei-
Bernhard le Bovier de Fontenelle, Über den Ursprung der Mythen, in: Ders., Philosophische Neuigkeiten für Leute von Welt und für Gelehrte. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Helga Bergmann, übers. v. Ulrich Kunzmann, Leipzig 1989, 228 – 242, hier: 238. Christian Hartlich/Walter Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952; Bodo Seidel, Karl David Ilgen und die Pentateuchforschung im Umkreis der sogenannten älteren Urkundenhypothese. Studien zur Geschichte der exegetischen Hermeneutik in der späten Aufklärung, Berlin/New York 1993; Daniel Weidner, Bibel und Literatur um 1800, München 2011. Vgl. [Johann Gottfried Eichhorn], Urgeschichte. Ein Versuch, in: [Ders. (Hg.)], Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur, Vierter Theil, Leipzig 1779, 129 – 256. Johann Gottfried Herder, Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen (1769), in: Ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 5: Johann Gottfried Herders Schriften zum Alten Testament, hrsg. v. Rudolf Smend, Frankfurt (Main) 1993, 9 – 178, hier: 15 f.
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marer Generalsuperintendenten allerdings die alten Hebräer von dem mythischen Weltbild nicht mehr ausgenommen. Auch die mosaische Urkunde ist ein Mythos. Jene enthält „Nachrichten von den ältesten Dingen des Menschengeschlechts“.⁸ Damit ist die Distinktion zwischen heidnischem Mythos und biblischer Geschichte aufgehoben und der Mythosbegriff auf die biblischen Urkunden angewandt. In seinem epochalen Jugendwerk Das Leben Jesu von 1835/36 bezeichnet David Friedrich Strauß den von ihm eingenommenen Standpunkt als den mythischen.⁹ Er hat den Mythosbegriff auf die evangelischen Berichte von Jesus Christus angewandt. Die Evangelien bieten keine Geschichte von Jesus, sondern einen im Horizont von alttestamentlichen Vorstellungen – allen voran die MessiasIdee – geschaffenen Mythos von seinem Leben. Das mythische Leben Jesu ist jedoch gleichsam absichtslos entstanden, also zwar erfunden, aber eben nicht willkürlich. Die „neutestamentlichen Mythen“ seien, wie es in seinem berühmten Buch heißt, „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage“.¹⁰ Das ist zunächst im Sinne des historiographischen Mythosbegriffs zu verstehen. Aber diesen verbindet der Tübinger Stiftsrepetent mit dem Mythos-Verständnis des jungen Ferdinand Christian Baur¹¹ sowie mit dem von Hegel entlehnten Begriff der Vorstellung. Neben Strauß hat im 19. Jahrhundert Schelling eine der wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Theorien des Mythos vorgelegt. Der junge Schelling knüpft zunächst an die zeitgenössischen Debatten sowohl mit seiner Magisterdissertation über das Böse als auch in seinem Aufsatz über Mythen an¹² und verwendet den Mythosbegriff ganz im Sinne der sogenannten mythischen Schule um Heyne und Eichhorn als historiographische Kategorie. Das Thema Mythos bleibt auch in der weiteren Ausgestaltung seiner Philosophie virulent. Insbesondere in seiner Spätphilosophie, wie sie in den Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie vorliegt,¹³ die Schelling in den 1830er und 1840er Jahren in München und Berlin
A.a.O., 22. David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Bd. 1, Tübingen 1835, IV. A.a.O., 75. Ferdinand Christian Baur, Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Alterthums, 1. Theil, Stuttgart 1824. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis genes. III. explicandi tentamen criticum et philosophicum, in: Ders., Historischkritische Ausgabe, Reihe 1, Bd. 1, hrsg. v. Wilhelm G. Jacobs/Jörg Jantzen/Walter Schieche, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976, 5 – 100 (im Folgenden zitiert als AA); Ders., Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, AA I,1, 193 – 246.Vgl. hierzu Christian Danz (Hg.), Schelling und die Hermeneutik der Aufklärung, Tübingen 2012. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 2, Bd. 1: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Stuttgart/Augsburg 1856;
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vorgetragenen hat, deutet er den Mythos als Göttergeschichte, in die das menschliche Bewusstsein unentrinnbar verstrickt ist. Es ist geradezu in seinen Vorstellungen gefangen. In der Abfolge der mythologischen Götter dokumentiere sich ein Prozess, dem das menschliche Bewusstsein blindlings unterworfen war. Anders, so Schelling, lasse sich die Macht, welche der Mythos über das menschliche Bewusstsein ausübt, gar nicht erklären. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts führte aufgrund des Anwachsens des religionskundlichen Materials zu einer ganzen Reihe von Theorien des Mythos. 1889 veröffentlichte William Robertson Smith seine bahnbrechenden Vorlesungen The Religion of the Semites, in denen der Ritus als Grundlage des Mythos verstanden wird.¹⁴ Zeitgleich erschienen die Studien von James Georg Frazer zur Religionsethnologie.¹⁵ In diesem problemgeschichtlichen Kontext, der um 1900 durch die Arbeiten von Hermann Gunkel,¹⁶ Ernst Troeltsch,¹⁷ Siegmund Freud,¹⁸ Ernst Cassirer¹⁹ u. a. weitere Anstöße erhielt, hat Paul Tillich sein Mythos-Verständnis erarbeitet.²⁰ Erstmals ausführlich wandte sich der junge Tillich diesem Thema in seiner philosophischen Dissertation Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien von 1910 zu.²¹ Die Thematik der Mythologie war ihm zwar durch den Gegenstand seiner Dissertation vorgegeben, aber er gibt ihr eine Wendung, welche über
Ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 2, Bd. 2: Philosophie der Mythologie, Stuttgart/Augsburg 1857. Vgl. hierzu den Beitrag von Dietrich Korsch in diesem Band. William Robertson Smith, Die Religion der Semiten, Freiburg (i.Br.)/Leipzig/Tübingen 1899. James George Frazer, Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker, Leipzig 1928. Vgl. Hermann Gunkel, Genesis, Göttingen 1901; Ders., Art. Mythen und Mythologie in Israel, in: RGG, Bd. 4, hrsg. v. Friedrich Michael Schiele/Leopold Zscharnack, Tübingen 1913, 621– 632. Vgl. Ernst Troeltsch, Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Kultur 4 (1913), 8 – 35 (= Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1913, 805 – 836). Vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Leipzig/Wien 1913. Vgl. Ernst Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, in: Ders.,Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, 1– 70; Ders., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, ND Darmstadt 91994. Bislang stand das Mythos-Verständnis Tillichs eher am Rande der Forschung. Vgl. Karsten Höpting, Der Mythosbegriff bei Paul Tillich, in: Theologie der Liebe im Anschluss an Paul Tillich, hrsg. v. Peter Haigis/Ilona Nord, Münster 2013 (= Tillich-Preview 2013), 41– 73. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: Ders., Frühe Werke, EW IX, hrsg. v. Gert Hummel/Doris Lax, Berlin/New York 1998, 158 – 272. Vgl. hierzu den Beitrag von Stefan Dienstbeck in diesem Band.
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Schelling hinausgeht. Tillich versteht die Religionsgeschichte als Tiefenstruktur der kulturgeschichtlichen Entwicklung. „Die Geschichte ist im Grund Religionsgeschichte. Diese Voraussetzung Schellings folgt unmittelbar aus seiner Anthropologie: Das menschliche Bewußtsein ist seiner Substanz nach das Gott Realisierende. […] Der kulturelle Prozeß hat allenthalben seine Wurzeln im religiösen und mündet in seiner Vollendung in ihn ein; er kann selbst unter dem Gesichtspunkt der Religionsgeschichte betrachtet werden.“ (EW IX, 197)
Die Mythologie wird als ein notwendiger Prozess verstanden, dem das menschliche Bewusstsein unterworfen ist. Sie fußt auf der Unbedingtheitsbeziehung des menschlichen Bewusstseins (vgl. EW IX, 241– 247). Diese frühe absolutheitstheoretische Konstruktion der Religionsgeschichte erfährt während und nach dem Ersten Weltkrieg eine Transformation. Letztere betrifft vor allem die prinzipientheoretische Grundlegung der Theologie. Der Gedanke der absoluten Wahrheit als Prinzip der Theologie wird durch eine sinntheoretische Fassung ersetzt.²² Die Ausformulierung der sinntheoretischen Grundlagen des Religions- und Kulturbegriffs führt zu einer genaueren Fassung des Mythosbegriffs und seines Verhältnisses zur Religion. Bereits die im Sommersemester 1920 an der Berliner Universität gehaltene Vorlesung über Religionsphilosophie präsentiert in ihrem letzten Teil den Mythos als religiöse Kategorie:²³ „Es ist also die Darstellung der religiösen Objekte das erste, was die Kategorienlehre des Religiösen zu behandeln hat. Es ist nun praktisch die Gesamtheit des religiösen Gegenstandserkennens als Mythos zu bezeichnen, einschließlich Dogma und Philosophie, insofern sie in den Dienst des religiösen Denkens treten.“ (EW XII, 536)
Der Mythosbegriff bezeichnet die inhaltlich-gegenständliche Seite des religiösen Bewusstseins, das, wie es Tillich später nennen wird, Ausdruckselement der Religion.²⁴ Diese Bestimmung des Mythos erhält vor dem Hintergrund der weiteren
Vgl. hierzu Stefan Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 235 ff.; Ulrich Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89 – 123. Paul Tillich, Religionsphilosophie (1920), in: Ders., Berliner Vorlesungen I (1919 – 1920), EW XII, hrsg. u. m. einer hist. Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 2001, 333 – 565. Vgl. a.a.O., 536: „Aller Mythos ist der Versuch, das reine Gehalterlebnis so zu deuten, daß es aufgefaßt wird als Beziehung des Bewußtseins auf einen Gegenstand, der sich von den Gegenständen der sonstigen Erfahrung qualitativ unterscheidet, aber mit den Mitteln der sonstigen Erfahrung ergriffen werden muß. In jedem Mythos steckt also ein tiefes dialektisches Problem.“
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Ausarbeitung der sinntheoretischen Geistphilosophie in der 1925 publizierten Fassung der Religionsphilosophie eine prägnantere Fassung.²⁵ Wie in der Vorlesung von 1920 erscheint der Mythos als religiöse Kategorie der theoretischen Sphäre und wird nun als „Ausdrucksform für den Offenbarungsinhalt“ (GW I, 350) verstanden. „Im Mythos vereinigen sich logische und ästhetische Erfassung des Unbedingten. Der Mythos ist nicht nur ästhetisch: Er will Wahres und Wirkliches zum Ausdruck bringen. Und er ist nicht nur logisch: Er will den Gehalt des Unbedingten anschaulich fassen. Beides ist eins im ursprünglichen Mythos.“ (GW I, 350 f.)
Mit seinem Mythosbegriff verknüpft Tillich Religions- und Kulturphilosophie. Religion, so die grundlegende Bestimmung in den 1920er Jahren, ist Richtung auf das Unbedingte. Das religiöse Bewusstsein kann das Unbedingte jedoch allein durch die von ihm geschaffenen kulturellen Formen hindurch meinen. Im religiösen Akt werden diese Bestimmungen des Bewusstseins zu Ausdrucksgestalten dieses Aktes. Sie erhalten dadurch eine spezifische Formung, dass sie vom religiösen Bewusstsein zugleich gebraucht und zerbrochen werden.²⁶ Der Mythosbegriff wird von Tillich synonym mit dem Symbolbegriff verwendet.²⁷ Eine nähere Ausgestaltung erhält das Verständnis des Mythos in diesen Jahren vor allem durch die Auseinandersetzung mit der Philosophie der symbolischen Formen Ernst Cassirers. Tillichs Kritik an Cassirer zielt vor allem auf das Verhältnis von Religion und Kultur.²⁸ Im Unterschied zu Cassirer löst Tillich die Religion als eine besondere Kulturform auf und versteht sie als ein Reflexionsgeschehen an den kulturellen Formen. Aus diesem Grund kann die Religion nicht auf einer Ebene mit der Kultur stehen wie in der Konzeption Cassirers. Das hat Konsequenzen für den Mythosbegriff und die Dialektik des Mythos. Am Ende der 1920er Jahre hat Tillich diese Dialektik begrifflich durch die Unterscheidung zwischen einem ungebro Vgl. Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 2 1959, 297– 364, bes. 350 – 353. Vgl. Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 21959, 367– 388, hier: 381: „Sobald das Bewußtsein sich auf das Unbedingte richtet, entsteht die Doppelheit von Akt und Gegenstand. Nun ist der religiöse Akt aber kein besonderer; er ist nur in den übrigen Akten wirklich. Er muß diesen also eine Formung geben, an der die religiöse Qualität sichtbar ist. Diese Formung ist die Paradoxie, d. h. zugleich die Bejahung und Verneinung der autonomen Form.“ Zu Tillichs Symbolbegriff vgl. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion, Wien 2007 (= International Yearbook for Tillich Research 2). Vgl. hierzu Paul Tillich, Probleme des Mythos, in: ThLZ 49 (1924), 115 – 117; Ders., Das religiöse Symbol, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 196 – 212, bes. 202– 206.
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chenen und einem gebrochenen Mythos fixiert. Für das religiöse Bewusstsein ist das Wissen um die Differenz von Unbedingtem und den Formen, in denen sich dessen Erfassung darstellt, konstitutiv. Deshalb bricht die Religion die Unmittelbarkeit des Mythos. Der „Protest gegen den Mythos“ (GW V, 189) ist ihr somit ab ovo eingeschrieben. Aber auch sie kann das Unbedingte nicht anderes darstellen als durch endliche Formen. „Der Mythos ist überwunden, aber die mythische Substanz ist geblieben.“ (Ebd.) Mit dem Begriff ‚gebrochener Mythos‘ beschreibt Tillich die Ausdrucksformen des religiösen Bewusstseins. Sie haben den Status einer religiösen Kategorie. Der ‚ungebrochene Mythos‘ hingegen bezeichnet ein Bewusstsein, welches nicht zwischen seinen Formen und dem Unbedingten unterscheidet. Das Spätwerk Tillichs führt die frühen Überlegungen zum Mythosbegriff weiter. Eine grundsätzliche Umformung erhält die Theorie nicht mehr. Der gebrochene Mythos steht für ein wesentliches Element jeder Religion, nämlich deren gegenständliche Vorstellungsgehalte. Das ändert sich auch nicht in der Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmanns Programm einer Entmythologisierung der neutestamentlichen Vorstellungen in der Systematischen Theologie. ²⁹ Bultmann hatte in seinem berühmten Vortrag Neues Testament und Mythologie aus dem Jahre 1941 die These vertreten, die neutestamentliche Verkündigung sei in ein mythologisches Weltbild verwoben, welches für den heutigen Menschen „unglaubhaft“ sei, da „für ihn das mythische Weltbild vergangen ist“.³⁰ Für die Theologie verbinde sich damit die Aufgabe, danach zu fragen, „ob die Verkündigung des Neuen Testaments eine Wahrheit hat, die vom mythischen Weltbild unabhängig ist“.³¹ Tillich stimmt im zweiten Band der Systematischen Theologie dem Marburger Theologen darin zu, dass die neutestamentlichen Vorstellungen nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen sind. Er deutet damit Bultmanns Forderung nach einer Entmythologisierung des neutestamentlichen Weltbildes im Sinne seiner Unterscheidung von ungebrochenem und gebrochenem Mythos. Das bedeutet freilich im Unterschied zu Bultmann, dass die Religion den Mythos nicht vollständig hinter sich lassen kann, der Mythos in ihr ändert lediglich seine Form. Die Religion kann sich der Ausdrucksformen nicht entziehen, aber sie weiß um die Differenz von Bild und Sinn.
Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 21958, 112.116 f. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, hrsg. v. Hans-Werner Bartsch, Hamburg-Volksdorf 31954, 15 – 48, hier: 16. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Ulrich H.J. Körtner in diesem Band. Ebd.
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Die Beiträge des vorliegenden Bandes diskutieren erstmals Tillichs Verständnis des Mythos im Kontext der facettenreichen Debatten und Konstellationen des 20. Jahrhunderts.
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Mythos und Wahrheit Die Frage nach der Wahrheit des Mythos stellt sich erst nach der Entmythologisierung. Hätte man einen Griechen gefragt, ob er an Zeus glaube, hätte er schon die Frage nicht verstanden: „Wieso? Es donnert doch!“ Dem Mythos liegt mithin ein spezifisches Wirklichkeitsverständnis zugrunde: Der Gott kann in Erscheinung treten.¹ Das Wirklichkeitsverständnis wie die menschlichen Wahrnehmungsformen unterliegen der historischen Transformation: „Die Wirklichkeit Europas ist die Geschichte einer sich ständig verändernden Wahrnehmung.“² Dem antiken Mythos korrespondiert ein mythisches Bewusstsein, das vor allem Cassirer analysiert hat. Allerdings kann die Wirklichkeit der Welt nicht hinreichend aus der Bewusstseinsstruktur erklärt werden; schon Vico hatte gesehen, dass die mythische Welt ihre Realität immer erst aus den Handlungen (Riten) erhält, in denen das mythische Denken institutionelle Gestalt annimmt. Der Weg von der Unbefragtheit des Mythos zur Problematisierung seiner Wahrheitsdimension ist ein „Prozeß der Differenzierung der verschiedenen Weltanschauungsfunktionen“: Welterklärung, Weltverklärung und Handlungssteuerung treten, so Topitsch, auseinander.³ Habermas spricht von der „Ausdifferenzierung einer (von Praxis abgehobenen) rein theoretischen Einstellung […]. Damit kann die im Mythos verankerte Fixierung an die Oberfläche der konkreten Erscheinungen zugunsten einer unbefangenen Orientierung an allgemeinen Gesetzen, die den Phänomenen zugrunde liegen, überwunden werden.“⁴ Wenn das richtig ist, dann darf man aber auch die uns heute geläufige Differenzierung zwischen theoretischer und praktischer Wahrheit nicht auf den Mythos rückprojizieren. Mythen geben keine Erklärungen, sondern interpretieren die Welt. Eine Unterscheidung der Mythen von anderen Erzählungen ist nicht leichthin möglich, sondern ein spätes Konstrukt.⁵ Mythisch bedeutet
Vgl. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. v. Manfred Fuhrmann, München 1971 (= Poetik und Hermeneutik 4), 11– 66, hier: 36 ff. − Heidegger hoffte (im Rückgang auf Hölderlin) deshalb auch auf einen radikalen Wandel dieser Wirklichkeitsstruktur. Heinz Reinwald, Mythos und Methode. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Kultur und Erkenntnis, München 1991, 18. Ernst Topitsch, Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, Tübingen 2 1988, 9. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt (Main) 1981, 295. Vgl. Pierre Smith, Stellungen des Mythos, in: Mythos ohne Illusion, übers. v. Ulrike Bokelmann, Frankfurt (Main) 1984, 47– 67, hier: 63 f.; Marcel Detienne, L’invention de la mythologie, Paris 1981.
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eine Perzeptionsweise der Wirklichkeit, die zugleich Ausdrucksweise ist. Das mythische Weltbild existiert nur, insofern es sich in mythischen Erzählungen ausdrückt. Am Anfang steht der symbolisch vermittelte Umgang mit der Welt, der zugleich als instrumentell und kommunikativ zu konzeptualisieren ist. Die Wahrheit steht hier noch nicht in Frage; erst mit der Trennung von Mythos (als der verhüllten Rede) und Logos (als sachorientiertem Vortrag) in Platons Dialogen Protagoras und Gorgias und erst mit dem Aufkommen einer mythenkritischen Geschichtsschreibung wird die Frage nach der Wahrheit des Mythos akut.
1. Mythos und Wahrheit Die Diskussion um die Wahrheit des Mythos entzündete sich an den Götterdarstellungen Homers und blieb bis weit ins 18. Jahrhundert mit seinen Epen verbunden. In der Antike wurde aber der Gegensatz von μῦθος und ἀλήθεια noch nicht in seiner grundsätzlichen Tiefe erkannt; erst bei jüdischen und christlichen Autoren sowie bei späteren jüdisch-griechischen Philosophen (wie Philo und Origenes) tritt der Mythos mehr und mehr in einen ausschließenden Gegensatz zur ἀλήθεια, womit auch eine „Entwertung des Begriffes von μῦθος“⁶ einhergeht: In späten Geschichtswerken (z. B. Capitolinus Macrinus) bedeuten die μυθιστορίαι und mythistorica volumina schlicht Lügengeschichten. Die Grenze bildet das neutestamentliche Wahrheitsverständnis: Die μῦθοι erscheinen als häretische Alternative neben der Wahrheit des Evangeliums (2 Ti 4,4). In der griechischen Antike wurde zwar seit Platon die Wahrheitsfrage an den Mythos gestellt, aber man war weit davon entfernt, die Mythen für Lügen zu halten. Bei den Griechen gab es noch nicht die Wahrheitsinstanz ‚wissenschaftliche Autorität‘,weshalb die Zuhörer der Dichter keinen Sinn darin sahen, „die Wahrheit von der Lüge zu trennen“⁷. Paul Veyne hat sehr zu Recht darauf hingewiesen, dass sich für die Zeitgenossen Homers ‚Wahrheit‘ „entweder aus der alltäglichen Erfahrung oder durch den Sprecher [definierte], der vertrauenswürdig oder betrügerisch ist; Behauptungen, die außerhalb der Erfahrung blieben, waren weder wahr noch falsch […]“⁸.
Vgl. Gustav Stählin, Art. μῦθος, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hrsg. v. Gerhard Kittel, Bd. 4, Stuttgart 1966, 769 – 803, hier: 792. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, übers. v. Markus May, Frankfurt (Main) 1987, 41. Ebd.
Mythos und Wahrheit
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Dies gilt auch für Platon, der im Sophistes die Frage nach Wahrheit und Falschheit des Diskurses ausdrücklich stellt.⁹ Ist beim (für die Philosophie kennzeichnenden) wahren Diskurs die Relation zwischen der Verknüpfung von Haupt- und Zeitwort(en) zu dem, worauf sie sich beziehen, ihm adäquat,¹⁰ ist also der Logos das, worauf man sich verlassen kann¹¹, so ist der Mythos nur insofern ein falscher Diskurs (λόγος ψευδής), als er „ein nicht überprüfbarer Diskurs“ ist.¹² „Die Wahrheit eines Mythos hängt […] in letzter Instanz ab von seiner Übereinstimmung mit dem philosophischen Diskurs über die intelligiblen Formen, an denen die intelligiblen Wesen, die Subjekte des Mythos sind, Anteil haben […].“¹³ Daneben gibt es bei Platon noch einen zweiten, sozusagen „neutraleren“ Begriff von Mythos als narrativer Diskurs bzw. Erzählung, der einen hohen Einfluss im ethisch- politischen Bereich hat. Alle diese Begriffe und Abgrenzungen werden akut in dem für unsere Fragestellung zentralen Text, der Diskussion um „Nachbildnerei“ „weit […] von der Wahrheit“¹⁴ und um Homer als Verderber der Seelen seiner Zuhörer¹⁵ im zehnten Buch der Politeia. Hier geht es bekanntlich im Zusammenhang der Erziehung der Wächter um deren musische Bildung durch sorgsam ausgewählte Märchen bzw. Mythen. Das Problem liegt in der Selektion: „τοῦτο δέ που ὡς τὸ ὅλον εἰπεῖν ψεῦδος, ἔνι δὲ καὶ ἀληθῆ.“ In Schleiermachers Übersetzung: „[U]nd diese [sc. die Märchen] sind doch um sie im Ganzen zu bezeichnen Falsches, es ist aber auch Wahres darin.“¹⁶ Es ist so schwer, für die Wächter die richtigen, weil ‚wahren‘ Erzählungen auszuwählen, weil die Grenze zwischen Wahrheit und Falschheit nicht zwischen verschiedenen Erzählungen verläuft, sondern quer durch jede einzelne. An wen Platon denkt, wird gleich darauf deutlich: Homer und Hesiod,
Platon, Sophistes, 263b2– 8. Vgl. Luc Brisson, Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 1: Antike, Mittelalter und Renaissance, übers. v. Achim Russer, Darmstadt 1992, 28.Vgl. Ders., Platon, les mots et les mythes. Comment et pourquoi Platon nomma le mythe?, Paris 1982, 114 ff. Platon, Timaios 26e; Ders., Gorgias 523a. Luc Brisson, Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 1: Antike, Mittelalter und Renaissance, 31. Vgl. Platon, Politeia, II 376e6 – 377a8 und 377d2–e3, III 386b8–c1; Ders., Kratylos, 408b6–d4. Luc Brisson, Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 1: Antike, Mittelalter und Renaissance, 33. − Für den Philosophen ist der platonische Mythos ein Logos (Platon, Gorgias, 523a). Platon, Politeia, X 598b; Übersetzung: Ders., Sämtliche Werke in zehn Bänden, Bd. 5: Politeia, Griechisch-Deutsch, übers. v. Friedrich Schleiermacher, hrsg. v. Karlheinz Hülser, Frankfurt (Main)/Leipzig 1991, 725 (zitiert als SW V). Platon, Politeia, X 595b, vgl. 600e. Platon, Politeia, X 377a 5 – 6; Übersetzung: SW V, 161.
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die für Plato als Dichter (ποιητής) zugleich „Mythenhersteller“ (μυθολόγοι) sind.¹⁷ Diese beiden „und die andern Dichter […]“, so der Vorwurf Platons, „haben doch für die Menschen unwahre Erzählungen (μύθους […] ψευδεῖς) zusammengesetzt und vorgetragen, und tragen sie auch noch vor“¹⁸. Was aber ist denn das Falsche daran? „Wenn einer“, so die Antwort, „unrichtig darstellt in seiner Rede von Göttern und Heroen, wie sie geartet sind […]“¹⁹. Da Platon die Unrichtigkeit der Darstellung durch einen Vergleich mit der Malerei zu erläutern sucht, muss man an dieser Stelle insinuieren, es gäbe ein Original, ein Urbild der olympischen Götter, an dem alle Abbilder zu messen wären. Wahrheit oder Falschheit der Mythen bezöge sich dann auf adäquate oder inadäquate Darstellung. Doch woher, so könnte gleich gefragt werden, sollen wir etwas über die wahre Gestalt und das wirkliche Wesen der Götter wissen, sind es doch Homer und Hesiod gewesen, die – einem berühmten Wort von Herodot zufolge – den Griechen erst ihre Götter gegeben bzw. geschaffen haben.²⁰ Platon, der alte Fuchs, weicht aber nun gerade dieser heiklen Frage dadurch aus, dass er das epistemologische Feld verlässt und in die Ethik wechselt (was insofern ja auch konsequent ist, als für ihn die Idee des Guten höher als die Idee des Wahren rangiert). Die Geschichte von Uranos und Kronos, wie sie Hesiod erzählt, so sein Beispiel, sei für Jugendliche unzumutbar. Die Geschichten vom Krieg der Götter untereinander seien kein Vorbild für eine Erziehung zur politischen Konfliktlösung, wie sie in der Polis anzustreben sei; deshalb seien „alle Götter-Gefechte, welche Homeros gedichtet hat […] nicht zuzulassen in unserer Stadt, mag nun ein verborgener Sinn darunter stecken oder auch keiner“²¹. Damit ist die Wahrheitsfrage durch ein moralisch-politisches Argument ersetzt worden. Und diese moralische Orientierung bestimmt dann im weiteren auch die Aufstellung von ‚richtigen‘ Grundzügen der Götterlehre: „Wie Gott ist seinem Wesen nach“, so wird dekretiert, ohne dass klar würde, woher wir dieses (wahre) Wesen denn kennen sollen, „so muß er auch immer dargestellt werden, mag einer im Epos von ihm dichten oder in Liedern oder in der Tragödie“²². Damit wird der Mythos engstens an die Polis gebunden, und diese Bindung betrifft im Athen des 5. Jahrhunderts nicht nur die Tragödie,²³ sondern auch Epen
Vgl. Luc Brisson, Platon, les mots et les mythes, Anhang 2, 184 ff. Platon, Politeia, X 377d, Übersetzung: SW V, 163. Platon, Politeia, X 377e, Übersetzung: SW V, 163. Vgl. Herodot, Historien, II,53. Platon, Politeia, X 378d; Übersetzung: SW V, 165. Platon, Politeia, X 379a; Übersetzung: SW V, 165 f. Christian Meier spricht deshalb zu Recht von der „politischen Kunst der griechischen Tragödie“ (Ders., Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988; vgl. hier bes. das glänzende Kapitel über die Orestie des Aischylos, a.a.O., 117– 156).
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oder Oden. Der Stabilität der Polis wegen (nichts fürchtete man so wie die stasis, Zwietracht und Parteienkampf) müssen die Götter als Ursache des Guten, als Urheber ausschließlich heilsamer Strafen, als unwandelbar und truglos und schließlich als unbewandert mit Lügen dargestellt werden. Der Gott ist kein „unwahrer Dichter“²⁴, sondern „einfach und wahr in Wort und Tat, und verwandelt sich weder selbst, noch hintergeht er Andere […]“²⁵. Aufgrund dieser so definierten ‚Wahrheit‘ folgen ganz konkrete Darstellungsverbote für die Dichter; damit die Wächter Tapferkeit erlernen, ist etwa die Darstellung der Unterwelt und ihrer Schrecken sowie das (homerische) Lachen der Götter verboten. Damit ist die Wahrheitsfrage beantwortet: Wahr ist der Mythos dann, wenn er die in der Polis erwünschte Moralität befördert. Die Götter werden zu Trägern dieser Moralität, sie werden zur Allegorie und der Mythos zur allegorischen Einkleidung von Wahrheit. In der Folgezeit treten zur moralischen Dimension noch die physikalische und die euhemeristische, die insgesamt dann die klassische Dreizahl der Allegorie ausmachen. Die hier gestiftete Verbindung von Mythos und Allegorie reicht bis weit ins 18. Jahrhundert; der letzte Ausläufer ist Winckelmann.²⁶ Da stand er aber schon mehr oder weniger auf verlorenem Posten, denn schon die nächste Generation der Herders und Moritze schloss sich der Vicoschen Auffassung an, die im Mythos ein Verfahren der Interpretation der Wirklichkeit sah. Es ging primär um die Gegenwärtigkeit des mythischen Bewusstseins, im 18. Jahrhundert entdeckt als Poesie.²⁷ Der Mythos wird, aller aufklärerischen Verteufelung als Priestertrug zum Trotz, zur Wahrheit erhoben, allerdings zur poetischen Wahrheit. Es sind die poetischen, weil anschaulichen und bestimmten Mythen, die den durch die fortschreitende Aufklärung aufgelösten „Zusammenhang von Anschauung, Erkennen und sinnfälliger Evidenz“ wieder wettzumachen suchten.²⁸ Die resümierende Begründung findet diese klassische und frühromantische Auffassung dann bei Schelling, der in der Einleitung in die Philosophie der Mythologie dekretiert, die Mythologie sei „nicht allegorisch, sie ist tautegorisch“.²⁹ Schelling stellt erstmals die Frage nach der Entstehung der My Platon, Politeia, X 382d; Übersetzung: SW V, 177. Platon, Politeia, X 382e; Übersetzung: SW V, 177. Vgl. Heinz Gockel, Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in der Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt (Main) 1981, 61 f. Vgl. dazu meinen Aufsatz: „Sprache der Phantasie“. Karl Philipp Moritz’ ästhetische Mythologie, in: Ders., Mythos als Aufklärung. Dichten und Denken um 1800, München 2013, 185 – 198. So die These von Walther Killy, Der Begriff des Mythos bei Goethe und Hölderlin, in: Ders. (Hg.), Mythographie der frühen Neuzeit. Ihre Anwendung in den Künsten, Wiesbaden 1984, 209 – 221. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Achte Vorlesung, in: Ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 2, Bd. 1: Einleitung in die Philosophie der Mythologie,
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thologie: Mythologie entstehe aus einem notwendigen Prozess, und diese Entstehung erkläre auch die Bedeutung. Götter „bedeuten (nur), was sie sind“³⁰. Damit werden Mythos und Sprache nahezu deckungsgleich. Cassirer konnte in seiner Kritik der symbolisch-allegorischen Deutung an Schelling anschließen: „Das Bild […] ist die Sache.“³¹ Die Wahrheit des Mythos, seine „Objektivität“, sei nur „funktionell zu bestimmen“ – als Teil des menschlichen Bewusstseins. Der Mythos sei „‚objektiv‘, sofern auch er als einer der bestimmenden Faktoren erkannt wird, kraft deren das Bewusstsein sich von der passiven Befangenheit im sinnlichen Eindruck löst und zur Schaffung einer eigenen, nach einem geistigen Prinzip gestalteten ‚Welt‘ fortschreitet“³². Der Mythos, so heißt es im Essay on Man, sei deshalb weder rational noch irrational.³³ Für LéviStrauss gehört der Mythos anfänglich ebenfalls zur Ordnung der Sprache;³⁴ in den Mythologiques wird dies revidiert: Der Mythos ähnele mehr der Musik als der Sprache.³⁵Im Spätwerk (wie in Die eifersüchtige Töpferin) begegnet dann zunehmend eine Aufwertung des Denkens in Metaphern. Dies führt in die Nähe zu Blumenberg, für den es allein schon deshalb keinen endgültigen Sieg der Aufklärung über den Mythos geben kann, weil der Mensch ohne (sprachliche) Bilder weder sich selbst noch die Welt zureichend versteht. Die Metaphern, vor allem die absoluten Metaphern, sind deshalb begrifflich nie überholbar, repräsentieren sie doch „das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität“³⁶ und stiften so auch Orientierung. Deshalb ist auch der Mythos keine überholte Frühform des menschlichen Geistes, sondern die Geschichten, die er erzählt, dienen dem „Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit“.³⁷ In dieser Distanzierungsfunktion hat der Mythos seine Wahrheit. Bei Kurt Hübner spielt die Stuttgart/Augsburg 1856, 175 – 197, hier: 195 f. Vgl. dazu Barnaba Maj, Die Ausarbeitung der tautegorischen Deutung der antiken Mythologie aus ihren poetischen und philologischen Quellen in Schellings „Einleitung in die Philosophie der Mythologie“, in: Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800, hrsg. v. Dieter Burdorf/Wolfgang Schweikard, Tübingen 1998, 61– 74. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Achte Vorlesung, 196. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, ND Darmstadt 71977, 51. A.a.O., 19. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Frankfurt (Main) 1990, 50 f. Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Bd. 1, übers. v. Hans Naumann, Frankfurt (Main) 1967, 231. Claude Lévi-Strauss, Mythologica, Bd. 1: Das Rohe und das Gekochte, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt (Main) 21980, 45 ff.; differenziert Ders., Mythologica, Bd. 4.2: Der nackte Mensch, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt (Main) 1976, 757 ff. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, 20. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt (Main) 1986, 9.
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Frage der ‚mythischen Wahrheit‘ – obwohl im Titel seines 1985 erschienen mythenphilosophischen Hauptwerkes explizit genannt – nur eine marginale Rolle. Er entwickelt die dem (griechischen) Mythos zugrundeliegende Ontologie, die der der Wissenschaft gleichwertig sei. Dadurch will er „Vorurteile“ entkräften, „der Mythos besitze keine Wahrheit oder sei sittlich abzulehnen“³⁸. Die Frage nach der spezifischen Wahrheit wird im dritten Teil als Frage nach der „Rationalität des Mythischen“ abgehandelt.³⁹ Die Begründung fällt eher vage aus; es bleibt eigentlich nur bei der Behauptung, die „Frage nach der Wahrheit des Mythos“ sei zu verstehen „als eine solche nach der rationalen Rechtfertigung und Begründung des Mythos“⁴⁰. ‚Rationalität‘ wird definiert als „Begreiflichkeit, Klarheit und allgemeine Einsichtigkeit“,⁴¹ d. h. als semantische, empirische, logische, operative und normative Intersubjektivität. Der Mythos, so seine leitende These, sei ein „Mittel systematischer Erklärung und Ordnung“ der Welt, eine Erklärung allerdings nicht mit Hilfe von Naturgesetzen, sondern „durch Archai“.⁴² Wissenschaft sei dem Mythos nicht rational, sondern nur „faktisch-historisc[h]“⁴³ überlegen. Die Frage ist aber, ob Hübners Voraussetzung stimmt: Ist der Mythos tatsächlich ein „Erfahrungssystem“ und damit ein „Erklärungssystem“?⁴⁴ Hübner verweist selber auf die entscheidende Rolle des Numinosen. Für Emil Angehrn stellt der Mythos die „archaische Metaphysik“ dar.⁴⁵ Allerdings enthalte der Mythos – im Gegensatz zur Metaphysik – Negativität, er sei negative „Chaosbewältigung“⁴⁶. Der Mythos habe seine Wahrheit darin, dass er darauf aufmerksam mache, dass Identität und Ordnung ihre Geschichte haben; die Welt habe ihr Profil erst in Abhebung vom Chaos gewonnen. In der Betonung der „Nichtendgültigkeit der Weltkonstitution“, auf die die mythische Wiederholung deutet,⁴⁷ kommt Angehrn mit Blumenberg überein: Das Negative ist nur partiell und vorläufig beherrschbar. „Der Mythos ist das Andere.“⁴⁸
Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 16. Vgl. a.a.O., 239 – 290 (Kap.: „Rationalität des Mythischen“). A.a.O., 239. A.a.O., 240. A.a.O., 257. A.a.O., 270. Vgl. a.a.O., 264 ff. Emil Angehrn, Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, Frankfurt (Main) 1996, 417. Vgl. dazu meine Besprechung: Die Überwindung des Chaos, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 106 (10./11.5.1997), 52. Emil Angehrn, Die Überwindung des Chaos, 419. A.a.O., 184. A.a.O., 13.
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2. Mythos und Geschichte Bisher sollte deutlich geworden sein, dass die Frage nach der Wahrheit des Mythos zu jener Strategie der Selbstlegitimierung gehörte, mit deren Hilfe sich die (jüngere) Philosophie von der (älteren) Dichtung abzugrenzen suchte. Doch gleichzeitig mit der Philosophie entsteht ein anderer „type of knowledge and a type of discourse (prose narrative) that make a series of decisive breaks with the mythical mode of thought and with its privileged mode of literary expression, versified poetry“⁴⁹. Dieses neue Narrativ ist die Geschichte, wobei vielfältige Interferenzen zwischen Mythos und Geschichte zu beobachten sind. Es gibt keine einfache Entwicklung vom Mythos zur Geschichte (wie es keine Teleologie „vom Mythos zum Logos“ gibt). Ricœur weist vielmehr auf die „simultaneous existence of several different types of narrative within the same culture“ hin: “The break between myth and history did not […] take place all at once, but only gradually.”⁵⁰ Die Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Wahrheit lässt sich mithin nicht ablösen vom Problem einer Typologie der narrativen Formen und setzt eine Analyse des historischen Modus des Verstehens der diese Narrative produzierenden Gesellschaft voraus. So betont Ricœur zu Recht die Notwendigkeit einer Systematik und Typologie von Narrativen, von denen ‚Mythos‘ und ‚Geschichte‘ die jeweils äußeren Enden einer Skala ausmachen. Es existieren nebeneinander verschiedene literarische Genres. Geschichte ersetzt den Mythos nicht, sondern tritt als eine neue Gattung daneben – und zur Abgrenzung wird die Wahrheitsfrage gestellt. Jeder Gott hat einen Mythos, d. h. von ihm werden Geschichten erzählt. In diesen göttlichen Geschichten spiegelt sich z.T. menschliche Geschichte (z. B. der trojanische Krieg). Doch hat es sehr lange gedauert, bis Mythos und Geschichte auseinander gehalten wurden, wie es z. B. Aristoteles in seiner Poetik tut, wenn er den Unterschied zwischen Dichter und Geschichtsschreiber anspricht.⁵¹ In der griechischen Antike gab es eigentlich keine scharfe Trennung von Mythos und Geschichte und auch keine lineare Entwicklung. Für die antiken Griechen wie für die Indianer Südamerikas sind Geschichte und Mythos eins; der Mythos ist geradezu, so Lévi-Strauss, wie die Musik „ein Apparat zur Beseitigung der Zeit“.⁵² Für Eliade ist mythisches Denken anti-historisch, es folgt einer archetypischen Ordnung und
Paul Ricœur, Myth and history, in: The Encyclopedia of Religion, Bd. 10, hrsg. v. Mircea Eliade, New York/London 1987, 273 – 282, hier: 275. Ebd. Aristoteles, Poetik, 9, 1451b,4 f. Claude Lévi-Strauss, Mythologica, Bd. 1: Das Rohe und das Gekochte, 31.
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ist zyklisch.⁵³ Regenerationsriten suchen die Geschichte zu verdrängen. Das Individuum einer nicht-literalen Gesellschaft sieht die Vergangenheit fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart⁵⁴ − erst die historischen Berichte einer literalen Gesellschaft erzwingen ihrer Natur nach eine objektivere Erkenntnis des Unterschieds zwischen dem, was war, und dem, was ist. Viele schriftlose Völker stellten dem jetzigen Zustand der Welt einfach eine „Urzeit“, die „Zeit des Andersseins“ gegenüber.⁵⁵ In den primitiven Sprachen findet man kein Wort über die ‚Zeit‘ als solche; vielmehr ist die mythische Zeit nicht vom Raum getrennt.⁵⁶ Mythen dienen in nicht-literalen Gesellschaften, wie Malinowski gezeigt hat,⁵⁷ nicht so sehr als zuverlässige historische Berichte über vergangene Zeiten, sondern fungieren in erster Linie als „Verfassungen“ gegenwärtiger sozialer Institutionen. Am Beispiel des Mordes der Melanesier an Captain Cook am 14. 2.1779 zeigt Marschall Sahlins, dass Mythos und Geschichte integriert werden können: Der Mord an Cook war der historische Vollzug einer mythischen Geschichtserwartung. Cook wurde rituell als Gott Lono empfangen und rituell geopfert. Es war ein „Makahiki in historischer Gestalt“.⁵⁸ Es waren zwei Schübe, die zum Einbruch von Geschichte führten: einmal die Schrifterfindung in Sumer und Ägypten um 3000 v.Chr., zum anderen der Kommunikationsaustausch zwischen vielen Kulturen.⁵⁹ In Griechenland führte die Begegnung von Kulturen ebenso zu einem Durchbruch⁶⁰ wie die Entwicklung einer neuen Schrift (Übernahme der phonetischen Schrift von den Phöniziern). Die anderen Länder bilden nicht mehr das Chaos, das außerhalb der geordneten Welt liegt, sondern sie bilden Partner und Konkurrenten. „Weltgeschichte“ entsteht.
Vgl. Mircea Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Frankfurt (Main) 1986, 447 ff.; Ders., Kosmos und Geschichte, Frankfurt (Main) 1984, 48 ff. – Vgl. Rüdiger Schott, Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker, in: Archiv für Begriffsgeschichte 12 (1968), 166 – 205, hier: 192. Vgl. Franz Boas, The folkore of the Eskimos, in: Journal of American Folklore 64 (1904), 2: Für den Eskimo ist die Welt immer so gewesen, wie sie heute ist. Rüdiger Schott, Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker, 174.193. Vgl. Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt (Main) 1984; Philippe Ariès, Zeit und Geschichte, Frankfurt (Main) 1988. Bronisław Malinowski, Myth in Primitive Psychology, London 1926, 23.43. Marshall David Sahlins, Der Tod des Kapitän Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreichs Hawaii, Berlin 1986, 44. Vgl. Jan Assmann, Der Einbruch der Geschichte. Die Wandlung des Gottes- und Weltbegriffs im Alten Ägypten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 265 (14.11.1987). Vgl. Arnaldo Momigliano, Alien Wisdom. The limits of hellenization, Cambridge 1975.
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Allerdings führt die Entstehung des Geschichtsbewusstseins nicht automatisch zu einem Ende des Mythos, sondern es kommt zu vielfältigen Überlappungen. Der Mythos wird – euhemeristisch – historisiert, während die Geschichte – seit Alexander dem Großen – immer wieder mythisiert wird.⁶¹ Schon die in aitiologischen Mythen liegende Beziehung der Gegenwart auf eine Vergangenheit ist „eine besondere Auswirkung des aufkommenden historischen Sinnes“.⁶² Die Abgrenzung zwischen Mythos und reiner Geschichtsdarstellung ist auch in der bildenden Kunst der Antike eine höchst problematische, was sich etwa am pompejanischen Alexandermosaik zeigen lässt.⁶³ Die Griechen hielten sich zur Vertiefung historischer Vorgänge vorzugsweise an mythische Darstellungsmodelle, wie der Fries des Pergamonaltars zeigt. Beim Parthenon bietet der Westgiebel (Götterkampf) mehr noch als der Ostgiebel (Geburt der Stadtgöttin Athena) Lokalgeschichte in mythischer Form. Die Darstellung der Kentauromachie auf den Südmetopen war (wie schon die auf dem Westgiebel des Zeustempels von Olympia) mit panhellenischem Anspruch verbunden.⁶⁴ Gleichwohl bildet sich ein Geschichtsbewusstsein heraus und es entsteht eine Historiographie. Aber noch die antike Geschichtsschreibung, die den Mythos abzulösen sich anschickt, ist von unserer Auffassung von Geschichte durch einen „Abgrund“ getrennt.⁶⁵ Der oft zitierte Grundsatz „Nichts ohne Beleg“ (ἀμάρτυρον οὐδέν)⁶⁶ gilt nur für Namen und Fakten, nicht für die Deutung eines Mythos.⁶⁷ Für die Griechen der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts existiert die Kategorie der ‚Historie‘ noch nicht; das Werk des Herodot ist erst eine Generation später geschrieben worden; Homer hatte die κλέα ανδρῶν besungen, ohne dass man bei
Die Geschichtswissenschaft wird „niemals völlig der Natur des Mythos [entgehen]“, so Claude Lévi-Strauss, Mythologica, Bd. 1: Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt (Main) 1976, 27. Vgl. Odo Marquard, Lob des Polytheismus, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 91– 116, hier: 109: Geschichtswissenschaft als „eine spezifisch moderne Polymythie“. Wolf Aly, Art. Mythos, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung, hrsg. v. Wilhelm Kroll, 32. Halbbd, Stuttgart 1935, 1374– 1411, hier: 1396 f. Vgl. Wolfgang Schindler, Mythos und Wirklichkeit in der Antike, Berlin 1988, 161 ff. A.a.O., 148 ff. Vgl. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, 16. Callimachus, Fragment 612, in: Ders., Fragmenta, Bd. 1, hrsg. v. Rudolf Pfeiffer, Oxford 1949, 418. Vgl. Heinrich Dörrie, Sinn und Funktion des Mythos in der griechischen und römischen Dichtung, Opladen 1978, 25.
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ihm Mythos und Geschichte trennen könnte; und dies gilt noch für das Publikum des Aischylos.⁶⁸ Bis an das Ende der klassischen Periode wurden die Mythen von den sogenannten Logographen (z. B. Hekataios, 6./5. Jhd. v.Chr.), den Vorläufern der Geschichtsschreiber, als Vorstufe der eigentlichen Geschichtsschreibung mitbehandelt. Noch Polybius (um 200 – nach 118 v.Chr.) stellt μῦθος und ἱστορία als zwei genera eines historischen Werkes nebeneinander, noch Sextus Empiricus (um 200 n.Chr.) unterscheidet historia, mythos und plasma als nebeneinanderstehende Elemente der Geschichtsschreibung. Erst langsam wurden Mythos und Geschichte auseinandergehalten, die Mythen den sogenannten Mythographen überlassen.⁶⁹ Allerdings haben bereits die frühen Logographen des 6. und 5. Jahrhunderts v.Chr. versucht, den Mythos zu systematisieren und ihn damit ein Stück weit entmythologisiert; man distanzierte sich zunehmend von den Dichtern. Hübner zitiert in diesem Zusammenhang etwa Hekataios (6. Jhd. v.Chr.), der betont, er erzähle den Mythos so, wie er ihm „wahr zu sein scheint“, er erzähle einen „logos eikós“, etwas Wahres: „Denn die Geschichten der Griechen erscheinen mir auch mannigfaltig lächerlich zu sein.“ „‚Eikós‘ war offenbar in dieser Zeit ein Schlagwort.“⁷⁰ Auch bei dem Mythographen Hellanikos meint ‚eikós‘ das Natürliche und Vernünftige gegen das Phantastische, Erfundene der Dichter. Die „vernünftige“ Erklärung des Mythos beginnt. Das Zeugnis des frühesten Bruchs der Geschichte mit dem Mythos stellen Herodots Historien dar, die Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. gleichzeitig mit der ionischen Naturphilosophie entstanden. Seine Darstellung der Perserkriege führt einen neuen Modus des Denkens herauf. Die Geburt eines neuen Diskurses wird bereits im berühmten einleitenden Satz sinnfällig, in dem Herodot die Absicht seines Werkes beschreibt: „Herodot […] gibt hier eine Darlegung seiner Forschungen (ἱστορίης απόδεξις), damit bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate, was unter Menschen einst geschehen ist […].“⁷¹ Der Begriff ἱστορίη meint eine Erkundung – nicht nur eine Stoffsammlung ist angestrebt, sondern eine Auseinandersetzung. Es ist eine Forschung, historie, mit dem Ziel, die großen Christina Gülke, Mythos und Zeitgeschichte bei Aischylos, Meisenheim (am Glan) 1969, 17. − Interessant in diesem Zusammenhang wäre auch eine nähere Untersuchung der Frage, welches Wahrheitsprogramm die mythischen Dichter selbst verfochten haben (vgl. z. B. das Proömium von Hesiods Theogonie). Vgl. Gustav Stählin, Art. μῦθος, 792. Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, 146 unter Berufung auf Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stichwort ‚Hekateios‘: 14. Halbbd., hrsg. v. Wilhelm Kroll, Stuttgart 1912, 2666 – 2769, hier: 2734. Herodot, Historien, übers. v. August Horneffer, neu hrsg. u. erl. v. Hans W. Haussig, Stuttgart 4 1971, 1. Vgl. die Auslegung von Paul Ricœur, Myth and history, 276.
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Taten der Griechen und Barbaren vor dem Vergessen zu bewahren und gleichzeitig die Ursachen für die Perserkriege zu suchen. Zu großen Teilen stützt sich Herodot dabei nicht auf schriftliche Quellen, sondern ist angewiesen auf das, was er gesehen und gehört hat. Er sucht nach rationalen Erklärungen und ist interessiert an natürlichen Ursachen. Sein Buch ist zugleich Geographie, Ethnologie und Kosmologie. Herodot soll in Athen und Olympia öffentliche Vorlesungen gehalten haben und der junge Thukydides soll diese gehört haben. Wenn dies vielleicht auch ins Reich der Fabel zu verweisen ist, so bleibt doch als Tatsache, dass mit Thukydides die wissenschaftliche Geschichtsschreibung beginnt. Am Schluss der Einleitung seines Werkes grenzt er sich, ohne dessen Namen zu nennen, von Herodot ab. Die Alten, so sagt Thukydides, hätten ihre Werke hauptsächlich zur Unterhaltung des Publikums geschrieben und deshalb Tatsachenberichte mit Mythenerzählungen garniert. Seine Historie habe dagegen alles Mythische eliminiert. Die Wahrheit (τὸ ἀληθές), die Gewissheit (τὸ σαφές) ist das, was Thukydides allein im Auge hat. Er habe deshalb nur das anerkannt, was er selbst erlebt habe oder, wo er auf Berichte anderer angewiesen gewesen sei, wenn er diese Berichte sorgfältig überprüft habe.⁷² Dieser (sophistisch beeinflusste) „neu[e] Begriff von Wahrheit“ wird von den Nachfolgern anerkannt.⁷³ Hier wird exemplarisch deutlich, wie „man aufhören [kann], an die Sage zu glauben? Wie […] man aufgehört [hat], an Theseus zu glauben“⁷⁴. Einer der Gründe, nicht mehr alles zu glauben, lag in der Unwilligkeit, sich länger dem Wort eines anderen zu unterwerfen, lag in einem „Aufstand der Ungläubigkeit“, wie er in jeder Religion begegnet. Der zweite von P.Veyne namhafte gemachte Grund liegt in der „Bildung professioneller Wahrheitszentren“.⁷⁵ Historiker wie Herodot sehen es als ihre Aufgabe an, zu erklären, und damit zog das wissenschaftliche Denken ein (dass letzteres „auf nicht weniger willkürliche [!] Annahmen“ beruht, wie Veyne sarkastisch anmerkt, sei hier nur am Rande erwähnt).⁷⁶ Geschichte entstand in dem Moment, als der Beruf des Geschichtsforschers mit dem des Geschichtsschreibers verschmolz.⁷⁷ Die mit der beginnenden Geschichtsschreibung einhergehende Mythenkritik war aber noch von aufklärerischer Radikalität weit
Thukydides I,21 f. und I,22,2. Walter F. Otto, Herodot und die Frühzeit der Geschichtsschreibung. Einleitung, in: Herodot, Historien, übers. v. August Horneffer, neu hrsg. u. erl. v. Hans W. Haussig, Stuttgart 41971, XI– XXVIII, hier: XXII. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, 12. A.a.O., 44. A.a.O., 49. These von Georges Huppert, zit. bei Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, 12.
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entfernt: „[D]ie Mythen zu kritisieren, hieß nicht, ihre Falschheit zu beweisen, sondern vielmehr, ihren wahren Kern wiederzuentdecken.“⁷⁸ Die Griechen sahen im Mythos einen wahren Kern, zu dem mehr und mehr Legenden (μυθώδεις) hinzugefügt worden waren, d. h. der Mythos enthält neben Falschem auch Wahres. „Es ist also unmöglich, daß ein Mythos ganz mythisch wäre. Die Griechen konnten die Fabeln in Einzelheiten kritisieren, aber sie konnten sie nicht vernachlässigen. Der einzige Streitpunkt lag darin, zu entscheiden, ob die Mythologie nur in Teilen wahr sei oder in ihrer Gesamtheit.“⁷⁹ Beide Schulen, die Philosophen wie die Historiker, tangierten mit ihrer Kritik die grundsätzliche Wahrheit des Mythos nicht, nur sahen sie im einen (philosophischen) Fall im Mythos eine bildliche Einkleidung philosophischer Wahrheiten, im anderen (historischen) Fall erschienen die Mythen als „leichte Deformation historischer Wahrheiten“⁸⁰. Die Autorität Homers (begründet in der Grundannahme, dass Mythen und Poesie die Wahrheit sagen) wurde selbst von jemandem, der wie Aristoteles den Mythen zutiefst misstraute, nicht wirklich in Zweifel gezogen; es gehöre sich wohl nicht, schreibt er, „mythische Weisheit in ernstliche Betrachtung zu ziehen“.⁸¹ Nur von Verzerrung muss man diese Weisheit reinigen; und wenn man alle Irrtümer richtig gestellt hat, gelangt man „vom Mythos zur Geschichte“.⁸² Die Unwahrheit des Mythos ist nur „Ungenauigkeit“, weshalb wir, um die Wahrheit zu finden, diese ungenaue Tradition nur richtigstellen müssen.⁸³ Der Maßstab für die Eliminierung der Ungenauigkeiten ist „das Kriterium der heutigen Dinge“.⁸⁴ Es gibt mithin keinen endgültigen Sieg der Vernunft; „das Problem des Mythos ist eher vergessen als gelöst worden“⁸⁵.
3. Mythos und Wirklichkeit Die Aufklärung – auch schon die griechische – beginnt mit der an den Mythos gerichteten Wahrheitsfrage. Ein schönes Beispiel ist der Beginn des platonischen A.a.O., 74. A.a.O., 77. A.a.O., 81. Aristoteles, Metaphysik, C4,1000a,12– 19; Übersetzung: Ders., Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 5: Metaphysik, übers. v. Hermann Bonitz, bearb. v. Horst Seidl, Hamburg 1995, 53. Zu den Gründen für die Autorität Homers vgl. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, 80. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, 83. A.a.O., 87. A.a.O., 91, vgl. auch a.a.O., 88 ff. A.a.O., 92.
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Phaidros. Anlässlich des Mythos vom Raub der Oreithya durch Boreas erklärt Sokrates dem Phaidros, dass er keine Zeit dazu habe, nach Art der Sophisten an den mythischen Sagen herumzuzweifeln und eine „natürliche Erklärung“ für sie zu suchen, solange er noch nicht imstande sei, der delphischen Inschrift zu gehorchen und sich selbst zu erkennen.⁸⁶ Platon lässt die Frage nach der Wahrheit des Mythos offen, weist aber mit leicht ironisch eingefärbtem Nachdruck auf die Schwierigkeiten hin, die ganz und gar keine geringen sind und eine interpretatorische Enthaltsamkeit empfehlen. Diese Stelle ist ein Indiz dafür, dass es zur Zeit des Sokrates zum besseren Ton gehörte, den Mythos nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Deutlich wird an einer Stelle wie dieser auch, dass die oberste Verifikationsinstanz die alltägliche Erfahrung bildete, und die erste Handlung der Mythenkritik bestand denn auch darin, die „sichtbaren Eingriffe der Götter in die Geschichte“⁸⁷ zu eliminieren. Es ging um die Möglichkeit der Theophanie, an die die Antike lange glaubte und die dann zum Einfallstor der Kritik wurde. Dem Mythos liegt ein spezifisches Wirklichkeitsverständnis zugrunde, und die Rezeptionsgeschichte des Mythos kann als Indikator für die Entwicklung dieses Wirklichkeitsverständnisses fungieren.⁸⁸ Die Kriterien dessen, was als wirklich gilt, sind nicht universal gleich, sondern entspringen dem Kontext gesellschaftlicher Lebensformen.⁸⁹ So beruht, wie Hans Blumenberg herausgestellt hat, die in sich geschlossene Anschaulichkeit der mythischen Figuren und Geschichten auf einem – vom neuzeitlich völlig verschiedenen – antiken Wirklichkeitsbegriff, der einschließt, „daß das Wirkliche sich als solches von sich her darbietet“⁹⁰. Das Verstehen der Welt orientierte sich bei den Griechen am Akt des Sehens. „Auf solche gesättigte Anschaulichkeit sind alle Normen des antiken Denkens bezogen […]. Und auf diesem beruht nun auch ein Denken, dem alle mythische Erzählung von der Erscheinung eines Gottes völlig unproblematisch bleiben konnte […].“⁹¹ Die Möglichkeit der Theophanie war fraglos und nie (mindestens bis zum Epikureismus) Anlass für eine „philosophische Kritik des Mythos“⁹². Erst die neuzeitliche Aufklärung bestand auf der Unmöglichkeit eines theophanen Sachverhalts (Wunderkritik). „Mit dem Gedanken, daß Götter erscheinen könnten, ist im
Platon, Phaidros, 229e–230a. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, 55. Vgl. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, 38. Das folgende a.a.O., 39. Vgl. Peter Winch, Understanding a Primitive Society, in: Rationality, hrsg. v. Bryan R. Wilson, Oxford 1974, 78 – 111, bes. 81 f. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, 38. A.a.O., 39. Ebd.
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Horizont des neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffs nicht einmal mehr zu spielen.“⁹³ Der Mythos aber folgte noch einem anderen Wirklichkeitsverständnis, ja, er ging überhaupt nicht von einem fertigen Bild der Wirklichkeit (ebensowenig wie von einem fertigen Begriff des Ichs) aus, sondern der Mythos dient (wie jede symbolische Form) dazu, die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit allererst zu setzen.⁹⁴ Wir konstruieren die Wirklichkeit mittels symbolischer Vorstellungen. Die Kriterien, mit denen wir zu wahren Vorstellungen gelangen, verändern sich im Laufe der Geschichte, oft ohne unser Wissen, d. h. man muss die Idee der Wahrheit historisch behandeln.⁹⁵ Es gibt nicht die Vernunft, sondern es gibt – so die (im Anschluss an Foucault) von Veyne vertretene These – „durch die Jahrhunderte hindurch eine Vielzahl von Wahrheitsprogrammen, die verschiedene Verteilungen des Wissens bedingen, und es sind diese Programme, die die verschiedenen Stufen der subjektiven Intensität der Glaubensvorstellungen, der Unaufrichtigkeit und der Widersprüche in ein und demselben Individuum erklären“⁹⁶. Es gibt keine Wahrheit der Dinge an sich, in deren Besitz wir Modernen uns allerdings oft wähnen. Wenn dem aber so ist, dann lässt sich der herkömmliche Gegensatz von Wahrheit und Fiktion, Vernunft und Mythos nicht mehr aufrechterhalten.⁹⁷ Der Mythos wird in der Geschichte so wenig restlos verworfen wie das Imaginäre, wie Fiktion, „weil dann überhaupt keine Wahrheit mehr übrig bliebe, wenn man es täte“⁹⁸. Es gibt – anders als noch in Husserls Theorie der Phantasie – keinen „transhistorischen Boden der Wahrheit“;⁹⁹ „[d]ie Auseinandersetzung über Tatsachen geschieht immer innerhalb eines Programms […]. Um den Mythos oder die Sintflut zu widerlegen, bedarf es mehr als einer aufmerksamen Untersuchung oder einer besseren Methode: Man muß das Programm wechseln.“¹⁰⁰ Für die Griechen war der Mythos deshalb „weder wahr noch falsch“¹⁰¹ oder beides zugleich. Manche schriftlosen Völker unterscheiden selbst zwischen verschiedenen Gattungen der mündlichen Überlieferung, wobei die Grenzen fließend
A.a.O., 41. Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, 186 ff. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, 141. A.a.O., 40. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt (Main) 1974, 72.170. – Vgl. dazu den „Poetik und Hermeneutik“-Band: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983. Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Vernunft auch bei Jean-Pierre Vernant, Religions, histoires, raisons, Paris 1979. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, XX. A.a.O., 108. A.a.O., 128 f. A.a.O., 41.146.153.
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sind. So kennen die Trobriand-Insulaner in Melanesien sowohl kukwanebu (Märchen, zur Unterhaltung erzählt, fiktive Ereignisse) wie wosi (Gesänge) und vinavina (Liedchen beim Spiel) und megwa oder yopa (magische Formeln). Daneben existieren die libogwo, was wörtlich ‚alte Rede‘ bedeutet. Dies sind sowohl geschichtliche Erzählungen (über Taten früherer Häuptlinge etc.) wie Mythen über die übernatürlichen Geschehnisse der Vorzeit. Die Mythen werden als lili’u von den übrigen libogwo unterschieden, gehören andererseits aber als Berichte über wirkliche Geschehnisse zu ihnen.¹⁰² Wir haben es mit einem fundamental anderen als dem unseren Wahrheitsbegriff zu tun: Beide, geschichtliche Überlieferungen wie Mythos, „gelten uneingeschränkt als wahr und werden von Fabeln und anderen erdichteten Erzählungen unterschieden“¹⁰³. Eine Grenze zwischen wahren und falschen, heiligen und profanen Berichten lässt sich nicht ziehen, prägend ist vielmehr die Unterscheidung zwischen verschiedenen zeitlichen Ebenen, zwischen der Urzeit und der jetzt gültigen Weltordnung. Der Ursprung aber ragt in die Gegenwart hinein. Auch griechische Mythen spielten in einer Zeit, die von der unseren auf eine geheimnisvolle Weise ganz verschieden war: Für einen Griechen ereignete sie sich ‚vorher‘, zur Zeit der heroischen Geschlechter, als „Götter wandelten einst bei Menschen, die herrlichen Musen […]“¹⁰⁴. Bis Thukydides und Pausanias hielt man diese Welt der Mythen für eine andere Welt; dann glaubte man zwar weiter an sie, reduzierte sie aber auf die Dinge der gegenwärtigen Welt.¹⁰⁵ Die Griechen hielten ihre Götter für wahr, obwohl für sie die „Götter in einer Raum-Zeit lebten, die auf geheimnisvolle Weise anders als die ihrer Gläubigen war […]“¹⁰⁶. Der Mythos ist also jenseits von Wahrheit und Falschheit zu situieren oder – besser gesagt – jenseits eines Wahrheitsbegriffs im Sinne der Aussagenwahrheit oder der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Es bietet auch keinen Ausweg, wenn man, wie Eberhard Jüngel, die Wahrheit des Mythos auf dessen „praktische“ Wirkung beschränkt, die allerdings nur dann zu retten sei, wenn der „theoretische“ Erkenntnisanspruch des Mythos ganz aufgegeben werde.¹⁰⁷ Die hier zugrunde gelegte Trennung von Theorie und Praxis ist auf den Mythos nicht an-
Bronisław Malinowski, Argonauts of the Western Pacific. An account of native enterprise and adventure in the archipelagoes of Melanesian New Guinea, London 1922, 299 ff. Rüdiger Schott, Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker, 193. Friedrich Hölderlin, Götter wandelten einst, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Michael Knaupp, Bd. 1, München 1992, 200 – 201, hier: 200. Vgl. Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, 29. A.a.O., 108. Eberhard Jüngel, Die Wahrheit des Mythos und die Notwendigkeit der Entmythologisierung, in: Hölderlin-Jahrbuch 27 (1990 – 91), 32– 50, hier: 48 f.
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wendbar. Weiter führt Jüngels These vom Mythos als existenzbewegender „Fiktion“. Existenzbewegend ist der Mythos vor allem wegen seiner „Bedeutsamkeit“, deren Verwechslung mit dem Wahren naheliegt.¹⁰⁸ Diese (bei Blumenberg von Rothacker aufgenommene und weiterentwickelte) Kategorie meint einen Horizont der Überbesetzung von Erfahrung: Signifikative Ereignisse und Orte werden (gestalttheoretisch gedacht) herausgehoben, bestimmte zeitliche oder räumliche Größen werden mit ‚Bedeutsamkeit‘ oder ‚Prägnanz‘ ausgestattet, Raum und Zeit finden ein Relief – im Gegensatz zur (wissenschaftlichen) Indifferenz, wo nichts mehr herausragt.¹⁰⁹ Eng mit der Bedeutsamkeit verknüpft ist der normative Charakter mythischer Traditionen, wodurch sie eine wichtige Funktion für den sozialen Zusammenhalt der Gruppe bekommen. Für Malinowski ist „myth“ im Sinne einer „reality lived“ als „pragmatic charter of primitive faith and moral wisdom“ für die primitive Kultur unersetzbar und „a vital ingredient of human civilization“¹¹⁰. Schon Vico sah in der Mitteilung (nicht in der Benennung) das Prinzip der Sprache des Mythos: Sie dient nicht dem Erkennen, sondern dem Befehlen. Die „Realworte“ haben eine wesenhafte Autorität.¹¹¹ Besonders der griechische Mythos (von Homer bis zu den mythischen Erfindungen Platons) stellt dem, der ihn hört oder liest, eine Aufgabe: Der Mythos belehrt, warnt, mahnt, rät zu oder ab.¹¹² Bei Homer liegt das „Urbild des mythischen exemplum“¹¹³ in der Episode, wie Niobe ihren Schmerz bezwang. Die Tragödie führt ja auch keine idealen Gestalten vor, sondern bietet warnende Beispiele fehlerhaften Verhaltens (z. B. Euripides). Wenn wir also überhaupt von ‚Wahrheit‘ des Mythos sprechen wollen, dann von einer Wahrheit, die nichts mit Wissen im Sinne der empirischen Wissenschaften zu tun hat, sondern mit einer Wahrheit, die – wie man im Anschluss an Heideggers Rede vom Sein als Ereignis sagen könnte¹¹⁴ – den Charakter des Ereignisses hat, ein Geschehen ist, das nicht zeitlos ist, sondern gerade in einem ausgezeichneten Augenblick und nur dort sich ereignet. „Lang ist die Zeit, es
Vgl. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, 35. Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 78 – 80, bes. 109 ff. Bronisław Malinowski, Myth in Primitive Psychology, 21.23. Vgl. Ferdinand Fellmann,Von der Sprache des Mythos zum Mythos der Sprache, in: Sprache, Wirklichkeit, Bewußtsein. Studien zum Sprachproblem in der Phänomenologie, Freiburg (i.Br.)/ München 1988 (= Phänomenologische Forschungen, hrsg. v. Ernst Wolfgang Orth, Bd. 21), 114– 132, hier: 121 f. Vgl. Heinrich Dörrie, Sinn und Funktion des Mythos in der griechischen und römischen Dichtung, 14: „der Mythos als exemplum“. A.a.O., 17. Vgl. Otto Pöggeler, Sein als Ereignis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13 (1959), 597– 632, hier: 577 ff.
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ereignet sich aber das Wahre.“¹¹⁵ Die sich zeitigende Wahrheit hat – wie die Wahrheit des Glaubens im Johannes-Evangelium¹¹⁶ – eine den Menschen verändernde Kraft. Die Mythen haben immer auch welterschließenden Charakter. An ihnen lässt sich die Sinngebungsfunktion menschlicher Lebensäußerungen ablesen. Der Mythos ist eine „exemplarische Ausdeutung von Welt, die zu weiteren Handlungen motiviert“¹¹⁷. Was also als Kriterium für den Mythos in Geltung gebracht werden kann, ist seine Pragmatik: Statt Wahrheit bietet der Mythos Komplexitätsreduktion und Weltorientierung, statt Wahrheit gibt es: Sinn. Mythen sind – wie Fiktionen – Formen elementarer Sinngebung, weshalb die Mythostheorie zu „einer Theorie der Fiktionen“ werden muss.¹¹⁸ Hier wie dort wird das Geschehen sogleich interpretiert; Geschichten realisieren Sinn, machen dem Menschen „die Lebenswelt in ihrem sinnhaften Aufbau verständlich“¹¹⁹. Nicht genug zu betonen ist die Wichtigkeit des narrativen Charakters des Mythos. Wilhelm Schapp spricht von einem „Verstricktsein in Geschichten“, neben oder in dem „der Unterschied […] von Wahrheit und Falschheit keinen Platz“ habe, denn: „Erkennen und Verstricktsein ist eins.“¹²⁰ Somit liegt in jeder philosophischen Theorie des Mythos die inhärente Notwendigkeit, sich über die Natur unseres eigenen Denkens Rechenschaft abzulegen, auch über unseren Wahrheitsbegriff.
Friedrich Hölderlin, Mnemosyne. Entwurf, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Michael Knaupp, Bd. 1, München 1992, 436 – 437, hier: 436. Joh. 8,32; Joh. 17,17 ff. Die Heideggersche Wahrheitskonzeption wendet Welte (im Anschluss an H. Schlier), ausgehend vom Johannesevangelium, auf die Wahrheit im Bereich des Glaubens an, vgl. Bernhard Welte, Über den Sinn von Wahrheit im Bereich des Glaubens, in: Universitas 26/7 (1971), 719 – 726. Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt (Main) 1943. Jürgen Mohn, Mythostheorien. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung zu Mythos und Interkulturalität, München 1998, 56. Das folgende a.a.O., 62. A.a.O., 139. Vgl. Ferdinand Fellmann, Phänomenologie als ästhetische Theorie, Freiburg (i. Br.)/München 1989, 189 – 204. A.a.O., 196. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, Neuauflage: Wiesbaden 1976, 150. − An Schapp knüpft jetzt auch an Franz Gniffke, Mythos. Orientierung in Geschichten, in: Mythische Provokationen in Philosophie, Theologie, Kunst und Politik, hrsg. v. Claus Bussmann/Friedrich A. Uehlein, Würzburg 1999, 283 – 376, bes. 321 ff.
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Notwendigkeit als Weg zur Freiheit Einige Bemerkungen zur Konzeption der Mythologie bei Schelling¹
Vorbemerkungen „Mythos“ ist ein Großbegriff. Solche Großbegriffe sind stets dadurch gekennzeichnet, dass sie diejenigen, die sie gebrauchen wollen, zunächst einmal einschüchtern. An welcher Stelle soll man eine Erschließung des Begriffs überhaupt anfangen? Wie kann man sich zu den Etappen der Begriffsgeschichte verhalten? Der Sachgehalt, der im Begriff „Mythos“ gemeint ist, scheint besonders stark zu sein – die Begriffsgeschichte von „Mythos/Mythologie“ kann das ja durch verschiedene Konstellationen hin nachweisen.² Ich schlage an dieser Stelle für meine Ausführung eine schlichte Formulierung, eine pragmatische Definition vor für das, was im Folgenden unter Mythos verstanden werden soll: Mythen sind Geschichten der Notwendigkeit. Schon in diesem Beitrag steht zur Probe, ob man damit durchkommt. Die Mythologie – im Unterschied zum Mythos selbst – ist dann der Versuch einer Distanzierung und Differenzierung von der Macht der mythischen Notwendigkeit, die zum Zweck eines Umgangs mit dieser Notwendigkeit unternommen wird. Ich schlage also vor, zu unterscheiden zwischen Mythos und Mythen als Geschichten der Notwendigkeit und der Mythologie als einer Reflexionsleistung, aufgrund derer man eben mit diesen Mythen und ihrer Macht umgehen kann. Dabei steckt schon in den Mythen selbst, sofern sie erzählt und tradiert werden müssen, ein reflexives Potential, so dass das Hinzukommen der Mythologie kein völlig neues Ereignis ist – so wie umgekehrt die Mythologie auch noch von der Macht der Mythen zehrt. Natürlich steht dieser Versuch einer definitorischen Formulierung selbst schon unter dem Eindruck der SchellingLektüre. Darum möchte auch das,was folgt, als Versuch verstanden werden, durch die Betrachtung von Texten Schellings auf der Linie von Schellings Entwicklung diese Sichtweise plausibel zu machen.
Die Vortragsform wurde beibehalten. Vgl.Walter Burkert/Axel Horstmann, Art. Mythos, Mythologie, in: HWPh, Bd. 6, hrsg.v. Karlfried Gründer/Joachim Ritter, Basel/Stuttgart 1984, 281– 318.
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1. Die Irritation des Mythos 1.1 Merkmale des Mythos Mit dem Mythos, so scheint es, assoziieren sich immer bestimmte Merkmale. Mindestens drei kann man nennen. Sicher gibt es noch mehr, aber die hier hervorzuhebenden liegen besonders deutlich am Tage. Das erste Merkmal lautet: Mythen haben einen archaischen Charakter. Mythen wollen sagen, was immer schon war. Sie sind in dieser Weise vorgeschichtlich. Sie sind dem aktiven Zugriff entzogen, sie können bestenfalls als Voraussetzungen geschichtlicher Aktivitäten angesehen werden. Dieses Moment des Archaischen verbindet sich weiter mit dem Gedanken des Unwillkürlichen. Mythen funktionieren nur, wenn sie nicht einfach ausgedachte Betrugsphänomene sind. Denn würde man wissen, wer den Betrug veranlasst hat, könnte man den Betrüger zur Rechenschaft ziehen, und dann wäre man den Mythos los. Nein, in den Mythen ist viel mehr enthalten. Mythen sind etwas Vorwillentliches, das niemand so beabsichtigt hat; etwas, das sich darstellt und dadurch eine besondere Macht bekommt. Dagegen könnte man zwar sagen: Mag es ja durchaus dieses Archaische, dieses Vorwillentliche geben – mich betrifft es nicht. Aber da kommt das dritte Merkmal ins Spiel, das ich an dem Mythosbegriff hervorheben möchte: Mythen enthalten so etwas wie eine Aufforderung zur Rezeption. Mythen sind nicht einfach Sachverhaltsdarstellungen, die man beiseitelegen kann, sondern Mythen enthalten in irgendeiner Weise eine Anrede. Sie stellen sich ein auf etwas im Menschen, wonach wir Menschen suchen – und sie haben in diesem Sinne eine Appellfunktion, indem sie suggerieren: „Es ist doch so, du musst dich darauf beziehen, du kannst gar nicht davon ablassen.“ Aus diesen drei Merkmalen im Gesamtphänomen des Mythos, dem Archaischen, dem Unwillkürlichen und der Rezeptionsnötigung, erwächst die Macht des Mythos. Offensichtlich ist die Macht des Mythos nicht eine äußerliche Macht, mit der man zu etwas gezwungen wird, sondern eine sehr subtile, die die Menschen sozusagen untergründig betrifft; untergründig, aber dadurch auch um so erfolgreicher und nachhaltiger.
1.2 „Entmythologisierung“ als Haltung zum Mythos Zum Normalbewusstsein protestantischer Theologen und Theologinnen gehört es, mit dem Stichwort „Mythologie“ sofort das andere Stichwort „Entmythologisierung“ zu verknüpfen. Ich selbst jedenfalls könnte gar nicht über Mythologie reden, ohne den Gegenbegriff mitlaufen zu lassen. In der Tat ist Rudolf Bultmanns großer
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Entmythologisierung-Aufsatz ein beeindruckender Text, den man immer wieder studieren kann und muss.³ Denn dieser differenzierte, höchst subtile und genaue Aufsatz stellt eine intellektuelle Herausforderung dar, die im protestantischen Durchschnittsverstand nur einigermaßen abgeflacht aufgenommen wurde. Dieser versteht Entmythologisierung oft als das schlichte Verfahren, mit dem man den Mythos loswerden möchte. Das ist aber eine sehr einseitige Sicht nicht nur der Entmythologisierung, aber auch des Mythos. Die Verkehrung tritt bereits da ein, wo man Entmythologisierung allein auf die antike Weltanschauung bezieht; so als wollte man sagen: Wenn wir die antike Weltanschauung hinter uns lassen, dann sind wir auch den Mythos los. So einfach ist es bei weitem nicht. Und so einfach hat es sich Bultmann ja auch nicht gemacht, sondern bei ihm geht es um das Selbstverständnis, das sich mit dem Mythos verbindet – und dieses Selbstverständnis ist eines, das die Menschen unter die Knute des Mythos zwängt. Das heißt: Man wird mit der Entmythologisierung, so notwendig dieses Programm ist und so reizvoll es bei Bultmann ausgeführt wurde, den Mythos nicht wirklich los. Im Gegenteil muss man fast fürchten, dass ein solcher Umgang, der darauf abzielt, den Mythos hinter sich lassen zu wollen, seinerseits zu einer Verharmlosung oder zu einer Simplifizierung des Mythos führt.
1.3 Die bleibende Irritation des Mythos Statt den Mythos loszuwerden, gibt es vielmehr so etwas wie eine bleibende Irritation durch den Mythos. Das kann man auch an einem ganz wichtigen Stichwort beobachten, das Bultmann selber in die Debatte gebracht hat, nämlich an dem Stichwort der Entweltlichung.⁴ Ironischerweise hat gerade Papst Benedikt XVI. in seiner Freiburger Rede 2011 dieses Stichwort aufgenommen. Als gelehrter Theologe wusste er natürlich, woher es stammt und hat sich seiner trotz der immer wieder geübten Kritik am aufgeklärten Protestantismus bedient. Das Problem der Entweltlichung ist schon am Begriff selbst zu erkennen, denn lässt sich Entweltlichung eigentlich durchführen? Kann man von Entweltlichung Geschichten erzählen? Oder setzt Entweltlichung immer das Andere, etwas Weltliches, voraus, von dem man sich absetzt? Wenn das der Fall sein sollte, und wenn Entweltlichung ein wichtiges Motiv und Moment der Entmythologisierung ist, dann ist leider auch die Entmythologisierung vom Mythos abhängig. Und zwar auf eine sehr subtile Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941), in: Kerygma und Mythos, Bd. 1: Ein theologisches Gespräch, hrsg. v. Hans-Werner Bartsch, Hamburg 51967, 15 – 48. Vgl. a.a.O., 29.
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Weise, weil sie den Mythos als das Andere geradezu benötigt, von dem sie sich immer abgrenzt. Man könnte dann die Frage daran anschließen, ob man sich eine existentiale Interpretation denken kann, die nicht auf die Entmythologisierung als ihre Voraussetzung angewiesen ist. Das wäre eine interessante Erörterung. Das Gefühl des Archaischen, das Gefühl des Unwillkürlichen und des Nötigenden jedenfalls ist mit der Entweltlichung nicht so einfach zu beseitigen. Im Blick auf Schelling sollen jetzt einige Bausteine dafür zusammengetragen werden, diesen bis jetzt noch allzu sehr vereinheitlichten Mythosbegriff zu differenzieren. Wir kommen am Ende noch einmal mit einem kleinen Seitenblick auf die Entmythologisierung zurück.
2. Schellings Bedeutung für das Verständnis des Mythos Dass Schellings Mythosbegriff für Tillich eine klassische Referenzgröße darstellt, ist nicht nur dem Zufall geschuldet, sondern hat auch sachliche Gründe. Denn es gibt mindestens drei Gesichtspunkte, aufgrund derer Schelling in der Geschichte der Mythosforschung einen besonderen Platz einnimmt. Zum einen die zeitliche Dauer der Beschäftigung mit dem Thema. Sie reicht in Schellings Werk von 1792– 1846, erfüllt also die ganze Zeit seines philosophischen Wirkens. Und das in allen Phasen seines, wie wir wissen, wechselvollen Werkes. Aber nicht nur das, das Thema Mythos/Mythologie ist nicht nur in Schellings Werken überall präsent, es besitzt auch eine sich wandelnde Funktion auf den verschiedenen begrifflichen Stufen seiner Philosophie. Auf allen diesen Stufen nimmt Schelling – und das zeichnet ihn wirklich aus – das Problem des Mythos philosophisch ernst. Er ist an keiner Stelle der Auffassung, dass Mythologie bloß ein psychologisches Problem darstelle oder dass sie nur eine Äußerlichkeit der Religionsgeschichte ausmache; nein, was im Mythos zur Sprache kommt, muss, drittens, philosophisch bedacht und ernst genommen werden. Dabei ergibt sich, wenn man von der Betrachtung dieser zeitlichen Dauerpräsenz übergeht auf die logische Struktur, dass es in Schellings Auffassung von Mythos/Mythologie durchaus begriffliche Veränderungen gibt. Und zwar in dem Sinne, dass sich ein sinnvoller Gedankengang, ja ein Gedankenfortschritt erkennen lässt. Der Begriff begleitet die verschiedenen philosophischen Konzeptionen Schellings andauernd – in verschiedenen Konstellationen. Wenn man mal ganz grob eine Etappenfolge für diesen Mythosbegriff bei Schelling zeichnen wollte, dann könnte man sagen: Der Mythos fängt an als ein Begriff in der Religionsphilosophie; er wird dann zu einem Begriff in der Geschichtsphilosophie, und am
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Ende bekommt er eine fundamentalphilosophische Bedeutung. Wenn man diese drei Etappen einmal so charakterisiert, kommt es darauf an, festzuhalten, dass die jeweils frühere Etappe immer in die nächste mit hinein gezogen wird. Es gibt daher nicht einfach einen konzeptionellen Wechsel, sondern was religionsphilosophisch beginnt, wird geschichtsphilosophisch verdichtet und hinterher für den Gesamtentwurf des späten Konzepts fundamental-ontologisch gebraucht. In diesem Zusammenhang entfaltet sich übrigens auch meine hier zu erläuternde These, dass Mythologie die Geschichte der Notwendigkeit erzählt – und diese Geschichte ist die Voraussetzung der Freiheit. Über den Zusammenhang von Notwendigkeit und Freiheit im Muster einer Dialektik der Freiheit werden wir dann am Ende genauer nachdenken. Warum also ist Schelling wichtig für den Begriff des Mythos und der Mythologie? Wegen der langen Zeitdauer, in der er sich mit ihnen beschäftigt hat; aufgrund der Beobachtung, dass der Horizont des Mythos in unterschiedlichen philosophischen Konstellationen immer mitläuft und mit bedacht wird – und alles wird am Ende philosophisch verdichtet.
3. Konstellationen des Mythosbegriffs bei Schelling Wenn wir nun markanten Etappen des Mythosbegriffs bei Schelling folgen, können wir chronologisch vorgehen; die Chronologie selbst gibt die erforderlichen Einblicke in die Problemgeschichte.
3.1 Die Aufnahme des Mythosbegriffs als Mittel für differenzierende Distanzierung (1792/93)⁵ Zu ersten Mal prominent wird der Mythos-Begriff in Schellings Magister-Dissertation, die er 1792 über den Ursprung des Bösen verfasst hat.⁶ Darin nimmt
Die hier folgenden Einsichten gehen auf Christian Danz zurück, der in seinem Aufsatz Mythos und Geschichte einen Einblick in noch nicht veröffentlichte Materialien aus Schellings Studienzeit gegeben hat: Christian Danz, Mythos und Geschichte. Beobachtungen zur Geschichtsphilosophie des jungen Schelling, in: Schellings Denken der Freiheit, hrsg. v. Heinz Paetzold/Helmut Schneider, Kassel 2010, 169 – 191. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis genes. III. explicandi tentamen criticum et philosophicum, in: Ders., Historisch-kritische Ausgabe, Reihe 1, Bd. 1, hrsg. v. Wilhelm G. Jacobs/Jörg Jantzen/Walter Schieche, Stuttgart-Bad Cannstadt 1976, 59 – 148.
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Schelling eine Auslegung von Gen 3 vor, in der er den Mythosbegriff verwendet. Dabei dient ihm der Mythosbegriff zu zwei Zwecken. Einmal kann er sich, indem er diese Geschichte als einen Mythos erzählt, abgrenzen von dem Versuch, den Sündenfall als ein historisches Ereignis zu beschreiben. Den Sündenfall so zu betrachten, ist ja eine Debatte, die nicht nur damals geführt wurde, sondern die manchmal auch heute noch nachwirkt. Wie verhält es sich mit dem Eintritt des Bösen in die Welt? Ist er ein Punkt in der Geschichtsreihe? Und die Antwort lautet natürlich: Nein. Warum? Weil hier ein Mythos erzählt wird und nicht ein geschichtliches Ereignis. Diese enthistorisierende Funktion ist die erste Leistung des Mythosbegriffs. Zweitens gilt: Wenn es sich in der Sündenfallgeschichte um einen Mythos handelt, dann macht das zugleich deutlich, dass es sich um etwas Unwiderrufliches handelt, was da eingetreten ist. Es kommt hier das Archaische zur Sprache, auf das wir vorhin gestoßen sind.Von dem Auftreten des Bösen kann man nur als Mythos erzählen; damit ist etwas gesetzt, hinter das man nicht mehr zurückkommt, und mit dem sich alle, die nachher kommen, auseinandersetzen müssen. Das sind diese beiden Momente, die in dem frühen Mythosbegriff Schellings eine Rolle spielen. Christian Danz konnte zeigen, wie sehr Schelling hier im Anschluss an Lessing argumentiert, dann aber auch Überlegungen von Johann Philipp Gabler, einem Exegeten des 18. Jahrhunderts, aufnimmt, wobei Schelling diesen Mythosbegriff, der exegetisch viel weicher und lockerer gefasst ist, philosophisch durchaus härter in Anspruch nimmt. Wir erkennen also die Aufnahme des Mythosbegriffs aus der Exegese. Er wird zunächst auf das Problem des Bösen angewandt. Damit ist die Behandlung des Mythos natürlich noch überhaupt nicht vollständig, das aus der Geschichtswissenschaft stammende Verfahren gibt aber sozusagen ein Sprungbrett ab für die philosophische Behandlung des Mythos – schon in dieser Dissertationsschrift von 1792.
3.2 „Mythologie der Vernunft“ (1796/97) Die zweite Etappe bezieht sich auf die Jahre 1796/97. Ein berühmtes Zitat aus dieser Zeit lautet: „[W]ir müßen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie mus [ein]e Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse u[nd] umgek[ehrt] ehe d[ie] Mythol[ogie] vernünftig ist, muß sich d[e]r Philos[oph] ihrer schämen.“⁷
Christoph Jamme/Helmut Schneider (Hg.), Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“, Frankfurt (Main) 1984, 13.
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Wenn aber diese Mythologie einmal erreicht ist, „dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist,vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das lezte gröste Werk der Menschheit seyn.“⁸ Dieses Zitat entstammt einem handschriftlichen Text, den man in der Forschung „das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ nennt. Er liegt in der Handschrift Hegels vor, und Christoph Jamme hat plausibel gemacht, dass es sich auch um einen Text Hegels selbst handelt; Franz Rosenzweig hatte das noch anders gesehen und hatte den Text stärker auf Schellings Seite geschoben. Die Diskussion ist hier äußerst subtil, sowohl was die historischen, wie die systematischen Fragen angeht. Ohne in diese Debatte einzutreten, kommt es hier nur darauf an, dass wir uns in dem gemeinsamen Horizont der Arbeitsgemeinschaft von Hölderlin, Hegel und Schelling befinden. Im Einzelnen muss man sich große Mühe geben, die Fäden den drei Autoren zuzuordnen – darum geht es an dieser Stelle auch gar nicht. Vielmehr kommt diese Idee einer „Mythologie der Vernunft“ als eine Idee in Betracht, die zwischen den Dreien in der Luft lag. Darum mag es auch erlaubt sein, sie jetzt als einen Punkt in Schellings Verständnis des Mythos mit einzuzeichnen. Worum geht es eigentlich in diesem ältesten Systemprogramm? Es geht um das, was alle jungen kritischen Geister der Philosophie nach Kant beschäftigt hat: Wie schaffen wir es, die Differenz von theoretischer Vernunft und praktischer Vernunft, die Kant so stark machte, diese Zweistämmigkeit, die man auch auf andere Weise akzentuieren kann, wieder zusammen zu sehen? Was ist der überwölbende Bogen, der die reine Vernunft und den empirischen Menschen nicht einfach zerreißt und auseinandertreibt? Zum Zweck einer Antwort entwickelt das Systemprogramm einen Durchgang von der Natur über die Geschichte zur Schönheit. Die Mythologie und die Religion tauchen sozusagen als Abschlussfiguren auf – darauf kommt es jetzt an. Gesucht wird mithin eine Einheit, die die Opposition von Mythologie und Vernunft ebenso überwindet wie die Zweistämmigkeit der Vernunft, die Kant in verschiedener Weise in seiner Philosophie durchbestimmt hat. Das Allgemeine, das normalerweise ein Produkt der Vernunft ist, müsste so unmittelbar einleuchtend sein, die Menschen so appellhaft ansprechen, dass es tatsächlich unmittelbar überzeugt. Vernunft soll keine Anstrengung mehr bedeuten, nicht nur den Wenigen, die schulmäßig zu denken gelernt haben, vorbehalten sein, nein: Vernunft soll so allgemein sein wie die Mythologie. Und die Mythologie soll vollgesogen sein mit der Kraft der Vernunft; sie soll nicht irgendwelche GötterGeschichten als Unfreiheits-Geschichten zur Geltung bringen. Es gibt aber in
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diesem Konzept, so scheint es, einen bleibenden Zwiespalt, der nicht aufgelöst wird. Diesen kann man in dem Zitat selber auch schon ersehen, wenn es einerseits heißt: „[e]he wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen“⁹ – da sind die Philosophen am Werk, die machen etwas; aber können sie das auch? Vielleicht können sie es nicht, denn am Ende heißt es: „Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt“¹⁰ müsse diese neue Religion stiften und das größte Werk der Menschheit vollenden; es geht also nicht um das Werk eines Individuums oder mehrerer Individuen, sondern der ganzen Menschheit – etwas Vorwillentliches, etwas Unwillkürliches müsste sich da ereignen. Darauf zielt das Programm ab und eben darin steckt der Zwiespalt, der Zwiespalt zwischen dem, was die Philosophen machen möchten – und zwischen dem, was sich einstellen muss. Und dieser Zwiespalt bleibt im Systemprogramm ungeklärt. Nun sei doch noch ein kleines Zitat angefügt, das es als erlaubt erscheinen lässt, Schelling in die Nähe dieser Figur zu stellen. Es stammt aus Schellings Philosophie der Kunst und ist um 1805 entstanden. Es ist eine der Stellen, von denen es bei Schelling nicht wenige gibt, in denen er die Meinung äußert, schon ganz früh gewusst zu haben, worauf alles hinausläuft. Schelling sagt: „[I]ch verhehle meine Überzeugung nicht, daß in der Naturphilosophie, wie sie sich aus dem idealistischen Princip gebildet hat [das heißt im Klartext: in Schellings eigener Früh-Philosophie; Anm. D.K.], die erste ferne Anlage jener künftigen Symbolik und derjenigen Mythologie gemacht ist, welche nicht ein Einzelner, sondern die ganze Zeit geschaffen haben wird.“¹¹
Die Behauptung ist also, dass Schellings eigene Philosophie – seine Naturphilosophie, auf die wir jetzt hier gar nicht weiter eingehen können –, so zu verstehen ist, dass sie bereits den Gedanken einer sich verbreitenden Allgemeinheit der Vernunft in Form einer unmittelbar zugänglichen Mythologie der Vernunft präsentiert hat. Hier geht es nicht um das Recht oder die Legitimität dieses Anspruches, sondern nur darum, zu zeigen, dass es in der Tat so etwas wie eine Konvergenz gibt zwischen dem Systemprogramm und dieser Selbstsicht Schellings. Das mag als ein kleiner Hinweis dafür genügen, dass man das Systemprogramm auch für Schelling als heuristische Orientierung verwenden kann, selbst wenn man festhält, dass Hegel der Verfasser ist. Ziehen wir ein Fazit: Die Absicht im Systemprogramm, aber auch in der Konzeption der Philosophie der Kunst bei Schelling, auf die wir gleich noch ein A.a.O., 13; Herv. D.K. A.a.O., 14; Herv. D.K. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, ND d. Ausgabe v. 1859, Darmstadt 1966, 93.
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bisschen näher eingehen werden, besteht darin, zu sagen, dass das Moment des Mythos in die unwillkürliche Allgemeinheit der Vernunft selbst hineingehört. Das Systemprogramm erhebt den Anspruch auf diese Art der Zustimmung, der Mythos soll selbst in den Vernunftbegriff hineingedacht werden, und so wie die Mythologie soll die Vernunft rezipiert werden. Aber wie ist das möglich?
3.3 „Darstellung des Absoluten“ (1800 – 1805) Vergegenwärtigen wir uns zunächst noch einmal die Aufgabe, vor der wir stehen. Die Formel „Mythologie der Vernunft“ verlangt nach einer allgemeinen Darstellung und Rezeption der Vernunft als Werk der Menschheit. Das heißt, man muss jetzt irgendwie hinter diesen Projektions- und Produktionscharakter, der im Systemprogramm noch durchschien, zurückkommen. Die Idee bei Schelling ist eigentlich ganz naheliegend, denn die Einheit, die da gesucht wird, muss man und kann man fassen als die Systemformel „Darstellung des Absoluten“. Für diese Formel kann man jetzt in dieser Zeit von 1800 – 1805, in der Schelling ziemlich viel, ziemlich schnell und in neuen Ansätzen gearbeitet hat, etwa drei unterschiedliche Konstellationen herausgreifen, die auch wieder logisch miteinander zusammenhängen.
3.3.1 System des transzendentalen Idealismus (1800) Die erste Konstellation entnehme ich dem wunderbaren großen Werk von 1800, Schellings System des transzendentalen Idealismus ¹². Der Titel klingt kompliziert und das Buch ist es auch, aber die Idee, die der Sache zu Grunde liegt, ist sehr klar und sehr einleuchtend. Zwar gilt für unseren Zusammenhang die Einschränkung, dass in diesem Werk das Stichwort Mythologie sozusagen gar nicht auftaucht, wohl aber die Kunst eine tragende Rolle einnimmt – und den Zusammenhang von Kunst und Mythologie werden wir gleich noch näher betrachten. Die Grundidee im System des transzendentalen Idealismus lautet: Das Werden der Natur bereitet die Selbständigkeit des Geistes vor. Das ist ein ganz großartiger Gedanke, denn Natur ist darin nicht bloß mechanisch verstanden, sondern Natur ist etwas, das eine innere Dynamik besitzt. Wie man diese Dynamik beschreiben soll, ist nicht ganz
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus, in: Ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 1, Bd. 3, Stuttgart/Augsburg 1858, 327– 634.
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einfach zu sagen – eine Evolutionstheorie ist es noch nicht, eine bloße Entwicklungstheorie ist es auch nicht. Gerade darin ist sie ein sehr spannendes Konzept, das auch interessant ist im Gespräch mit gegenwärtigen Naturwissenschaftlern. Näher betrachtet besagt sie: Die Natur wird, und sie entwickelt sich bis zu einem Punkt, an dem sozusagen die Mittel dafür bereit stehen, dass die Selbstständigkeit des Geistes ergriffen werden kann – der Geist fällt nicht vom Himmel, sondern der Geist entwirrt sich aus der Natur. Er entsteht als Freiheitsakt unter dem Gegebensein seiner natürlichen Voraussetzungen. In dieser Formation wird klar: Wenn der Geist selber nicht einfach ein dualistisches Prinzip ist, sondern wenn dem Geist eine Dynamik eignet, die aus einem bestimmten Punkt der Naturentwicklung entspringt, dann hat auch der Geist eine Geschichte. Darum heißen ab jetzt die Unterschiede nicht mehr Natur und Geist, sondern genauer: Natur und Geschichte. Geist gibt es nur als Geschichte und diese menschliche Geschichte, in der die Geschichte der Freiheit Gestalt findet, hat immer die Geschichte der Natur (und damit der Notwendigkeit) im Rücken und bei sich. Sie kann sich selber gar nicht anders artikulieren und selber vollziehen. Nun kann man schon ahnen, welche nächste Frage sich daraus ergibt. Wir haben diesen Naturbewegungsprozess, der eine Basis für die Selbständigkeit des Geistes darstellt, vor uns; wir haben den Geist als Geschichte: Hängen diese Bewegungen nun noch mal zusammen, fallen sie am Ende auseinander oder geht eines ins andere über, so dass dann beide nicht mehr präsent sind? Es liegt nahe, dass wir jetzt nach einer konsistenten Einheit suchen müssen – und diese Einheit trägt bei Schelling hier den Namen Kunst. Kunst ist mithin die Einheit von Natur und Geist bzw. von Notwendigkeit und Freiheit oder von Natur und Geschichte. Warum? Erstens hat die Kunst immer eine sinnliche Erscheinungsform – das ist sozusagen ihre natürliche Seite; und auch die bei Schelling höchstgeschätzte Kunst, nämlich die Poesie, wird diese Sinnlichkeit nicht los. Auch Laute sind sinnlich. Man kann die Poesie zwar als die am höchsten vergeistigte Kunstform sehen, die die Sinnlichkeit in sich aufnehmen muss. Aber was in dieser Sinnlichkeit wirkt, also das, was das Material gestaltet, das ist der Geist. Das Interessante an Schellings Kunstbegriff ist, dass er diese Einheit von Vernunft und Geist so zustande kommen sieht, dass man sie nicht planend machen kann; die Repräsentanz der Einheit im Kunstwerk kann man sich nicht vornehmen. Als Schlüsselwort dafür, dass man das nicht kann, gebraucht Schelling den Begriff „Genie“. Als Genie wird eben nicht ein irgendwie nonkonformistischer Zeitgenosse bezeichnet, von dem man nicht so genau weiß, um was es mit ihm zu tun ist, sondern Genies, das sind Menschen, die unwillkürlich, sozusagen archaisch, das bewirken, das schaffen, was die Anderen in ihren Bann zieht. Wenn man das so formuliert, lassen sich leicht die Ähnlichkeiten von Kunst und Mythologie heraushören. Und die Kunst, die mit diesem Genie-Begriff verbunden ist – ein sehr
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rationaler Genie-Begriff, könnte man sagen –, die Kunst ist dann diejenige Brücke oder Einheit, die als letzter Zielpunkt im System des transzendentalen Idealismus rekonstruiert wird. Aber auch in diesem Fall gilt es immer noch, dass natürlich beim Genie als Künstler das Schaffen im Vordergrund steht. Auch wenn dieser unwillkürlich schafft, ist er es doch, der schafft. Damit entsteht die Frage, ob wir die wirkliche Darstellung des Absoluten nicht noch höher hängen müssten. Dem widmet sich der zweite Versuch, den Schelling dann in seiner sogenannten Identitätsphilosophie unternommen hat in den Jahren 1801/02. Ich beziehe mich jetzt auf einen Text aus dem Jahre 1803:
3.3.2 Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803)¹³ Was wissen wir jetzt? Wir wissen, das Absolute hat unterschiedliche Darstellungsformen – Natur und Geschichte. Wenn wir uns klarmachen, dass Natur und Geschichte in diesem Zusammenhang als Darstellungsform des Absoluten verstanden werden sollen, dann ist es ebenso klar: Die Natur hat eine Geschichte und die Geschichte hat eine Naturseite. Darstellung des Absoluten ist ein nicht ganz einfacher Ausdruck, er enthält mindestens zwei Aspekte, nämlich einmal, dass jedes Einzelne, das etwas darstellt, die Darstellung des Absoluten ist; und sodann, dass alles im großem Zusammenhang Darstellung des Absoluten ist; und beides muss auch wiederum zusammengehören. Wenn man eines der beiden Teile isoliert, verliert sich die Konkretion des Gedankens; beides muss zusammen vorkommen. Das bedeutet aber: Wenn wir uns auf die Repräsentanz des Absoluten in der Geschichte beziehen, gibt es auch hierin selbst eine Zweigliedrigkeit. Es gibt die Notwendigkeitsepoche der Geschichte, und es gibt die Freiheitsepoche der Geschichte. Das ist der Ort, an dem Schelling in der Methodenschrift, die unter dem Gedanken einer Studieneinführung das Ganze des Wissens erörtert, die Mythologie einbaut. Die Mythologie bezieht sich auf die Notwendigkeitsseite der Geschichte. Oder anders ausgedrückt: Mythologie heißt, es gibt in der Menschheitsgeschichte eine lange Phase, die unter dem Sigel der Notwendigkeit steht. In ihr kommen die Menschen noch nicht mit ihrem Kopf nach oben, sie müssen aber diese Phasen durchmachen, um dann schließlich in das Moment einer Geschichte der Freiheit einzutreten. Der Wendepunkt ist, man kann es schon ahnen, das Auftreten des Christentums. Warum ist das Christentum hier von besonderer Be-
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in: Ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 1, Bd. 5, Stuttgart/Augsburg 1859, 207– 352.
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deutung? Weil im Christentum das Absolute eben nicht nur in die Geschichte überhaupt eingesenkt ist, etwa in der Form von – um das klassische Beispiel zu wählen – Götterstatuen repräsentiert. Sondern im Christentum hebt sich das Endliche selber zum Unendlichen hin auf. Der Tod und die Auferweckung Jesu besagen: Gott geht ins Endliche ein und das Endliche hebt sich selber in die Einheit des Geistes wieder auf. Das ist das Unterscheidungsmuster zwischen dem Modell der Notwendigkeit, das selber eines von Gewicht und Gewalt ist, und dem Modell der Freiheit, für das das Christentum steht. Wir erkennen hier: Der Ausdruck Mythologie ist die Bezeichnung des großen Moments und der Phase der Notwendigkeit der Geschichte als Darstellung des Absoluten.
3.3.3 „Philosophie der Kunst“ (1802 – 1805) Wir schließen jetzt noch kurz einen Blick auf die Philosophie der Kunst an. In ihr kommt die Mythologie auch wieder zur Sprache, und zwar auf eine ganz interessante Weise. Schelling bemüht sich in der Philosophie der Kunst ziemlich ausführlich darum, die unterschiedlichen Kunstformen in den Gedanken der Selbstdarstellung des Absoluten hinein zu verflechten. Die einfache, aber diskussionsbedürftige These, die er dort entfaltet, ist folgende: Es gibt, sagt er, in der Kunst eine große Richtung, die im Wesentlichen der Mythologie entspricht, und das ist die Plastik. Natürlich hatte er da insbesondere antike Plastiken vor Augen, in denen sich das Unendliche verendlicht. Seine These ist: Die anderen Kunstformen der Antike, etwa das Epos, sind selber von plastischer Gestalt oder mindestens als reliefartig zu verstehen. Das Epos ist noch nicht modern dynamisiert, sondern es ist eher statisch figurativ zu verstehen. Und umgekehrt, worin besteht die leitende Kunstform in der Phase der geschichtlichen Freiheit? Natürlich in der Poesie. Poesie ist nämlich die Sinnlichkeit, die nur im Hören, im Wahrnehmen, im Verarbeiten das wird, was sie ist. Der Poesie wird dieser Aspekt des Auflebens einer geistigen Anschauung zugeordnet. Und entsprechend müsste man sagen: Auch all dem, was an bildender Kunst in der Moderne da ist, eignet eine solche bewegliche Anmutung. Die moderne bildende Kunst zielt wie die Poesie darauf ab, dass die Rezipienten zugleich ein Teil des Kunstvorgangs werden. Das mag als ein Hinweis hier genügen. In dieser Phase der Identitätsphilosophie finden wir die Kunst in einem ganz prominenten Status, aber auch die Mythologie; und die Philosophie der Kunst vereint beides noch einmal in einem sehr interessanten und hier nur sehr grob nachgezeichneten Muster. Deshalb kann das Fazit zur Identitätsphilosophie folgendermaßen lauten: Was mit „Mythologie der Vernunft“ gemeint war, das kann man nur ermitteln, wenn man sich auf die Formel „Darstellung des Absoluten“
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zurückbesinnt. Das Moment des Unwillkürlichen, des Überindividuellen im Mythosbegriff spezifiziert sich in eine überwiegende Darstellung des Notwendigen im Mythos und in eine überwiegende Darstellung des geschichtlich Freien in der Offenbarung. Das klingt soweit durchaus einleuchtend – auf dieser Entfaltungsstufe aber tritt eine große Komplikation auf, und die macht die Sache erst richtig spannend. Was nun folgt, ist ein sehr ausdifferenzierter Prozess von einzelnen Momenten, den man auch ganz gut nachvollziehen kann.
3.4 Die Freiheit und ihre Folgen (ab 1809) Hier beziehe ich mich auf Schellings Philosophie ab 1809, ausgehend von der Schrift: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit ¹⁴ oder kurz Freiheitsschrift genannt.
3.4.1 Der Grundgedanke und seine Folgen für die Philosophie Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist ganz einfach. Bleiben wir noch einmal bei der soeben gebrauchten Formel: „Darstellung des Absoluten“. Darstellung lebt ja in der Differenz von Darstellung und Dargestelltem. Das heißt: Die Aufgabe der Darstellung ist es, das Dargestellte darzustellen. Diese Darstellung trägt somit selber eine Differenz in sich. Wenn aber jetzt diese Darstellung das Absolute darstellen soll, dann muss es auch eine Differenz im Absoluten geben – die haben wir bis jetzt aber noch gar nicht gesehen. Bis jetzt war das Absolute ein Einheitsbegriff. Und es kommt noch mehr ins Spiel: Es muss sich bei der Differenz im Absoluten nicht nur um eine Differenz im Absoluten handeln, es muss eine absolute Differenz im Absoluten sein. Das ist eine merkwürdige Formulierung: absolute Differenz im Absoluten: Wie soll man sie verstehen? Drei Verständnismöglichkeiten drängen sich auf. Die erste lautet: Absolute Differenz bezieht sich auf zwei Sachverhalte, die absolut nichts miteinander zu tun haben. Das kann aber so nicht sein, weil diese absolute Differenz natürlich immer nur aufgemacht wird mit der Referenz auf einen dritten Punkt; wenn ich etwas unterscheiden kann, dann ist die Differenz gerade nicht absolut. So einfach ist es also nicht. Die zweite Möglichkeit wäre, die absolute Differenz als die Negation aller Differenzen zu Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 1, Bd. 7, Stuttgart/Augsburg 1860, 331– 416.
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verstehen – das wäre aber eine absolute Indifferenz, und die wäre von absoluter Differenz gar nicht zu unterscheiden; und das wäre ja auch nicht der Sachverhalt, den wir suchen. Die dritte Möglichkeit besteht in der Annahme: Die Differenz ist da, aber sie hebt sich auf. Das ist ein durchaus prominentes Modell, das man durchzuspielen versuchen kann; es ist aber Schelling auch so noch zu einfach. Schellings Überlegung ist vielmehr folgende: Wenn es eine Darstellung des Absoluten gibt und diese Darstellung von Differenz zehrt, dann muss es im Absoluten selber eine Differenz geben, die man gar nicht anders erkennen kann als in der Darstellung. Und das bedeutet, so könnte man es fast ausdrücken: Die Darstellung des Absoluten ist das Absolute selber. Aber auch das ist jetzt zunächst nur eine Formel, die einen alsbald in neue Probleme verstrickt. Der Grundgedanke ist zwar noch ganz einfach: Darstellung setzt Differenz voraus. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus der Folgefrage: Wenn das Absolute dargestellt werden soll, dann muss es eine Differenz im Absoluten geben; allein: wie sieht die aus? Die verschiedenen primitiven Ansätze, die wir gerade durchprobiert haben, funktionieren nach Schellings Auffassung nicht. Wir müssen stattdessen irgendwie eine neue Erfassungsperspektive erfinden und ausprobieren. Als Leitformel dafür könnte man wählen: Die Darstellung des Absoluten ist das Absolute selber. Das würde jetzt bedeuten, wir müssen uns (das ist auch Schellings Weg, den er dann später einschlägt) auf das einlassen, was erscheint. Und wir müssen erwarten, dass das, was erscheint, so in einen Zusammenhang mit anderem tritt, dass es in diesem Zusammenhang als Einzelnes im Verweisungscharakter zu Anderem als Repräsentant des Absoluten verstanden werden muss. In dieser Bewegung steckt also, das ist zu merken, ein empirisches Moment, sofern wir nach Phänomenen suchen müssen; und es steckt ein rationales Element darin, demzufolge diese Phänomene in einen Zusammenhang treten. Genau gesagt: Eigentlich müssen wir schon die Erwartung haben, dass das, was an Phänomenen da ist, sich nicht hier und da beliebig vereinzelt. Vielmehr gilt: Weil wir diese Phänomene erfassen, und weil sie selber in diesem Erfassen als sie selber da sind, stehen sie auch in einem Zusammenhang miteinander, das heißt, sie sind möglicherweise in ihrem Zusammenhang Repräsentanten des Absoluten. Wir erwarten mithin, dass in den Phänomenen mehr steckt als bloßes Phänomen zu sein, so könnte man auch sagen. Diesen Gedanken können wir jetzt als Schlüssel nehmen für die Konzeption von Mythologie und das, was grundbegrifflich in einem großen Teil des Schellingschen Werks ab 1809 passiert. Schelling hat sich in dieser Phase in vielen verschiedenen Anläufen und vielen verschiedenen Einzelphasen unterschiedlichen Forschungsstadien der Mythologie gewidmet. Das nachzuzeichnen, wäre eine zu große Aufgabe. Ich erinnere nur noch einmal an die systematische Fra-
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geperspektive: Was besagt dieser Freiheitsgedanke, der uns anleitet, das Absolute nur über seine Darstellung zu verstehen, für die Mythologie? Noch eine kleine begriffliche Anmerkung sei angefügt. Bei Schelling gab es bis ca. 1809 eine Formel, mit der er sich vergewissern wollte, dass das Absolute ein sinnvoller Bezugspunkt ist. Diese Formel heißt: intellektuelle Anschauung. Intellektuelle Anschauung ist für Schelling eine Gewahrensweise des Absoluten – wir lassen die darin enthaltenen Probleme auf sich beruhen. Man kann beobachten, dass in dem Moment, wo aufgrund dieses komplexeren Freiheitsgedankens deutlich wird, dass das Absolute nicht mehr unmittelbar erschwinglich ist, auch diese Formel verschwindet. Vielmehr muss man sich auf das einstellen, was erscheint – und da ist die Mythologie ein ganz besonderes Feld von Erscheinen. Das sei an den vier folgenden Stadien exemplarisch vorgeführt.
3.4.2 Folgen für die Konzeption der Mythologie (1.) Die Mythologie ist geschichtlicher Umgang mit dem Absoluten. Das bedeutet: Man kommt erst einmal hinter die Mythologie gar nicht zurück. Wenn die Philosophen versuchen, den Mythos zu begreifen, dann können sie nicht einfach behaupten, so etwas wie einen unmittelbaren Zugriff auf das Absolute zu haben, von dem aus man dann beobachten könnte, was aus diesem Absoluten in der Mythologie wird, wie es sich dort verbiegt und verstellt – das wäre völlig unzureichend. Die Mythologie muss vielmehr geschichtlich gesehen werden – als die Art und Weise, wie die Menschen in der Geschichte mit dem Problem des Absoluten, das sich ihnen aufdrängte, umgegangen sind. Daraus dann entspringt Schellings Gedanke, dass die Mythologie als geschichtliches Phänomen philosophisch ernst zu nehmen ist. Es reicht nicht aus, sie nur psychologisch oder rationalistisch aufzufassen, als sei sie eine Verstellung der Wahrheit, bei der man sozusagen die Verbiegungen geraderichten müsste, um das direkt Gemeinte übrig zu behalten. Dieser Realismus des Mythos steht im Hintergrund, wenn die These heißt: Mythologie ist geschichtlicher Umgang mit dem Absoluten. Dadurch bekommt der Mythos, wie man leicht sieht, eine ganz gewaltige Macht in der Geschichte. (2.) In der Mythologie ist nach Vollständigkeit, ist nach einem rationalen Zusammenhang zu suchen. Wenn Mythologie Umgang mit dem Absoluten ist, dann steckt in dieser Mythologie selber ein Gehalt, der viel mehr ist als das, was diejenigen, die Mythen aufschreiben und mit Mythen umgehen, hineinlegen konnten. Dann wirkt das Absolute nämlich selber darin, dann gibt es einen Zusammenhang zwischen den Vorstellungen und Praktiken, und dieser Zusammenhang ist nicht von Menschen gemacht. Die philosophische Aufgabe wäre dann zu fragen, worin
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denn das Muster zu diesem Werden der Mythologie zu sehen ist. Schelling meint in der Tat, dass es ein solches Muster gibt, das man immer wieder finden kann. In der Philosophie der Mythologie ¹⁵ entwickelt er später so etwas wie eine geschichtliche Abfolge von mythologischen Vorstellungen. Die ist so beschaffen, dass in der Geschichte eine mythologische Konstellation als Grundlage dafür dient, dass eine neue Konstellation entsteht, die einen Fortschritt darstellt, die sich aber auch auf ihre Herkunft zurückbeziehen kann. Diese neue Konstellation entwickelt sich nicht einfach aus der alten, sondern sie entsteht, sie taucht auf, sie wird kreiert und dann wirkt sie mit den Vorhandenen zusammen. Man kann es ahnen, dass Schelling hier ein aristotelisches Muster im Hinterkopf hat, dass er mit den Kategorien von forma und materia spielt, um das Werden des Neuen im Anschluss an das Alte zu beschreiben. (3.) Wenn wir jetzt Schellings Vorgaben folgen, also die empirischen Vorkommnisse der Mythologie geschichtlich aufgreifen, und wenn wir in diesen aufgegriffenen Vorstellungen und Praktiken einen rationalen Gehalt entdecken, also eine überwillentliche Zusammenstimmung erfahren, ja wenn es uns sogar gelänge, die vorhandenen mythologischen Vorstellungen in einen durchgreifenden Zusammenhang einzustellen, dann wäre diese Darstellung der Mythologie immer noch nicht die vollständige Darstellung des Absoluten. Warum? Weil mit dieser vollständigen Darstellung die innere Differenz des Absoluten noch gar nicht erreicht wäre. Wenn wir mythologische Vorstellungen aufsammeln und sie sich ordnen lassen, dann wissen wir zwar, was der begriffliche Grundbestand des Absoluten ist, aber wir wissen noch nicht, was das Absolute selbst ist. Denn hinter der Darstellung liegt eine Differenz, die wir noch gar nicht weiter begriffen haben. Und die Differenz der Kategorien, die wir eben im Auge hatten, ist noch keinesfalls die Differenz des Absoluten selbst. Vielmehr haben wir ja noch mit diesem Freiheitsgedanken umzugehen, diesem Unüberwindlichen, Unbegreiflichen, das uns die ganze Zeit überhaupt schon in Bewegung gesetzt und gehalten hat. Das heißt, um das Absolute zu verstehen, brauchen wir nicht noch einen weiteren Aspekt des Begriffs, sondern wir brauchen eine neue Position. Das Absolute zeigt sich nicht darin, dass noch ein Moment in der Darstellung hinzu kommt, sondern dass die ganze Darstellung in ein anderes Licht gesetzt wird – das ist der Punkt, auf den es ankommt. Man kann diese Veränderung, um die es zu tun ist, begrifflich auch daran sehen, dass Schelling anfängt, von einer neuen Weise vom Sein zu reden – er schrieb das natürlich damals mit y, also: Seyn. Die Idee, dass es sich bei diesem
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 2, Bd. 2: Philosophie der Mythologie, Stuttgart/Augsburg 1857.
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Seyn nicht um ein weiteres begriffliches Moment handelt, sondern um eine neue Position des Ganzen, das ist ein Gedanke, den später Heidegger von Schelling übernommen hat – in einem Seminar über Schellings Freiheitsschrift, das auch publiziert ist.¹⁶ Dieser Seyns-Begriff, der bei Schelling auftaucht, wird später bei Heidegger eine entscheidende Rolle spielen. (4.) Die Anwesenheit des Seyns in den begrifflich vollständigen, untereinander zusammenhängenden und gedanklich abgeschlossenen Vorstellungen der Mythologie heißt: Offenbarung. Offenbarung meint: Präsenz des Göttlichen im Endlichen. Diese Präsenz ist aber vollständig nur so zu denken, dass man das Göttliche im Endlichen auf die Weise gegenwärtig weiß, dass es sich selbst als Endliches aufhebt. Das ist zunächst eine einfache dialektische Struktur; die Pointe besteht darin, dass es nicht auf diese schlichte dialektische Struktur als Begriff des Ganzen oder als Alternative zur Notwendigkeit als solche ankommt, sondern dass sie nur als Indiz dafür steht, dass das Moment der Freiheit des Absoluten, der Differenz im Absoluten selber für die Darstellung eintritt. Das ist kein ganz einfacher Gedanke, diese Doppelbödigkeit und Einheit von begrifflicher Vorstellung und realer Präsenz. Es ist aber ein Gedanke, der auf eine sehr interessante Form den berühmten ontologischen Gottesbeweis wieder ins Gespräch bringt. Hegel hat sich ja auch intensiv damit beschäftigt und versucht, ihn in seiner Philosophie zu rechtfertigen. Schelling rezipiert ihn in seiner Philosophie auf eine andere Art und Weise.¹⁷ Ich versuche das einmal im Blick auf die Frage, was Mythologie in der Freiheitsphilosophie Schellings bedeutet, zusammenzufassen. Wir suchten nach der Darstellung des Absoluten, bei der das Absolute in der Darstellung des Absoluten selber präsent ist. Wir finden mythologische Vorstellungen, die einen Umgang mit dem Absoluten in der Welt darstellen, aber wir finden darin noch nicht diese überbegriffliche Differenz ausgesprochen, die ich mit dem Stichwort Position bezeichnet habe. Diese überbegriffliche Differenz finden wir erst da, wo wir verstehen: Die Konstellation der Offenbarung ist etwas anderes als die begriffliche Fortsetzung der Mythologie. Man kann sich das so vorstellen, als würden wir von einer Betrachtungsweise der Welt, nämlich der Betrachtungsweise der Welt als eines dichten, aber auch notwendigen Zusammenhangs, versetzt werden in eine neue Betrachtung der Welt, die ihren Zusammenhang nicht verliert, die uns aber anders, nämlich frei, zur Welt positioniert. Hier äußert sich ein ganz starker
Martin Heidegger, Schellings Abhandlung „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ (1809), hrsg. v. Hildegard Feick, Tübingen 1971. Vgl. Dietrich Korsch, Der Grund der Freiheit. Eine Untersuchung zur Problemgeschichte der positiven Philosophie und zur Systemfunktion des Christentums im Spätwerk F.W.J. Schellings, München 1980 (= Beiträge zur evangelischen Theologie 85), 28 – 42.
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Freiheitsbegriff, der darauf zurückgeht, dass sich unsere Freiheit der Tatsache verdankt, dass Gott seine Freiheit nicht an sich hat und für sich behält, sondern seine (riskante) Freiheit mit uns teilt. Das heißt: Unsere Freiheit nimmt teil an Gottes Freiheit und unterscheidet dadurch die Welt als einen Notwendigkeitszusammenhang von sich selber. Das ist jetzt in groben Zügen diese Position, die man aus der Freiheitslehre erkennen kann.
3.4.3 Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung als Philosophie des Absoluten (ab 1841)¹⁸ Die Zweiteilung der Philosophie in eine Philosophie der Mythologie und eine Philosophie der Offenbarung ist die letzte Konstellation, die Schellings Philosophie einnimmt. Was zur Philosophie der Mythologie zu sagen ist, lässt sich von den Einsichten her, mit denen wir es bisher zu tun hatten, leicht nachvollziehen. Schelling zeichnet sich in seiner Philosophie der Mythologie dadurch aus, dass er zuerst eine historisch-kritische Einleitung in die Mythologie vorträgt, in der er sich darum bemüht, die zur seiner Zeit verfügbaren ethnologisch-religionsgeschichtlichen Daten zu sammeln und zusammenzustellen.¹⁹ Wichtig ist ihm, dass es sich bei den mythologischen Vorstellungen nicht um ein beliebiges Chaos handelt, sondern dass in ihnen eine gewisse Ordnung herrscht. Die Suche nach einer solchen Ordnung muss man heute auch von jedem Religionswissenschaftler erwarten; es reicht nicht aus, alles Mögliche festzustellen, es kommt vor allem darauf an, in welchen Zusammenhang man es rückt. Die Religionswissenschaft kann sich insofern nicht nur als „empirisch“ verstehen. Das Bild, das bei Schelling gezeichnet wird, ergibt ein gerundetes Resultat der mythologischen Religionsgeschichte, deren besondere Pointe es am Ende ausmacht, dass die Mythologie selber weiß, dass es mit der bloßen Produktion von Vorstellungen nicht getan ist; schon die Mythologie funktionierte nur, weil sie – im Grunde vorbewusst – das Innere, das in ihr Wirksame, ergreift. Diesen mythologie-internen Übergang ins Lebensweltlich-Praktische diskutiert Schelling, indem er den Zusammenhang von Mythologie als Vorstellung und Mysterium als religiösem Mythologievollzug thematisiert. Im Mysterium deutet sich eine Selbstüberschreitung der Mythologie an. Die Fluchtlinie in die Lebenspraxis ist das untergründig dominante Moment,
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 2, Bd. 3 u. 4: Philosophie der Offenbarung, Stuttgart/Augsburg 1858. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, in: Ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 2, Bd. 1: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Stuttgart/Augsburg 1856, 1– 252.
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dem die Produktion von Vorstellungen in der ausgeführten Mythologie sozusagen immer hinterher läuft.Wenn man alle möglichen Positionen durchgenommen hat, dann bleibt immer noch die Frage offen: Zu welchem Zweck dient eigentlich das Ganze? Wenn man sich diese Frage stellt, dann kann man Schellings Auffassung nachvollziehen, dass es in der vorchristlichen Religionsgeschichte so etwas wie eine Erwartungshaltung dafür gibt, dass das Christentum auftritt. Es fällt nicht einfach vom Himmel, sondern es setzt bestimmte Konstellationen voraus, die dazu dienen, das Christentum auch zu verstehen. Soviel also zur Philosophie der Mythologie. Die Philosophie der Offenbarung setzt eine andere Fragehaltung, die nach dem Seyn und nach dem eigentümlichen Ausdruck der Freiheit des Seyns bei uns selber, voraus. Die Darstellung der Hauptaufbaumomente des Christentums fällt bei Schelling eher traditionell aus; er nimmt mit der Zentralstellung des Gedankens der Menschwerdung Gottes so etwas wie eine christologische Konzentration des Christentums vor, auf die er alles abzielen lässt. Das heißt: Das Unendliche wird endlich, bis in den Tod Jesu hinein – die Auferweckung Jesu besagt dann, dass das Endliche unendlich wird. Interessant ist aber gar nicht das Verstehen dieser Dialektik als solcher. Die eigentliche Pointe besteht darin, dass man weiß und erfährt, dass in dieser Dialektik eine Präsenz der Freiheit vonstatten geht, die uns als diejenigen, die sich in sie verstrickt finden, auf eine andere Position versetzt. Das kann man der logischen Form des Gedankens nicht ansehen, diese Positionsveränderung muss man an sich selber erfahren. Schelling ist bekanntlich der Auffassung gewesen, dass genau in dieser Doppelkonstellation von Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung die neue Philosophie des Absoluten besteht, die nicht mehr als eine aus einem einheitlichen Grund herzuleitende konzipiert werden kann. Stattdessen ist für den späten Schelling diese Art von Religionsphilosophie, nämlich der geschichtliche Umgang der Menschen mit dem Absoluten, der Schlüssel zur Philosophie überhaupt. Deshalb kann er den Grundgedanken seiner Philosophie der Mythologie, der es auf die Vollständigkeit der Erscheinungen abstellt, auch in einer, wie er es nennt, reinrationalen oder negativen Philosophie wiederfinden, die man als Wissenschaftstheorie lesen kann. Auf der anderen Seite macht er den Versuch, die Philosophie der Offenbarung als positive Philosophie darzustellen, die den Lebenssinn der Philosophie zur Sprache bringt. Positive Philosophie ist demnach diejenige Philosophie, die eine Lebenshaltung in der und zur wissenschaftlich begriffenen Welterkenntnis enthält. Aber das ist jetzt nur andeutend gesagt und müsste weiter ausgeführt werden.
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4. Notwendigkeit und die Dialektik der Freiheit 4.1 Ein Resümee Schelling bietet uns einen starken Begriff der Mythologie. Warum? Weil er zeigt, dass das menschliche Bewusstsein in seiner Geschichte tatsächlich Erfahrungen macht, in denen es mit dem Absoluten umzugehen hat. Der Umgang mit dem Absoluten – und zwar durchaus in der Form, dass sich damit handlungsleitende Vorstellungen verbinden und handlungsleitende Vorstellungen ausprägen –, das ist die Mythologie, die die Geschichte des Mythos erzählt. Der Mythos bestimmt mithin eine wichtige Etappe in der Geschichte der Menschheit. Daraus resultiert auch die Macht des Mythos. Dieser starke Begriff der Mythologie, nach dem es Vorstellungen sind, die in der Geschichte wirken, prägt auch den Begriff einer reinrationalen Philosophie als Philosophie der Notwendigkeit, also den Aufbau eines geschlossenen wissenschaftlichen Weltbildes, das sich in seiner Logik wieder unter Rückgriff auf gewisse aristotelische Grundannahmen aufbaut. Bei Schelling verbindet sich ein durchaus rationales, alles durchdringendes Weltbild mit einer Lebenshaltung, die nicht unter dem Diktat dieser Welt in wissenschaftlicher Betrachtung steht. Das ist durchaus ein Resultat, das Eindruck macht. Und die Freiheit in dieser Lebenshaltung ist eben keine begriffliche, sondern eine reale Alternative zur Notwendigkeit. Schelling empfiehlt eine neue Position zur als notwendig verstandenen Welt. Das wäre, ganz kurz gesagt, das Fazit seiner Position.
4.2 Zur Kritik Auf den ersten Blick erscheint die Alternative von Freiheit und Notwendigkeit durchaus zwingend. Es fragt sich aber, ob man den Gesichtspunkt der Notwendigkeit (in der negativen Philosophie ebenso wie in der Mythologie) unbedingt so auslegen muss, dass er auf die Vollständigkeit der mythologischen wie der wissenschaftlichen Vorstellungen abzielt. Könnte es nicht sein, dass mythologische Vorstellungen und wissenschaftliche Begriffsbildungen auch dann den bezwingenden Charakter der Notwendigkeit tragen, wenn es uns nicht mehr gelingt, sie im Muster eines rationalen Gesamtzusammenhangs zu rekonstruieren? Diese Erwägung ist natürlich durch die Vielfalt der religionsgeschichtlichen Kenntnisse und die Pluralisierung der Wissenschaften in der Gegenwart bedingt – jeder Religionswissenschaftler oder Religionswissenschaftlerin wird unterstreichen, dass es eine Universalgeschichte der Mythologie nicht geben kann, und für die Wis-
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senschaftstheorie muss dieselbe Beschränkung akzeptiert werden. Wird durch diese Unmöglichkeit die Theorie der Mythologie als Ausdruck der Notwendigkeit bei Schelling schon ad absurdum geführt? Nein, wenn nämlich der Charakter der Notwendigkeit auch als innerer Charakter der Notwendigkeit (in jedem Phänomen) verstanden werden kann. Daran schließt die weitere kritische Überlegung an: Schelling ist, wie zu sehen war, der Auffassung, dass der Notwendigkeitsgesichtspunkt im Sinne der Vollständigkeit die Voraussetzung dafür abgibt, nach der Freiheit, dieser gegenüber der Notwendigkeit anderen Position zu fragen. Aber die Freiheit ist ja auch nicht nur unter der Maßgabe einer solchen Vollständigkeit zu denken, sondern Freiheit kann sich auch auf eine Alternative zur Notwendigkeit im Einzelfall beziehen. Oder anders gesagt: Notwendigkeit ist nicht nur die Signatur der religionsgeschichtlichen Phänomene in ihrem Zusammenhang, sondern Notwendigkeit kann als Signatur ganz verschiedener Phänomene auftreten. Das heißt: Die Kritik der Notwendigkeit im Namen der Freiheit müsste an jedem Ort stattfinden können. Die Freiheit muss sich als Alternative nicht immer auf das Ganze der Notwendigkeit beziehen, die Freiheit kann sich auch auf einzelnes Notwendiges oder auf die Signatur des Notwendigen im Einzelnen beziehen und sich davon abgrenzen. Freiheit ist auch als Einzelfall von Freiheit möglich, so gewiss sie aus der Differenz des Absoluten selbst entsprungen ist und als solche in der Geschichte zur Darstellung gelangt. Allerdings müsste man mit Schelling durchaus daran festhalten, dass es keine Freiheit gibt, die nicht zugleich Kritik von Notwendigkeit ist. Das ist ein Gedanke, der auch unter aktuellen Diskursbedingungen wichtig ist: In unseren gegenwärtigen Freiheitsdebatten treffen wir oft auf die Annahme, man müsse sich Freiheit als etwas Unmittelbares vorstellen – das ist aber keine sinnvolle Option. Freiheit ist nicht einfach da. Sie muss beansprucht werden. Und darum kann sie immer nur in Abgrenzung von anderem beansprucht werden. Man muss sich nur deutlich machen, dass nicht dieser Vorgang der Abgrenzung der Ursprung der Freiheit ist; umgekehrt: die Freiheit hat eine Abgrenzung von Anderem zur Folge. Religionsgeschichtlich bedeutet das, dass man nicht das Ganze braucht, um die Kritik der Freiheit einleiten zu können. Offenbarung, die zur Freiheit führt, wäre dann paradigmatisch und pragmatisch zu verstehen, aber nicht als der einzige geschichtsphilosophische Ursprung von Allem zu reklamieren. Wenn wir uns diese Erweiterung von Schellings Mythologiebegriff klarmachen und wenn wir überdies der Kritik folgen wollten, dass man nicht die Vollständigkeit der religionsgeschichtlichen Vorstellungen rekonstruieren muss, um in die Freiheit zu gelangen, dann könnte man sagen, dass die Mythologie in ihrem Zwangs- oder Notwendigkeitscharakter nicht nur eine Signatur der antiken Welt ist. Entmythologisierung würde sich demnach nicht nur auf das antike Weltbild beziehen, sondern Entmythologisierung müsste sich zwanglos auch auf die neuen
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Zwangsläufigkeiten beziehen, wie sie ins Stichwort der „Alternativlosigkeit“ gefasst werden. Solches ist selber eine Form des Mythos; und seine Kraft ist ihm noch nicht ausgegangen. Inspiriert von diesem Freiheitsgedanken, der eine neue Position zur Wirklichkeit in sich schließt, könnte man den Versuch machen, auch heute und an dieser Stelle gegenüber den neuen Mythologien kritisch zu sein – und damit das Programm der Entmythologisierung weiterführen.
Stefan Dienstbeck
Vom Mythos zum Dogma Paul Tillichs Aufnahme und Interpretation des Mythosbegriffs im Anschluss an den späten Schelling Mythos ist Göttergeschichte. Exakt so lautet die Definition, die Paul Tillich in seinem Beitrag zum Artikel Mythus und Mythologie in der zweiten Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart im Jahr 1930 anführt.¹ So lapidar und potentiell unchristlich Tillichs Worterklärung erscheinen mag, so wenig begnügt sich der als Symboliker und Ontologe des 20. Jahrhunderts in die Theologiegeschichte Eingegangene mit der Identifikation von Mythos und Göttergeschichte. Recht eigentlich lasse sich der Mythosbegriff nämlich erst verstehen, wenn man ihn innerhalb einer Theorie erkläre, die Tillich selbstverständlich selbst nachliefert und als „symbolisch-realistische Theorie des M[ythos]“² benennt. Dass Tillich sich mit einer symbolischen Interpretation des Mythos bereits auf Denkwegen bewegt, die insbesondere sein Spätwerk prägen, dürfte unverkennbar sein. Doch es zeichnet – soweit schon das Urteil vorab – den Tillich’schen Zugang zum Mythosbegriff aus, über die Stadien seiner Denkentwicklung hinweg weitestgehend konstant zu bleiben. Setzt man Tillichs Systemwerdung in drei Stadien an,³ dann schält sich sein Mythosverständnis bereits innerhalb seiner ersten Entwicklungsphase heraus: Bereits nach den beiden Dissertationen zu Schelling in den Jahren 1910 und 1912 lassen sich erste eigene Impulse zum Verständnis des Mythos an der Systematischen Theologie von 1913 ausmachen. In diesem frühen,
Vgl. Paul Tillich, Mythus und Mythologie (1930), in: Ders., Writings in the Philosophy of Religion/Religionsphilosophische Schriften, MW IV, hrsg. v. John Clayton, Berlin/New York 1987, 229 – 336, hier: 229 (= Ders., Mythus und Mythologie. I. Mythus, begrifflich und religionspsychologisch, in: RGG2, hrsg. v. Hermann Gunkel/Leopold Zscharnack, Bd. 4, Tübingen 1930, 363 – 370; Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 187– 195). Paul Tillich, Mythus und Mythologie, 230. Vgl. zur Phaseneinteilung von Tillichs Denken sowie deren Interpretation: Stefan Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, bes. 435 – 466. Grundlegend zu Tillichs Denkbewegung über sein Gesamtwerk hinweg: Christian Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York 2000 (= TBT 110), sowie in knapper Form Ders., Theologie als normative Religionsphilosophie.Voraussetzungen und Implikationen des Theologiebegriffs Paul Tillichs, in: Ders. (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004 (= Tillich-Studien 9), 73 – 106.
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noch stark an der Philosophie des späten Schelling orientierten Denken,⁴ welches sich absolutheitstheoretisch nennen lassen kann, wird der eigene Schriftzug der Tillich’schen Theologie deutlich. Hierbei wandelt sich fast wie selbstverständlich auch sein Zugang zum Mythos. Noch stärker tritt dies auf dem Höhepunkt von Tillichs sinntheoretischer Systemkonzeption hervor. Die Jahre nach dem ersten Weltkrieg bis zu seiner Emigration in die USA im Jahre 1933 zeigen eine zunehmende Abwendung vom unhinterfragten Absolutheitsbegriff und fokussieren sich auf den radikalen Zweifel im Glaubensakt selbst. In diesem Zuge verleiht Tillich seinem Mythosverständnis zwar keinen wirklich neuen Anstrich, integriert es aber bruchlos in sein eigenes theologisches System, so dass Schelling’sche Anleihen erhalten bleiben, diese jedoch hinter Tillichs eigenes systematisches Anliegen zurückzutreten beginnen: Formal bleibt Schelling prägender Gewährsmann, inhaltlich intensiviert sich die Linienvorgabe Tillichs. Die wohl konzisesten Darstellungen zum Mythos in diesem Stadium finden sich in Tillichs Religionsphilosophie von 1925 sowie in dem bereits zitierten RGG-Artikel von 1930. Das ontologisch geprägte Spätwerk Tillichs schließlich greift die Ansätze vor 1933 auf und bündelt sie in Tillichs spezifischer Sprache, wie sie in Sonderheit in der dreibändigen Systematischen Theologie der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts prominent wurde. Neues lässt sich hier nicht mehr ausmachen, allein die sprachliche Präzision und die Systemintegration erreichen ihre höchste Ausprägungsgestalt. Im Rahmen der Korrelationsmethode und dem Gottesverständnis als dem Sein-Selbst drängt sich v. a. die symbolische Kraft des Mythosbegriffs in den Vordergrund. Zwar war sie bereits in den vorherigen Stadien Tillich’scher Systementfaltung treibendes Movens des Mythoszuganges; doch erst in Tillichs letzter Schaffensperiode schwingt sich der Mythosbegriff zu einem nicht nur religiösen, sondern im engeren Wortsinne auch theologischen Terminus auf. Neu ist dies, wie gesagt, für Tillichs Verständnis vom Mythos nicht, die Schwerpunktsetzung verschiebt sich allerdings deutlich in diese Richtung. Tillichs Gebrauch des Mythosbegriffs orientiert sich somit an Schelling, bleibt diesem auch über das Gesamtwerk hinweg treu und setzt doch eigene Akzente.Von Interesse erscheint gerade Letzteres, weil sich hiervon Tillichs eigene Interpretation des Begriffs ablesen lässt. Insbesondere seine Einbettung in das theologische System samt der angrenzenden Begriffe, die mit ihm untrennbar verbunden bleiben, soll daher Gegenstand der nachfolgenden Analysen sein. Zu Tillichs Mythosverständnis in Kombination mit dem Kultusbegriff hat bereits Roderich Vgl. zu Tillichs frühem Denken im Anschluss an die Spätphilosophie Schellings die maßgebliche Studie von Georg Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007 (= TBT 141).
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Barth die wichtigsten Aspekte zusammengefasst.⁵ Da Barth allerdings primär Tillichs Verquickung des Mythosbegriffs mit dem des Kultus in den Blick nimmt, seien im Folgenden die über diese Begriffsverbindung hinausgehenden Aspekte von der Schellinglektüre Tillichs herkommend erörtert. Für die Behandlung des Mythosbegriffs in Tillichs Verwendung bedeutet dies, dass der Fokus zunächst (1.) auf den Wurzeln des Begriffs ruhen muss, wie sie von Tillich bei Schelling verstanden werden. Die beiden Dissertationsschriften Tillichs bilden zu diesem Zweck den Referenzrahmen. Darauf folgend (2.) rückt die eigenständige Hin- und Zuordnung des Mythosbegriffs bei Tillich im Anschluss an die Schelling’schen Grundlagen ins Zentrum. Da Tillichs Mythosverständnis ab diesem Punkt nahezu ausgearbeitet vorliegt und in späteren Schriften nur rezipiert wird, lassen sich von hier an keine werkshistorischen, sondern nur systematische Untergliederungen vornehmen. Die entscheidenden Äußerungen Tillichs bleiben daher in den folgenden Gliederungspunkten dieselben. Der Mythos bleibt unverständlich bei Tillich, wenn er nicht in Bezug gesetzt wird mit dem Symbolbegriff, weshalb dies den nächsten Analyseschritt (3.) ausmacht. Daraufhin soll die Entfaltung des Tillich’schen Mythosverständnisses als eines genuin theologischen (re)konstruiert werden, wobei zunächst (4.) der spezifisch christliche Mythos und sein rechtes Verständnis zum Thema wird. Im zweiten und letzten Schritt (5.) wird Tillichs Perspektive auf den Mythos zusammengeführt und auf Grundlage seiner Äußerungen pointiert die Integration des Mythos in das eigene theologische Programm Tillichs skizziert.
1. Auf Schellings Spuren: die Dissertationsschriften Tillichs Tillich las sich bekanntlich schon zu Studienzeiten in das Œuvre Schellings ein, so dass es wenig verwunderlich erscheint, wenn er seinem idealistischen Vordenker beide Dissertationsschriften, einmal die philosophische, einmal die theologische widmete. Dazu kommt, dass beide Schriften im Grunde genommen auf der selben Basis fußen: Tillichs philosophische Dissertation aus dem Jahr 1910 mit dem Titel Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien muss als ‚Ableger‘ zur theologischen Lizentia-
Vgl. Roderich Barth, Mythos und Kultus. Ein Problem aufgeklärter Religion bei Troeltsch und Tillich, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hrsg. v. Ulrich Barth/Christian Danz/Wilhelm Gräb u. a., Berlin/Boston 2013, 685 – 707, zu Tillich bes. 697– 706.
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tenschrift verstanden werden, weil auf den Vorarbeiten zu Letzterer die Schrift aus dem Jahr 1910 beruht.⁶ Mystik und Schuldbewußtsein von 1912, Tillichs theologisches Promotionspapier, stellt somit das ausgereiftere und vom Zugang her umfangreichere Werk dar.⁷ Für eine Betrachtung des Mythosbegriffs bietet jedoch die philosophische Dissertation weitaus besseren Boden, da Tillich hier insbesondere auf Schellings Philosophie der Mythologie und diejenige der Offenbarung zurückgreift. Zu Schellings eigenem Mythosverständnis sei an dieser Stelle fast nichts gesagt, sondern vielmehr auf den erhellenden Beitrag von Dietrich Korsch in diesem Band verwiesen. Es würde zu weit führen, zunächst Schellings und im Anschluss Tillichs Assoziationen zum Mythos zu entfalten; daher sei Schelling nur insofern in den Blick genommen, als und wie er von Tillich rezipiert und mithin verstanden wurde.⁸ Nur ein paar, bei Weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Basisdaten zu Schellings Mythologieverständnis seien als Basis angeführt.⁹ Mythologie ist für Schelling Darstellung des Absoluten. Diese erfolgt allerdings nicht einfachhin und ausschließlich vermittels Mythen; im Gegenteil stellt die Mythologie nur die Seite der Notwendigkeit innerhalb der Geschichte dar, welche auf das dargestellte Absolute verweist. Der Gegenpol zur Mythologie ist die Offenbarung, die geschichtlich nicht die Seite der Notwendigkeit, sondern diejenige der Freiheit beschreibt. Philosophie der Notwendigkeit und Philosophie der Offenbarung sind in Bezug auf Schelling weithin bekannt als negative und positive Philosophie. Während jene sich historisch entwickelt und als vorbereitendes Element zu begreifen ist, setzt mit dieser ein abrupter Perspektivenwechsel ein,
Vgl. dazu die Ausführungen der Herausgeber von Tillichs erster Dissertation, Gert Hummel und Doris Lax: Zur Textgeschichte, in: Paul Tillich, Frühe Werke, EW IX, hrsg. v. Gert Hummel/Doris Lax, Berlin/New York 1998, 154– 155 sowie die detaillierteren Angaben von Gunther Wenz im Vorwort zu Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, in: Paul Tillich, Philosophical Writings/Philosophische Schriften, MW I, hrsg. v. Gunther Wenz, Berlin/New York 1989, 21– 24, hier: 22 f. Schon die Abfassungszeit der philosophischen Dissertation zwischen Frühjahr und August 1910 weist auf deren eher kurzfristig konzipierten Charakter hin. Zu Schellings Mythosverständnis sei auf die umfangreiche Sekundärliteratur verwiesen, aus der besonders die folgenden Titel hervorgehoben seien: Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie, Berlin/New York 2006; Siegbert Peetz, Die Philosophie der Mythologie, in: F.W.J. Schelling, hrsg. v. Jörg Sandkühler, Stuttgart/Weimar 1998, 150 – 168. Für die weitreichenden Informationen zu Schellings Mythosverständnis sowie unkomplizierte und weiterführende Hilfe danke ich Herrn Prof. Dr. Dietrich Korsch (Marburg) sowie Herrn Dr. Arne Zerbst von der Münchener Schelling-Kommission. Die nachfolgenden Gedankenimpulse zu Schelling beruhen daher im Folgenden zum Großteil auf den Vorarbeiten von Dietrich Korsch, ohne dass ein spezifisches Werk als Grundlage angegeben werden könnte.
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indem die historische Entwicklung insofern mit ihr an ihr Ende gelangt, als es sich um einen Standpunktwechsel handelt. Nicht mehr die Fortsetzung mythologischer Vorstellung, sondern deren Transzendierung wird von der positiven Philosophie thematisiert. Es geht in der Philosophie der Offenbarung eben um dasjenige, was Grund und Gehalt dessen ist, was die Philosophie der Mythologie beschreibt. Die Anwesenheit Gottes bzw. diejenige – um mit Tillich’schem Vokabular zu reden – des Seins-Selbst ist zwar implizit im Mythos vorausgesetzt, doch wird sie in ihm und vermittels seiner rational und somit im Modus der Notwendigkeit nachzuvollziehen versucht. Die Mythologie selbst ist zwar in ihrer Gesamtheit vollständiger, rationaler Ausdruck des Seinsgrundes – zu fassen vermag sie ihn als Absolutes aber gerade nicht. Im Mythos selbst wirkt das Absolute, jedoch so, dass es in Form des Rationalen zur Anschauung kommt. Insofern ist Mythologie ein unverzichtbarer, jedoch nicht hinreichender Teil bei der Darstellung des Absoluten. Gott als das Absolute und damit als absolute Freiheit ist nicht gebunden an die Form des Mythos. Just dies eröffnet die Offenbarungsperspektive, die den Mythos als Form ihrer selbst, jedoch in völlig rationaler Fassung begreift. Zwischen Mythos und Offenbarung besteht ein schlechthinniger Bruch dahingehend, dass sich die Offenbarung im Gegensatz zum Mythos nicht kraft Vernunftgebrauch einholen und begrifflich fixieren lässt. Kurz gesagt: Der Mythos drängt bei Schelling einzeln sowie in seiner Gesamtheit als mythologischer Zusammenhang über sich hinaus auf die Erfassung seines Grundes. Letzterer ist ihm implizit, jedoch in rationaler und damit unbewusster Form. Zur Klarheit gelangt der Mythos erst vermittels der Offenbarung, welche ihn in sein eigentliches Licht stellt – dann ist die Mythologie jedoch bereits verlassen. Wenn der Mythos sich also im Grunde selbst begreifen möchte, kann dies nur als Selbsttranszendierung verstanden werden, die zur Realisierung ausschließlich dann kommen könnte, wenn der Mythos sich aufgibt. Tillich nun thematisiert den Mythos bei Schelling im Zusammenhang seines Versuchs, den Grund von Schellings religionsgeschichtlichem Entwurf zu rekonstruieren. Nach der Darstellung von Potenzen- und Gotteslehre im ersten Teil entwickelt Tillich die Religionsgeschichte nach Schelling, welche in zwei Abschnitte zerfällt, nämlich die von Mythologie und Offenbarung. Die Schelling’sche Religionsgeschichte in der Aufbereitung Tillichs präsentiert sich dabei als Prozess, der über verschiedene Perioden hinweg den Kampf der im ersten Abschnitt behandelten Potenzen in ihrem Widerstreit zum Gegenstand hat. Da es in der Religionsgeschichte um das zu sich kommende Bewusstsein geht, welches durch den Fall der Schöpfung sich seiner selbst nicht mehr unmittelbar bewusst ist, ist
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Religionsgeschichte notwendig Geschichte schlechthin.¹⁰ Weil das menschliche Bewusstsein „seiner Substanz nach das Gott Realisierende“ (EW IX, 197) ist, muss das Bewusstsein, welches seines unmittelbaren Inneseins im Grund verlustig gegangen ist, dieses Verhältnis mittelbar wiederherstellen und zwar prozessual. Nichts anderes meint nach Tillich der Schelling’sche Geschichtsbegriff. Der Fall ist dabei transzendent zu denken, d. h. vorgeschichtlich. Ist er mithin selbst nicht Teil der Geschichte selbst, so ist er doch Grund und Voraussetzung aller Geschichte. Durch den Fall kommt es zum Auseinandertreten der drei Potenzen des SeinKönnenden, Sein-Müssenden und Sein-Sollenden, so dass sich diese in Widerstreit befinden. Religionsgeschichte vollzieht sich nun dadurch, dass sich die Relation der drei Potenzen zueinander verschiebt und es dadurch zu einer Prädominanz einer der Potenzen im Geschichtsverlauf kommt. Die Geschichte strebt dabei ihrem Ziel zu, welches in der – nun allerdings vermittelten – Ursprünglichkeit des menschlichen Bewusstseins besteht, was Tillich als absolute Religion bezeichnet (vgl. ebd.). Ziel von Geschichte ist mithin – in Schellings Sprache – der Geist, also die Synthesis der beiden ersten Potenzen oder die dritte Potenz.¹¹ Über die verschiedenen gestuften Perioden hinweg verläuft die Religionsgeschichte, in welche von Schelling in Tillichs Nachvollzug die unterschiedlichen Religionen typologisch eingebettet werden (vgl. EW IX, 199 – 208). Den Abschluss dieser historischen Entwicklung des Mythos markieren die griechischen Mysterien, indem in ihnen die Mythologie zu eigentlichem Selbstbewusstsein gelangt, was nichts anderes als, wie Tillich erklärt, das „Bewußtsein ihrer [sc. der Mythologie] Grenze“ (EW IX, 208) meint. Der Durchbruch – latent oder bewusst – zum Monotheismus ist vollzogen in einer Weise, die das polytheistische Element in sich trägt und sich damit als lebendige Synthese der bisherigen Religionsgeschichte fasst (vgl. EW IX, 210). Hiermit ist das Aufgabengebiet der reinrationalen oder negativen Philosophie in Gänze umrissen: Ihr Anliegen ist Tillich zufolge „die Betrachtung des dreifach potenzierten Seienden in allen möglichen Kombinationen der Potenzen untereinander.“ (EW IX, 216) Äußert sich diese Betrachtung mythologisch als Gottesbewusstsein, so stellt das Weltbewusstsein nur die rationale Seite desselben Prozesses dar, der sich auch als Kulturbewusstsein fassen
Vgl. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: Ders., Frühe Werke, EW IX, hrsg. v. Gert Hummel/Doris Lax, Berlin/New York 1998, 154– 272, hier: 197. Vgl. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 199: „Die Hauptentwicklung selbst ist bedingt durch das sukzessive Hervortreten der im Urbewußtsein vereinigt gewesenen Potenzen, die nur sukzessive sich wiedervereinigen und zwar in einem ununterbrochenem Kampf der zweiten, vorwärtstreibenden Potenz gegen die erste, widerstrebende, ein Kampf, der erst sein Ende findet, wo die dritte vollkommen realisiert ist.“
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lässt. Der Punkt dessen ist erreicht, was bei Schelling mit ‚intellektueller Anschauung‘ bezeichnet wird. Erst die Freiheitskonzeption Schellings, welche auf seiner Gotteskonstruktion aufruht, vermag den Mythos über die Grenze seiner selbst hinaus zu transzendieren. War „[d]urch den mythologischen Prozeß […] die zweite Potenz wieder zur Herrschaft über das Sein gelangt“ (EW IX, 225), so ist im trinitarischen Gott die freie Liebesgemeinschaft aktuell (vgl. EW IX, 220). Die Offenbarung bedeutet nun, „daß durch Vermittlung der zweiten Potenz dem substantiell Gott setzenden Bewußtsein in dieser seiner Substanz der wahre Gott erschlossen wird“ (EW IX, 221). Dies heißt nichts anderes, als dass der Mensch an Gottes Freiheit so partizipiert, dass ihm seine eigene Freiheit bewusst wird. Letztere unterscheidet sich von der Mythologie insofern, als Mythos immer mit Notwendigkeit verbunden ist.¹² Die philosophische Religion stellt schließlich die Letztinstanz dar, die sich ihrerseits aus Mythologie und Offenbarung zusammensetzt, jedoch enthält sie „sie [sc. Mythologie und Offenbarung] als begriffen und steht ihnen darum in Freiheit gegenüber“ (EW IX, 231). Doch wie gelingt dem Menschen die Partizipation an der göttlichen absoluten Freiheit? Tillich ordnet die Antwort in seiner Schellinganalyse der Christologie zu:¹³ Die „Fülle der Zeit“, welche das Christentum bietet, hat zum Ziel: „negativ Erlösung von der Macht des Nicht-sein-Sollenden; positiv Gemeinschaft mit dem Gott, der es in Wahrheit ist“ (EW IX, 224). Erreicht wird die Gemeinschaft mit Gott eben vermittels Christi Person und Werk. Ein dreifach gegliedertes Vermittlungsbzw. Relationsgeschehen soll dabei entsprechend den drei Potenzen den Erlösungsprozess, dessen Ziel Gemeinschaft ist,vorstellen: „Als Vermittler hat sich der Sohn in ein Verhältnis der Heterousie zum Vater gestellt, er ist aus der ursprünglichen Tautosie herausgetreten; denn nur auf diesem Wege kann es zur Homousie, der freien, geistigen Gemeinschaft der Personen kommen.“¹⁴ (EW IX,
Vgl. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 230 f.: „Alles Bedingte knechtet, nur das Unbedingte macht frei, die Tat. Die Mythologie ist ein Vorgang, darum knechtet sie; die Offenbarung ist freie Tat, darum befreit sie.“ Zu Schellings Christologie vgl. auch: Christian Danz, Die philosophische Christologie F.W.J. Schellings, Stuttgart/Bad Cannstatt 1996. Gerade die Christologie Schellings setzt natürlich ein Gottesverständnis voraus, wie er es in seiner Freiheitsschrift entfaltet hat. Die Aufspaltung Gottes in den Grund seiner selbst und sein Wesen, das existiert, ermöglicht allererst die christologische Bewegung, die Schelling als Versöhnungstat begreift. Vgl. hierzu sowie zur Rezeption dieser Gedanken durch Tillich: Stefan Dienstbeck, Hierarchische Reziprozität. Das Gottesprinzip der Freiheitsschrift Schellings in Paul Tillichs Systematischer Theologie von 1913, in: Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809, hrsg. v. Gunther Wenz, München 2010 (= Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Abhandlungen 137), 123 – 147.
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225) Die Klimax im christologischen Geschehen bildet das Selbstopfer Christi am Kreuz, welches gerade die Erhebung zur Homousie ausmacht und damit den heiligen Geist realisiert.¹⁵ Gott ist – im Schelling’schen Verständnis – daher gerade auch als Geist zu verstehen. Dies stellt den Abschluss der Religionsgeschichte und somit den letzten Schritt in der Offenbarungslehre Schellings nach Tillich dar, welcher mit dem Christentum erreicht ist. Im Religionsbegriff Schellings erkennt Tillich Anspruch und Kritik, die sich mit dem Mythosbegriff verbinden. Der Mythos verdankt sich einerseits nicht sich selbst, denn eine „Erfindung einzelner hätte nie solche Macht über die Völker gewinnen können“ (EW IX, 241). Dies besagt nichts anderes, als dass es sich beim Mythos nicht um ein Produkt menschlicher Einbildungskraft, ja um überhaupt kein Produkt, sondern vielmehr um die „Substanz“ (EW IX, 247) des menschlichen Bewusstseins selbst handelt. Daher liegt, wie Tillich schreibt, die „Wahrheit der Mythologie […] in der Tätigkeit, nicht im Produkt, in der inneren Erzeugung der mythologischen Vorstellung“ (EW IX, 246). Mythologie ist daher „wirkliche Religion, wenn auch falsche“ (EW IX, 248), weil sie in sich den Grund ihrer selbst trägt, den sie selbst nicht aus sich hervorzubringen vermag, dabei jedoch an der Naturseite, also der Notwendigkeit, mithin dem bloß Nicht-Offenbaren hängen bleibt. Eine neue Mythologie sei daher nicht das Anliegen Schellings, sondern nur das Aufzeigen der berechtigten religiösen Aspekte im Mythosbegriff (vgl. EW IX, 272).
2. Mythos und Offenbarung Mit der Interpretation Schelling’scher Gedanken, wie Tillich sie in seiner philosophischen Dissertation liefert, erarbeitet sich Tillich zumindest formal das Grundgerüst seines Mythosverständnisses, wie es sich durch sein gesamtes Werk hindurchzieht. Nicht eingegangen sei dabei auf die Konsequenzen, die Tillichs Interpretation des Mythos zeitigt,weil diese sich in der dreigestuften Systemanlage Vgl. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 228: „In Christus und durch Christus haben wir Gott als Geist. In Christus, weil in ihm, der geschichtlichen Persönlichkeit, der geschichtliche, persönliche Gott dem Menschen entgegenkommt. Durch Christus, weil durch seine Selbstentäußerung, sein Sterben und seine Verklärung der Geist realisiert ist.“ Tillich pointiert seine Gedanken nochmals 1912 in Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, wenn er schreibt: „Weil er [sc. Gott] aber die Selbstheit nicht annimmt, um sie zu bejahen, sondern um sie zu verneinen, darum opfert er sie und sich in ihr und wirkt dadurch den Geist.“ (Ders., Mystik und Schuldbewßtsein in Schellings philosophischer Entwicklung (1912), in: Ders., Philosophical Writings/Philosophische Schriften, MW I, hrsg. v. Gunther Wenz, Berlin/New York 1989, 25 – 104, hier: 104)
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Tillichs selbst manifestieren und daher eine eingehende prinzipientheoretische Skizze benötigen würden.¹⁶ Im Folgenden sei daher der Fokus auf Tillichs eigenes Begreifen des Mythos gerichtet, wie es sich aus der Schelling’schen Vorgabe entwickelt. Tillich bleibt der Differenzierung der Religionsgeschichte bei Schelling in Mythos und Offenbarung über das Gesamtwerk hinweg treu. Religion ist ihrem Wesen nach „die alle Funktionen tragende Wendung des Geistes zum Unbedingten“¹⁷, wie Tillich in der Religionsphilosophie von 1925 schreibt. Hat es die Religionsphilosophie im Haupt- und damit im ersten Teil mit dem Wesen der Religion selbst zu tun, so widmet sich ihr zweiter Teil der „spezielle[n] Kategorienlehre“ (MW IV, 158; i. Original kursiv), welche zugleich „philosophische Erscheinungslehre“ (ebd.) zu nennen ist. Die Erscheinungslehre der Religion zerfällt ihrerseits wiederum in einen theoretischen und einen praktischen Teil bzw. Metaphysik und Ethos. Der erste, theoretische Part nun wird ansichtig in einer Philosophie des Mythos und einer Philosophie der Offenbarung (vgl. ebd.). Schon rein äußerlich greift Tillich damit das Spätwerk Schellings auf, indem er den Religionsbegriff erstens philosophisch kategorisiert und ihn zweitens in der Dualität von Mythos und Offenbarung beschreibt. Der theoretischen Erscheinungsform von Religion in Mythos und Offenbarung korrespondiert im praktischen Teil, dem Ethos, der Kultus als gelebte Religion. Wie die religiöse Metaphysik nicht ohne das religiöse Ethos auskommt,¹⁸ so besteht auch eine untrennbare Verknüpfung von Mythos und Offenbarung innerhalb der Metaphysik: Beide sind bei Tillich so aufeinander hingeordnet, dass sie zwar unterscheidbar sind und unterschieden werden müssen, jedoch nicht von einander zu trennen sind. Dabei entsprechen sich Mythos und Offenbarung nicht einfachhin in der Relation von Form und Gehalt, wie sich für Tillich zumindest von seiner sonstigen Systemkonzeption her auch vermuten lassen könnte. Im Gegenteil befindet man sich auch im Falle der Offenbarung zunächst auf der formalen Ebene, denn Offenbarung „ist die Form, in welcher das religiöse Objekt dem religiösen Glauben theoretisch gegeben ist“ (ebd.). Offenbarung ist mithin selbst nicht unmittelbarer Offenbarungsgehalt, sondern die theoretische, d. h. intellektuelle Fassung dessen, was in der Offenbarung offenbart wird. Mit anderen Worten: Offenbarung ist für die philosophische Erscheinungslehre kein vorlie-
Ausführlich wurde dies von mir behandelt in: Transzendentale Strukturtheorie, Göttingen 2011. Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), in: Ders., Writings in the Philosophy of Religion/ Religionsphilosophische Schriften, MW IV, hrsg. v. John Clayton, Berlin/New York 1987, 117– 170, hier: 158. Vgl. hierzu: Roderich Barth, Mythos und Kultus, bes. 699 – 703.
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gender objektiver Inhalt, sondern zunächst nur die intelligibel erfassbare Form, in welcher sich der Offenbarungsgehalt zeigt. Allerdings geschieht dies nicht in Form bloßer ‚Hülle‘, sondern Offenbarung bezeichnet immer auch und zugleich das Durchbrechen bestimmter Form, weil es Signum der Offenbarung ist, Durchbruch zu sein. Dasjenige, was durchbricht in der Offenbarung, ist der unbedingte Sinngehalt. Und zwar bricht dieser durch die einzelne Sinnform hindurch (vgl. MW IV, 160). In der Offenbarung vereint sich somit die Differenz von Form und Gehalt: „Form und Gehalt sind radikal zusammengeschlossen; die ideale Synthesis der Offenbarung ist klar ausgesprochen.“ (MW IV, 161) Den Mythos definiert Tillich als „die Ausdrucksform für den Offenbarungsinhalt“ (MW IV, 158). Dabei lässt sich die mythologische Form jedoch nicht so vom Inhalt der Offenbarung abstrahieren, dass der Mythos sich in bloßer Formhaftigkeit erschöpfen würde. Er will eben „Wahres und Wirkliches zum Ausdruck bringen“ (ebd.), d. h. das Unbedingte, auf das sich das religiöse Bewusstsein richtet, soll im Mythos nicht nur wahrhaft, sondern auch tatsächlich zur Anschauung kommen. In dieser ursprünglichen Mythosfassung ist der Mythos noch ungebrochen. Dies meint, dass in ihm logisches und ästhetisches Erfassen des Unbedingten ungetrennt in eins fallen. Der Mythos ist damit im Sinne Schellings Darstellung des Unbedingten und zwar in unmittelbarer Einheit von Anschauung und Logik. Liegen im Mythos somit in seiner eigentlichen oder anders bezeichnet: ungebrochenen Fassung geoffenbarter Gehalt und Anschauung des Geoffenbarten ungeschieden ineinander, so treten beide Elemente des Mythos auseinander, sobald er sich seiner selbst bewusst wird, also auf sich reflektiert. Dies geschieht Tillich zufolge in der „profanisierende[n] Wirkung der theokratischen Kritik und der autonomen Form“ (ebd.), wodurch der Mythos seiner Unmittelbarkeit verlustig geht. Hieraus entstehen die großen Mythologien der Kulturreligionen, die sich in polytheistischer Manier ausprägen. In ihrer Zusteigerung wird die autonome Kritik am Mythos zur Mystik sowie die theokratische Kritik zur Theokratie im engeren Sinne. Beide abstrahieren den Mythos und zerreißen damit das originäre Band zwischen Form und Gehalt. Dies führt dazu, dass der Mythos in der Mystik derart entleert wird, dass er zwar formal bestehen bleiben kann, seiner eigentlich synthetischen Wirkung zwischen Logik und Ästhetik aber verlustig gehen muss (vgl. MW IV, 159). Die Mystik versteht sich als ‚bessere‘ Mythologie und bedarf daher nicht einmal des gezielten Angriffs auf den Mythos, als dessen Vollendung sie sich begreift, wie Tillich in seinem Mythos-Artikel in der Religion in Geschichte und Gegenwart ausführt (vgl. MW IV, 231) Demgegenüber versinnbildlicht die Theokratie bei Tillich nicht Abstraktheit in individueller Zugangsweise, sondern die Überführung des Religiösen in die Form des Gesetzes (vgl. MW IV, 159). Insofern steht die Theokratie mit ihrer legalistischen Ausrichtung dem Mythos geradezu
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aggressiv gegenüber, weil Letzterer in unstatthafter Weise Profanes und Heiliges zu vermischen droht. Die Beseitigung des Mythos ist daher letztes Ziel der Theokratie, die bei Tillich in seinem Mythos-Artikel 1930, also fünf Jahre nach der Religionsphilosophie, im Kleide der prophetischen Kritik erscheint, die den Mythos radikal bekämpft (vgl. MW IV, 231). Ebenfalls im Jahr 1930 gesellt sich zu Mystik und Theokratie bzw. prophetischer Kritik noch die philosophische Kritik hinzu. Ihr Anliegen ist es, den Mythos als „unwürdig und widersinnig“ (ebd.) zu entlarven. Ihrer rationalen Grundordnung nach vermag die Philosophie nicht die Doppelheit von Gehalt und Form im Mythos adäquat zu erfassen. Was alle drei Kritiken am Mythos eint, ist der Umstand, dass es sich bei ihnen um Protestbewegungen handelt, die sich aus der Religion selbst entwickelt haben. Der Religion wohnt nämlich nach Tillich ein „Protest gegen den M[ythos]“ (ebd.; i. Original kursiv) inne. Dies ist unumgängliches und unaufgebbares Zeichen wahrer Religion, weil nur sie in der Lage ist, die Differenz von Bedingtem und Unbedingtem richtig zu erkennen. Jegliche Art und Weise, den Unterschied sowie die Unterscheidbarkeit von Bedingtem und Unbedingten einzuziehen oder sie gar gänzlich zu verabschieden, muss wahrer Religion suspekt sein. Da es ihr Anspruch ist, Richtung auf das Unbedingte zu sein, erscheint ihr jede Haltung der Kritik bedürftig, die versucht, entweder Bedingtes zu verabsolutieren oder andererseits meint, als Endliches das Absolute an sich besitzen zu können. Ersteres findet sich im Anspruch der Theokratie wieder, die das Gesetz als Inkarnation des Göttlichen begreift. Zweites hingegen ist das gemeinsame Anliegen von Mystik und philosophischer Kritik, weil sie das Unbedingte vom Bedingten ablösen wollen und es zugleich in Reinform für sich beanspruchen. Die Mystik unternimmt dies, indem sie glaubt, sich durch Weltverzicht unmittelbar in absolute Sphären aufschwingen zu können; die Philosophie hinwiederum zeigt sich Absolutheitsansprüchen gegenüber generell skeptisch, weshalb sie überhaupt nicht mehr von etwas Absolutem ausgehen kann oder zumindest dieses nicht als Grundlage für ihr Denken heranziehen möchte. Stellen daher Theokratie, Mystik und philosophische Kritik berechtigte Anliegen der Religion in den Vordergrund, indem sie allesamt ein falsches Verständnis der Relation von Absolut und Bedingt zu vermeiden suchen, so geraten sie selbst von der Religion her in die Kritik: Gerade weil sie die Religion in ihrem genuinen Anliegen verteidigen wollen, sind die drei Positionen nämlich Abstraktionen von der wahren Religion und drohen daher jeweils dasjenige, was sie kritisieren, in die andere Richtung zu übertreiben: Religion ist nach Tillich eben Richtung auf das Unbedingte; sie ist nicht das Unbedingte selbst, was die Mystik vergisst. Zugleich meint Religion nicht, dass das Absolute als Gegenstand handhabbar wäre, was je auf ihre Weise Theokratie und Philosophie verkennen. Jede Schutzfunktion der Religion ist damit zugleich ihre Verfehlung, weil versucht
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wird die Dynamik der Religion, die ihr als Richtungsbewegung innewohnt, anzuhalten und sie in Position zu überführen. So berechtigt und notwendig Religionskritik aus der Religion heraus ist, so gefährlich ist sie auch, wenn sie zu übersehen beginnt, wofür sie fungiert. Für den Mythosbegriff heißt dies nun, dass die an ihm geübte Kritik von Seiten der Theokratie, der Mystik und der Philosophie insofern ihre Berechtigung hat, als der Mythos die Neigung in sich trägt, das Absolute in die relative Form zu überführen. Dies ist allerdings nicht seine eigentliche und ursprüngliche Funktion. Erst vermittels der einsetzenden Reflexion treten im Mythos die beiden Facetten seiner selbst, nämlich der unbedingte Gehalt und die bedingte Form, auseinander. Daraufhin wiederum kommt es im Zuge der Vernunftkritik zu einer Fixierung des Absoluten auf die relative Form. Erst sobald dies eintritt, haben die religiösen Kritikfunktionen ihre Berechtigung. Der Mythos ist dann nämlich, wie Tillich schon in der Dissertation von 1910 anführte, echte Religion, aber zugleich eine falsche. In seiner Ursprungsfassung ist der Mythos aber so aufgebaut, dass – wie gesehen – Offenbarungsinhalt und Ausdrucksform derselben ungetrennt ineinander liegen. In Anlehnung an Tillichs frühestes System, wie es in der Systematischen Theologie von 1913 vorliegt, ließe sich von einer ‚intuitiven Erfassung‘ des Mythos sprechen.¹⁹ Die Scheidung in Gehalt und Form fiele bei der intuitiven Aufnahme des Mythos beiseite, weil ohne einsetzende Reflexion der Mythos als Ganzes und mithin in seiner Doppelheit, jedoch unbeschadet dieser als Einheit erfahren wird. Stellt aber der Mythos – zumindest intuitiv verstanden – die Einheit von Offenbarungsgehalt und äußerer Formgebung für diesen dar, dann muss gefragt werden, inwiefern sich der Mythos noch von der Offenbarung unterscheidet – diese hatte Tillich ja als ideale Vereinigung von Form und Gehalt beschrieben. Was macht also dasjenige aus, was den Mythos von der Offenbarung trennt, ja was ihn von ihr unterscheidbar macht? In Anschluss an Tillichs Theologie lässt sich argumentieren, dass Mythos und Offenbarung letztlich dasselbe vorstellig machen wollen: Offenbarung ist dasjenige, was durch die Einzelform hindurchbricht. Allerdings ist dies nicht so zu verstehen, dass die Offenbarung bei der Durchbrechung die Form selbst zerbricht.
Vgl. dazu: Paul Tillich, Systematische Theologie von 1913, in: Ders., Frühe Werke, EW IX, hrsg. v. Gert Hummel/Doris Lax, Berlin New York 1998, 278 – 434. Hierin sei besonders auf den ersten Teil des Systems und hier wiederum auf den ersten Abschnitt desselben verwiesen. In der nachträglichen Gliederung zur Systematik von 1913 ist dieser Teil mit „I. Der absolute Standpunkt: Intuition“ (EW IX, 426) überschrieben, so dass bereits der Titel den Intuitionsbegriff im Namen trägt. Was Tillich hier zum Begriff der Intuition entfaltet, ist leitend für das oben vorgeschlagene Verständnis des Mythos als in seiner Ursprungsform intuitiv erfasst.
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Ebenfalls wäre es nicht Tillich’scher Theologie gemäß, würde man die Offenbarung auf reinen Gehalt reduzieren, da sie im Gegenteil unverzichtbar Formaspekte in sich trägt. Umgekehrt bringt der Mythosbegriff den Offenbarungsgehalt in Ansicht, wobei das Augenmerk auf der Anschauungsform liegt. Letztere wäre jedoch nach Tillichs Ausführung missverstanden, wenn man sie komplett von demjenigen, was angeschaut wird, ablösen könnte, was schon deshalb verfehlt wäre, weil die Anschauung immer Anschauung von etwas, also von einem bestimmten Gehalt ist. Zwar hat die Form einen Eigenwert, doch verhindert jener nicht, dass der Gehalt in der konkreten Form zur Anschauung kommt. Offenbarung und Mythos lassen sich somit dahingehend voneinander unterscheiden, dass der Offenbarungsbegriff primär den Gehaltsaspekt, derjenige des Mythos hingegen in erster Linie die formale Anschauung in den Vordergrund rückt. Prinzipiell vertreten jedoch beide dasselbe Anliegen, wobei die Offenbarung selbst vornehmlich den abstrakten Charakter des Offenbarungsgehalts betont. Demgegenüber lässt sich der Mythos als die konkret-sinnliche Variante des in seiner Abstraktheit unfassbaren Unbedingten verstehen. Offenbarung und Mythos gehören daher untrennbar zusammen. Letztlich stellen Mythos und Offenbarung im Tillich’schen Gebrauch zwei verschiedene Pole ein- und desselben vor. Der Mythos bleibt deshalb nach Tillich in jeder religiösen Äußerung unaufgebbares Element. Selbst die den Mythos aufs Schärfste bekämpfende Theokratie kommt nicht umhin, mythische Elemente in sich zu bewahren, denn „auch sie kann die mythischen Symbole nicht entbehren, solange sie Religion und nicht bloße Gesetzesverkündigung ist“ (MW IV, 159). Damit ist aber bereits der Kern des Tillich’schen Mythosverständnisses angesprochen: Der Mythos kann als Begriff nicht verständlich gemacht werden, sofern er nicht mit dem Symbol kombiniert wird – ist es doch, wie bereits eingangs betont, die symbolisch-realistische Theorie bzw. die Theologie des Paradoxes, die den Mythosbegriff auffängt und systemgerecht umsetzt.
3. Mythologie und Symbolik Mythen sind Darstellung des Unbedingten, die in sich formale wie Gehaltsaspekte vereinigen. Als Ausdrucksgestalt versinnbildlichen sie daher die Richtung auf das Unbedingte in konkreter Fassung. Tillichs Mythosbegriff kündigt bereits an, worauf er fußt: Er lässt sich nur innerhalb von Tillichs Symboltheorie fassen.²⁰ In
Vgl. hierzu auch Roderich Barth, Mythos und Kultus, 703: „Der Mythos – wie später auch der Kultus – als kulturelle Manifestation von Religion fällt also prinzipiell unter den Symbolcha-
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Wesen und Wandel des Glaubens entfaltet Tillich den Mythosbegriff daher unmittelbar aus seinem Symbolverständnis heraus. Die Schrift aus dem Jahr 1957, welche im Original Dynamics of faith überschrieben ist, versteht den Mythos wie schon der Lexikonartikel von 1930 als Göttergeschichte.²¹ Allerdings kann Tillich sein bisheriges Verständnis dahingehend differenzieren, dass er im Mythos eine Verknüpfung von Symbolen, die miteinander zu Geschichten verwoben sind, erkennt: „Mythen sind also Symbole des Glaubens, zu Sagen verknüpft, die von Begegnungen zwischen Göttern unter sich und zwischen Göttern und Menschen berichten.“ (GW VIII, 144 f.) Der Mythos stellt damit ein Symbolensemble dar, d. h. die Richtung auf das Unbedingte wird in ihm vermittels Symbolen zum Ausdruck gebracht, die unter- und miteinander in erzählender Form verwoben sind. In dieser Konstellation ist der Mythos in der Lage, nicht nur als ein Einzelsymbol für den Offenbarungsdurchbruch zu fungieren; er kann darüber hinaus als Sage, wie Tillich schreibt, Begegnungen, also das Ergriffensein vom Unbedingten in unterschiedlichen Szenerien kolorieren. Die Formulierung Tillichs, es handle sich um Götter, also um das Unbedingte in einer Mehrzahl angeschaut, braucht nicht zu irritieren, denn der Mythosbegriff bezieht sich auf religiöses Angegangensein überhaupt und hat keinen spezifisch christlichen Zuschnitt. Nach Tillich richtet sich zu Recht Kritik auf die polytheistische Aufspaltung des Mythos. Doch auch wenn nur ein Gott zum Gegenstand des Glaubens avanciert, bleibt der Mythos die unaufgebbare Basis religiöser Äußerung, die zugleich in der Kritik steht, weil auch der eine Gott stets droht seiner Unbedingtheit verlustig zu gehen, sobald er innerhalb des Mythos angeschaut wird (vgl. GW VIII, 145). Mythen sind als Anschauungsformen des Unbedingten allerdings selbst für monotheistische Glaubensrichtungen als zur Offenbarung untrennbar dazugehörig nicht verzichtbar: „Denn es gibt keinen Ersatz für Symbole und Mythen, sie sind die Sprache des Glaubens.“ (GW VIII, 146) Wie auch bei Schelling ist für Tillich der Mythos daher ersatzloses Konstituens für den Ausdruck religiösen Angegangenseins, weil der Mythos als Symbolarrangement Sprachrohr der Offenbarung ist.²² Gerade der späte Tillich kann jedoch eine spezifische Relation zwischen Mythos und Offenbarung ausmachen. So bleibt die Polarität zwischen beiden zwar
rakter.“ Zum Symbolverständnis Tillichs allgemein vgl. Christian Danz, Symbolische Form und die Erfassung des Geistes im Gottesverhältnis. Anmerkungen zur Genese des Symbolbegriffs von Paul Tillich, in: Das Symbol als Sprache der Religion, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/Wien 2007 (= International Yearbook for Tillich Research 2), 59 – 75. Vgl. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 111– 196, hier: 144. Vgl. auch Paul Tillich, Systematische Theologie, 3 Bde., Berlin/New York 1987, Bd. 3, 74.
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erhalten, allerdings ist der Mythos nur insofern eigenständig, als er sich von der Offenbarung her verstehen lässt. Dieser Umstand äußert sich bei Tillich darin, dass Mythen genauso wenig wie Symbole überhaupt willentlich hervorgebracht werden können. Vielmehr verdankt sich der Mythos in seiner formalen wie inhaltlichen Ausrichtung immer schon der Offenbarung, von welcher her er sein Dasein sowie seine spezifische Ausprägung erfährt. Nicht vernünftige, d. h. bewusste und gewollte Anstrengung ist in der Lage, den Mythos zu schaffen; die Bewerkstelligung und Bereitstellung des Mythos entspringt im Gegenteil der Offenbarung selbst, die allererst den wahren Vernunftgebrauch ins Werk setzt.Wie es also überhaupt zu einem Mythos kommt, formuliert Tillich eindeutig im ersten Band seiner dreibändigen Systematischen Theologie: „Ein Mythos kann nicht geschaffen, die Einheit der rationalen Funktionen kann auf dem Boden der in sich zerfallenen Vernunft nicht erzwungen werden. Ein neuer Mythos ist Ausdruck der Einheit schaffenden Macht einer neuen Offenbarung, nicht das Produkt formalisierter Vernunft.“ (ST I, 111) Der Mythos als Symbolensemble findet sein Woher somit im Offenbarungsgehalt selbst wieder, für den er als ästhetische wie logische Form fungiert. Bezogen auf das Christentum bedeutet dies, dass aus dem Christusereignis selbst jedwede Art und Weise, Offenbarung zur Anschauung zu bringen, herzuleiten ist. Zugleich stellt das Christusgeschehen nicht nur das Woher für Symbol und Mythos dar, sondern bleibt stetiger Bezugspunkt. Da aber die Offenbarung Gottes in der Person Jesu Christi der abstrakten Seite des Offenbarungsgehaltes zugehört, drängt die Christologie permanent dazu, in mythologische Form überzugehen, ja, die konkrete Person Jesu Christi wird in der Erzählung selbst zum Mythos nach Tillich: „Wenn der Christus, ein transzendentes, göttliches Wesen, in der Fülle der Zeit erscheint, lebt, stirbt und aufersteht, ist das abermals ein Geschichtsmythos.“ (GW VIII, 148) Das Christentum selbst trägt mit seinem zentralen Offenbarungsereignis somit die Tendenz in sich, selbst zum Mythos zu werden, oder anders formuliert: Das christliche Offenbarungsgeschehen wird, sobald es sich der Reflexion erschließt, selbst zum Symbolensemble in geschichtlicher Fassung. Dadurch ergibt sich ein für die Tillich’sche Theologie typisches Problem,²³ indem zu fragen ist, ob das Christusereignis nun als Referenzpunkt für alle Symbole verstanden werden kann oder ob es letztlich nicht selbst Symbol – in Form des Mythos – ist, das wiederum ausschließlich von seinem Gehalt her zu erschließen ist. Ginge man vom ersten Fall aus, so wäre das christliche Offenbarungsmoment selbst jenseits von Symbol und Mythos angesiedelt. Zwar ließe
Vgl. hierzu den klassischen Aufsatz von Gunther Wenz, Theologie ohne Jesus? Anmerkungen zu Paul Tillich, in: Kerygma und Dogma 26 (1980), 128 – 139.
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sich die Erzählung von der Offenbarung in Jesus Christus samt dem Wirken und Leben der Person Jesu in der Weise, wie es das obige Zitat zeigt, als mythologisch geworden bezeichnen; doch der Grund dieser Mythoserzählung müsste in ein gänzlich unmythologisches, gewissermaßen ‚reines‘ Offenbarungsverständnis gelegt werden. Selbstverständlich stellt sich dann die Frage, wo der Gehalt, welcher dem Mythos seine – um Tillichs Vokabular zu bemühen – ‚Macht‘ verleiht, anzusiedeln wäre. Zudem und noch dringlicher bleibt offen, wie die Rezeption oder allererst das Gewahrwerden absoluten Gehalts vorstellig werden soll, wenn Leben und Wirken Jesu Christi samt seines Heilstodes unsymbolisch zu begreifen wären. Ohne die Überstrapazierung des menschlichen Vernunftvermögens dürfte eine solche Annahme nicht aufzustellen sein. Zwar lässt sich christlicherseits durchaus theologisch eine Exklusivität der Offenbarung Gottes in Jesus Christus als These aufstellen²⁴ – für die Theologie Tillichs muss ein solches Unternehmen jedoch abgelehnt werden. Schon die Maßstäbe postaufklärerischen Vernunftgebrauchs widersprechen im Gesamt der Tillich’schen Theologie einem solchen Vorgehen. Ist das Christusereignis im Sinne Tillichs mithin bloßes Symbol? Nach Tillich müsste hierauf wohl mit einem Ja und einem Nein zugleich geantwortet werden. Einerseits ist das Symbol, welches im Mythos erscheint, für Tillich niemals ‚nur‘ Symbol. Das Symbol ist im Gegenteil einziges und wahres Ausdrucksmoment für den Grund unbedingten Angegangenseins. Mit dieser Aussage wird bereits klar, dass Tillich unbedingten Gehalt und bedingte Form niemals so voneinander getrennt sein lassen kann, dass zwischen ihnen eine schlechthinnige Differenz bestehen würde. Gehalt und Form liegen vielmehr derart ineinander, dass sie zwar kraft Vernunft voneinander zu unterscheiden sind, jedoch niemals im Sinne wahren Symbolverständnisses getrennt werden können. Lesarten, die jedoch soweit gehen, den Unterschied zwischen Gehalt und Form zu egalisieren, verkennen die Differenz, welche zwischen beiden besteht und die das Symbol erst zum Symbol macht. Am deutlichsten wird das Missverstehen symbolischer Aussagekraft, wenn ein wörtliches Verständnis des Symbols bzw. des Mythos favorisiert wird (vgl. GW VIII, 146 f.). Dann fällt gerade die Differenz von Offenbarungsgehalt und Ausdrucksform beiseite. Wörtliches Verstehen von Symbolen heißt nichts anderes, als die Form für den Gehalt zu halten und vice versa. Diese Erklärung schließt aber bereits eine Bejahung der obigen Frage ein: Erst und einzig durch das Symbol kommt unbedingtes Anliegen adäquat zum Ausdruck. Dies bedeutet aber nun bezogen auf das Christusereignis, dass auch dieses
Als Vertreter hierfür wäre z. B. Wolfhart Pannenberg zu nennen. Vgl. hierzu: Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 71990.
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nur und ausschließlich symbolischen Wert hat. Ein unmittelbar wörtliches Verstehen verbietet sich nach Tillichs Denken. Nun nimmt das Symbol des Lebens, Wirkens und Sterbens Jesu Christi, das in seiner Verbindung als echter Mythos zu begreifen ist, bei Tillich aber insofern eine Sonderrolle ein, als von diesem symbolischen Ereignis her alle anderen Symbole und Mythen ihren Gehalt bzw. präziser formuliert: ihre Symbolkraft empfangen.²⁵ Unbeschadet dessen bleibt Jesus als der Christus in Tillichs Theologie zwar pures, d. h. ausschließliches Symbol; als solches vermag er jedoch anderes derart anzustecken, dass es gleichfalls in symbolischer Kraft erleuchtet. Bedingt ist dies durch die Abhängigkeit des Symbols von der Offenbarung her, so dass im Offenbarungsdurchbruch in Jesus Christus die Dimension des Symbolischen zwar nicht verlassen wird, aber in ihm gewissermaßen das Symbol in Idealform erscheint. Die Idealität des Christussymbols bzw. des christlichen Mythos lässt sich daran festmachen, dass Tillich zufolge das Christentum stets an der Schwelle steht, sich selbst kraft Selbstrelativierung zu übersteigen. Echtes Symbol, echter Mythos ist mithin dasjenige, was in der Lage ist, sich selbst als Symbol bzw. als Mythos zu identifizieren und den eigenen Anspruch auf eben diese Funktion zu limitieren. In Tillichs Sprache wird daher ein Mythos, der sich als solcher erkennt, relativiert und zugleich als Mythos bewahrt, als gebrochener Mythos verstanden: „Ein Mythos, der als Mythos verstanden wird, ohne verworfen oder ersetzt zu werden, kann als ‚gebrochener Mythos‘ bezeichnet werden.“ (GW VIII, 146) Wichtig für die Brechung des Mythos ist bei Tillich, dass die mythologische Form erhalten bleibt,²⁶ weil der Mythos auch und gerade als gebrochener seiner mythologischen Kraft nicht verlustig geht. Wie bereits angeführt lassen sich Mythen nämlich schlechterdings nicht ersetzen. Sie sind unverzichtbares Element religiösen Ausdrucks. Entmythologisierung nach Tillich bedeutet daher nicht die Aufhebung des Mythos, sondern zu erkennen, dass der Mythos Mythos ist und als Symbol zu verstehen ist. In dieser gebrochenen Form erhebt sich der Mythos dann zur religiös wahren und auch theologischen Aussage schlechthin, wie im Folgenden zu zeigen ist.
Nichts anderes bezeichnet der auf Jesus Christus angewandte Kairosbegriff in Tillichs Theologie. Vgl. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, GW VIII, 146: „Alle mythologischen Elemente in der Bibel, der Lehre und Liturgie müssen als solche erkannt werden. Aber sie sollten in ihrer symbolischen Form bewahrt und nicht durch wissenschaftliche Formeln ersetzt werden.“
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4. Theonome Metaphysik Religion versucht in Selbstkritik den Mythos als Anschauungsmoment des Offenbarungsdurchbruchs zu entlarven. Nur wenn bewusst wird und bleibt, dass der Mythos nicht unmittelbar selbst die Offenbarung ist – andernfalls handelte es sich eben um das wortwörtliche Missverstehen –, kann konstruktiv von der Funktion des Mythos Gebrauch gemacht werden. Mit anderen Worten: Erst der gebrochene Mythos ist ‚echter‘, d. h. ‚wahrer‘ Mythos. Nur ihm gelingt es, sein Gehaltsmoment in den Vordergrund zu stellen und es nicht vom Formmoment verschlungen sein zu lassen. Nach Tillich erhält der Mythos all diese religionsförderlichen und -gewollten Faktoren im Rahmen seiner Theologie des Paradoxes (vgl. MW IV, 159) bzw. in der symbolisch-realistischen Theorie, wie Tillich das System 1930 im RGG-Artikel bezeichnet (vgl. MW IV, 230). Der Mythos gehört demzufolge untrennbar zur Religion hinzu, weil er in gebrochener Form das Letztanliegen religiösen Angegangenseins zum Ausdruck bringt: „Vom Standpunkt des gebrochenen M[ythos] aus ist das Mythische ein Element aller Religion, ist M[ythos] religiöse Kategorie.“ (MW IV, 231) Die spezifische Aufgabe des Mythos ist, wie bereits gesehen, die Darstellung des Unbedingten. In dieser Funktion erfüllt der Mythos allerdings nicht nur ein formales Kriterium; ihm ist es vielmehr darum zu tun, Wesen sowie Anspruch des Unbedingten innerhalb der formalen Bedingungen lebendig zu halten. So gehört es für Tillich unweigerlich zum Mythos dazu, dass er zwar zur Wissenschaft werden kann, indem sich mit der Unbedingtheitsanschauung immer zugleich eine des Bedingten, mithin der Welt verbindet (vgl. MW IV, 232). Dabei kommt es aber unweigerlich zu einer Rationalisierung des Mythos, welche diesen aus ihrem eigenen Weltbild auszuschließen sucht. Das Ziel von Wissenschaft ist die „unmythische Weltanschauung“ (ebd.). Soll Mythologie allerdings der Verlebendigung oder anders ausgedrückt: dem Gehaltsmoment in allem, was ist, dienen, so lässt sich der Mythos zwar wissenschaftlich minimieren, jedoch niemals vollständig ausblenden. Dies liegt an den ontologischen Voraussetzungen nicht nur, aber besonders der Spättheologie Tillichs: Alles, was ist, partizipiert Tillich zufolge am Sein-Selbst, ja hat seinen Seinsstatus kraft partizipativer Teilhabe an der absoluten Seinsmächtigkeit. In seiner populären Spätschrift Der Mut zum Sein kann Tillich daher betonen, dass der Mut zur eigenen Selbstbejahung immer „die Bejahung der Seinsmächtigkeit, an der das Selbst partizipiert, einschließt“.²⁷ Diese Selbstbejahung vermittels
Paul Tillich, Der Mut zum Sein, in: Ders., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, GW XI, Stuttgart 1969, 11– 139, hier: 72.
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Partizipation gipfelt letzten Endes in der Partizipation am Sein-Selbst, also an demjenigen,was nach Tillich mit der absoluten Fassung der Seinsmächtigkeit bzw. Gott in Identität steht. Die ontologischen Grundvoraussetzungen Tillichs zeitigen für das Mythosverständnis in der Wissenschaft die Folge, dass ein gänzlich unmythisches Weltbild, wie es von der Wissenschaft gefordert wird, undenkbar bleiben muss, weil der Mythos eine Tiefendimension zum Ausdruck bringt, auf die schlechterdings nicht verzichtet werden kann. Das Unbedingte ist schon allein dadurch, dass es als Grund des Seins erscheint, untrennbar mit der Wissenschaft verbunden, weil diese es notwendigerweise mit dem Sein zu tun hat.²⁸ Die Ontologie des späten Tillich, die bereits der 1930er Mythos-Artikel stark ausgeprägt zeigt, bedingt somit, dass das Mythologische als dasjenige, welches die Seinsmächtigkeit in allem, was ist, zum Ausdruck bringt, auch für den reinen Vernunftgebrauch unhintergehbar ist. Tillich bedurfte ursprünglich allerdings nicht der Seinslehre, um die Unersetzbarkeit des Mythos selbst in der Vernunftwissenschaft aufzuzeigen. Noch in der Religionsphilosophie von 1925 kann sich der Wissenschaftsbegriff nämlich unmittelbar aus der religionsinternen Kritik herleiten. Der Begriff vom Paradox fungiert hier als Katalysator, indem er das eigentlich Unvereinbare in Korrelation bringt. Theokratie als Formalisierung der Religion und Mythos als Ausdruck unbedingten Angegangenseins werden zusammengeführt: „In der Religion des Paradox wird auf dem Boden der antimythischen theokratischen Kritik das mythische Element wieder aufgenommen. Die Anschauung einer innergöttlichen Spannung und Lebendigkeit überwindet den abstrakten Gesetzescharakter, den Gott in der reinen Theokratie erhält. Die Religion des Paradox ringt um einen Mythos, in dem alle dämonisch-mythischen Elemente ausgeschaltet sind und die unbedingte Einheit des Göttlichen zu vollkommenem Ausdruck kommt.“ (MW IV, 159; i. Original teilw. kursiv)
Anders ausgedrückt: Die Religion des Paradoxes möchte einen unmythischen Mythos. Letzterer ist jedoch schlechterdings undenkbar, so dass der Mythos als solcher erhalten bleibt, er aber in ständiger Kritik steht. Der Paradoxbegriff Tillichs übernimmt also in erster Linie die Funktion, abstrakte Positionen zu vermeiden und stattdessen polare Strukturen ins Werk zu setzen. Reduktion von Polarität widerspricht dabei gerade dem Paradoxbegriff, so dass die Einzelpole in permanenter Selbstüberwindung auf eine Synopse zusammen mit ihrem Gegenpol drängen. So formuliert Tillich in seinem Mythos-Artikel Mythus und Mythologie: „In jedem Ding ist ein Element ‚Sein‘, ein Unauflösliches, Urgegebenes, eine Mächtigkeit, die auch in der rationalsten Durchdringung noch aufleuchtet, die den mythischen Hintergrund des Erkennens zeigt und die Verbindung mit dem mythischen Element der Religion ermöglicht.“ (MW IV, 232)
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Die Zielsetzung Tillich’scher Theologie tritt damit klar hervor: Nicht die Abstraktheit des Unbedingten und gleichfalls nicht die reine konkrete Formalität im Bedingten sind erwünscht, sondern deren Synthesis. Die völlige Anwesenheit des Unbedingten auf dem Boden des Bedingten, das Absolute im Konkreten soll zur Darstellung kommen. Wichtig ist dabei für Tillich, dass Unbedingtheit bzw. Absolutheit und Bedingtheit bzw. Konkretheit ihrer selbst jeweils nicht verlustig gehen. Das Auftreten des Unbedingten in bedingter Form, wie es im Symbol und dadurch in gleicher Weise im Mythos statthat, ist Inhalt, Ziel und Darstellungsform der Theologie des Paradoxes in einem. Da dem Mythos sowie dem Symbol unter paradoxem Betrachtungswinkel aber notwendig zwei potentielle Abstraktionen anhaften – nämlich einmal die Seite des Unbedingten, einmal die des Bedingten –, ergeben sich auch zwei mögliche Weisen, wie das Paradox in Ansicht kommen kann: Metaphysik und Dogmatik. Beide bedienen sich der Form des Mythos je auf ihre Weise, was im Folgenden zunächst für die Metaphysik und abschließend im Abschnitt 5 für die Dogmatik betrachtet sei. Bereits die Wissenschaft an sich ist für Tillich in erster Linie Weltanschauung (vgl. MW IV, 232). Befasst sich Wissenschaft nun mit dem, was Grund von all demjenigen ist, das Gegenstand von Wissenschaft werden kann, so geht die Wissenschaft über in Metaphysik. Insofern hat es Letztere schon thematisch mit dem Selben zu tun wie der Mythos, wobei die Ausdrucksform verschieden bleibt – lässt sich der Mythos im Gegensatz zur Wissenschaft doch nicht auf sein rationales Moment reduzieren. Abgesehen davon sind Metaphysik und Mythos dann aber als identisch zu betrachten: „Metaphysik ist M[ythos] auf dem Boden und mit den Mitteln der Wissenschaft.“ (Ebd.) Fünf Jahre früher, in der Religionsphilosophie, kommt Tillich zu demselben Ergebnis, allerdings bleibt dort sein Konzept eingebettet in die Kulturtheologie, die er mit seinem Aufsatz Über die Idee einer Theologie der Kultur ²⁹ bereits 1919 programmatisch vorgestellt hatte. Der Mythos gehe in „der autonomen Kultur“ über in Metaphysik (vgl. MW IV, 159). Die Autonomie, welcher sich Kulturwirken verdankt, stellt aber nichts anderes vor als die aus dem Selbst stammende Vernunfttätigkeit, die sich auf sich selbst und nur auf sich selbst bezieht, ohne dabei den Grund ihrer selbst in den Blick zu nehmen. Metaphysik zeichnet sich demnach dadurch aus, wissenschaftlich, rational bzw. autonom zu verfahren. Dies betont nun aber gerade die formale Seite des Mythos, der ja als konkrete Erzählung Gehalt und Form vereint und somit auch nur von seiner Gehaltsseite her ansichtig werden kann. Just so prozediert die Metaphysik, die – wenn man so will – wissenschaftliche Mythologie darstellt. Als solche ist sie
Paul Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, Stuttgart 1967, 13 – 31.
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aber eodem actu zugleich die Kritik des Mythos. Letzterer lässt sich metaphysisch betrachtet nämlich nicht mehr als Gleichgewicht von Form und Gehalt betrachten, weil die Vernunftausrichtung der Metaphysik, d. h. ihr autonomes Vorgehen, stets den Formaspekt im Auge behält. Gehalt kommt für die Metaphysik nicht an sich, sondern nur als formaler Gegenstand in Frage. „Die Kraft der Metaphysik ist der M[ythos] in ihr“ (MW IV, 233), schreibt Tillich in seinem RGG-Artikel. Genau dies macht auch ihre Problematik aus, denn da die Metaphysik permanent darauf gerichtet ist, reine Wissenschaft zu werden, droht sie in jedem Moment den Mythos loszuwerden. Allerdings scheidet sie mit ihm zugleich auch seinen Gehalt und mithin den eigentlichen Motor der Metaphysik aus. Die Metaphysik möchte das Unbedingte. Doch dabei ist ihr der Mythos nur als Form genehm, da sie ja Wissenschaft sein und bleiben möchte. Dadurch kommt es zur metaphysischen „Krisis, in der sich die Unmöglichkeit zeigt, von der Form her die Richtung auf das Unbedingte zum Ausdruck zu bringen“ (MW IV, 159). Die Metaphysik möchte letztlich Religion sein, allerdings eine, die auf dem Boden der reinen Rationalität arbeitet, also Wissenschaft ist. Dieses Unternehmen muss nach Tillich notwendig scheitern, weil der metaphysische Standpunkt nur die Formseite des Mythos gelten lassen kann. Konsequente Metaphysik endet mithin schon aufgrund ihrer Anlage in der Krise, weil ihre Methode den Gegenstand, mit dem sie umgeht, nicht erfassen kann. Die Lösung aus dem Dilemma, in welchem sich die Metaphysik befindet, ist in zwei Richtungen möglich. Entweder verabschiedet sich die Metaphysik von ihrem eigentlichen Anliegen und geht in Wissenschaft und Kunst auf, die beide auf je ihre Weise rein rational aufgestellt sind. Dieser Weg wäre derjenige, der weiter an der Form orientiert bleibt. Die Alternative hierzu ist das Verlassen des autonomen Bodens, auf dem sich die Metaphysik als Wissenschaft bewegt. Die Metaphysik möchte wieder in den Mythos überwechseln, die „Sehnsucht nach einem neuen Mythos“ (MW IV, 160) wächst, wie Tillich es pathetisch in Anlehnung an das sog. Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus formuliert, dessen Verfasserschaft zumeist Hegel zugeschrieben wird. Ein neuer Mythos kann jedoch, wie gesehen, künstlich nicht produziert werden. Insofern sieht sich die Metaphysik mit dem Verlassen ihrer autonomen Grundlagen genötigt in einen anderen Bereich überzuwechseln – und sich damit letztlich selbst aufzugeben. Die autonome Metaphysik wird dann nämlich zu einer theonomen (vgl. ebd.). Theonome Metaphysik stellt mithin für die klassische Variante der Metaphysik einen Grenzbegriff dar, weil Dogmatik, so Tillichs Spitzensatz, im Grunde nichts anderes sei als „der Versuch einer theonomen Metaphysik“ (ebd.). Wie Tillich sich ein solches Verständnis der Dogmatik denkt, sei abschließend erörtert.
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5. Dogmatik als Mythologie Dogmatik stellt neben der Metaphysik den anderen, alternativen Weg vor, mit dem Mythosbegriff konstruktiv zu verfahren. War Metaphysik autonom angelegt, so könnte gefolgert werden, die Dogmenbildung verfahre nach heteronomem Muster, indem der Gehalt als Gesetz schlechthin erscheine. Eine solche Sichtweise verkennt, dass dieses Vorgehen eher der Theokratie als der Dogmatik eignet. Was ist nämlich das Anliegen und das Ziel der Dogmatik? Nach Tillich muss geantwortet werden: Einerseits hat die Dogmatik Darstellung des Unbedingten zu sein, indem sie den unbedingten Anspruch des Unbedingten zum Ausdruck bringt. Andererseits hat die Dogmatik Darstellung des Unbedingten zu sein, indem sie den unbedingten Anspruch des Unbedingten zum Ausdruck bringt. Gehalt und Form synoptisch zur Darstellung zu bringen ist gleichermaßen das Anliegen von Metaphysik und Dogmatik. Was sich ändert zwischen beiden ist der Standpunkt. Die Dogmatik verfährt theonom, nicht autonom wie die Metaphysik. Das bedeutet, dass die Dogmatik die Autonomie ebenfalls berücksichtig, sie im Gegensatz zur Metaphysik jedoch nicht zur Generalperspektive erhebt. Die Autonomie des Bedingten soll gewahrt und zugleich das – potentiell heteronom wahrgenommene – Anliegen des Unbedingten in Form des Autonomen zum Ausdruck kommen. Dies ist die Aufgabe, welche der Dogmatik gestellt ist. Gelöst werden kann die Aufgabenstellung nur dadurch, dass der Mythos doppelt gebrochen wird. Der Mythos muss „religiös und wissenschaftlich gebrochener“ (MW IV, 233) Mythos sein.Wie hat man sich das zu denken? Tillich spricht davon, dass die Dogmatik „Lehre von der theonomen Metaphysik oder vom Mythos mit autonomen Symbolen“ (MW IV, 160) sei. Beides macht das Selbe vorstellig. Hierfür muss die Ursprungsbedeutung des Mythos in Erinnerung gerufen werden. Dieser zufolge ist der Mythos in seiner gewissermaßen vorreflexiven Fassung die vollendete Synthesis von unbedingtem Gehalt und bedingter Form. Erst im Zustand der Reflexion zerfällt der Mythos in seine urständlich geeinten Pole. Eine Neuschöpfung des Mythos ist jedoch schlechterdings ausgeschlossen; trotzdem versucht dies die Metaphysik, jedoch mit ungenügenden Mitteln, indem sie den Mythos seiner Absolutheit beraubt und vollständig in die Sphäre des Konkreten zu ziehen sucht. Nichts anderes meint die Kennzeichnung der Metaphysik als autonom bei Tillich. Wahr wird der Mythos aber erst, wenn er Mythos bleibt und zugleich das autonome Moment in sich aufzunehmen vermag – wenn er also zum ‚Mythos mit autonomen Symbolen‘ wird. Die Theonomie bezeichnet nun den Urzustand des Mythos, allerdings unter nachmythischen Bedingungen. Daher ist das Dogma für Tillich „M[ythos] auf dem Boden der nachmythischen Geisteslage“ (MW IV, 233). Mit der Theonomie wird
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also weder das heteronome Einwirken des Absoluten noch die legalisierte Form des Mythos bezeichnet; vielmehr ist es dem Theonomiebegriff darum zu tun, dasjenige, was ursprünglich im Mythos geeint war, unter nachmythischen, d. h. reflexiven oder, theologisch gesprochen, postlapsarischen Bedingungen auszudrücken. Insofern hat wahre Metaphysik theonom zu sein. Wie der gebrochene Mythos die Autonomie aufnehmen muss, so muss die über sich hinausgewachsene Metaphysik den ausschließlich autonomen Standpunkt verlassen. Entsprechend der Grundbewegung Tillich’schen Denkens lässt sich ein Dreischritt ausmachen, der an hegelianische Denkmuster erinnern lässt: Vom Ursprungsmythos, welcher in sich noch unzertrennt Form und Gehalt in Einheit enthält, verläuft die Linie über den reflexiven ‚Fall‘ hin zum gebrochenen Mythos bis zu seiner ‚Neuschöpfung‘ in der theonomen Metaphysik, der Dogmatik. Tillich selbst formuliert diese Grundannahme seines Denkens folgendermaßen: „Der Mythos stellt sich in dreifacher Richtung dar. Als Mythos des Seins, als Mythos der Geschichte und als Mythos der absoluten Idee, mythisch gesprochen als Schöpfung, Erlösung und Vollendung.“ (MW IV, 160; i. Original teilw. kursiv) Entscheidend ist dabei, dass die „ideale Einheit“ beider Pole des Mythos im Dogma nun „vom Unbedingten her erfaßt“ wird (ebd.).³⁰ Der Dogmatik kommt somit der Vollendungszustand des Mythos zu, welcher unter Bedingungen der Überwindung des Falls nicht mehr in reiner ursprünglicher Abstraktheit – bzw. mit Schelling gesprochen: in Indifferenz – verharrt, sondern in der Lage ist, das der Einheit widersprechende Moment, die Autonomie, mit in sich aufzunehmen und sich dadurch zu vollkommener Absolutheit zu erheben. Das Dogma ermöglicht mithin das Paradox schlechthin, nämlich die ‚neue Mythologie‘, die theonome Metaphysik, den Mythos mit autonomen Symbolen. Die Ursprungseinheit ist wiederhergestellt – doch nicht nur wiederhergestellt, sondern vollendet. Sie ist – wenn man so will – vom Status des Unbewussten in das Bewusstsein überführt, ist „die vollendete Einheit von Sein und Geist“ (ebd.). Die Dogmatik ist „wahre Symbolik“ (ebd.), indem sie das ursprünglich Ungeschiedene wieder zusammenführt und dabei zur Absolutheit erhebt. Die Bewegung vom Abstrakten hin zum Konkreten und von diesem zurück in die Sphäre der Abstraktheit, die nun allerdings durch die Hinzunahme des Konkreten nicht mehr abstrakt ist, sondern Absolutheit darstellt, war bereits das Anliegen Tillich’schen Denkens in seinem frühesten System von 1913. Das Interessante am Mythosverständnis Tillichs ist es nun, dass es seinen Wurzeln, die sich – wie schon das 1913er Vgl. dazu auch Tillichs Fassung des Sachverhaltes im Mythos-Artikel Mythus und Mythologie von 1930: „Im Dogma schließt sich wieder zusammen, was im nachmythischen Bewußtsein auseinandergerissen war: Gottes- und Seinsanschauung, freilich unter dem Primat der Gottesanschauung, während in der Metaphysik die Seinsanschauung maßgebend ist.“ (MW IV, 233)
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System – in erster Linie Schelling verdanken, treu bleibt und zugleich in der Lage ist, das Grundschema in Tillichs neue Systemfassungen zu übersetzen. Die sinntheoretischen und ontologischen Vokabeln seiner späteren Systemfassungen tragen die Aussagekraft des Mythosbegriffs weiter, ohne seine eigentliche Ausrichtung zu verändern. Ob man den späteren ontologischen Formulierungen, den sinntheoretischen oder den ganz frühen, primär an Schelling orientierten den Vorzug geben möchte, müssen alle in der Tillichforschung Tätigen für sich selbst entscheiden. Es zeichnet allerdings Tillichs Denken aus, trotz Änderungen im Systemaufbau, dem eigentlichen Anliegen treu bleiben zu können und trotzdem die Gedankenbildung nicht zum Stillstand kommen lassen zu müssen. Der Mythosbegriff ist wie derjenige des Symbols, welcher mit dem Mythos nahezu in Identität steht, nur ein Beispiel für dieses Talent Tillichs – jedoch mit Sicherheit nicht das schlechteste Exempel.
Roderich Barth
Gebrochener Mythos Tillichs religionsphilosophischer Mythosbegriff
1. Annäherungen an Tillich Die Frage nach einer ‚Macht des Mythos‘ birgt nicht unerhebliche Methodenprobleme. Bevor ich auf Tillich eingehen werde, sollen zumindest zwei Punkte angesprochen werden. Ein erster ergibt sich aus einer Doppeldeutigkeit, mit der die an mythische Sprache angelehnte Rede von einer ‚Macht des Mythos‘ spielt. Sie kann nämlich zum einen positiv ausgelegt werden im Sinne einer alle Krisen überdauernden Unwiderstehlichkeit des Mythos. Dem Selbstbewusstsein moderner Rationalität und dessen Entmythologisierungsversuchen zum Trotz scheint die Faszinationskraft des Themas nicht zu erlahmen. Der Mythosbegriff wird gleichsam zum Katalysator einer Unzufriedenheit mit der Dominanz des szientistischen Weltbildes. Zum anderen kann die Metapher aber auch ein Unbehagen ausdrücken: Hinter den immer wieder losgetretenen Mythosdebatten werden antiaufklärerische Motive vermutet, die sich heute gar mit der sogenannten Wiederkehr der Religionen im öffentlichen Diskurs zu einer schlagkräftigen Allianz zu verbinden drohen. Die Macht des Mythos stünde so für die ethisch-politisch fragwürdige Regenerationskraft eines sich nun nicht mehr postmodern, sondern wieder religiös inszenierenden Irrationalismus. Angesichts dessen ist auch ein möglicher Beitrag Tillichs zur Debatte über den Mythos an der Doppelfrage zu messen: Birgt das Mythosthema für die Gegenwart unverrechenbare Momente und, wenn ja, liegen darin nicht Gefahren für die mühsam etablierten Standards unserer Zivilisation? Der zweite Punkt drängt sich unmittelbar auf, wenn man beginnt, sich in die besagten Mythos-Debatten einzulesen: Der Mythosbegriff ist vermutlich so unbestimmt wie kaum ein anderer Begriff der Wissenschaftssprache. Jeder Versuch, das eigene bildungssprachliche Vorverständnis dieses Begriffs mit den herkömmlichen Verfahren durchzuklären, endet in irritierend unabschließbaren Orientierungsgängen. Mit dem Beginn einer systematischen Mythentheorie durch den Göttinger Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts war zwar die Hoffnung einer Aufklärung des Themas verbunden, doch dieses Ziel – so kann man nach zweieinhalb Jahrhunderten
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‚Arbeit am Mythos‘¹ sagen – hat sich, ohne Heynes Verdienste zu schmälern, nicht erfüllt. Ein Grund dafür dürfte vor allem darin liegen, dass der Mythosbegriff im Schnittpunkt unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen mit ihren jeweiligen Methoden, historischen Referenzepochen und Gegenwartsinteressen steht. Das hat vor allem Christoph Jamme als Hauptherausforderung für die philosophische Reflexion des Themas erkannt und systematisch in seine Konzeption integriert.² Es sind eben nicht nur Philologen und Altertumswissenschaftler, sondern auch Theologen, Philosophen, Literaturwissenschaftler – und dann im neunzehnten Jahrhundert mit ungeheurer Dynamik in erster Reihe Ethnologen, Religionswissenschaftler, Sozial- und Tiefenpsychologen, die sich des Themas annehmen und ihm aus ihrer jeweiligen Forschungsperspektive ganz eigene Konzeptionalisierungen zuteilwerden lassen. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man ebenso die produktive Offenheit wie die irritierende Unschärfe des Mythosbegriffs auf seine notorische Interdisziplinarität zurückführt. Die Hoffnung auf eine Integration kann zwar mit dem Projekttitel einer Kulturtheorie genährt werden, bringt aber sogleich auch deren eigene Methodenproblematik zum Vorschein. Vor diesem Hintergrund ist es ratsam, Tillichs Zugang zum Mythosbegriff methodisch und debattenpolitisch einzugrenzen, um ihn nicht von Beginn an durch Erwartungen zu überfordern, denen er nicht gerecht werden kann. Und hier gewinnt zunächst die Trivialität, dass Tillich sich der Mythosthematik aus der Perspektive eines christlichen – und wie wir noch genauer sehen werden – protestantischen Theologen annimmt, eine gewisse Relevanz. Denn dieser Zugang ist von vornherein mit dem Erbe belastet, dass die Mythen oder die Mythologie der Völker für die christliche Theologie seit ihren antiken Anfängen als das ihr Andere im Sinne eines fiktiv-leeren, kindischen und unwahren Vorstellungskomplexes galt, wobei mittels der christologischen Interpretation des Alten Testaments die gesamte biblische Religion dem Mythos entgegensetzt werden konnte. Dass sich diese Fremdsetzung in einer Zeit vollzog, in der die christliche Theologie vermittels der großen Kultursynthese zwischen biblischer Tradition und hellenistischer Kultur überhaupt erst im Entstehen begriffen war, ist dabei kein Widerspruch, sondern vielmehr eine Erklärung. Denn das griechische Denken selbst hatte an der normativen, aber keineswegs ursprünglichen Differenz von Mythos und Logos bereits eine kritische Distanz gegenüber dem Mythos etabliert. Diese
So die von Hans Blumenberg geprägte Formel, vgl. Ders., Arbeit am Mythos, Frankfurt (Main) 1979. Blumenberg bezieht diese Formel freilich nicht auf die wissenschaftliche Aufklärung des Mythos, sondern auf das unabschließbare Erfordernis ästhetischer Daseinsbewältigung. Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt (Main) 1991.
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Schemata konnten von den christlichen Denkern übernommen und christologisch überformt werden.³ Bei diesem kritisch-distanzierten Blick auf den Mythos als des kulturell-religiös Überwundenen ist es über eineinhalb Jahrtausende lang geblieben. Erst in der Neuzeit bricht diese Einstellung langsam auf. Man kann diesen Vorgang – ohne auch nur von Ferne auf die Einzelheiten einzugehen – als die langsam dämmernde Erkenntnis zusammenfassen, dass die mythische Vorstellungsform nicht einfach nur als das Andere entgegengesetzt werden kann, sondern vielmehr auch die eigenen biblischen Traditionen bestimmt. Sukzessiv kommt es also innerhalb der Theologie zur durchaus spannungsvollen Selbstanwendung des Mythosbegriffs. Spannungen ergeben sich nicht zuletzt daraus, dass die Vorstellung einer Mythendichtung zusammen mit der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung zugleich auch zum Vehikel der Religionskritik werden konnte. Für den Aufklärungswillen einer eng gefassten Vernunft galten die Projektionen der mythischen Einbildungskraft schlicht als Aberglaube.⁴ Liest man etwa die erst in den 1980er Jahren wiedergefundene Frühfassung der Genesisauslegung Herders, so sieht man förmlich auf jeder Seite das Changieren zwischen einer kritischen Verwendung des Mythosbegriffs für die nichtbiblische Literatur und einer literaturtheoretisch neutralen Selbstanwendung, die etwa den ersten Schöpfungsbericht oder Gen 3 als ein „Mythisches Ganzes“ bezeichnen kann.⁵ Und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert der für die formgeschichtliche Forschung seiner Zeit maßgebliche Religionsgeschichtler Hermann Gunkel in seinem berühmten Genesiskommentar: „Mythen – man erschrecke nicht vor diesem Worte“!⁶ Die gattungstheoretische Verwendung der Mythoskategorie für biblische Traditionen konnte offensichtlich noch immer als anstößig empfunden werden. Dabei muss man in Rechnung stellen, dass die an Herder und Gunkel exemplifizierte produktive Aneignung der Mythoskategorie bei gleichzeitiger Zurückdrängung pejorativer Entwicklungs- bzw. Ablösungsmodelle primär auf die Identifizierung von mythischen Anteilen des Alten Testaments gerichtet war. Vgl. dazu den Überblick und die Literaturhinweise bei Walter Burkert, Art. Mythos, Mythologie. I. Antike, sowie Axel Horstmann, Art. Mythos, Mythologie. II.Von der Patristik bis zum 17. Jhd., in: HWPh, Bd. 6, hrsg. v. Karlfried Gründer/Joachim Ritter, Basel/Stuttgart 1984, 281– 283.283 – 286.318. Vgl. David Hume, The Natural History of Religion, in: Ders., The Philosophical Works, Bd. 4, hrsg. v. Thomas Hill Green/Thomas Hodge Grose, ND d. Ausgabe London 1882, Aalen 1964, 307– 363. Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 5: Schriften zum Alten Testament, hrsg. v. Rudolf Smend, Frankfurt (Main) 1993, 89; vgl. auch 12 f.78.91.93. Hermann Gunkel, Genesis, ND d. 3. Auflage, Göttingen 61964 (= Göttinger Handkommentar zum AT, Abt. 1, Bd. 1), XIV.
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Sobald die durch die Bibelhermeneutik getragene Selbstanwendung der Mythoskategorie auch auf die Stoffe des Neuen Testaments zugriff, musste sich die Problematik dramatisch zuspitzen. Als David Friedrich Strauß in seinem erstmals 1835 erschienen Leben Jesu mit der historischen Kritik ernst machte und die gesamte christologische Tradition in den Bereich des mythischen Bewusstseins verwies, hatte das eine traumatische Wirkung auf die eigene Zunft, aus der er dann folgerichtig exkludiert wurde.⁷ Daran änderte weder der Umstand etwas, dass Strauß ursprünglich von der Übersetzbarkeit der traditionell in geschichtsartigen Sagen transportierten Grundidee des Christentums in eine angemessene, d. h. begriffliche, Form überzeugt war, noch konnten die zahlreichen Kritiken und Widerlegungen seiner exegetischen und christologischen Thesen verhindern, dass sich fortan zentrale Motive des Christentums dem mythologischen Bewusstsein zurechnen ließen und eine theologische Fremdsetzung des Mythos somit kaum noch plausibel war. Dies lag nicht zuletzt daran, dass das von Strauß den idealistischen und mythentheoretischen Debatten seiner Zeit entnommene Entwicklungsmodell einer Auflösung der mythologischen Vorstellung in den Begriff im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts von soziologischen Stufen- bzw. Stadientheoremen und dem Säkularisierungsschema abgelöst, zugleich aber in seinen normativen Prämissen bestätigt wurde.⁸ Diese debattenpolitische Abbreviatur lässt die komplexe Ausgangssituation zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest erahnen. Ein theologischer Zugang zur Mythosthematik stand jedenfalls angesichts heterogener Theorielagen und konkurrierender Geltungsansprüche vor der schwierigen Aufgabe, ein konstruktives Verhältnis zu den mythischen Dimensionen der eigenen Tradition zu finden. Die aus heutiger Perspektive eher befremdlichen bzw. als kulturhegemoniale Apologie des Christentums anmutenden Aspekte in Tillichs Mythoskonzept hat man vor diesem Hintergrund zu sehen. Auch Tillichs Umgang mit zeitgenössischen Debatten wäre ansonsten kaum zu verstehen. Bevor das näher ausgeführt werden kann, soll jedoch zunächst die Quellenbasis genannt werden, auf die sich die folgenden Beobachtungen beziehen. Da eine Würdigung der intensiven und werkgeschichtlich bedeutsamen Rezeption von Schellings Philosophie der Mythologie sowie die spätere Auseinandersetzung mit dem Entmythologisierungs-
Vgl. dazu Dietz Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1977; Friedrich Wilhelm Graf, Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982. Einen trotz seiner Hegelianisierenden Engführung immer noch aufschlussreichen Überblick über die theoriegeschichtliche Entwicklung bietet Falk Wagner,Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986.
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programm und der existentialen Interpretation Bultmanns in anderen Beiträgen untersucht wird, soll es im Folgenden vor allem um die werkgeschichtliche Phase der 20er Jahre gehen. Im systematischen Kontext seiner Religionsphilosophie entfaltet Tillich hier sein eigenes Mythosverständnis und gibt ihm im MythosArtikel der RGG von 1930 noch einmal eine prägnante Zusammenfassung. Bereits die erste Konzeption der Religionsphilosophie, die Berliner Vorlesung aus dem Sommersemester 1920, mündet förmlich in einer ausgiebigen Behandlung des Mythos und bricht dann mit dem Übergang zum Kultus ab.⁹ Die veröffentlichte Religionsphilosophie von 1925 führt das Berliner Programm dann mit einer veränderten Grundlegung durch. Die Systematik der Vorlesung verrät jedenfalls von Beginn an die zentrale Bedeutung des Mythosbegriffs: Der erste Teil der Religionsphilosophie entfaltet einen normativen Begriff vom Wesen der Religion. Der zweite Teil entwickelt auf dieser Basis eine sich aus dem Wesensbegriff ableitende Kategorienlehre der Religion, wobei die theoretische Sphäre durch die Kategorien des Mythos und der Offenbarung, die praktische Sphäre durch die Kategorien des Kultus und der Kultgemeinde bestimmt werden.¹⁰ Dieses Konzept wird auch in den späteren Werkphasen trotz mancher begrifflichen Umstellung nicht mehr grundlegend revidiert. Bereits dieser Aufriss lässt jedoch erahnen, dass Tillichs religionsphilosophischer Zugang zum Mythosbegriff weder den Traditionen und Methoden der von Herder bis Gunkel reichenden theologischen Bibelhermeneutik folgt noch der zeitgenössischen Religionswissenschaft. Letzteres wird vor allem an einem Punkt ersichtlich. Beide Traditionsstränge der Mythosforschung erhielten nämlich am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch den schottischen Bibelwissenschaftler William Robertson Smith eine ganz neue Stoßrichtung. Smith, der in seiner Bildungskariere wichtige Impulse von deutschen Gelehrten empfing, hatte in seinen späten Vorlesungen über die Religion der Semiten (1889, dt. 1899) die These von der religionsgeschichtlichen und anthropologischen Fundamentalität des Rituals durchgeführt.¹¹ Mythen wurden demgegenüber als sekundäre Bildungen verstanden, die zur Erklärung des in Vergessenheit geratenen Rituals entwickelt wurden. Von diesem Ansatz aus gingen vor allem über den Religionswissenschaftler James Georg Frazer und die Altertumswissenschaftlerin Jane Ellen
Paul Tillich, Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), in: Ders., Berliner Vorlesungen I (1919 – 1920), EW XII, hrsg. u. m. einer hist. Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 2001, 333 – 584, hier: 533 – 565 (30.–39. Stunde). Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 21959, 297– 364, hier: 350.356. William Robertson Smith, Die Religion der Semiten, ND d. Ausgabe Tübingen 1899, Darmstadt 1967.
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Harrison vermittelt wiederum wichtige Impulse in die unterschiedlichsten Disziplinen der Kulturwissenschaften und Kulturphilosophie aus. Fortan wurde das Thema Mythos nur noch in seiner Relation zu Ritus und Ritual verhandelbar, wobei es gegenüber Smith bald wieder zur Aufwertung der Bedeutung des Mythos kam.¹² Tillich hat, wie die Literaturangaben der Vorlesung von 1920 belegen (EW XII, 363 – 367), diese zeitgenössischen Debatten zwar durchaus zur Kenntnis genommen. Doch wie schon der vollständige Verzicht auf die Kategorie des Ritus bzw. des Rituals erkennen lässt, ist es zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit diesen neueren Ansätzen nicht gekommen. Tillich spricht vielmehr durchgängig vom Kultus als Komplement des Ritus und weist den die zeitgenössische Debatte elektrisierenden Ansatz en passent zurück: „Mag auch unbewußt der Kultus das Primäre sein, im Bewußtsein selbst und für die Darstellung muß das Kultobjekt“ – ich ergänze: das mythisch vorgestellte – „das Erste sein“ (EW XII, 535). An dieser nicht mehr verlassenen Position wird deutlich, dass Tillich die Selbständigkeit ritueller Praktiken gar nicht denken kann, da sie als kultisches Handeln immer schon auf ein Kultobjekt – ergo ein mythisches Objekt bezogen sind.¹³ Diese reserviert-spröde Haltung gegenüber der zeitgenössischen Religionswissenschaft hat freilich dezidiert methodische Gründe, die Tillich zu Beginn seiner Religionsphilosophie ausführlich reflektiert. Zwar orientiert er sich dabei noch nicht am Mythosbegriff selbst, sondern zunächst nur am Religionsbegriff, doch haben diese Überlegungen eine Relevanz für die oben einleitend entfaltete Grundfrage nach der Gegenwartsbedeutung des Mythos. Tillichs kritischer Einwand gegenüber der empirischen Religionswissenschaft in Soziologie, Psychologie und Religionsgeschichte lautet, dass sie zwar einen wesentlichen Beitrag zur Religionsforschung leistet, aber gerade nicht in der Lage ist, Religion als eine Bewusstseinsform nachzuweisen, der eine aktuelle Geltung zukomme. Wenn Religion bloß aus psychologischen, soziologischen oder entwicklungsgeschichtlichen Befunden abstrahiert oder gar genetisch abgeleitet werde, dann sei nicht nur immer ein unausgewiesenes Vorverständnis im Spiel, sondern es laufe methodisch darauf hinaus, dass Religion als ein kontingentes oder gar reduzibles Vorkommnis der Kultur aufgefasst werden müsse. Es ist unschwer zu erkennen, dass die in den unterschiedlichsten Mythentheorien immer wieder variierten
Vgl. dazu auch Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“, 146 – 166. Zu diesem Zusammenhang vgl. auch meine Ausführungen in: Mythos und Kultus. Ein Problem aufgeklärter Religion bei Troeltsch und Tillich, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hrsg. v. Ulrich Barth/Christian Danz/Wilhelm Gräb u. a., Berlin/New York 2013, 685 – 707. Eine ähnliche Position hinsichtlich des Verhältnisses von Ritus/ Kultus und Mythos vertritt später dann auch Paul Ricœur, Phänomenologie der Schuld, Bd. 2: Symbolik des Bösen, Freiburg (i.Br.)/München 1971, 46: „kein Ritus ohne Wort“.
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Entwicklungskonzeptionen, denen zufolge Mythos und/oder Religion eine vielleicht für bestimmte Epochen legitime, aber prinzipiell überwindbare oder bereits überwundene Erfahrungsform darstellt, genau diese von Tillich angesprochene Problematik bestätigen. Entsprechend fordert er daher in seinem RGG-Artikel von 1930, die Vorstellung vom Mythos nicht aus einer mehr oder weniger kontingent herausgegriffenen Epoche zu entwickeln, sondern „das Wesen des Mythos von innen her zu verstehen“¹⁴. Diese Forderung ist keineswegs als Plädoyer für einen rein spekulativ zu entfaltenden Mythosbegriff zu verstehen. Vielmehr sind die Fragen mit Bezug auf den Mythos, so Tillich weiter, „nur zu beantworten durch gleichzeitiges Schauen auf die geschichtliche Wirklichkeit und auf die Struktur des menschlichen Geistes, der den Mythos schafft“ (GW V, 187). Nach dieser Eingrenzung der debattenpolitischen und methodischen Zugangsbedingungen können jetzt die Grundzüge von Tillichs religionsphilosophischem Mythosbegriff entwickelt werden.
2. Mythos als Erscheinungsform der Religion Die Geisteswissenschaften, insbesondere die Religionsphilosophie haben Tillichs methodischer Kritik entsprechend eine normative Funktion: Sie sind keine rein deskriptiven Seinswissenschaften, sondern haben normative Wesensbegriffe zu entwickeln, die in der Lage sind, die Kulturgeschichte zu begreifen, welch letztere dadurch umgekehrt eine kriteriologische Funktion für die Wesenskonstruktion erhält. Mit dieser Methodologie erweist sich Tillich als Schüler Troeltschs.¹⁵ Die für das Mythosverständnis entscheidende Konsequenz ließe sich dann so zusammenfassen: Wenn sich Religion als ein notwendiger Bestandteil menschlichen Geisteslebens ausweisen lässt und wenn der Mythos ein wesentlicher Bestandteil religiösen Lebens ist, dann wäre die verbreitete und aufgrund der einschlägigen Referenzepochen durchaus plausible Annahme, dass es, wie Tillich formuliert, „ein schlechthin unmythisches Bewußtsein geben kann“ (GW V, 187), verfehlt. Die These, dass die Zeiten des Mythos nicht mehr die unsrigen sind, wäre – ob Hoffnung oder Befürchtung – gleichsam ein naturalistischer Fehlschluss. Die Messlatte, die sich Tillich mit diesem Beweisziel auflegt, hängt denkbar hoch: Es gilt gleichsam ein integrales Mythoskonzept zu entfalten, das in der Lage ist, den Mythos als eine allen geschichtlichen Wandel übergreifende humane Konstante
Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 187– 195, hier: 187. Vgl. dazu Roderich Barth, Mythos und Kultus.
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auszuweisen. Das bedeutet zugleich, dass der offensichtliche geschichtliche Wandel durchaus konzeptionell berücksichtigt werden muss – aber eben nur so, dass er nicht zwangsläufig auf eine Entwicklungskonzeption hinausläuft, die in ein unmythisches Bewusstsein führt, sondern vielmehr als eine Entwicklung oder Transformation im Mythos bzw. in unserem Umgang mit dem Mythos verständlich wird. Die Ende der 20er Jahre gefundene Formel vom „gebrochenen Mythos“ soll genau diese Transformationsgestalt des Mythos in „nachmythischen“ Bewusstseinslagen bezeichnen, so wie der korrelative Ausdruck eines „werdenden“ Mythos dessen Bewusstseinsform für das ‚vormythische Zeitalter‘ bezeichnet (GW V, 187).¹⁶ Was in den Mythosdebatten des 20. Jahrhunderts, etwa bei Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss, Hans Blumenberg oder Kurt Hübner,¹⁷ im Sinne einer Korrektur am Verständnis humaner Rationalität angegangen wird, nämlich die Überwindung eines entwicklungsgeschichtlichen Ablösungsmodells (vom Mythos zum Logos), das vollzieht Tillich im Namen der Religion. Der Mythos gehört für ihn notwendig zur Religion – das ist grundsätzlich zu beachten. Aus diesem Grund sucht Tillich nach einem übergreifenden, die humane Situation grundsätzlich bestimmenden Konzept. Weil er den Mythos als eine Kategorie der Religion versteht, wäre die These eines unmythischen Zeitalters gleichbedeutend mit der Behauptung einer religionslosen Zeit. Gleichwohl geht es in seiner Religionsphilosophie zunächst einmal gar nicht um die Entfaltung des Mythosbegriffs. Dieser wird vielmehr erst aus einem Problem heraus verständlich, das sich aus dem Religionsbegriff entwickelt. Die spezifische Fassung des Religionsbegriffs ist somit
Vgl. auch Paul Tillich, Mythos und Mythologie, GW V, 190 f.194 f. sowie den Aufsatz Das religiöse Symbol, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 196 – 212, bes. 202 f. Die geschichtsphilosophische Verschränkung von transzendentalen und empirischen Aspekten erlaubt es Tillich auch, traditionelle Nominaldefinitionen des Mythos (Göttergeschichten, Handeln und Leiden von personal vorgestellten Götterwesen in Raum und Zeit) zwanglos in sein Mythoskonzept zu integrieren, das er entsprechend auf der Ebene der Sachdefinition (s.u.) loziert, vgl. Paul Tillich, Mythos und Mythologie, GW V, 187 f. Vgl. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1921/22), in: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, ND d. Ausgabe v. 1956, Darmstadt 1965, 169 – 200; Ders., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1 u. Bd. 3, ND d. 2. Aufl., Darmstadt 101994, Bd. 2, ND Darmstadt 91994; Claude Lévi-Strauss, Die Struktur der Mythen, in: Ders., Strukturale Anthropologie, Frankfurt (Main) 1967, 226 – 254; Ders., Mythologica I–IV, 5 Bde (I. Das Rohe und das Gekochte; II.Vom Honig zur Asche; III. Der Ursprung der Tischsitten; IV. Der nackte Mensch 1 u. 2), Originalausg.: Paris 1964– 1971, Frankfurt (Main) 21980; Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos; Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985.
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die Basis für Tillichs Mythosverständnis. Zugespitzt formuliert: Ohne Religionsbegriff kann es kein adäquates Verständnis des Mythos geben. Tillichs Religionskonzeption kann hier natürlich nur insoweit angedeutet werden, als es für seinen Begriff des Mythos erforderlich ist. Dabei ist jedoch erneut darauf hinzuweisen, dass auch das Religionsverständnis nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten zu verstehen ist. Die bereits erwähnte Konjunktur der empirischen Religionsforschung und deren Tendenz zu einem archaisierenden Religionsverständnis ist hier nur ein Faktor unter vielen. Entscheidend sind auch die theologischen Debatten in der Spannweite zwischen Troeltsch und den theologischen Neuaufbrüchen der 20er Jahre sowie die schillernde Vielfalt religiöser Erneuerungsbewegungen, bei denen durchaus auch Wiederbelebungen des romantischen Projekts einer neuen Mythologie eine Rolle spielen. Tillich spitzt diese unübersichtliche Lage auf das Problem des Verhältnisses von Religion und Kultur zu. Etwas ungenau könnte man sagen, er entfaltet in seiner Religionsphilosophie einen kulturtheoretischen Religionsbegriff. Ungenau ist das deshalb, weil er Religion nicht nur als notwendigen Bestandteil des geistig-kulturellen Lebens, das er 1925 kategorial als „Sinnwirklichkeit“ (GW I, 306.318) näherbestimmt, nachzuweisen sucht, sondern zugleich auch einen tiefen Gegensatz zwischen Kultur und Religion herauszuarbeiten sucht. Dieses ‚Zugleich‘ von Kulturimmanenz und Kulturtranszendenz stellt nicht nur die systematische Hauptschwierigkeit von Tillichs Religionstheorie dar, sondern ist auch der eigentliche Einsatzpunkt für den Mythosbegriff. Doch der Reihe nach. Tillichs kulturtheoretischer Religionsbegriff lässt sich gut durch einen Vergleich mit seinem berühmtesten Vorgänger veranschaulichen: nämlich Schleiermacher. Dieser hatte in seiner philosophischen Ethik eine systematische Kulturtheorie entfaltet, die Religion als einen Teilbereich neben anderen Kultursphären wie Wissenschaft, Recht, Wirtschaft und freie Geselligkeit auswies und als individuelles Symbolisieren in innere Beziehung zur Kunst stellte.¹⁸ Zumal unter dem Eindruck der theologischen Religionskritik der 20er Jahre wird dieses Modell für Tillich unmöglich, weil Religion so vermeintlich ganz in den Horizont kultureller Sinnproduktion aufgelöst zu werden droht. Daher leitet er zwar wie Schleiermacher aus der Struktur des Geistes unterschiedliche Kultursphären wie Wissenschaft, Kunst, Recht und Gemeinschaft ab, ordnet ihnen aber die Religion nicht gleichrangig bei, sondern weist ihr eine Sonderstellung gegenüber diesen kulturellen Sinnfunktionen zu. Religion ist nach Tillichs sinntheoretischer Entfaltung Vgl. Gunter Scholtz, Schleiermachers Theorie der modernen Kultur mit vergleichendem Blick auf Hegel, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hrsg.v. Otto Pöggeler/Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1983 (= Hegel-Studien/ Beiheft 22), 131– 151; Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik F. Schleiermachers, Kampen 1992.
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keine kulturelle Sonderfunktion, die sich jeweils auf spezifische Sinnformen und die durch sie vorgestellten Einheiten richtet. Religion ist vielmehr „Richtung auf das Unbedingte“ (GW I, 302), das als ‚unbedingter Sinn‘, ‚Sinngrund‘ oder ‚Sinngehalt‘ die Sinnhaftigkeit aller kulturellen Sinnakte und Formen begründet und sich doch zugleich als unbedingte Forderung jeder Form entzieht. Weil in unseren kulturellen Sinnakten zumindest implizit eine Unbedingtheitsintention enthalten sei, sieht Tillich in der Religion ein notwendiges Komplement humaner Kultur. Damit ist das geltungslogische Beweisziel erreicht. Kultur kann die in ihren endlichen Sinnformen immanente Unbedingtheitsintention nicht erfassen, daher ist sie angewiesen auf Religion, die sich gerade durch diese Unbedingtheitsintention auszeichnet. Einfach formuliert: Keine Kultur ohne Religion, aber auch: Keine Religion ohne Kultur. Letzteres wird ersichtlich, wenn man fragt, wie sich die Religion auf das Unbedingte beziehen kann. Tillichs These ist, sie kann es nur vermittels von Symbolen, d. h. indem sie sich „durch die Einheit der Sinnformen hindurch“ (GW I, 320), also kulturell vermittelt auf das Unbedingte bezieht. Symbole zeichnen sich – um einen Terminus Ricœurs zu entlehnen, der sich aber passgenau in Tillichs Symboltheorie einfügt – durch eine ‚doppelte Intentionalität‘ aus.¹⁹ Wir beziehen uns in Symbolen auf einen anschaulich vorgestellten Inhalt. Dieser ist jedoch nicht das eigentlich Gemeinte – Tillich spricht von der „Uneigentlichkeit“ (GW V, 196) der Symbole –, sondern vertritt bloß das eigentlich Gemeinte, also eine gleichsam tiefer liegende Bedeutungsschicht. Handelt es sich bei letzterer nun um etwas, das jede Gegenständlichkeit, sei es eine empirische oder geistig-kulturelle, transzendiert, handelt es sich also um unbedingten Sinn, so haben wir es mit religiösen Symbolen zu tun. Das in ihnen „Letztgemeinte“ (GW V, 197) ist im Unterschied zu nichtreligiösen Symbolen ausschließlich symbolisch gegeben. Insofern sind Symbole im strengen Sinne religiöse Symbole (GW V, 205). Der Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur entsprechend, kann daher im Grunde genommen jede kulturelle Sinnform zum Symbol des Unbedingten werden. Insofern nimmt aber auch der unbedingte Sinn in den einzelnen Kultursphären deren Gepräge an: als unbedingt Seiendes in der Wissenschaft, als unbedingter Bedeutungsgehalt in der Kunst, als das unbedingt Persönliche im Recht und als unbedingte Liebe in der Sozialsphäre. Genau das meint Tillich mit dem allerdings höchst missverständlichen Ideal einer ‚theonomen Kultur‘ – missverständlich deshalb, weil der Begriff nach Heteronomie klingt, aber genau das Gegenteil meint, nämlich eine religiös bejahte Autonomie, eine Autonomie, die
Vgl. Paul Ricœur, Symbolik des Bösen, 22.
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jedoch durchsichtig bleibt für den religiösen Unbedingtheitssinn und offen ist für religiöse Symbole.²⁰ Diese Wesensbestimmung der Religion und die damit verbundene Verhältnisbestimmung zur Kultur zieht nun aber ein nicht unerhebliches Problem für die Religionstheorie nach sich. Tillich hat es in seiner Vorlesung von 1920 in aller Prägnanz formuliert, daher zitiere ich die einschlägige Stelle: „Das Problem, das hier in erster Linie auftritt, liegt auf der Hand. […] Wie ist eine specifisch religiöse Kultur möglich, wenn Religion das die Form durchbrechende Gehaltserlebnis ist? Wie ist eine religiöse Form im Unterschied von anderen möglich, wenn Religion ein Verhalten zur Form überhaupt ist?“ (EW XII, 533)
Symboltheoretisch formuliert lautet das Problem: Wie kann es in einer Kultur überhaupt zur Ausbildung einer religiösen Symbolsphäre kommen? Genau das ist der systematische Ort, an dem Tillichs symboltheoretische Religionstheorie den Mythosbegriff kategorial einführt: Die Religionsphilosophie muss zeigen, – ich zitiere jetzt wieder aus der 1925er Fassung – „durch welche Kategorien in den verschiedenen Gebieten religiöse Gegenstände konstituiert werden“ – und da dem System der vier Kultursphären die Dichotomie von aufnehmend-theoretischen und hineinbildend-praktischen Sinnfunktionen zugrunde liegt, vollzieht sich auch der Aufbau spezifisch religiöser Gegenständlichkeit ebenfalls in der Duplizität von theoretischer und praktischer Sphäre: Mythos – im Sinne dieser Architektonik – ist die spezifisch-religiöse Form im Bereich kultureller Vorstellungen, Kultus das Entsprechende im Bereich kulturellen Handelns. Mythos ist also – um die Sachdefinition aus dem RGG-Artikel zu zitieren – „das aus Elementen der Wirklichkeit aufgebaute Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte oder Seins-Jenseitige“ (GW V, 188), wobei sich hier logische und ästhetische Erfassung (GW I, 350) wechselseitig fordern. An dieser Definition wird noch einmal deutlich: Tillichs Mythosbegriff ist ein explizit religionstheoretisch gefasster Mythosbegriff und als solcher symboltheoretisch näherbestimmt.
Zu Tillichs Symbol- und Religionstheorie vgl. aus der Fülle der Literatur v. a. Werner Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Der Religionsbegriff im Werk Paul Tillichs, Frankfurt (Main) 1989; Joachim Ringleben, Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs, Münster 2003; ferner den Sammelband: Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion, Berlin/Wien 2007 (= International Yearbook for Tillich Research 2); Ulrich Barth, Religion und Sinn, in: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1920), hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler, Berlin/Wien 2008 (= Tillich-Studien 20), 197– 213; Lars Heinemann, Symboltheoretische Anfänge. Paul Tillichs frühe Privatdozentenjahre in Berlin (1919/1920), in: Religion – Kultur – Gesellschaft, 233 – 257.
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Der Mythosbegriff – korrelativ dazu der Begriff des Kultus – markieren also die Differenz von Wesen und Erscheinung der Religion. Ohne mythische Elemente kann sich keine religiöse Symbolschicht generieren. Insofern beinhaltet der zweite, den Mythosbegriff behandelnde Teil von Tillichs Religionsphilosophie eine Erscheinungslehre der Religion. Die Raffinesse dieser symbol- und religionstheoretischen Fassung des Mythosbegriffs besteht nun näherhin darin, dass Tillich damit nicht nur eine Entwicklungsgeschichte des Mythos entfalten kann, die ohne die dogmatische Prämisse eines ‚unmythischen Bewusstseins‘ auskommt. Sondern Tillich kann aus der wesentlichen Uneigentlichkeit des Symbols auch ein dem Mythos selbst inhärierendes Kritikpotential erklären. Denn im Symbol liegt eine „Doppeltendenz zur religiösen Transzendenz und zur kulturellen Vergegenständlichung“ (GW V, 210) begründet. Aus deren Dialektik speist sich die innere Entwicklungsdynamik der Religions- und Kulturgeschichte. Letztere wird erst symboltheoretisch begreifbar. In aller Kürze zusammengerafft gliedert Tillich seine religionsgeschichtliche Konstruktion wie folgt:²¹ Den freilich nur hypothetisch anzunehmenden Ausgang bildet eine „indifferent-sakramentale Geisteshaltung“ (GW I, 344). Gemeint ist der Zustand mystischer Naturverbundenheit, in dem „alles Wirkliche unmittelbar mythische Qualitäten“ (GW I, 351) hat, d. h. als Träger des Heiligen erlebt werden kann. Insofern hier eine Differenzierung zwischen Heiligem und Profanem nicht statt habe, könne man von einer ‚vor-mythischen‘ – wohlgemerkt aber nicht unmythischen Phase der Religionsgeschichte sprechen. Diese Ausdifferenzierung von Heiligem und Profanen lässt sich aufgrund der religiös-kulturellen Doppelperspektive dann sowohl als innerreligiöse Kritik als auch als Emanzipation autonomer Kultur beschreiben, wobei zunächst die innerreligiöse, d. h. theokratische oder prophetische, Kritik das treibende Prinzip darstellt. Sie hebt an mit der Konzentration des Heiligen auf „personhaft gedachte Gestalten“ (ebd.) und reicht über die Herausbildung und die innere Systematisierung des Polytheismus bis zur Etablierung eines exklusiven Monotheismus. Erzeugt die Dämonisierung von zuvor als Träger des Heiligen verehrten Dingen und Personen durch die theokratische Kritik also zunächst die „Mythologie der großen Kulturreligionen“ (ebd.), so treibt sie aus sich selbst heraus religionsgeschichtlich weiter in eine als ‚nachmythisch‘ zu bezeichnende Epoche. „Die Theokratie“ – so kann Tillich mit Blick auf die Geschichte der biblischen Religion zuspitzen – „bekämpft den Mythos mit solchem Nachdruck, daß sie sogar den Namen für ihre eigenen Symbole ablehnt“ (ebd.). Theokratie meint dabei nicht etwa heteronome Priesterherrschaft,
Vgl. Christian Danz, ‚Alle Linien gipfeln in der Religion des Paradox‘. Tillichs religionsgeschichtliche Konstruktion der Religionsphilosophie, in: Religion – Kultur – Gesellschaft, 215 – 231.
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sondern „Reformbewegungen: wie jüdische Prophetie, Urchristentum, Mohamedanismus, christliche Sekte, Protestantismus, insonderheit Kalvinismus“ (GW I, 342). Doch die mit der theokratischen Kritik und ihrem „Protest gegen den Mythos“ (GW V, 189) verbundene Tendenz der Religionsgeschichte verflüssigt das Heilige in die abstrakte Dürre der bloßen Gesetzesform. Damit droht nicht nur die Religion in autonomes Ethos überzugehen, sondern sie verliert vor allem ihre symbolische Präsenz. Will also die antimythische Religion ihre kulturelle Manifestation nicht aufs Spiel setzen, dann muss sie ihre mythischen Elemente bewahren. Die Religionsgeschichte zielt insofern nicht auf die Überwindung des Mythischen, sondern auf eine Synthese von sakramental-mythischer Präsenz und theokratischer Kritik: Ziel der am Normbegriff der Religionsphilosophie entfalteten Religionsgeschichte ist die Religion des Paradox, wobei Tillich hier ganz unverhohlen die Absolutheit des Christentums resultieren lässt: Denn das Paradigma für diese Synthese ist das „Symbol des göttlichen Mittlers. Das Endliche, Bedingte, das in paradoxer Weise Träger des Unbedingten ist und um deswillen sich selbst als Endliches aufhebt“ (GW I, 345). Zumindest ein wenig relativierend wird ergänzt, dass „die Anschauung des menschgewordenen, niedrigen und sterbenden Gottes […] das eigentliche religiöse Mysterium [sei], das kaum einer Religion ganz“ fehle (ebd.). Gleichsam die Straußsche Kritik konstruktiv invertierend interpretiert Tillich also die religionsgeschichtliche Synthese des Christentums als eine Wiederaufnahme des polytheistischen Elements in den exklusiven Monotheismus, wodurch dieser erst seine „innergöttliche[] Spannung und Lebendigkeit“ (GW I, 352) wiedergewönne. In genau diesem Sinne ist das Christentum also Paradigma für die Religion des ‚gebrochenen Mythos‘. Die mythischen Stoffe werden zwecks symbolischer Manifestation aufbewahrt, aber so, dass die unbedingte Transzendenz des Göttlichen gewahrt werden soll, indem notorisch die Vergegenständlichungen der eigenen Symbole in Frage gestellt wird: „Aber es ist die Tiefe der religiösen Gewißheit, daß sie auch die Gewißheit ihrer eigenen Symbole unter das Nein stellt, um keinem Bedingten die Würde der Unbedingtheit zu gewähren.“ (GW I, 356) Die Nähe zu einer theologia crucis liegt auf der Hand und wird dann in den späteren Texten zur Symboltheorie auch ausdrücklich betont.²²
Paul Tillich, Recht und Bedeutung religiöser Symbole (1961), in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 237– 244, hier: 243: „Im Symbol des Kreuzes, das im Mittelpunkt aller christlichen Symbolik steht, ist wohl die radikalste Kritik an der Verabsolutierung von heiligen Gegenständen und Personen dargestellt.“ Vgl. auch Paul Tillich, Das Wesen der religiösen Sprache (1959), in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten, GW V, 213 – 222, hier: 222.
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Dass damit alles andere als ein statisches Vollendungsmodell gemeint ist, resultiert schon aus der unhintergehbaren Dialektik des Symbols und der bleibenden Spannung zwischen sakramentaler Vergegenständlichung und ihrer innerreligiösen wie kulturellen Kritik. Daher kann Tillich an anderer Stelle auch die Offenheit und bleibende Herausforderung betonen: „Die Religion des Paradox ringt um einen Mythos, in dem […] die unbedingte Einheit des Göttlichen zu vollkommenem Ausdruck kommt.“ (GW I, 352) Dieses Ringen oder – um noch einmal die Blumenbergformel zu bemühen – diese Arbeit am Mythos hat sich dabei auf zwei Ebenen zu vollziehen. Zum einen auf der Ebene der wissenschaftlichen Reflexion: Hier liegt die genuine Aufgabe der Dogmatik, die Tillich förmlich als Lehre „vom Mythos mit autonomen Symbolen“ (GW I, 353)²³ bestimmen kann. Die Theologie hat also nicht nur penibel die Symbolizität alles Mythischen in Erinnerung zu rufen, sondern vor allem ein kulturhermeneutisches Instrumentarium zu entwickeln, das die Sinnformen der autonomen Kultur nach ihrer Unbedingtheitsdimension hin durchsichtig macht. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Wissenschaft und die Kunst, die sich im Zuge der Kulturgeschichte aus der Gottes- und Weltanschauung umspannenden Einheit des klassischen Mythos emanzipiert haben. Hier besteht die Aufgabe der Theologie darin, diejenigen Voraussetzungen zu benennen, die auf deren immanenten Unbedingtheitssinn verweisen. Kreativität, Phantasie und Individualität etwa seien anders nicht zu begreifen. Zum anderen vollzieht sich diese Arbeit am Mythos aber auch auf der Ebene gelebter Religion. Genau hier kommt die korrelative Verschränkung von theoretisch-anschaulichem Mythos und praktisch-vollzugshaftem Kultus zum Austrag. Denn Symbole sind notwendig rückgebunden an den Vollzug des Sichdurch-sie-auf-das-Unbedingte-Beziehens – sollen sie nicht ihrerseits in der „Objektivität des Gegenständlichen“ (GW I, 356) erstarren. Entscheidend ist aber nach Tillich auch hier, dass das kultische Handeln das kulturelle nicht „heteronom vergewaltig[en]“ (GW I, 361) darf. Auch ist damit kein reines Programm religiöser Ästhetisierung gemeint. Es handelt sich vielmehr um so etwas wie die religionsphilosophische Version der reformatorischen Idee eines Gottesdienstes im Alltag der Welt.²⁴ Tillichs Ideal eines ‚gebrochenen Mythos‘ bezeichnet somit exakt die Schnittstelle seines Syntheseprogramms zwischen Religion und autonomer Kultur.
Vgl. auch Paul Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 21959, 111– 293, hier: 253 f.278 f.. Vgl. Folkart Wittekind, Gottesdienst als Handlungsraum. Zur symboltheoretischen Konstruktion des Kultes in Tillichs Religionsphilosophie, in: Das Symbol als Sprache der Religion, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/Wien 2007 (= International Yearbook for Tillich Research 2), 77– 100, hier: 100.
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3. Ein protestantischer Mythos? Als Ahnherr eines symboltheoretischen Mythosbegriffs im 20. Jahrhundert gilt allgemein Ernst Cassirer. In seiner in den 20er Jahren veröffentlichten Philosophie der symbolischen Formen hat er den Mythos als eine eigenständige symbolische Form gewürdigt, nach seiner inneren Struktur analysiert und ins Verhältnis zu anderen Symbolformen wie Sprache, Religion, Kunst und Wissenschaft gesetzt.²⁵ Auf den ersten Blick zeigen sich in Tillichs etwa zeitgleich entfaltetem Mythosbegriff viele Ähnlichkeiten zu Cassirers Entwurf.²⁶ Doch dieser Eindruck täuscht, auch wenn in den Detailanalysen durchaus Übereinstimmungen bestehen bleiben. Tillich hat die fundamentale Differenz in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Cassirer deutlich benannt. Sie liegt letztlich im Symbolbegriff begründet und strahlt von dort aus auf das Verständnis des Mythos aus.²⁷ Während Cassirer einen denkbar weiten Symbolbegriff vertritt, der um die geistige Korrelation von sinnlichen Zeichen und ideellen Sinngebilden kreist, vertritt Tillich einen engen Symbolbegriff, der das Symbol als Sprache der Religion auszeichnen will, auch wenn diese Konzeption durchaus offen für nichtreligiöse Symbole bleibt. In der Folge wird dann – wie wir gesehen haben – dem Mythos eben jene Sonderstellung innerhalb der kulturellen Sinnsysteme zugewiesen, die Tillich für die Religion insgesamt reklamiert. Demgegenüber zielt Cassirers Mythosverständnis auf ein Entwicklungsmodell, das vermittelt über die ebenfalls noch als defizitär rekonstruierte Religion erst in der Kunst das Wesen des Geistes zu sich selbst kommen lässt.²⁸ Genau das umgeht Tillich, indem er den Mythos kategorial als Erscheinungsform der Religion und diese als eine spezifische Form des menschlichen Umgangs mit Sinn rekonstruiert und von daher die kulturgeschichtlichen Ausdifferenzierungs- und Transformationsprozesse nicht als Kampf gegen den Mythos, sondern als innermythische Entwicklung begreifen kann. So allein ließe sich – wie Tillich spitzfindig bemerkt – der innere Widerspruch in Cassirers
Zum Begriff des mythischen Denkens vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken. Vgl. Christian Danz, Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, in: Die Prägnanz in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, hrsg. v. Dietrich Korsch/Enno Rudolph, Tübingen 2000, 201– 228. Vgl. auch die im Tillich-Kapitel gleichsam im werkgeschichtlichen Rückwärtsgang verfahrende Studie von Birgit Luscher, Arbeit am Symbol. Bausteine zu einer Theorie religiöser Erkenntnis im Anschluss an Paul Tillich und Ernst Cassirer, Berlin 2008, bes. 19 – 195. Vgl. v. a. den 2. Abschnitt in: Paul Tillich, Das religiöse Symbol (1928), GW V, 198 – 206 sowie Ders., Mythos und Mythologie, GW V, 188. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, 310 f.
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Theorie mythischer Symbole umgehen, demzufolge der Mythos zwar eine „wesenhafte Geistesschöpfung“ darstellen soll, sich zugleich aber auch soll auflösen können (GW V, 202). Wie auch immer man in dieser Alternative zweier symboltheoretischer Mythostheorien entscheiden mag – gerade auch mit Blick auf zeitgenössische Debatten scheint mir Tillichs religionstheoretische Klärung des Mythosbegriffs vorbildlich zu sein.²⁹ Das gilt auch dann, wenn kritische Anfragen bezüglich der Konsistenz von Tillichs Religionstheorie möglich sind. Dass die Frage nach der Macht des Mythos nicht nur eine Verhältnisbestimmung von Mythos und Religion verlangt, sondern diese wiederum einen tragfähigen Religionsbegriff voraussetzt, kann man jedenfalls an Tillich lernen. Die notorische Ungeklärtheit religionstheoretischer Voraussetzungen scheint mir daher auch eine strukturelle Schwäche der Mythosdebatten von Heyne bis Jamme zu sein,³⁰ deren Aufarbeitung sicherlich einen Beitrag zur Bewältigung der eingangs benannten Methodenprobleme leisten würde. Wie so oft im Leben liegen aber in den Stärken zugleich auch die Schwächen. Das ehrgeizige Syntheseprogramm von Religion und autonomer Kultur bürdet Tillichs gebrochenem Mythos ungeheure Lasten auf, muss er doch gleichsam eine Sinnerfüllung mit Bezug auf alle Dimensionen moderner Kultur leisten. Kulturelle Ausdifferenzierungsmodelle ließen demgegenüber nicht nur einen entspannteren Umgang mit mythischen Fermenten unserer Symbolbe-
Vgl. dazu Andreas Kubik, Mythos und Symbol. Praktisch-theologischer Versuch über ein Problem des aufgeklärten Christentums. Mit einem Anhang zur Normativität der Bibel, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hrsg. v. Ulrich Barth/ Christian Danz/Wilhelm Gräb u. a., Berlin/New York 2013, 545 – 570. Entsprechend spielt in den neueren Mythosdebatten Tillichs symboltheoretischer Ansatz kaum eine Rolle, vgl. z. B. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos oder Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“. Eine Ausnahme, zugleich aber auch eine eindrucksvolle Bestätigung des oben angesprochenen Defizits in der Religionstheorie stellt Kurt Hübner dar. In einer späten Abhandlung – Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne. Ein kritischer Leitfaden zu einer Problemgeschichte, Augsburg 2006 – entwirft er auf Grundlage seiner Mythoskonzeption sowie seines späten Offenbarungskonzepts (vgl. Ders., Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen 2001) eine auf Ratzinger und dessen Vernunftverständnis zulaufende Dialektik der neueren Theologiegeschichte. In diese Entwicklungskonstruktion wird auch Tillichs symboltheoretisches Mythoskonzept eingezeichnet (a.a.O., 122 – 142). Die Interpretation verzichtet allerdings vollständig auf Tillichs wissenschaftstheoretische und religionsphilosophische Grundlegung und gerät so zur Groteske. Das zeigt sich etwa schon an vielsagenden Zitierfehlern (a.a.O., 124: „Sinnenwirklichkeit“ statt „Sinnwirklichkeit“) und setzt sich in einem vollständigen Missverständnis von Tillichs Symboltheorie fort. So entgeht Hübner zwangsläufig, dass der Hauptbeleg für seine Kritik, Tillich ziele im Ergebnis letztlich ähnlich wie Cassirer und Bultmann auf eine Überwindung des Mythischen, eine Cassirer-Darstellung und gerade nicht Tillichs eigene Position ist (a.a.O., 125, Anm. 36).
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stände zu, sondern haben auch mit Bezug auf die Moderne zumindest prima facie eine größere Plausibilität. Allerdings ist es auch hier erforderlich, noch einmal die einleitend bereits gestellte Frage zu wiederholen, vor welchen Hintergrund Tillich dieses Kulturideal entfaltet. Mir scheint es gerade auch mit Blick auf die etwas späteren Überlegungen Tillichs zum protestantischen Prinzip wahrscheinlich zu sein, dass es in seiner normativen Geschichtskonstruktion zuvörderst um die Frage nach einer möglichen Erscheinungsform des Protestantismus in der Moderne zu tun ist.³¹ Die Beschreibung einer die sakramentale Gegenständlichkeit zersetzenden, moderne Autonomie bejahenden und den kulturellen Alltag religiös durchdringenden, gerade deshalb aber auf Gestaltwerdung angewiesenen Religionspraxis, lässt sich unschwer als protestantisches Kulturideal dechiffrieren, das um seine Kontrafaktizität weiß. Die Formel vom gebrochenen Mythos könnte insofern auch als Problemanzeige und Sensibilität dafür verstanden werden, vor welche Herausforderungen ein sich auf die Aufklärung einlassender Protestantismus in seiner Verantwortung für die Symbolbestände gestellt sieht. In diesem Sinne ist zumindest eine Bemerkung im Kontext von Tillichs Auseinandersetzung mit Cassirer zu verstehen. Mit Bezug auf sein eigenes Konzept mythischer Symbole heißt es dort: „Diese Entwicklung ist freilich zur Zeit mehr Tendenz als Wirklichkeit.“ (GW V, 205)
Vgl. dazu vor allem die in GW VII: Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, Stuttgart 1962 versammelten Studien, bes. 29 – 83.151– 170. Vgl. dazu Ulrich Barth, Protestantismus und Kultur. Systematische und werkbiographische Erwägungen zum Denken Paul Tillichs, in: Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler, Berlin/Boston 2011, 13 – 37; und mit besonderem Augenmerk auf die politische Dimension Arnulf von Scheliha, Konfessionalität und Politik, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hrsg. v. Ulrich Barth/Christian Danz/Wilhelm Gräb u. a., Berlin/New York 2013, 65–88, hier: 78 – 83.
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„Wir sind entfremdet von unserem wahren Wesen […].“¹ Der Mythos vom „Fall“ in Tillichs Deutung In seinem im Jahre 1960 in Tokio gehaltenen Vortrag über den „philosophischen Hintergrund“ seiner Theologie bezeichnet Tillich Platon als den Philosophen, von dem er „sein Leben lang abhängig“ (MW I, 413) sei. Aus dem „unendlichen Reichtum“ des Denkens Platons hebt er zwei für sein eigenes Denken entscheidende Gesichtspunkte hervor. Zunächst die Unterscheidung zwischen der Welt der Ideen oder Essenzen, die die Welt der Wahrheit ist, und der Welt, in der wir leben und die die Welt der Scheinwahrheit ist. Platon habe diese Unterscheidung in dem Mythos vom „Fall“ der Seele aus der Welt der ewigen Wesenheiten in die Welt der sich ständig verändernden Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht. Uns sei nach diesem „Fall“ das geblieben, was man die „übergeschichtliche Erinnerung“ (ebd.) nennen könne, die Erinnerung an die Welt, in der die Seele einst zu Hause war. Der zweite Punkt, den Tillich hervorhebt, ist der Umstand, dass Plato, wenn es darum geht, den Übergang aus der Welt der Essenzen, der Welt der Wahrheit, in die Welt des Scheins, in der wir leben und denken, zu beschreiben, auf Mythen und Symbole zurückgreift, nicht auf Begriffe.² Die Mythen und Symbole bedürfen allerdings der Interpretation durch Begriffe. „Wenn ich über den ‚Fall‘ spreche“, so Tillich, „der natürlich ein Mythos und nicht ein Begriff ist, dann ziehe ich es vor, begrifflich vom Übergang von der Essenz zur Existenz zu sprechen, der natürlich nicht irgendwann einmal in der Vergangenheit sich ereignet hat, sondern der in jedem neugeborenen menschlichen Wesen jetzt und hier geschieht, in uns allen jetzt und hier, und das ist das, was ‚Fall‘ meint“. Der Mythos will sagen – so Tillich: „Wir sind entfremdet von unserem wahren Wesen […].“ (MW I, 418) Was der Mythos vom Fall der Seelen, wie Platon ihn andeutet, meint, ist die existentielle Situation des Menschen, wie sie z. B. die Philosophen des Existentialismus beschreiben. Es sind, wie Tillich hinzufügt, aber nicht nur die Philosophen mit ihrem begrifflichen Instrumentarium,
“We are estranged, as I like to call it, with the existentialist philosophers, from our true being.” (Paul Tillich, Philosophical Background of my Theology [1960], in: Ders., Philosophical Writings/Philosophische Schriften, MW I, hrsg. v. Gunther Wenz, Berlin/New York 1989, 411– 420, hier: 418; Übersetzungen v. Vf.) “Plato uses symbols and myths and not concepts; this means when you speak about the relation of essence and existence you cannot use concepts; you must do it in symbols.” (A.a.O., 413)
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die die Situation des Menschen beschreiben. „Wenn Sie wissen wollen, was Existentialismus ist, lesen Sie die Literatur“, so Tillich, „die Romane, die Theaterstücke, schauen Sie sich die moderne Kunst in den Galerien an, wo auch immer Sie sie antreffen, oder Bücher über sie und sehen Sie, wie hier in all diesen Dokumenten die menschliche Situation beschrieben wird als Situation der Gebrochenheit, der Gebrochenheit unseres essentiellen Gutseins, der Entfremdung von dem, was man essentiell ist, und darum von dem, was man sein soll“ (ebd.). In den Mythen, in der Kunst und Literatur erfahren wir, wie der Mensch sich selbst versteht. Mit dem Mythos vom „Fall“ hat sich Tillich vielfach in seinem Werk beschäftigt. Am bekanntesten sind seine Ausführungen im Teil II und III seiner fünfteiligen Systematic Theology. Davon soll im dritten Teil dieser Arbeit die Rede sein.Weniger bekannt sind seine kleine religionsphilosophische Abhandlung über den religiösen Weltbegriff, die sich in dem Fragment Religion und Weltpolitik findet, sowie eine ausführliche Behandlung des Sündenfallmythos im Rahmen seines Kollegs über Christology and human existence. Beide Texte Tillichs stammen aus den Jahren 1937/38. Sie bereiten seine späteren Ausführungen in der Systematic Theology vor, sie ergänzen sie, gehen aber auch andere Wege, die Tillich später verlassen hat. Welche Bedeutung in ihnen dem Mythos vom „Fall“ zukommt, soll im ersten und zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt werden.
1. Religion und Weltpolitik (1938) In seiner 1938 verfassten und erst 1967 publizierten religionsphilosophischen Abhandlung Religion und Weltpolitik ³ nimmt Tillich Mensch und Welt als Korrelation von Selbst und Welt in den Blick. Der religiöse Mythos aber, so Tillich, transzendiert diese Korrelation und zeigt einerseits, dass die Korrelation von Selbst und Welt nicht in sich selbst gegründet ist, sondern in einem Jenseits von Selbst und Welt wurzelt, und andererseits, „daß sie als Korrelation von dieser Wurzel getrennt ist“ (GW IX, 180). Der Mythos nennt die erste Beziehung „Schöpfung“, die zweite „Abfall“.⁴ Daher hat die Welt, so Tillich, „die Doppel-
Paul Tillich, Religion und Weltpolitik, in: Ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, Stuttgart 1967, 139 – 192. Vgl. auch Tillichs Brief an Alfred Fritz, in: Ders., Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, EW V, hrsg. v. Renate Albrecht/Margot Hahl, Stuttgart 1980, 290 – 294, hier: 290. Tillich verwendet hier den von Schelling bevorzugten Begriff „Abfall“. „Abfall“ kann stärker den Charakter einer schuldhaft-freien Tat ausdrücken als der Begriff „Fall“ (lapsus), kann also den Sinn von „Losreißung“ und „Widerspruch“ annehmen. Nahe liegt auch der von Kierkegaard
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bedeutung von Göttlich-Geschaffenem und Widergöttlich-Gefallenem“ (ebd.). Der Mythos des Abfalls transzendiert den in sich geschlossenen, humanistisch-immanenten Weltbegriff, „indem er die Universalität und Unvermeidlichkeit des Zerstörerischen im Welt-Haben aufzeigt“ (GW IX, 181). Der Abfall ist universal, „d. h. er ist nicht abhängig von jeweiligen Einzelentscheidungen des einzelnen individuellen Selbst“. Das individuelle Selbst befindet sich „schon jeweils in der Abfall-Situation, in einem Gegenüber, das, trotz der Verbundenheit, Trennung und Gegeneinander ist“ (ebd.). Die Freiheit des individuellen Selbst schließt somit die „Unvermeidlichkeit des Verfehlens“ ein. Dies ist der tragische Aspekt der Welt, der sich in der christlichen Lehre von der Erbsünde einen dogmatischen Ausdruck geschaffen hat, dessen „unzulänglich mythische Darstellung“ (ebd.) im Mythos von Adams Fall den wirklichen Sinn „unzugänglich“ gemacht habe. Der tragische Aspekt der Welt, so Tillich, „steht jenseits der Kategorien des gegenständlichtheoretischen Weltbegriffs“ (ebd.). Er ist also durch Kategorien wie „notwendig“ oder „willkürlich“ nicht zu fassen. Um den Übergang von der Unschuld zur Schuld zu kennzeichnen, wählt Tillich den neutraleren Begriff „Unvermeidlichkeit“. Er besagt, so Tillich, „daß der Fall Tat ist, also das Element von Freiheit in sich hat, das zur Tat gehört; und daß er zugleich Ereignis ist, also das Element von Notwendigkeit in sich hat, das zum Geschehen gehört“ (GW IX, 182). „Selbst und Welt sind am Fall beteiligt, aber als noch nicht geschiedene und noch nicht bestimmt gesetzte.“ (Ebd.) Ihre Scheidung und Setzung, folglich ihre Korrelation, sind erst eine Folge des Falles. In dieser Erkenntnis seien sich, so Tillich, Christentum, griechische und östliche Philosophie einig. Die Welt habe darum den erwähnten Doppelsinn von Göttlich-Geschaffenem und Dämonisch-Widergöttlichem. Dem stellen die Religionen das Überweltliche als „Norm und Ziel“ entgegen. Sie qualifizieren Selbst und Welt „als wurzelnd im Jenseits, als getrennt vom Jenseits, als aufgehoben im Jenseits“ (ebd.). Tillich betont aber den Gedanken der prophetischen Religion, dass das Überweltliche nicht die Negation, sondern die Erfüllung der Welt ist. Das ist der Sinn des Symbols „Reich Gottes“. Im Reich Gottes als der überweltlichen Einheit der Liebe sind Individualisierung, Trennung, Gegenüber und Gewalt aufgelöst, der tragische Aspekt der Welt ist überwunden. „Im Reich Gottes kommt die Geschichte zur Erfüllung.“ (Ebd.) Diese konzentrierte, Mythos und Metaphysik verbindende, von ihm ausdrücklich als Religions-Philosophie, nicht als Theologie ausgewiesene kleine Abhandlung zum religiösen Weltbegriff enthält vieles von dem, was er später in seiner Systematischen Theologie ausführlicher beschreiben wird: die Unterschei-
polemisch gegen Hegel eingesetzte Begriff des „Sprunges“. Allerdings benutzt Tillich im laufenden Text auch den Begriff „Fall“.
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dung von Essenz und Existenz, die Deutung des Mythos vom Fall in seiner transzendenten und in seiner immanenten Form, die Behauptung der Einheit von Freiheit und Schicksal und der Koinzidenz von Schöpfung und Fall. Der Mythos erhält die Funktion, auf eine Schicht jenseits des gegenständlichen Weltbegriffs und der Selbst-Welt-Korrelation zu verweisen, er „zeigt ein ursprüngliches Wissen um die Welt, ehe der theoretische Weltbegriff konzipiert wird, […] ein ursprüngliches Wissen um die Bedrohtheit der Welt, lange ehe die politische Reflexion Weltkatastrophen in Aussicht stellte“ (GW IX, 181).
2. „Christology and human existence“ (1937/38) Der viersemestrige Zyklus von Vorlesungen über Advanced problems in systematic theology, die Tillich erstmals in den vier Semestern vom Herbst 1936/1937 bis zum Frühjahr 1938 am Union Theological Seminary New York hielt, kann als die „Urfassung“ seiner späteren Systematic Theology von 1951– 1963 angesehen werden. Der 3. Teil dieses Zyklus (vom Herbstsemester 1937/38) war dem Thema Christology and human existence gewidmet.⁵ „Die Selbstinterpretation des Menschen ist“, so Tillich in dieser Vorlesung, „eine Funktion der menschlichen Existenz selbst“ (12)⁶. Die Mythologie nennt er „the basic and permanently most important expression of human existence“ (ebd.). Der Mensch fragt über das Gegebene hinaus nach Ursachen, nach einer „Ursache aller Ursachen“ (14), er deutet seine Welt als in eine wirklich reale und in eine scheinbar reale Welt gespaltene Welt. Die Mythen bringen diese Spaltung zum Ausdruck. Die Mythen der Unsterblichkeit, der Reinkarnation und der Seelenwanderung drücken die Situation des Menschen aus, die Situation der Endlichkeit und Sterblichkeit, aber auch die Fähigkeit, diese Situation zu „leben“, sie – wie Tillich formuliert – „als eine solche zu haben“ und auf diese Weise zu transzendieren, d. h. selbst „zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit zu sein“ (ebd.). So bewegt sich das menschliche Bewusstsein zwischen zwei Welten.
Das Manuskript der Vorlesung Advanced problems in systematic theology befindet sich im Tillich-Archiv der Andover-Harvard Theological Library in Cambridge, Mass., in Box 304. Teil I des Zyklus trägt den Titel „Revelation and Reason“, Teil II „God and the World“, Teil III „Christology and Human Existence“, Teil IV „The Kingdom of God and History“. Die im fortlaufenden Text angegebene Zahl ist die Seitenzahl des Manuskripts. Die Übersetzung ins Deutsche stammt v. Vf.
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2.1 Das essentielle Sein des Menschen Anthropologie und Christologie bilden in dieser Vorlesung eine Korrelation von Frage und Antwort. Im Rahmen dieser Korrelation versteht Tillich die Christologie als die Lehre vom Gottmenschen. Sie gibt uns Auskunft über die wahre Natur des Menschen. „Wenn Christus der Gottmensch ist, dann muß in ihm, in dieser Einheit von Gott und Mensch, des Menschen wahre Natur sichtbar sein.“ (23) Wenn man also wissen will, was der schöpfungsgemäße Mensch ist, der essentielle Mensch, wie Tillich ihn nennt, muss man wissen, was die Idee des Christus oder des Gottmenschen meint. Im Gottmenschen ist aber auch das Bild einer Norm gegeben, das sich gegen unsere aktuelle Existenz richtet. Es besteht also ein Unterschied zwischen der Essenz und der Existenz des Menschen. Tillich erinnert in diesem Zusammenhang an Kierkegaard, der auf diesen Unterschied in kraftvoller Weise aufmerksam gemacht habe. Das Wissen um diesen Unterschied finden wir aber überall dort, so Tillich, „wo der menschliche Geist durch die menschliche Situation, durch die Art seines Existierens in Bedrängnis gerät. Wir finden es in den ersten Kapiteln der Bibel, wo der Übergang vom essentiellen zum existentiellen Sein die ganze Natur in die Katastrophe stürzt.“ (25) Die Form, in der die Bibel dies beschreibt, ist der Mythos. Doch die Idee des Bruchs (split) zwischen Essenz und Existenz, so Tillich, ist „unabhängig“ von dieser Form.⁷ Das dritte Thema der Anthropologie betrifft die Möglichkeit des Menschen, den Bruch zwischen der Essenz und der Existenz zu überwinden. In der christlichen Theologie wird dies durch Begriffe wie Jüngstes Gericht, Vollendung und Versöhnung ausgedrückt. Doch ein Wissen über die transzendente Form der Existenz lehnt Tillich ab. „Transzendenz ist kein Stadium der Existenz.“ (29) Die Transzendenz ist keine Welt gegenständlicher Dinge, „it is the transcending meaning of our existence and this is all we can say about it“ (ebd.). Hatte Max Scheler in seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1927)⁸ drei Menschenbilder deutlich unterschieden: die jüdisch-christliche Tradition von Schöpfung, Paradies und Fall, die griechische Idee des Menschen, der vermöge seiner Vernunft und seines Logos eine Sonderstellung in der Welt einnimmt, und schließlich die These der modernen Naturwissenschaft, der Mensch sei das Endergebnis der Entwicklung der Lebewesen, und hatte er behauptet, dass
Paul Tillich, Advanced problems in systematic theology, 26: “The form in which this is described is mythological. The idea of this split is independent of this form: Essential and existential.” Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, hrsg. v. Maria Scheler, Neuauflage: München 1947.
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wir eine einheitliche Idee vom Menschen nicht besitzen⁹, so widerspricht ihm Tillich in seiner Vorlesung ausdrücklich. Die drei anthropologischen Ideen bilden in Tillichs Anthropologie keinen Widerspruch. Die biblische Idee der Gottebenbildlichkeit und die griechische Idee des mit Vernunft und Logos begabten Menschen seien „identisch“ [!].¹⁰ Der Mythos vom Sündenfall sei in der Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz impliziert. Die empirisch-naturwissenschaftliche Anthropologie widerspreche den beiden Ideen nicht, sie sei notwendig, um die Sonderstellung des Menschen in der Welt zu verstehen (32 f.). Im engen Anschluss an Scheler behandelt Tillich den Unterschied zwischen dem Menschen und den verschiedenen, im Menschen vereinten und überwundenen Schichten, also das, was er später „die vieldimensionale Einheit des Lebens“¹¹ nennen wird. Er beschreibt die Selbst-Welt-Korrelation als die den Menschen auszeichnende Struktur. Abweichend von Scheler behandelt er dann den „Urstand“ des Menschen, die Natur des Menschen im Stande der Essenz. Er unterscheidet dabei zwischen dem Ebenbild Gottes und dem Gottmenschen. Die Idee der Gottebenbildlichkeit gründet sich für Tillich auf die Vernunftnatur des Menschen. Der Mensch ist „in seiner Dynamik“ fähig, jede Grenze in Raum und Zeit zu überschreiten. Andererseits hat er die Eigenschaften der Kreatur. Tillich macht sie namhaft als Angst, Sorge, Sterblichkeit, Kontingenz und Unsicherheit (98). Sie gehören zu seiner essentiellen Natur. Aber er hat sie, weil er andererseits unendlich ist und weiß, dass dies alles im Widerspruch zur Unendlichkeit steht. Die Gottebenbildlichkeit impliziert die essentielle Unendlichkeit und die Frage nach dieser Unendlichkeit als Überwindung der essentiellen Endlichkeit. “Man is essentially the image of God, because he participates on the basis of his rational structure in the infinity of God although excluded from it by his finiteness. Or shortly: Man is the image of God because he is in his very essence the question for God.” (100 f.) Einen weiteren Hinweis auf unser essentielles Sein bietet der Mythos vom Gottmenschen. Tillich bringt ihn in einen religionsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Mythos des Urmenschen, des Menschen von oben, des geistlichen Adam und ähnlicher mythologischer Figuren. Texte wie z. B. Dan 7,13 f., Joh 1,11, Röm 5,12– 21, 1 Kor 15,21 f. und Phil 2,6 – 11 sieht er durch diesen Mythos beeinflusst. In Joh 8,58 verweist Christus auf seine Präexistenz. Tillich erkennt den Mythos vom Gottmenschen in Hegels Christologie wieder. Er zitiert Hegels Deutung des Gottmenschen, wonach die Einheit der göttlichen und menschlichen A.a.O., 9 f. Paul Tillich, Advanced problems in systematic theology, 32: “I think that there is no contradiction between them: The image and the reason theory are identical.” Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 3, Frankfurt (Main) 41984, 21– 42.
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Natur dem Menschen darin bewusst geworden sei, „daß das Anderssein oder […] die Endlichkeit, Schwäche, Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“ mit dieser Einheit „nicht unvereinbar sei“ (104)¹². Das Anderssein tue der Einheit, die Gott ist, keinen Eintrag. „Damit ist gesetzt“, so zitiert er Hegel, „daß die göttliche und menschliche Natur nicht an sich verschieden ist: Gott in menschlicher Gestalt“.¹³ Für Hegel ist, so Tillich, die Idee des Gottmenschen „eine notwendige Idee, in der die ganze Religionsgeschichte ihren Gipfel erreicht und die die Voraussetzung und letzte Konsequenz der Philosophie selbst darstellt“ (105).¹⁴ Bei Plato sieht Tillich das Gleiche ausgesagt: “Man is in immediate unity with the world of true essence.” (Ebd.) Der Mensch gehört zur himmlischen Sphäre, aus der er dann herausfällt und in einzelne Körper verbannt wird. Auch Kant setze die Idee eines essentiellen, transzendenten Menschen voraus. Die Perversion des menschlichen Willens von der Vernunft zur Unvernunft sei für ihn Ausdruck einer intelligiblen Tat, eines transzendenten Falls. Unter dem Einfluss Platos, Kants und Böhmes habe Schelling diese Lehre mythologisch-metaphysisch ausgebaut. Der essentielle Mensch ist, so fasst Tillich Schellings System der Freiheit im Anschluss an dessen Freiheitsschrift zusammen, die Aktualisierung Gottes als Kreatur. So gesehen, ist der essentielle Mensch der Gottmensch. Als Aktualisierung Gottes ist er die Antwort Gottes auf die Frage des Menschen nach ihm. Als Frage nach Gott ist er von Gott getrennt, d. h. Kreatur, endlich, Mensch (109). Die Frage nach Gott wäre nicht möglich ohne die Antwort, die in unserer Essenz beschlossen ist. Und umgekehrt gilt: Die Antwort wäre keine Antwort, wenn es die Frage nicht gäbe, nämlich die Frage nach der Verwirklichung oder Erscheinung Gottes. Die Idee des Gottmenschen symbolisiert somit die Einheit der Frage nach Gott und der Antwort Gottes auf diese Frage. Das Frage-Antwort-Schema geht dabei auf Tillich selbst zurück. Der essentielle Mensch ist Gottmensch und zugleich Ebenbild Gottes. Durch den Fall verliert er den Charakter als Gottmensch, nicht aber den als Ebenbild Gottes. Als Mensch ist er Gottes Ebenbild und hat die Möglichkeit, nach Gott zu fragen. Diese Möglichkeit behält er auch nach dem Fall und dem Verlust seines Gottmensch-Charakters. Der Gottmensch-Charakter ist aber die Wurzel des Ebenbild-Charakters – wie auch, so Tillich, die Antwort die Voraussetzung der Frage ist. „Die Antwort kann verloren gehen, nicht essentiell, aber existentiell,
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Dritter Teil. Die absolute Religion, in: Ders., Werke in 20 Bänden, hrsg. v. Karl Markus Michel/Eva Moldenhauer, Bd. 17: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Frankfurt (Main) 1986 (= stw 617) , 187– 344, hier: 278. Ebd. Paul Tillich, Advanced problems in systematic theology, 104 f.: “The idea of God-Man is a necessary idea in which the whole history of religion culminates and which is the presupposition and final consequence of philosophy itself.”
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obwohl sie im Gottebenbild-Charakter, der niemals verloren gehen kann, transparent bleibt.“ (110) Die Zweinaturenlehre wird auf den essentiellen Menschen übertragen, d. h. der essentielle Mensch ist göttlich und menschlich. Es ist unmöglich, so Tillich, „den Menschen aufzuteilen und zu sagen: Dieser Teil ist göttlich, und dieser Teil ist menschlich. Alles im Menschen partizipiert an seiner Unendlichkeit und an seiner Endlichkeit, an seinem Antwort-Sein und an seinem Frage-Sein, an seinem Gottmensch-Sein und an seinem Ebenbild-Gottes-Sein.“ (111) Entsprechend gilt für das religiöse Verhältnis: „Sofern der essentielle Mensch Gottes Ebenbild oder Frage nach Gott ist, hat er Religion. Sie bleibt auch im Stande der Existenz erhalten, wie auch die Gottebenbildlichkeit. Sofern der essentielle Mensch Gottmensch ist, hat er keine Religion, aber er ist in Gott. Er hat Gott nicht sich gegenüber. Da im essentiellen Menschen beide Elemente ungetrennt sind, hat er Religion und gleichzeitig keine Religion.“ (110)
Tillich bringt die Idee des Gottmenschen in Verbindung mit der Mystik der Ostkirche, in der die Traditionen der Alten Kirche sich lebendig erhalten haben. In Nikolai Berdiajew sieht er den philosophischen Repräsentanten dieser Idee. Er zitiert ihn ausführlich, so z. B. die Aussage, das Bewusstsein des Menschen habe aufgehört, „kosmisch zu sein“, und sei individualistisch geworden. Der Kosmos habe sich vom gefallenen Menschen gelöst und sei zur äußeren, ihn knechtenden Natur geworden.¹⁵ Die Nähe zur Philosophie Böhmes und Schellings ist unverkennbar.¹⁶
2.2 Versuchung als subjektive Möglichkeit des Falls Im Anschluss an Schelling definiert Tillich den essentiellen Menschen als Einheit zweier trennbarer Elemente, der Partizipation am göttlichen Zentrum und der Zugehörigkeit zur Peripherie (122). Der Mensch hat im Stande der Essenz nicht nur die mit der Notwendigkeit identische materiale Freiheit, sondern auch die formale Freiheit der Entscheidung, mit der er seiner materialen Freiheit widersprechen kann. Die materiale Freiheit bedarf der Realisierung durch Selbsttätigkeit, sie ist
Vgl. Nikolai Berdiajew, Die Philosophie des freien Geistes. Problematik und Apologie des Christentums, Tübingen 1930, 223.233.234. Tillich hat die Idee des Gottmenschen in seiner Systematic Theology vollständig aufgegeben, ebenso seine ausführlichen Erörterungen über den essentiellen Menschen. In der Systematic Theology hat er sich weniger auf die Korrelation von Christologie und Anthropologie (allgemein) und stärker auf das Thema „Die Existenz und der Christus“ konzentriert.
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nur dann Freiheit, wenn sie zugleich auch formale Freiheit ist. Damit ist die Versuchung als die subjektive Möglichkeit des Falls gesetzt. Eine materiale Freiheit ohne formale Entscheidungsfreiheit wäre nicht menschliche Freiheit. Tillich definiert Versuchung als die Möglichkeit, „daß die formale Freiheit oder das Selbst […] unabhängig wird“ (123). Den „Ernst dieser Möglichkeit“ nennt er „die Versuchung“. Wenn aus dem „Ernst der Möglichkeit“ Wirklichkeit wird, wird die Versuchung zum „Fall“. Jeder Versuch, den Übergang von der Essenz zur Existenz zu beschreiben, muss – so Tillich – folgende drei Gesichtspunkte beachten: (1.) Der Übergang darf nicht den Charakter einer Notwendigkeit haben, weder einer logischen Notwendigkeit, wie sie z. B. von Leibniz und Hegel vertreten wird, noch einer psychologischen Notwendigkeit, wie sie Schleiermacher oder auch die Evolutionstheorie vertreten. In all diesen Fällen wird die Existenz, so Tillich, von der Essenz verschlungen, sofern die Existenz zur essentiellen Notwendigkeit wird. Die Sünde aber ist „anti-essentiell“ (124). „Sie kann nicht Notwendigkeit sein. Sie muß ein Sprung über einen Abgrund sein.“¹⁷ Sie kann aber auch nicht reiner Zufall sein. Zufall ist etwas, was das Wesen des Betroffenen nicht verändert. Sünde aber verändert das Wesen des Menschen. Die Kategorien Zufall und Notwendigkeit können hier also keine Anwendung finden. (2.) Es gibt aber eine Möglichkeit, ohne die Kategorien Zufall und Notwendigkeit über den Übergang von der Essenz zur Existenz zu sprechen: das Erzählen von Mythen. “In mythological (and also epical and historical) tales the things just happen because the persons who act want to do so.” (124) Das Handeln der Handelnden ist kein zufälliges, sondern ein „in der Totalität ihres Charakters“ begründetes Handeln. Es ist aber auch kein notwendiges Handeln, denn es ist ein in ihrer Entscheidung und in ihrem Willen begründetes Handeln. Das macht die mythologischen Erzählungen so interessant und spannungsvoll. (3.) Tillichs These lautet nun: “Therefore the transition from essence to existence and the return from existence to essence can only be told as a myth.” (125) Der Sprung lässt sich nur als Mythos erzählen. Dieser Einsicht folgt, so Tillich, auch Plato, wenn er den Mythos vom Fall der Seelen, ihrer Wanderung, ihrem ihnen drohenden Gericht im Jenseits, ihrer Rückkehr, der durch Sorge bestimmten Situation des Menschen, der Erschaffung der Welt durch den Demiurgen usw. erzählt. Dies gilt auch von der stoischen Lehre von den vier Weltperioden, vom Weltbrand und der Neuerschaffung der Welt sowie von dem theogonischen Mythos Jakob Böhmes. Es gilt schließlich auch von Schellings Unterscheidung
Paul Tillich, Advanced problems in systematic theology, 124: “Therefore it cannot be necessity. It must be a leap over an abyss.”
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zwischen der negativen und der positiven Philosophie. Wenn Aristoteles, Plotin und Hegel versuchen, den Mythos in ihrem Denken zu vermeiden und mit rationalen Begriffen zu arbeiten, so steht auch hinter ihren Begriffen (Bewegung, Emanation, Selbstentfremdung der absoluten Idee) in Wahrheit ein Sprung, „the leap told as a myth“ (126). „Wir können darum“, so Tillich, „den Mythos nicht vermeiden, wenn wir den Übergang von der Essenz zur Existenz beschreiben wollen“.¹⁸ Tillich will aber den offensichtlichen Willkür-Charakter des Mythos ausschalten durch „eine anthropologische Beschreibung der essentiellen Möglichkeit, die zum Fall führt“.¹⁹ Er stellt drei Begriffe vor, die den Übergang verständlich machen sollen: die Angst, die Selbstheit, das Fragen.
2.3 Die Angst Das Problem, das sich Kierkegaard in seiner Abhandlung Der Begriff der Angst stellt, besteht für Tillich darin, den Übergang von der Unschuld zur Sünde zu beschreiben, nicht aber zu erklären; denn dieser Übergang ist ein „Sprung“. Es geht also Kierkegaard darum, „to find the real potentiality for his jump in the nature of innocence“ (127). Tillich referiert im Wesentlichen die §§ 1 bis 6 des 1. Kapitels der Abhandlung. Hier bestimmt Kierkegaard den Zustand des Menschen vor seiner eigentlichen Menschwerdung als Unschuld und die Unschuld als Unwissenheit über gut und böse. Im Stande der Unschuld ist der Mensch in Einheit mit sich selbst. Der Geist ist noch potentiell, träumender Geist. In diesem Zustand ist Friede und Ruhe, gleichzeitig aber noch etwas anderes: nämlich die Angst als Bestimmung des träumenden Geistes. Die Angst erweist sich als zweideutig. Tillich zitiert Kierkegaard: „Angst ist eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie“, sie ist „eine süße Angst“, „eine wunderliche Angst“ (128).²⁰ Diese Zweideutigkeit der Angst, so interpretiert Tillich Kierkegaard, ermöglicht „eine Beschreibung des möglichen Falls“ (128 f.). Die Beobachtung Kierkegaards, dass auch Kinder Angst haben, führt Tillich zu der These:
A.a.O., 126: “Therefore we cannot avoid the myth in describing the transition from essence to existence.” Ebd.: “But we can take away the character of arbitrariness from it in preparing it by an anthropological description of the essential possibility which leads to the fall.“ Vgl. Søren Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. 5: Der Begriff der Angst, übers. v. Christoph Schrempf, Jena 1912, 36 f. Diese Übersetzung hat Tillich vorgelegen.
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“The more potential ‘Geist’, the more ‘Angst’. Just the ambiguity of Angst makes it possible to give a description of the potential fall. Man is ‘Geist’, Geist is the potentiality of knowing what good and evil is. But this knowledge which implies all knowledge presupposes the loss of innocence.” (129)
Tillich sieht im Verlust der träumenden Unschuld bzw. in der Aktualisierung des Geistes die Angst des Geistes vor sich selbst begründet. In dieser Situation wird die Unschuld konfrontiert mit den Worten des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und der Androhung des Todes. „Dieses Wort“, so Tillich im Anschluss an Kierkegaard, „weckt den Geist, indem es ihm seine Möglichkeit zeigt und so seine Angst vertieft“ (ebd.). Das Verbot, das die Möglichkeit einschränken soll, wird zur Wand, gegen die die Unschuld anrennt und durch die sie sich ihrer selbst bewusst wird. Adam versteht dieses Verbot nicht, er ist noch im Stand der Unschuld und weiß nicht, was gut und böse bedeuten. Aber genau dieses sein Nichtverstehen erweckt das Gefühl für die Möglichkeiten, die seine Möglichkeiten sind, und die Angst vor ihnen. Damit ist die Angst (im Unterschied zur Furcht) definiert als „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit“.²¹ Weiter kann, so Tillich, Kierkegaard zitierend, die Psychologie nicht kommen. Sie kann den „qualitativen Sprung“ nicht erklären. Er kann überhaupt nicht erklärt werden, wie Tillich hinzufügt. Dennoch hält Tillich daran fest, dass es eines Vermittlungsbegriffs (130, mediating term) bedarf zwischen Unschuld und Sünde, Essenz und Existenz. Eine solche „Mittelbestimmung“ ist für Kierkegaard die Angst, „welche den qualitativen Sprung ebenso wenig erklärt, als sie ihn ethisch rechtfertigt. Angst ist nicht eine Bestimmung der Notwendigkeit, aber auch nicht eine solche der Freiheit.“²² Tillich zitiert Kierkegaard: „Wie die Sünde in die Welt gekommen ist, versteht jeder Mensch einzig und allein von sich aus; will er es von einem anderen lernen, so hat er es eo ipso missverstanden.“²³ Wie aber ist dann zu verstehen, dass die Angst die gesuchte Zwischenbestimmung zwischen Unschuld und Schuld sein soll? Tillich erläutert dies nicht. Kierkegaard selbst hatte zwischen der Angst (mit ihrer Zweideutigkeit) und dem qualitativen Sprung unterschieden: „Der qualitative Sprung hebt sich scharf von der Zweideutigkeit des vorausgehenden Zustandes ab. Denn wer durch Angst schuldig wird, ist ja unschuldig: es war ja nicht er selbst, sondern die Angst, eine fremde Macht, die ihn ergriff, eine Macht, die er nicht liebte,vor der er
A.a.O., 36. A.a.O., 44. A.a.O., 45.
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sich vielmehr abängstigte; und doch ist er schuldig: er versank in der Angst, die er doch liebte, während er sie fürchtete. Es gibt in der Welt nichts Zweideutigeres als dies […].“²⁴
Damit ist der „qualitative Sprung“ allerdings,wie Kierkegaard und Tillich betonen, nicht erklärt.
2.4 Die Selbstheit Der zweite, von Tillich vorgestellte Begriff, der den Übergang von der Essenz zur Existenz beschreiben soll, ist Schellings Begriff der Selbstheit, den er in seiner Freiheitsschrift mit dem Eigenwillen identifiziert. Tillich bescheinigt dieser Beschreibung des Übergangs, dass sie, verglichen mit Kierkegaards Begriff Angst, „metaphysischer“ sei, dass aber diese Art von Metaphysik in einer psychologischen Selbstintuition gründe (131). In seinem System der Freiheit begründet Schelling die Möglichkeit des Bösen mit der Zertrennlichkeit der beiden Seinsprinzipien. Im göttlichen Geist ist das dunkle Seinsprinzip des Grundes dem hellen Seinsprinzip, dem Licht des Verstandes, untergeordnet. Diese Unterordnung ist unauflöslich, im menschlichen Geist aber ist sie zertrennlich. Der Eigenwille des Menschen, der eigentlich ein bloßes Werkzeug der Herrschaft des Universalwillens sein soll, trennt sich vom Universalwillen und erhebt sich über ihn. „Dadurch also entsteht im Willen des Menschen eine Trennung der geistig gewordenen Selbstheit […] von dem Licht, d. h. eine Auflösung der in Gott unauflöslichen Principien.“²⁵ Tillich zitiert in seiner Vorlesung ausführlich Schelling, u. a. diese Stelle: „Der Eigenwille kann streben, das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Particularwille zu seyn, das, was er nur ist, inwiefern er im Centro bleibt […], auch in der Peripherie oder als Geschöpf zu seyn […]. Dadurch also entsteht im Willen des Menschen eine Trennung der geistig gewordenen Selbstheit […] von dem Licht […].“ (133)²⁶
Schelling sieht den Willen des Menschen als „ein Band von lebendigen Kräften“. Solange er in seiner Einheit mit dem Universalwillen bleibt, befinden sich seine
A.a.O., 37. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 1, Bd. 7, Stuttgart/Augsburg 1860, 331– 416, hier: 365. A.a.O., 365.
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Kräfte „in göttlichem Maß und Gleichgewicht“.Verlässt aber der Eigenwille seinen Platz im Zentrum, löst sich das Band seiner Kräfte. Nun herrscht der bloße Eigenwille, „der die Kräfte nicht mehr unter sich […] vereinigen kann, und der daher streben muß, aus den voneinander gewichenen Kräften, dem empörten Heer der Begierden und Lüste […] ein eignes und absonderliches Leben zu formieren oder zusammenzusetzen […].“²⁷ Dies ist insofern möglich, als selbst im Bösen das erste Band in diesem Nexus, der Grund, noch fortbesteht. So entsteht ein eigenes, aber ein falsches Leben, „ein Leben der Lüge, ein Gewächs der Unruhe und der Verderbniß“.²⁸ Tillich findet in dieser Beschreibung vieles von dem wieder, was die moderne Psychologie erkannt hat. Für Schelling wie für Kierkegaard ist, so Tillich, der Sündenfall eine „verständliche Möglichkeit“ (!), keine Notwendigkeit (135). Es ist Gottes Wille, so zitiert Tillich Schelling, „alles zu universalisiren, zur Einheit mit dem Licht zu erheben, oder darin zu erhalten“, der Wille des Grundes aber ist es, „alles zu particularisieren oder creatürlich zu machen“.²⁹ Er reagiere darum notwendig gegen die Freiheit, die über die Kreatur sich zu erheben strebt. Dieses Gegeneinander von Gottes Wille und Wille des Grundes widerspricht der Vorstellung paradiesischer Harmonie. Der Grund erregt den Eigenwillen des Menschen, damit im Gegensatz zu ihm der Wille der Liebe sich durchsetze. Der Wille des Grundes will die Ungleichheit, „damit die Gleichheit sich und ihm selbst empfindlich werde“. „[…] [Er] reagiert […] nothwendig gegen die Freiheit als das Übercreatürliche und erweckt in ihr die Lust zum Creatürlichen, wie den, welchen auf einem hohen und jähen Gipfel Schwindel erfaßt, gleichsam eine geheime Stimme zu rufen scheint, daß er herabstürze […]. Schon an sich scheint die Verbindung des allgemeinen Willens mit einem besondern Willen im Menschen ein Widerspruch, dessen Vereinigung schwer, wenn nicht unmöglich ist. Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen worden […].“³⁰
An die Vertreibung aus dem Paradies erinnern die Worte Schellings, die Tillich zitiert: „Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen worden.“³¹ Gleichzeitig aber gilt – und Tillich zitiert auch diese Worte –, dass das Böse nur „im innersten Willen des eignen Herzens“ entsteht und „nie ohne eigne That“³² vollbracht werden kann. Die Erregung des Grundes er-
A.a.O., 365 f. A.a.O., 366. A.a.O., 381. Ebd. Ebd. A.a.O., 399.
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wecke zwar die Lust zum Kreatürlichen und den eignen Willen, aber „die erregte Selbstheit an sich“ sei nicht das Böse, sondern nur sofern sie sich vom Licht und dem Universalwillen losgerissen hat. „Die aktivirte Selbstheit ist nothwendig zur Schärfe des Lebens; ohne sie wäre völliger Tod, ein Einschlummern des Guten; denn wo nicht Kampf ist, da ist nicht Leben.“ (136)³³ Nur die Erweckung des Lebens ist der Wille des Grundes, nicht das Böse. Schließe der Wille des Menschen die aktivierte Selbstheit mit der Liebe ein und ordne sie dem Licht als dem Universalwillen unter, so entstehe daraus, erst durch die Selbstheit, die Güte. „Ein Gutes ohne wirksame Selbstheit ist selbst ein unwirksames Gutes.“ So gilt auch hier: „[…] [W]o nicht Kampf ist, da ist nicht Leben.“³⁴ Doch dem setzt Tillich, Schelling zitierend, entgegen: „Dieser allgemeinen Nothwendigkeit ohnerachtet bleibt das Böse immer die eigne Wahl des Menschen […].“ (Ebd.)³⁵ Der Grund kann das Böse als solches nicht schaffen; „jede Kreatur fällt durch eigne Schuld“³⁶. Die Wahl ist die Wahl eines jeden einzelnen. Weil aber alle einzelnen dieselbe Wahl treffen, so Tillichs Argument, muss es eine allgemeine Notwendigkeit geben, aber eine Notwendigkeit, die Freiheit und Schuld ist. Die „innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende Nothwendigkeit“³⁷ ist selber die Freiheit, „das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne That“³⁸. Um dies verständlich zu machen greife Schelling wie Plato und Kant, so Tillich, auf den alten Mythos von einem transzendenten Sündenfall zurück. Er zitiert Schelling: „Die That, wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt ist, gehört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an: sie geht dem Leben auch nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit […] hindurch als eine der Natur nach ewige That.“ (Ebd.)³⁹
2.5 Die (verbotene) Frage Beide Beschreibungen des Übergangs von der Essenz zur Existenz stehen nur in einer losen Verbindung mit dem Sündenfallmythos. Tillich lehnt beide Interpretationen nicht ab, ergänzt sie aber durch eine dritte, eigene Deutung, deren symbolisches Material er, wie er betont, dem Sündenfallmythos entnimmt. Er
A.a.O., 399 f. A.a.O., 400. A.a.O., 381 f.. A.a.O., 382. A.a.O., 383. A.a.O., 385. Ebd. (Tillich: „an act eternal“).
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greift dabei auf eine Idee zurück, die er bereits in seiner Frankfurter Vorlesung Philosophie der Religion im Jahre 1930 entwickelt hatte.⁴⁰ Seine Interpretation setzt ein bei der Unbedingtheit des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Kierkegaard hatte das Unvollkommene des Mythos, wie einer darauf kommen solle, Adam etwas zu befehlen, was dieser nicht verstehen könne, weil er der Sprache noch nicht mächtig war, beseitigt, indem er den äußerlich Redenden, die Schlange, als innerlich Redenden interpretierte. Es war also Adam selbst, der da redete, und er redete mit sich selbst. Für Tillich ist mit dieser Deutung das Verbot als Verbot nicht hinreichend erfasst. Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, versteht Tillich als Verbot zu fragen. Erkenntnis des Guten und Bösen, so behauptet er, meine im Hebräischen ein Wissen um das, was nützlich und schädlich ist. Die Frage nach dem, was nützlich und schädlich ist, sei nicht in unserem heutigen rational-technischen Sinne zu verstehen. Gemeint ist die Begegnung mit dem Tabu-Charakter der Dinge, ihrer inneren Macht, ihrem göttlichen oder dämonischen Charakter (138). Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, ist das Verbot zu fragen. Tillich bringt es in Verbindung mit dem, was er zuvor über die essentielle Situation des Menschen ausgeführt hatte, dass der Mensch nämlich wegen seiner Position zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen essentiell „eine Frage“ sei. Diese essentielle Situation, die Potentialität, werde nun aktualisiert dadurch, dass der Mensch wirklich fragt. “Asking therefore is the actualization of his essential situation.” (139) In einer anthropologischen Analyse erläutert Tillich, was er unter der Frage des Menschen versteht. Das Fragen unterbricht die unmittelbare Reaktion. Der Mensch hat im Unterschied zu anderen Lebewesen die Fähigkeit, eine unmittelbare Reaktion zu unterlassen, innezuhalten und die gesamte Situation, alle Dinge zu bedenken, sich zu besinnen und dann so oder so oder ganz anders zu handeln. Wir nennen diese Art, besonnen und überlegt zu reagieren, seine Freiheit. Woher kommt nun diese Unterbrechung, die den Menschen zum Menschen macht? Tillich verweist auf den biblischen Mythos, in dem vom Verbot eines unmittelbaren Zugreifens, in diesem besonderen Fall eines Zugreifens auf die Erkenntnis oder einem Verbot des Fragens die Rede ist. Auf alles darf unmittelbar zugegriffen werden, alle Früchte dürfen begehrt werden. „Die Frucht der Erkenntnis aber ist verboten, und da die Frucht der Erkenntnis die Frucht des Fragens ist, ist das Fragen nach gut und böse verboten.“ (140) Paul Tillich, Philosophie der Religion (Fragment), in: Ders., Frankfurter Vorlesungen (1930 – 1933), EW XVIII, hrsg. u. m. einer historischen Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/Boston 2013, 1– 16, hier: 3 – 7; vgl. auch Ders., Das Fragen und die Fragwürdigkeit. Gedanken zur theologischen Anthropologie (1930/1), in: Frankfurter Vorlesungen (1930 – 1933), EW XVIII, 690 – 696.
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Eine Unterbrechung durch einen bloßen Schock würde, so Tillich, für den unmittelbaren Zugriff nur eine aufschiebende Wirkung haben, sie würde das unmittelbare Handeln nicht verhindern. Nur ein „absolutes Verbot“ kann den unmittelbaren Zugriff verhindern. Der Mensch, so Tillichs These, ist das Wesen, das ein solches ihm geltendes absolutes Verbot, vermittelt über die Sprache, erhalten hat, das Verbot nämlich, nach gut und böse zu fragen, und gerade dieses Verbot gibt ihm die Möglichkeit zu fragen. Das ist so zu verstehen: Die Schlange symbolisiert die in der gesamten natürlichen Entwicklung vorhandene Tendenz, zu einem vollständigen Selbstbewusstsein zu kommen. Nur im Menschen und nur durch den Menschen aber geschieht ein solcher Durchbruch. Die Tendenz zu fragen und das Verbot zu fragen sind im Menschen potentiell vorhanden, und nur durch ihn können die Tendenz zu fragen und das Verbot zu fragen konkret wirklich werden. Erst durch das Verbot ist das Fragen möglich. „Es muß also eine Fragetendenz bestehen“, so Tillich, „die durch das Verbot zur aktuellen Frage wird“⁴¹. „Diese Tendenz ist das in der Schlange symbolisierte Listprinzip der Natur, d. h. die objektive in der Natur vorhandene Tendenz, zur Frage und damit zum Wissen von nützlich und schädlich zu gelangen. Aber zur Verwirklichung bedarf die Natur des Menschen. In ihm stößt die Tendenz so an die Oberfläche, daß der Bruch bemerkbar wird und mit ihm das Verbot möglich wird. Erst durch die Frage der Schlange wird das Verbot als Verbot aktuell; es wird ausgesprochen, kann aber damit selbst in Frage gestellt werden. Umgekehrt kann der Bruch erst eintreten in dem Augenblick, wo das Verbot ergangen ist. Wir haben also ein Bild vom Menschen, in dem er auf der einen Seite die objektive Tendenz vernimmt zu fragen, auf der anderen Seite die objektive Tendenz der Natur auf Verwirklichung drängt und gerade das Verbot zum Anlaß nimmt zu fragen. Also potentielles Fragen oder Drängen zur Frage,Verbot, aktuelle Frage.“ (EW XVIII, 5)
Das Verbot ist „nicht unmittelbar“ im Menschen fundiert, „obgleich es ihn zum Menschen macht“ (ebd.). Es geht von Gott aus. Das bedeutet: Der Fragende hat ein Unbedingtes sich gegenüber, das zugleich ein Verbietendes ist. „Dieses Verbietende ist der Grund dafür, daß er [sc. der Mensch] nicht versinkt im Lebensprozeß. Der Mensch ist Mensch, d. h. einer, der fragen kann, dadurch daß ihm das Verbot mit Unbedingtheit gegenübersteht. […] Das Unbedingte erscheint primär als Verbot.Verbot heißt Brechung des unmittelbaren Zugriffs. Die Brechung des unmittelbaren Zugriffs ist aber die Voraussetzung des Fragens. Das Frage-Verbot ist die Voraussetzung des Fragens.“ (Ebd.)
Die latente Frage wird im Menschen manifest und aktuell durch die Frage der Schlange: „Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“ (Gen 3,1) Damit wird das Verbot angezweifelt. Der Prozess des Fragens
So in seiner Vorlesung Philosophie der Religion (Fragment) von 1930, EW XVIII, 4 f.
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beginnt. Am Ende spricht Gott: „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“ Die schöpferische Möglichkeit des Menschen ist verwirklicht. „Dieses ist die Möglichkeit des Seienden in seiner höchsten Potenz, daß es fragen und Antworten erhalten kann.“ (EW XVIII, 6) Das Frage-Verbot bleibt bestehen. Würde es nicht mehr gelten, würde der Mensch in den Lebensprozess zurücksinken. Der Mensch kommt zu seinem dreifachen Schicksal: dem Geschlechts-Schicksal, dem Arbeits- und KampfSchicksal und dem Todes-Schicksal. Auch dies wird im Mythos dem Menschen, der fragt, angedroht. “Knowledge and fate and therefore asking and fate, prohibition and fate belong to each other.” (142) Das ist die Situation des Menschen nach dem Fall. Das wichtigste Element in dieser Existentialanalyse ist für Tillich das Verbot. Es verbietet das Fragen, und es ermöglicht das Fragen. Eben dies hat auch Paulus gemeint, so Tillich, wenn er in Röm 7,7– 25 vom Gesetz spricht, das die Sünde verbietet und überaus sündig macht, sie also aus dem Stadium der Möglichkeit in das der Wirklichkeit überführt (143).
3. Systematic Theology (1951 – 1963) Tillich hat in seinem opus magnum, seiner Systematic Theology von 1951– 1963⁴², den Mythos vom Fall an zwei Stellen behandelt: zunächst im Rahmen des Teils II seines Systems („Sein und Gott“) in einem kleinen Abschnitt über „Gottes ursprüngliches Schaffen“⁴³, sodann, ausführlicher, im Rahmen des Teils III seines Systems („Die Existenz und der Christus“) in dem Abschnitt mit der Überschrift „Der Übergang von der Essenz zur Existenz und das Symbol des ‚Falls‘“⁴⁴.
3.1 „Das Geheimnis des Seins jenseits von Essenz und Existenz“ Wir wenden uns unmittelbar dem in Teil II seines Systems behandelten Thema „Gottes ursprüngliches Schaffen“ zu. Die Pointe von Tillichs Ausführungen liegt in der These, dass der Unterscheidung in Essenz und Existenz der „schöpferische
Paul Tillich, Systematic Theology, Bd. 1, Chicago 1951 (im Folgenden abgekürzt als STE I), deutsch: Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 21956. Systematic Theology, Bd. 2, Chicago 1957 (= STE II), deutsch: Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 1958. STE I, 253 – 261 = ST I, 291– 301. STE II, 29 – 44 = ST II, 35 – 52.
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Prozeß des göttlichen Lebens“ (ST I, 294) vorausgeht. In der „schöpferischen Schau Gottes“ (gen. subjectivus!) ist alles Individuelle als Ganzes gegenwärtig. „Das Geheimnis des Seins jenseits von Essenz und Existenz ist verborgen im Geheimnis der Schöpfermacht göttlichen Lebens.“ (Ebd.) Aber es gibt nicht nur ein „innerhalb“, sondern auch ein „außerhalb“ des schöpferischen göttlichen Grundes. D.h.: „Der Mensch existiert, und seine Existenz ist von seiner Essenz unterschieden.“ (Ebd.) Der Mensch ist also „nicht festgehalten“ im göttlichen Grund, in dem er gegründet ist. Er hat den Grund verlassen, um zu verwirklichen, was er essentiell ist, um „endliche Freiheit“ zu sein. Das Geschöpf verwirklicht seine Freiheit also nur „außerhalb“ des schöpferischen Grundes des göttlichen Lebens. „Innerhalb“ und „außerhalb“ sind räumliche Symbole; sie bedeuten den Stand der Essenz und der Existenz. „Außerhalb des göttlichen Lebens sein bedeutet: in aktualisierter Freiheit stehen, in einer Existenz, die nicht mehr mit der Essenz eins ist.“ (Ebd.) Wir begegnen hier der viel diskutierten und umstrittenen These Tillichs: „Vollkommen entfaltete Geschöpflichkeit ist gefallene Geschöpflichkeit.“ (Ebd.) Diejenigen Theologen, die nicht bereit sind, so Tillich, die biblische Schöpfungsgeschichte und die Geschichte vom Sündenfall als Berichte über wirkliche Ereignisse aufzufassen, sollten die Konsequenz ziehen, das Mysterium von Schöpfung und Fall „dorthin [zu] verlegen, wo es hingehört – in die Einheit von Freiheit und Schicksal im Grunde des Seins“ (ST I, 295). Schöpfung und Sündenfall fallen also zusammen – „im Grunde des Seins“. Tillich erinnert in diesem Zusammenhang an die Lehre der supralapsarischen Calvinisten von einem ewigen Dekret Gottes, durch das Adam gefallen ist. Die traditionelle Auffassung, Adam sei als Vertreter der essentiellen Natur des Menschen im Besitz aller Vollkommenheiten gewesen, die sonst Christus oder dem Menschen in seiner eschatologischen Vollendung zukommen, lehnt er ab. Eine solche Auffassung mache den Fall vollkommen unverständlich. Die neuere Theologie sei darum im Recht, wenn sie Adam „eine Art träumender Unschuld, einen Zustand der Kindheit vor Kampf und Entscheidung“ (ST I, 299) zuschreibe. Eine solche Interpretation mache den Fall verständlich und „existentiell unvermeidlich“. Der Begriff der „träumenden Unschuld“ enthalte mehr symbolische Wahrheit als das „Lob Adams“ vor dem Fall. Das kreatürliche Gutsein des Menschen, sein „Urstand“, besteht, so Tillich, darin, „daß er die Möglichkeit hat, sich selbst zu aktualisieren und dadurch selbständig zu werden, auch gegenüber Gott“ (ST I, 295). Im englischen Text formuliert Tillich schärfer: “The goodness of man’s created nature is that he is given the possibility and necessity of actualizing himself and of becoming independent by his self-actualization, in spite of the estrangement unavoidably connected with it.” (STE I, 259, Herv. E.S.)
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3.2 Reinhold Niebuhrs Kritik Reinhold Niebuhr hat in seiner Kritik an Tillichs Deutung des Falls⁴⁵ auf die beiden Seiten dieses Sündenbegriffs, die – wie er sagt – ontologisch-spekulative und die geschichtlich-biblische, hingewiesen und behauptet, dass die ontologische Seite die geschichtliche Seite „überlagert“ („outweighs“⁴⁶). Wie sehr die Ontologie das Geschichtliche überwältigt, sieht man, so R. Niebuhr, in Tillichs Weigerung, den Mythos von Adams Unschuld vor seinem Fall anzuerkennen.⁴⁷ Tillichs Symbol des schöpferischen Grundes des göttlichen Lebens jenseits von Essenz und Existenz lehnt er ebenso ab wie den Mythos von einem transzendenten Fall. Er zitiert aus den Propositions, die er an die Hörer seiner Vorlesung verteilt hatte: “The myth of ‘the transcendent fall’ describes the transition (from essence to existence) as a universal event in ontological terms. The myth of ‘the immanent fall’ describes the transition as an individual event in psychological terms.”⁴⁸ Die Bibel, so Niebuhr, kenne nur einen geschichtlichen „Fall“, den „Fall“ Adams. Der Mythos von einem transzendenten Fall erscheine in der christlichen Theologie seit Origenes immer dann, wenn ontologische Spekulation zu dem Schluss führe, dass das Böse zur Endlichkeit als solcher gehöre und dass die Sünde des Menschen ein ontologisches Schicksal sei. Wenn Tillich bestreite, die biblische Schöpfungsgeschichte und die Geschichte vom Sündenfall seien Berichte von zwei wirklichen Ereignissen, also müsse man konsequenterweise das Geheimnis dorthin verlegen, wo es hingehöre, nämlich in die „Einheit von Freiheit und Schicksal im Grunde des Seins“ (ST I, 295), dann gebe es eine andere Möglichkeit, so Niebuhr, nämlich daran festzuhalten, dass wir es mit zwei Geschichten zu tun haben, von denen die eine den Beginn der Geschichte, die andere die Verkehrung der Freiheit in der Geschichte symbolisiere.⁴⁹ Es sei wichtig, beide Geschichten voneinander zu trennen. Die Trennung verweise einerseits auf einen „wirklichen geschichtlichen Zustand der Einheit des Lebens mit dem Leben“ und einen Charakter des Menschen, der auch als „getrennte und einzelne Existenz“ Möglichkeiten hat, „sich harmonisch auf anderes Leben zu beziehen“. Anderer-
Reinhold Niebuhr, Biblical thought and ontological speculation in Tillich’s theology, in: Theology of Paul Tillich, hrsg. v. Charles W. Kegley/Robert W. Bretall, New York 1961 (= The Library of Living Theology 1), 216 – 227. Tillichs Antwort: Answer, in: a.a.O., 329 – 349, zur Deutung des Falls: 342 f. Reinhold Niebuhr, Biblical thought and ontological speculation in Tillich’s theology, 222. Ebd. A.a.O., 220. A.a.O., 224.
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seits symbolisiere sie die Tatsache, dass jeder Akt der Entfremdung, der Isolation und des Imperialismus ein „Fall“ aus einer idealeren Möglichkeit sei, „Leben mit Leben in Liebe in Verbindung zu bringen“.⁵⁰ Wir stoßen hier auf eine Grunddifferenz zwischen Niebuhr und Tillich. Sie betrifft deren Anthropologie und Geschichtsphilosophie und zeigt sich im Verständnis der Geschichte. Für Niebuhr gilt: „Jeder geschichtliche Akt, jede geschichtliche Leistung, jedes geschichtliche Ereignis steht im Gegensatz zu einer Vorzeit und zu einem Eschaton, zur Unschuld und endzeitlichen Vollendung des Menschen. So hat jede geschichtliche Entscheidung […] eine geschichtliche Dringlichkeit und Realität, die sie nicht haben kann, wenn die Selbstsuche mit dem Selbstsein identifiziert wird.“⁵¹
Trotz aller unvermeidlichen Spannungen, Konflikte und Friktionen zwischen den einzelnen Menschen sei die Schöpfung als gute Schöpfung zu bejahen. Genau dies sei auch die Auffassung der Bibel. Zwar könne behauptet werden, dass sie sich mit dem Problem des natürlichen Bösen (im Unterschied zur Sünde, des geschichtlichen Bösen) nicht wirklich auseinandersetze. Sie ordne das natürliche Böse dem Fluch über den Acker (Gen 3,17) zu, den Tillich dazu benutze, „sein ganzes Konzept der Zweideutigkeit aller Existenz zu belegen“.⁵² Aufs Ganze gesehen, aber kümmere die Bibel sich wenig um das Problem des natürlichen Bösen. Sie beschäftige sich mehr mit dem Drama der menschlichen Geschichte. Diese aber sei das Drama der Rebellion des Menschen gegen Gott und der Überwindung dieser Rebellion durch Gott mit seiner Macht und seiner Liebe. Die Bejahung der Schöpfung als einer guten Schöpfung lasse das Problem des Bösen, das sich aus den unvermeidlichen Friktionen zwischen den einzelnen Existenzen ergebe, ungelöst.Wolle man es ontologisch lösen, so komme man zu dem Schluss, dass alle zeitliche Existenz tatsächlich böse sei.⁵³ Dem aber hält Niebuhr die Fakten entgegen, „die wir in unserer geschichtlichen Existenz erfahren“, nämlich: „Wir erfahren uns als Geschöpfe mit unbegrenzten Möglichkeiten des Guten und des Bösen, Möglichkeiten, unser Leben auf Kosten anderen Lebens zu finden oder unser Leben zu finden, indem wir es verlieren; und diese Möglichkeiten und Gefahren begegnen uns immer als Personen und mit einem Willen innerhalb eines besonderen geschichtlichen Kontextes, nicht auf der Ebene eines ontologischen Schicksals.“⁵⁴
Ebd. A.a.O., 224 f. A.a.O., 225. Ebd. (“that temporal existence is really evil”). Ebd.
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Gewiss gebe es im „Drama des Lebens“ Freiheit und Schicksal. “But this fate is constructed of acts, events, relationships, and juxtapositions which can be grasped only poetically, because they are not determined by ontological structure.”⁵⁵
3.3 Tillichs Antwort auf Niebuhrs Kritik In seiner Antwort auf Niebuhrs Kritik⁵⁶ konzentriert sich Tillich auf den Vorwurf der ontologischen Spekulation. Auf Niebuhrs Konzept des geschichtlichen Handelns geht er nicht ein. Wir können annehmen, dass er es im Grunde für optimistisch-pragmatisch gehalten hat. Der These Niebuhrs, die Entfremdung sei geschichtlich, nicht aber ontologisch begründet, könnte er gewiss nicht zustimmen. Für ihn ist die Entfremdung nicht ein Ergebnis oder eine Folge der Geschichte, sondern ihre Voraussetzung, wie auch die Überwindung der Entfremdung nicht das Ergebnis oder die Folge der Geschichte, d. h. unserer geschichtlichen Existenz sein kann. Gegen den Vorwurf, er leite die Universalität und Unvermeidlichkeit des Falls nicht aus dem biblischen Denken, sondern aus einer ontologischen Spekulation ab, wehrt er sich mit der Behauptung, sie sei vielmehr aus einer „realistischen Betrachtung des Menschen, seines Herzens und seiner Geschichte“⁵⁷ abgeleitet. Eben dieses Bild finde sich auch in der Bibel, bei Augustin, Luther, Calvin, Barth und Niebuhr selbst. Er findet es außerhalb der Bibel in der griechischen Tragödie, im modernen Existentialismus und an vielen anderen Stellen. Auch in der Bibel gebe es Hinweise auf kosmische Mächte, auf die Schlange, das Tier aus dem Abgrund, den Satan, auf Dämonen und Engel und auf irrationale Naturmächte, die „teilweise verantwortlich sind für das Dilemma des Menschen“⁵⁸. Die Theologie solle darum, so Tillich, die Tatsache ernst nehmen, dass Plato, Origenes, Kant und Schelling trotz ihres Glaubens an die Macht der Vernunft den Mythos von einem transzendenten Fall bejaht haben. Wieder erinnert er an die supralapsarischen Calvinisten, die sich nicht gescheut hätten zu behaupten, dass Gott Adams Fall zuvor beschlossen hat. Dies bedeute, dass wenn Gott schaffe, schaffe er das, was sich gegen ihn wenden wird.⁵⁹ Das ist, so Tillich, „dramatische Sprache“, sie
A.a.O., 226. Paul Tillich, Answer, 342 f. A.a.O., 343. Ebd. Ebd.: “This means that if God creates, he creates that which will turn against him.”
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verlange aber eine theologische Interpretation, die nicht dramatisch, sondern ontologisch sei.⁶⁰ „Es ist nicht ‚Spekulation‘ (heute ein abschätziger Ausdruck), sondern ihr Eindruck von einer radikalen und universalen Natur des Bösen, das sie zur Idee eines Mythos getrieben hat, in welchem die menschliche Freiheit und die tragische Natur der Existenz als strukturelle Notwendigkeit behauptet, obgleich nicht erklärt wird.“⁶¹
3.4 Der Übergang von der Essenz zur Existenz und der „Fall“ – Möglichkeit und Motive Der zweite, dem Symbol des Falls gewidmete Text Tillichs trägt die Überschrift „Der Übergang von der Essenz zur Existenz und das Symbol des Falls“.⁶² Gleich zu Beginn wird einer Gleichsetzung des Symbols des Falls mit der wörtlich aufgefassten Genesisgeschichte vom Sündenfall widersprochen. Gewöhnlich werde das Symbol des Falls mit der biblischen Geschichte vom Fall Adams in Verbindung gebracht, doch, so Tillich, „its meaning transcends the myth of Adam’s Fall and has universal anthropological significance“ (STE I, 29). Die Theologie müsse aber klar und unzweideutig den Fall als ein Symbol für die universale menschliche Situation darstellen, nicht als eine Geschichte, die sich irgendwann einmal zu einer bestimmten Zeit und zufällig abgespielt hat. Was aber ist mit dem Symbol des Falls gemeint, wenn nicht ein zu einer bestimmten Zeit geschehenes, datierbares Ereignis gemeint ist? Gemeint ist der „Übergang von der Essenz zur Existenz“. Allerdings sei diese Deutung des Falls, so Tillich, nur eine „halbe Entmythologisierung“ (ST II, 36). Das Legendäre im Sinne des „Es war einmal“ ist entfernt, geblieben aber ist das im Wort „Übergang“ versteckte Element des Zeitlichen.Wenn wir im Zeitschema von einer Gott-MenschBeziehung sprechen, so Tillich, sprechen wir mythisch. “Complete demythologization is not possible when speaking about the divine.” (STE I, 29) Tillich wendet sich nun aber nicht dem Mythos von einem transzendenten, intelligiblen Fall zu, etwa analog einem ewigen Dekret Gottes, sondern dem Paradiesmythos, wie er in Gen 1– 3 erzählt wird. Er nennt ihn „the profoundest and richest expression of man’s awareness of his existential estrangement“ (STE I, 31). Außerdem bietet ihm der Mythos als Erzählung die Möglichkeit, das mit ihm verbundene anthropologisch-theologische Material zu entfalten, zu ordnen und
Ebd. Ebd. STE II, 29 – 44 = ST II, 35 – 52.
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darzustellen. Die Erzählung leistet diesen Dienst. Sie stellt erstens die Möglichkeit des Falls dar, zweitens die Motive, drittens das Ereignis selbst und viertens die Folgen. In allen diesen Schritten der Darstellung wird der Mythos entliteralisiert. Die Möglichkeit des Übergangs von der Essenz zur Existenz ist mit der kreatürlichen, von Gott geschaffenen endlichen Freiheit des Menschen gegeben. Der Mensch ist frei, weil er mit seiner Sprache Allgemeinbegriffe hat, die ihn von der Enge einer konkreten Situation befreien. Der Mensch hat Welt, er kann fragen, er kann unbedingte Forderungen vernehmen, er hat die Fähigkeit, den Mechanismus von Reiz und Reaktion zu unterbrechen, sich zu besinnen und zu überlegen. Seine Freiheit ist zugleich die Freiheit, seiner Freiheit, sich selbst zu widersprechen und sogar seine Menschlichkeit aufzugeben. Seine Freiheit aber ist endliche Freiheit, d. h. sie ist „eingebettet in den Rahmen eines universalen Schicksals. Es gibt keinen individuellen ‚Fall‘.“ (ST I, 39) Tillich belegt dies mit dem Material der Genesiserzählung (Eva und die Schlange sind am Fall Adams mitbeteiligt). Die Motive, die den Menschen zum Übergang von der Essenz zur Existenz drängen, sieht Tillich in dem, was er im Anschluss an Kierkegaard „träumende Unschuld“ (ST II, 39 – 43) nennt. In der theologischen Tradition ist der Zustand Adams vor dem Fall oft als Vollkommenheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit beschrieben worden. Tillich beschreibt ihn, abweichend vom Mythos, als Potentialität, die der aktualisierten Existenz vorausgeht, psychologisch ausgedrückt, als Unschuld, die träumt. „Unschuld kennzeichnet den Zustand vor der Aktualität,vor der Existenz und vor der Geschichte.“ (ST II, 40) Der Zustand der „träumenden Unschuld“ ist – darauf legt Tillich Wert – keineswegs ein Zustand der Vollkommenheit, sondern der Unentschiedenheit. Ausdrücklich wendet er sich gegen die orthodoxe Theologie, die Adam vor dem Fall „absolute Vollkommenheit“ zugesprochen und ihn dem Christus gleichgestellt hat. Das Symbol „Adam vor dem Fall“ muss also als „Unentschiedenheit“ oder „unentschiedene Potentialität“ (ST II, 41) verstanden werden. Eine weitere, den Übergang von der Essenz zur Existenz vorantreibende Kraft ist die Angst. Auch hier bezieht er sich auf Kierkegaards Schrift Der Begriff der Angst und dessen Bestimmung der Freiheit des Menschen als „sich ängstigende Freiheit“. Er legt – anders als Kierkegaard – den Akzent auf die Erfahrung des Menschen, endlich zu sein, d. h. „eine Mischung aus Sein und Nichtsein zu sein, stets bedroht durch absolutes Nichtsein“ (ebd.). Tillich führt diesen Gedanken der Angst in doppelter Weise weiter. Zunächst greift er aus der Genesiserzählung das göttliche Verbot auf, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Das Verbot, so argumentiert Tillich, setzt eine Spaltung zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf voraus. Warum sollte solch ein Verbot nötig sein? Dieser Zwiespalt ist für Tillich „der wichtigste Punkt in der Interpretation des Falls“, denn er setzt eine Sünde voraus, „die noch nicht Sünde ist, aber auch keine Unschuld mehr ist. Es ist der
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Wunsch der Sünde.“ (ST II, 42) Tillich nennt diesen Wunsch der Sünde im Anschluss an Schelling „erregte Freiheit“ (ST II, 41). Das Band der beiden Seinsprinzipien, des Eigenwillens und des Universalwillens, ist im Menschen ein freies Band. Der Mensch hat die „Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen“ in sich. Er steht am Scheidepunkt, kann aber nicht in der Unentschiedenheit bleiben, „weil Gott nothwendig sich offenbaren muß, und weil in der Schöpfung überhaupt nichts Zweideutiges bleiben kann“.⁶³ Der Mensch muss seine Unentschiedenheit überwinden. Aber wie? Damit er überhaupt sich entscheiden kann, muss es – so die Schlussfolgerung Schellings – eine „Sollicitation“, eine „Versuchung zum Bösen“ geben, „wäre es auch nur, um die beiden Principien in ihm lebendig, d. h. um ihn [sc. den Menschen] ihrer bewußt zu machen“.⁶⁴ „Sollicitation“ bedeutet Aufreizung, Erregung, Versuchung und Verführung. Mit seiner „erregten Freiheit“ hat der Mensch den Zustand der „träumenden Unschuld“ verlassen. Die endliche Freiheit wird sich, wenn sie aus der träumenden Unschuld heraustritt, ihrer selbst bewusst, sie verlangt danach, aktuell zu werden. Das göttliche Verbot, von dem der Mythos erzählt, symbolisiert, so Tillich, den Wunsch der träumenden Unschuld, „sich zu bewahren“, d. h. die potentielle Freiheit nicht zu aktualisieren, auf die Erlangung von Erkenntnis und Macht also zu verzichten. In seiner Unentschiedenheit zwischen dem Wunsch, seine Freiheit zu aktualisieren, und der Forderung, seine träumende Unschuld zu bewahren, entscheidet sich der Mensch für die Aktualisierung seiner endlichen Freiheit. In der Angst wird sich der Mensch seiner endlichen Freiheit bewusst. Er erlebt die Angst als Angst, sich durch seine Selbstverwirklichung zu verlieren, und als Angst, sich durch Nichtverwirklichung zu verlieren. Wieder steht er vor einem Konflikt. Soll er seine träumende Unschuld bewahren, dafür aber auf seine Selbstverwirklichung verzichten, oder will er seine Unschuld eintauschen gegen Erkenntnis, Macht und Schuld? Er kann nicht in der Unentschiedenheit bleiben. Die Angst dieser Konfliktsituation wird als Versuchung erlebt. Im biblischen Mythos vom Sündenfall entscheidet sich der Mensch gegen die Bewahrung der Unschuld und für die Selbstverwirklichung.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 374. Ebd.
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3.5 Der Übergang von der Selbstbewahrung zur Selbstverwirklichung als „ursprüngliches Faktum“ Die Pointe von Tillichs Deutung des Sündenfallmythos liegt darin, dass er das psychologisch beschreibbare Faktum des Übergangs von der Selbstbewahrung zur Selbstverwirklichung als „ursprüngliches Faktum“ („original fact“, STE II, 36) versteht, d. h. nicht als ein im zeitlichen Sinn zu verstehendes Faktum, sondern als Faktum, „which gives validity to every fact“. Es ist, wie Tillich formuliert, „actual in every fact“ (ebd.). Das im Mythos als Ereignis der Vergangenheit erzählte Faktum geht ontologisch allem, was sich in Zeit und Raum ereignet,voraus⁶⁵. Nicht genug, es setzt die Bedingungen zeitlicher und räumlicher Existenz. Der Mythos erzählt von einem Ereignis, dem Übergang von der Essenz zur Existenz, als einmaliger Begebenheit, das sich in der Vergangenheit, in uralter Zeit, an einem bestimmten Ort, an bestimmten Personen, unter Beteiligung Gottes als einer individuellen Person in einer psychologisch einfühlbaren und literarisch kunstvoll beschreibbaren Weise abgespielt hat. Dieses Ereignis aber ist in Wahrheit ein Faktum von universaler Bedeutung und beansprucht universale Bedeutung. Es geht ontologisch der Geschichte voraus und ist in diesem Sinne übergeschichtlich. Es entspricht dem, was Schelling eine „ewige That“ nennt.⁶⁶ Tillich sieht im Mythos eine vom Geist der Prophetie vorgenommene Entmythologisierung, die sich als Psychologisierung und Ethisierung des Mythos beschreiben lässt. Doch hinter dieser psychologisch-ethischen Form lassen sich, so Tillich, noch die Umrisse eines kosmologischen Mythos entdecken, die durch die prophetische Entmythologisierung nicht beseitigt, ihr aber untergeordnet worden sind. Den kosmologischen Mythos hinter dem prophetisch entmythologisierten Mythos sieht Tillich in dem Kampf zwischen den göttlichen und den dämonischen Mächten, zwischen den Mächten des Chaos und der Finsternis und im Mythos vom Fall der Engel. Die Schlange im Paradies deutet er als Verkörperung eines gefallenen Engels. Alle diese Beispiele verweisen, so Tillich, auf die kosmischen Voraussetzungen und Implikationen des Mythos von Adams Fall. Den deutlichsten Hinweis auf den kosmischen Charakter des Mythos vom Fall aber sieht er im Mythos von einem transzendenten Fall der Seelen, der in der Orphik entstanden und von Plato in den Gegensatz von Essenz und Existenz überführt worden sei. Origenes habe ihn ebenso übernommen wie Kant. Er sei vielfach in der Theologie und Philosophie des Christentums präsent. Der Mythos vom Fall Der Terminus „vorausgehen“ ist weder zeitlich noch räumlich zu verstehen, sondern „halbmythologisch“. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 385.
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Adams, der vom biblischen Erzähler vergeschichtlicht, psychologisiert und ethisiert und so entmythologisiert wurde, wird von Tillich remythologisiert, um ihn ins Kosmisch-Universale zu erheben. Tillich weist aber darauf hin (ST I, 44 f.)⁶⁷, dass die kosmisch-transzendente Idee und die psychologisch-ethische Idee des Falls sich nicht voneinander trennen lassen. Den Sinn des Mythos vom transzendenten Fall sieht er in der Beschreibung der Konstitution der Existenz, nämlich des Übergangs von der Essenz zur Existenz. Er interpretiert ihn als einen „Akt der Freiheit“, „der eingebettet ist in das universale Schicksal der Existenz. In jedem individuellen Akt verwirklicht sich der entfremdete oder gefallene Charakter des Seins. Jede moralische Entscheidung ist ein Akt individueller Freiheit und zugleich universalen Schicksals.“⁶⁸ Damit sind beide Formen des Mythos gerechtfertigt.⁶⁹ Ihren Sinn fasst Tillich so zusammen: “Existence is rooted both in ethical freedom and in tragic destiny. If the one or the other side is denied, the human situation becomes incomprehensible. Their unity is the great problem of the doctrine of man.” (STE II, 38) Als Beispiel für ein wörtliches Verständnis des Sündenfallmythos der Genesis nennt er die Lehre von der Erbsünde. Die Theologie muss diese Lehre, so Tillich, neu interpretieren, sie muss eine realistische Lehre vom Menschen entwickeln, in der das moralische und das tragische Element in seiner Selbstentfremdung sich die Waage halten. Begriffe wie „Ursünde“ oder „Erbsünde“ sollten durch eine „Beschreibung der gegenseitigen Durchdringung von moralischen und tragischen Elementen in der menschlichen Situation“ (ST II, 46) ersetzt werden. Freiheit und Schicksal, persönliche Verantwortlichkeit und tragische Universalität der Entfremdung konstituieren die menschliche Existenz. Darin liegt für Tillich der Sinn der beiden Mythen vom Fall. In dem Abschnitt mit der Überschrift „Schöpfung und Fall“ (ST II, 46 – 52) wiederholt und bekräftigt Tillich seine These von der Koinzidenz von Schöpfung und Fall. Unter Bezugnahme auf die Kritik Niebuhrs erklärt er: “Creation and Fall coincide in so far as there is no point in time and space in which created goodness was actualized and had existence. […] Actualized creation and estranged existence are identical. […] Creation is good in its essential character. If actualized, it falls into universal estrangement through freedom and destiny.” (STE II, 44)
Tillich wehrt sich aber gegen das Mißverständnis, der Sündenfall oder die Sünde könne aus der Schöpfung, die Existenz aus der Essenz abgeleitet werden. Die
Der Abschnitt ist in die deutsche Übersetzung eingefügt. STE II, 38, Übers. v. Vf. So in ST II, 38.
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Theologie müsse darauf bestehen, „that the leap from essence to existence is the original fact – that it has the character of a leap and not of structural necessity“. Mit dem Begriff des „Sprunges“ hatte sich Kierkegaard in Der Begriff der Angst gegen die in Hegels Philosophie übliche Annahme eines kontinuierlichen Übergangs von einem Begriff zum anderen abgegrenzt. Was die Bewegung erklärt, ist für ihn nicht die „Mediation“ (die Vermittlung), sondern der qualitative Sprung, der eine leidenschaftliche Bewegtheit zur Voraussetzung hat. So geschieht der Sündenfall Adams oder die Sünde eines jeden Einzelnen durch einen Sprung. Die Psychologie kann dies nicht erklären. „Die Sünde tritt also als das Plötzliche ein, d. h. durch den Sprung […]. Dies ist für den Verstand ein Ärgernis, ergo ist es eine Mythe.“⁷⁰ Für Tillich hat die Metapher des „Sprunges“ ebenso wie die des „Übergangs“ die Funktion, zwischen der Essenz und der Existenz des Menschen klar zu unterscheiden und die Unableitbarkeit der Existenz aus der Essenz in halb entmythologisierter Form vorzustellen. Auffallend ist Tillichs Interesse an einer Entliteralisierung des Mythos vom „Fall“ und an einer Übersetzung in eine philosophische Begrifflichkeit. Was der Mythos vom „Fall“ über den Menschen in der Form einer Erzählung zeigt, ist für Tillich das, was auch die Existentialanalyse in ihrer Begrifflichkeit und Sprache aussagt. Zugleich lenkt Tillich den Blick auf die Mythologie, Religions- und Theologiegeschichte, die Philosophiegeschichte von den Vorsokratikern bis zum Existentialismus der Gegenwart, auf die Literatur und moderne Kunst, nicht zuletzt auch auf die Tiefenpsychologie und Psychoanalyse. In dieser „Wolke von Zeugen“ sieht er die Situation der Gebrochenheit und Entfremdung des Menschen beschrieben, aber der Gebrochenheit seines wesentlichen Gutseins und der Entfremdung von dem, was er essentiell ist und sein soll. Eben diese Unterscheidung sieht Tillich im Mythos vom „Fall“ ausgesagt. Auch dort, wo begrifflich von der Essenz und der Existenz die Rede ist, sieht Tillich diesen Mythos in seiner Macht wirksam, unter rationalen Begriffen versteckt und oft nur in Umrissen, Spuren und Resten erkennbar.
Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst, 26.
Christian Danz
Die politische Macht des mythischen Denkens Paul Tillich und Ernst Cassirer über die Ambivalenz des Mythos Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in ihren 1947 veröffentlichten Philosophischen Fragmenten den Mythosbegriff zur Deutung der Genese der politischen Katastrophe des Nationalsozialismus herangezogen.¹ Der Aufklärung, so ihre Diagnose, sei eine Dialektik immanent, welche diese in ihr Gegenteil verkehrt. „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“² Die Auflösung des Mythos durch die moderne, formale Vernunft bleibe dessen Strukturen verhaftet. „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann.“³ Die Beherrschung der Natur, die Bannung des Fremden, die bereits der Mythos vornimmt, erfahre in der Neuzeit eine Radikalisierung. Die Aufklärung setzt das Subjekt autonom. Es bestimmt sich ausschließlich nach von ihm selbst gesetzten Regeln. Die Natur unterwirft das transzendentale Subjekt sich vollständig, indem es jene allererst konstituiert.Vermittels der Negation bleibt das neuzeitliche Subjekt freilich an die Natur gebunden. Es ist nur im Akt der Selbstbehauptung und mithin der Selbstdurchsetzung gegen Anderes wirklich. Die „Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird vom ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“.⁴ Das restlos aufgeklärte Subjekt trägt mithin selbst mythische Züge. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Leipzig 1989. Vgl. hierzu Stefano Cochetti, Mythos und „Dialektik der Aufklärung“, Königsstein (i.Ts.) 1985; Heinz Paetzold, Ernst Cassirers ‚Myth of the State‘ und die ‚Dialektik der Aufklärung‘ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, in: Ders., Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, 111– 145; Christian Danz, Juliette und die Retorsion der Moral. Horkheimer, Adorno und Paulus über die Dialektik der Kantischen Autonomieethik (im Druck) sowie den Beitrag von Michael Murrmann-Kahl in diesem Band. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 16. A.a.O., 25. A.a.O., 40.
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Horkheimer und Adorno haben diese der Aufklärung ab ovo eingeschriebene Dialektik in ihren Philosophischen Fragmenten facettenreich analysiert und mit dem Mythosbegriff einen cum grano salis pathologischen Zeichengebrauch herausgearbeitet.⁵ Die in den Mythos umschlagende formale Vernunft stabilisiert nicht nur Herrschaft über ihr Anderes, ihr eignet auch ein Zeichengebrauch, der Reflexivität sistiert. Ähnlich wie die Autoren der Dialektik der Aufklärung zogen auch Paul Tillich und Ernst Cassirer den Mythosbegriff zur Analyse der politischen Entwicklung im 20. Jahrhundert heran. Bei beiden geschieht dies vor dem Hintergrund von elaborierten Theorien des Mythos, welche sie nach dem Ersten Weltkrieg in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Debatten in Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft konzipiert haben. Tillich verstand in den 1920er Jahren den Mythos als kategorialen Bestandteil des religiösen Bewusstseins und verwendete ihn in seinen kulturtheologischen Schriften zur Zeitdiagnose. Vor dem Hintergrund der von ihm in den 1930er Jahren vorgenommenen anthropologischen Reformulierung seiner religionsphilosophischen und theologischen Konzeption avanciert der Begriff des Mythos zu einem Grundbegriff der Deutung der politischen Lage der Gegenwart. Auch Ernst Cassirer, der in den 1920er Jahren eine grundlegende Theorie des Mythos im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen vorgelegt hatte, greift in seinem Spätwerk Der Mythus des Staates diesen Begriff zur Analyse der politischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts auf. Die politische Entwicklung zwischen dem „ersten und dem zweiten Weltkrieg“ sei durch „einen radikalen Wechsel in den Formen des politischen Denkens“ charakterisiert. „Vielleicht der wichtigste und beunruhigendste Zug in dieser Entwicklung des modernen politischen Denkens ist das Zutagetreten einer neuen Macht: der Macht des mythischen Denkens.“⁶ Mit den politischen Mythen der Moderne ist das Thema der nachfolgenden Überlegungen zu Tillich und Cassirer benannt. Der Mythos wird von beiden Autoren nicht nur als religionsgeschichtliche Kategorie verwendet, er fungiert ebenso zur Analyse des politischen Denkens der Moderne.⁷ So unterschiedlich die Konzeptionen des Mythosbegriffs sowie dessen theoretische Grundlegung bei beiden auch ausfallen, so stimmen sie in ihrer Deutung der modernen politischen Mythen überein, sie verdanken sich einer nichtreflexiven Weise des menschlichen Zei-
Vgl. hierzu Heinz Paetzold, Ernst Cassirers ‚Myth of the State‘, 123. Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt (Main) 1994, 7. Zum Verhältnis von Tillich und Cassirer vgl. Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000; Christian Danz, Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, in: Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, hrsg. v. Dietrich Korsch/Enno Rudolph, Tübingen 2000, 201– 228.
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chengebrauchs. Das wiederum verbindet beide mit dem Mythosbegriff, den die Autoren der Dialektik der Aufklärung ausgearbeitet haben.⁸ Einzusetzen ist mit dem Mythosbegriff Tillichs, wie ihn dieser in den 1920er Jahren ausgearbeitet hat. Im Anschluss daran ist Cassirers Verständnis des Mythos in den Blick zu nehmen. Abschließen werde ich mit ein paar Bemerkungen zur politischen Funktion des Mythos bei beiden Autoren.
1. Der Mythos als religiöse Kategorie bei Paul Tillich Im Jahre 1924 veröffentlichte Paul Tillich in der Theologischen Literaturzeitung eine kurze Besprechung mit dem Titel Probleme des Mythos. ⁹ Sie galt den beiden zwei Jahre zuvor erschienenen Beiträgen Ernst Cassirers Die Begriffsform im mythischen Denken und Artur Lieberts Mythos und Kultur. ¹⁰ Tillich würdigt zunächst beider Auseinandersetzung mit dem Mythos als „bemerkenswert und für unsere Zeit charakteristisch“,¹¹ markiert jedoch zugleich grundsätzliche Anfragen an deren Konzeptionen. Cassirers Verständnis des Mythos als symbolische Form arbeite diesen zwar als eine eigene Richtung aus, „in denen der Geist die Wirklichkeit erfaßt“, allerdings bleibe seine Bestimmung des Verhältnisses von Mythos, Religion und Wissenschaft unzureichend. „Es ist nur ein Punkt, der in diesen höchst fruchtbaren und anregenden Ausführungen Bedenken erwecken könnte, die Definition des Mythos und die Bestimmung seines Verhältnisses zu Wissenschaft, Sprache, Religion. Es scheint mir nicht angängig zu sein, all diese Dinge gleichsam auf einer Ebene zu sehen.“¹² Die Kritik an Cassirers und Lieberts Deutungen des Mythos, in ihnen werde das Verhältnis von Kultur und Religion unangemessen verstanden, setzt sowohl einen anderen Begriff des Mythos als auch eine von
Zum Verhältnis Tillichs zu Horkheimer und Adorno vgl. Georg Neugebauer, Paul Tillich und die Dialektik der Aufklärung, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hrsg. v. Ulrich Barth/Christian Danz/Wilhelm Gräb u. a., Berlin/Boston 2013, 477– 512. Paul Tillich, Probleme des Mythos, in: ThLZ 49 (1924), 115 – 117. Ernst Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, in: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, 1– 70; Artur Liebert, Mythos und Kultur, in: Kantstudien 17 (1922), 399 – 445. Paul Tillich, Probleme des Mythos, 115. A.a.O., 116. Den gleichen Einwand erhebt Tillich auch gegenüber Liebert. Vgl. a.a.O., 117: „Freilich kommt auch bei Liebert das Verhältnis von religiösem und kulturellem Mythos noch nicht zu völliger Klarheit. Die kulturellen Mythen stehen formell neben den religiösen, obgleich den religiösen inhaltlich die absolute Überlegenheit zugestanden wird.“
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diesen abweichende Konstruktion des religiösen Bewusstseins und seiner Aufbauelemente voraus. Religion, so Tillich in seiner Besprechung, „ist Erfassung des Unbedingten. Und in dem Maße, wie die kulturellen Dinge mythischen Charakter annehmen, symbolkräftig werden, verlieren sie ihre autonome kulturelle Bedeutung und werden zu religiösen Symbolen.“¹³ Im Folgenden sind zunächst die religionstheoretischen Grundlagen von Tillichs Mythosbegriff darzulegen und sodann dessen Anwendung zur Analyse des politischen Denkens.
1.1 Der Mythos im Aufbau des religiösen Bewusstseins Auf der methodischen Grundlage seiner nach dem Ersten Weltkrieg konzipierten sinntheoretischen Geistphilosophie ordnet Tillich den Mythos in den Aufbau des religiösen Bewusstseins ein. „Mythos ist die Ausdrucksform für den Offenbarungsinhalt“ und Offenbarung „die Form, in welcher das religiöse Objekt dem religiösen Glauben theoretisch gegeben ist“¹⁴. Diese kategoriale Bestimmung des Mythos aus der Religionsphilosophie von 1925 resultiert aus dem Wesensbegriff der Religion. Ihm zufolge ist Religion „keine Funktion neben anderen“, sondern „die alle Funktionen tragende Wendung des Geistes zum Unbedingten“ (GW I, 350). Um den Gehalt von Tillichs Verständnis des Mythos und seines Verhältnisses zu Religion und Wissenschaft zu bestimmen, ist kurz sein Begriff der Religion in Erinnerung zu rufen.¹⁵ Religion, so der Tenor der Aussagen des jungen Tillich, fuße nicht auf einer der Kulturfunktionen des Bewusstseins, sondern sei Wendung oder Richtung des Geistes auf das Unbedingte. Die hiermit verbundene Auflösung der Religion als eine besonderen Kulturform ergibt sich aus den geistphilosophischen Voraussetzungen seiner Religionsphilosophie.¹⁶ Dem Selbstverhältnis des menschlichen Bewusstseins liegt das Unbedingte als allgemeine Synthesisfunktion bereits zu-
A.a.O., 117. Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 21959, 297– 364, hier: 378. Vgl. hierzu Christian Danz, Zwischen Transzendentalphilosophie und Phänomenologie. Die methodischen Grundlagen der Religionstheorien bei Otto und Tillich, in: Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, hrsg. v. Jörg Lauster/Peter Schüz/Roderich Barth u. a., Berlin/Boston 2014, 335 – 345. Das ist der Gehalt von Tillichs religionsphilosophischer Überwindung des Religionsbegriffs. Vgl. Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 21959, 367– 388.
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grunde.¹⁷ Hieraus ergeben sich zwei wichtige religionstheoretische Konsequenzen, deren strukturelle Fassung sich Tillich schon in seiner philosophischen Dissertation über Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie erarbeitet hatte.¹⁸ Die dort ausgeführte Unterscheidung von Religion als Prinzip und aktueller Religion wird in den 1920er Jahren aufgenommen in der von Religion und Kultur bzw. Religion als Richtung auf das Unbedingte und einem substantiell religiösen Bewusstsein.¹⁹ Das substantiell religiöse Bewusstsein beschreibt das Kulturbewusstsein, von dem das Unbedingte als Synthesisfunktion zwar in Anspruch genommen wird, dieses aber in seiner kulturschaffenden Tätigkeit nicht meint. Dessen theoretische und praktische Akte richten sich auf die intentionalen Korrelate, die es setzt. Das Unbedingte bleibt hier als „Untergrund“ wirksam, „aber er wird nicht angetastet; das Ich bleibt in seiner Losgelöstheit, in der Bewußtseinsform“ (GW I, 378).²⁰ Im Unterschied zum Kulturbewusstsein richtet sich das Bewusstsein in der Religion nicht auf die von ihm geschaffenen kulturellen Formen und deren Einheit, sondern auf die es selbst fundierende Synthesisfunktion. „Religion ist der Inbegriff aller geistigen Akte, die auf Erfassung des unbedingten Sinngehaltes durch die Erfüllung der Sinneinheit hindurch gerichtet sind.“ (GW I, 320) Der genannte intentionalitätstheoretische Religionsbegriff, der die aktuale Religion bezeichnet, wie sie in der Kultur wirklich wird, verdankt sich einer Verknüpfung von neukantianischen und phänomenologischen Motiven. Aus diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund stammt die Bestimmung der Religion als Richtung auf das bzw. als Meinen des Unbedingten sowie die intentionalitätstheoretische Beschreibung des religiösen Bewusstseins, auf die der Mythosbegriff aufbaut.²¹ Zunächst löst Tillich die Religion auf in ein Reflexiv-Werden des Kul-
Vgl. hierzu Folkart Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in Auseinandersetzung mit Karl Barth, in: Jesus of Nazareth and the New Being in History, hrsg. v. Christian Danz/Marc Dumas/Werner Schüßler u. a., Berlin/Boston 2011 (= International Yearbook for Tillich Research 6), 89 – 119, bes. 95 – 98. Vgl. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: Ders., Frühe Werke, EW IX, hrsg. v. Gert Hummel/Doris Lax, Berlin/New York 1998, 154– 272, bes. 236 – 241. Vgl. Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs, GW I, 377 f. sowie Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), GW I, 320.329. Vgl. auch Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), GW I, 320: „Jeder kulturelle Akt enthält den unbedingten Sinn; er ruht auf dem Sinngrund; er ist, insofern er ein Sinnakt ist, substantiell religiös. Das kommt darin zum Ausdruck, daß er auf die Formeinheit gerichtet ist, daß er sich der unbedingten Forderung auf Sinneinheit unterwerfen muß. Aber er ist nicht intentional religiös.“ Zu diesem Programm einer Verschränkung von Neukantianismus und Phänomenologie vgl. schon Paul Tillich, Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), in: Ders., Berliner Vorlesungen I
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turbewusstseins. Hierfür steht der Offenbarungsbegriff sowie dessen metaphorische Beschreibung als Durchbruch. „Es gibt also keine besondere religiöse Funktion neben der logischen, ästhetischen, ethischen, sozialen; sie ist auch nicht in einer oder in der Einheit aller enthalten, sondern sie ist der Durchbruch durch jede und die Realität, die unbedingte Bedeutung einer jeden.“ (GW I, 380) Religion ist ein Reflexionsgeschehen in den theoretischen und praktischen Funktionen des Selbstverhältnisses des Bewusstseins, und sie ist nur wirklich als Reflexiv-Werden des kulturschaffenden Bewusstseins. Letzteres beschreibt Tillich sodann als Richtung auf das Unbedingte. „Nun gibt es aber eine Funktion des Geistes, die weder neben de[n] andern steht noch ihre Einheit ist, sondern in ihnen und durch sie hindurch zum Ausdruck kommt: die Funktion der Unbedingtheit; sie ist die Wurzelfunktion, diejenige, in der der Geist durch alle seine Funktionen hindurchbricht bis auf seinen Grund.“ (Ebd.; Herv. C.D.) Religion im eigentlichen Sinne ist das Innewerden der Grundlagenfunktion des Bewusstseins in seinen konkreten und stets kulturell eingebundenen Akten. Intentional richtet sich das religiöse Bewusstsein auf seine reflexive Selbsterfassung hinsichtlich seiner Unbedingtheitsdimension und nicht auf seine kulturellen Formen. Die Bezeichnung und Darstellung seiner Selbsterschlossenheit kann allerding lediglich durch die kulturellen Formen hindurch geschehen. Das religiöse Bewusstsein meint das Unbedingte, die reflexive Dursichtigkeit seiner Symbolproduktion und bezeichnet diese und nicht die kulturellen Formen. „Die Kultur ist das Medium des Unbedingten im Geistesleben, wie die Dinge das Medium des Unbedingten in der Welt sind.“ (Ebd.) Das Bewusstsein kann das Unbedingte durch die kulturellen Formen hindurch jedoch allein so meinen, dass es diese setzt und zugleich negiert.²² Hieraus resultiert schließlich die paradoxe Struktur der intentionalen Korrelate des religiösen Bewusstseins. Es benutzt die „autonomen Formen des Denkens und Anschauens“ und „zerbricht“ sie zugleich (GW I, 381).
(1919 – 1920), EW XII, hrsg. u. m. einer hist. Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 2001, 333 – 584. Vgl. hierzu Georg Neugebauer, Die religionsphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs vor dem Hintergrund seiner Schelling- und Husserlrezeption, in: Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler, Berlin/Boston 2011, 38 – 63. Vgl. Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs, GW I, 381: „Sobald das Bewußtsein sich auf das Unbedingte richtet, entsteht die Doppelheit von Akt und Gegenstand. Nun ist der religiöse Akt aber kein besonderer; er ist nur in den übrigen Akten wirklich. Er muß diesen eine Formung geben, an der die religiöse Qualität sichtbar ist. Diese Formung ist die Paradoxie, d. h. zugleich die Bejahung und Verneinung der autonomen Formen.“
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Damit sind die systematischen Grundlagen von Tillichs symboltheoretischem Mythosbegriff benannt.²³ Der Mythos bezeichnet die Ausdrucksform des religiösen Bewusstseins. Er ist, wie es in dem 1930 in dem Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart publizierten Artikel Mythos und Mythologie heißt, „das aus Elementen der Wirklichkeit aufgebaute Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte oder Seins-Jenseitige“²⁴ bzw. der Inbegriff derjenigen Symbole, „in denen mittelbar oder unmittelbar das Unbedingt-Transzendente angeschaut wird“²⁵. Der „symbolisch-realistische[n]“ (GW V, 188) Theorie des Mythos, wie sie Tillich in Abgrenzung von metaphysischen und erkenntnistheoretischen Konzeptionen nennt,²⁶ ist dieser „ein konstitutives Element des Geistigen überhaupt“ (GW V, 204). Von diesem symboltheoretischen Mythosbegriff, der zur Bezeichnung der reflexiven Struktur des religiösen Aktes und seiner Selbstdarstellung dient, den Tillich terminologisch als gebrochenen Mythos benennt, unterscheidet er einen ungebrochenen Mythos. Letzterer fungiert zunächst als Bewusstseinsformation, in der dieses sich noch nicht in seiner reflexiven Struktur erfasst hat. „Je näher eine Religion der sakramentalen Indifferenz steht, desto mehr hat die Anschauung aller Dinge mythischen Charakter, so daß man es teilweise vermeidet, in dieser Geistesfrage
Zum Symbolbegriff Tillichs vgl. Christian Danz, Symbolische Form und die Erfassung des Geistes im Gottesverhältnis. Anmerkungen zur Genese des Symbolbegriffs von Paul Tillich, in: Das Symbol als Sprache der Religion, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/Wien 2007 (= International Yearbook for Tillich Research 2), 59 – 75. Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 187– 195, hier: 188. Vgl. Paul Tillich, Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), EW XII, 536: „Aller Mythos ist der Versuch, das reine Gehaltserlebnis so zu deuten, daß es aufgefaßt wird als Beziehung des Bewußtseins auf einen Gegenstand, der sich von den Gegenständen der sonstigen Erfahrung qualitativ unterscheidet, aber mit den Mitteln der sonstigen Erfahrung ergriffen werden muß. In jedem Mythos steckt also ein tiefes dialektisches Problem: Das, dessen Wesen es ist, kein Gegenstand zu sein, ist für das Bewußtsein nur erfaßbar als Gegenstand; das, dessen Wesen es ist, alle Formung zu transcendieren, ist nur erfaßbar als eine Formung neben anderen.“ Paul Tillich, Das religiöse Symbol, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 196 – 212, hier: 205. Vgl. Paul Tillich, Mythos und Mythologie, GW V, 188. Als Repräsentant einer metaphysischen Theorie des Mythos nennt Tillich Schelling und als Vertreter einer erkenntnistheoretischen Ernst Cassirer. Sowohl in seinem Aufsatz Das religiöse Symbol (bes. GW V, 202– 206) als auch in seinem Lexikon-Artikel Mythos und Mythologie (GW 187– 195) setzt sich Tillich mit der Mythostheorie Cassirers auseinander. Vgl. auch Paul Tillich, Das System der religiösen Erkenntnis (1. u. 2. Version), in: Ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908 – 1933). Zweiter Teil, EW XI, hrsg.v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 76 – 174, bes. 129 – 132.
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[sic!] überhaupt vom Mythos zu reden. Aber nur deswegen ist hier kein eigener Mythos zu finden, weil alles Wirkliche unmittelbar mythische Qualität hat.“ (GW I, 351)²⁷
In einer solchen Geisteslage werden die intentionalen Korrelate des Bewusstseins nicht vom Unbedingten unterschieden.²⁸ Das ungebrochene mythische Bewusstsein ist allerdings lediglich ein Schwellenphänomen, da es als Bewusstsein seine Unmittelbarkeit stets überschreitet. „Diese Einheit war nur möglich, solange die Unbedingtheit der religiösen Transzendenz und die Rationalität der Dingwelt dem Bewußtsein verborgen waren.“ (GW V, 204 f.) Das ungebrochene mythische Bewusstsein ist instabil und mithin nicht von Dauer. Seine Ausdifferenzierung ist folglich mit diesem bereits gesetzt. Sie führt allerdings nicht zur Überwindung der mythischen Formen, sondern zu einer neuen Stellung des Bewusstseins zu seinen intentionalen Gehalten. Deshalb behauptet Tillich, der Mythos hört in der Religion nicht auf, er ändert seine Form.²⁹ Mythos und Religion stehen nicht einfach nebeneinander auf einer Ebene. Im religiösen Bewusstsein wird der „Mythos in seiner Unmittelbarkeit“ (GW V, 203) durchbrochen.³⁰ Die Differenz von Mythos und Religion besteht in einer veränderten Stellung des Bewusstseins zu seinen Inhalten. Indem es sich in seiner inneren reflexiven Struktur und seinen Aufbauelementen erfasst, konstituiert sich das religiöse Bewusstsein als solches, nämlich als „Transzendenzbewußtsein“ (GW V, 191). Transzendenz kann im und vom Bewusstsein nur indirekt als Negation an den konkreten Formen dargestellt werden. In das Bewusstsein zieht die Reflexivität ein, vermöge derer sich ein Wissen um die Differenz von Symbol und Sinn herausbilden kann. Das religiöse Bewusstsein gebraucht seine Inhalte „unter ständiger Erinnerung an ihren symbolischen Charakter und den Sinn, den sie zwar anschaulich und lebendig, aber doch inadäquat ausdrücken“³¹. Auch das religiöse Bewusstsein kann auf Grund seiner intentionalen Struktur das Unbedingte nur in gegenständlichen Formen
Vgl. Paul Tillich, Das religiöse Symbol, GW V, 204: „Im ungebrochenen Mythos liegen drei Elemente ineinander: das religiöse, das wissenschaftliche und das eigentlich mythische. Das religiöse als Beziehung auf das Unbedingt-Transzendente, das wissenschaftliche als Beziehung auf die gegenständliche Wirklichkeit, das eigentlich mythische als Vergegenständlichung des Transzendenten mit Anschauungen und Begriffen der Wirklichkeit.“ Vgl. Paul Tillich, Mythos und Mythologie, GW V, 190. Der „ungebrochene Mythos“ verleugnet „in jeder seiner Aussagen die Transzendenz“ und zieht „das Göttliche in den Widerspruch und Wechsel des Bedingten“ hinein. Vgl. Paul Tillich, Das religiöse Symbol, GW V, 202. Vgl. auch Paul Tillich, Mythos und Mythologie, GW V, 189 f. Paul Tillich, Rechtfertigung und Zweifel (1. und 2. Version), in: Ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908 – 1933). Erster Teil, EW X, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 127– 230, hier: 172 f.
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bezeichnen. Die „unbedingte Transzendenz ist als solche nicht anschaubar. Soll sie angeschaut werden – und sie muß es ja in der Religion –, so kann es nur sein in mythischen Vorstellungen“ (GW V, 203). Tillichs Mythosbegriff weist damit eine innere Dialektik auf. In seiner symboltheoretischen Form fungiert er als Beschreibung der Reflexivität der intentionalen Struktur des religiösen Bewusstseins und bezeichnet dessen gegenständliches Korrelat, die Ausdrucksform, durch das hindurch das Unbedingte gemeint wird. Allein aus dieser Perspektive ist das „Mythische ein Element aller Religion, ist Mythos religiöse Kategorie“ (GW V, 190). Der ungebrochene Mythos hingegen steht für ein nicht-reflexives Bewusstsein. Es sistiert seine eigene Reflexivität dadurch, dass es den Symbolgebrauch stillstellt. Dagegen muss die Religion als Reflexivität des Kulturprozesses „protestieren“ (ebd.).
1.2 Der politische Ursprungsmythos und seine Dialektik Seinen symboltheoretischen Mythosbegriff hat Tillich zur Analyse der kulturellen und politischen Lage seiner Gegenwart herangezogen. Insbesondere in seiner 1933 erschienenen Schrift Die sozialistische Entscheidung ³² sowie deren Vorversion Der Geist des Sozialismus und der Kampf gegen ihn ³³ fungiert der Mythos als grundlegende Kategorie zur Beschreibung der politischen Romantik. Sie sei ursprungsmythisches Denken. Im Unterschied zu den religionstheoretischen Schriften der 1920er Jahre transformierte Tillich seine sinntheoretische Geistphilosophie seit den 1930er Jahren zunehmend in eine anthropologische Konzepti Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, in: Ders., Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften, MW III, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 1998, 283 – 419. Zu der durchaus ambivalenten politisch strategischen Funktion der Schrift vgl. Stefan Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918 – 1945, Bonn 2006; Ders., Die Sozialistische Entscheidung. Paul Tillich und die sozialdemokratische Junge Rechte in der Weimarer Republik, in: Religion und Politik, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/Wien 2008 (= International Yearbook for Tillich Research 4), 35 – 52; Erdmann Sturm, Tillichs religiöser Sozialismus im Rahmen seines theologischen und philosophischen Denkens, in: Religion und Politik, 15 – 34; Alf Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, 215 – 234. Paul Tillich, Der Geist des Sozialismus und der Kampf gegen ihn, in: Ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908 – 1933). 2. Teil, EW XI, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 399 – 448. Eine Vorversion von Die Sozialistische Entscheidung hatte Tillich 1932 in den Neuen Blättern für den Sozialismus unter dem Titel Protestantismus und politische Romantik publiziert. Vgl. Paul Tillich, Protestantismus und politische Romantik, in: Ders., Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum religiösen Sozialismus, GW II, Stuttgart 1962, 209 – 218.
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on.³⁴ Sie soll die Grundlage einer politischen Theorie darstellen. „Ohne eine Lehre vom Menschen kann es keine Lehre von den politischen Richtungen geben, die mehr wäre als die Darstellung ihrer äußeren Erscheinung.“ (MW III, 289)³⁵ In seine daseinsontologische ‚Lehre vom Menschen‘ hat Tillich Aufbauelemente seiner früheren sinntheoretischen Geistphilosophie aufgenommen. „Eine solche Anthropologie könnte man als ontologische Anthropologie neben die wissenschaftliche stellen. Sie fragt: Was ist das Sein des Menschen im Hinblick auf das Sein selbst oder […] im Hinblick auf den Sinn des Seins?“ (EW XIV, 437) Aus ihr resultieren sowohl sein Verständnis des politischen Ursprungsmythos als auch des Sozialismus als Ausdrucksformen menschlich-gesellschaftlichen Seins. Grundlegend für das menschliche Sein ist dessen Geiststruktur. Tillich beschreibt sie als „in sich gedoppeltes Wesen“ (MW III, 289) des Menschen. „Hier ist [sc. „im Unterschied zur Natur“] ein Lebensprozeß, der nach sich und seiner Umwelt fragt, der an sich und seine Umwelt Forderungen stellt, der also nicht eins ist mit sich, sondern die Doppelung hat, in sich zu sein und zugleich sich gegenüber zu stehen, sich zu denken, von sich zu wissen.“ (Ebd.) Die eigentümliche Struktur des menschlichen Seins ist durch eine Differenzeinheit ausgezeichnet. Der Mensch ist Teil der Natur und zugleich von ihr unterschieden. Die Einheitsdimension des Unbedingten im Selbstverhältnis des Menschen nennt Tillich Ursprung. Sie liegt dem Selbstverhältnis des Bewusstseins voraus und zugrunde und tritt in ihm in eine Zweiheit auseinander. Der Übergang von der Anthropologie zur gesellschaftlich politischen Dimension beruht darauf, dass das politische Denken als Ausdruck des menschlichen Seins und seiner Selbsterschlossenheit verstanden wird.³⁶ Das politische Denken fußt auf der in sich gedoppelten Einheit, die der
Vgl. hierzu Erdmann Sturm, Tillichs religiöser Sozialismus im Rahmen seines theologischen und philosophischen Denkens, 25 – 28. Zu der anthropologischen Umformung seiner Geistphilosophie vgl. schon Paul Tillich, Der Ort der religiösen Erkenntnis (Prolog), in: Ders., DogmatikVorlesung (Dresden 1925 – 1927), EW XIV, hrsg. v. Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/New York 2005, 435 – 440; Ders., Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/30), EW XV, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 2007. In den frühen Vorlesungen im Exil hat Tillich das Thema dann explizit aufgenommen. Vgl. Paul Tillich, Frühe Vorlesungen im Exil (1934– 1935), EW XVII, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/Boston 2012. Die unpublizierte Vorversion Der Geist des Sozialismus und der Kampf gegen ihn, die vermutlich 1931 entstand, enthielt noch keine anthropologische Grundlegung der politischen Theorie. Explizit hatte sich Tillich dem anthropologischen Thema in dem Vortrag Klassenkampf und religiöser Sozialismus von 1930 zugewandt. Vgl. Paul Tillich, Klassenkampf und religiöser Sozialismus, in: Ders.,Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften, MW III, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 1998, 167– 188. Vgl. Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, MW III, 293: „Die Wurzeln des politischen Denkens sind nicht wieder Gedanken, sondern menschliches Sein, also Sein, das in sich gedoppelt
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Mensch ist, und damit weder allein in dem gesellschaftlichen Sein des Menschen noch in dessen Bewusstsein.³⁷ Da die Einheitsdimension des Ursprungs dem menschlichen Selbstverhältnis zugrunde und voraus liegt, kann sie nicht durch menschliches Handeln hervorgebracht werden. Der Mensch kann ihr inne werden, indem er sich selbst findet. „Sich vorfinden aber heißt: nicht von sich selbst stammen, einen Ursprung haben, der man nicht selbst ist, oder wie das prägnante Wort von Martin Heidegger lautet: ‚Geworfensein‘.“ (MW III, 290) Das Innewerden der Faktizität des eigenen Lebens ist indes stets in kulturelle Formen eingebunden. Entsprechend seinem Verständnis des Mythos versteht Tillich die Deutungen der Faktizität menschlichen Seins als Mythos. „Aller Mythos ist Ursprungsmythos, Antwort auf die Frage nach dem Woher und Ausdruck des Stehens im Ursprung und in der Gebundenheit an seine Macht.“ (MW III, 291) Das ungebrochene mythische Bewusstsein ist allerdings prekär. Es trägt seine Auflösung in sich. Als um sich wissendes Selbstverhältnis steht der Mensch stets bereits in Differenz zur Faktizität seines Seins. Sein Selbstverhältnis kann er nur durch seine Selbstbestimmung aufrechterhalten, und insofern ist er unter der Forderung, sich zu verwirklichen und mit seiner eigenen Unmittelbarkeit zu brechen. „Wo dieses Bewußtsein sich durchsetzt, ist Ursprungsbindung grundsätzlich gelöst, der Ursprungsmythos grundsätzlich gebrochen.“ (Ebd.) Mit den beiden genannten Dimensionen des Menschseins, dem Sich-Vorfinden und der Forderung,³⁸ verbindet Tillich politische Haltungen. Auf dem Ursprungsmythos fußt das konservative und romantische Denken und auf der Brechung des Ursprungsmythos das liberale, demokratische und sozialistische Denken.³⁹ Da der Mensch eine in sich gedoppelte Einheit ist, stehen sich die beiden Grundtypen des politischen Denkens nicht einfach gegenüber. Beide Formen fußen auf der Deutung der Einheitsfunktion im Selbstverhältnis. Aus diesem Grund erscheint der Ursprung selbst als zweideutig. „In ihm ist eine Spaltung zwischen wahrem und wirklichem Ursprung. Das wirklich Ursprüngliche ist, bewußtes Sein. Das bedeutet: Politisches Denken ist notwendig Ausdruck eines politischen Seins, einer Gesellschaftslage.“ Vgl. a.a.O., 289: „Politisches Denken geht vom Menschen in seiner Einheit aus. Es wurzelt gleichzeitig im Sein und Bewußtsein, genauer in der unlöslichen Einheit beider.“ Diese Dualität hat Tillich auch in seinem Vortrag Eschatologie und Geschichte skizziert. Vgl. Paul Tillich, Eschatologie und Geschichte, in: Ders., Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, GW VI, Stuttgart 1963, 72– 82. Vgl. aber schon Ders., Grundlinien des Religiös[en] Sozialismus. Ein systematischer Entwurf, in: Ders.,Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften, MW III, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 1998, 103 – 130. Vgl. Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, MW III, 291.
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ist nicht das in Wahrheit Ursprüngliche.“ (MW III, 292) In der Zweideutigkeit des Ursprungs spiegeln sich die Dialektik des Mythos sowie die hieraus resultierende Differenz zwischen gebrochenem und ungebrochenem Mythos. Der wahre Ursprung – die das Selbstverhältnis fundierende Synthesisfunktion – steht für ein sich selbst erschlossenes Selbstverhältnis und gerade nicht für einen fixierbaren gegenständlichen Ursprung. „Die Erfüllung des Ursprungs ist vielmehr das, was den Menschen als Forderung, als Soll gegenübersteht.“ (Ebd.) Die Dialektik des Mythos bildet die methodische Grundlage für die Ableitung der Grundtypen des politischen Denkens in Die sozialistische Entscheidung. Sie wird in einem geschichtsphilosophischen Horizont eingeordnet, welcher die Folie für die Analyse des ursprungsmythischen politischen Denkens der Gegenwart abgibt. Den Ausgangspunkt der geschichtsphilosophischen Konstruktion bildet das mythische Bewusstsein, dessen Ausdrucksform der Ursprungsmythos darstellt. In ihm, der stets konkret auftritt, unterscheidet Tillich die drei Ursprungsmächte Boden, Blut und soziale Gruppe. Die Abfolge der drei Ursprungsmächte dokumentiert bereits seine Auflösung. Die soziale Gruppe enthält „eine gewisse Loslösung vom Boden“ sowie einen „Forderungscharakter“ und ermöglicht „eine Brechung des Ursprungsmythos überhaupt“ (MW III, 298). Gebrochen wird der Mythos allerdings erst durch die alttestamentlichen Propheten. Sie lösen den Ursprung von der sozialen Gruppe ab, führen ihn jedoch gebrochen im Gottesgedanken weiter. „Nicht die Prophetie, sondern erst das autonome Bewußtsein reißt sich los von jeder Art von Vaterbindung.“ (MW III, 305) Die Aufklärung weist auch den gebrochenen Mythos zurück. Aber dessen Überwindung durch das autonome Bewusstsein schlägt bei Tillich wie – später – bei den Autoren der Dialektik der Aufklärung selbst in mythisches Denken um. „Prophetie wie Autonomie“ verfallen „in ihrer Isolierung auf die Dauer dem Ursprungsmythos wieder“ (MW III, 306).⁴⁰ Die Dialektik des autonomen Bewusstseins, welche Tillich mit der bürgerlichen Gesellschaft identifiziert und die sich sei den 1920er Jahren in seinen Schriften findet,⁴¹ stellt eine Konsequenz seiner Konstruktion des Selbstverhältnisses des Menschen dar. Dieser zufolge ist der gebrochene Mythos die Ausdrucksform der Erfassung der Tiefendimension des Geistes und insofern für diesen konstitutiv. Die Überwindung des Mythos sistiert die Reflexivität des Selbstverhältnisses des menschlichen Bewusstseins und reduziert es auf Zweckrationalität. Diese nimmt den Durchbruch des Neuen in der Zeit auf die unendliche Entfaltung
Vgl. schon Paul Tillich, Der Geist des Sozialismus und der Kampf gegen ihn, EW XI, 418. Vgl. hierzu schon Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs, GW I, 385 – 388 (Die Dialektik der Autonomie).
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des Bestehenden und damit auf den Kreislauf eines raumgebundenen Denkens zurück.⁴² „Die endlichen Formen in ihrer Endlichkeit werden Gegenstand der Erkenntnis und Gestaltung. Auch das Gestaltungsziel liegt in der Endlichkeit; es kann immer weiter, unendlich weit herausgeschoben werden; aber es durchbricht die Endlichkeit nicht.“ (MW III, 305) Sowohl die politische Romantik in ihren unterschiedlichen Typen als auch der Sozialismus sind Reaktionen auf die Krise der Autonomie, auf die Rationalisierung und Verdinglichung des Lebens infolge der Durchsetzung des autonomen Bewusstseins. Sie setzen beide die Durchbrechung des Ursprungsmythos durch die Religions- und Kulturgeschichte voraus und agieren unter dieser Voraussetzung. Während jedoch der Sozialismus für ein reflexives Geschichtsbewusstsein steht bzw. dessen Ausdruck ist,⁴³ versteht Tillich die politische Romantik als den Versuch, „den gebrochenen Ursprungsmythos geistig und gesellschaftlich wieder herzustellen“ (MW III, 307).⁴⁴ Der Mythos kann unter den Bedingungen der Moderne jedoch nur durch technische Mittel erzeugt werden. Bindende Kraft erlangt er allein durch Ausschaltung der Reflexion und der Autonomie. Die politische Romantik muss, wenn sie erfolgreich sein will, Symbole und Bindungskräfte wie die Rasse oder die Gemeinschaft schaffen, welche auf emotionale Weise die reflexive Distanz des Bewusstseins überwindet.⁴⁵ Die unterschiedlichen Formen der politischen Romantik, die konservative sowie die revolutionäre, wollen die Reflexivität durch diese selbst überwinden. „So entstehen die Theorien der politischen Romantik, die trotz ihrer häufig geistvollen Durchführung an dem Widerspruch nicht vorbeikönnen, das Irrationale rational begründen zu müssen.“ (MW III, 307) Durch diesen Widerspruch Vgl. Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs, GW I, 387: „Darum muß jede autonome Periode zerbrechen: Sie kann mit ihrer formalen Unbedingtheit alles Lebendige töten und rationalisieren; aber sie kann nicht einen einzigen Lebensinhalt schaffen.“ Vgl. hierzu Christian Danz, „Es wäre dem Geist des Protestantismus angemessen, wenn er eine Philosophie des Neuen schaffen würde.“ Überlegungen zum Verständnis des Neuen bei Paul Tillich, in: Wahrhaft Neues. Zu einer Grundfigur christlichen Glaubens, hrsg. v. Hartmut von Sass, Leipzig 2013, 125 – 149. Vgl. Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, MW III, 307: „Die politische Romantik ist also die Gegenbewegung gegen Prophetie und Aufklärung auf dem Boden einer Geistes- und Gesellschaftslage, die durch Prophetie und Aufklärung bestimmt ist.“ Den Begriff ‚politische Romantik‘ dürfte Tillich von Carl Schmitt übernommen haben.Vgl. Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 5 1991, 23: „Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, d. h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität.“ Vgl. Paul Tillich, Der Geist des Sozialismus und der Kampf gegen ihn, 420: „Der Ursprungsmythos kann nur wiederkehren, ungebrochen, wie es für ihn notwendig ist, wiederkehren, wenn die Gesellschaft, in der er gebrochen ist, untergeht.“ Vgl. auch Ders., Die sozialistische Entscheidung, MW III, 307.
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bleibt die politische Romantik allerdings der Dialektik der Autonomie verpflichtet.⁴⁶ Die politischen Mythen des 20. Jahrhunderts, welche die Atomisierung und Verdinglichung der Gesellschaft überwinden und eine neue Einheit stiften sollen, sind selbst rational und technisch hergestellt.
2. Der Mythos als symbolische Form bei Ernst Cassirer Auch Ernst Cassirer hat den Mythosbegriff zur Diagnose der politischen Entwicklung im 20. Jahrhundert herangezogen. In seinem letzten Werk Der Mythus vom Staat hat er den Versuch unternommen, den Mythos als neue politische Macht vor dem Hintergrund der Geschichte des politischen Denkens seit Plato zu analysieren. Das mythische Denken habe im nationalsozialistischen Deutschland das rationale verdrängt. „Im praktischen und sozialen Leben des Menschen hingegen scheint die Niederlage des rationalen Denkens vollständig und unwiderruflich zu sein.“⁴⁷ Den Bankrott des wissenschaftlichen Denkens vor den politischen Mythen der Moderne rekonstruiert Cassirer im Rückgriff auf seine Kulturphilosophie und den in ihr ausgearbeiteten Mythosbegriff. Letzteren versteht er als eine symbolische Form. Diese erörtert er im ersten Hauptteil von Der Mythus des Staates im Rückgriff auf sein im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen ausgeführtes Verständnis des Mythos.⁴⁸ Um die Eigenart seines Verständnisses des Mythos herauszuarbeiten, ist zunächst auf die systematischen Grundlagen seiner Philosophie der symbolischen Formen einzugehen und im Anschluss daran auf seine Deutung der politischen Mythen des 20. Jahrhunderts.
Über den Widerspruch, den Geist mit dem Geist zu bekämpfen, möchte Tillich in Die sozialistische Entscheidung zumindest die revolutionäre Form der politischen Romantik aufklären, um sie mit seiner Konzeption des Sozialismus zu verbinden. Vgl. Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, MW III, 380 f.: „Sicher aber ist, daß gegenwärtig nicht auf die allgemeine Proletarisierung gewartet werden darf, sondern die Verbindung des revolutionären Proletariats mit den revolutionären Gruppen der politischen Romantik angestrebt werden muß.“ Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates, 8. Vgl. a.a.O., 7– 69; Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, ND Darmstadt 91994 (im Folgenden zit. als PsF II). Vgl. hierzu Heinz Paetzold, Ernst Cassirers ‚Myth of the State‘, 111– 145; Enno Rudolph, Politische Mythen als Kulturphänomene nach Ernst Cassirer, in: Kulturkritik nach Ernst Cassirer, hrsg. v. Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers, Hamburg 1995, 142– 158; Dominic Kaegi, Ernst Cassirer: Über Mythos und symbolische Form, in: Mythos zwischen Philosophie und Theologie, hrsg. v. Enno Rudolph, Darmstadt 1994, 167– 199.
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2.1 Der Mythos im Horizont der Kulturphilosophie Im Horizont seiner Kulturphilosophie versteht Ernst Cassirer den Mythos als symbolische Form. Diese Konzeption hat er seit den 1920er Jahren in seiner Philosophie der symbolischen Formen in Weiterführung von Überlegungen aus seiner Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff ausgearbeitet.⁴⁹ Sie resultiert ähnlich wie bei Tillich aus einer Verknüpfung von neukantianischen und phänomenologischen Motiven. Erst vor diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund seiner Kulturphilosophie erhält sein Verständnis des Mythos seine spezifischen Konturen. Cassirers Programm einer systematischen Grundlegung der Kulturwissenschaften unterscheidet sich von den Konzeptionen Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts. Deren methodische Differenzierung von Natur- und Kulturwissenschaften⁵⁰ bleibe insofern unklar, als sie „dem höchst komplexen Tatbestand, den sie beschreiben will, nicht gerecht“ wird.⁵¹ „Mitten in der Naturwissenschaft tauchen Probleme auf, die sich nur mit historischen Begriffsmethoden behandeln lassen, und andererseits hindert nichts, auf historische Gegenstände naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen anzuwenden.“⁵² Die von Windelband und Rickert vorgenommene werttheoretische Begründung der Kulturwissenschaften möchte diese zwar der „Herrschaft der Metaphysik entziehen“, sie kommt allerdings selbst nicht ohne metaphysische Voraussetzungen aus.⁵³ Die cum grano salis begriffslogische Grundlegung der Kulturwissenschaften im südwestdeutschen Neukantianismus reduziert Kultur auf begriffliche Erkenntnis und ist deshalb nicht in der Lage, die Fülle der kulturellen Phänomene in ihrer Eigenbedeutung zu erfassen. Gegenüber der neukantianischen Kulturphilosophie gilt es
Vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt 71994. Vgl. Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, in: Ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Tübingen 51915, 136 – 160; Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986; Ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 2 Bde, Freiburg (i.Br.) 1886 – 1902, Tübingen 51929. Ernst Cassirer, Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, in: Ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt 61994, 34– 55, hier: 36. A.a.O., 36 f. A.a.O., 37. Vgl. auch ebd.: „Sucht er [sc. der Historiker] diese Begründung der Geschichte selbst zu entnehmen, so droht ihm die Gefahr, sich in einen logischen Zirkel zu verwickeln; will er das System, wie Rickert selbst es in seiner Wertphilosophie getan hat, a priori konstruieren, so zeigt sich immer wieder, daß eine solche Konstruktion ohne irgendwelche metaphysischen Annahmen nicht durchführbar ist, und daß somit die Frage im Grunde wieder an eben dem Punkt endet, von dem sie ausgegangen war.“
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folglich, eine solche „philosophische Systematik des Geistes“ zu konzipieren, „in der jede besondere Form ihren Sinn rein durch die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchen sie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit deren Allheit steht“.⁵⁴ Diese Funktion erfüllt der Symbolbegriff. Er avanciert zum methodischen Grundbegriff einer systematischen Kulturphilosophie, da er „keinem einzelnen Gebiet des Geistigen ausschließlich angehört“ und damit ein „systematische[s] Zentrum“ markiert, „auf das alle Grunddisziplinen der Philosophie – die Logik nicht minder wie die Ästhetik, die Sprachphilosophie so gut wie die Religionsphilosophie –, in gleicher Weise hinzielen“.⁵⁵ Der Symbolbegriff eignet sich deshalb als Schlüssel für eine philosophische Systematik des Geistes, weil er eine „Grund- und Urschicht aller Bewußtseinsphänomene“ darstellt.⁵⁶ „Wir versuchen mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete ‚Sinnerfüllung‘ des Sinnlichen sich darstellt; – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.“⁵⁷
Der Symbolbegriff steht für eine Synthesis von Sinnlichem und Sinn, die bereits im Wahrnehmungsakt vollzogen wird. „Wenn wir die Wahrnehmung in ihrem einfachen phänomenalen Bestand zu beschreiben suchen, so zeigt sie uns gewissermaßen ein doppeltes Antlitz. Sie enthält zwei Momente, die in ihr innig verschmolzen sind, deren keines sich aber auf das andere reduzieren läßt.“⁵⁸ Im Unterschied zu Kant versteht Cassirer die Wahrnehmung nicht als Subsumtion der sinnlichen Anschauung unter den Begriff.⁵⁹ In ihr liegt eine Objektivierung des Geistes vor, in der das sinnlich Wahrgenommene bereits kategorial geformt ist. Die
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache, ND Darmstadt 1994, 14 (im Folgenden zit. als PsF I). Ernst Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, in: Ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927– 1933, hrsg. v. Ernst Wolfgang Orth/John Michael Krois, Hamburg 21995, 1– 38, hier: 1. Vgl. auch Ders., PsF I, 16. Ernst Cassirer, Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, 39. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3: Phänomenologie der Erkenntnis, ND Darmstadt 101994, 109 (im Folgenden zit. als PsF III). Ernst Cassirer, Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, 39; Ders., Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, 8. Vgl. hierzu Dominic Kaegi, Ernst Cassirer: Über Mythos und symbolische Form, 172– 176.
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Kantische Dichotomie von Anschauung und Begriff wird in ein Repräsentationsverhältnis überführt, welches als Grundfunktion des Bewusstseins fungiert.⁶⁰ Die symbolischen Formen Mythos, Religion, Sprache, Kunst,Wissenschaft etc. versteht Cassirer als spezifische Aktivitäten des Geistes, „durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“.⁶¹ Jene sind zwar keine Abbilder der Wirklichkeit, aber auch nicht von der Energie des Geistes ex nihilo geschaffen. Vielmehr entstehen die symbolischen Formen dadurch, dass die Wahrnehmung in diese „aufgenommen und durch sie bestimmt und gestaltet“ werden.⁶² „Auf die ‚natürliche‘ Symbolik, auf jene Darstellung des Bewußtseinsganzen, die schon in jedem einzelnen Moment und Fragment des Bewußtseins notwendig enthalten oder mindestens angelegt ist, müssen wir zurückgehen, wenn wir die künstliche Symbolik, wenn wir die ‚willkürlichen‘ Zeichen begreifen wollen, die sich das Bewußtsein in der Sprache, in der Kunst, im Mythos erschafft.“⁶³
Durch die Aufnahme der Zeichen in die symbolischen Formen gestalten sich diese zu einer eigenen objektiven Welt, die jeweils spezifischen Regeln der Konstitution folgen. Das Verhältnis zwischen der Wahrnehmungssynthese und ihrem jeweiligen Blickpunkt, durch den das Zeichen erst seine Bedeutung erhält, bezeichnet Cassirer als symbolische Prägnanz.⁶⁴ Für jede symbolische Form ist ein eigenes Gesetz der Bildung, eine Regel konstitutiv, nach der die Zeichen zur Welt gestaltet werden.⁶⁵ Diese Regel, welche die jeweilige Weltsicht mitrepräsentiert, gilt es aufzusuchen, wenn die kulturelle Vielfalt der symbolischen Formen als Objektivierung des Geistes verstanden werden soll. Eine Systematik des Aufbaus der Welt des Geistes ergibt sich durch die Unterscheidung der Zeichenfunktionen Ausdruck, Darstellung und Bedeutung.
Vgl. Ernst Cassirer, PsF I, 27– 41. Cassirer versteht unter Repräsentation „die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen“. Sie ist eine „wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewusstseins selbst und als Bedingung seiner eigenen Formeinheit“ (a.a.O., 41). Vgl. schon Ders., Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 377. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, 171– 200, hier: 175. Ernst Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, 7. Ernst Cassirer, PsF I, 41. Vgl. Ernst Cassirer, PsF III, 235. Vgl. hierzu Dominic Kaegi, Ernst Cassirer: Über Mythos und symbolische Form, 176 – 180; Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 69 – 125; Philipp Dubach, „Symbolische Prägnanz“ – Schlüsselbegriff in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen?, in: Kulturkritik nach Ernst Cassirer, hrsg.v. Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers, Hamburg 1995, 47– 84. Vgl. Ernst Cassirer, PsF I, 11.
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Während die Ausdrucksdimension die elementarste Ebene der symbolischen Formung darstellt, in der Sinn und Sinnlichkeit eng verknüpft sind, verweist in der Darstellungsfunktion das Zeichen auf etwas anderes als es selbst.⁶⁶ In der Bedeutungsrelation schließlich vertritt das Zeichen keine anschaulichen Gehalte mehr. Es repräsentiert „eine wechselseitige Beziehung und Entsprechung, die in ihrem allgemeinen Gesetz erfaßt wird,während wir darauf verzichten müssen, uns die Elemente, die in diese Beziehung eingehen, als selbständigen Bestand, als Inhalte, die außerhalb der Beziehung noch etwas bedeuten, vorstellig zu machen“.⁶⁷ Erst auf der Ebene der Bedeutungsfunktion wird das Zeichen als solches gebraucht und nicht mehr als ikonischer Ausdruck oder indexikalische Darstellung.⁶⁸ Auf der Grundlage der Unterscheidung dieser Zeichenfunktionen ordnet Cassirer den Mythos der Ausdrucksfunktion zu. Dieser verdankt sich einer eigenständigen Gestaltung zur Welt durch die Energie des Geistes. Die eigentümliche Formung, welche das mythische Bewusstsein seiner Weltsicht gibt, zeichnet sich durch ihren affektiven Ausdruck sowie flüssige Unterscheidungen aus.⁶⁹ Auch der Mythos bildet die ‚Wirklichkeit‘ nicht einfach ab. Das mythische Denken formt „die sinnlichen Eindrücke gemäß seiner eigenen Strukturform“ um und verfügt „in dieser Umbildung über ganz bestimmte eigenartige ‚Kategorien‘“, „nach denen sich die Zuweisung der verschiedenen Objekte zu den einzelnen Grundklassen vollzieht“.⁷⁰ Im mythischen Bewusstsein erfolgt die Prägung der Welt allerdings auf der Ebene der Ausdrucksfunktion des Zeichens. Deshalb vergisst es sich in
Vgl. Ernst Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, 10: „Denn in jedem Satz ist stets eine bestimmte Setzung enthalten: und diese zielt auf einen objektiven Sachverhalt hin, den die Sprache in irgend einer Weise festhalten und beschreiben will.“ Vgl. hierzu auch Ders., Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, 178 – 182. Ernst Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, 10. Vgl. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, 182; Ders.,Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, 58. Vgl. Ernst Cassirer, Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, 40: „Der Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung ist das, was die mythische Weltansicht charakterisiert. Für sie gibt es noch keine streng bestimmte und gesonderte ‚Sachwelt‘. […] Jedes Gebilde kann sich in das andere wandeln; alles kann aus allem werden.“ Ernst Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, in: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, 2– 70, hier: 22. Ausführlich hat Cassirer die Kategorien des mythischen Bewusstseins im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen dargestellt.Vgl. Ders., PsF II, 93 – 182; Ders., Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927– 1933, hrsg. v. Ernst Wolfgang Orth/John Michael Krois, Hamburg 21995, 93 – 119.
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seinen Gestaltungen und steht ihnen nicht frei gegenüber.⁷¹ Seine eigenen Bilder sind ihm nicht als seine Schöpfungen bewusst. Es nimmt seine Zeichen und Bilder für die Sache selbst. Hierauf fußt die Macht und Magie des Mythos. Allerdings ist dem mythischen Bewusstsein seine Auflösung bereits ab ovo eingeschrieben. Als Bewusstsein ist es nämlich stets über seine eigene Unmittelbarkeit schon hinaus und trägt seine Auflösung in sich.⁷² Auch für Cassirer ist der Mythos ein Schwellenphänomen mit einer eigenen Dialektik.⁷³
2.2 Der politische Mythos des 20. Jahrhunderts Der Mythos stellt eine eigene Weise der kulturellen Gestaltung dar, welche sinnliche Eindrücke auf eine spezifische Weise in eine Weltsicht umprägt. Als solcher markiert er den Ausgangspunkt der kulturellen Ausdifferenzierung.⁷⁴ Sprache, Wissenschaft und Religion liegen im mythischen Bewusstsein noch ineinander. In ihrer Loslösung und Brechung des Mythos lassen sie diesen jedoch nicht einfach hinter sich. Das religiöse Bewusstsein erfasst sich zwar als ein Zeichenbewusstsein und als ein spezifischer Umgang mit Zeichen, aber ohne Bilder kann es sich nicht artikulieren. Immer „aufs neue brechen sie aus ihr hervor und machen sich als eine selbständige Macht geltend“.⁷⁵ Im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen hat Cassirer diese Dialektik des mythischen Bewusstseins minutiös herausgearbeitet und in seinem Spätwerk zur Analyse der politischen Mythen des 20. Jahrhunderts aufgenommen. In Der Mythus vom Staat ist Cassirer der Frage nachgegangen, wie die archaische Denkform des Mythos unter den Bedingungen einer modernen Gesell-
Vgl. Ernst Cassirer, Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, in: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, 71– 167, hier: 103: „Denn hier steht der Gedanke dem Inhalt der Anschauung nicht frei gegenüber, um ihn in bewußter Reflexion auf andere zu beziehen und mit anderen zu vergleichen, sondern hier ist er von diesem Inhalt, so wie er unmittelbar vor ihm steht, gleichsam gebannt und gefangen genommen. Er ruht in ihm; er fühlt und weiß nur seine unmittelbare sinnlich Gegenwart, die so übermächtig ist, daß vor ihr alles andere verschwindet.“ Vgl. auch Ders., PsF I, 25 f.; Ders., Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, 188. Vgl. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, 188; Ders., PsF II, 31 sowie PsF III, 125. Vgl. Ernst Cassirer, PsF II, 281– 311.Vgl. hierzu Christian Danz, Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, 223 – 226; Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt, 148 – 155; Dominic Kaegi, Ernst Cassirer: Über Mythos und symbolische Form, 183 – 186. Vgl. Ernst Cassirer PsF II, IX. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, 189.
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schaft eine solche Macht im politischen Denken gewinnen kann, dass sie das rationale Denken außer Kraft setzt. Vor dem Hintergrund seines Verständnisses des Mythos als eine eigene Denkform zeichnet er die Geschichte des politischen Denkens von Platons Zurückweisung des Mythos aus der Staatstheorie an bis hin zur Kritik der Romantik an dem rationalen Staatsdenken der Aufklärung facettenreich nach. Die grundlegenden Motive für die totalitären politischen Mythen des 20. Jahrhunderts entstammen seiner Diagnose zufolge dem 19. Jahrhundert: Thomas Carlyles Vorlesungen über Heldenverehrung aus den Jahren 1837 bis 1840, Arthur de Gobineaus Rassentheorie und Hegels Staatstheorie. Die Konsequenzen, welche der Mythos des 20. Jahrhunderts aus diesen Theorien gezogen hat, sind den Absichten ihrer Autoren zwar „ganz fremd“,⁷⁶ aber sie werden in den politischen Mythen aufgenommen und zu einem breitenwirksamen Amalgam verschmolzen. Aber wie erklärt sich, dass „Menschen von Erziehung und Intelligenz, ehrenhafte und aufrechte Menschen […] plötzlich das höchste menschliche Privileg aufgeben“, „freie und persönlich handelnde Menschen zu sein“?⁷⁷ Cassirers Analysen des mythischen Bewusstseins zufolge enthält dieses eine Dialektik und ist eine Lebensform.⁷⁸ Die religiöse Brechung der mythischen Ineinssetzung von Bild und Sache vermag das Bild nicht hinter sich zu lassen. Der für das religiöse Bewusstsein grundlegende Konflikt zwischen Bild und Sinn, der „ständige Versuch, sich vom bloß Bildhaften zu lösen und die ständige Notwendigkeit, zu ihm zurückzukehren, bildet ein Grundmoment des religiösen Prozesses selbst, wie er sich in der Geschichte vollzieht“.⁷⁹ Die Möglichkeit, dass sich das Bewusstsein in seinen eigenen Schöpfungen vergisst und seine reflexive Distanz gegenüber seinen Bildern aufgibt, gehört zu jenem selbst. Akut wird sie, wie Cassirer mit Rekurs auf Bronisław Malinowski ausführt, in sozialen Umbruchund Krisensituationen.⁸⁰ „Diese Beschreibung der Rolle von Magie und Mythologie in der primitiven Gesellschaft gilt ebensowohl für weit vorgeschrittene Stadien des politischen Lebens des Menschen. In verzweifelten Lagen will der Mensch immer Zuflucht zu verzweifelten Mitteln nehmen – und die politischen Mythen unserer Tage sind solche verzweifelten Mittel gewesen.“⁸¹
Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates, 290. A.a.O., 373. Vgl. hierzu Enno Rudolph, Politische Mythen als Kulturphänomene nach Ernst Cassirer, 146 – 149; Dominic Kaegi, Ernst Cassirer: Über Mythos und symbolische Form, 193 – 196. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, 189; vgl. auch Ders., Der Mythus des Staates, 364. Vgl. Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates, 361– 363. Vgl. hierzu Heinz Paetzold, Ernst Cassirers ‚Myth of the State‘, 120 f. Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates, 363.
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Der Mythos ist nie nur Denkform, er ist eine Lebensform, welche emotionale Bindungen stiftet, wenn die rationale Beherrschung der Wirklichkeit versagt und in die Krise gerät. Auf diese Weise befreit er den Menschen vom Dilemma der eigenen Verantwortung.⁸² Die Preisgabe der reflexiven Distanz zu den Bildern entlastet den Menschen, indem die Zeichen ihn in seinen Bann ziehen und eine geradezu magische Wirkung auf ihn ausüben. Die durch das Zeichen ermöglichte Distanz zur Wirklichkeit, welche stets einen Verlust an Unmittelbarkeit darstellt, wird im Interesse an starken Bindungen zurückgenommen. Im Unterschied zum mythischen Bewusstsein, welches Ausgangspunkt und Grundlage der kulturellen Ausdifferenzierung darstellt, sind die modernen politischen Mythen technisch erzeugt. „Während der Boden für den Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts lange vorher bereitet worden war, hätte er seine Früchte nicht ohne geschickten Gebrauch der neuen technischen Mittel tragen können.“⁸³ In den politischen Mythen wird aus dem homo magus sowohl ein homo faber als auch ein homo divinans. Erfolgreich können jene indes nur dann sein, wenn sie zugleich als Lebensform installiert werden. Das geschieht, wie Cassirer zu zeigen versucht, sowohl durch eine Remythisierung der Sprache als auch durch die Erfindung neuer Riten. Damit eine Sprache magischen Charakter gewinnen kann, muss deren Darstellungs- auf die Ausdrucksfunktion zurückgenommen werden. Die Verweisfunktion des Zeichens, das Benennen der „Dinge oder Beziehungen zwischen Dingen“ tritt hinter den Versuch, „Wirkungen hervorzubringen und den Lauf der Dinge zu ändern“, zurück.⁸⁴ Die in die Sprache bereits eingegangene Reflexivität wird indes reflexiv sistiert, damit das Wort als magisches und als Ausdruck von Affekten wirken kann. Eine solche Funktion kann die Sprache allerdings nur erfüllen, wenn sie „durch die Einführung neuer Riten begleitet“ wird.⁸⁵ „Nichts ist besser imstande, all unsere aktiven Kräfte in Schlaf zu lullen, unsere Urteilskraft und Fähigkeit kritischer Unterscheidung, unser Gefühl für Persönlichkeit und individuelle Verantwortung hinwegzunehmen, als die ständige, uniforme und monotone Vollziehung der gleichen Riten.“⁸⁶ Die politischen Mythen erzielen ihre Wirkung durch eine reflexiv erzeugte Ausschaltung von Reflexivität und Distanz im Zeichengebrauch. Die dichte Gemeinschaft der Rasse, die durch solche Zeichen gestiftet werden, beruht auf einer Pathologie des Sym-
Vgl. a.a.O., 366. A.a.O., 360.Vgl. auch a.a.O., 367: „Der Mensch begann als homo magus; aber aus dem Zeitalter der Magie ging er über ins Zeitalter der Technik. Der homo magus der früheren Zeiten und der primitiven Zivilisation wurde ein homo faber, ein Handwerker.“ A.a.O., 368. A.a.O., 371. Ebd.
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bolbewusstseins. Die technisch erzeugte Unmittelbarkeit überlagert auf emotionale Weise die durch das Zeichen gesetzte Distanz und Vermittlung zwischen Mensch und Welt.
3. Die Dialektik des Mythos Paul Tillich hat in den 1920er Jahren sein Verständnis des Mythos in Auseinandersetzung mit Ernst Cassirers Konzeption ausgearbeitet. Dessen erkenntnistheoretischer Fassung des Mythos als symbolische Form setzte er ein symbolischrealistisches Verständnis entgegen, welches freilich keine Abbildtheorie der Wirklichkeit beinhalten soll. Der Mythos repräsentiert die Ausdrucksform für die Unbedingtheitsdimension im Selbstverhältnis des menschlichen Bewusstseins. Er hat einen kategorialen Status und ist eine religiöse Kategorie. Der Unterschied zu der Konzeption Cassirers besteht weder in dem Ausfall des Kultus noch in einem transzendenten Realismus.⁸⁷ Auch für Tillich gehören theoretische und praktische Akte im religiösen Bewusstsein zusammen. „Es gibt keinen Kult, keinen Frömmigkeitsakt ohne mythischen Inhalt. Und umgekehrt: kein Mythos ist religiös, der nicht in Kultus und Frömmigkeit lebendig ist.“ (GW V, 189) Und schließlich meint das religiöse Bewusstsein durch die von ihm selbst geschaffenen Bewusstseinsformen hindurch das Unbedingte. Von einem transzendenten Realismus kann folglich keine Rede sein. Im Unterschied zu Cassirer versteht Tillich allerdings Religion nicht als eine Kulturform neben anderen kulturellen Formen. Die Religion steht für ein Reflexionsgeschehen im Kulturbewusstsein. Sie bezeichnet das Innewerden der symbolschaffenden Tätigkeit des kulturellen Handelns des Menschen. Indem die Religion die reflexive Durchsichtigkeit des konkret bestimmten Bewusstseins bezeichnet, steht sie auf einer anderen Ebene als die kulturellen Formen. Dadurch erhält die Dialektik des Mythos bei Tillich auch eine andere systematische Begründung. Sie bezieht sich ausschließlich auf diejenige Reflexivität, in der die Grundlagenfunktion des Unbedingten erfasst wird. Auch Cassirer kennt eine Dialektik des Mythos, welche auf der Differenz zwischen einem Ausdrucks- und einem Symbolbewusstsein beruht. Sie resultiert aus der reflexiven Struktur des Bewusstseins und dem darauf aufbauenden Verhältnis des mythischen Bewusstseins zum religiösen. Wie der Mythos so ist auch die Religion eine kulturelle Form. Eine Überordnung der Religion, wie sie Tillich vor dem Hintergrund seiner Konzeption der Unbedingtheitsdimension im Selbstverhältnis des Bewusstseins konstruiert, ist für Cassirer ausgeschlossen.
So die Kritik von Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt, 24– 54.
Die politische Macht des mythischen Denkens
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Andernfalls wären die Eigenständigkeit sowie die Pluralität der symbolischen Formen revoziert. Während Tillich den Ursprungsmythos vor dem Hintergrund einer bewusstseinstheoretisch verfassten Einheitskonzeption ausarbeitet, geht es Cassirer um die Vielfalt der symbolischen Formen. Die unterschiedlichen systematischen Konstruktionen des Verhältnisses von Mythos und Religion bei Tillich und Cassirer führen allerdings bei beiden zu vergleichbaren Deutungen der Funktion des Mythos im politischen Denken der Moderne. Diese setzten die Krise der modernen Gesellschaft voraus, bei Tillich die der Autonomie, welche als instrumentelles Handeln selbst in den Mythos umschlägt, und bei Cassirer die Krise der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die modernen Mythen sind technisch erzeugt und verdanken sich mithin selbst einem reflexiven Denken. Unter den Bedingungen der Moderne kann der Mythos nur so zur Geltung gebracht werden, dass die Reflexivität des Zeichenbewusstseins durch eine Steigerung der Affekte und des Ausdrucks sistiert wird. Ihre bindende und gemeinschaftsstiftende Kraft können die totalitären Mythen des 20. Jahrhunderts allein aufgrund einer Pathologie des Zeichenbewusstseins entfalten. Darauf haben freilich auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung aufmerksam gemacht. „Der mathematische Formalismus aber, dessen Medium die Zahl, die abstrakteste Gestalt des Unmittelbaren ist, hält statt dessen den Gedanken bei der bloßen Unmittelbarkeit fest. Das Tatsächliche behält recht, die Erkenntnis beschränkt sich auf seine Wiederholung, der Gedanke macht sich zur bloßen Tautologie. Je mehr die Denkmaschine das Seiende sich unterwirft, um so blinder bescheidet sie sich bei dessen Reproduktion. Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte. Denn Mythologie hatte in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurückgespiegelt und der Hoffnung entsagt.“⁸⁸
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 41.
Ulrich H.J. Körtner
Mythos und Entmythologisierung Paul Tillich und Rudolf Bultmann
1. Rudolf Bultmann und Paul Tillich „Absurd ist jeder wörtlich verstandene Mythos, und damit stelle ich mich ganz auf die Seite des berühmt gewordenen Entmythologisierungs-Programms meines Kollegen und Freundes Bultmann“¹, schrieb Paul Tillich im Jahr 1955. „Die dreigeteilte Welt der biblischen Anschauung, die Teilung in göttliche, dämonische und menschliche Sphäre, die Welt, in der Götter und Dämonen herauf- und herniedersteigen, in die ein Sohn Gottes im spezifischen Sinn in einem feierlichen Akt geschickt wird, in der der Teufel verfolgt wird – all dies ist absurd, wenn es wörtlich genommen wird.“ (GW VIII, 230)
Bultmann selbst hatte 1941 in seinem Vortrag Neues Testament und Mythologie, auf den Tillich sich bezieht, nicht gesagt, das mythische Weltbild sei absurd, sondern „erledigt“: „Kein erwachsener Mensch stellt sich Gott als ein oben im Himmel vorhandenes Wesen vor; ja, den ‚Himmel‘ im alten Sinne gibt es für uns gar nicht mehr. Und ebensowenig gibt es die Hölle, die mythische Unterwelt unterhalb des Bodens, auf dem unsere Füße stehen. Erledigt sind damit die Geschichten von der Himmel- und Höllenfahrt Christi; erledigt ist die Erwartung des mit den Wolken des Himmels kommenden ‚Menschensohnes‘ und des Entrafftwerdens der Gläubigen in die Luft, ihm entgegen […]. Erledigt ist durch die Kenntnis der Kräfte und Gesetze der Natur der Geister- und Dämonenglaube“², weshalb damit auch die neutestamentlichen Wunder „als Wunder erledigt“ sind, „und wer ihre Historizität durch Rekurs auf Nervenstörungen, auf hypnotische Einflüsse, auf Suggestion und dergl. retten will, der bestätigt das nur“³. Zu jener Zeit, als Tillich sich nachdrücklich hinter Bultmann stellte, hatte die Kontroverse um dessen Theologie gerade ihren Höhepunkt erreicht. Konservative und evangelikale Kreise versuchten, gegen Bultmann ein Lehrzuchtverfahren
Paul Tillich, Das Neue Sein als Zentralbegriff einer christlichen Theologie, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 220 – 239, hier: 230. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, hrsg. v. Eberhard Jüngel, München 1988 (= BEvTh 96), 15. A.a.O., 16.
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einzuleiten. Kirchenpräsident Martin Niemöller und Bischof Adolf Wüstemann wussten dies in ihren Landeskirchen in Hessen-Nassau und Kurhessen-Waldeck, wozu Bultmanns Marburger Fakultät gehörte, zu verhindern. Die Kontroverse auf der Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands im April 1952 und die von ihr verabschiedete Entschließung, die zwar eine förmliche Verurteilung Bultmanns vermied, jedoch unverhohlen scharfe Kritik übte, markierte „[d]en Tiefpunkt der gegen die Theologie Bultmanns sich richtenden Kampagnen“⁴. Aber auch Karl Barth machte bei seinem vermeintlichen Versuch, Rudolf Bultmann verstehen zu wollen, keinen Hehl daraus, wie bedenklich ihm Bultmanns Theologie und Hermeneutik erschien.⁵ Tillich wiederum erhob gegen Barth und seine Schule den Vorwurf der Neo-Orthodoxie, die ihre Augen „vor dem historischen Problem“ verschlossen hätten, und begrüßte 1956 in einem Europäische Imressionen überschriebenen Essay den „unter der Führung von Rudolf Bultmann aus Marburg“ erfolgten „Vorstoß gegen die festgefügte Macht dieser Gruppe“⁶. Lobend erwähnte er Friedrich Gogarten und andere Theologen, „die Bultmanns Linie temperamentvoll verteidigen“ (GW XIII, 377). Dass sich Tillich ausdrücklich hinter Bultmann stellte und ihn als seinen Freund bezeichnete, hat vor diesem Hintergrund besonderes Gewicht. Dabei kann von Freundschaft zwischen den beiden Theologen keineswegs durchgängig die Rede sein. Im Gegenteil war ihr Verhältnis phasenweise distanziert. Als Tillich, der bereits von 1924 bis 1925 außerordentlicher Professor in Marburg gewesen war, Fakultät und Stadt jedoch schon nach drei Semestern wieder verlassen hatte, 1929 an zweiter Stelle auf die Berufungsliste für die Nachfolge Rudolf Ottos gesetzt wurde, wandte sich Bultmann in einem Sondervotum dagegen, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Bultmanns Favorit war damals sein Freund Friedrich Gogarten, den die Fakultätsmehrheit ebenso wie Karl Barth ablehnte. Zwar attestierte Bultmann Tillich „seine starke spekulative Kraft, seine große anregende Wirkung und seine ungewöhnliche Offenheit für die allgemeine kulturelle Gesamtlage“, doch könne er „nicht anerkennen, daß in seiner Arbeit wirklich echte theologische Motive wirksam sind“⁷. Außerdem sei Tillich wohl „ein produktiver Geist, aber kein eigentlich wissenschaftlicher Kopf. Seine spe-
Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 22009, 424. Vgl. Karl Barth, Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen, Zollikon-Zürich 21953 (= ThSt [B] 34). Paul Tillich, Europäische Impressionen, in: Ders., Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, GW XIII, Stuttgart 1972, 370 – 379, hier: 377. Rudolf Bultmann, Sondervotum vom 27.1.1929 zur Nachfolge von Professor D. Rudolf Otto in Marburg, in: Ders./Friedrich Gogarten, Briefwechsel 1921– 1967, hrsg. v. Hermann Götz Göckeritz, Tübingen 2002, 291– 297, hier: 292.
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kulative Arbeit ist von wesentlich ästhetischen Motiven getragen, und sie besteht nicht in Forschung und wissenschaftlicher Analyse, sondern in Konstruktion.“⁸ Zur dogmatischen Tradition, die er nur ungenügend kenne, habe Tillich „kein wirkliches Verhältnis“, „und seine Arbeit besteht in einer Umdeutung der theologisch-dogmatischen Sätze in eine spekulative Religionsphilosophie“⁹. Für indiskutabel hielt Bultmann damals auch Tillichs Heidegger-Rezeption. Das ist schon deshalb von zentraler Bedeutung für einen Vergleich von Bultmanns und Tillichs Verständnis von Mythos und Entmythologisierung, weil sich doch Bultmanns damals schon weitgehend abgeschlossene eigene Konzeption, die er später, ins Positive gewendet, als existentiale Interpretation bezeichnet, explizit auf Heideggers Daseinsanalyse Bezug nimmt. Bekanntlich bestand zwischen Bultmann und Heidegger in dessen Marburger Zeit eine intensive Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft, in der sich die beiden Wissenschaftler wechselseitig befruchtet haben. Heidegger war – und blieb – der erste Band von Bultmanns Aufsatzsammlung Glauben und Verstehen gewidmet, der 1933 erschien. Doch für Tillichs Heidegger-Rezeption hat Bultmann nur abschätzige Bemerkungen übrig: „Typisch ist es, wie er in letzter Zeit unter dem Eindruck der ontologischen Untersuchungen Heideggers eine angeblich theologische Ontologie entwirft, die deutlich zeigt, daß Tillich die von ihm aufgegriffenen Gedanken und Schlagworte nicht wirklich durchdacht hat.“¹⁰ Und während Bultmann seinen Freund Heidegger beharrlich, aber vergeblich umwarb, bei der von ihm wieder gegründeten Theologischen Rundschau mitzuarbeiten, hatte er Tillich 1928 von der Mitarbeit ausdrücklich ausgeschlossen.¹¹ Tillich wiederum hat 1963 in einem Interview über ein Treffen mit Heidegger berichtet, bei dem auch auf Bultmanns Heidegger-Rezeption die Rede gekommen sei. Heidegger habe ihm, Tillich, gegenüber geäußert, Bultmann habe ihn im Grunde nicht verstanden. Darauf habe er entgegnet, „er konnte es auch nicht, weil er kein Ontologe ist, sondern immer in seinem Leben im Gegensatz auch zu mir, einen anti-ontologischen Standpunkt eingenommen hat, und […], das sagte ich
A.a.O., 293. A.a.O., 292 f. A.a.O., 293. Bultmann bezieht sich dafür auf Tillichs Vortrag Über gläubigen Realismus, der 1928 in den Theologischen Blättern (Nr. 5, 109 – 118) erschienen war. Vgl. Rudolf Bultmann an Friedrich Gogarten, Brief vom 16.7.1928, in: Ders./Friedrich Gogarten, Briefwechsel 1921– 1967, hrsg. v. Hermann Götz Göckeritz, Tübingen 2002, 123 – 129, hier: 128.
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dann zu Heidegger, er hat Sie Heidegger psychologisiert, wenigstens zum grossen Teil. Und Heidegger nahm das zur Kenntnis und er akzeptierte es“¹². Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Annäherung zwischen Tillich und Bultmann, der wiederholt in die USA reiste und 1959 gemeinsam mit Tillich auftrat.¹³ Auch schätzten Bultmann und seine Frau Tillichs religiöse Reden, wie sie seiner Witwe in ihrem Kondolenzbrief mitteilten.¹⁴ Doch bei allen Gemeinsamkeiten, die sich im Anliegen der Entmythologisierung zeigen, blieb eine Distanz bestehen. Beide wollten den Mythos oder das Mythische im Christentum nicht eliminieren, sondern interpretieren. Dabei sind sie aber unterschiedliche Wege gegangen, die schon bei der unterschiedlichen Verwendung des Mythosbegriffs ihren Ausgang nehmen. Hat auch Tillich den Begriff der Entmythologisierung von Bultmann übernommen, so doch nicht dessen Definition des Mythos.Vielmehr hat Tillich seinen Begriff des Mythos ganz unabhängig von Bultmann entwickelt, und zwar vor allem in der Beschäftigung mit Schelling, aber auch mit Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. In der Folge versteht Tillich auch unter Entmythologisierung nicht dasselbe wie Bultmann. Auch wenn Bultmanns existentiale Interpretation als ins Positive gewendete Entmythologisierung manche Gemeinsamkeiten mit dem theologischen Programm Tillichs aufweist, unterscheiden sich doch beide grundlegend, weil sie das Problem der Ontologie ganz verschieden behandeln und dabei auch Heidegger sehr unterschiedlich rezipieren. In der Ablehnung eines wörtlichen oder supranaturalistischen Verständnisses mythischer Elemente im Neuen Testament sind sich Tillich und Bultmann völlig einig. Darum sind die neutestamentlichen Wundergeschichten für Tillich jedoch keineswegs völlig „erledigt“, wie Bultmann sich ausdrückt. In seiner Abhandlung über Die Beziehung zwischen Religion und Gesundheit aus dem Jahr 1946 – also ungefähr zeitgleich zu Bultmanns Entmythologsierungsvortrag von 1941! – hat sich Tillich eingehend mit dem Zusammenhang von Heil und Heilung befasst, der auch unter den Bedingungen der Moderne triftig sei.¹⁵ So sei durchaus mit sogenannten Glaubensheilungen zu rechnen, bei denen zwar Suggestion eine
Tonbandaufzeichnung, zitiert nach Alf Christophersen, Rudolf Bultmann (1884– 1976) und Paul Tillich (1886 – 1965), in: Klassiker der Theologie, hrsg. v. Friedrich Wilhelm Graf, Bd. 2, München 2005, 190 – 222, hier: 214. Vgl. Alf Christophersen, Rudolf Bultmann (1884– 1976) und Paul Tillich (1886 – 1965), 213. A.a.O., 124. Vgl. Paul Tillich, Die Beziehung zwischen Religion und Gesundheit. Geschichtliche Betrachtungen und theoretische Fragen, in: Ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, Stuttgart 1967, 246 – 286.
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wichtige Rolle spiele, die jedoch keine hinreichende Bedingung zur Erklärung des Heilungsgeschehens liefere. Heilung durch Glauben sei Heilung durch einen „Zustand des Ergriffenseins vom Unbedingten“ (GW IX, 266). Sie sei gegen Magie und Mirakel abzugrenzen. Tillich unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen mythischer Sphäre, zu der er den Gedanken der kosmischen Erlösung oder Heilung rechnet, und einem mirakelhaften Denken (vgl. GW IX, 253), während bei Bultmann Mythos und Mirakel auf einer Ebene liegen. Die Gründe hierfür, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Auffassungen von Mythos und Entmythologisierung und ihre geschichtlichen Hintergründe sollen im Folgenden genauer untersucht werden. Wir beleuchten die Sachlage zunächst bei Bultmann (2.) und anschließend bei Tillich (3.). Dabei wird auch auf das Verhältnis von Theologie und Ontologie bei Bultmann und Tillich und ihre jeweilige Heidegger-Rezeption einzugehen sein, die in einem kurzen Abschnitt nochmals miteinander verglichen werden sollen (4.). Eigene Überlegungen zum spannungsvollen Verhältnis von Theologie, Mythos und Metaphysik (5.) bilden den Abschluss meines Vortrags.
2. Mythos und Entmythologisierung bei Rudolf Bultmann Ist der Begriff des Weltbildes auch ein Schlüssel zu Bultmanns Mythosbegriff, wird doch der Begriff des Mythos in seinem grundlegenden Entmythologisierungsaufsatz von 1941 weitgehend synonym mit demjenigen des mythischen Weltbildes gebraucht. Das Problem des Verstehens neutestamentlicher Texte aber besteht nach Bultmann in der heutigen Unglaubhaftigkeit des mythischen Weltbildes, das nach seiner Auffassung die neutestamentliche Vorstellungswelt bestimmt. Folgerichtig stellt sich für Bultmann die Frage, „ob die Verkündigung des Neuen Testaments eine Wahrheit hat, die vom mythischen Weltbild unabhängig ist“¹⁶. Die hermeneutische Aufgabe der Theologie besteht darin, „ihre Wahrheit von der mythischen Vorstellung, in der sie gefaßt ist, zu entkleiden“¹⁷. Das Wesen des Mythos besteht nach Bultmann nicht darin, in Gestalt eines objektiven Weltbilds kosmologische Fragen zu beantworten.Vielmehr entwirft der Mythos ein Weltbild, in welchem sich ausspricht, „wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch, sondern anthropolo-
Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 14. – Zum Folgenden vgl. auch Ulrich H.J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 137 ff. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 15.
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gisch – besser: existential interpretiert“, d. h. nach dem sich in ihm aussprechenden Selbstverständnis und Weltverhältnis des Menschen befragt werden¹⁸. Bultmann beschreibt das Wesen des Mythos folgendermaßen: „Der Mythos redet von der Macht oder von den Mächten, die der Mensch als Grund und Grenze seiner Welt und seines eigenen Handelns und Erleidens zu erfahren meint. Er redet von diesen Mächten freilich so, daß er sie vorstellungsmäßig in den Kreis der bekannten Welt, ihrer Dinge und Kräfte, und in den Kreis des menschlichen Lebens, seiner Affekte, Motive und Möglichkeiten, einbezieht. Etwa wenn er von einem Weltei, einem Weltenbaum redet, um Grund und Ursprung der Welt anschaulich zu machen; oder wenn er von Götterkämpfen redet, aus denen die Zustände und Ordnungen der bekannten Welt hervorgegangen sind. Er redet vom Unweltlichen weltlich, von den Göttern menschlich.“¹⁹
Erläuternd fügt Bultmann hinzu, er verwende den Mythosbegriff in dem Sinne, „wie die religionsgeschichtliche Forschung ihn versteht“. Ihrer Auffassung nach aber sei der Mythos eine „Vorstellungsweise“, näherhin „die Vorstellungsweise, in der das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint […], eine Vorstellungsweise, der zufolge der Kultus als ein Handeln verstanden wird, in dem durch materielle Mittel nichtmaterielle Kräfte vermittelt werden“.²⁰ Gegenüber seiner religionsgeschichtlichen Verwendung bezeichne der Mythosbegriff dagegen im modernen Sprachgebrauch nichts weiter als Ideologie. Bultmanns hier ausführlich zitierte Fassung des Mythosbegriffs ist von Pannenberg einer grundsätzlichen Kritik unterzogen worden. Dass Bultmann sich mit der zeitgenössischen religionswissenschaftlichen Forschung einig weiß, findet Pannenberg „angesichts der gänzlichen Vernachlässigung der von Malinowski ausgehenden Diskussion des Mythosbegriffs […] einigermaßen erstaunlich“²¹. Bronisław Malinowski, Karl Kerényi, Mircea Eliade und andere haben den Mythos von Sage und Märchen abgegrenzt. Seine Eigentümlichkeiten gegenüber diesen Erzählformen sehen sie darin, dass der Mythos eine gründende, die jetzige Weltund Lebensordnung fundierende Geschichte erzählt. Er handelt jeweils von einer aus der Sicht der gegenwärtig Lebenden als Urzeit zu betrachtenden Epoche. ‚Urzeit‘ ist in Verbindung mit dem Mythos kein Begriff der absoluten Chronologie, sondern eine funktionale Kategorie. Ein Mythos muss darum auch nicht selbst ein A.a.O., 22. Ebd. A.a.O., 22 f., Anm. 20. Wolfhart Pannenberg, Christentum und Mythos, Gütersloh 1972, 13 (zuerst in: Manfred Fuhrmann [Hg.], Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 [= Poetik und Hermeneutik IV], 473 – 525). Siehe Bronisław Malinowski, Myth in Primitive Psychology, Westport (Conn.) 31976.
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hohes Alter haben. Sein funktional Urzeitliches aber besteht darin, dass hinter das vom Mythos erzählte, die gegenwärtige Lebensordnung begründende Geschehen nicht weiter zurückgefragt werden kann²². Ob man von einer völligen Vernachlässigung der neueren religionswissenschaftlichen Forschung bei Bultmann sprechen muss, lässt sich vielleicht zurückhaltender beurteilen als es bei Pannenberg geschieht. Immerhin erklärt auch Bultmann, wie gesehen, der Mythos handele vom Grund und Ursprung der Welt oder von Götterkämpfen, aus denen die Zustände und Ordnungen der bekannten Welt hervorgegangen sind. Auch wird der Zusammenhang von Mythos und Kultus durchaus angesprochen, den die ritualistisch-soziologische Mythosdeutung Malinowskis und anderer eingehend untersucht hat. Bultmann belässt es aber bei verstreuten Hinweisen. Vor allem nimmt Bultmann in seine zusammenfassende Definition des Mythos das Element der Urzeitlichkeit nicht auf. Es ist für sein Mythosverständnis augenscheinlich nicht konstitutiv, sondern wird eher beiläufig erwähnt. Nicht Urzeitlichkeit, sondern anthropomorphe, vorwissenschaftliche Weltbildhaftigkeit ist für Bultmann das entscheidende Merkmal des Mythos. Bemerkenswerterweise hat sich Bultmann zu keiner Zeit mit dem MythosVerständnis Ernst Cassirers auseinandergesetzt, das bei Tillich und in der gegenwärtigen Theologie intensiv diskutiert wird.²³ Immerhin ist Cassirers Hauptwerk über die Philosophie der symbolischen Formen bereits 1923 – 1929 erschienen.²⁴ Es wird bei Bultmann nicht einmal erwähnt. Nach Cassirer gehört der Mythos neben der Religion, der Sprache, der Kunst und der Wissenschaft zu den symbolischen Formen, in denen der Mensch sein In-der-Welt-Sein auslegt und gestaltet. Neben den übrigen symbolischen Formen, die nicht aufeinander rückführbar sind, sondern ihre je spezifische Erschließungsfunktion haben, besitzt das mythische Denken nach Cassirer seine eigene Grammatik²⁵, wobei sich die Religion nur auf ihrer untersten Stufe mythologisch artikuliere.²⁶ Was dem mythischen Denken völlig abgehe, sei die Trennung zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven. „Schon ein flüchtiger Blick auf die Tatsachen des mythischen Bewußtseins lehrt in der Tat, daß dieses Denken bestimmte Trennungslinien, die der Siehe dazu auch Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt (Main) 1979; Ders., Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. v. Manfred Fuhrmann, München 1971 (= Poetik und Hermeneutik 4), 11– 66. Vgl. Enno Rudolph/Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, Hamburg 1995; Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1 u. Bd. 3, ND Darmstadt 101994, Bd. 2, ND Darmstadt 91994. Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache, 19. Vgl. a.a.O., 11 f.
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empirische Begriff und das empirisch-wissenschaftliche Denken als schlechthin notwendig ansehen, überhaupt nicht kennt.“²⁷ Der Mythos lebe „in einer Welt reiner Gestalten, die ihm als durchaus Objektives, ja als das Objektive schlechthin gegenüberstehen“, und halte sich „ausschließlich in der Gegenwart seines Objekts“²⁸. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bultmanns Mythosbegriff und demjenigen Cassirers müssen hier freilich auf sich beruhen. Wenn sich Bultmann auf die religionswissenschaftliche Forschung beruft, so denkt er augenscheinlich vor allem an die Arbeiten von Wilhelm Bousset und Hermann Gunkel. Deren Auffassung des Mythos als einer primitiven Vorstellungsform des Göttlichen in Gestalt von Göttergeschichten, die das Göttliche anthropomorph versinnlichen und so vom Unweltlichen weltlich reden, lässt sich bis zu dem Göttinger Altphilologen Christian Gottlob Heyne zurückverfolgen²⁹. Sowohl Heynes als auch Boussets, Gunkels und Bultmanns Verständnis des Mythischen ist letztlich jener Mythosdeutung zuzurechnen, die Schelling als allegorische charakterisiert hat. Schelling kritisierte an der bis in die Antike zurückreichenden allegorischen Mythosinterpretation, dass sie dem Mythos keine eigene Wahrheit zugestehe³⁰. Bultmanns Auffassung vom Mythos liegt ganz auf der Linie einer allegorischen Deutung, wenn er die Aufgabe der Interpretation der neutestamentlichen Mythologie darin sieht, „ihre Wahrheit von der mythologischen Vorstellung, in die sie gefaßt ist, zu entkleiden“³¹. Trotz seiner Kritik an der Hermeneutik der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts übernimmt Bultmann an dieser Stelle deren Modell von Schale und Kern³². Der Inhalt, das Kerygma, lässt sich von seiner Form, der Mythologie, trennen und in eine neue Form gießen.
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, 48. A.a.O., 47. Vgl. Christian Hartlich/Walter Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952, 12– 19; im Anschluss daran Wolfhart Pannenberg, Christentum und Mythos, 13 – 19. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. 2, Bd. 1: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Stuttgart/Augsburg 1856, 26 – 46 (Zweite Vorlesung). Mit dem Urteil, dass auch Heyne ungeachtet seines Protestes den Mythos allegorisch interpretiere, setzt sich Schelling von seinen Frühschriften ab, die ganz unter dem Eindruck der Arbeiten Heynes und der von ihm begründeten ‚mythischen Schule‘ standen. Zu Schellings Magisterdissertation De prima malorum humanorum origine (Genesis III) (1792) und seinem Aufsatz Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt (1793) siehe Christian Hartlich/Walter Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, 56 – 58. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 15. A.a.O., 25 f.
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Dass Bultmann tatsächlich der allegorischen Mythendeutung nahesteht, zeigt seine Reaktion auf die These seiner Kritiker, die Sprache des Mythos sei die unaufgebbare Sprache des christlichen Glaubens wie jeder Religion. Bultmann hält mythische Vorstellungen und Begriffe allenfalls in einem vorläufigen Sinn für unentbehrlich, „sofern in ihnen Wahrheiten intendiert sind, die sich in der Sprache der objektivierenden Wissenschaft nicht aussagen lassen. In mythologischer Sprache kommt dann zum vorläufigen Ausdruck, wofür die adäquate Sprache erst gefunden werden muß.“³³ Sätze wie: „Ich liebe dich“ oder: „Ich bitte dich um Verzeihung“ zeigen nach Bultmann aber, dass es jenseits der Alternative von wissenschaftlicher und mythischer Sprache noch eine andere gibt, und zwar „eine Sprache, in der sich Existenz naiv ausspricht, und es gibt entsprechend eine Wissenschaft, die, ohne die Existenz zum welthaften Sein zu objektivieren, von der Existenz redet“³⁴. Bultmanns existentiale Interpretation, deren Programm den Hauptteil seines Entmythologisierungsaufsatzes ausmacht, glaubt sich auf dem Weg zu solch einer neuen Sprache, in welche sich das Kerygma aus dem Sprachgewand des Mythos adäquat, wenn nicht sogar angemessener transponieren lässt. Der Einfluss Schellings ist demgegenüber nicht nur bei Tillich, sondern – zumindest indirekt – bei vielen Kritikern Bultmanns spürbar, so beispielsweise in der These Bonhoeffers, im Neuen Testament sei die Mythologie „die Sache selbst“³⁵, oder in derjenigen Kurt Hübners von der unverwechselbaren „Wahrheit des Mythos“ und der ihm eigenen Rationalität³⁶. Nach Schellings später Philosophie der Mythologie ist der Mythos eine apriori notwendige Form der Wirklichkeitsdeutung. „Die Mythologie ist nicht allegorisch, sie ist tautegorisch“³⁷, also nicht bloß ein Gleichnis für etwas Wahres, sondern dieses Wahre selbst. Mit seiner Auffassung wendet Schelling sich gleichermaßen gegen die allegorische wie die poetologische Mythendeutung, als deren Hauptvertreter Karl Philipp Moritz, Carl August Böttiger sowie die Frühromantiker August Wilhelm und Friedrich Schlegel zu nennen sind. Wenngleich die Deutung des Mythos als einer Form der Poesie seinem Wesen weitaus eher als ein allegorisches Verständnis gerecht wird, ist sie
Rudolf Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung, in: Kerygma und Mythos, Bd. 2, hrsg. v. Hans- Werner Bartsch, Hamburg 1952, 179 – 208, hier: 186. A.a.O., 187. Dietrich Bonhoeffer, Werke, Bd. 8: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. v. Christian Gremmels/Eberhard Bethge/Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, Gütersloh 1998, 482. Zu Hübners Auffassung von der Rationalität des Mythos vgl. Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 239 – 290. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, 195 f.
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nach Schelling doch insofern unzureichend, als sie den Mythos als dichterische Erfindung auffasst. Der Mythos rückt bei dieser Deutung in die Nähe des schönen Scheins und des unverbindlichen ästhetischen Spiels, dessen Bezug zur Wahrheit fraglich ist. Nach Schelling wohnt dem Mythos dagegen eine apriorische Wahrheit inne, welche diejenige des Monotheismus bzw. der höchsten Idee ist. Erst in einem geschichtlichen Prozess, in welchem die Idee des Göttlichen in einer Vielzahl von Ideen entfaltet wird, gelangt nämlich der Monotheismus zu einem Begriff seiner selbst. Die Ausdifferenzierung eines von Schelling angenommenen ursprünglichen, naiven Monotheismus vollzieht sich im ideengeschichtlichen Stadium des Polytheismus. Die Wahrheit des polytheistischen Mythos besteht also darin, dass nur im Durchlaufen des Polytheismus der anfänglich naive Monotheismus schließlich in seiner Absolutheit wirklich begriffen werden kann.³⁸ Im Vergleich zu Schelling ist der Mythosbegriff nicht nur Bultmanns, sondern auch vieler Kritiker seines Entmythologisierungsprogramms einigermaßen unbestimmt.³⁹ Nicht nur manche seiner Gesprächspartner, sondern stellenweise auch Bultmann, bezeichnen mit dem Begriff des Mythos die Sprache der Religion oder noch allgemeiner gefasst die Sprache des Metaphorischen.⁴⁰ Das Verständnis des Mythischen als eines metaphorischen Sprachspiels kommt freilich der von Schelling neben der allegorischen ebenfalls problematisierten poetologischen Auffassung nahe. Das hermeneutische Problem der Metaphorik religiöser Rede ist
Auf die Unterschiede des Mythosverständnisses Schellings zu demjenigen Hegels kann im Zusammenhang unseres Themas nicht näher eingegangen werden. Bei Walter J. Hollenweger ist die Unbestimmtheit des Mythosbegriffs sogar programmatisch: „Genau will ich sein in bezug auf die Funktion des Mythos […]. Unbestimmt will ich bleiben in bezug auf die Inhalte und Formen, da sich diese von Situation zu Situation ändern.“ (Walter J. Hollenweger, Interkulturelle Theologie, Bd. 2: Umgang mit Mythen, München 1982, 13) Hollenweger beruft sich für diese Unbestimmtheit ausgerechnet auf Karl Kerényi, der die Funktionalität mythischer Urzeitlichkeit freilich sehr wohl präziser als Hollenweger beschrieben hat. An anderer Stelle (a.a.O., 63) erklärt Hollenweger: „Die Funktion des Mythos besteht darin, ein Ensemble von Überzeugungen in archetypischer Form auszudrücken.“ Die Kategorie des Archetypischen ist jedoch,wie die Diskussion um die Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs zeigt, recht problematisch. Siehe v. a. Karl Jaspers, Wahrheit und Unheil der Bultmannschen Entmythologisierung, in: Ders./Rudolf Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1981, 29 – 80; Julius Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologisierung, in: Kerygma und Mythos, Bd. 1, hrsg. v. Hans-Werner Bartsch, Hamburg 1948, 85 – 134, bes. 88; Friedrich K. Schumann, Die Entmythologisierbarkeit des Christusgeschehens, in: Kerygma und Mythos, Bd. 1, 211– 224, hier: 222; Helmut Thielicke, Die Frage der Entmythologisierung des Neuen Testaments, in: Kerygma und Mythos, Bd. 1, 177– 210, bes. 195 – 210; Ernst Lohmeyer, Die rechte Interpretation des Mythologischen, in: Kerygma und Mythos, Bd. 1, 154– 165. Auch W. Hollenweger verteidigt den „Mythos als Sprache“ (Walter J. Hollenweger, Interkulturelle Theologie, Bd. 2: Umgang mit Mythen, 75).
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jedoch von der Frage, wie sich Christentum bzw. christliches Kerygma und Mythos zueinander verhalten, zu unterscheiden. Theologisch ist die Entmythologisierung nach Bultmann ein Äquivalent zur paulinischen Rechtfertigungslehre. Vom modernen Menschen die Übernahme eines antiquierten mythischen Weltbildes zu fordern und den christlichen Glauben an ein solches zu binden, wäre eine Form von Werkgerechtigkeit. 1952 schreibt Bultmann: „Die Entmythologisierung will nach dem Worte Melanchthons verfahren: ‚Christum cognoscere hoc est: beneficia eius congnoscere, non eius naturas et modos incarnationis inutueri‘. Oder nach dem Worte Wilhelm Herrmanns: ‚Von Gott können wir nicht sagen,wie er an sich ist, sondern nur, was er an uns tut‘.“⁴¹
Seinen Kritikern hält Bultmann entgegen: „[D]ie radikale Entmythologisierung ist die Parallele zur paulinisch-lutherischen Lehre von der Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werk allein durch den Glauben. Oder vielmehr: sie ist ihre konsequente Durchführung für das Gebiet des Erkennens.“⁴² Positiv gewendet geht es Bultmann um die „existentiale Interpretation“ des Neuen Testaments. Sie fragt nach dem Existenzverständnis, das sich in den objektivierenden Vorstellungsgehalten des Mythos ausspricht. Der Begriff der Entmythologisierung, welcher ebenso wie Bultmanns Mythosbegriff vielfältige Kritik auf sich gezogen hat, stammt nicht von Bultmann, sondern taucht schon bei anderen Autoren vor ihm auf.⁴³ Während Bultmann jedoch früheren Versuchen liberaler Theologie vorwirft, den Mythos und mit ihm das in ihm eingekleidete Kerygma eliminiert zu haben, will Bultmann den Mythos so interpretieren, dass das Kerygma als Kerygma, „d. h. als Botschaft vom entscheidenden Handeln Gottes in Christus“⁴⁴, unter den Bedingungen der Moderne als Anrede und Ruf zur Entscheidung vernehmbar wird.
Rudolf Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung, 184 f. Vgl. Philipp Melanchthon, Loci Communes 1521. Lateinisch – Deutsch, übers. v. Horst Georg Pöhlmann, hrsg. v. Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands, Gütersloh 1993, 22. Das Herrmann-Zitat konnte Bultmann nach eigener Angabe nicht verifizieren, sondern erinnerte sich an einen mündlichen Vortrag Herrmanns.Vgl. Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hrsg. v. Eberhard Jüngel/Klaus W. Müller, Tübingen 1984, 185, Anm. 1. Rudolf Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung, 207; i. Original kursiv. Vgl. Matthias Dreher, Entmythologisierung praktisch. Vorgeschichte, Wesen und homiletische Umsetzung der existentialen Hermeneutik Rudolf Bultmanns, in: Mensch und Mythos. Im Gespräch mit Rudolf Bultmann, hrsg. v. Werner Zager, Neukirchen-Vluyn 2010, 59 – 98, hier: 58 ff. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 26.
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Als Vorbild seiner Methode der existentialen Interpretation nennt Bultmann die Gnosisinterpretation seines Schülers Hans Jonas.⁴⁵ Durch Jonas wurde Bultmann vermutlich auch das Kunstwort „Entmythologisierung“ vermittelt, das augenscheinlich von Hermann Strathmann geprägt worden ist.⁴⁶ Vor allem aber bedient sie sich einer Begrifflichkeit, die durch die Existenzphilosophie Martin Heideggers inspiriert ist. Bultmann interpretiert Heideggers existentiale Analyse des Daseins, wie er sie 1927 in Sein und Zeit vorgelegt hat,⁴⁷ als „eine profane philosophische Darstellung der neutestamentlichen Anschauung vom menschlichen Dasein“⁴⁸. Die Begriffe Sünde und Gnade lassen sich so in die Heideggersche Terminologie der Verfallenheit, der Uneigentlichkeit und der Eigentlichkeit übersetzen. Bultmann bestreitet freilich, dass der Glaube im neutestamentlichen Sinne eine dem Menschen von Natur aus offen stehende Daseinsmöglichkeit ist. Sie eröffnet sich nur in der Begegnung mit dem Kerygma, das den Menschen von außen in die Entscheidung zum eigentlichen Sein ruft. Heideggers Haltung der Entschlossenheit, in der der Mensch seine Geworfenheit in das Sein zum Tod bewusst annimmt, ist dagegen für Bultmann „radikale Eigenmächtigkeit des Menschen“ und „eine verzweifelte Behauptung“⁴⁹, die im Licht des Neuen Testaments als Gestalt der Verfallenheit und der Sünde zu werten ist. Die Haltung der Eigentlichkeit ist faktisch nur möglich, wenn der Mensch von sich selbst befreit wird, was im Christusgeschehen als eschatologischem Ereignis stattfindet. Zu diesem Geschehen aber gehören das dieses bezeugende Wort – die Predigt des Kerygma – sowie „die Kirche, in der das Wort weiter verkündigt wird, und innerhalb deren sich die Glaubenden als die ‚Heiligen‘, d. h. als die in die eschatologische Existenz Versetzten, sammeln“⁵⁰. Bultmanns Methode der existentialen Interpretation ist nicht mit einer existentiellen Interpretation des Neuen Testaments zu verwechseln. Eine solche hatte Bultmann wohl bis in die 1920er Jahre praktiziert. In kritischer Aneignung von Heideggers phänomenologischer Daseinsanalyse entwickelt Bultmann die existentielle jedoch zur einer existentialen Interpretation weiter, unter der nicht die Vgl. a.a.O., 29. Vgl. Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. 1: Die mythologische Gnosis, Göttingen 1934 (= FRLANT 51). Vgl. Konrad Hammann, Rudolf Bultmann, 319, Anm. 292. Er verweist, neben weiteren Belegen, vor allem auf Hans Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlich abendländischen Freiheitsidee, Göttingen 1930 (= FRLANT 44), 68 sowie auf Hermann Strathmann, Rezension zu Wilhelm Herrmann, Ethik, 51913, in: ThLB 37 (1914), 143. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 41. A.a.O., 48. A.a.O., 63.
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subjektiv gefärbte Auslegung biblischer Texte, sondern eine verallgemeinerungsfähige Methode auf erkenntnistheoretischer und hermeneutischer Grundlage zu verstehen ist. Sie unterstellt, dass dem Exegeten wie jedem Menschen mit seiner Existenz als solcher ein „Vorverständnis“ menschliche Existenz und der Möglichkeiten ihrer begrifflichen Auslegung gegeben ist. Für diese bedient er sich der ontologischen Sprache Heideggers. Dieser versteht unter „Existenzialien“ ontologische Kategorien, mittels derer das menschliche Dasein und seine Struktur als „In-der-Welt-sein“ beschrieben werden können. Solche Existenzialien sind die Angst, die Sorge, Verfallenheit, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. In der eigenständigen Verarbeitung der phänomenologischen Ontologie Heideggers, ihrer theologischen Umformung und der Entwicklung seiner eigenen Methode der existentialen Interpretation besteht die hermeneutische Hauptleistung Bultmanns. Das von Bultmann mit dem mißverständlichen Begriff der Entmythologisierung benannte theologische Problem ist allerdings weniger das des Mythos als dasjenige der Semantik religiöser Rede. Die Frage lautet, inwiefern eine bestimmte, allerdings auch in mythischen Erzählungen auftauchende oder mit mythischen Themen und Vorstellungen verbundene Sprache das notwendige Ausdrucksmedium jeder religiösen Weltauffassung und auch des christlichen Glaubens ist.⁵¹ Mit dieser Frage wenden wir uns nun Paul Tillich zu.
3. Mythos und Entmythologisierung bei Paul Tillich Tillichs Mythosbegriff hängt unmittelbar mit seinem Begriff des Symbols zusammen. Seine Behauptung, dass alle Aussagen über Gott – das Sein-Selbst, das
Zur Reformulierung des hinter Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und seiner existentialen Interpretation stehenden hermeneutischen Problems siehe auch Wolfhart Pannenberg, Christentum und Mythos, 29 f., der zwischen einer mythischen und einer religiösen Weltauffassung unterscheidet. Letztere, die mit dem wie auch immer zu denkenden Eingreifen göttlicher Mächte in das gegenwärtige Weltgeschehen rechnet, sei auch für die biblischen Schriften konstitutiv. Die Wirksamkeit einer mythischen Weltauffassung, eines mythischen Wirklichkeitsverständnisses im alttestamentlichen und im urchristlichen Denken, sowie die Funktion einzelner mythischer Themen und Vorstellungen sei demgegenüber ein gesondertes Problem. Pannenberg rechnet durchaus mit der Möglichkeit auch spezifisch israelitischer Mythenbildung, wobei der Mythos nach Pannenberg im Unterschied zu Hans Blumenberg nicht notwendigerweise polytheistisch ist! Vgl. a.a.O., 23.27.
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uns unbedingt angeht – symbolisch sind,⁵² ist gleichbedeutend mit der Aussage Tillichs, „daß es keine Möglichkeit von Gott zu reden gibt außer in mythologischen Begriffen“⁵³. Allerdings fallen das Symbolische und das Mythische nicht differenzlos zusammen, weil Tillich eine Entwicklung mythischen Denkens annimmt und dabei zwischen den Stadien des Vormythischen, des Mythischen und des Nachmythischen unterscheidet. Sowenig es aber eine nicht-symbolische Rede von Gott geben kann, so wenig kann es nach Tillichs Auffassung eine unmythologische Rede von Gott geben. Befassen wir uns zunächst mit Tillichs Symbolbegriff. In seiner Abhandlung Sinn und Recht religiöser Symbole (1961) unterscheidet Tillich zwischen echten und unechten Symbolen bzw. zwischen „repräsentativen Symbolen“ und solchen, „die bloße Zeichen sind“⁵⁴. Im Unterschied zu Zeichen, die auf bloßen Konventionen beruhen, können Symbole nicht willkürlich erfunden werden. Sie drängen sich gewissermaßen von selbst auf und entwickeln eine „Macht, Dimensionen der Wirklichkeit zu erschließen, die gewöhnlich durch die Vorherrschaft anderer Dimensionen verdeckt sind“⁵⁵. Diese Macht ist ambivalent, da sie heilend oder zerstörerisch wirken kann. Im Unterschied zu konventionellen Zeichen transzendieren Symbole einerseits das von ihnen verwendete Material, andererseits partizipieren sie aber an der Wirklichkeit dessen, auf das sie hinweisen. Solche Symbole begegnen nicht nur in der Religion, sondern auch in der Dichtung, in den bildenden Künsten, in Geschichte und Gesellschaft. Für die Religion sind Symbole unverzichtbar, weil sie die einzige Sprache sind, in der sich das religiöse Bewusstsein unmittelbar ausdrücken kann. Tillichs Symbolbegriff hängt wiederum eng zusammen mit seinem Sakramentsverständnis. Sakrament und Symbol verhalten sich bei Tillich zueinander wie Mythos und Kultus. Das Sakramentale, d. h. die Partizipation des Endlichen am Unendlichen, ist kraft der vorausgesetzten analogia entis im Symbolischen gegenwärtig, wie alles Symbolische auch als sakramental bezeichnet werden kann. Auch der Mythos „lebt in Symbolen“⁵⁶, wie Tillich in seinem Artikel über Mythos und Mythologie aus dem Jahr 1930 schreibt. Symbole sind die Sprache des
Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 51977, 15 f. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 51977, 259. Paul Tillich, Sinn und Recht religiöser Symbole, in: Ders., Symbol und Wirklichkeit, Göttingen 1962, 3 – 12, hier: 3. Den Begriff der repräsentativen Symbole hat Tillich von John Randall übernommen. A.a.O., 5. Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 187– 195, hier: 188.
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Mythos. Den Mythos selbst definiert Tillich als „Göttergeschichte“⁵⁷. Als vormythisch bezeichnet Tillich eine „Bewußtseinslage, in der es noch keine Göttervorstellung gibt, aber Elemente vorliegen, die zu ihr führen können“ (GW V, 187). Nachmythisch ist eine Bewusstseinslage, in der zwar noch die Vorstellung von Göttern oder einem Gott präsent ist, die Gottheiten aber nicht mehr als in Raum und Zeit handelnd oder leidend vorgestellt werden. Tillich unterscheidet geschichtliche Abschnitte des werdenden und des „gebrochenen Mythos“ (ebd.), schließt aber aus, dass es ein schlechterdings unmythisches Bewusstsein geben kann. Nicht nur die Religion, sondern auch Dichtung, Geschichte und Wissenschaft enthalten stets ein mythisches Element – die „mythische Substanz“ (GW V, 191). „Eine wirklich unmythische Geisteslage gibt es nicht.“ (GW V, 195) Selbst noch in der rationalsten Wissenschaft, die alles Mythische zu überwinden versucht, bleibt nach Tillichs Auffassung ein Bewusstsein von Transzendenz, das nicht nur mythischen Charakter trägt, sondern auch eine untergründige Verbindung zur Religion ermöglicht. Allerdings ist zwischen Religion und Mythos zu unterscheiden, zum einen, weil Religion nicht nur Mythos, sondern auch Kultus und Frömmigkeit ist, ein Mythos also nur dann religiös ist, wenn er in Kultus und Frömmigkeit lebendig ist; zum anderen, weil sich in der Religion ein „Protest gegen den Mythos“ entwickelt. Die von Tillich als prophetisch bezeichnete Frömmigkeit entwickelt ein Bewusstsein für die Differenz zwischen dem Mythos und der von ihm symbolisierten Tranzendenz. Sie macht die Symbolisierungsleistung des Mythos als solche ausdrücklich und kritisiert ein ungebrochen mythisches Bewusstsein, das die Differenz zwischen Symbol und symbolisierter Wirklichkeit einebnet. Die antimythische Religion weiß um den Symbolcharakter der Symbole und ist insofern ein „gebrochener Mythos“, in dem aber die mythische Substanz gewahrt bleibt. Unter einem gebrochenen Mythos versteht Tillich eine Form der Religion, in der Bestimmungen über das Wesen Gottes und sein Verhältnis zu Natur und Geschichte an die Stelle von Göttergeschichten treten (vgl. GW V, 190). Diese Begriffsbildung geschieht mittels der Metaphysik,welche nach Tillich „Mythos auf dem Boden und mit den Mitteln der Wissenschaft ist“ (GW V, 191).⁵⁸ Sie schafft einen Mythos mit rationalen Mitteln, was insbesondere im christlichen Dogma geschieht. Das Dogma ist nicht bloße Mythologie, sondern „die Form, in der die unzerreißbare mythische Verbindung von Wissenschaft und Religion manifest wird“ (GW V, 192).
A.a.O., 187; im Original kursiv. Vgl. auch schon Paul Tillich, Mythos und Metaphysik (1924), in: Ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908 – 1933). Erster Teil, EW X, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 356 – 370.
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Wenn Tillich zwischen Mythos und Symbol unterscheidet, so deshalb, weil er dem narrativen Charakter des Mythos Rechnung trägt. Mythen entwickeln nicht nur sinnliche, raumzeitliche Bilder für Transzendenz, sondern sie symbolisieren das Unbedingte in Gestalt von Erzählungen. Sie sind, wie Tillich 1957 definiert, „Symbole des Glaubens, zu Sagen verknüpft“⁵⁹. Werden Mythen systematisch zu einer Makroerzählung verbunden, spricht Tillich von Mythologie (wobei dieser Begriff auch für die Wissenschaft vom Mythos verwendet wird) (vgl. ebd.). Über das Narrative sind Mythos und Mythologie auch mit der profanen Geschichtsschreibung verbunden, ist der Mythos doch keineswegs nur im religiösen Geschichtsbericht, sondern selbst noch in der wissenschaftlichen Historiographie präsent. Da das Mythische niemals vollständig eliminiert werden kann, hält Tillich negative Theorien des Mythos, denen er positive Mythostheorien gegenüberstellt, für ungenügend. Zu den negativen Mythostheorien rechnet Tillich die allegorische, welche den Mythos als „allegorisch verhüllte Naturwissenschaft“ (GW V, 187) interpretiert, psychologische Mythostheorien, für die Wilhelm Wundts Apperzeptionstheorie als Beispiel angeführt wird, sowie die Psychoanalyse, deren Mythosdeutung Tillich durchaus für hilfreich hält, sofern die Psychoanalyse über eine rein negative Mythostheorie hinausgelange, was durchaus möglich sei. Demgegenüber stehen die positiven Mythostheorien, die Tillich in metaphysische Theorien und erkenntnistheoretische Theorien unterteilt. Als metaphysische Theorie bezeichnet Tillich die Mythostheorie des späten Schelling, auf die er selbst intensiv Bezug nimmt, vor allem in seiner Deutung des Sündenfalls, aber auch in seiner Konstruktion der Religionsgeschichte und der Interpretation von Polytheismus und Monotheismus.⁶⁰ Hiervon unterscheidet Tillich die erkenntnistheoretische Mythostheorie, als deren wichtigsten Repräsentanten er Ernst Cassirer nennt. Während die metaphysische Mythentheorie Schellings die Entwicklung des Mythos als einen Prozess deutet, in denen die im Gottesbegriff geeinten Prinzipien sich widerspruchsvoll im menschlichen Bewusstsein durchsetzen, rechne die erkenntnistheoretische Mythentheorie den Mythos neben Wissenschaft, Kunst, Sprache oder Religion als eine Form des symbolischen Denkens unter anderen. Tatsächlich wird die Religion nicht in der Weise ausge-
Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 111– 196, hier: 144 f. Siehe bereits Paul Tillich, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung (1912), in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 21959, 11– 108. Zur Schelling-Rezeption Tillichs vgl. auch Georg Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/ New York 2007 (= TBT 141), bes. 146 ff.
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zeichnet und hervorgehoben, wie es bei Tillich der Fall ist.⁶¹ Mit Cassirer verbindet Tillich aber die Auffassung, dass der Mythos nicht im Sinne eine Abbildtheorie interpretiert werden kann, sondern, wie andere Formen des symbolischen Denkens auch, eine sinnvolle geistige Welt allererst schafft. Cassirers Begriff des Symbols beruht auf der Erkenntnistheorie Kants, will aber einen Dualismus von Anschauung und Begriff vermeiden.⁶² Tillich unterstellt nun einen Gegensatz zwischen metaphysischer und erkenntnistheoretischer Mythostheorie, den er in seiner eigenen, als symbolischrealistisch bezeichneten Theorie überwinden möchte.⁶³ Tillich versteht seinen Begriff des Mythos also als Synthese und Überbietung der Theorien von Schelling und Cassirer. Er verweist auf seine Religionsphilosophie, die bereits 1925, also vor Cassirers Hauptwerk über die Philosophie der symbolischen Formen, erschienen ist. Im Unterschied zu Cassirer erklärt Tillich darin, „daß die Religion keine Funktion neben andren ist, sondern die alle Funktionen tragende Wendung des Geistes zum Unbedingten“⁶⁴. Nach seiner Definition von 1925 vereinigt der Mythos in sich die logisch und die ästhetische Erfassung des Absoluten. Er ist nicht rein ästhetisch, insofern er Wahres und Wirkliches zum Ausdruck bringen will. Er ist aber auch bloß logisch, weil er den Gehalt des Absoluten anschaulich erfassen will (GW I, 350 f.). Die Einheit von Logischem und Ästhetischem bestimmt Tillich mit Hilfe des Symbolbegriffs. Der Mythos ist, wie er 1930 schreibt, „das aus Elementen der Wirklichkeit aufgebaute Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte oder Seins-Jenseitige“ (GW V, 188). Insofern auf das „Unbedingt-Reale“
Eingehend setzt sich Tillich auch in seiner Abhandlung Das religiöse Symbol (in: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 196 – 212, bes. 202– 206) mit Cassirer auseinander, dem er vorwirft, das Verhältnis zwischen Mythos und Religion nicht hinreichend geklärt zu haben. Siehe auch schon Tillichs Rezension zu Ernst Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, Leipzig 1922: Paul Tillich, Probleme des Mythos, in: ThLZ 49 (1924), 115 – 117 (darin auch eine Besprechung von Artur Liebert, Mythos und Kultur, in: Kant-Studien 17/3 – 4 [1922]). Vgl. Christian Danz, Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, in: Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, hrsg. v. Dietrich Korsch/Enno Rudolph, Tübingen 2000, 201– 228, hier: 220. In seinem Aufsatz Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes aus dem Jahr 1954 (in: Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, GW IV, Stuttgart 1961, 133 – 144) würdigt Tillich später allerdings, es sei u. a. dem Einfluss Cassirers zu verdanken, dass in den USA ein neues Interesse an Schelling erwacht sei. Von einer Korrektur seines früheren Urteils über den Gegensatz zwischen Schelling und Cassirer – so Christian Danz, Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, 212, Anm. 35 – kann man an dieser Stelle m. E. jedoch nicht sprechen. Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 21959, 297– 364, hier: 350.
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gerichtet ist, hat der Mythos Realität. Doch kann die Wirklichkeit des Unbedingten niemals gegenständlich erfasst werden. Das Symbol ist nicht als Abbild einer von ihm unterschiedenen, objektivierten Wirklichkeit aufzufassen, sondern eine bildhafte Veranschaulichung des schlechthin Unanschaulichen. Das mythenkritische Element der Religion thematisiert Tillich bereits vor Aufnahme des Begriffs der Entmythologisierung, der zwar nicht von Bultmann stammt, jedoch erst durch ihn zum beherrschenden Begriff theologischer und hermeneutischer Debatten geworden ist. Der Sache nach haben in der gesamten Religionsgeschichte schon immer Prozesse der Entmythologisierung avant la lettre stattgefunden. Zum einen gehört zum Wesen der Religion, wie schon gesehen, das Bewusstsein für die Differenz zwischen dem tranzendenten Unbedingten und seinen endlichen mythischen Symbolisierungen. In der Religion wird sich das mythische Bewusstsein seiner selbst bewusst. Zum anderen bedeutet der religionsgeschichtliche Schritt vom Polytheismus zum Monotheismus eine Kritik endlicher Gottesvorstellungen.⁶⁵ Allerdings unterliegt auch der Monotheismus selbst noch einmal der Kritik am Mythos, weil sich auch der Monotheismus auf der Ebene menschlicher Vorstellungen bewegt. Theologisches Denken führt das religiöse Bewusstsein auf die Grenze zwischen Vorstellung und Begriff. Das Christentum bestimmt Tillich, noch bevor er den Entymthologisierungsbegriff aufnimmt, als „Religion des Paradox“, in welcher „auf dem Boden der antimythischen theokratischen Kritik das mythische Element wieder aufgenommen“ (GW I, 352) wird. Sie zeichnet sich durch „die Einsicht in den paradoxsymbolischen Charakter der Offenbarung“ (GW I, 353) aus. In ihr gelangt zum Bewusstsein, dass Offenbarung „in keiner Weise Mitteilung gegenständlicher Erkenntnisse“ (GW I, 354) ist. Das markanteste Beispiel für die Religion des Paradox ist nach Tillich die paulinische Geistlehre. Als reine Gnadenreligion ist die Religion des Paradoxes eine Form unbedingter Gewissheit, die in keiner Weise bezweifelt werden kann, während die religiösen Symbole, in denen die Offenbarung anschaulich wird, durchaus der Kritik zugänglich sind. Entmythologisierung avant la lettre bedeutet, dass der Mythos mit Mitteln des Mythos bekämpft, dass der Kultus im Namen des Kultus kritisiert wird. Entmythologisierung in diesem Sinne ist eine Form der religiösen Religionskritik. Und als Dokument solcher religiösen Religionskritik muss auch die Bibel gelesen werden.
Vgl. Paul Tillich, ST I, 259: „Im Monotheismus […] ist der Mythos gebrochen durch den radikalen Nachdruck auf dem Element der Unbedingtheit in der Gottesidee. Es ist wahr, daß der gebrochene Mythos noch Mythos ist, und es ist wahr, daß es keine Möglichkeit von Gott zu reden gibt außer in mythologischen Begriffen, aber das Mythische als eine Kategorie der religiösen Intuition ist etwas Anderes als die ungebrochene Mythologie des mythischen Stadiums des Polytheismus.“
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Das Christentum spricht die Sprache des gebrochenen Mythos, und auch innerchristlich setzt sich der Prozess beständiger Mythenkritik fort. Wie Bultmann macht Tillich geltend, dass Entmythologisierung keineswegs eine von außen an die Bibel oder an den christlichen Glauben herangetragene Form der Religionskritik ist, sondern sich schon im Alten wie im Neuen Testament selbst abspielt. So wurde durch die Kult- und Mythenkritik der frühen Propheten „der Gott Israels entmythologisiert“⁶⁶. Lässt sich schon bei Jesus und Paulus eine kritische Haltung gegenüber dem Kultus und seinen Ritualgesetzen beobachten, so tritt im Johannesevangelium „zu der Entritualisierung noch die Entmythologisierung“ (GW V, 95) hinzu, wenn Auferstehung und Jüngstes Gericht präsentisch mit der Annahme oder Verwerfung des Lichtes, das in die Welt gekommen ist, gleichgesetzt wird – Bultmann spricht von der Annahme oder Ablehnung des Kerygmas.⁶⁷ Auch die dogmatische Begriffsbildung der frühen Kirche ist für Tillich ein Versuch der Entmythologisierung, wenngleich die Geschichte des Christentums auch genügend Beispiele für eine Remythisierung christlicher Glaubensinhalte kennt. Tillich macht sich zwar den Begriff der Entmythologisierung zu eigen, gibt ihm aber eine eigene Wendung,welche mit seiner Mythostheorie zusammenhängt, die sich von Bultmanns Mythosbegriff unterscheidet. Zwar will auch Bultmann den Mythos in den biblischen Texten nicht eliminieren, doch teilt er nicht die Ansicht Tillichs, dass Religion und Glaube auch unter den Bedingungen der Moderne auf die Sprache des Mythos als Ausdrucksmittel angewiesen sind. Tillich dagegen versteht unter Entmythologisierung die Kritik an einem buchstäblichen, supranaturalistischen Verständnis des Mythos, das dessen symbolischen Charakter nicht durchschaut. Er nennt dies literalistisch.⁶⁸ Grundsätzlich unterscheidet Tillich vier Erscheinungsweisen christlicher Symbole wie etwa dasjenige des Logos oder des Christus:
Paul Tillich, Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen (1962), in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 51– 98, hier: 95. Zu Bultmanns Johannesauslegung vgl. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 101968 (= KEK 2), ND 1978. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 3, Stuttgart 1966, 25, spricht sich für eine Entmythologisierung religiöser Sprache aus, die sich „nicht gegen mythologische Vorstellungen als solche, sondern gegen die supranaturalistische Methode“ richtet, „die den Mythos literalistisch versteht“. In einer Fußnote (ebd., Anm. 1) fügt Tillich hinzu: „Die Worte Literalismus und literalistisch sind unübersetzbar. Sie bezeichnen eine theologische Haltung, die Symbole wörtlich nimmt und sie dadurch ins Abergläubische und Absurde verkehrt.“
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„Sie wachsen heraus aus einer spezifischen religiösen und kulturellen Situation; sie werden für einzelne oder Gruppen zum Ausdruck ihres existentiellen Selbstverständnisses; sie werden in dieser Funktion vom Christentum übernommen und umgestaltet; sie verlieren dabei oft ihren existentiell-symbolischen Sinn und werden auf das Niveau eines abergläubischen Supranaturalismus herabgedrückt.“ (ST II, 119)
Letzteres markiert das Stadium einer Remythisierung. Tillich unterscheidet zwei mögliche Bedeutungen des Begriffs Entmythologisierung: „Entmythologisierung kann bedeuten: Kampf gegen die literalistische Mißdeutung von Symbolen und Mythen. Das ist eine stets notwendige Aufgabe der christlichen Theologie. Sie bewahrt das Christentum davor, in einem Meer abergläubischer ‚Objektivationen‘ des Heiligen zu versinken. Aber Entmythologisierung kann auch bedeuten: Ausscheidung des Mythos als Form religiöser Aussagen und sein Ersatz durch Wissenschaft und Moral. In diesem Sinn muß Entmythologisierung abgelehnt werden. Sie würde die Religion ihrer Sprache berauben, sie würde die Erfahrung des Heiligen zum Schweigen bringen. Symbole und Mythen dürfen nicht deswegen kritisiert werden, weil sie Symbole und Mythen sind. Sie müssen daraufhin untersucht werden, ob sie die Macht haben, das auszudrücken, was sie ausdrücken sollen, in unserem Fall das Neue Sein in Jesus als dem Christus.“ (ST II, 164 f.)⁶⁹
Statt Entmythologisierung bevorzugt Tillich den Begriff Ent- oder Deliteralisierung (vgl. ST III, 169). Ebenso wie gegen ein supranaturalistisches Missverständnis ist die mythische Sprache gegen ihre Verwechslung mit einer pseudo-naturwissenschaftlichen Welterklärung zu schützen. Im dritten Band seiner Systematischen Theologie greift Tillich auf Heideggers Unterscheidung zwischen Zuhandensein und Vorhandensein zurück, um mit ihrer Hilfe zwischen der Sprache des Mythos und der Sprache des gewöhnlichen technischen Umgangs mit der Wirklichkeit zu differenzieren, deren Verwechslung heute „eines der ernstesten Hindernisse für das Verstehen der Religion“ (ST III, 75) sei. Mit Bultmann teilt Tillich das Anliegen, den Mythos als Ausdruck eines Daseinsverständnisses zu interpretieren. Bultmann spricht von existentialer Interpretation, die im Kern darauf hinausläuft, den Mythos anthropologisch zu interpretieren, wobei freilich vom Menschen angemessen nur gesprochen werden kann, wenn er in seiner Gottesrelation gesehen wird. Auch Tillich stellt eine Verbindung zwischen Entmythologisierung und Existenzanalyse her, hält aber im Unterschied zu Bultmann eine Ontologie für unverzichtbar, die auch den gesamten Bereich der Natur und des Kosmos einbezieht. Schon in seinem Sondervotum von Vgl. auch Paul Tillich, Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existenzanalyse (Vorlesung an der FU Berlin, Sommersemester 1952), in: Ders., Berliner Vorlesungen III (1951– 1958), EW XVI, hrsg. u. m. einer hist. Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 2009, 169 – 334, hier: 266 (11. Vorlesung).
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1929 im Rahmen der Nachfolgeregelung für den Lehrstuhl Rudolf Ottos hat Bultmann das Ansinnen einer theologischen oder theonomen Ontologie zurückgewiesen und ist bei dieser Haltung geblieben. Auch Tillich kann von existentialer Analyse, genauer gesagt von Existentialanalyse sprechen, der er jedoch eine Essentialanalyse zu Seite stellt.⁷⁰ Während eine Existentialanalyse den Blick auf die konkrete Situation des Menschen richte, suche die Essentialanalyse in unterschiedlicher Hinsicht das Wesen des Menschen vor dem Hintergrund der ontologischen Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz zu bestimmen. Auch wenn Tillich selbst eine Existentialanalyse religiöser Symbole und Mythen für notwendig hält, bleibt für ihn doch die Aufgabe bestehen, das Wesen des Menschen in ontologischen Kategorien zu bestimmen. Das Menschsein des Menschen nur von seiner existentialen Beziehung zu Gott her zu definieren, würde auf eine Verkürzung des biblischen Begriffs der Gottebenbildlichkeit des Menschen hinauslaufen, der nicht ohne die Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur zu denken ist.Tillich richtet vor allem gegen „die neuorthodoxe Theologie“ des Wortes Gottes den Vorwurf, „alle Beziehungen zur Essentialphilosophie abzuschneiden und alle rationalen Kriterien im theologischen Denken aufzugeben“⁷¹. Ebenso weist Tillich aber auch eine verabsolutierte Essentialanalyse zurück, die die Analyse der Essenz von derjenigen der Existenz abspaltet. Sein Verständnis von existentialer Analyse erläutert Tillich anhand der Begriffe und der Phänomene von Angst, Schuld und Sinnlosigkeit,von Entfremdung, Vereinsamung, Ungeborgenheit und Sorge. Der Einfluss Heideggers ist dabei erkennbar, wenngleich Tillich z. B. kritisiert, Heidegger stelle das soziale Leben weitgehend als eine Erscheinungsform der Uneigentlichkeit dar und verkenne damit den Sinn von Gemeinschaft.⁷² Existentiale Analyse und religiöse Sprache bzw. die Sprache des Mythos verhalten sich nach Tillich zueinander wie Begriff und Symbol. „Die Existentialanalyse drückt in Begriffen das aus,was der religiöse Mythos zu allen Zeiten über die Situation des Menschen ausgesagt hat. Und sofern sie das tut, macht sie alle jene Symbole verständlich, in denen eine Antwort auf die Frage nach der
Vgl. Paul Tillich, Existentialanalyse und religiöse Symbole, in: Ders., Symbol und Wirklichkeit, Göttingen 1962, 12– 28. Der Aufsatz lässt sich als Tillichs Antwort auf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm lesen. Vgl. auch Birgit Luscher, Arbeit am Symbol. Bausteine zu einer Theorie religiöser Erkenntnis im Anschluss an Paul Tillich und Ernst Cassirer, Berlin 2008 (= TillichStudien 19), 57. Paul Tillich, Existentialanalyse und religiöse Symbole, 14. Vgl. a.a.O., 15.
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menschlichen Situation in religiöser Form gegeben wird.“⁷³ Die Existentialanalyse kann und soll die religiösen Symbole erschließen, sie jedoch nicht ersetzen. Gemäß seiner Methode der Korrelation werden die religiös-mythischen Symbole als Ausdruck einer Antwort auf die Frage gedeutet, die von der existentialen Analyse begrifflich rekonstruiert, jedoch nicht beantwortet werden kann. Wenn Tillich auf seine Weise das Anliegen von Entmythologisierung und existentialer Interpretation mit Bultmann teilt, so deshalb, weil er Existenz und Offenbarung im Schema des hermeneutischen Zirkels von Frage und Antwort aufeinander bezieht. Theologie muß erfahrungsbezogen sein, darf aber nach Tillichs Überzeugung nicht bei diesen Erfahrungen stehen bleiben, sondern sie muss zu einer essentialistischen Analyse, d. h. zu ontologischen Bestimmungen voranschreiten, die im Gedanken des Seins-Selbst ihren Fluchtpunkt haben.
4. Zu Bultmanns und Tillichs Heidegger-Rezeption Vor diesem Hintergrund ist noch einmal darauf einzugehen, dass Tillich Bultmann vorgeworfen hat, Heideggers Ontologie ins Psychologische gewendet und letztlich missverstanden zu haben. Ich halte diesen Vorwurf nicht für zutreffend. Bultmanns existentiale Interpretation ist ein höchst eigenständiger Versuch, Heideggers Ontologie theologisch zu rezipieren, ohne dabei die aus theologischer Sicht problematischen Züge auszublenden, die mit dem Phänomen der Sünde zusammenhängen. Keineswegs ist Heideggers Daseinsanalyse für Bultmann ein neutrales Analyseinstrument, sondern jede Ontologie ist unter der theologischen Leitperspektive der Unterscheidung zwischen Glauben und Unglauben zu beurteilen und kann daher im besten Fall nur kritisch angeeignet werden. Für Bultmann kann es deshalb keine neutrale Ontologie geben, weil jede Ontologie „ontisch verwurzelt ist. Dies ist sie nämlich nicht in dem Sinne, daß von einer beliebigen Weltanschauung aus eine ihr entsprechende Ontologie entworfen werden könnte. Vielmehr zeigt sich im Entwerfen von Weltanschauungen überhaupt das Daseinsverständnis, in dem die Ontologie wurzelt.“⁷⁴ „Neutral“ sind lediglich „die formalen Strukturen des Daseins, die in der ontologischen Analyse aufgewiesen werden“, weil sie für alles Dasein gelten, „für das ungläubige Dasein wie für das gläubige, das nur in ständiger Überwindung des Unglaubens glaubt.
A.a.O., 22. Rudolf Bultmann, Das Problem der „natürlichen Theologie“, in: Ders., Glauben und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 71972, 294– 321, hier: 312.
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Sofern also die Theologie, indem sie die philosophische Daseinsanalyse benutzt, selbst die Bewegung des Philosophierens vollzieht, muß sie eine Bewegung des Unglaubens bewußt vollziehen.“⁷⁵ Zuvor erklärt Bultmann: „Man könnte deshalb sagen: der Unglaube, als der das Dasein begründende Entschluß zur Freiheit, ist von vornherein auf den Glauben angelegt. Enthält die vorchristliche Existenz ein nichtwissendes Wissen von Gott, so enthält sie damit ein Vorverständnis der christlichen Verkündigung; und arbeitet die Philosophie dieses Existenzverständnis aus, so arbeitet sie damit eben jenes Vorverständnis aus. Sofern dieses in die theologische Arbeit eingesetzt wird, wird es neu, sofern es in seinem Charakter als Vorverständnis aufgeklärt wird. Und eben die Interpretation der vorgläubigen Existenz und ihres Selbstverständnisses vom Glauben aus in ‚natürliche Theologie‘.“⁷⁶
Eigenständig ist nicht nur Bultmanns Heidegger-Rezeption, sondern auch sein Versuch einer Lösung der Probleme natürlicher Theologie. Er ist auch gegenüber Tillichs Konzeption als Alternative zu würdigen und kann keineswegs mit der Unterstellung eines mangelhaften Bewusstseins für ontologische Fragen abgetan werden. Der Vorwurf einer psychologisierenden Heidegger-Interpretation geht ebenso fehl wie Tillichs Charakterisierung von Bultmann als Anti-Ontologe. Tillich seinerseits nimmt eine problematische Einordnung Heideggers vor, wenn er diesen unter die Lebensphilosophen und Existentialisten einreiht (ST I, 199). Eine solche Zuordnung hat Heidegger für eine krasse Fehlinterpretation von Sein und Zeit gehalten. Allerdings stellt man fest, dass sich sowohl Bultmann als auch Tillich im Wesentlichen nur mit dem Heidegger von Sein und Zeit auseinandergesetzt haben, nicht aber mit der Philosophie des späten Heidegger. Die theologische Rezeption der Spätphilosophie Heideggers, die sich doch von der Gedankenwelt christlicher Theologie weit entfernt hat,⁷⁷ ist freilich ein gesondertes Kapitel, das hier nicht weiter erörtert werden kann.
5. Theologie – Mythos – Metaphysik Im Kern der von Bultmann ausgelösten Entmythologisierungsdebatte geht es um das Problem der Semantik religiöser Rede, das auch bei Tillich wiederkehrt. M.E. lässt sich die Frage, ob und inwiefern religiöse Sätze meinen, was sie sagen, nur
Ebd. A.a.O., 311. Vgl. dazu Otto Pöggeler, Philosophie und hermeneutische Theologie. Heidegger, Bultmann und die Folgen, Paderborn 2009.
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dann sinnvoll bearbeiten, wenn nicht nur ein differenzierter Begriff des Mythos als bei Bultmann verwendet wird, sondern wenn auch deutlicher zwischen Mythos und Metapher unterschieden wird als dies bei Bultmann oder auch manchen seiner Kritiker der Fall ist. Die begriffliche Verwirrung ist offenkundig, wenn Bultmann gelegentlich seinen Gesprächspartnern unterstellt, sie redeten mythisch,⁷⁸ wo diese mit Recht einwenden könnten, die Sprache des Mythos ebenso metaphorisch zu gebrauchen wie Bultmann, wenn dieser seinerseits bestreitet, dass die Rede vom Handeln Gottes mythisch sei. Die Rede vom Handeln Gottes ist nach Bultmann nämlich kein mythologischer Rest in seiner existentialen Interpretation, sondern eine zugegebenermaßen anthropomorphe Redeweise von Gott, die aber nur dem Ungläubigen wie ein Mythos vorkomme, tatsächlich aber eine Form der Analogie sei⁷⁹. Anthropomorphes Reden zeichnet freilich gerade den Mythos im religionswissenschaftlichen Wortsinn aus. Insofern hört sich ein Satz wie der folgende, von Bultmann stammende, durchaus mythologisch an: „Indem Gott Jesus kreuzigen ließ, hat er für uns das Kreuz errichtet.“⁸⁰ Folgerichtig urteilt Hans Blumenberg: „Die Entmythologisierung ist zu einem großen Teil nichts anderes als Remetaphorisierung: das punktuelle Kerygma strahlt auf einen Hof von Sprachformen aus, die nun nicht mehr beim Wort genommen zu werden brauchen.“⁸¹ So steht hinter Bultmanns Entmythologisierungsprogramm eigentlich die Frage, ob religiöse Sätze meinen, was sie sagen, bzw. ob es möglich ist, unmetaphorisch, d. h. univok von Gott zu reden.⁸² Bultmann ist allerdings der Auffassung, dass der Mythos als Sprache, das heißt aber im Grunde auch das metaphorische Reden von Gott für den christlichen Glauben prinzipiell entbehrlich ist. „Die Notwendigkeit, vom Unanschaulichen anschaulich zu reden […], kann ich nicht einsehen. Warum nicht die mißverständliche Anschaulichkeit durch eine sachgemäße Sprache ersetzen? Oder sie – wenn sie in der liturgischen Sprache
So z. B. in seiner Antwort auf Schniewind: Rudolf Bultmann, Zu J. Schniewinds Thesen, das Problem der Entmythologisierung betreffend, in: Kerygma und Mythos, Bd. 1, hrsg.v. Hans-Werner Bartsch, Hamburg 1948, 135 – 153. Vgl. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 50 f.63 f.; Ders., Zum Problem der Entmythologisierung, 196 – 208. Siehe auch Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 49, die Behauptung, die neutestamentliche Rede von der Sünde sei nur scheinbar mythologisch. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 55. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt (Main) 1979 (= stw 289), 87. Vgl. dazu Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: Ders., Glauben und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 1993, 26 – 37 (jetzt in: Ders., Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, ausgewählt, eingel. u. hrsg. v. Andreas Lindemann, Tübingen 2002 [= UTB 2316], 1– 12).
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(wenigstens weithin mit Recht) fortlebt, stets interpretieren?“⁸³ Indem Bultmann die metaphorische Sprache des Mythos auf dem Wege ihrer Interpretation nicht nur verstehen, sondern womöglich auch ersetzen will, bleibt er freilich dem Reduktionsverfahren der von ihm selbst kritisierten liberalen Theologie verhaftet. Während sich hinter dem Mythosbegriff mancher Kritiker Bultmanns ein Verständnis des Metaphorischen verbirgt, das in den poetologischen Metapherntheorien Paul Ricœurs oder Hans Blumenbergs Unterstützung findet⁸⁴, entspricht Bultmanns Interpretation mythologischer Rede dem auf Aristoteles zurückzuführenden rhetorischen Metaphernbegriff. Ihm zufolge sind Metaphern uneigentliche Rede und lediglich ein Stilmittel der Rhetorik. Dieses Metaphernverständnis stößt jedoch bei der Rede vom Handeln Gottes, an der Bultmann festhalten will, an seine Grenzen. Auch Tillichs Symbolbegriff ist mit Schwierigkeiten behaftet. Sie zeigen sich vor allem, sobald er auf religiöse Ausdrücke angewandt wird, wobei Tillich zwischen primären und sekundären religiösen Symbolen, gewissermaßen zwischen religiösen Symbolen erster und zweiter Ordnung unterscheidet.⁸⁵ Das Problem der Symboltheorie Tillichs ist vor allem von dem Philosophen Max Horkheimer gesehen worden.⁸⁶ Es entsteht durch Tillichs These, von Gott könne nur symbolisch geredet werden. Dem mag man, wie Horkheimer einräumt, zustimmen, weil letztlich alle menschlichen Vorstellungen Gott selbst unangemessen sind. Dann entsteht jedoch die Schwierigkeit, dass man nicht mehr weiß, worauf religiöse Symbole eigentlich genau verweisen. Um Symbole richtig gebrauchen zu können, muss man ihre Bedeutung kennen. Darüber aber müsste eine nicht-symbolische Auskunft gegeben werden können. Im Fall Gottes scheint das jedoch nicht möglich zu sein. Tillich versucht Horkheimers Einwände zu entkräften, indem er an die Stelle des Gottesbegriffs den Begriff des Heiligen setzt, den er von R. Otto übernimmt.⁸⁷ Dem Heiligen versucht Tillich sich einerseits auf phänomenologischem Wege,
Rudolf Bultmann, Zu J. Schniewinds Thesen, das Problem der Entmythologisierung betreffend, 152. Siehe dazu ausführlich Hermann Braun/Günter Figal/Ulrich H.J. Körtner, Meinen religiöse Sätze, was sie sagen?, in: WuD 19 (1987), 221– 235. Vgl. Paul Tillich, Sinn und Recht religiöser Symbole, 8 ff. Beispiele für Symbole erster Ordnung: Gott, Schöpfung, Inkarnation. Beispiele für religiöse Symbole zweiter Ordnung: Hirte (für Gott), das göttliche Licht, heiliges Öl oder Wasser. Max Horkheimer, Meine Begegnung mit Paul Tillich. Eine Antwort in Form eines Briefes, in: Paul Tillich, Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, GW XIII, Stuttgart 1972, 568 – 569, hier: 569. Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.
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andererseits auf ontologischem Wege zu nähern. Religiöse Symbole sind nach Tillich der sprachliche Ausdruck sowohl für die Antwort als auch für die Frage nach dem Sinn von Sein für uns.⁸⁸ Die religiösen Antworten aber sind nicht in einem formallogischen Sinne wahr oder falsch, „sondern sie sind authentisch oder nicht-authentisch im Hinblick auf ihren Ursprung; sie sind adäquat oder nicht-adäquat im Hinblick auf ihre Ausdruckskraft; sie sind göttlich oder dämonisch im Hinblick auf den letzten Grund des Seins“⁸⁹. Kriterien für den Wert religiöser Symbole sind also Authentizität, Adäquanz und Theonomie. Die Tragfähigkeit von Tillichs Symbolbegriff hängt letztlich aber davon ab, ob man von Gott nur symbolisch oder auch nicht-symbolisch reden kann. An dieser Stelle verrät Tillich eine Unsicherheit. So behauptet er zunächst: „Der Satz, daß Gott das Sein-selbst ist, ist ein nicht-symbolischer Satz. Er weist nicht über sich selbst hinaus.“ (ST I, 277) Diese These muss er später jedoch aufgeben und erklärt nun, die einzige nicht-symbolische Aussage über Gott sei der Satz: „Alles, was über Gott gesagt werden kann, ist symbolisch.“ (ST II, 15 f.) Das ist nun freilich keine Aussage über Gott, sondern über das Wort „Gott“.⁹⁰ Sie verlagert das Problem von der Objektsprache auf die Ebene der Metasprache, ohne es damit lösen zu können. Zeichentheoretisch erweist sich schon die Unterscheidung zwischen Symbol und Zeichen weniger triftig als es bei Tillich oder auch Paul Ricœur den Anschein hat. Nach Ricœur konstituiert die „enthüllende Macht des Symbols“ den Gegensatz zum technischen Zeichen, das rein formaler Natur ist und auf ein mathematisches Objekt reduziert werden kann. Vom Symbol kann Ricœur dagegen sagen, dass es „gibt, was es sagt“⁹¹. Das Symbol ist also kein Objekt, sondern hat bei Ricœur Subjektcharakter. Und ähnlich wie bei Tillich begegnet uns auch bei Ricœur der Gedanke, durch das Symbol an einer Wirklichkeit teilzuhaben, die über das Symbol hinausweist. An dieser Stelle setzt jedoch die semiotische Kritik an Ricœur ein. Seine Symboltheorie droht die Gebundenheit der Zeichen an menschliche Subjekte zugunsten eines ontologisch aufgeladenen Symbolbegriffs zu ignorieren, der
Vgl. Paul Tillich, Sinn und Recht religiöser Symbole, 12 f. P. Tillich, Existentialanalyse und religiöse Symbole, 28; vgl. dazu Ders., Sinn und Recht religiöser Symbole, 10 ff. Vgl. dazu ausführlich Joachim Track, Der theologische Ansatz Paul Tillichs. Eine wissenschaftstheoretische Untersuchung seiner „Systematischen Theologie“, Göttingen 1975 (= FSÖTh 31), 303 ff. Paul Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt (Main) 41993, 44.
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Symbole zu geheimnisvollen Wesen hypostasiert.⁹² Tillich dagegen hat die Rezeption der Symbole durch eine Auslegungsgemeinschaft ausdrücklich thematisiert. Allerdings lässt sich auch an ihn die Frage richten, wie stichhaltig seine Unterscheidung zwischen Symbol und Zeichen ist. Auch sie operiert schließlich mit einem ontologisch aufgeladenen Symbolbegriff und der Metapher der Teilhabe. Über die bei Bultmann wie bei Tillich auftretenden Aporien führt die neuere Diskussion zur Metapherntheorie hinaus. Während Tillich den Begriff der Metapher abwertend gebraucht und Metaphern als abgesunkene Symbole deutet, die ihre Kraft verloren haben,⁹³ nimmt der Begriff der Metapher in neueren Theorien religiöser Sprache gerade jene Stelle ein, die bei Tillich der Begriff des Symbols hat.⁹⁴ Genauer gesagt, handelt es sich um Theorien der absoluten Metapher, die es erlauben innerhalb der religiösen Rede von Gott semantisch zu differenzieren. Die Kritik an Bultmanns Entmythologisierungsprogramm schießt nämlich über das Ziel hinaus, sofern sie den Eindruck erzeugt, sämtliche biblische metaphorische Ausdrücke seien für den christlichen Glauben zur angemessenen Rede von Gott unaufgebbar. Wer dies annimmt, landet bei der sprichwörtlichen Sprache Kanaans.Von der Rede vom Handeln Gottes ist nun aber nicht nur festzustellen, dass sie nicht eliminiert werden kann, sondern auch, dass sie im Neuen Testament ihre Eindeutigkeit erst dadurch gewinnt, dass sie christologisch gefüllt wird. Die Rede von Jesus von Nazareth und diejenige vom Handeln Gottes bedingen einander in den neutestamentlichen Texten wechselseitig. Auf diese Weise entsteht ein Grundbestand von Metaphern, ohne die das christliche Kerygma nicht aussagbar ist. Nicht von sämtlichen in der Bibel vorkommenden Metaphern, wohl aber von diesem Grundbestand christologischer Metaphern ist im Sinne Bonhoeffers zu sagen, dass sie nicht die mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit, sondern die Sache selbst sind.⁹⁵ Im Anschluss an die Metapherntheorien Ricœurs und Blumenbergs können derartige Sprachgebilde als absolute Metaphern bezeichnet werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie begrifflich nicht auflösbar sind, ihrerseits aber sprachbildend wirken.
Zur Kritik vgl. Michael Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Hannover 1995 (= Vorlagen NF 25), 15. Vgl. Paul Tillich, Sinn und Recht religiöser Symbole, 5. Zur neueren Metapherndiskussion siehe Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 21996; Ruben Zimmermann (Hg.), Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen, München 2000 (= Übergänge 38). Vgl. oben Anm. 35.
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Für eine semantische Theorie der absoluten Metaphorik religiöser Rede kehrt sich das hermeneutische Problem Bultmanns um: Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade besteht auf dem Gebiet des Verstehens nicht darin, dass das Kerygma sich zu jeder Zeit und an jedem Ort in einer neuen Sprache darbietet, sondern vielmehr darin, dass dieses zeit- und vorstellungsgebundene Wort immer wieder in neue Sprachen einzugehen vermag und trotz seiner bleibenden Fremdheit verstanden wird. Mit Rudolf Bohren lässt sich dieser Vorgang als Spracherweiterung bezeichnen. „Damit würde sich das hermeneutische Problem umkehren: Nicht so sehr die Übersetzung der Schrift in unsere Sprache stünde dann zur Debatte, sondern die Verwandlung unserer Sprache in die der Bibel.“⁹⁶ Das hermeneutische Problem der sich auf das Neue Testament berufenden christlichen Rede von Gott ist damit freilich noch nicht vollständig beschrieben. Es tritt erst dann ganz in den Blick, wenn das Verhältnis dieser Rede nicht nur zum Mythos, sondern auch zur Metaphysik hinterfragt wird.⁹⁷ Im Grunde bringt das Wort „Theologie“ in seiner christlichen Verwendung das hermeneutische Problem christlicher Rede spannungsvoll auf den Begriff. „Rede von Gott“ heißt griechisch übersetzt ja nichts anderes als „Theologie“. „Theologie“ aber ist bekanntlich kein Wort der biblischen Überlieferung, sondern der griechischen Antike, welche unter der Rede von Gott oder dem Göttlichen ursprünglich das Singen und Sagen der Göttergeschichten, d. h. aber den Mythos verstand. Platon und Aristoteles sowie die Stoa verwendeten später den Begriff Theologie zur Bezeichnung ihrer im Einzelnen durchaus unterschiedlichen Metaphysik. Indem sich aber das Christentum im weiteren Verlauf seiner Geschichte auf den Gebrauch des Wortes Theologie einließ, hat es sich gleichzeitig „auf eine Fragestellung eingelassen, die seine Theologie zwischen Mythologie und Metaphysik stellt und mit beidem kritisch verbunden sein läßt“⁹⁸. Genau jenen Ort christlicher Rede von Gott zwischen Mythos und Metaphysik benennt der Begriff der absoluten Metapher, der von uns im Zusammenhang der Rede vom Handeln Gottes eingeführt wurde. Diese These bedarf einer kurzen Erläuterung. Absolute Metaphern im Sinne Blumenbergs sind nicht ein Stilmittel Rudolf Bohren, Predigtlehre, München 41980, 134. Die folgenden Passagen fußen auf Ulrich H.J. Körtner, Metaphysik und Moderne. Zur Ortsbestimmung christlicher Theologie zwischen Mythos und Metaphysik, in: NZSTh 41 (1999), 225 – 244. Oswald Bayer, Einführung, in: Ders. (Hg.), Mythos und Religion. Interdisziplinäre Aspekte, Stuttgart 1990, 7– 17, hier: 7. Vgl. auch Hans-Peter Müllers Überlegungen zur „Aufhebung des Mythos“ durch das Kerygma: Ders., Mythos und Kerygma. Anthropologische und theologische Aspekte, in: ZThK 83 (1986), 405 – 435, jetzt in: Ders., Mythos – Kerygma – Wahrheit. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament in seiner Umwelt und zur biblischen Theologie, Berlin/ New York 1991 (= BZAW 200), 188 – 219, hier: 210 – 218.
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der Rhetorik oder zu Begriffen verblasste Bilder, sondern jeweils ein „Modell in pragmatischer Funktion, an dem eine ‚Regel der Reflexion‘ gewonnen werden soll“⁹⁹. Sie entsprechen damit jenen Sprach- und Denkfiguren, die Kant als Symbole bezeichnet hat. Symbole im Sinne Kants sind: „[I]ndirekte Darstellungen des Begriffs […] vermittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient), in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.“¹⁰⁰
Symbole sind bei Kant also Analogiebildungen, mit deren Hilfe reinen Vernunftbegriffen, denen „schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann“, zu einer „Versinnlichung“ verholfen wird. Nach Kant ist in diesem Sinne auch „alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch; und der, welcher sie mit den Eigenschaften Verstand,Wille usw., die allein an Weltwesen ihre objektive Realität beweisen, für schematisch nimmt, gerät in den Anthropomorphism, so wie, wenn er alles Intuitive wegläßt, in den Deism, wodurch überall nichts, auch nicht in praktischer Absicht erkannt wird“¹⁰¹. Ohne hier im einzelnen auf Kants Ästhetik, aus der diese Sätze stammen, und seine Religionsphilosophie eingehen zu können, lässt sich doch sagen, dass sich in der Polarität von Anthropomorphismus und Deismus die angesprochene Spannung von Mythos und Metaphysik widerspiegelt, zwischen denen die absolute Metaphorik christlicher Rede von Gott zu stehen kommt. Deren Spannung aber besteht darin, dass sie Sätze formuliert, die weder einen bloßen Vergleich aufstellen, noch univok sagen, wer oder was Gott an sich ist. Sie sagen vielmehr, als was Gott ist; und gerade auf diese schiefe Weise sagen sie, wer Gott ist¹⁰². Christliche Rede von Gott steht also spannungsreich zwischen Vergleich und Proposition, worin sich ebenfalls die Spannung von Mythos und Metaphysik zeigt.
Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: ABG 6 (1960), 7– 142, hier: 10. Zur Metapherntheorie Blumenbergs siehe ausführlich Philipp Stoellger, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen 2000 (= HUTh 39). Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 5: Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 1983, 460 (§ 59). A.a.O., 461. Zu diesem Gedankengang vgl. Paul Ricœur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: Ders./Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 45 – 70, bes. 54.
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Indem die christliche Theologie über das dem Mythos verwandte bloße Erzählen und metaphorische Reden von Gott hinausgeht und nach dessen metaphorischer Wahrheit fragt, gerät sie notwendigerweise in den Fragenkreis der Metaphysik. Weil aber die Geschichte der Theologie mit der wechselvollen Geschichte abendländischer Metaphysik verbunden ist, ist die Theologie auch von der im 19. Jahrhundert sich anbahnenden Krise metaphysischen Denkens betroffen. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und sein hermeneutischer Ansatz einer existentialen Interpretation des Neuen Testaments haben ebenso wie Tillichs ontologisch fundierte Theologie und Existentialanalyse je auf ihre Weise der Krise einer metaphysisch geprägten Theologie zu begegnen versucht. Während Bultmann im Anschluss an Heidegger eine existentiale Ontologie entwirft, Tillich dagegen eine vor allem von Schelling inspirierte Ontologie vertritt, sucht das Programm einer narrativen Theologie das theologische Denken durch die Rückbesinnung auf das Erzählen als grundlegenden Modus biblischer Gottesrede zu erneuern.¹⁰³ Programmatisch kann sogar davon die Rede sein, dass auch Dogmatik als Reflexion des Glaubens eine narrative Grundstruktur aufweisen müsse, was von Gunda Schneider-Flume auf die Formel „Dogmatik erzählen“ gebracht wird.¹⁰⁴ Auch die alttestamentliche und neutestamentliche Exegese widmet dem Narrativen als biblischer Darstellungsform verstärkte Aufmerksamkeit, wobei zumeist zwischen Mythos im engeren Sinne und Erzählung unterschieden wird.¹⁰⁵ Die Narrotologie, d. h. die literatuwissenschaftliche Theorie des Erzählens, hat inzwischen in die Exegese Einzug gehalten und wird als Erweiterung des herkömmlichen Methodenkanons historisch-kritischer Bibelauslegung diskutiert.¹⁰⁶ Solche Konzepte haben eine hohe Plausibilität. Eine narrative Theologie, die sich ausschließlich als Alternative zur metaphysisch geprägten theologischen Reflexion in Begriffen begreift, steht ihrerseits freilich in der Gefahr, die für die christliche Theologie konstitutive Spannung von Mythos und Metaphysik zugunsten des Mythos aufzulösen. Wird die Frage nach der Wahrheit des von Gott Einen älteren Überblick über verschiedene Entwürfe einer narrativen Theologie gibt Bernd Wacker, Narrative Theologie?, München 1977. Gunda Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte, Göttingen 22008 (= UTB 2564); Dies./Doris Hiller (Hg.), Dogmatik erzählen? Die Bedeutung des Erzählens für eine biblisch orientierte Dogmatik, Neukirchen-Vluyn 2005. Vgl. aber z. B. Paul-Gerhard Klumbies, Der Mythos bei Markus, Berlin/New York 2001 (= BZNW 108), der „Mythos“ als Deutungskategorie für das Markusevangelium insgesamt vorschlägt. Kritisch dagegen Eve-Marie Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, Tübingen 2006 (= WUNT 194), 111 ff. Vgl. Sönke Finnern, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28, Tübingen 2010 (= WUNT II, 285).
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Erzählten nicht mehr auf der Ebene begrifflichen Denkens gestellt, wird christliche Theologie ihrerseits zu einer bloßen Spielart des Mythos.¹⁰⁷ Sie ist dann nur noch Theologie im antiken Wortsinn, nämlich das Singen und Sagen von einem Gott, das zur Mythenkritik geradezu herausfordert. Christliche Theologie, welche ernsthaft das durch die metaphysische Tradition vermittelte Leitbild der Episteme, d. h. des in Begriffen aussagbaren Wissens, verabschieden wollte, müsste schließlich um den Preis ihrer Selbstpreisgabe in das Lob des Polytheismus einstimmen.¹⁰⁸ Eine theologische Metaphysikkritik, die auf eine Remythisierung der Theologie hinausläuft, führt nicht über Bultmann oder Tillich hinaus, sondern fällt hinter die von beiden gewonnenen theologischen Einsichten zurück.
Zur Kritik vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, München 1984, 47. Zu seinem von einer narrativen Theologie sich abgrenzenden Story-Konzept siehe auch Dietrich Ritschl/Hugh Oldbury Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976 (= TEH 192). Zum Lob des Polytheismus siehe neben Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, passim, den Essay von Odo Marquard, Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 91– 116; ferner Jean-François Lyotard, Ökonomie des Wunsches, übers. v. Gabriele Ricke/Ronald Voullié, Bremen 1984; Ders., Das postmoderne Wissen, übers. v. Otto Pfersmann, Wien 1986.
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„Die ewige Wahrheit des Mythos“ Paul Tillich und Karl Jaspers im Vergleich „Myth is a way of making sense in a senseless world.“ Rollo May¹
1. Hinführung „Ohne Mythus […] geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab. […] Man stelle jetzt daneben den abstrakten, ohne Mythen geleiteten Menschen […] – das ist die Gegenwart […]. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es daß er auch in den entlegensten Altertümern nach ihnen graben müßte.Worauf weist das ungeheure historische Bedürfnis der unbefriedigten modernen Kultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Kulturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoßes? Man fragt sich, ob das fieberhafte und so unheimliche Sichregen dieser Kultur etwas anderes ist als das gierige Zugreifen und Nach-Nahrung-Haschen des Hungernden – und wer möchte einer solchen Kultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sättigen ist.“²
Diese Sätze, die unsere auf Rationalität und Wissensanhäufung abgestellte Zivilisation recht treffend charakterisieren, stammen von keinem Geringeren als Friedrich Nietzsche. Sie machen deutlich, dass der Mythos weder durch die Religion noch durch die Philosophie, noch durch die Wissenschaft³ abgelöst wurde
Rollo May, The Cry for Myth, New York 1991, 15. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus, in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, hrsg. v. Karl Schlechta, Darmstadt 1994, 7– 134, hier: 125 f. Wenn ich hier und im Folgenden von „Wissenschaft“ spreche, meine ich die „Einzelwissenschaft“. Mit Jaspers unterscheide ich hiervon Philosophie und Theologie – mit der folgenden Begründung: Das „Denken und Erkennen in Philosophie und Theologie ist grundsätzlich unterschieden vom wissenschaftlichen Erkennen. Identifizieren wir Wissenschaft mit methodischem Denken, so sind auch Theologie und Philosophie Wissenschaften. Identifizieren wir aber Wissenschaft mit dem Erkennen, das über das Logisch-Methodische hinaus zwingend und allgemeingültig ist für jeden Denkenden, dann sind weder Theologie noch Philosophie Wissenschaften. Will man weiterhin beides Wissenschaft nennen, so scheint mir das irreführend.“ (PhO, 37) Dass die historische Beschäftigung mit philosophischen und theologischen Themen natürlich
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und seine Macht verloren hat, dass er vielmehr – um mit Jaspers zu sprechen – eine „ewige Wahrheit“⁴ zu besitzen scheint, ohne die es dem Mensch kaum möglich ist, eine sinnvolle Welt aufzubauen, und das heißt, ein sinnvolles Leben zu führen. Der bekannte amerikanische Psychologe Rollo May, ein Vertreter der sog. „existentiellen Psychotherapie“, von dem auch das eingangs zitierte Motto stammt, hat auf diese sinnstiftende Funktion des Mythos hingewiesen – und hier steht er ganz in der Linie seines akademischen Lehrers und Freundes Paul Tillich.⁵
immer auch Wissenschaft in diesem Sinne ist, steht außer Frage. Aber diese ist weder das Eigentliche der Philosophie noch das Eigentliche der Theologie! Die Werke von Jaspers werden wie folgt zitiert: Aut
= Philosophische Autobiographie, erw. Neuausgabe (erstmals mit dem Kapitel über Martin Heidegger), München 21984; ChT = Chiffren der Transzendenz, München 31977; EPh = Einführung in die Philosophie, München 252003; Ex = Existenzphilosophie, Berlin 41974; FE = Die Frage der Entmythologisierung (mit Rudolf Bultmann), München 1981; PhGl = Der philosophische Glaube. Gastvorlesungen, München 91988; H/J = Martin Heidegger/Karl Jaspers, Briefwechsel 1920 – 1963, hrsg. v. Walter Biemel/Hans Saner, München 1990, Neuausgabe 1992; MuPh = Mythos und Philosophie, in: Die Wirklichkeit des Mythos, hrsg. v. Kurt Hoffman, München/Zürich 1965, 53 – 65; NPL = Nachlaß zur Philosophischen Logik, hrsg. v. Hans Saner/Marc Hänggi, München 1991; NzH = Notizen zu Martin Heidegger, hrsg. v. Hans Saner, München 1978; PGcO = Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung, in: Philosophie und christliche Existenz, FS für Heinrich Barth zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Gerhard Huber, Basel 1960, 1– 92; PGO = Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, Darmstadt 1984; Ph = Philosophie, Bd. 1: Philosophische Weltorientierung, Bd. 2: Existenzerhellung, Bd. 3: Metaphysik, Berlin 41973; PhO = Philosophie und Offenbarungsglaube. Ein Zwiegespräch (zus. mit Heinz Zahrnt), Hamburg 1963; PsW = Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 61971; Sch = Schelling. Größe und Verhängnis, München 1955; VdW = Philosophische Logik, Bd. 1: Von der Wahrheit, München 1947; VuE = Vernunft und Existenz, München 41987; VWZ = Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit. Drei Gastvorlesungen, München 31990. Ph III, 132. – Ähnlich spricht auch Tillich von „der Wahrheit und der Macht des Mythos“ (Zur gegenwärtigen theologischen Lage, in: Ders., Korrelationen. Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit, EW IV, hrsg. u. übers. v. Ingeborg C. Henel, Stuttgart 1975, 85 – 96, hier: 93). Vgl. dazu Rollo May, Reminiscences of a friendship, New York 1973. – Die 2. Aufl. erschien unter dem Titel: Paulus. Tillich as spiritual teacher, Dallas 1988, und wurde erweitert um einen „Epilog“: „A great teacher“.
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Innerhalb der existentialistischen Bewegung,⁶ zu der Tillich spätestens seit Ende der 1920er Jahre zählt,⁷ hat Karl Jaspers eine ganz ähnliche Position in Bezug auf das Verständnis des Mythos vertreten, wenn er sich auch vehement gegen die Offenbarungsreligion wendet und einen „Philosophischen Glauben“ vertritt, demzufolge der Einzelne als Existenz vor der Transzendenz steht. Tillich und Jaspers haben immer wieder darauf hingewiesen, dass der Mythos für die condition humain unabdingbar ist und nicht auf „Göttergeschichten“ reduziert werden darf, sondern ein bleibendes Element unseres Geisteslebens darstellt, und dass dessen Verschwinden zwangsläufig zu seltsamen Surrogaten führt, die unser Menschsein geradezu bedrohen; ich werde darauf zurückkommen. Die Themen Mythos und Symbol bzw. Chiffer begegnen sowohl im Werk von Tillich als auch in demjenigen von Jaspers durchgängig, ohne entscheidende Brüche aufzuweisen.⁸ So erstaunt es schon, dass in den einschlägigen Einführungen zum Begriff des Mythos in der Regel weder auf Tillich noch auf Jaspers Bezug genommen wird.⁹ Dabei scheint mir die Mythosdeutung dieser beiden Denker ausgesprochen innovativ und wegweisend zu sein. Obwohl Tillich und Jaspers kaum voneinander Notiz genommen haben, weist ihr Mythosverständnis – wie schon angedeutet – recht viele Gemeinsamkeiten auf. Der Mythos ist für beide eine bleibende Kategorie, und so ist es nur konsequent, wenn sich ihr Mythosverständnis gegen ein literalistisches Sprechen über das Göttliche wendet, mithin auch gegen jeden Versuch einer „Entmythologisierung“, wie sie Rudolf Bultmann programmatisch entwickelt hat. Allerdings finden sich auch einige nicht unwesentliche Unterschiede. So lehnt Jaspers – wie schon erwähnt – die Offenbarungsreligion ab und entwickelt einen „Philosophischen Glauben“. Und auch in Bezug auf den Analogiegedanken trennen sich die Wege, meint doch Jaspers, dass dadurch das Göttliche immer schon objektiviert würde.
Vgl. Paul Tillich, Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse (Vorlesung an der FU Berlin, Sommersemester 1952), in: Ders., Berliner Vorlesungen III (1951– 1958), EW XVI, hrsg. u. m. einer hist. Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 2009, 169 – 334, bes. 169 – 219. Hier ist Tillichs Frankfurter Antrittsvorlesung Philosophie und Schicksal von 1929 zu nennen (in: Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, GW IV, Stuttgart 1961, 23 – 35), evt. aber auch schon sein Beitrag Kairos und Logos von 1926 (in: GW IV, 43 – 76). Wobei Jaspers zuweilen die Begriffe Symbol und Chiffer bzw. Chiffre synonym verwendet. Vgl. z. B. Carl-Friedrich Geyer, Mythos. Formen – Beispiele – Deutungen, München 1996 (= C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2032); Christoph Jamme, Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991 (= Die Philosophie. Einführungen in Gegenstand, Methoden und Ergebnisse ihrer Disziplinen); Robert Alan Segal, Mythos. Eine kleine Einführung, übers. v. Tanja Handels, Stuttgart 2007 (= Reclams Universalbibliothek 18396).
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Damit ist der Gang der nachfolgenden Darlegungen in gewisser Weise auch schon vorgezeichnet. In einem ersten Schritt werde ich das Mythosverständnis von Tillich in der gebotenen Kürze skizzieren, um sodann in einem zweiten dasjenige von Jaspers darzulegen, wodurch die Gemeinsamkeiten mit Tillich zum Teil auch schon ins Auge fallen. Dabei werde ich in einem ersten Durchgang Jaspers’ Mythosverständnis in einem werkgeschichtlichen Abriss darbieten, um danach dieses noch einmal systematisch zu entfalten. In einem dritten Schritt wird es dann noch einmal darum gehen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Mythosverständnis von Tillich und Jaspers herauszuarbeiten, bevor ein abschließendes „Resümee“ die Darlegungen noch einmal pointiert auf den Begriff bringen soll. Doch zuvor noch einige Hinweise zum Verhältnis der beiden Denker zueinander.¹⁰ Ein wirkliches Gespräch zwischen Jaspers und Tillich hat wohl nie stattgefunden; beide Denker scheinen sich nicht begegnet zu sein. Während Jaspers von Tillichs Werk so gut wie keinerlei Notiz genommen zu haben scheint – einmal abgesehen von einem Beitrag, den er zu einer Tillich-Festschrift im Jahre 1959 beigesteuert hat¹¹ –, kommt Tillich in seinem Werk verschiedene Male auf Jaspers zu sprechen, wenn auch meist nur am Rand.¹² Etwas ausführlicher geht er auf dessen Denken in einem Beitrag über Existenzphilosophie ¹³ von 1944 ein sowie in einem im Deutschen Paul-Tillich-Archiv an der Universitätsbibliothek Marburg
Vgl. dazu Werner Schüßler, Philosophischer und religiöser Glaube. Karl Jaspers im Gespräch mit Paul Tillich, in: Theologische Zeitschrift 69/1.2 (2013), 24– 52, hier: 27 f. Vgl. Karl Jaspers, The Individual and Mass Society, in: Religion and Culture. Essays in Honor of Paul Tillich, hrsg. v. Walter Leibrecht, New York 1959, 37– 43. Vgl. z. B. Paul Tillich, Systematische Theologie, 3 Bde., Berlin/New York 1987, Bd. 1, 31 sowie Bd. 2, 32; Ders., Wesen und Bedeutung des existentialistischen Denkens, in: Ders., Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, GW IV, Stuttgart 1961, 174– 182, hier: 182; Ders., Überwindung des Provinzialismus in der Theologie, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 13–27, hier: 16 sowie Wesen und Wandel des Glaubens, in: Offenbarung und Glaube, GW VIII, 111–196, hier: 174; Ders., Mut und Individuation. Der Mut, man selbst zu sein, in: Ders., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, GW XI, Frankfurt (Main) 31982, 89–116, hier: 113; Ders., Einführung in die Existential-Philosophie (Vorlesung an der Columbia University, New York, Frühjahr 1934), in: Ders., Frühe Vorlesungen im Exil (1934–1935), EW XVII, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin/Boston 2012, 57–155, hier: 115.131; Ders., Fragen der systematischen Philosophie (Wintersemester 1932/33), in: Ders., Frankfurter Vorlesungen (1930–1933), EW XVIII, hrsg. u. m. einer historischen Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/Boston 2013, 505–666, hier: 573.582.587.589.591.638–641. Allerdings wird Tillich dem Denken Jaspers’ nicht gerecht. Vgl. Paul Tillich, Existenzphilosophie, in: Ders., Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, GW IV, Stuttgart 1961, 145 – 173, hier bes. 155 – 159.
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aufbewahrten zehnseitigen Typoskript mit dem Titel Heidegger and Jaspers ¹⁴, das auf einen Vortrag zurückgeht, den Tillich 1954 in New York gehalten hat. Aber auch diese beiden Beiträge machen deutlich, dass er sich mit Jaspers nicht tiefergehend auseinandergesetzt hat. Seine Diskussion ist auch hier recht oberflächlich, was man von seiner diesbezüglichen Auseinandersetzung mit Heidegger nicht sagen kann.¹⁵ Das verwundert umso mehr, weil es – wie schon angedeutet – nicht wenige Gemeinsamkeiten zwischen beiden Denkern gibt, besonders was das Verständnis des Mythos und mithin die „Gottes-Rede“ angeht.
2. Zum Mythosverständnis Paul Tillichs Einschlägig für das Mythosverständnis Tillichs sind sein für die zweite Auflage des bekannten Lexikons Die Religion in Geschichte und Gegenwart 1930 verfasster Beitrag über Mythos und Mythologie ¹⁶ sowie der dritte Teil seiner bekannten Schrift Dynamics of Faith von 1957 mit dem Titel „Die Symbole des Glaubens“¹⁷, und hier besonders der dritte Abschnitt über „Symbol und Mythos“¹⁸. Darüber hinaus kommt er natürlich auch in seinen religionsphilosophischen und theologischen Schriften immer wieder auf dieses Thema zu sprechen.¹⁹ Der Mythos ist für Tillich nicht jenes primitive Weltbild, mit dem Bultmann ihn identifiziert, sondern „die notwendige und angemessene Ausdrucksform der Offenbarung“ (EW IV, 93). „Mythen sind in jedem Akt des Glaubens gegenwärtig, weil die Sprache des Glaubens das Symbol ist.“ (GW VIII, 145) Folglich ist der Mythos
Vgl. Paul Tillich, Heidegger and Jaspers [Typoskript], 7,5 S.Vortragstext u. 2,5 S. Diskussion. Auf Jaspers kommt Tillich auf S. 7– 8 zu sprechen. Vgl. dazu Erdmann Sturm, Paul Tillichs Heidegger-Rezeption, in: Hans-Jürgen Lachmann/Uta Kösser (Hg.), Kulturwissenschaftliche Studien, Nr. 7, Leipzig o.J. [2003], 24– 37. Vgl. Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 187– 195. Vgl. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, GW VIII, 139 – 148. Vgl. a.a.O., 144– 148. Vgl. z. B. Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 2 1959, 297– 364, bes. 350 – 353; Ders., Mythos und Metaphysik, in: Ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908 – 1933). Erster Teil, EW X, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin New York 1999, 356– 370; Ders. Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), in: Ders., Berliner Vorlesungen I (1919 – 1920), EW XII, hrsg. u. m. einer hist. Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 2001, 333 – 584, bes. 538 – 544 u. Ders., Religionsphilosophie. Nachschrift Adolf Müller (1920), in: EW XII, 585 – 636, bes. 622– 626; Ders., ST II, 164 f.
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„immer da zu finden, wo irgend etwas zum Symbol des Unbedingten wird, ganz gleich, ob es den Namen Gott trägt“ (EW X, 358).²⁰ Hier wird deutlich, dass Tillich das Wesen des Mythos nicht nur aus der Periode des vollentwickelten und ungebrochenen Mythos entnimmt, der „Göttergeschichte“ ist, sondern auch aus den Perioden des werdenden und gebrochenen Mythos (GW V, 187). Er versteht den Mythos in diesem Sinne als „das aus Elementen der Wirklichkeit aufgebaute Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte oder Seins-Jenseitige“ (GW V, 188). Der Kampf der Religion gegen den Mythos ist insofern nach Tillich „nicht ein Kampf gegen den Mythos überhaupt, sondern der Kampf eines bestimmten Mythos gegen einen anderen“.²¹ „Das mythische Bewusstsein kann also ungebrochen sein oder gebrochen, es schwindet jedenfalls nicht.“ (GW V, 203) Der eigentliche Feind der Religion ist folglich nach Tillich nicht das symbolische bzw. mythische Denken, sondern das wörtliche Missverstehen religiöser Symbole. Näherhin unterscheidet er zwei Stadien des wörtlichen Missverstehens der Symbole: ein ursprüngliches und ein abwehrendes. „Im ursprünglichen Stadium werden das Mythische und das Wörtliche nicht voneinander geschieden.“ (GW VIII, 147) Dieses Stadium endet in dem Augenblick, in dem der Mensch das wörtliche Für-wahr-Halten der Mythen überwindet. Nun eröffnen sich zwei Möglichkeiten: Der ungebrochene Mythos kann durch den gebrochenen ersetzt werden; das wäre der von der Sache her geforderte Weg. Die andere Möglichkeit besteht in dem zweiten Stadium des Wörtlichnehmens der Mythen. Insgeheim weiß der Mensch hier um das Recht des Fragens, er unterdrückt es aber aus Angst vor der damit aufkommenden Ungesichertheit. Nach Tillich ist jedoch auch dieses Stadium in gewissem Sinne zu rechtfertigen, dann nämlich, wenn das kritische Bewusstsein wenig entwickelt ist und leicht beunruhigt werden kann. „Es ist jedoch unentschuldbar, wenn auf dieser Stufe ein reifer Geist in seinem innersten Kern durch politische und psychologische Methoden gebrochen und in einen tiefen Zwiespalt mit sich selbst gestürzt wird. Der Feind der kritischen Theologie ist darum nicht das naive, sondern das bewußte Wörtlichnehmen der Symbole in Verbindung mit einer kämpferischen Unterdrückung selbständigen Denkens.“ (Ebd.)
Tillich verwendet in seiner Frühzeit für Gott bzw. das Absolute gerne den auf Kant und Schelling zurückgehenden Begriff des „Unbedingten“, wohingegen er in seinem existentialontologisch gewendeten Spätwerk den Begriff „Sein-Selbst“ vorzieht. Paul Tillich, Das religiöse Symbol, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 196 – 212, hier: 203.
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Ich möchte an dieser Stelle Tillichs Symbolbegriff nicht weiter explizieren, was zu weit führte,²² werde aber im Zusammenhang der Erörterung von Jaspers’ ChiffernBegriff noch einmal auf einige Aspekte der Symboltheorie Tillichs zurückkommen.
3. Zum Mythosverständnis Karl Jaspers’ 3.1 Ein werkgeschichtlicher Abriss (1.) Die Psychologie der Weltanschauungen von 1919. – Schon in seiner Psychologie der Weltanschauungen von 1919,²³ der, wie Jaspers im Rückblick selbst sagt, „frühesten Schrift der später so genannten modernen Existenzphilosophie“²⁴, wird der Mythos²⁵ thematisiert. „Das Absolute“, so heißt es hier, „wird in Form eines Mythus gedacht“.²⁶ In diesem Sinne kommt nach Jaspers wohl kein „lebendiger Glaube ganz ohne Mythenbildung“ aus.²⁷ Von diesem Glauben „als Kraft, der sich in solchen Symbolen ausspricht“, ist nach Jaspers zu unterscheiden „das entartete Wissen, für das die Beziehung zum Absoluten zu einer bloß wissenden Beziehung […] geworden ist“.²⁸ Damit ist aber „die lebendige Kraft des existentiellen Glaubens“ verloren.²⁹ So wird auch verständlich, wieso solch ein „vermeintliches Wissen […] der zersetzenden Kritik rettungslos verfallen“ kann,³⁰ wird doch jetzt „die Unendlichkeit wie vieles andere“ nur noch gedacht. ³¹
Vgl. dazu Paul Tillich, Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 196 – 244; Werner Schüßler, Das Symbol als Sprache der Religion. Zu Paul Tillichs Programm einer „Deliteralisierung“ religiöser Sprache, in: Ders. (Hg.), Wie läßt sich über Gott sprechen? Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel, Darmstadt 2008, 169 – 186. In einem Brief an Heidegger aus dem Jahre 1950, der allerdings nie abgeschickt wurde, schreibt Jaspers: „Materialiter handelt es sich,wenn ich meine Arbeit verstehe, immer noch um das gleiche, das in der ‚Psychologie der Weltanschauungen‘ zum ersten Mal ohne alle Übung im Handwerk des Philosophen sich mitteilte.“ (H/J, 205) Aut, 33. Jaspers verwendet in seinen frühen Schriften in der Regel die auf das Lateinische zurückgehende Form „Mythus“, wohingegen er in seinen späteren Werken zumeist die auf das Griechische zurückgehende Form „Mythos“ gebraucht. PsW, 340. PsW, 341. PsW, 340, Herv. W.S. PsW, 341. PsW, 340. PsW, 341.
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Jaspers unterscheidet in diesem Zusammenhang drei verschiedene Formen einer Schwächung der mythischen Glaubenskraft, die notwendig einen existentiellen Charakter besitzt: erstens dadurch, dass die mythischen Glaubensinhalte „rationalistisch als ein Wissen“ genommen werden, zweitens dadurch, dass diese „supranaturalistisch als ein übernatürliches, durch Offenbarung, durch Schauen gegebenes Wissen“ verstanden werden sowie drittens dadurch, dass diese „reflexiv“, d. h. „nur“ symbolisch im Sinne eines „als ob“ gedeutet werden.³² Alle drei Formen gehen aber nach Jaspers am Eigentlichen des Glaubens vorbei, nämlich der „lebendig glaubenden Beziehung zum Absoluten“.³³ Hier deutet sich auch schon an, dass für Jaspers der Glaubensakt wesentlich wichtiger zu sein scheint als der Glaubensinhalt.³⁴ Auch in dieser frühen Schrift spricht Jaspers schon davon, dass die mythischen Inhalte „in der Schwebe“ zu halten sind,³⁵ stehen sie doch sonst in der Gefahr, das Absolute zu objektivieren, damit aber zu verendlichen und letztlich zu verfehlen. Auf diese Weise aber führen sie ihm zufolge in die „Sackgassen fester Gehäuse“.³⁶ Jaspers resümiert: „Daß aber der Glaube wesentlich die Kraft in diesem Leben und nicht ein übersinnlicher Inhalt ist, das macht ihn bezüglich seiner objektiven Inhalte unsicher, ungewiß. Der Glaube ist ein Leben bei intellektueller Skepsis auf Grund der Kraft: das Leben zu führen, daß es wahrhaft und sinnvoll ist, falls solche Glaubensinhalte gelten. Es ist vielmehr der Akt des Glaubens als das Hinnehmen eines Inhalts, was den Geist ausmacht.“³⁷
Und mit Blick auf Kants Kritik der praktischen Vernunft ³⁸ macht Jaspers darauf aufmerksam, „daß gerade diese Unsicherheit alles Inhalts für uns endliche Wesen das einzige Mittel ist, uns zur Geistigkeit, zur Gesinnung und zur Kraft zu bringen“.³⁹ Selbst noch in seinem letzten großen Hauptwerk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung von 1962 nimmt Jaspers auf die genannte Kant-Stelle Bezug, wenn es hier heißt:
Ebd. Ebd. Vgl. Aloys Klein, Glaube und Mythos. Eine kritische, religionsphilosophisch-theologische Untersuchung des Mythos-Begriffs bei Karl Jaspers, München 1973, 33. PsW, 341. PsW, 342. Ebd. – Kurt Salamun hebt in seinem Beitrag: Zum Mythosbegriff bei Karl Jaspers, in: Archiv für Begriffsgeschichte 29 (1985), 204– 217, ganz besonders auf diesen „antidogmatischen Akzent“ (a.a.O., 208) von Jaspers’ Mythosbegriffs ab. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders., Werke, Bd. 7, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt (Main) 141998, 107– 302, hier: 282 (A 265). PsW, 342 f.
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„Gott hat uns geschaffen zur Freiheit und Vernunft, in denen wir uns geschenkt werden, in beiden verantwortlich vor einer Instanz, die wir in uns selbst finden als das, was unendlich mehr ist als wir selbst und nur indirekt spricht. – Wir deuten mit Kant: die göttliche Weisheit ist nicht minder bewunderungswürdig in dem, was sie uns schenkt, als in dem, was sie uns versagt; denn würde Gott in seiner Majestät vor uns stehen, so würden wir Marionetten im Gehorsam und bleiben nicht frei als das, als was Gott uns gewollt hat.“⁴⁰
Das ist auch schon als ein erstes Indiz dafür zu werten, dass Jaspers’ Mythosverständnis „keine tiefgreifenden Wandlungen oder gar Brüche“ erfahren hat.⁴¹ (2.) Die Philosophie von 1932. – Innerhalb seiner dreibändigen Philosophie von 1932 kommt Jaspers vornehmlich im dritten Band mit dem Titel Metaphysik auf den Mythos zu sprechen; der erste Band trägt den Titel Philosophische Weltorientierung, der zweite Existenzerhellung. Der erste Teil des dritten Bandes ist betitelt mit „Transzendenz“;⁴² hier geht Jaspers im vierten Abschnitt „Dasein als Gestalt geschichtlicher Erscheinung der Transzendenz“⁴³ auf „die Spannung der drei Gestaltungssphären metaphysischer Gegenständlichkeit“⁴⁴ ein, die da sind: Mythologie, Theologie und Philosophie. Alle drei „versuchen das Sein der Transzendenz explizite und objektiv auszusprechen und zur Darstellung zu bringen“.⁴⁵ Diese drei Gestaltungssphären dürfen aber nicht im Sinne des Positivismus eines Auguste Comte missverstanden werden, wonach sich hierin angeblich überkommene Stadien der Menschheitsgeschichte dokumentieren; vielmehr versteht Jaspers diese im Sinne einer „ungeschichtlichen, immer wiederkehrenden Typik“, die den Kampf zwischen ihnen nicht zur Ruhe kommen lässt, liegt doch dieser immer auch schon „in der Seele des Einzelnen als unaufhebbare Bewegung verborgen“.⁴⁶ Geschichtlich aus dem Mythos erwachsen, geht es der Philosophie nicht um „Erzählung von Geschichten“, sondern um „rationale, begründete Einsicht“.⁴⁷ Aber das ist nach Jaspers nicht das letzte Wort in dieser Frage, wird der Philosophie doch allmählich bewusst, dass es auch dem Mythos um Wahrheit geht. Jetzt eröffnen sich der Philosophie Jaspers zufolge zwei Wege: Entweder versteht sie den Mythos „als Verkleidung philosophischer Einsicht“, „oder sie sieht in ihm sogar
PGO, 481. Aloys Klein, Glaube und Mythos, 37. Vgl. Ph III, 1– 35. Vgl. Ph III, 24– 30. Vgl. Ph III, 25 – 27. Ph III, 26. Ebd. Ebd.
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den Ausdruck einer Wahrheit, welche allem Denken unzugänglich bleibt“.⁴⁸ Das heißt, der Philosophie kann es nicht darum gehen, „rational den Kern des Mythos zu begreifen“, sondern es kann ihr immer nur um ein „Denken im Mythus“ gehen.⁴⁹ Unaufhebbar ist dieser „Kampf zwischen den Gestaltungssphären der Wahrheit der Transzendenz“ für Jaspers, „weil er das Medium der Bewegung der transzendenten Gegenständlichkeit ist, die nirgends als Gegenstand endgültig festen Halt gewinnen kann, wo Existenz in ihrer Freiheit bleibt“.⁵⁰ Auch hier geht es somit darum, wie schon in der Psychologie der Weltanschauungen, die „Sprache der Transzendenz“, die Jaspers jetzt mit dem Chiffern-Begriff in Verbindung bringt, in der Schwebe zu belassen, um Transzendenz vor der Verendlichung und Existenz vor der Unfreiheit zu bewahren. Theosophie, „dogmatisch fixierte Theologie“ und eine „rein rationale Philosophie“ sind für Jaspers Beispiele einer solchen „Grabesruhe der Unfreiheit“,⁵¹ geht es doch allen dreien darum, „sich durch Wissen eine Vergewisserung des eigentlichen Seins zu verschaffen“⁵² – was aber Jaspers zufolge unmöglich ist. Explizit kommt Jaspers noch einmal im vierten und letzten Teil dieses dritten Bandes unter der Überschrift „Lesen der Chiffernschrift“⁵³ auf den Mythos zu sprechen. Im Abschnitt über „Die drei Sprachen“⁵⁴ heißt es hier: „Die objektiv gewordenen Gestalten der Sprache metaphysischen Gehalts haben drei anschauliche Formen. Sie treten auf als ‚sondergestalteter Mythus‘, als ‚Offenbarung eines Jenseits‘, als ‚mythische Wirklichkeit‘.“⁵⁵ Die griechischen Götter sind ihm ein Beispiel für die erste Form. Hier liegt nach Jaspers „ein Mythus in der Wirklichkeit“ vor, wenn diese Götter auch „von der anderen Wirklichkeit verschieden“ sind. Einmalige, aber auch sich wiederholende Offenbarungen – wie „endlose Weltperioden“ – sind Beispiele für die zweite Form, durch die Jaspers zufolge aber die empirische Wirklichkeit entwertet wird.⁵⁶ Die dritte Form sieht „das Wirkliche […] als Wirkliches zugleich in der Bedeutung […], die ihm Transzendenz verleiht“.⁵⁷ Jaspers selbst teilt keine dieser Formen, da der ersten das Transzendenzbewusstsein fehlt, durch die zweite das Göttliche fixiert und damit verendlicht wird
Ebd. Ebd. Ph III, 27. Ebd. Ebd., Herv. W.S. Ph III, 128 – 236. Ph III, 129 – 141. Ph III, 132. Ebd. Ph III, 133.
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und die dritte eindeutig pantheistische Züge zeigt. Und doch kann Jaspers hier den aufschlussreichen Satz formulieren: „Die ewige Wahrheit des doch immer geschichtlichen Mythus bleibt, auch wenn er als Mythus erkannt und unterschieden ist.“⁵⁸ Um in der Terminologie Tillichs zu sprechen: Jaspers lehnt zwar den ungebrochenen Mythos ab – von ihm hier „sondergestalteter Mythos“ genannt –, hält aber trotzdem an der Wahrheit, die sich darin ausspricht, fest. Damit deutet sich auch schon der Zusammenhang mit den folgenden Abschnitten an, in denen es um die Chiffern-Sprache geht, ein Zusammenhang, der im Spätwerk immer deutlicher wird. (3.) Die Schrift Von der Wahrheit von 1947. – In diesem über 1000 Seiten umfassenden Werk entwickelt Jaspers seine sog. Periechontologie, die Lehre des Umgreifenden (abgel. vom Griech.: periechon und logos), die sich gegen die überkommende Ontologie, die nach Jaspers das Sein vergegenständlicht, wendet.⁵⁹ Steht in den frühen Schriften der Begriff der Existenz im Mittelpunkt,⁶⁰ so wird diesem nun der Begriff der Vernunft zur Seite gestellt.⁶¹ Unter der Überschrift „Wahrheit unseres Wissens von der Transzendenz“ heißt es: „Existenz wird sich der Transzendenz dadurch hell, daß diese ihr im Reichtum des Mythos, der Offenbarung, der Metaphysik zur Erscheinung in der Subjekt-Objekt-Spaltung kommt.“⁶² Das heißt, „ich kann von Transzendenz positiv nie wissen, wenn ich als Bewußtsein überhaupt denke, sondern allein durch meine Existenz“.⁶³ Das „Bewusstsein überhaupt“ oder der Verstand als das Medium der Wissenschaft richtet sich notwendig auf „Gegenstände“ in der Welt, und seine Wahrheit, die aufgrund methodischer Erkenntnis gewonnen ist, hat allgemeingültigen Charakter und ist hypothetisch zwingend gewiss, um hier nur die wichtigsten Merkmale zu nennen.⁶⁴ Doch Transzendenz hat keinen gegenständlichen Charakter. Das bedeutet, dass „das Ergreifen der Transzendenz durch Mythos und Offenbarung […] etwas radikal anderes [ist] als weltorientierendes Wissen“⁶⁵: „Obgleich geschichtlich und nicht allgemeingültig, ist die Wahrheit der Transzendenz für Existenz tiefer, tragender, beherrschender als alle allgemein-
Ph III, 132. Vgl. bes. VdW, 160 f. Vgl. Ph II u. Ex. Vgl. auch schon VuE. VdW, 632. VdW, 633. Vgl. dazu Werner Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 33 f. VdW, 633.
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gültige Wahrheit von Wissenschaft.“⁶⁶ Die „Wahrheitsqualität der Mythen“ wird nach Jaspers also nicht durch die Einsicht herabgesetzt, dass diese nicht allgemeingültig sind – ganz im Gegenteil, sie ist „Bedingung tieferer Wahrheit, welche absolut ist und die Wirklichkeit ewigen Seins trifft“.⁶⁷ Selbst in einem Satz wie dem folgenden: „Die Gottheit hat mich frei geschaffen, und es ist ihr nicht gleichgültig, was ich tue“, drückt sich nach Jaspers kein Wissen allgemeingültigen Charakters aus,vielmehr handelt es sich hierbei um „halb rationalisierte, halb als Geschichte erzählte Mythen“,⁶⁸ was stark an Tillichs Begriff der „halben Entmythologisierung“ (ST II, 36) erinnert; ich werde darauf ausführlich zu sprechen kommen. Das umfangreiche Werk wird beschlossen mit einem Abschnitt über die Chiffern, betitelt mit „Die Objektivität der Chiffern (Symbol)“⁶⁹. Hier spricht Jaspers dann auch explizit von der „Chiffernschrift der Mythen“.⁷⁰ (4.) Die Kontroverse mit Rudolf Bultmann im Jahr 1953. – Im Jahr 1953 hat Jaspers auf dem Schweizerischen Theologen-Tag einen Vortrag gehalten, der sich gegen Bultmanns Entmythologisierungsprogramm richtet. Bultmann hat darauf erwidert, und schließlich hat Jaspers auf Bultmanns Erwiderung noch einmal geantwortet.⁷¹ Mir geht es hier aber weniger um die Auseinandersetzung als solche, auch nicht um Bultmanns Entmythologisierungsthese,⁷² sondern um Jaspers’ Mythosverständnis, wie es in dieser Kontroverse zum Ausdruck kommt. Das bisher Dargelegte legt schon nahe, dass Jaspers Bultmann nicht folgen kann, wenn dieser mythisches und wissenschaftliches Denken als „Gegenbegriffe“ aufstellt.⁷³ „Bultmann“, so schreibt Jaspers, „unterscheidet mit einer auf Aristoteles zurückgehenden Tradition Mythus und Wissenschaft. Er hält das mythologische Denken für Sache einer Vergangenheit, die durch das wissenschaftliche Denken überwunden ist. Sofern aber im Mythus ein Gehalt verborgen ist, der diese nur dem damaligen Zeitalter gemäße Sprache fand, ist er zu übersetzen. Der Mythus ist zu interpretieren und so unter Abwerfung des mythischen Gewandes in gegenwärtig gültige Wahrheit zu bringen. Diesem Gedanken widerspreche ich. Mythisches Denken ist nicht vergangen, sondern uns jederzeit
VdW, 634. VdW, 633. Ebd. VdW, 1022– 1054. VdW, 1049. Die Beiträge sind versammelt in FE. Siehe dazu den Beitrag von Ulrich H.J. Körtner in diesem Band. FE, 34.
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eigen.“⁷⁴ Diese These erfordert aber, wie Jaspers auch selbst feststellt, eine nähere Präzisierung des Mythosbegriffs, der ihm zufolge drei Momente enthält: „1. Der Mythus erzählt eine Geschichte und bringt Anschauungen im Unterschied von Denken in Allgemeinbegriffen. […]. 2. Der Mythus behandelt heilige Geschichten und Anschauungen, Göttergeschichten im Unterschied von bloßen Daseinsanschaulichkeiten. 3. Der Mythus ist Bedeutungsträger, aber von Bedeutungen, die nur in dieser seiner Gestalt ihre Sprache haben. In mythischen Gestalten sprechen Symbole, deren Wesen es ist, nicht übersetzbar zu sein in eine andere Sprache. Sie sind nur in diesem Mythischen selber überhaupt zugänglich, sind unersetzlich, unüberholbar. Ihre Deutung ist rational nicht möglich, vielmehr geschieht ihre Deutung durch neue Mythen, durch ihre Verwandlung. Mythen interpretieren einander.“⁷⁵
Nach Jaspers muss zwar „die Herrlichkeit und das Wunder der mythischen Anschauung […] gereinigt, aber nicht abgeschafft werden“: „Entmythologisierung ist fast ein blasphemisches Wort. Es ist nicht Aufklärung, sondern Aufkläricht, die das Wort Mythus so entwerten kann.“⁷⁶ Und er resümiert: „Entmythologisierung, das würde bedeuten, ein Grundvermögen unserer Vernunft zum Erlöschen zu bringen.“⁷⁷ Folglich kann es nicht um „Vernichtung“, sondern – ganz im Gegenteil – immer nur um „Wiederherstellung der mythischen Sprache“ gehen,⁷⁸ drückt sich doch in ihr eine „unübersetzbare Wahrheit“ aus.⁷⁹ Die mythische Sprache ist für Jaspers also Chiffernsprache, d. h. „sie ist Sprache jener Wirklichkeit, die selber nicht empirische Realität ist, der Wirklichkeit, mit der wir existenziell leben“.⁸⁰ Mythos kann darum nach Jaspers immer nur gegen Mythos stehen, nicht gegen Verstand („Bewusstsein überhaupt“) und Wissenschaft.⁸¹ Jaspers wendet sich in diesem Sinne gegen eine „falsche Aufklärung“, die sich als „vermeintliche Vollendung des Bescheidwissens mit rationalen Mitteln“ begreift. Diese „schlechte Aufklärung“, von Jaspers hier auch als „Aufkläricht“ bezeichnet, ist für ihn „Unglaube, der seinen festen Boden in Rationalitäten abergläubisch zu haben meint“.⁸²
FE, 41 f. FE, 42. Ebd., Herv. W.S. FE, 43. – Vgl. auch FE, 55: „Der Mythus ist, philosophisch gesprochen, die apriorische Vernunftform transzendierender Vergewisserung.“ FE, 43 FE, 58. FE, 43. Vgl. FE, 46. FE, 63.
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In seiner Erwiderung auf Rudolf Bultmanns Antwort präzisiert Jaspers noch einmal seinen Mythosbegriff: „Man fragt, was Mythus sei, was mythisch heiße. Es ist das Sprechen in Bildern, Anschaulichkeiten,Vorstellungen, in Gestalten und Ereignissen, die übersinnliche Bedeutung haben. Dieses Übersinnliche aber ist allein in diesen Bildern selber gegenwärtig, nicht so, daß die Bilder interpretiert werden könnten durch Aufzeigen ihrer Bedeutung. Eine Übersetzung in bloße Gedanken läßt die eigentliche Bedeutung des Mythus verschwinden.“⁸³
Jaspers will also sagen, dass die Interpretation hier nicht weiterhilft, vielmehr ruinösen Charakter besitzt, „wo sie nicht selber im Verstehen Aneignung und dann neues echtes Sprechen in Chiffren ist“.⁸⁴ (5.) Die Schrift Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung von 1962. – Diese letzte große Hauptschrift von Jaspers, zu deren Umfeld auch die Vorlesung Chiffren der Transzendenz vom Sommersemester 1961⁸⁵ sowie das Zwiegespräch mit Heinz Zahrnt über Philosophie und Offenbarungsglaube von 1963 gehören, kommt zwar auf eine ganze Reihe verschiedener Mythen zu sprechen, thematisiert das eigene Mythosverständnis aber nur am Rande, nämlich im siebten Abschnitt „Von der Interpretation der Chiffern“⁸⁶ des vierten Teils der Schrift, der vom „Wesen der Chiffern“ handelt.⁸⁷ Hier unterscheidet Jaspers zwischen „mythischen (anschaulichen)“ und „spekulativen (begrifflichen) Chiffern“,⁸⁸ und er macht in diesem Zusammenhang auch wieder darauf aufmerksam, dass die Freiheit verschwindet, „wenn Mythen und Spekulationen in dogmatischem Wissen erstarren“.⁸⁹ In dem genannten Zwiegespräch mit Zahrnt wird sein Mythosverständnis nur implizit deutlich, wenn es hier heißt: „Kein Mensch kann aus wissenschaftlichen Ergebnissen sein Leben führen. Jeder Mensch braucht für alles, was ihm ernst ist, Glaubensgrundlage.“⁹⁰ Entscheidend ist auch hier: „Der Wahrheitscharakter von
FE, 113 f. FE, 116. Vgl. ChT. Diese Vorlesung bringt aber gegenüber der Schrift Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung keine neuen Einsichten. Vgl. PGO, 185 – 196. Vgl. PGO, 153 – 199. PGO, 191. – Vgl. auch VdW, 1045: „Hervorgebracht werden Chiffern in den anschaulichen Mythen und in den gedanklichen Spekulationen. Jene erzählen und gestalten in Bildern, diese bewegen in der Folge von Gedankenvollzügen.“ PGO, 192. PhO, 41.
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Glaube und Wissenschaft ist wesensverschieden.“⁹¹ Philosophie und Theologie werden auch hier dem „Glauben“ zugeordnet, haben es doch beide nicht mit Gegenständen in der Welt zu tun, die die Wissenschaften erkennen, „sondern mit jenem Ursprung, aus dem wir leben“.⁹² (6.) Der Beitrag Mythos und Philosophie von 1965. – Dieser späte Beitrag von Jaspers geht auf einen Vortrag zurück, den er 1965 im Sonderprogramm des Bayrischen Rundfunks gehalten hat; mit neun weiteren Vorträgen dieser Reihe wurde er in dem Sammelband Die Wirklichkeit des Mythos veröffentlicht. Weitere prominente Beiträger sind hier u. a. Stefan Andres, Adolf Portmann, Jeanne Hersch, Friedrich Gogarten und Karl Kerényi. Zu Anfang dieses Beitrags greift Jaspers „aus der unermeßlichen Welt des Mythos“ drei Beispiele heraus: die Muttergöttin, Moses auf dem Sinai sowie die Göttin Athene.⁹³ An diesen Beispielen wird nach Jaspers Folgendes deutlich: 1. „Die Wahrheit der Mythen ist kein Wissen.“ 2. „Das Unzugängliche wird in der Erzählung offenbare Erscheinung.“ 3. „Da die Wirklichkeit der Mythen nicht in einem Erkenntnisinhalt liegt, wendet sich die Erforschung von Realitäten gegen den Mythos.“ 4. In den Mythen „zeigen sich uns die Mächte, die uns ergreifen, denen wir dienen oder denen wir widerstehen“. 5. „In mythischen Gestalten erfährt der Mensch ein Bild seiner Möglichkeiten.“⁹⁴ Im weiteren Verlauf unterscheidet Jaspers dann zwischen zwei Weisen des Mythenverständnisses: einem eigentlichen und einem objektivierenden. Geht es ersterem um „die unendliche Deutung aus dem Ernst der Existenz des Verstehenden“, so letzterem um ein Verständnis „in neutraler Distanz zum Gegenstande“, wie es in Psychologie und Soziologie vorliegt.⁹⁵ Grundsätzlich begrüßt Jaspers solche Forschungen, solange sie um ihre Grenzen wissen. Ohne ihn mit Namen zu nennen, scheint aber die folgende Bemerkung an C.G. Jung adressiert zu sein, wenn es hier heißt: „Heute meint man Mythen, Träume,Wahnvorstellungen in den ihnen gemeinsamen Inhalten deuten zu können. […] Der Deutungsprozeß wird in seiner Selbstauffassung praktisch zu einem pseudowissenschaftlichen Mythos. In seiner Psychifizierung des Menschen und der Welt werden unter dem Namen wissenschaftlicher Theorien intellektuelle Mythen vom
PhO, 40. PhO, 36. MuPh, 53 f. MuPh, 55. MuPh, 57.
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Ganzen des Menschen und seiner Welt hergestellt, so in den Theorien von Stufen des Unbewußten und den Archetypen.“⁹⁶
Auf diese Weise wird aber der Mythos nach Jaspers „getötet“ und der Mensch „an das Chaos“ ausgeliefert.⁹⁷ Jaspers geht es in diesem Beitrag, wie der Titel bereits andeutet, wesentlich um die Frage, wie sich die Philosophie zum Mythos verhält. Ist der „ursprüngliche Mythos“ noch „Einheit von Anschauung und Denken, ohne Frage und Zweifel“, so bedeutet Philosophie – und das ist hier die entscheidende These – ein „Denken im Mythos“.⁹⁸ Was ist damit gemeint? Der Philosophie geht es nach Jaspers wesentlich um „ein freies Verhältnis“ zum Mythos.⁹⁹ „Frei wird das Verhältnis zum Mythos,wenn er sich löst vom Kultakt und von der Leibhaftigkeit der Offenbarung und heute von dem Wissenschaftsaberglauben mit seiner Psychifizierung und Soziologisierung der Menschenwelt.“¹⁰⁰ Das heißt, es geht darum, „in den Chiffern [des Mythos], indirekt, sie in der Schwebe haltend, und nichts behauptend, […] die Helligkeit existentieller Gegenwart“ zu gewinnen.¹⁰¹ Gegen Endes des Beitrages kommt Jaspers auf die Frage zu sprechen: „Ist Mythos heute überhaupt noch lebendig? Gibt es moderne Mythen?“¹⁰² Neben den Ideologien, die nach Jaspers zum Teil an die Stelle des Mythos getreten sind, finden sich auch neue, moderne Mythen. Er beschränkt sich in diesem Zusammenhang auf zwei Hinweise: Zum einen verweist er auf „Menschen eines neuen Typus“ – wie Hölderlin, Kierkegaard, Dostojewski, Nietzsche, van Gogh u. a.,¹⁰³ die „in einem nie gesehenen Umfang sichtbar, fühlbar, erfahrbar [machen], was Menschen möglich ist“.¹⁰⁴ Zum anderen bezieht er sich auf „moderne Eschatologien“, wie sie u. a. von Ludwig Klages, in anderer Gestalt von Herbert George Wells vertreten werden und wie sie heute, spätestens seit Hiroshima, als mögliche Realität vor Augen stehen.¹⁰⁵ Diese Beispiele könnten – mit Blick auf die Gegenwart – beliebig vermehrt werden.¹⁰⁶ Aber Jaspers geht es ja nicht darum, inhaltlich Ebd. MuPh, 58. MuPh, 59. MuPh, 60. MuPh, 59 MuPh, 60. MuPh, 62. Ebd. MuPh, 63. MuPh, 63 f. Siehe dazu den Beitrag von Linus Hauser in diesem Band.
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an diese „Neomythen“ anzuknüpfen, sondern mit diesen wenigen Hinweisen sucht er nur deutlich zu machen, dass der Mythos notwendig zur condition humain dazugehört, ist es doch nicht die Wissenschaft, die das Leben trägt und ihm Sinn verleiht, sondern der „Glaube“, der für ihn philosophischer Natur ist, existentiellen Charakter hat und sich in Chiffern ausdrückt, die letztlich mythischen Charakter haben; ich werde darauf zurückkommen. Zum Schluss seines Beitrages fasst Jaspers noch einmal „die möglichen Weisen des Umgangs mit dem Mythos“ prägnant so zusammen: „1. Man verwirft alle Mythen als Fiktionen. Sie gelten als Unsinn oder als dekorative Spielerei. Die Wissenschaft hat die Welt entzaubert. Es gibt nichts anderes als das, was durch Wissenschaft erkannt wird. Bei dieser Verabsolutierung der Wissenschaft verfalle ich auch dem, was durch Pseudowissenschaft behauptet wird. Mich verschlingt die Bodenlosigkeit des bloßen Verstandes. Aber es gibt eine neue Redlichkeit. Die Reinheit der echten Wissenschaft entzaubert mit ihren Erkenntnissen die Welt nur in dem ihr erreichbaren Umkreis, nicht die Welt und den Menschen in ihrer ganzen Wirklichkeit. Wir leben, ob wir es wissen oder nicht, in einer Welt von Bildern und Symbolen.Wir hören in ihr die Sprache der Chiffern. Es wäre ein Leben in der Verlorenheit des Nichtseins, wo solche Sprache ganz ausbliebe. Unser Umgang mit dem Mythos hört nicht auf. 2. Wenn ich aber unredlich die Chiffern des Mythos zu gewußten Erkenntnissen oder zu leibhaftigen Objekten werden lasse, dann gerate ich in die Befangenheiten fiktiver Endlichkeiten und falscher Bindungen. Ich lebe im Aberglauben. In ihm behaupte ich mich, der Kritik Antwort verweigernd, eigentlich stumm. Gewaltsam entziehe ich mich der Bewegung der in Mythen und Bildern denkenden Vernunft. 3. Aus Freiheit erfahre ich Wahrheit im Ergriffensein durch Mythen. Dann verwehrt die Gewißheit des ewigen, in der Zeit erscheinenden Grundes die Realisierung der Chifferngehalte zu Leibhaftigkeiten. Die Vieldeutigkeit der Chiffern ermöglicht die nicht sagbare Eindeutigkeit geschichtlicher Treue der Existenz in der Lebenspraxis. Schwebend im Raum der Chiffern kann der Mensch den Boden erspüren, in dem er über alle Chiffern hinaus den Anker zu werfen sucht.“¹⁰⁷
In dieser Zusammenfassung von Jaspers sind alle entscheidenden Momente seines Mythosverständnisses angesprochen, wie er sie allmählich, angefangen von der Psychologie der Weltanschauungen von 1919 bis hin zu diesem letzten Beitrag Mythos und Philosophie von 1965 entfaltet hat. Diese Zusammenfassung könnte aber auch den Eindruck erwecken, dass Jaspers einen nur wenig abgegrenzten und dezidierten Begriff des Mythos besitzt.¹⁰⁸ Doch scheint das nur auf den ersten Blick so zu sein. Im folgenden systematischen Abriss soll darum das Mythosverständnis von Jaspers noch einmal in den Kontext seines Philosophierens eingeordnet und
MuPh, 65. So die Kritik von Aloys Klein, Glaube und Mythos, 109.
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deutlich herausgearbeitet werden. Dabei wird sich zeigen, dass dieses sehr wohl abgegrenzt und dezidiert ist. Das aufzuweisen wird nicht zuletzt unter Zuhilfenahme Tillichscher Kategorien gelingen.
3.2 Ein systematischer Abriss „Wenn etwas in den Ansätzen des Philosophierens, die man heute trotz ihrer Verschiedenheit in Gesinnung, Form und Gehalt als Existenzphilosophie zusammenfaßt, gemeinsam ist“, schreibt Jaspers in seiner Auseinandersetzung mit Bultmann, „dann ist es negativ der Durchbruch durch die wissenschaftliche Philosophie und positiv das Ergreifen eines Ernstes, der allem bloßen Wissen abgeht“.¹⁰⁹ Die rationalistische Philosophie eines Descartes oder Leibniz sind für Jaspers typische Beispiele einer sog. „wissenschaftlichen Philosophie“.¹¹⁰ Als moderne Formen einer solchen Philosophie gelten ihm die Phänomenologie Husserls, der Neukantianismus sowie der Logische Positivismus;¹¹¹ heute wäre an bestimmte Ausformungen der Analytischen Philosophie zu denken. Gemeinsam ist diesen allen die Überzeugung, dass Philosophie, nicht anders als Wissenschaft, am Fortschrittsschema teilnimmt. Hierin drückt sich aber nach Jaspers ein falsches Philosophieverständnis aus. Ohne Zweifel ist die Philosophiegeschichte Wissenschaft in diesem Sinne, aber diese ist nicht das Eigentliche der Philosophie. Und doch ist die Philosophie mit ihrer Geschichte in einer Weise verschränkt, wie das für die Wissenschaft nicht zutrifft. Im Gegensatz zum Philosophen muss der Kunsthistoriker selbst aber nicht malen können – um das im Bilde auszudrücken.¹¹² Ohne Zweifel geht es auch der Philosophie um methodische Erkenntnis, und doch führt das in ihrem Fall nicht zu Allgemeingültigkeit und hypothetisch zwingender Gewissheit. Philosophie befindet sich nämlich als Prinzipienwissenschaft in einer permanenten Grundlagenkrise. Das hat entscheidende Konsequenzen für den jeweiligen Wahrheitsbegriff. Jaspers’ Kernthese lautet darum:
FE, 36. Vgl. dazu Werner Schüßler, Zum Selbstverständnis der Philosophie in der Moderne. Von Descartes zu Jaspers. Klaus Kremer zum 70. Geb., in: Trierer Theologische Zeitschrift 107/2 (1998), 148 – 166. Vgl. Werner Schüßler, Jaspers zur Einführung, 30 f. Vgl. dazu Werner Schüßler, Zwischen Weisheit und Wissenschaft. Zur Frage nach der Eigenständigkeit der Philosophie, in:Von der Perspektive der Philosophie. Beiträge zur Bestimmung eines philosophischen Standpunkts in einer von den Naturwissenschaften geprägten Zeit, hrsg. v. Matthias Koßler/Reinhard Zecher, Hamburg 2002 (= Boethiana. Forschungsergebnisse zur Philosophie 56), 39 – 54.
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Die Wahrheit hat vieldimensionalen Charakter.¹¹³ Ist das „Bewusstsein überhaupt“ das Medium der Wissenschaft, so ist „Existenz“ das Medium der Philosophie. Das bedeutet, dass die Wahrheit der Philosophie – im Gegensatz zur Wahrheit der Wissenschaft – existentiellen Charakter hat.¹¹⁴ „Die radikale Verschiedenheit des Wahrheitssinns“, schreibt Jaspers, „zeigt sich eindringlich an dem Unterschied der Wahrheit, deren Bestand mein Wesen nicht betrifft, die ich zwar mit meinem Verstande anerkenne, die aber zu bekennen sinnwidrig wäre, und der Wahrheit, die nur ist, wenn ich ihr durch mein Leben entspreche, die ich ‚bekenne‘, wenn sie meine Wahrheit ist, und die mit dem Ausbleiben des Bekennens selber verschwindet“.¹¹⁵ Jaspers verdeutlicht dies an einem Vergleich zwischen Galilei auf der einen und Sokrates und Bruno auf der anderen Seite: „Galilei stellte nicht die Richtigkeit seiner astronomischen Einsicht in Frage, wenn er unter Zwang sie verleugnete, wie er umgekehrt durch ein Bekenntnis sie nicht wahrer gemacht hätte. Sokrates und Bruno starben für ihre philosophische Wahrheit, weil sie mit ihnen identisch war: durch ihren Tod ist eine Wahrheit vollendet worden.“¹¹⁶ Das Leben wird so für das philosophische Denken zur spezifischen Verifikation. Beschäftigt sich die Wissenschaft immer mit Gegenständen „in“ der Welt, so beschäftigt sich die Philosophie mit der Welt als Ganzer. Die eigentlichen „Gegenstände“ der Philosophie sind aber für Jaspers „Existenz“, die er wesentlich als Freiheit versteht, sowie „Transzendenz“; beiden kommt aber ein „ungegenständlicher“ Charakter zu, mithin können sie auch keine Themen der Wissenschaft sein, weil diese sich immer nur auf „Partikulares“ bezieht.¹¹⁷ Deuten „Signa“ auf Existenz hin,¹¹⁸ so „Chiffern“ auf Transzendenz.¹¹⁹ Chiffern sind für Jaspers die Erscheinungsform der Transzendenz in der NichtLeibhaftigkeit, bedeutet für ihn doch jede Weise der Leibhaftigkeit des Transzendenten „eine Trübung der Reinheit Gottes“.¹²⁰ Chiffern sind somit keine er-
Vgl. dazu Werner Schüßler, Jaspers zur Einführung, 113 – 121. Vgl. a.a.O., 115 f. VdW, 651. Ebd. Vgl. EPh, 59. Vgl. Ph II, 176; dazu Werner Schüßler, Jaspers zur Einführung, 75 f. Vgl. dazu Werner Schüßler, Chiffer als Sprache der Transzendenz. Ist Karl Jaspers ein „Negativer Theologe?, in: Ders. (Hg.), Wie läßt sich über Gott sprechen. Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel, Darmstadt 2008, 235 – 255; Ders., Karl Jaspers und die Chiffern der Transzendenz, in: Karl Jaspers. Grundbegriffe seines Denkens, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi/Werner Schüßler/Reinhard Schulz/Ulrich Diehl, Reinbek 2011, 113 – 126. PGO, 488; vgl. 197.
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kennbaren objektiven Gegenstände;¹²¹ sie entziehen sich allgemeingültiger Erfahrung und Verifizierbarkeit.¹²² Der Inhalt der Chiffern ist weder als Realität noch als zwingendes Wissen zu behandeln.¹²³ „Chiffern sind nie die Wirklichkeit der Transzendenz selber, sondern deren mögliche Sprache.“¹²⁴ Die Transzendenz erscheint selbst nicht – sie bleibt verborgen. „An die Stelle ihrer Erscheinung tritt die Sprache der Chiffern.“¹²⁵ Das Leibhaftigwerden der Transzendenz ist geradezu die Grundverwechslung in unserem Umgang mit der Transzendenz. Alles, was ist und was von Menschen hervorgebracht wird, kann nach Jaspers Chiffer werden: Reales,Vorgestelltes, Gedachtes.¹²⁶ Chiffern sind aber „keine neuen Gegenstände“, sondern „neu erfüllte Gegenstände“.¹²⁷ Wird so aber Chiffersein nicht zu etwas Beliebigem?¹²⁸ Wenn man hier den von Jaspers verwendeten Begriff der „Weltorientierung“ zum Maßstab nimmt, muss diese Frage sicherlich mit Ja beantwortet werden. Nicht aber, wenn es um die Transzendenz selbst geht. Denn „als ausgesprochene in ihrer Objektivität“ ist die Chiffer für Jaspers „ein Spiel, das keinen Anspruch auf Geltung macht“; „für mich selbst ist sie kein bloßes Spiel“¹²⁹: Was Chiffer ist und wie, entscheidet Existenz.¹³⁰ Die Chiffern erlöschen in dem Moment, wo sie fixiert werden; zur Bewahrung ihres Lebens bedürfen sie darum der Schwebe.¹³¹ In dieser Schwebe weisen die Chiffern aber gleichzeitig über sich hinaus auf den Grund der Dinge, „auf das, was das ‚Sein‘, das ‚Nichts‘, das ‚Sein-Nichts‘, das ‚Übersein‘, das ‚vor allem Sein‘, das ‚Jenseits allen Seins‘ heißt, und seit Jahrtausenden im Philosophieren berührt wird“.¹³² Doch stellt sich hier nun folgende Frage: Vernichtet nicht der Anspruch der Ungegenständlichkeit und der Bildlosigkeit der Transzendenz alle ChiffernSprache? Chiffern-Sprache ist selbst noch kein Götzendienst – wenn auch hier die
Vgl. PGO, 137; NzH, 205. Vgl. PGO, 153; Ph III, 67.129 f.150 f. Vgl. PGO, 154. PGO, 155. PGO, 156. PGO, 193; vgl. Ph III, 170.205 f.; VdW, 1031. VdW, 1043, Herv. W.S. Vgl. Ph III, 150. Ph III, 151. Ph III, 170. Vgl. VdW, 1031 f.; PGO, 195. PGO, 210. – Allerdings wird im Philosophieren, wie Jaspers an anderer Stelle betont, „immer eine Spannung sein zwischen der scheinbaren Unentschiedenheit des schwebenden Aussagens und der Wirklichkeit entschiedenen Sichverhaltens“ (EPh, 74).
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Forderung des biblischen Bilderverbots letztlich nicht erfüllt wird,¹³³ ja nicht erfüllt werden kann wegen unserer menschlichen Natur, wie Jaspers hervorhebt.¹³⁴ Denn Philosophie weiß hier, was sie tut. ¹³⁵ Götzendienst liegt erst dann vor, wenn der weitere Schritt getan wird, wenn die Bildhaftigkeit zur Leibhaftigkeit wird,¹³⁶ wenn das Gegenständlichwerden der Transzendenz nicht unendliche Sprache, also schwebend und verschwindend bleibt, sondern Gott zum Objekt gemacht wird,¹³⁷ „wenn man dem Bilde erweist, was nur der Wahrheit zukommt“.¹³⁸ Die Chiffer versteht sich demgegenüber nur als „Wegweiser“. „Keine Chiffer ist die letzte, nicht die eine und einzige.“¹³⁹ Und doch kann das „Erfassen der Transzendenz in immanenter Erscheinung“ „augenblicksweise“ so aussehen wie eine „Materialisierung“,¹⁴⁰ da die „Gestalt als vorübergehende Form für die Erscheinung der Transzendenz“ unausweichlich ist.¹⁴¹ Aus der Vieldeutigkeit der Chiffern folgt, dass es kein objektives, neutrales Verstehen der Chiffern gibt.Vielmehr erweist sich alles Interpretieren von Chiffern „als Zeugnis vom eigenen Erfahren der Chiffern“.¹⁴² Die Chiffern sind „allgemein unlesbar“, müssen vielmehr „existentiell entziffert“ werden.¹⁴³ Die Chiffern-Sprache offenbart die Gottheit also letztlich nicht. Der Gott bleibt – trotz Chiffern – schlechthin verborgen, schlechthin unerkannt,¹⁴⁴ absolut transzendent. ¹⁴⁵ „Was Gott ist“, so Jaspers lapidar, „werde ich nie erkennen.“¹⁴⁶ „Es ist genug, daß Gott ist.“¹⁴⁷ Chiffer-Sein bedeutet somit letztlich immer nur Gottes Gegenwart – nicht seine Erkennbarkeit!¹⁴⁸ Spätestens an dieser Stelle drängt sich aber die Frage auf: Sagen uns die Chiffern denn letztlich nichts über Gott aus? Denn Jaspers reiht sich selbst gerne mit seiner Position in die Tradition der sog. „Negativen Theologie“ ein.¹⁴⁹ Dazu ist
Vgl. PGO, 385. Vgl. ChT, 91; EPh, 39. Vgl. NzH, 249. Vgl. PGO, 196 f. Vgl. PGO, 218.390 f. PGO, 391. PGO, 210. Ph III, 18. Ph III, 39. Vgl. PGO, 188. Ph I, 33. Vgl. VuE, 120. Vgl. EPh, 63. Ph III, 123; vgl. VuE, 43; PhGl, 31. PGO, 360, Herv. W.S. Vgl. Sch, 192. Vgl. PGO, 213.
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aber zu sagen: Die klassische Negative Theologie geht ja – trotz aller Negationen – davon aus, dass Gott z. B. der Sachverhalt der Weisheit, der Güte, der Einheit, der Personalität usw. wirklich, d. h. „an sich“ zukommt. In dem Nicht-Wissen der Negativen Theologie ist also immer ein gewisses „Wissen“ enthalten.¹⁵⁰ Das scheint aber bei Jaspers nicht der Fall zu sein, denn für ihn sind Aussagen wie die von der Personalität Gottes kein Wissen über Gott, sondern vielmehr „chiffriertes Selbstverständnis der Existenz“, wie Claus Uwe Hommel treffend formuliert.¹⁵¹ Nach Jaspers haben die „vermeintlichen spezifischen Kategorien des Übersinnlichen“ ihre Quelle ausnahmslos in der Immanenz, und ihre Übertragung auf Transzendenz bringt eine „fälschliche Erkenntnis“ hervor.¹⁵² Hinter dieser Position von Jaspers steht letztlich die kategorische Ablehnung des philosophischen Analogiegedankens, wie ihn Platon erstmals entwickelt hat und der grundlegend ist für das metaphysische Denken des Abendlandes.¹⁵³ Analogie ist für Jaspers „ein die Gottheit verschleierndes und beschränkendes Näherbringen, eine Abmilderung des Ernstes seiner Verborgenheit“: „Das Denken der Gottheit durch Analogie ist immer ihre Verweltlichung“¹⁵⁴, heißt es in lakonischer Kürze. Das aber bedeutet letztlich, dass die Chiffern etwas über die Existenz aussagen, nicht aber über die Transzendenz. In diesem Sinne sagt Jaspers auch ausdrücklich: „Die Weise, wie der Mensch in den je besonderen Chiffern sich ansprechen läßt, wird Moment seines Lebens. Wie er die Chiffer Gottes denkt, nach diesem Bilde wird er selber.“¹⁵⁵ Zurück zu unserem eigentlichen Thema: In welchem Verhältnis stehen bei Jaspers die Chiffern zum Mythos? Um diese Frage zu klären, ist sein Mythosverständnis noch einmal in etwas differenzierterer Weise in den Blick zu nehmen. Jaspers, so wurde deutlich, unterscheidet – zwar nicht immer explizit, aber wohl ohne Frage doch implizit – zwischen „ursprünglichem“¹⁵⁶ oder „sondergestaltetem Mythos“¹⁵⁷, der noch die „Einheit von Anschauung und Denken, ohne Frage und
Vgl. Klaus Kremer, Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas von Aquin, Leiden 21971, 151. Claus Uwe Hommel, Chiffer und Dogma.Vom Verhältnis der Philosophie zur Religion bei Karl Jaspers, Zürich 1968, 95, Herv. W.S. NPL, 19. NPL, 25 f.164; vgl. PGO, 389. – Vgl. dazu Werner Schüßler, Chiffer, Symbol und „analogia entis“. Karl Jaspers und Paul Tillich im Vergleich, in: Jahrbuch der Österreichischen Karl-JaspersGesellschaft 20 (2007), 75 – 108. PGcO, 75. PGO, 249; vgl. PGO, 230; Ch, 77, Herv. W.S. MuPh, 59 Ph III, 132.
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Zweifel“ ist,¹⁵⁸ und dem „Denken im Mythos“¹⁵⁹, oder – um mit Tillich zu sprechen – zwischen ungebrochenem und gebrochenem Mythos. Wenn Jaspers von der Unumgänglichkeit des Mythos spricht, dann scheint er sich auf den gebrochenen Mythos zu beziehen. Die Nähe zu Tillich in dieser Frage dokumentiert sich auch in den folgenden Ausführungen von Jaspers’, die an dessen formale Bestimmung der Religion als „das, was uns unbedingt angeht“ bzw. als „ultimate concern“ erinnern,¹⁶⁰ wenn es heißt: „Uns Menschen gilt die Welt oder etwas in der Welt als absolut. Und man kann vom Menschen, der so vieles zum letzten Inhalt seines Wesens gemacht hat, mit Luther sagen: woran du dich hältst, worauf du setzest, das ist eigentlich dein Gott. Der Mensch kann nicht anders als etwas absolut nehmen, mag er es wollen und wissen oder nicht, mag er es zufällig und wechselnd oder entschieden und kontinuierlich tun. Für den Menschen gibt es gleichsam den Ort des Absoluten. Dieser Ort ist für ihn unumgehbar. Er muß ihn ausfüllen.“¹⁶¹
Von daher verwundet es auch nicht, dass das, was Jaspers zu den Ideologien und „Neomythen“ sagt, dem ähnelt, was Tillich mit dem Begriff der sog. „Quasi-Religion“¹⁶² zum Ausdruck bringen möchte. Wenn Jaspers demgegenüber zwischen „mythischen (anschaulichen)“ und „spekulativen (begrifflichen)“ Chiffern unterscheidet,¹⁶³ so scheint hier der Chiffern-Begriff den ungebrochenen Mythos mit zu umgreifen, ist es doch der „Philosophische Glaube“, der sich in begrifflichen Chiffern ausdrückt. Diese Unterscheidung scheint mir auch eine gewisse Nähe zu derjenigen zwischen einer immanenten und einer transzendenten Schicht religiöser Symbole bei Tillich aufzuweisen.¹⁶⁴ MuPh, 59. Ebd. Vgl. dazu Werner Schüßler, „Was uns unbedingt angeht.“ Aspekte des religionsphilosophischen Denkens Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingte angeht. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs, Berlin 32009 (= Tillich-Studien 1), 143 – 160. EPh, 62, Herv. W.S. – Vgl. auch schon die ähnliche Formulierung in Ph II, 250: „Das menschliche Bewusstsein kann nicht umhin, etwas absolut zu setzen, auch wenn es nicht will. Es gibt sozusagen einen unausweichlichen Ort des Absoluten für mich. Streiche ich etwas als absolut für mich, so tritt automatisch ein anderes an seine Stelle.“ Vgl. Paul Tillich, Absolute und relative Faktoren in der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit, in: Ders., Korrelationen. Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit, EW IV, hrsg. u. übers. v. Ingeborg C. Henel, Stuttgart 1975, 36 – 70, hier: 65; dazu Werner Schüßler, Paul Tillich, München 1997 (= Beck’sche Reihe Denker 540), 54. PGO, 191. Vgl. Paul Tillich, Das Wesen der religiösen Sprache, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 213 – 222, bes. 218 – 221; dazu Werner Schüßler, Das Symbol als Sprache der Religion, 175 – 178. – Gehören zur transzendenten
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4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Mythosverständnis von Tillich und Jaspers Im vorigen Abschnitt wurden schon verschiedene Gemeinsamkeiten zwischen der Mythosauffassung von Tillich und Jaspers deutlich. Entscheidend ist, dass der Mythos im Verständnis von Jaspers und Tillich, mithin die Chiffer bzw. das religiöse Symbol, „zwischen der Ungegenständlichkeit Gottes und dem stets objektivierenden Bewußtsein des Menschen“ vermitteln.¹⁶⁵ Damit eröffnen sie Wirklichkeitsschichten, die auf keine andere Weise sichtbar gemacht werden können. Prinzipiell, darin sind sich Jaspers und Tillich auch einig, kann alles zur Chiffer¹⁶⁶ bzw. zum religiösen Symbol (GW V, 217)¹⁶⁷ werden. Faktisch ist das natürlich nicht so, da „Ausdruck […] immer Ausdruck für jemanden [ist], der ihn als solchen verstehen kann“¹⁶⁸; mithin ist der Vorwurf des Pan-Symbolismus unbegründet.¹⁶⁹ Eine wichtige Konsequenz, die aus einem solchen Mythosverständnis resultiert, ist die von beiden vertretene Unabhängigkeitsthese in Bezug auf das Verhältnis von religiösem bzw. philosophischem Glauben und Wissenschaft.¹⁷⁰ Tillich fasst seine diesbzgl. Kernaussage prägnant so zusammen: „Es gibt keine geoffenbarte Psychologie, so wenig wie es eine geoffenbarte Geschichtsschreibung oder geoffenbarte Physik gibt.“ (ST I, 157) Ganz ähnlich drückt es auch Jaspers aus: „Die Bibel enthält keine Naturwissenschaft.“¹⁷¹ Für das Verhältnis von Philosophischem Glauben und Wissenschaft gilt natürlich Analoges. Übersieht demgegenüber die Wissenschaft ihre Grenzen, so führt das zu dem von Jaspers vehement bekämpftem „Wissenschaftsaberglauben“. Hier werden „Weltbilder“ entworfen, Schicht nach Tillich drei Elemente, nämlich das Wort „Gott“, die Attribute Gottes sowie seine Handlungen, so umfasst die immanente Schicht die Erscheinungen des Göttlichen in Raum und Zeit, seine Manifestationen „in Dingen und Ereignissen, in einzelnen Menschen und Gemeinschaften, in Worten und Schriften“ (Ders., Wesen und Wandel des Glaubens, GW VIII, 144). Aloys Klein, Glaube und Mythos, 161. Vgl. PGO, 193; Ph III, 170.205 f.; VdW, 1031. Vgl. Paul Tillich, Natur und Sakrament, in: Ders., Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, GW VII, Stuttgart 1962, 105 – 123, hier: 121. Paul Tillich, Die Kunst und das Unbedingt-Wirkliche, in: Ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, Stuttgart 1967, 356 – 368, hier: 358. So der Vorwurf von Sturm Wittschier, Paul Tillich. Seine Pneuma-Theologie. Ein Beitrag zum Problem Gott und Mensch, Nürnberg 1975, 195, vgl. 205. Vgl. dazu Werner Schüßler, Naturwissenschaft – Philosophie – Theologie. Paul Tillich zum Problem der sog. „Galilei-Konflikte, in:Theology and Natural Science, hrsg.v. Christian Danz/Marc Dumas/Werner Schüßler u. a., Berlin/New York 2012 (= International Yearbook for Tillich Research 7), 45 – 78. PhO, 39.
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die „partikulare Erkenntniswelten […] fälschlich zum Weltsein überhaupt“ verabsolutieren. Jaspers kommentiert dazu: „Das ‚wissenschaftliche Weltbild‘ im Unterschied zum mythischen war selber jederzeit ein neues mythisches Weltbild mit wissenschaftlichen Mitteln und dürftigem, mythischem Gehalt.“¹⁷² Es bleibt dabei: „Die Welt ist kein Gegenstand, wir sind immer in der Welt, haben Gegenstände in ihr, aber nie sie selbst zum Gegenstand.“¹⁷³ Wenn Jaspers solchen Wissenschaftsaberglauben vornehmlich an Freuds Psychoanalyse und dem Marxismus deutlich zu machen sucht,¹⁷⁴ so scheint mir Tillichs Position in dieser Frage wesentlich differenzierter zu sein. Als Vertreter des „Religiösen Sozialismus“ knüpft er ja bekanntlich auch positiv an Theoreme von Karl Marx an,¹⁷⁵ und die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie hat Tillich als Glücksfall für die Theologie angesehen.¹⁷⁶ Gemeinsam ist beiden Denkern auch die Front gegen Bultmanns Entmythologisierungsprogramm. Tillich fordert eine „Deliteralisierung“, d. h. eine „EntBuchstäblichung“ im Sinne eines Weg-vom-Buchstabenglauben, und es geht ihm nicht um eine Entmythologisierung, wie Bultmann sie gefordert hat.¹⁷⁷ Denn eine solche würde nach Tillich stricto sensu die Religion ihrer Sprache berauben. „Der Glaube muß wiederentdecken […], daß alles Religiöse symbolisch ist. ‚Symbolisch‘ heißt dabei keineswegs unwirklich. Es bedeutet im Gegenteil: wirklicher als alles Wirkliche in Zeit und Raum.“¹⁷⁸ Ein buchstäbliches Verständnis von Worten und Begriffen in Bezug auf Gott würde ihn „herunterzerren auf die Wirklichkeit, die wissenschaftlich und praktisch erforscht werden kann“.¹⁷⁹ „Nicht die Mythen selbst, die großen Mythen der Bibel eingeschlossen, sind töricht, sondern die
EPh, 59. Ebd. Vgl. VWZ, 9 – 29. Vgl. Paul Tillich, Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, GW II, Stuttgart 1962. Vgl. Paul Tillich, Seelsorge und Psychotherapie, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 316 – 324; Ders. Der Einfluss der Psychotherapie auf die Theologie, in: GW VIII, 325 – 335. Vgl. dazu Werner Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Der Religionsbegriff im Werk Paul Tillichs, Frankfurt (Main) 1989, 169 – 177. Paul Tillich, Die Religion und ihre intellektuellen Kritiker. Ansprache an die Studentinnen des „Union Theological Seminary“ am 25.01.1954, in: Ders., Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, GW XIII, 1972, 336 – 344, hier: 342. Paul Tillich, Der Einfluß der modernen Wissenschaft auf den Gottesgedanken.Vortrag in der „Church of Our Father“ (Unitarian) in Lancaster/Penn. am 27.11.1957, in: GW XIII, 395 – 403, hier: 400.
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Menschen, die sie wörtlich nehmen und sie auf die Ebene wissenschaftlicher Aussagen und technischer Weltbewältigung stellen.“¹⁸⁰ Tillich bejaht somit den Prozess der Entmythologisierung, „falls mit ihm die Notwendigkeit hervorgehoben wird, ein Symbol als Symbol und einen Mythos als Mythos zu verstehen“. Dagegen lehnt er diesen Begriff ab, „wenn mit ihm die Ausmerzung von Symbolen und Mythen überhaupt gemeint ist“ (GW VIII, 145 f.). Mythisches Denken kann man nach Tillich nicht aus dem geistigen Leben des Menschen lösen, „denn Mythos ist die Verknüpfung von Symbolen, die ausdrücken, was uns unbedingt angeht“ (GW VIII, 146). Eine Entmythologisierung, die den Mythos gänzlich eliminierte, kann es für Tillich nicht geben. Denn wann immer wir Aussagen über das Unbedingte und unsere Beziehung zu ihm machen, müssen wir uns der Symbolsprache bedienen, also in Mythen sprechen. Selbst wenn wir das Symbol des „Sündenfalls“ in anderen Worten auszudrücken suchen, bleibt doch die symbolische Redeweise unumgänglich. Der „Sündenfall“ ist ja nicht als Titel eines Vorgangs zu verstehen, der sich „irgendwann einmal“ in der Geschichte ereignet hat, sondern es geht hier um den Versuch, etwas über die menschliche Situation auszusagen. Selbst wenn man – mit Tillich – für die Deutung dieses Symbols den Ausdruck „Übergang von der Essenz zur Existenz“ gebraucht, so ist damit doch keine vollständige Entmythologisierung erreicht, auch wenn hier das Legendäre im Sinne des „Es war einmal“ ausgeschieden wird. „Denn der Ausdruck ‚Übergang von der Essenz zur Existenz‘ enthält noch ein zeitliches Element. Und wenn wir im Zeitschema von Gott-Mensch-Beziehungen sprechen, sprechen wir mythisch, selbst wenn abstrakte Begriffe wie Essenz und Existenz an Stelle mythischer Gestalten gebraucht werden.“ (ST II, 36) Tillich selbst sagt in der Systematischen Theologie von diesem Ausdruck: „Er ist sozusagen eine ‚halbe Entmythologisierung‘ des Mythos vom Fall.“ (Ebd.) Denn der Mythos ist auch hier nicht verschwunden, sondern nur durch einen anderen ersetzt, der vielleicht für die jetzige Zeit als angemessener erscheint und zum Verständnis dessen, was dieser Mythos vom „Fall“ aussagen will, hilfreich sein kann. In diesem Sinne kann man Tillichs ganze Theologie als eine „halbe Entmythologisierung“ verstehen.¹⁸¹ Diese Ausführungen von Tillich erinnern an das oben zitierte Wort von Jaspers, wonach sich in einem Satz wie dem folgenden: „Die Gottheit hat mich frei geschaffen, und es ist ihr nicht gleichgültig, was ich tue“, kein Wissen allge-
Paul Tillich, Schöpferisches Zuhören. Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der „Bucknell University“ in Lewisburg/Penn. am 21.09.1960, in: GW XIII, 471– 477, hier: 471 f. Vgl. Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 51.
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meingültigen Charakters ausdrückt, es sich hierbei vielmehr um „halb rationalisierte, halb als Geschichte erzählte Mythen“ handelt.¹⁸² Woher kommt diese Nähe, wenn sich beide Denker doch kaum gekannt zu haben scheinen? Aloys Klein macht zu Recht darauf aufmerksam, dass sich Jaspers – „bei aller kritischen Distanzierung im Konkreten, insbesondere gegenüber jedweden gnostischen Grundtendenzen“ – in seiner „grundsätzlich positiven Wertung des Mythos als philosophisch relevantem Phänomen des Geistes“ dem älteren Schelling eng verwandt erweist.¹⁸³ Dass Tillich in Bezug auf seine Mythosdeutung und Symboltheorie – neben Ernst Cassirer¹⁸⁴ – Schelling Entscheidendes zu verdanken hat, darauf hat er bekanntlich selbst immer wieder hingewiesen (GW V, 188). Chiffern dürfen nach Jaspers nicht „leibhaftig“ werden, da sie sonst die „Verborgenheit“ Gottes antasten würden, dieser so verendlicht und damit zu einem Götzen würde. Jaspers denkt die Verborgenheit Gottes in radikaler Weise: Gott ist für ihn absolut verborgen, er ist absolut transzendent.¹⁸⁵ In diesem Sinne radikalisiert Jaspers – wie oben ausgeführt – die „Negative Theologie“. Und den Analogiegedanken will er – ähnlich wie den Begriff der Offenbarung¹⁸⁶ – nur noch als Chiffer gelten lassen.¹⁸⁷ Damit aber verlieren beide ihre eigentliche Bedeutung, und es wird so jede ontologische Fundierung der Chiffern zunichte gemacht.¹⁸⁸ Klein drückt diesen Sachverhalt so aus: „Der entscheidende Defekt der Chiffer muß in deren unterbestimmter (um nicht zu sagen ‚leerer‘) Erkenntnisfunktion erblickt werden. Es stellt sich die entscheidende Frage, ob die Chiffern wirklich ein Medium zur Vermittlung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, zwischen Existenz und Transzendenz sind. Sind sie nicht im wörtlichen Sinne nur ‚Blinklichter‘, die zwar blinken, aber nicht ‚lichten‘?“¹⁸⁹
VdW, 633. Aloys Klein, Glaube und Mythos, 160; vgl. Sch, 159 – 162. Vgl. dazu Werner Schüßler, Der philosophische Gottesgedanke im Frühwerk Paul Tillichs (1910 – 1933). Darstellung und Interpretation seiner Gedanken und Quellen, Würzburg 1986, 75 – 80. Vgl. dazu Werner Schüßler, Der absolut transzendente Gott. Negative Theologie bei Karl Jaspers? in: Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 5 (1992), 24– 47. Vgl. PGO, 503 f. – Wolfhart Pannenberg beklagt in seinem Beitrag: Mythus und Wort. Theologische Überlegungen zu Karl Jaspers’ Mythusbegriff, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 51 (1954), 167– 185, von theologischer Seite her zu Recht gerade diesen Aspekt. Vgl. Sch, 217. Vgl. dazu Aloys Klein, Glaube und Mythos, 178. A.a.O., 212.
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Tillich kann demgegenüber dem Analogiegedanken etwas Positives abgewinnen, wenn er diesen auch als Grundlage einer „natürlichen Theologie“, die er aber – nicht anders als Jaspers auch – auf die „Gottesbeweis“-Problematik reduziert, ablehnt.Von daher gelingt es Tillich letztlich doch, „objektive“ Aussagen über das Unbedingte zu machen, auch wenn diese seiner Auffassung nach immer an „Offenbarungserfahrungen“ anzubinden sind.¹⁹⁰ Tillich teilt somit zwar mit Jaspers den existentiellen und dynamischen Charakter der religiösen Symbole, will diesen aber trotzdem nicht in der Weise verstanden wissen, dass die Symbole letztlich nichts mehr über die Transzendenz, sondern nur noch über die Existenz aussagen. Diese Sicht Tillichs wird auch noch einmal dadurch unterstrichen, dass er im Unterschied zu Jaspers von der „Wahrheit der religiösen Symbole“¹⁹¹ sprechen kann, die ihm zufolge in zwei Kriterien ihren Ausdruck findet. Bei dem ersten handelt es sich um ein „pragmatisches Kriterium“ und nicht um eines im streng wissenschaftlichen Sinne: Hiernach besitzt ein Glaube Wahrheit, insofern er in der Lage ist, das, was uns unbedingt angeht, adäquat zum Ausdruck zu bringen. Das heißt, „das Kriterium der Wahrheit des Glaubens besteht darin, ob er lebendig ist oder nicht“.¹⁹² Es geht hierbei also um die „Authentizität“ religiöser Symbole.¹⁹³ Bei dem zweiten Kriterium – und dieses ist für Tillich das entscheidende – geht es darum, dass ein Symbol „das Letztgültige (the ultimate) ausdrückt, das wirklich letztgültig (really ultimate) ist“ (MW V, 276; Übers. v. Vf.). Das heißt, ein religiöses Symbol darf nicht götzendienerisch werden, indem es selbst – als Endliches – Unbedingtheit für sich beansprucht. Für Tillich besteht das entscheidende Kriterium der Wahrheit religiöser Symbole darum darin, dass sie immer schon „ein Element der Selbst-Negation“ implizieren. In diesem Sinne ist dasjenige Symbol am adäquatesten, „das nicht nur das Letztgültige ausdrückt, sondern zugleich seinen eigenen Mangel an Letztgültigkeit“ (ebd., Übers. v. Vf.). Das heißt, die Gültigkeit eines religiösen Symbols ist letztlich an seiner Macht zu messen, die es
Paul Tillich, Carl Gustav Jung. Eine Würdigung anlässlich seines Todes, in: Ders., Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, GW XII, Stuttgart 1971, 316 – 319, hier: 317. Vgl. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, GW VIII, 175 – 177; Ders., Das Wesen der religiösen Sprache, GW V, 221 f. u. Ders., Recht und Bedeutung religiöser Symbole, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 237– 244, hier: 242– 244. Paul Tillich, Dynamics of Faith, in: Ders., Writings on Religion/Religiöse Schriften, MW V, hrsg.v. Robert P. Scharlemann, Berlin/New York 1988, 231– 290, hier: 276, Übers.v.Vf.! Vgl. dazu die dt. Übers. in GW VIII, 176, die zum Teil recht frei gehalten ist. Paul Tillich, The Meaning and Justification of Religious Symbols, in: Ders., Writings in the Philosophy of Religion/Religionsphilosophische Schriften, MW IV, hrsg. v. John Clayton, Berlin/ New York 1987, 415 – 420, hier: 419.
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ihm ermöglicht, sich selbst als Endliches zu negieren, um ganz transparent sein zu können für das Unendliche, das es vertritt. Mit Blick auf Mk 1,12 f. und besonders auf Mk 8,27– 33 hält Tillich dieses Kriterium auch entscheidend für jede Christologie (vgl. ST II, 107).¹⁹⁴ Jaspers scheint aber sein selbstauferlegtes Bilder- bzw. Sprachverbot auch nicht immer ganz durchzuhalten, wenn er schreibt: „Das Eine ist also unendlich fern, ungreifbar, unerkennbar, der Grund alles Seienden, und andererseits ganz nah, wenn ich mir in meiner Freiheit geschenkt werde und auf den Weg des Mit-mir-identisch-Werdens gelange. Dasselbe noch einmal in anderer Weise gesagt: In Bezug auf das ungeschichtlich, unveränderlich, ewige Eine wird unsere existentielle Verwirklichung in der Geschichtlichkeit, Veränderlichkeit, Zeitlichkeit geborgen, indem aus diesem Veränderlichen heraus der Anspruch des Einen gehört wird, und auf das Eine hin die Existenz sozusagen drängt, um zu sich selbst zu kommen.“¹⁹⁵
Dieses Zitat macht deutlich, dass nicht jede beliebige Chiffer zur Selbstwerdung führt, sondern letztlich nur diejenige des wahren Absoluten, das Jaspers hier mit den uns schon aus der griechischen Philosophie bekannten Attributen konnotiert. Damit kommt aber immer schon – wenn auch ungewollt – ein normatives Element mit ins Spiel, und die rein deskriptive oder phänomenologische Ebene ist verlassen. Ohne Frage sind auch Chiffern verschieden zu gewichten, worauf Jaspers auch in einem anderen Zusammenhang selbst hinweist.¹⁹⁶ Aber ein Kriterium für die Wahrheit der Chiffern aufzustellen, verbietet sich selbstredend für Jaspers, denn dann ginge es ja hier implizit um „objektive“ Aussagen über das Transzendente. Das hier angesprochene Problem führt Jaspers in ein unauflösbares Dilemma. Ist aber Gott absolut verborgen, so ist es nur konsequent, wenn sich Jaspers vehement gegen jede übernatürliche Offenbarung wendet, die ihm zufolge Gehorsam fordert und damit Freiheit vernichtet.¹⁹⁷ Es kommt hinzu, dass er sein Offenbarungsverständnis, das unzweifelhaft supranaturalistische Züge trägt, in Allerdings sieht es zuweilen auch so aus, als ob Tillich dieses Kriterium am Christusereignis selbst abgelesen hätte (vgl. Das Wesen der religiösen Sprache, GW V, 222). Vgl. dazu Werner Schüßler, Das Fortwirken des christologischen Paradoxes in der Religionsphilosophie und Religionstheologie Paul Tillichs, in: The Theological Paradox/Das theologische Paradox. Interdisciplinary Refections on the Centre of Paul Tillich’s Thought/Interdisziplinäre Reflexionen zur Mitte von Paul Tillichs Denken. Beiträge des V. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt (Main) 1994, hrsg. v. Gert Hummel, Berlin/New York 1995 (= Theologische Bibliothek Töpelmann 74), 20 – 31, bes. 21– 24. ChT, 52, Herv. W.S.! Vgl. PGO, 214. Vgl. PGcO, 72. Vgl. PGO, 481.
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Auseinandersetzung mit Barth¹⁹⁸ und Bultmann¹⁹⁹ gewonnen hat. Demgegenüber ist Tillichs korrelativer Offenbarungsbegriff (vgl. ST I, 73 – 80) mit solchen Argumenten kaum angreifbar, schließt dieser doch die entscheidenden Momente von Jaspers’ Kritik immer schon mit ein.²⁰⁰ Auf der anderen Seite weist Jaspers’ Begriff des Philosophischen Glaubens auch etliche Züge auf, die für Tillichs Glaubensbegriff charakteristisch sind (vgl. GW VIII, 122– 126), so z. B. die These, dass Glaube und Zweifel notwendig zusammengehören.²⁰¹ Letztlich, so könnte man zusammenfassend festhalten, ist es also Jaspers’ These vom absolut verborgenen Gott, der die entscheidende Differenz zu Tillich markiert, ist für Letzteren Gott doch nie nur „der ganz Fremde“, sondern immer auch „der ganz Eigene“, „was jedes Weges Anfang ist“.²⁰²
5. Resümee Versteht sich die Moderne als das Zeitalter, das durch Aufklärung, Fortschrittsglauben und Wissenschaftsgläubigkeit geprägt ist, so sucht Tillich diese Moderne dadurch zu überwinden, dass er ihr eine Aufklärung über die Aufklärung entgegenhält und – vielleicht wie kein zweiter Theologe – die Zweideutigkeit des Fortschritts und die Unterschiedenheit der Religion von der Wissenschaft herauszuarbeiten sucht. Worum es Tillich hier geht, das hat er in seiner Antwort auf die Frage eines Studenten: „Dr. Tillich, sind Sie nicht ein gefährlicher Mann?“, einmal so zum Ausdruck gebracht: „Die wirklich gefährlichen Leute sind die großen Kritiker gewesen seit der Aufklärung, und speziell im 18. und 19. Jahrhundert. Sie könnte man als gefährlich bezeichnen. Aber was ich tue, ist etwas ganz anderes. Nachdem diese gefährlichen Leute, diese mutigen Leute, ihre Aufgabe getan haben und die Primitivität des religiösen Buchstabenglaubens zerstört haben, versuche ich, die alten Wirklichkeiten auf einer anderen Grundlage wieder aufleben zu lassen.“²⁰³
Vgl. PGO, 174– 179.228 – 230.485 – 488. Vgl. FE. Vgl. dazu Werner Schüßler, Philosophischer und religiöser Glaube, 30 – 35. Vgl. Ph I, 246 – 255. Paul Tillich, Die Idee der Offenbarung, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 31– 39, hier: 35. D. Mackenzie Brown, Ultimate concern. Tillich in dialogue, London 1962, 188.192, Übers. v.Vf.
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Ähnlich geht es auch Jaspers um eine wahre Aufklärung und nicht um „Aufkläricht“, wie er eine falsche Aufklärung nennt, die den Mythos entwertet. Was Klein vor mehr als 40 Jahren gesagt hat, trifft heute mehr denn je ins Schwarze: „Wir müssen Jaspers in seinem Bemühen bestätigen, Recht und Anspruch des mythischen Phänomens in der Kultur der Gegenwart zu verteidigen und ihm Gehör zu verschaffen. Erwies sich das geistige Klima der Aufklärung und der Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart hinein für den Mythos recht feindlich, so findet diese heute in wachsendem Maße in allen Bereichen des Geisteslebens einschließlich der Naturwissenschaften eine wesentlich freundlichere Atmosphäre. Der offensichtlichen Verarmung des Lebens in einer rationalistisch-technisierten Welt begegnet im ernsthafteren und ehrfürchtigeren Umgang mit dem Mythos ein Gegengewicht, das sich nicht selten als offener Protest der Moderne versteht. Auf diesem Hintergrund zeigt sich das Jaspers’sche Plädoyer als zeitgeschichtliches Votum von echter Aktualität; denn es berührt die Frage nach der Sicherung des integralen Menschseins in der Zukunft.“²⁰⁴
Zum Abschluss dieser Überlegungen möchte ich noch einmal ein Wort des TillichSchülers und -Freundes Rollo May aus dessen schon genannter Schrift The Cry for Myth zitieren, das noch einmal auf die unlässliche Bedeutung des Mythos nicht nur für den religiösen bzw. philosophischen Glauben, sondern darüber hinaus auch für unser individuelles und gesellschaftliches Selbstverständnis als „Personen“ insgesamt aufmerksam macht, was aber selbstredend die angesprochene religiöse und philosophische Dimension immer schon mit einschließt: “The need for myths […], the cry for myths, will be present wherever there are persons who call themselves human. […] We form our own myths in various collective and personal ways, the myths are necessary as ways of bridging the gap between our biological and our personal selves. Myths are our self-interpetation of our inner selves in relation to the outside world. They are narrations by which our society is unified. Myths are essential to the process of keeping our souls alive and bringing us new meaning in a difficult and often meaningless world. Such aspects of eternity as beauty, love, great ideas, appear suddenly or gradually in the language of myth.”²⁰⁵
Aloys Klein, Glaube und Mythos, 237 f. Rollo May, The Cry for Myth, 20.
Elisabeth Grözinger
Mythos bei Carl Gustav Jung und Paul Tillich „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen […].“ Novalis
1. Einleitung Die Pastorensöhne Carl Gustav Jung (1875 – 1961) und Paul Tillich (1886 – 1965) trugen beide dazu bei, dass die religiöse Tradition im 20. Jahrhundert eine neue Wertschätzung erfuhr. Der jüngere, Tillich, hat dabei viel, etwa die These vom ‚kollektiven Unbewussten‘ als Mutterboden der Symbole, von Jung übernommen.¹ Dennoch kann Tillich nicht als „Schüler“ von Jung bezeichnet werden; unverkennbar ist sein theologisches Interesse auch und gerade da in seine Theorie eingezeichnet, wo er Termini verwendet, die sich bei dem Tiefenpsychologen C.G. Jung ebenfalls finden. Differenzen werden z. B. in der Rede deutlich, die Tillich sechs Monate nach Jungs Tod in New York zu dessen Ehre hielt. Hier fällt besonders eine Passage zu Jungs Konzept der Archetypen auf. Tillich findet bei Jung keine ihn überzeugende Antwort auf die Frage nach der ‚Natur der Archetypen‘ und führt dazu aus: „Der Grund für diese Schwierigkeit liegt zum Teil in Jungs Furcht vor dem,was er ‚Metaphysik‘ nennt. Hier, scheint mir, besteht bei ihm eine Inkonsequenz gegenüber seinen tatsächlichen Entdeckungen, die an vielen Punkten tief in die Dimension einer Seinslehre, d. h. einer Ontologie, hineinreichen. Die Furcht vor der Metaphysik, die Jung mit Freud und anderen geistigen Pionieren des 19. Jahrhunderts teilt, ist ein Erbe dieses Jahrhunderts.“²
Tillich teilte die erwähnte ‚Furcht vor der Metaphysik‘ nicht, hat sich aber zeitlebens bemüht, zu zeigen, warum die Menschheit auch nach der von Europa angestoßenen Aufklärung die Metaphysik nicht zu fürchten braucht. Tillichs Verständnis von Metaphysik führt ihn ab und an auch zu Kritik an einem rational verkürzten Verständnis von Mythen und Symbolen. Nicht einfach nur Skepsis, Vgl. Paul Tillich, Das Wesen der religiösen Sprache, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 213 – 222, hier: 216. Paul Tillich, Carl Gustav Jung. Eine Würdigung anläßlich seines Todes (1961), in: Ders., Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, GW XII, Stuttgart 1971, 316 – 319, hier: 318.
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sondern sogar scharfe Ablehnung erfährt bei Tillich jede Form von Wissenschaftlichkeit, auch der Psychotherapie, die „Mächte des Unbewußten, seelische und soziale“, negiert.³ Einen psychologischen Terminus wie das „Unbewusste“ aufnehmend, geht Tillich offenbar sogar von einer ‚Unbewusstheitsvergessenheit‘ der Psychotherapie aus, wenn er schreibt: „Das [sc. die Abhängigkeit von unbewussten Dynamiken] gilt von den jüngst vergangenen Versuchen aller Formen der Psychotherapie, die durch technische Methoden sichere Persönlichkeiten bilden wollten und die trotz ihrer Tiefe und revolutionären Kraft nicht fähig sind, dem Leben ein geistiges Zentrum und einen letzten Sinn zu gegeben.“⁴
Wesentlich ist mir im Kontext dieses Beitrags Tillichs Votum gegen ein Verständnis vom Menschen, nach dem dieser durch von Menschen erdachte Methoden formbar und zufriedenstellbar ist. Wo eine Form von Psychologie den Menschen auf Erklärbarkeit oder Handhabbarkeit zu reduzieren droht, benennt Tillich deren Grenzen. Zugleich und dennoch rezipiert Tillich gern Erkenntnisse der Psychologie und Psychotherapie seiner Zeit. Er sieht sich von der kritischen Kraft zeitgenössischer psychologischer Konzepte als Theologe nicht bedroht, sondern hat eine klare Vorstellung von den Gemeinsamkeiten und von den Unterschieden zwischen Psychotherapie und den Möglichkeiten des religiösen Kontexts. So heißt in einem Aufsatz über Moralismen und Moral (1959): „Es gibt schlagende Analogien zwischen den neuen Methoden des psychischen Heilens und den traditionellen Wegen der persönlichen Erlösung. Aber es gibt auch einen grundlegenden Unterschied. Die Psychotherapie kann den Menschen aus einer besonderen Schwierigkeit befreien. Die Religion aber zeigt dem Befreiten, der nunmehr über Sinn und Ziel seiner Existenz zu entscheiden hat, seinen endgültigen Weg. Dieser Unterschied ist ausschlaggebend sowohl für die Unabhängigkeit der Religion und der Psychotherapie von einander wie für ihre Zusammenarbeit.“⁵
P. Tillich und C.G. Jung trennen nur elf Jahr Altersunterschied. Beide kannten die Atmosphäre, in der die christliche Tradition, deren Pflege sich ihre Väter beruflich verpflichtet hatten, von ihren reflektierten Zeitgenossen nicht mehr wie selbstverständlich akzeptiert werden konnte. Beiden war das bewusst; sie sind jedoch unterschiedlich damit umgegangen.
Paul Tillich, Die Protestantische Verkündigung und der Mensch der Gegenwart, in: Ders., Auf der Grenze, Stuttgart 1962, 110 – 126, hier: 123. A.a.O., 124. Paul Tillich, Moralismen und Moral, in: Ders., Auf der Grenze, Stuttgart 1962, 159 – 171, hier: 169.
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Bevor ich die biographischen sowie konzeptionellen Reaktionen von Tillich und Jung auf diese Situation skizziere und diese abschließend vergleiche, sei an ein Märchen erinnert, das mir exemplarisch für die Beschreibung der geistigen Ausgangsituation beider Gelehrter im deutschsprachigen Europa des 19. Jahrhunderts scheint: Die Schneekönigin (1844) von Hans Christian Andersen.⁶ Andersen (1805 – 1875) erzählt von einem Jungen, dessen Blick durch einen teuflischen Spiegelsplitter verzerrt wird. Ihn fasziniert fortan alles deklarierbare Wissen, vor allem aber die Mathematik. Ästhetik oder religiöses Wissen bedeuten ihm nichts mehr. Im Bann der Schneekönigin bleibt er zwar am Leben,verliert aber beinahe jede Lebendigkeit. Er spielt „das Eisspiel des Verstandes“⁷. Vergeblich versucht er, aus Eisstücken das Wort ‚Ewigkeit‘ zu legen, um – von der Schneekönigin versprochen – die ganze Welt geschenkt zu bekommen.⁸ Das Mädchen, das ihn noch vor seiner Versteifung retten kann, sucht ihn. Auf ihrem Weg gewinnt sie aufgrund ihrer kindlichen Offenheit immer wieder Freunde. Eine Finnin, wohnhaft an der Grenze zum Reich der Schneekönigin, sagt über die Suchende: „Ich kann ihr keine größere Macht geben, als sie schon besitzt! […] Von uns darf sie ihre Macht nicht erfahren, die sitzt in ihrem Herzen und besteht darin, daß sie ein süßes, unschuldiges Kind ist.“⁹ Diese weibliche Protagonistin repräsentiert das Ideal einer romantischen und nachromantischen Kritik an einem Rationalismus, der seit dem 19. Jahrhundert seine Macht aufgrund der wachsenden Beherrschbarkeit der Naturkräfte zwar eindrücklich demonstrierte, sich zugleich aber auch überall da als unzureichend erwies, wo es um Authentizität, emotionale Bedürftigkeit, Beziehungsfähigkeit und Sinnfindung ging bzw. geht. C.G. Jung und P. Tillich können wohl beide als Verbündete jener Märchenheldin begriffen werden, der die Erlösung ihres einstigen Spielgefährten gelang. Beiden ist Verstandesfeindschaft fern. Ihnen liegt am respektvollen Dialog mit denen, die aufgrund ihrer naturwissenschaftlich abgesicherten Autonomie Traditionen nicht mehr fraglos akzeptieren. Beide, Jung und Tillich, wollen jedoch nicht das ‚Eisspiel des Verstandes‘ kalkulierend fortsetzen, sondern untersuchten mythische Narrative für ein adäquateres Verständnis der menschlichen Situation.
Hans Christian Andersen, Die Schneekönigin, in: Ders., Märchen, übers. v. Heinrich Denhardt, Stuttgart 2004, 313 – 353. Vgl. dazu Ulf Diederichs, Who’s who im Märchen, München 21996, 289. Hans Christian Andersen, Die Schneekönigin, 349. Vgl. ebd. A.a.O., 346 f.
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Elisabeth Grözinger
2. Biographisches zum Umgang mit „Mythischem“ bei C.G. Jung und P. Tillich 2.1 C.G. Jung In den posthum von Aniela Jaffé aufgrund ihrer Arbeit mit C.G. Jung herausgegebenen Erinnerungen, Träume, Gedanken bezieht sich Jung unter anderem auf die selbstexperimentielle Arbeit, der er sich intensiv ab 1912 und bis 1930 stellte. Er notierte damals Träume (‚Gesichte‘),¹⁰ griff aber auch mythologisches Material wie etwa die Gilgamesch-Überlieferung¹¹ oder das Sonnenbarke-Motiv aus der ägyptischen Mythologie¹² auf und entwickelte diese imaginativ-reflexiv weiter. In den vorangegangenen Jahren hatte er sich während seiner Untersuchung der Texte einer jungen Amerikanerin („Miss Miller“) wissenschaftlich intensiv mit Mythologie auseinandergesetzt.¹³ Sonu Shamdasani überschreibt – in seiner Einleitung zum Roten Buch – diesen Lebensabschnitt Jungs sogar mit „Der Rausch der Mythologie“¹⁴. Er zeigt auch die konzeptuelle Haltung, die Jung in seiner Analyse der Texte von „Miss Miller“ praktiziert hatte: „In diesem Werk machte Jung eine Synthese von Theorien des 19. Jahrhunderts über Gedächtnis, Vererbung und das Unbewusste und postulierte eine phylogenetische Schicht des Unbewussten, die aus mythologischen Bildern bestehe und noch immer in jedem gegenwärtig sei. Für Jung waren Mythen Symbole der Libido und zeichneten deren typische Bewegungsabläufe nach. Unter Verwendung der vergleichenden Methode der Anthropologie versammelte er eine große Palette von Mythen, die er dann der analytischen Interpretation unterwarf. […] Es müsse, behauptete er, typische Mythen geben, die der ethnopsychischen Entwicklung der Komplexe entsprächen. Im Anschluss an Jacob Burckhardt nannte er solche typischen Mythen ‚Urbilder‘.“¹⁵
Vgl. Carl Gustav Jung, Das Rote Buch, hrsg. v. Sonu Shamdasani, Düsseldorf 2009, 241. Vgl. a.a.O., 36 sowie 277, dort auch Anm. 96. Hier erwähnt Shamdasani auch Jungs Rezeption des Gilgamesch-Epos in seiner Untersuchung der Aufzeichnungen einer jungen Amerikanerin, 1912 publiziert unter dem Titel Wandlungen und Symbole der Libido, heute in überarbeiteter Fassung als Band 5 der Gesammelten Werke: Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke, Bd. 5: Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie, hrsg. v. Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf, Düsseldorf 1995 (Sonderausgabe). Vgl. Carl Gustav Jung, Das Rote Buch, 55 sowie 284, dort auch Anm. 197. Vgl. a.a.O., 277, Anm. 96. Sonu Shamdasani, Liber novus: Das ‚Rote Buch‘ von C.G. Jung. Einleitung, in: Carl Gustav Jung, Das Rote Buch, hrsg. v. Sonu Shamdasani, Düsseldorf 2009, 195 – 223, hier: 199. Ebd.
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Die ärztliche, d. h. beobachtende, nicht auf eigene Erfahrung gestützte Rezeption mythologischen Materials als Basis seiner tiefenpsychologischen Theorie genügte Jung jedoch nicht. Er setzte sich daher über ein Jahrzehnt schonungslos der Konfrontation, d. h. eben auch der Wirkung aus, die Mythen auf ihn selbst ausübten, und erarbeitete im Roten Buch zugleich ein zuweilen schockierendes Dokument dieses eigenen Prozesses.¹⁶ Dazu heißt es in Erinnerungen, Träume Gedanken: „Als junger Mann war mein Ziel, etwas in meiner Wissenschaft zu leisten. Aber dann stieß ich auf diesen Lavastrom, und die Leidenschaft, die in seinem Feuer lag, hat mein Leben umgeformt und angeordnet. […] Die Jahre, in denen ich den inneren Bildern nachging, waren die wichtigste Zeit meines Leben, in der sich alles Wesentliche entschied. Damals begann es, und die späteren Einzelheiten sind nur Ergänzungen und Verdeutlichungen. Meine gesamte spätere Tätigkeit bestand darin, das auszuarbeiten,was in jenen Jahren aus dem Unbewußten aufgebrochen war und mich zunächst überflutete.“¹⁷
Zwar ordnet Jung die analytische Psychologie den Naturwissenschaften zu;¹⁸ für ihn stand aber besonders im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Traditionen der Alchemie mehr und mehr fest, dass Aspekte für sein Konzept unverzichtbar waren, die wir heute als ‚kulturwissenschaftlich‘ bezeichnen. Er konstatiert in seinem Lebensrückblick: „Mein Verständnis für ihren [sc. der Alchemie] typischen Charakter, das sich schon durch meine Mythenforschungen angebahnt hatte, vertiefte sich. Die Urbilder und das Wesen des Archetypus rückten ins Zentrum meiner Forschungen, und ich erkannte, dass es ohne Geschichte keine Psychologie und erst recht keine Psychologie des Unbewussten gibt.“¹⁹
C.G. Jung war aber bereits als Schüler in Basel ein ungebrochenes Verhältnis zu zentralen Mythen der kirchlichen Umgebung seines Elternhauses nicht mehr möglich. Im Alter von 12 Jahren – so berichtet er in Erinnerungen, Träume, Gedanken – sei ihm angesichts der Schönheit eines Sommertages der biblische Schöpfungsmythos (Gen 1– 2.3) in den Sinn gekommen. Er lässt nach intensiver innerer Auseinandersetzung folgende Phantasie zu: „Gott sitzt auf goldenem Thron, hoch über der Welt, und unter dem Thron fällt ein ungeheures Exkrement Schockierend kann z. B. das Kapitel „Der Opfermord“ wirken, in dem Jung die Vorstellung schildert, er ließe sich zum Verzehr der Leber eines ermordeten Mädchen nötigen. Vgl. dazu Carl Gustav Jung, Das Rote Buch, 76.289. Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, aufgezeichnet u. hrsg. v. Aniela Jaffé, Düsseldorf/Zürich 151971 (Sonderausgabe), 203. Vgl. dazu a.a.O., 204. A.a.O., 209.
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auf das neue bunte Kirchendach, zerschmettert es und bricht die Kirchenwände auseinander.“²⁰ Als Schüler gelang es Jung, die biblische Tradition so für sich zu individualisieren, dass er sie nicht aufgeben musste, sondern sich von deren differenziertem Verständnis inspirieren, motivieren lassen konnte: „Ich hatte erfahren, dass ich Gott ausgeliefert bin, und dass es auf nichts anderes ankommt, als Seinen Willen zu erfüllen. […] Damals hat meine eigentliche Verantwortlichkeit begonnen.“²¹ Im Laufe seines Lebens realisierte Jung diese ‚Verantwortlichkeit‘, indem er wiederholt wesentliche Elemente der christlichen Mythologie und Tradition kritisch als analytischer Psychologe las und so ihre Bedeutung als Bilder des Unbewussten herausschälte. Exemplarisch sei auf die Abhandlung Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst (1950) verwiesen, in der Jung die Symbolik des Christusmythos als „archetypisches Bild der Ganzheit“²² untersucht, sowie – ebenfalls aus dem Spätwerk – auf den Essay Antwort auf Hiob (1952), in dem er unter Berücksichtigung des damals noch ganz neuen Dogmas von der Assumptio Mariä (1950) seine Sicht der Wandlung und Erweiterung des christlichen Gottesbildes entfaltet und als Ausdruck der Möglichkeit einer neu wahrzunehmenden Beziehung des modernen Menschen zum Archetyp des Selbst skizziert.²³ Jung nutzte in späteren Jahren seine Prominenz, indem er sich als warnender Zeitgenosse zu Wort meldete. In dem 1957 erstmals publizierte Artikel Gegenwart und Zukunft zeigt er sich als Mahner, besorgt um die Fragmentierungen, die den Menschen in einem Milieu drohen, welches sich um die ‚Déesse Raison‘ dreht.²⁴ Er thematisiert den seiner Ansicht nach verbreitet empfundenen Konflikt zwischen
A.a.O., 45. Zur gesamten Episode vgl. a.a.O., 42– 47. A.a.O., 46. Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke, Bd. 9.2: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, hrsg. v. Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf, Düsseldorf 1995, 9. In dieser Schrift vertritt Jung u. a. allerdings die These, dass die kirchliche Christusüberlieferung Ganzheit nicht wirklich symbolisiert. Er begründet diese Sicht wie folgt: „Die ursprüngliche christliche Anschauung der imago Dei, verkörpert in Christus, bedeutet zweifellos eine allumfassende Ganzheit, welche sogar die animalische Seite des Menschen (pecus!) in sich begreift. Trotz alledem ermangelt das Symbol Christi der Ganzheit im modernen Sinne, indem es die Nachtseite der Dinge expressiv verbis nicht mit ein-, sondern als luziferischer Gegenspieler ausschließt.“ (A.a.O., 51) Carl Gustav Jung, Antwort auf Hiob, in: Ders, Gesammelte Werke, Bd. 11: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, hrsg. v. Marianne Niehus-Jung/Lena Hurwitz-Eisner/Franz Riklin u. a., Düsseldorf 1995, 363 – 471. Bei Band 11 dieser Sonderausgabe handelt es sich um eine 1985 revidierte Neuausgabe, die teilweise von der Erstausgabe der Gesammelten Werke, Bd. 11 (Olten 1971) abweicht. Vgl. dazu Carl Gustav Jung, Gegenwart und Zukunft, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10: Zivilisation im Übergang, hrsg. v. Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf, Düsseldorf 1995, 275 – 336, hier: 310.
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Wissen und Glauben und plädiert für eine symbolische Lesart überlieferter Mythologeme: „Die konfessionelle Auffassung ist nämlich altertümlich und von eindrücklicher, mythologisch bedingter Symbolik, die, wenn wörtlich genommen, in unleidlichen Gegensatz zum Wissen gerät. Ist zum Beispiel die Aussage von Christi Auferstehung nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen, so ist sie verschiedener Auslegungen fähig, welche mit dem Wissen nicht kollidieren und den Sinn der Aussage nicht beeinträchtigen. […] Wäre es nicht an der Zeit, daß man die christlichen Mythologeme, statt sie auszumerzen, einmal als symbolisch verstehen würde?“²⁵
Im genannten Aufsatz, der nach Faschismus und mitten in der Auseinandersetzung zwischen dem westlichen Abendland und damaligen kommunistischen Regimen erschien, sucht Jung nach den Chancen der Individuen, dem Prozess der Nivellierung und der Aufgabe von Souveränität zu widerstehen sowie der eigenen Destruktivität gewachsen zu sein. Er resigniert angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen in Ost und West nicht, sondern sieht durchaus Ressourcen – z. B. in der christlichen Tradition, begreift er doch das ‚christliche Symbol‘ als „ein lebendiges Wesen, das Keime zu weiterer Entfaltung in sich trägt“²⁶. Zudem definiert er seine Gegenwart als „Kairos für den ‚Gestaltwandel der Götter‘, das heißt der grundlegenden Prinzipien und Symbole“²⁷. Diese Wandlung jedoch impliziert auch Aufgaben, wobei unsicher bleibt, ob die Menschen dem gerecht werden, was im Unbewussten parat liegt. So fragt Jung sorgenvoll: „Weiß er [sc. der Lesende des Jahres 1957], daß er den lebenserhaltenden Mythus vom inneren Menschen, den das Christentum für ihn aufbewahrt hat, im Begriffe steht zu verlieren?“²⁸ ‚Verantwortlich‘ ging C.G. Jung mit Mythen nicht um, indem er nur Wert auf ihre umfassenden Sammlung oder eine korrekte Archivierung ihres Bestands legte. Sein ‚verantwortlicher‘ Umgang mit Mythen bestand offenbar darin, aktuelle kollektive Mythenbildungsprozesse sorgfältig zu beobachten, denn darin sah er ein Reservoir unbewusster psychischer Entwicklungstendenzen.
2.2 Paul Tillich Als Paul Tillich 1962 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, legt das Stuttgarter Evangelische Verlagswerk eine Textsammlung von Tillich vor, die
A.a.O., 294. A.a.O., 308. A.a.O., 335. A.a.O., 336.
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den Titel Auf der Grenze trägt. Im Vorwort zu diesem „Querschnitt aus dem Lebenswerk Tillichs“²⁹ heißt es: „Für die Existenzphilosophie und ihre Deutung der Gegenwart hat Tillich viel Verständnis aufgebracht und doch gleichzeitig dafür plädiert, daß man unter keinen Umständen darauf verzichte, alte, inhaltsschwere Symbole in Gottesdienst und Liturgie einfach deswegen zu beseitigen, weil angeblich der moderne Mensch keine Beziehung mehr zu ihnen herstellen könne.“³⁰
Tillich wurde als Theologe wahrgenommen, der die Konflikte und Grenzsituationen von Menschen thematisierte, die nicht auf eine Moderne reduziert werden wollten, welche sich in Eindeutigkeit oder Klarheit erschöpft und ohne Symbolik auskommt. Tillichs Sympathie von Symbol und Mythos vertrug sich allerdings gut mit der frühen Faszination vom Urbanen. Diese habe ihn – so heißt es in der 1936 erstmals publizierten Lebensrückschau Auf der Grenze – „vor romantisierender Feindschaft gegen die technische Kultur [bewahrt], [habe ihn] gelehrt, die Bedeutung der großen Stadt für die kritische Seite des geistigen und künstlerischen Lebens zu sehen“³¹. Wie ein roter Faden zieht sich durch diesen biographischen Essay das Bewusstsein von Potentialen, die mitunter als konkurrierend erlebt werden können. So heißt es etwa zum Verhältnis von Religion und Kultur: „Der Unterschied ist nur der, daß in der Religion die Substanz, der unbedingte Sinngrund und Abgrund, gemeint ist und die Formen als Symbole für ihn dienen; während in der Kultur die Form, der bedingte Sinn, gemeint ist, und die Substanz, der unbedingte Sinn, nur indirekt durch die autonome Form hindurch vernehmbar ist.“³² Der ‚Grenzgänger‘ Tillich pflegte bereits zu Anfang seiner kirchlichen Arbeit nicht einfach die Verteidigung eines religiösen Materials, das angesichts der weiter gestreuten und gewachsenen intellektuellen Ansprüche seiner Zeitgenossen an Plausibilität verloren hatte. Ihm lag an der Integration der Denkfähigkeit im Umgang mit Religion. Mit einem Freund initiierte er Vorträge, für die sich „schon bald […] der Name ‚Vernunft-Abende‘ ein[bürgerte]“.³³ Werner Schüßler kommentiert: „Damit kommt das Prinzip deutlich zum Ausdruck: Es ist ein Bemühen des Denkens gemeint, das überzeugen will, nicht ein christlicher Bekehrungsversuch.“³⁴
Gotthold Müller, Vorwort, zu: Paul Tillich, Auf der Grenze, Stuttgart 1962, 7– 11, hier: 8. A.a.O., 9. Paul Tillich, Auf der Grenze, in: Ders., Auf der Grenze, Stuttgart 1962, 13 – 69, hier: 15 f. A.a.O., 50. Werner Schüßler, Paul Tillich, München 1997, 13. Ebd.
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Der Grenzgänger Tillich, der sich erst mit dem Exil in die USA ab 1933 wieder deutlicher als protestantischer Theologe positionierte,³⁵ trieb ein Thema voran, das sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Menschen faszinierte. Er wirkte eben nicht einfach nur als Interpret der christlichen Tradition, sondern war wegen seines Arbeitsschwerpunkts, also aus inhaltlichen Gründen, z. B. für Tiefenpsychologen oder Religionswissenschaftler und Philosophen ein interessanter Gesprächspartner.³⁶ Zu Thematik und Wissenschaftsstil, die ihn über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinweg faszinierend machte, schreibt einer seiner Schüler: „Der Grund für Tillichs Bedeutung als Lehrer lag darin, daß seine Vorlesungen stets eine ‚life-and-death-significance‘ an sich trugen.“³⁷ Auch seinen Reden und Artikeln nach 1945 ist die Komponente von Dringlichkeit oder Krise eingeschrieben, was sich unter anderem an einem gewissen Pathos bemerkbar macht. Tillich präsentiert sich nicht als distanzierter Gelehrter, sondern als in seine Thematik involviert, motiviert zu involvieren. Als Beleg dafür sei hier aus einem Vortrag während seiner ersten Deutschlandreise nach 1945³⁸ zitiert. Tillich konstatiert zunächst, dass eine Symbolwelt verloren gegangen sei, „in der das kollektive Unbewußte und jeder einzelne sich selbst wiederfindet und die für ihn darum nicht etwas ist, das ihm von außen, autoritativ, total oktroyiert werden muß, sondern etwas, in dem er unmittelbar leben, zu dem er unmittelbar Ja sagen kann“³⁹. Er skizziert in diesem Vortrag auch, was den Verlust kompensieren könnte: „Wenn wir also sagen, alle diese einzelnen Dinge und ihre Symbole können uns heute noch kein geistiges Zentrum geben, dann haben wir vielleicht ein Zentrum gefunden, nämlich das Zentrum eines heiligen Leer-geworden-seins. Heilig in dem Sinn, daß es nicht zynisch ist,
Vgl. dazu die Zeittafel: a.a.O., 125 f. So war Tillich mehrfach auf der tiefenpsychologisch bestimmten, aber interdisziplinären Tagung Eranos in Ascona zu Gast und hielt dort 1936 und 1955 Vorträge.Vgl. dazu: http://www.era nosfoundation.org/publications.htm sowie Paul Tillich, Das Neue Sein als Zentralbegriff einer christlichen Theologie, in: Tillich-Auswahl, hrsg. v. Manfred Baumotte, 3 Bde., Bd. 1: Das Neue Sein, Gütersloh 1980, 347– 366. Zu Jungs Bedeutung auf den Eranos-Tagungen vgl. Deirdre Bair, C. G. Jung, Eine Biographie, München 2005, 582– 586. – Tillich wurde z. B. von Max Horkheimer geschätzt. Vor seinem Tod arbeitete er noch mit dem Tiefenpsychologie und Religionsgeschichte verbindenden Religionswissenschaftler Mircea Eliade zusammen.Vgl. dazu Werner Schüßler, Paul Tillich, 19.22 f. Werner Schüßler, Paul Tillich, 21, dort auch Anm. 2. Vgl. dazu Carl Heinz Ratschow, Einführung. Paul Tillich. Ein biographisches Bild seiner Gedanken, in: Tillich-Auswahl, hrsg. v. Manfred Baumotte, Bd. 1: Das Neue Sein, Gütersloh 1980, 11– 104, hier: 97. Paul Tillich, Das geistige Vakuum, in: Tillich-Auswahl, hrsg. v. Manfred Baumotte, Bd. 3: Der Sinn der Geschichte, Gütersloh 1980, 230 – 236, hier: 233.
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skeptisch oder verzweifelt, sondern Glaube in dem Sinne, daß wir glauben, daß in dieses Leergewordensein sich neue Möglichkeiten entfalten können. […] Wenn wir dahin gekommen sind, dann glaube ich, werden in dieses Vakuum hinein die Kräfte des Grundes zu strömen beginnen und aus diesen Kräften werden Symbole entstehen, die genau den Charakter haben, das Geheimnis des Grundes zum Ausdruck zu bringen und damit ein neues geistiges Zentrum zu geben.“⁴⁰
Der Begriff „Symbol“ ist für den älteren Tillich immer noch eindeutig positiv konnotiert, was wohl auch biographische Wurzeln hat. Anders als C.G. Jung scheint Tillich nämlich in seinen frühen Jahren nicht mit der religiösen Welt des Vaters in Konflikt geraten zu sein, sondern hat die kirchliche, eben auch mythenund symbolgesättigte Atmosphäre als heimatlichen Raum genossen.⁴¹ Tillichs Sensibilität für den Wert von Symbolen und Mythen forderte ihn – wie noch skizziert wird – zur Klärung der eigenen Position heraus, etwa wenn er sich mit Rudolf Bultmanns Entmythologisierungskonzept, dessen exegetische Arbeit er sehr schätzte,⁴² konfrontiert sah. Rudolf Bultmann (1884– 1976) faszinierte ab den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, weil die biblischen Quellen durch seine Art der Bibelauslegung mit dem damals modernen Weltbild kompatibel wurden. Andreas Lindemann bringt Bultmanns Ansatz wie folgt auf den Punkt: „Das in den biblischen Texten (u. a. in den Wundergeschichten, aber auch in der Rede von Auferstehung und Himmelfahrt Jesu) vorausgesetzte Weltbild ist ‚erledigt‘; aber die im Rahmen dieses Weltbildes formulierten Glaubensaussagen sind Auslegung der menschlichen Existenz und deshalb sind die ‚mythischen‘ Aussagen nicht zu eliminieren, sondern zu interpretieren.“⁴³
Auf die nachaufklärerischen Erschütterungen der Tradition reagierte Bultmann also, indem er – darin Tillich sehr nahe – die existentiellen Krisen ansprach, die in mythischen Texten thematisiert werden. Während Bultmann jedoch den Menschen seiner Zeit den Kern der überlieferten Geschichten so ‚übersetzen‘ wollte, dass die für die Moderne ‚anstößige‘ mythologische Form als historisch relativiert werden konnte, ging es Tillich um eine Neubewertung des Mythos. Mythisches musste nicht einfach nur als ‚vormodern‘ oder nur ‚primitiv‘ eingestuft werden, sondern konnte auch als eigenständige Aussageform mitten in einer naturwissenschaftlich orientierten Gegenwart anerkannt werden. Wesentliche Voraussetzungen für diesen Schritt war neben der Rezeption der idealistischen Philosophie
A.a.O., 235 f. Paul Tillich, Auf der Grenze, 43. Vgl. dazu a.a.O., 37. Andreas Lindemann, Art. Bultmann, Rudolf, in: RGG, hrsg. v. Hans Dieter Betz/Don S. Browning/Bernd Janowski u. a., Bd. 1, Tübingen 41998, 1859 – 1860, hier: 1860.
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des 19. Jahrhunderts (vor allem Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775 – 1854) auch die zustimmende Reaktion auf die Religionswissenschaft, die damals besonders von Rudolf Otto (1869 – 1937) vertreten wurde.⁴⁴ Neben der Rezeption des damals noch ‚jungen‘ psychoanalytischen Umgangs mit Mythen ist hier auch Tillichs Rezeption der philosophischen Arbeit von Ernst Cassirer (1874– 1945) zu erwähnen.⁴⁵ Auch aufgrund der erkenntnistheoretischen Rehabilitation des Mythos, die Cassirer vor allem ab den 1920er Jahren leistete, konnte Tillich seine Position in einem intellektuellen Milieu entwickeln, dem an kritischer Reflexion lag und das dennoch nicht allein von Mythenskepsis geprägt war.⁴⁶
3. Zu aktuellen Mythos-Konzepten Die Begriffe „Mythos“ und „Symbol“ habe ich bisher primär in Zitaten der hier diskutierten Wissenschaftler verwendet. Ich habe deren Mythosverständnis bisher durch ihren Gebrauch des Terminus angedeutet, ohne ihre Reflexion der Begriffe zu berücksichtigen. Bevor ich mich dem jeweils fachspezifische Umgang mit dem Terminus „Mythos“ bei C.G. Jung und P. Tillich zuwende, sei ein Blick auf aktuelle Mythenkonzepte geworfen, damit am Ende dieses Beitrages das Mythenverständnis von Tillich und Jung nicht nur verglichen, sondern auch historisch verortet werden kann. Während bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ein Mythosverständnis dominierte, das diesen einer überwundenen, ja ‚primitiven‘ Stufe der menschlichen Entwicklung zuordnet,⁴⁷ wird der Mythos mittlerweile – so Hans
Vgl. dazu Werner Schüßler, Das Symbol als Sprache der Religion. Paul Tillichs Programm einer ‚Deliteralisierung‘ religiöser Sprache, in: Ders. (Hg.), Wie läßt sich über Gott sprechen? Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel Wittgensteins, Darmstadt 2008, 169 – 185, hier: 170. Vgl. dazu ebd. Zur Cassirer-Rezeption vgl.Werner Schüßler, Das Symbol als Sprache der Religion, 170 f., sowie Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 187– 195, hier: 188. Vgl. dazu Hans Gerald Hödl, Art. Mythos, in: Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, hrsg. v. Johann Figl, Innsbruck/Wien/Göttingen 2003, 570 – 587. Hödl hält unter anderem fest: „Ist die ‚(Ent‐)Mythologisierung‘ der christlichen Überlieferung eine erste Voraussetzung vergleichender Mythenfoschung, so ist der sich erweiternde Gesichtskreis, die zunehmende Kenntnis von Mythologien außerhalb der griechischen und jüdisch-christlichen Überlieferung als eine zweite Bedingung für das Entstehen einer vergleichenden Mythenforschung im engeren Sinn und eines erweiterten Begriffes des Mythos zu betrachten, der zunächst noch innerhalb der Frage nach dem Ursprung der Kultur, nach den Vorstufen der zeitgenössischen
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Gerald Hödl unter Verweis besonders auf das Forscherpaar Assmann – im religionswissenschaftlichen Kontext weithin als „grundlegende Symbolisierungsleistung, die je nach Standpunkt des Autors die sozialen und ökologischen Beziehungen einer Gesellschaft regelt resp. den geordneten Kosmos hervorbringt“⁴⁸, verstanden. Hödl weist aber auch auf das von den Assmanns beschriebene weite Spektrum des Terminus „Mythos“ hin, zu dem etwa ‚kulturelle Leitbilder‘ oder bestimmte Basis-Narrative gehören.⁴⁹ Mythen werden nicht mehr als „Kinderkrankheiten“ in der Menschheitsentwicklung konzipiert, sondern gelten wie Religion und Wissenschaft als Teil der menschlichen Kultur. Mythen werden zwar auch als Komponenten der Alltagskultur gesehen, die ‚Symbolisierungsleistung‘ „Mythos“ findet sich intensiv jedoch in der religiösen Geschichte und Gegenwart und ist daher Gegenstand jeder religionsbezogenen Forschung. Der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theißen (*1943) etwa greift den Begriff „Mythos“ auf, um die das christliche Weltbild begründende ChristusGeschichte als Ausdruck psychischer Transformationsprozesse der christlichen Antike verständlich zu machen. Er begreift den Mythos ebenfalls als elementares Wahrnehmungs- und Reflexionsmuster, betont jedoch vor allem den innovativen Aspekt mythisch formulierter Ätiologien: „Der Mythos ist aber mehr als eine allgemeine Anschauungs- und Denkstruktur. Er ist eine Erzählung von einer entscheidenden Wende der Welt, bei der mehrere numinose Subjekte, Götter und ihre Söhne, Teufel und Engel, eine dramatische Rolle spielen.“⁵⁰ Der postmoderne Umgang mit dem Terminus „Mythos“ verdankt sich vor allem den Theorien von E. Cassirer (1874– 1945), der 1928 seine Philosophie der symbolischen Formen veröffentlichte und der – wie Tillich – vom Idealismus Schellings herkommt.⁵¹ Der österreichische Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk (*1952) konstatiert bei Cassirer kritisch dessen Verortung des Mythos in frühen Kulturen.⁵² Ansonsten hält er zu dessen Konzept fest: „Wissenschaft (und Technik), Mythos und Religion, Kunst sowie Sprache werden als je eigene
wissenschaftlich Zivilisation, als Produkt der Kindheit der Völker diskutiert wird, sich also mehr oder minder im Rahmen der Vorstellung einer überwundenen Stufe hält.“ (A.a.O., 576 f.) A.a.O., 570. A.a.O., 570 f. Gerd Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 256. Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaft, Tübingen/Basel 2006, 48 f. Müller-Funk schreibt: „Trotz seines [sc. Cassirers] programmatischen Lobs der Vielfalt läuft sein Konzept auf eine Hierarchisierung des szientistischen Wissens hinaus, weil er den Mythos wesentlich als eine Urform fasst und dessen gemeinschaftsstiftende Wirkung hintan stellt.“ (A.a.O., 64)
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Modi der Wirklichkeitskonstruktion, wenn auch als Ausformung einer geistigen Energie verstanden.“⁵³ Er schließt sich Cassirer ferner an, wenn er schreibt: „Kultur lässt sich mit Cassirer als Gesamtheit symbolischer Formen, Prozesse und Akte begreifen und bestimmen.“⁵⁴ Damit ist bei Cassirer jene Perspektive vorbereitet, in der der „Mythos“ nicht länger als wenig entwickeltes ‚Sorgenkind‘ der Moderne gilt, sondern als mit einer eigenständigen, bedeutungsgenerierenden Funktion – z. B. der der ätiologischen Strukturierung von Weltwahrnehmung – ausgestattet verstanden wird und damit in Bezug auf andere Symbolisierungsleistungen aufgewertet ist.
4. Zu C.G. Jungs Mythoskonzept Von der gerade beschriebenen kulturwissenschaftlichen Wende war C.G Jung, einer der Pioniere der Psychoanalyse, noch weit entfernt, als er sich der Mythenexploration und Mytheninterpretation zuwandte. Wie erwähnt, war dafür zwischen 1909 und 1912 seine Untersuchung unbewusster Materialien einer jungen Amerikanerin zentral, die Jung schließlich in Symbole der Wandlung publizierte. Während dieser Zeit der Ablösung von Sigmund Freud (1856 – 1939) und eben im Zuge der genannten Untersuchung entdeckte Jung Parallelen zwischen der antiken Mythologie und zeitgenössischen unbewussten Phantasien.⁵⁵ Seine damaligen Erkenntnisse baute er schließlich zu seiner Hypothese von den „Archetypen“ und vom „kollektiven Unbewussten“ aus, was sich wie folgt resümieren lässt: „C.G. Jung hat (Freuds) Ansatz [sc. Mythen als Erläuterung psychologischer Dispositionen] in seiner Lehre von den Archetypen auf anthropologische Konstanten hin ausgeweitet, die sich als dechiffrierbarer Kerngehalt der konkreten Mythen im kollektiven Unterbewussten als dem eigentlichen Autor der Mythologien auffinden lassen.“⁵⁶
Jung versteht Mythen seitdem als Projektionen aus dem Unbewussten, die sich den von ihm angenommen Archetypen verdanken. Mythen und andere weltweit verbreitete Narrative nutzte er als Medien, über die sich erschließen lässt, was dem A.a.O., 60. A.a.O., 61. Vgl. Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, 166 f. Hans Gerald Hödl, Art. Mythos, 581. Wo der Religionswissenschaftler Hödl den Terminus ,Unterbewusstes‘ verwendet, wird in der Psychologie Jungianischer Provenienz der Begriff „Unbewusstes“ gebraucht, da so erst die entscheidende Differenz zwischen Bewusstsein und NichtBewusstsein deutlich wird.
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Bewusstsein unmittelbar nicht zugänglich ist: die Archetypen. Zum Begriff „Archetypus“ erläutert er im WS 1957/1958: Dieser „wird aus der vielfach wiederholten Beobachtung, daß zum Beispiel die Mythen und Märchen der Weltliteratur bestimmte, immer und überall wieder behandelte Motive enthalten, abgeleitet“. „Diesen selben Motiven begegnen wir in Phantasien, Träumen, Delirien und Wahnideen heutiger Individuen. Diese typischen Bilder und Zusammenhänge werden als archetypische Vorstellungen bezeichnet. Sie haben […] die Eigenschaft, von besonders lebhaften Gefühlstönen begleitet zu sein. […] Sie sind eindrucksvoll, einflußreich und faszinieren. Sie gehen hervor aus dem an sich unanschaulichen Archetypus, einer unbewußten Vorform, die zur ererbten Struktur der Psyche zu gehören scheint und sich infolgedessen überall auch als spontane Erscheinung manifestieren kann. Der Archetypus liegt seiner Instinktnatur gemäß den gefühlsbetonten Komplexen zugrunde und nimmt teil an deren relativer Autonomie. Der Archetypus ist auch die psychische Voraussetzung religiöser Aussagen und bedingt den Anthropomorphismus der Gottesbilder.“⁵⁷
Jung ist sich – wie dieses Zitat belegt – des hypothetischen Charakters seines Konzepts von der Vererbung unbewusster, archetypischer Dispositionen bewusst. Es ist nicht Aufgabe dieses Beitrags, die Diskussion um die Annahme von Archetypen und deren hereditäre Weitergabe zu referieren oder zu problematisieren. Hier geht es um die Klärung dessen, was Jung unter „Mythos“ verstand und warum er sich damit selbst in seinem Spätwerk noch auseinandersetzte. Jung hätte diese Thematik ja – nachdem er in Symbole der Wandlung (1912) Mythen einmal als „Schlüssel“ zum Unbewussten konzipieren konnte – beiseitelegen können. Er hat sich aber mit der Rezeption von Mythen zeitlebens beschäftigt, etwa indem er alchemistische Texte auf ihre tiefenpsychologische Relevanz befragte oder indem er sich wiederholt mit der jüdisch-christlichen Tradition befasste. Dabei konnte er Mythen auch rein religionswissenschaftlich definieren. So etwa in der 1950 veröffentlichten Abhandlung Aion, in der er schreibt: „Mythen sind Wundererzählungen und handeln eben von allen jenen Dingen, die sehr oft auch Glaubensgegenstände sind.“⁵⁸ Es bleibt aber bei Jung nie nur bei einer nüchtern formalen Bestimmung. Sein Interesse gilt letztlich immer dem Ursprung, der zu diesen ‚Wundererzählungen‘ führt. Er kann den Terminus „Mythos“ daher auch weit fassen und – beinahe wie im in Pkt. 3 beschriebenen aktuellen Mythosverständnis – für Phänomene der Alltagskultur verwenden. So publiziert er 1958 die Broschüre Ein moderner Mythus:Von Dingen, die am Himmel gesehen werden, in der er sich zu
Carl Gustav Jung, Das Gewissen in psychologischer Sicht, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10: Zivilisation im Übergang, hrsg. v. Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf, Düsseldorf 1995, 475 – 495, hier: 488 f. Carl Gustav Jung, Aion, Beiträge zur Symbolik des Selbst, 44.
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‚Ufos‘ äußert.⁵⁹ Berichte von Ufo-Wahrnehmungen erinnern ihn offenbar doch an ‚Wundererzählungen‘. Jung streitet die Existenz der ‚Ufos‘ nämlich nicht ab, lässt sich aber auch nicht einfach auf die Behauptung der physischen Realität eines Phänomens festlegen, das sich – wie eben ein ‚Wunder‘ – der rational nachvollziehbaren physikalischen Erklärung zu entziehen scheint. Deutlich wird dies in seinen Kommentaren zum Thema ‚Ufo‘, wenn Jung die tiefenpsychologische Bedeutung dieses „Mythos“ hervorhebt: „Dazu muß ich nun bemerken, daß, auch wenn die Ufos physisch wirklich sind, die entsprechenden psychischen Projektionen dadurch nicht eigentlich verursacht, sondern nur veranlaßt sind. Mythische Behauptungen solcher Art waren mit und ohne Ufos schon immer vorhanden. Vor der Zeit der Ufobeobachtungen ist allerdings niemand auf den Gedanken verfallen, jene mit diesen zu verknüpfen. Die mythische Aussage beruht in erster Linie auf der eigentümlichen Beschaffenheit des psychischen Hintergrundes, des kollektiven Unbewußten, und dessen Projektion hat daher schon immer stattgefunden.“⁶⁰
Jung geht allerdings auch davon aus, dass der „Mythus“ ‚Ufo‘ für seine Gegenwart insofern signifikant ist, als er die Lücke füllt, die durch das Nachlassen der Faszination der christlichen Religion in Teilen der westlichen Welt entstand.⁶¹ Er sieht das Phänomen ‚Ufo‘ als Resultat der unbewussten psychischen Kontraste und Defizite der Nachkriegszeit: „Zwischen psychischen Gegensätzen entsteht ein zunächst unbewußtes ‚vereinigendes Symbol‘. Dieser Prozeß ereignet sich im Unbewußten des zeitgenössischen Menschen. Zwischen den Gegensätzen bildet sich spontan ein Symbol der Einheit und Ganzheit […]. Geschieht nun in der Außenwelt etwas Außergewöhnliches oder Eindrucksvolles, […] so kann sich der unbewußte Inhalt darauf projizieren. Dadurch wird der Projektionsträger numinos und mit mythischen Kräften ausgestattet. Kraft seiner Numinosität wirkt er in höchstem Maße suggestiv und eignet sich eine Legende an, die sich seit uralters in ihren Grundzügen wiederholt. Den Anlaß zu der Manifestation der latenten psychischen Inhalte gibt das Ufo.“⁶²
Wo Mythen engagiert rezipiert werden, beobachtet Jung mithin ‚lebhafte Gefühlstöne‘⁶³ oder eben die ‚Kraft der Numinosität‘. Deutlich wird in dieser Be-
Carl Gustav Jung, Ein moderner Mythus. Von Dingen, die am Himmel gesehen werden, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10: Zivilisation im Übergang, hrsg. v. Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf, Düsseldorf 1995, 337– 474. Jung verwendet die lateinische Form für den heute üblichen Terminus „Mythos“. Mit den Dingen, die am Himmel gesehen werden, sind ‚Ufos‘ gemeint: unidentified flying objects. A.a.O., 450 f. Vgl. dazu a.a.O., 451. A.a.O., 452. Vgl. dazu Carl Gustav Jung, Das Gewissen in psychologischer Sicht.
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griffswahl der Einfluss von Rudolf Otto, der den Begriff der Numinosität für Erfahrungen entwickelt hatte, die er als ‚religiös‘ wahrnahm.⁶⁴ Während R. Otto das Numinose aber als Auswirkung des von ihm als radikal transzendent angenommen ‚Heiligen‘ begriff, konzeptualisiert der Tiefenpsychologe C.G. Jung das ‚Numinose‘ als ein dem Bewusstsein zugängliches Signal des Unbewussten sowie der Dynamik unbewusster archetypischer Dispositionen. Mythen gelten Jung jedoch nicht nur einfach als Projektionen des Unbewussten; sie partizipieren für ihn vielmehr an der Energie, die Jung dem Unbewussten zuschreibt. Ferner gilt: Der dem Bewusstsein zugängliche Prozess der Mythentransformation symbolisiert unbewusste Wandlungen im kollektiven Unbewussten bzw. dessen archetypischer Strukturen. Mythen und Mythenveränderungen prägen daher nicht nur nicht-naturwissenschaftlich basierte Kulturen; da sie als Ausdruck des von ihm postulierten kollektiven Unbewussten für Jung wesentlich zum Menschen gehören, entfalten sie ihr einflussreiches Potential selbst in einem sich als ‚rational‘ oder aufgeklärt verstehenden Milieu, das deren Macht nicht unbedingt wahrhaben will.⁶⁵ Jung hält es daher für die Aufgabe jeder Generation im Interesse ihrer Selbstreflexivität und optimalen Selbstfürsorge, sich über die Mythen mit den eigenen unbewussten, aber hoch wirksamen Prozessen auseinanderzusetzen. Er konstatiert: „In Wirklichkeit kommt man von der archetypischen Grundlage legitimerweise nie los […]. Wenn man nun die Archetypen nicht wegleugnen oder sonstwie unschädlich machen kann, so ist jede neu errungene Stufe von kultürlicher Bewußtseinsdifferenzierung mit der Aufgabe konfrontiert, eine neue und der Stufe entsprechende Deutung zu finden, um nämlich das in uns noch existierende Vergangenheitsleben mit dem Gegenwartsleben, das jenem zu entlaufen drohte, zu verknüpfen.“⁶⁶
Vgl. dazu Gregory D. Alles, Rudolf Otto (1869 – 1937), in: Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hrsg. v. Axel Michaels, München 22004, 198 – 210, hier: 204 f. Zum Entstehen und zur geschichtlich frühen, anthropologisch konstanten Bedeutung der Mythengenerierung sowie ihrer vitalisierenden Funktion schreibt Carl Gustav Jung z. B.: „Die primitive Geistesverfassung erfindet keine Mythen, sondern sie erlebt sie. Die Mythen sind ursprünglich Offenbarungen der vorbewußten Seele, unwillkürliche Aussagen über unbewußtes seelisches Geschehen, und nichts weniger als Allegorien psychischer Vorgänge. Solche Allegorien wären ein müßiges Spiel eines unwissenschaftlichen Intellekts. Mythen hingegen haben eine vitale Bedeutung. Sie stellen nicht nur dar, sondern sind auch das seelische Leben des primitiven Stammes, der sofort zerfällt und untergeht, wenn er sein mythisches Ahnengut verliert.“ (Ders., Zur Psychologie des Kindarchetypus, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 9.1: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, hrsg. v. Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf, Düsseldorf 1995, 163 – 195, hier: 168. Der Text erschien erstmals 1941.) A.a.O., 171.
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Wegen der Präsenz der unbewusst wirksamen Mythen mitten in einer risikoreichen Gegenwart plädiert Jung für die intensive und weit gestreute Lektüre symbolischen Materials, erhofft er sich doch auf dem Weg des achtsamen Umgangs mit Unbewusstem eine höhere Verantwortlichkeit des Menschen für sich selbst, zumindest eine seelische Weiterentwicklung.⁶⁷ Zu dieser von Jung selbst – z. B. in seiner Reflexion von alchemistischen, gnostischen, biblischen oder anderen als mythisch rezipierten Traditionen – praktizierten Lektüremethode bleibt noch anzumerken, dass er sich bereits früh (1921) von einem bloß zeichenhaften Verständnis solcher Texte abgrenzte. Am Beispiel seines Kommentar zum Symbol „Kreuz“ sei gezeigt, dass es Jung in seinem symbolischen Verständnis letztlich um die Erkundung eines Bedeutungsüberschusses ging: „Symbolisch […] ist diejenige Erklärung des Kreuzes, welche es über alle erdenkbaren Erklärungen hinaus als einen Ausdruck eines bis dahin unbekannten und unverstehbaren mystischen oder transzendenten, d. h. also zunächst psychologischen Tatbestandes, der sich schlechthin am treffendsten durch das Kreuz darstellen lässt, ansieht.“⁶⁸ Zum psychologisch relevanten „Symbol“ kann für Jung nicht nur jenes kulturelle Material werden, das auch umgangssprachlich als ‚symbolisch‘ begriffen wird, sondern – Jahrzehnte später – eben z. B. auch die ‚Ufos‘, hatte er doch früh definiert: „[…] ist jede psychologische Erscheinung ein Symbol unter der Annahme, daß sie noch ein mehreres oder anderes besage oder bedeute, das sich der gegenwärtigen Erkenntnis entziehe“⁶⁹. Insbesondere nachdem mit dem Holocaust und der Atombombe nach 1945 das destruktive Potential der menschlichen Spezies offenkundig geworden war, beschäftigte Jung sich konzentriert mit der Symbolik des von ihm als zentral angenommenem Archetypus‘ des „Selbst“, dem Umfang und der Mitte der Persönlichkeit.⁷⁰ Zu diesem Archetyp erläutert Verena Kast: „Da der Archetyp des Selbst der zentrale Archetyp ist, ist er nun von einer besonderen Emotion begleitet, einer Emotion der Ergriffenheit, der absoluten Sinnhaftigkeit, verbunden mit einem Lebensgefühl des selbstverständlichen In-sich-Stehens, und darin auch der
Vgl. dazu z. B. das Interview, das Georges Duplain mit Jung 1959 führte: An den Grenzen des Wissens, in: C.G. Jung, Ein großer Psychologe im Gespräch. Interviews, Reden, Begegnungen, hrsg. v. Robert Hinshaw/Lela Fischli, Freiburg (i.Br.) 1994, 281– 296. Carl Gustav Jung, Definitionen. Symbol, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 6: Psychologische Typen, hrsg. v. Marianne Niehaus-Jung/Lena Hurwitz-Eisner/Franz Riklin u. a., Düsseldorf 1995, 507– 515, hier: 508 (Herv. E.G.). Bei Band 6 der Gesammelten Werke handelt es sich um die 1992 revidierte Neuausgabe von Psychologische Typen. A.a.O., 509. Vgl. dazu a.a.O., 505 f.
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Verbundenheit mit einem größeren Ganzen.“⁷¹ In Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst (1950) z. B. stellte Jung seine Sicht des psychischen Hintergrunds des Christusmythos dar. Die Frage, der Jung in jenen Jahren unter anderem nachging,⁷² war, inwieweit sich aus der im Christentum überlieferten bzw. aktualisierten Mythologie eine Entwicklung im Zentrum des Menschen ablesen ließ, die diesen befähigte, mit seinen eigenen Möglichkeiten lebensfreundlich umzugehen. In Aion beobachtete er noch Defizite im traditionellen trinitarisch verfassten christlichen Gottesbild und rekurrierte auf alchemistische oder gnostische Mythen bzw. Symbole, um dort jene Quaternität zu finden, die für ihn den Archetypus des Selbst, der Ganzheit, angemessen versinnbildlicht. So schreibt er resümierend: „Sie [sc. die Gnostiker] stellen daher, wie die Alchemisten, eine wahre Fundgrube dar für alle jene Symbole, die sich aus der weiteren Entwicklung der vom Evangelium ausgehenden Wirkung ergeben. Zugleich bedeuten ihre Ideen aber auch Kompensationen für die durch die Lehre von der privatio boni gesetzte göttliche Asymmetrie, ganz nach der Art der uns wohlbekannten modernen Tendenzen des Unbewußten, Ganzheitssymbole herzustellen zur Überbrückung des Risses, der sich zwischen dem Bewußtsein und dem Unbewußten gebildet und allmählich in gefährlicher Weise bis zur weltanschaulichen Desorientiertheit erweitert hat.“⁷³
Nachdem die katholische Kirche aber 1950 mit dem Dogma der Assuptio Mariä die christliche Gotteserzählung tendenziell erweitert hatte, womit Jung sich im Essay Antwort auf Hiob (1952)⁷⁴ ausführlich auseinandergesetzt hatte, sah er auch in dieser Mythologie eine neue Tendenz zur Integration bisher in der christlichen Tradition negierter Komponenten. So hält er 1959 fest: „Die Erde muß aber akzeptiert, bejaht, vielleicht sogar sublimiert werden. Viele Mythen und Religionen veranschaulichen dies. Das Dogma von der Himmelfahrt Mariä bedeutet im Grunde genommen ein Akzeptieren der Materie, ja sogar ihre Heilung.“⁷⁵
Verena Kast, Die Dynamik der Symbole. Grundlagen der Jungschen Psychotherapie, Olten 1992, 135. 1959 kann Jung z. B. in einem Interview sagen: „Wir benötigen eine größere Kenntnis der menschlichen Natur, denn die einzige wirkliche Gefahr, die es gibt, ist der Mensch selber.“ (Das „Face to Face“-Interview mit John Freeman für die BBC, in: C.G. Jung, Ein großer Psychologe im Gespräch. Interviews, Reden, Begegnungen, hrsg. v. Robert Hinshaw/Lela Fischli, Freiburg [i.Br.] 1994, 264– 281, hier: 277) Carl Gustav Jung, Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, 284. Carl Gustav Jung., Antwort auf Hiob. Carl Gustav Jung, Gespräche mit Miguel Serrano, in: Ders., C.G. Jung, Ein großer Psychologe im Gespräch. Interviews, Reden, Begegnungen, hrsg. v. Robert Hinshaw/Lela Fischli, Freiburg (i.Br.) 1994, 249 – 263, hier: 260.
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Jung begriff Mythen nicht nur als vom Unbewussten generiert und von diesem mit emotionalisierender, aktivierender Energie ausgestattet; er sah sie auch als Indikatoren transformativer Prozesse. Auf diesem Hintergrund vertrat er bis in sein hohes Alter eine Lesart mythischen Materials jedweder Provenienz – z. B. astrologischen, christlichen oder auch technologischen Ursprungs –, die ihn zu der Überzeugung veranlasste, eine neue Ära menschlicher Differenzierung bereite sich vor. Zu den Anstrengungen, die dies unterstützen, und zu seiner Erwartung abschließend noch einmal Jung: „Es gibt so viele mögliche Ausdrucksformungen für die Wahrheit.Wir müssen einfache Worte finden für die Wahrheiten; wir müssen versuchen, uns der lebendigen Wahrheit, die hinter den Dingen ist, zu nähern; das ist die älteste Bemühung der Menschheit. […] Es werden noch ein oder zwei Jahrhunderte vergehen bis zum Ausbruch dieses neuen Zeitalters […]. Der Mensch muss noch viele Erfahrungen machen.Viele Dinge müssen sich ändern, bevor dieser neue Lebensstil geboren werden kann, diese neue Formel zur Vollendung des Menschen.“⁷⁶
Mehr noch als Freud trug Jung zur Rehabilitierung auch zeitgenössischer Mythenbildungsprozesse in einer szientistisch orientierten Epoche bei, indem er ihnen als ein Arzt Aufmerksamkeit schenkte, der der Empirie im Umgang mit der menschlichen Psyche verpflichtet ist. Er interessierte sich als Erforscher affektiver und mentaler Prozesse für Religion, also auch für den christlichen Mythos, denn er war – so Jung 1952 im Interview mit Mircea Eliade – der Überzeugung: „Der innere Konflikt offenbart sich auf der psychischen Ebene in denselben Bildern und Symbolen, die in jeder Religion zu finden sind und die auch von den Alchemisten gebraucht wurden.“⁷⁷ Jung betont wiederholt, dass er sich als Mediziner mit mythischen Traditionen befasst⁷⁸, gleichwohl ähnelt er insbesondere im Spätwerk in seiner Mythenrezeption einem Visionär. Es scheint manchmal, als sei er selber ab und an der faszinierenden, kritische Distanz erschwerenden Wirkung von Mythen erlegen. Er blieb jedenfalls bis ins hohe Alter ein interessierter Beobachter der Entwicklung insbesondere des christlichen Mythos und bezog dessen Differenzierung auf die Transformation des von ihm angenommenen unbewussten, zentralen und zentrierenden ‚Archetypus des Selbst‘. Er hoffte, in der Innovation des fundierenden christlichen Narrativs ein Indiz dafür erkennen zu dürfen, dass der Mensch seiner eigenen Gestaltungsgewalt gewachsen sein könnte.
Carl Gustav Jung, An den Grenzen des Wissens, 293. Eliades Interview für die Zeitschrift Combat, in: C.G. Jung, Ein großer Psychologe im Gespräch. Interviews, Reden, Begegnungen, hrsg. v. Robert Hinshaw/Lela Fischli, Freiburg (i.Br.) 1994, 76 – 86, hier: 81 f. Vgl. a.a.O., 82.
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Insbesondere in seinem Spätwerk ist die Mythosrezeption bei C.G. Jung wegen der Schlüsselfunktion für das kollektive Unbewusste, die er den Mythen zuschreibt, somit bestimmt von seiner – immanent orientierten – Hoffnung auf die menschliche Evolution.
5. Zum Mythosverständnis von Paul Tillich Tillich begreift die „Seele“ als auf die mythische Form angewiesen, da für ihn gilt, „daß das Seelische, auch das Seelische einer Kultur, geradezu durch die Beziehung auf das Unbedingt-Transzendente definiert werden muß. Da, wo das Seelische – abgesehen von allen Sachbeziehungen – sich selbst ausspricht, spricht es sich religiös aus.“⁷⁹ Wie das ‚Seelische‘, das hier nicht näher definiert werden soll und sich einer exakten Definition auch für Tillich wohl ohnehin entzieht, konstitutiv zum Menschlichen gehört, so ist prinzipiell der Mythos eine anthropologische Konstante. Tillich geht davon aus, dass „in ihm […] der tragende Grund des menschlichen Geisteslebens und des Seins überhaupt, die Gebundenheit an das Unbedingte, an das Jenseits des Seins“ (GW V, 195) zum Ausdruck kommt. Mythen finden sich – so Tillich – auch in wissenschaftszentrierten Kulturen. Er sucht den Mythos in einem Umfeld zu rehabilitieren, in dem die Sinn oder Ordnung schaffende Funktion von Mythen, die E. Cassirer bereits herausgearbeitet hatte, zwar schon bekannt, aber noch nicht allgemein akzeptiert waren. Gerade im gebildeten christlichen Milieu war der Mythos wegen des szientistisch fundierten Weltbilds vieler Kirchenmitglieder obsolet geworden. Gern wurde daher – wie in 2.2 bereits erwähnt – das ‚Entmythologisierungskonzept‘ von Bultmann aufgegriffen. In seinen Plädoyers für den Mythos grenzt Tillich sich sowohl gegen ein unreflektiertes Festhalten an mythischen Motiven als auch gegen die radikale Relativierung des Mythos als ‚historisch‘ ab. Für ihn ist Mythos nicht schlicht nur „Göttergeschichte“, sondern er bedarf eines differenzierenden Verständnisses. Seine eigene Überzeugung formuliert Tillich z. B. wie folgt: „Danach ist der Mythos das aus Elementen der Wirklichkeit aufgebaute Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte oder Seins-Jenseitige. Der Mythos hat Realität; denn er ist gerichtet auf das Unbedingt-Reale. […] Aber er hat nicht die Realität eines Abbildes: denn er lebt in Symbolen, die freilich nicht willkürlich sind, sondern je nach der Erfassung des Unbedingten einer bestimmten […] Gesetzmäßigkeit unterworfen sind.“ (GW V, 188 f.)
Paul Tillich, Das religiöse Symbol, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 196 – 212, hier: 201.
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Symbole werden hier zu Komponenten des Mythos;⁸⁰ ihre Funktionen und ihre Verwendung geben somit Aufschluss über das, was der Mythos ‚leistet‘: Mythen bilden nicht ab, sie verweisen. Als aus Symbolen geschaffene ‚religiöse‘ Narrative verweisen sie auch auf das, was Tillich als spezifische Funktion ‚religiöser‘ Symbole aufzeigt: Sie sind „Veranschaulichungen dessen […], was die Sphäre der Anschauung unbedingt übersteigt, des im religiösen Akt Letztgemeinten, des Unbedingt-Transzendenten“ (GW V, 197). Aufgrund ihres illustrativen und damit kulturell gebundenen Charakters rufen Mythen jedoch auch – so Tillich – in den elaborierten, globalen Religionen Kritik hervor, denn „es gehört gerade zum Wesen des Unbedingten, daß es jenseits von Raum und Zeit ist“.⁸¹ Mythenkritischen Positionen, die Tillich genauso im traditionellen Monotheismus wie in der Theologie seiner Gegenwart wahrnimmt, begrüßt er daher.⁸² Weil ihm aber die mythische Form der menschlichen Apperzeption adäquat zu sein scheint und er den Mythos als „Verknüpfung von Symbolen, die ausdrücken, was uns unbedingt angeht“ (GW VIII, 146), für anthropologisch gegeben hält, plädiert Tillich für eine Lektüre des Mythos als ‚gebrochenem‘: „Ein Mythos, der als Mythos verstanden wird, ohne verworfen oder ersetzt zu werden, kann als ‚gebrochener Mythos‘ bezeichnet werden.“ (Ebd.) Diese Form des Mythos stiftet allerdings nicht mehr die ‚Geborgenheit‘ oder Freiheit vom eigenen Denken, die nach Tillich in ‚primitiven‘ oder autoritär strukturierten Kollektiven möglich oder erwünscht ist (vgl. ebd.). Dafür ermöglicht das Bewusstsein der Gebrochenheit auch des religiösen Mythos ‚selbstständiges Denken‘ sowie letztlich den radikalen Verzicht auf die Bindung des ‚Unbedingten‘ an bedingte Formen. Tillich formuliert das z. B. so: „Der Glaube hingegen, der sich des symbolischen Charakters seiner Symbole bewußt ist, gibt Gott die Ehre, die ihm gebührt.“ (GW VIII, 147) Den christlichen Mythen schreibt Tillich wegen deren monotheistischer Zentrierung die Leistung zu, ein ungebrochen mythisches Verständnis natürlicher Rhythmen zu überwinden. Gleichwohl bleibt für ihn auch diese stark geschichtlich ausgerichtete Tradition notwendig „mythisch“. Er konstatiert: „Wenn der Gott der Schöpfung ein Volk auswählt und durch die Geschichte zu einem Ziel hinführt, das alle Geschichte transzendiert, so ist das ein Geschichtsmythos. Wenn der Christus, ein transzendentes, göttliches Wesen, in der Fülle der Zeit erscheint, lebt, stirbt und aufersteht, ist das abermals ein Geschichtsmythos. Das Christentum ist die Kritik an allen Religionen, die an Naturmythen gebunden sind. Aber das Christentum spricht wie jede
Zur konstitutiven Verbindung von Mythischem und Symbol vgl. auch Paul Tillich, Das religiöse Symbol, GW V, 206. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 111– 196, hier: 145. Vgl. dazu ebd. sowie Werner Schüßler, Das Symbol als Sprache der Religion.
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andere Religion die Sprache des Mythos. Es ist zwar gebrochener Mythos, aber es handelt sich dennoch um einen Mythos, sonst würde das Christentum nicht Ausdruck dessen sein, was uns unbedingt angeht.“ (GW VIII, 148)
Der Philosoph und Theologe Tillich arbeitet eine Mythen- und Symboltheorie aus, in der er Kontext und Geltungsbereiche von Mythos und Symbol bestimmt, ihre unterschiedlichen Ebenen und Funktionen beschreibt sowie ihre historische Entwicklung beleuchtet.⁸³ Er skizziert Prozesse und Konsequenzen der Emanzipationen von Mythos, Religion und Wissenschaft im Abendland und diskutiert dabei auch kritisch zeitgenössische Mythenrezeptionen.⁸⁴ Ziel dieser intensiven Analysen ist m. E. letztlich die Klärung der Bedeutung des zentralen religiösen Mythos – Gott –; und dies auf dem Hintergrund seiner existentialen Anthropologie und Ontologie. Tillich verweist unter anderem auf die existenzielle Ungesichertheit des Lebens: „[E]xistentieller Zweifel ist Ursache und Ausdruck der Verzweiflung. Er ist weder Zweifel an bestimmten Behauptungen und Aussagen noch am Gesamt aller Aussagen, sondern der Zweifel am Sinn des Seins.“⁸⁵ Diese Sicht des Seins sieht Tillich sowohl in der Existentialanalyse als auch in seinem Mythosverständnis: „Die Existentialanalyse drückt in Begriffen das aus, was der religiöse Mythos zu allen Zeiten über die Situation des Menschen ausgesagt hat. […] Sie lehrt jene Symbole und Mythen verstehen, die um die Beziehung des Menschen zu Gott zentriert sind. Die Existenzialanalyse behandelt die Endlichkeit des Menschen, die in der Angst erfahren wird. Das mythologische Symbol für diese Erfahrung ist die Geschöpflichkeit des Menschen.“ (GW V, 231)
„Gott“ bezeichnet Tillich als das „grundlegende und allumfassende Symbol der Religion“ (GW V, 235). Als exemplarisch für das Gottesbild, das Tillich reflektiert und präsentiert, sei zuerst eine Bemerkung zum ‚Jahwemythos‘ zitiert: „In das mythische Bild Jahwes ist die Transzendenz in radikaler Fassung eingedrungen. Jahwe erhält die Unbedingtheit, die im religiösen Akt gemeint ist.“ (GW V, 203) Zweitens sei auf Tillichs Kommentar zum Symbol „Kreuz“ verwiesen, zeigt er doch dabei die Möglichkeit der Selbstrelativierung von Symbolen: „Im Symbol des Kreuzes, das im Mittelpunkt aller christlichen Symbolik steht, ist wohl die radikalste Kritik an der Verabsolutierung von heiligen Gegenständen und Personen dargestellt. […] Negativ kann man […] sagen, daß ein religiöses Symbol um so ‚wahrer‘ ist, je mehr
Vgl. dazu z. B. Paul Tillich, Mythos und Mythologie sowie Ders., Das religiöse Symbol; ferner Ders., Wesen und Wandel des Glaubens, bes. 144– 148. Vgl. z. B. Paul Tillich, Mythos und Mythologie. Paul Tillich, Existenzialanalyse und religiöse Symbole, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 223 – 236, hier: 230.
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es der Verabsolutierung und der wörtlichen Interpretation widersteht und je entschiedener es dadurch, daß es sich selbst negiert, über sich hinausweist auf das ‚Heilige-Selbst‘, die tragende Mächtigkeit des Seins und Sinns.“⁸⁶
Dieses Zitat macht deutlich, dass Tillich in eine begriffliche Sprache ausweichen muss, wenn er sich reflexiv, theoretisch dem maßgeblichen religiösen Symbol nähert. So etwa, wenn er in der Reflexion der Existenzgewissheit schreibt: „Gott ist im Licht dieser Frage die Macht des Seins-Selbst, die über das Nicht-Sein herrscht, die Entfremdung überwindet und uns den Mut schenkt, die Angst von Endlichkeit, Schuld und Zweifel auf uns zu nehmen.“ (GW V, 236) Tillich war sich der Problematik, die in seinem Postulat der Notwendigkeit mythisch-symbolischer, nicht verdinglichender Rede und der gleichzeitigen Unentrinnbarkeit einer begrifflichen theologischen Sprache lag, bewusst.⁸⁷ Wesentlich für Tillichs Mythosverständnis scheint mir – ungeachtet der terminologischen Probleme seiner Ontologie –, dass sein Mythosbegriff primär von seiner existentialen Anthropologie und Ontologie geprägt ist, da in diesen eine adäquate Form für das fundierende, das seinsvergewissernde Narrativ gebraucht wird. Diese Form bietet das Mythoskonzept, das Tillich entwickelt. Denn im Mythos, wie reflektiert und latent er auch sein mag, „kommt zum Ausdruck der tragende Grund […] des Seins überhaupt, die Gebundenheit an das Unbedingte, an das Jenseits des Seins“ (GW V, 195).⁸⁸ In symbolischer Form wird dies nach Tillich so ausgedrückt: „Wenn wir symbolisch reden, nennen wir ihn [sc. Gott] das höchste Wesen, in dem alles Endliche in höchster Vollkommenheit vereinigt ist.“ (GW V, 218)
6. Vergleich und Ausblick C.G. Jung und P. Tillich, zwei Pastorensöhne, Söhne also von ‚Mythenspezialisten‘, gehen beide von der Bedeutsamkeit von Mythen auch in nachaufklärerischen Zeiten aus und können damit als Wegbereiter gegenwärtiger Mythoskonzepte gesehen werden. Beide sind aber noch einem eher romantischen Mythosverständnis verpflichtet, in dem eine nicht-symbolische Mythosrezeption noch Kulturen zugeschrieben wird, die als ‚archaisch‘ oder ‚primitiv‘ bewertet werden.
Paul Tillich, Recht und Bedeutung religiöser Symbole, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie. GW V, Stuttgart 1964, 237– 244, hier: 243. Vgl. dazu Werner Schüßler, Das Symbol als Sprache der Religion, 175. Vgl. auch Paul Tillich, Mythos und Mythologie, GW V, 195.
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Beide – C.G. Jung und P. Tillich – gehen von der Wirksamkeit von Mythen aus, die sie unter anderem beide in ihrer potentiell heilsamen Wirkung sehen. So schreibt C.G. Jung: „Aber während persönliche Prozesse nie mehr als einen persönlichen Standpunkt produzieren, schaffen Archetypen Mythen, Religionen und Philosophien, die ganze Nationen und geschichtliche Epochen charakterisieren. Wir betrachten die persönlichen Komplexe als Kompensationen für einseitige oder falsche Bewusstseinseinstellungen; ähnlich können Mythen religiöser Natur interpretiert werden als eine Art geistiger Therapie für die Leiden der Menschheit – Hunger, Krieg und Krankheit, Alter und Tod.“⁸⁹
Bei Tillich scheint die heilende Funktion mythischer Texte auf den ersten Blick von eher beiläufiger Bedeutung, spricht er doch nur in einem Nebensatz davon, dass religiöse Symbole „heilende Kräfte personhafter und nicht-personhafter Art verkörpern“ (GW V, 234). Berücksichtigt man aber, dass Tillich Erlösungsmythen eine entlastende, aufrichtende Funktion zuschreibt (vgl. GW V, 236), dann wird deutlich, dass kurative oder protektive Dimensionen auch in seinem Mythoskonzept von erheblichem Gewicht sind. Beide – C.G. Jung und P. Tillich – wissen um mythische Wandlungsprozesse. Beide plädieren für eine symbolische Lektüre mythischer Traditionen. Hier allerdings zeigt sich auch die Differenz zwischen beiden. Dem tiefenpsychologischen Pionier C.G. Jung ging es nicht primär um die spezifische, einzigartige Aussagefunktion mythischer, religiöser Narrative, sondern um die Erkundung von Archetypen. Er erforschte Mythen, weil sie dem Bewusstsein zugängliches Material von dem Bewusstsein sich entziehenden Faktoren boten. Seine Perspektive formuliert er z. B. so: „Je näher wir die Wurzel eines ‚kollektiven Bildes‘ (oder in der Kirchensprache ausgedrückt: eines Dogmas) untersuchen, desto deutlicher sehen wir ein scheinbares endloses Gewebe von archetypischen Mustern, die erst in neuerer Zeit Gegenstand bewusster Reflektion geworden sind. Wir wissen heute paradoxerweise mehr über mythologische Symbolik als irgendeine Generation vor uns.“⁹⁰
P. Tillich dagegen interessierten weniger konkrete, ‚bedingte‘ physische oder psychische Dynamiken – seien sie bewusst oder unbewusst. Metaphysik nicht fürchtend, entwickelte er z. B. die Kategorie des ‚gebrochenen Mythos‘ (GW VIII, 146), die es wegen der darin enthaltenden Mythenkritik überhaupt erst ermögli Carl Gustav Jung, Zugang zum Unbewussten, in: Der Mensch und seine Symbole, hrsg. v. Carl Gustav Jung/Marie-Louise von Franz/John Freeman, Solothurn/Düsseldorf 141995 (Sonderausgabe), 18 – 103, hier: 79. A.a.O., 81.
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che, gerade das vom und im Rahmen des Mythos sich Präsentierende als diesen Rahmen total Überschreitendes deutlich und bewusst zu halten. Der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich sucht eben nicht nur nach immer noch immanenten archetypischen Mustern, sondern analysiert an der Grenze zu dem, was alle – inklusive der intrapsychischen, aber noch immer immanenten ‚Transzendenz‘ des Bewusstseins – Immanenz transzendiert und fundiert. Gerade aber weil er den Mythos als eigenständige Kulturleistung anerkennt, erweist er sich als mythen- und zugleich begriffskritisch. So etwa, wenn er auf die religionsreflexive Funktion der Theologie zurückgreift: „Der religiöse Symbolismus gibt dieser Qualität [sc. des ‚Sein-Selbst‘, dessen, ‚was uns unbedingt angeht‘] göttliche Namen. Aber die klassische Theologie hat immer betont, daß das mit diesem Namen Bezeichnete alle Namen und Bilder unendlich transzendiert.“ (GW V, 241) Da im von Jung initiierten therapeutischen Ansatz mit der Wertschätzung der Erfahrung eines ‚ungebrochenen Mythos‘, der sich eben durch den Eindruck emotionaler Numinosität auszeichnet, gerade die Mythoserfahrung für den therapeutischen Prozess von enormer Bedeutung ist, scheint hier eine Differenz zur Position von Tillich vorzuliegen. In der Psychotherapie Jungscher Provenienz geht es jedoch sehr wohl um eine ‚Brechung‘ des ‚mythischen‘ Erlebens im Licht der Reflexion. Die therapeutische Praxis der analytischen Psychologie hat zum Ziel, durch den interpsychischen und intrapsychischen Dialog Bewusstsein und Distanz zur ‚Mythoskonfrontation‘ zu erreichen, dessen individuelle Bedeutung zu evaluieren, zu konkretisieren und kreativ/reflexiv zu differenzieren.⁹¹ Da es dabei um die Bearbeitung und Entwicklung von mythischem Material geht, zeigen sich bezüglich des Konzepts vom ‚gebrochenen Mythos‘ doch auch klar Parallelen in den Mythos-Theorien von Tillich und Jung. Dies wird noch deutlicher, berücksichtigt man den tiefenpsychologischen Ansatz von Jung (Pkt. 4) insgesamt, werden Mythen dabei doch – bei aller durchaus auch spürbaren Faszination von deren emotionalen Effekten – als Projektionen des Unbewussten konzeptualisiert. Als Beispiel für die dennoch vorhandene, professionsbedingten Differenz der Interpretationen mythischer Traditionen sei auf die Kommentare von Jung und Tillich zum Symbol „Kreuz“ verwiesen. Während bei Jung die ‚symbolische‘ Lektüre etwa des den christlichen Mythos zentral repräsentierenden Symbols „Kreuz“ zu einem von ihm favorisierten Verständnis führt, das er ‚psychologisch‘ nennt,⁹² realisiert das Symbol „Kreuz“ nach Tillich potentiell eine ideologiekritische, alles Bedingte radikal relativierende Funktion (vgl. GW V, 243). Vgl. dazu Carl Gustav Jung, Die transzendente Funktion (1916), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8: Die Dynamik des Unbewussten, hrsg. v. Marianne Niehaus-Jung/Lena Hurwitz Eisner/Franz Riklin u. a., Düsseldorf 1995, 79 – 108. Vgl. dazu Carl Gustav Jung, Definitionen. Symbol, 508.
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C.G. Jung und Paul Tillich sind einander wohl 1936 und 1955 auf den von C.G. Jung geprägten, interdisziplinären Eranos-Tagungen begegnet.⁹³ Ihre Forschungsgebiete überschnitten sich; sie arbeiteten gleichwohl auf verschiedenen Wissensgebieten. Ihre Forschungen dienten unterschiedlichen Zwecken. Sie haben einander aber durchaus befruchtet, wobei Tillich vielleicht mehr von Jung rezipieren konnte, interessierte ihn doch auch die immanente Dynamik von Mythen. Tillich zitiert Jung,⁹⁴ der selbst aber auf diesen – zumindest in den 20 Bänden seiner Gesammelten Werke – nicht namentlich Bezug nimmt. Jung, der als Wissenschaftler der Empirie seines Faches verpflichtet blieb, hat allerdings möglicherweise doch von Tillich Impulse übernommen – etwa wenn er in Erinnerungen, Träumen, Gedanken sein Wissen um die Bedingtheit des tiefenpsychologischen Konzepts und dessen Termini andeutet: „In der richtigen Erkenntnis, dass sie [sc. besondere, als ‚numinos‘ erlebte Erfahrungen] nicht seiner bewussten Persönlichkeit entspringen, bezeichnet er [sc. der Mensch] sie als Mana, Dämon oder Gott. Die wissenschaftliche Erkenntnis bedient sich des Terminus ‚das Unbewusste‘ und gibt damit zu, dass sie darüber nichts weiss, denn sie kann über die Substanz der Psyche darum nichts wissen, weil sie ja nur mittels der Psyche überhaupt erkennen kann.“⁹⁵
Der Religionsphilosoph Paul Tillich hat sich sicher mehr als C.G. Jung um die Klärung der Kategorie „Mythos“ bemüht, gehörte diese doch genuin in sein philosophisch bzw. theologisches Aufgabengebiet.⁹⁶ Er hat so auch die Differenzierungen mit vorbereitet, die das Forscherpaar Assmann 1998 vorschlug. Zwar unterscheiden Tillich und Jung nicht jene zwischen dem Mythos als ‚grundlegender Symbolisierungsleistung‘, ‚Alltagsmythen‘ oder Narrativen mit unterschiedlich weitreichenden Funktionen.⁹⁷ Da sich aber sowohl C.G. Jung als auch P. Tillich immer wieder auf zentrale bzw. fundierende mythische Motive, Narrative oder symbolische Bilder konzentrieren (Tillich auf Mythen um das Thema ‚Gott‘, Jung auf solche zum ,Archetyp des Selbst‘), sind beide doch einem noch immer aktuellen religionswissenschaftlichen Mythoskonzept verpflichtet, das auf die grundlegendende Symbolisierungsleistung von Mythen abhebt.⁹⁸ Beide Denker haben zumindest in der theologischen Lektüre des biblischen Mythos ihre Spuren hinterlassen, selbst wenn sie nicht immer explizit erwähnt
Vgl. dazu Anm. 36. Vgl. dazu z. B. Paul Tillich, Entfremdung und Versöhnung im modernen Denken, in: TillichAuswahl, hrsg.v. Manfred Baumotte, Bd. 1: Das Neue Sein, Gütersloh 1980, 318 – 334, bes. 330 – 333. Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, 339. Vgl. dazu z. B. Paul Tillich, Mythos und Mythologie. Vgl. dazu oben Pkt. 3. Vgl. ebd.
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werden. Der religionspsychologisch orientierte Neutestamentler Gerd Theißen etwa kann konstatieren: „Die ersten Christen erzählten von Jesus in Form eines Mythos, weil sie überzeugt waren: Mitten in der Geschichte hatte sich eine neue Urzeit ereignet. In ihr war geschehen, wozu nur Gott die Macht hatte: die Überwindung des Todes. Im Urchristentum geschah keine Entmythologisierung, sondern eine Remythologisierung.“⁹⁹
Die Kategorie „Mythos“ erscheint hier wie selbstverständlich als Kategorie in der Analyse der christlichen Tradition. Das junge christliche Kollektiv wird nicht als Erzählgemeinschaft präsentiert, die sich von der ‚archaischen‘ Form ‚Mythos‘ distanziert, sondern im Gegenteil als Mythen erneuernd geschildert. Es erscheint mir fraglich, ob eine derartige Darstellung der Entwicklungsgeschichte des christlichen Mythos ohne Tillichs Plädoyer für die konstitutive Bedeutung mythischer Sprache in Religion und Kultur möglich gewesen wäre. Wenn Theißen die Transformation des jüdischen zum christlichen Mythos beschreibt, dann gleicht er in gewisser Weise C.G. Jung, dem es – wenn auch auf der Basis eines anderen Konzepts – ebenfalls um die Beziehungen zwischen Psyche und Mythos in sensiblen evolutionären Phasen ging.
Gerd Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen, 258 f.
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„Urgeschichte der Subjektivität“ Mythos und Aufklärung bei Tillich und Adorno/Horkheimer In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen Mythen – alte und neu erfundene – in der gesellschaftspolitisch aufgeheizten Atmosphäre der ideologischen Kämpfe eine dominierende Rolle – sei es in der Bestreitung, sei es in den neuen Wiederverzauberungsversuchen der Welt¹. Geradezu klassisch ist zum Beispiel der Versuch Thomas Manns gewesen, den Mythos den dämonischen Verzerrungen durch den heraufdämmernden Nationalsozialismus zu entwinden. Dem dienen die Josephsromane, die sich im Laufe der Zeit wie bei Richard Wagners Ring des Nibelungen – Urbild der modernen Mythenproduktion im 19. Jahrhundert² – zur Tetralogie auswachsen und bei denen es sich explizit um eine „humanistischhumoristische Beschäftigung mit mythischem Stoff“ handelt.³ Es ist gewiss auch kein Zufall, dass sich im Doktor Faustus desselben Autors der ganze Sagenkreis seit dem Mittelalter, Goethe und Nietzsche, aber auch die amerikanischen Mitemigranten Tillich und Adorno ein höchst kompliziertes und schillerndes Stelldichein geben.⁴ Mann, Tillich und Adorno/Horkheimer sind auf verschiedene Weise auf
An der Wiege dieser spezifisch modernen Reaktionsform steht natürlich die „Neue Mythologie“ des „ältesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus“ von 1797: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, hrsg. v. Klaus Markus Michel/Eva Moldenhauer, Bd. 1: Frühe Schriften, Frankfurt (Main) 1986 (= stw 601), 234– 236 (in Hegels Handschrift überliefert; ob es inhaltlich von ihm stammt, ist umstritten). Siehe die Beiträge in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt (Main) 1983. Richard Wagner war im Kontext der Nibelungensage (1848) der Meinung, dass unter den Bedingungen der Moderne das arme Volk „vom Advent einer gemeinschaftsstiftenden neuen Religion (träume), die den Einzelnen von der Herrschaft durch die leblose Sache wieder“ befreie. Das zeigt die vor allem sozialromantische Stoßrichtung der Remythologisierungstendenzen sehr deutlich an. Zitiert nach: Manfred Frank, Die Dichtung als „Neue Mythologie“, in: Mythos und Moderne, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt (Main) 1983, 15 – 40, hier: 38, Anm. 42. Vgl. die Beiträge in: Dieter Borchmeyer (Hg.), Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner „Der Ring des Nibelungen“. Eine Münchner Ringvorlesung, München 1987. Siehe dazu Hans Mayer, Thomas Mann, Frankfurt (Main) 1984, 184– 224, hier: 191; Lothar Kettenacker, Der Mythos vom Reich, in: Mythos und Moderne, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt (Main) 1983, 261– 289; Joachim Ringleben, Mythos und Sprache, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme, hrsg. v. Ulrich Barth/Christian Danz/Wilhelm Gräb u. a., Berlin/Boston 2013, 571– 592, hier: 580 ff. Tillich beschrieb Mann bekanntlich den Werdegang eines Theologen um 1900, und Adorno war sein „Wirklich Geheimer Rat“ (Thomas Manns Widmung in Adornos Exemplar des Doktor Faustus, abgedruckt in: Adorno. Eine Bildmonographie, hrsg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt
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der Suche nach Antworten auf die Frage, wie es zur deutschen Katastrophe im NSStaat und in der Ermordung des europäischen Judentums kommen konnte.⁵ Deshalb wird es wenig austragen, einen so vielschichtigen und schillernden Begriff wie „Mythos“ durch Definition festlegen zu wollen. Das dürfte fehlgehen wie analog beim Religionsbegriff auch. Aufschlussreicher sind dagegen die jeweiligen Oppositionsbegriffe, die dem „Mythos“ zugesellt werden. Denn, was immer man inhaltlich darunter verstehen mag, vom „Mythos“ zu sprechen setzt ipso facto ein Bewusstsein voraus, das selbst nicht mehr als unmittelbar mythisches bezeichnet werden kann. Allein die Tatsache, dass etwas als „Mythos“ benannt wird, setzt einen Ort jenseits desselben voraus.⁶ Darum sind die Oppositionsbildungen interessant, die man einsetzen kann wie Mythos/Logos, Mythos/Aufklärung, My-
[Main] 2003, 186) in Fragen der Musikphilosophie; Adorno selbst wird zudem im Roman verfremdend porträtiert. Dazu Hermann Fischer, Zur Dialektik der religiösen Vernunft. Spuren der Theologie Paul Tillichs in Thomas Manns „Doktor Faustus“, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. FS für Ulrich Barth, hrsg. v. Roderich Barth/Claus-Dieter Osthövener/Arnulf von Scheliha, Frankfurt (Main) 2005, 283 – 297; weiteres Material bei Christoph Schwöbel, Thomas Mann, Paul Tillich und Halle, in: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1920), hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler, Berlin/Wien 2008 (= TillichStudien 20), 19 – 36, der mir allerdings den Doktor Faustus zu einseitig in Richtung auf eine bestimmte dogmatische Deutung hin interpretiert und damit gerade der Vielschichtigkeit des Romans ihren Reiz nimmt; Hans Rudolf Vaget,Thomas Mann, in: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm, Stuttgart 2011, 218 – 222. Siehe auch den schönen Überblick über die Verwandlungen des „Faust“-Stoffes insgesamt von Jan Rohls, Faust und die protestantische Theologie, in: Transformationsprozesse des Protestantismus. Zur Selbstreflexion einer christlichen Konfession an der Jahrtausendwende, hrsg.v. Martin Berger/ Michael Murrmann-Kahl, Gütersloh 1999, 41– 60, bes. 53 ff.; Ders., Thomas Manns „Doktor Faustus“ und die Theologie, in: ZThK 110 (2013), 430 – 474. Auch Hans Mayer (Thomas Mann, 270 – 330), der ausdrücklich von einem „theologisch-politischen Traktat“ (278 und ff.) spricht! Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt (Main) 1969, 1: „Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“ Siehe auch a.a.O., 7 sowie die Beiträge in: Willem van Reijen/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Vierzig Jahre Flaschenpost: ‚Dialektik der Aufklärung‘ 1947 bis 1987, Frankfurt (Main) 1987. Andreas Kubik spricht daher zu Recht von einer mehrfachen „Fremdsetzung des Mythos, die zugleich auf die Konstruktion eines Selbstbildes des aufgeklärten Denkens verweist“: Mythos und Symbol. Praktisch-theologischer Versuch über ein Problem des aufgeklärten Christentums. Mit einem Anhang zur Normativität der Bibel, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme, hrsg. v. Ulrich Barth/Christian Danz/Wilhelm Gräb u. a., Berlin/Boston 2013, 545 – 569, hier: 548. Ebenso Alexander Bommarius, „Was etwas ist“, in: Ders. (Hg.), Fand die Auferstehung wirklich statt? Eine Diskussion mit Gerd Lüdemann, Bonn/Düsseldorf 1995, 117– 123, hier: 121: „Mit diesem Reflexionsschritt sind wir grundsätzlich über das mythische Denken hinaus, und keine Rekonstruktion mythischer Kategorien kann dazu verhelfen, mit diesem Bewußtsein wieder identisch zu werden.“
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thos/Wissenschaft oder (irrationaler) Mythos/Rationalisierung. Dabei liegt eine nicht geringe Ironie darin, dass diese Oppositionen sich dann oft als voneinander gegenseitig kontaminiert erweisen (sollen): als der Mythos, der selbst als eine Art von Aufklärung oder Wissenschaft interpretiert wird, oder als die Aufklärung, die in ihrem unheilvollen Triumph selber in Mythos umschlägt. Allein an solchen Komplexionen wird schon deutlich, dass und inwiefern ein definitorischer Umgang mit dem Thema wenig verfängt. Aussichtsreicher erscheint darum die Anstrengung, die jeweilige Funktion zu bestimmen, die der Mythosbegriff innerhalb einer Konzeption erfüllt.
I. Am Vorabend der europäischen Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs im 20. Jahrhundert steht die Fassung des „Mythos“, wie sie in dem durchaus auf populäre Wirkung angelegten Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart gegeben wird. Hugo Greßmann verfasste den Überblick über „Mythen und Mythologie“, Hermann Gunkel steuerte einen großen Artikel über „Mythen und Mythologie in Israel“ bei; ein Pendant zum Neuen Testament fehlt bezeichnenderweise. Greßmann gibt den Konsens der Zeit wieder, wenn er feststellt, dass der Mythos „Götter handeln läßt, und daß sein Schauplatz jenseits von Raum und Zeit liegt“. Inhaltlich sei er als „primitive Wissenschaft“ zu charakterisieren.⁷ Gunkel setzt nicht nur auseinander, dass und wie weit Mythologie in den alten biblischen Stoffen enthalten ist; vor allem zeigt er bereits die Rezeptionsgrenzen mythischer Stoffe durch den israelitischen Monotheismus auf: „Israel ist den Mythen nicht günstig gewesen. Der Mythus ist seiner Art nach polytheistisch, und er stellt die Gottheit vielfach in enger Verknüpfung mit der Natur dar.“⁸ Rezeption bedeutet insofern immer zugleich auch die starke Abwandlung des aus der Umwelt bezogenen mythischen Stoffs. Am Ende seines Artikels kommt Gunkel zu dem Schluss, die Mythenrezeption als Ausdruck des Kampfes Israels gegen den Polytheismus zu bewerten: „Ebendarauf aber, daß Israel die Mythologie im Prinzip zwar überwunden, im einzelnen aber vielfach beibehalten hat, beruht die besondere Schönheit der biblischen Dichter.“⁹ Das ist freilich hinsichtlich der beanspruchten
Hugo Greßmann, Art. Mythen und Mythologie. I. Religionsgeschichtlich, in: RGG, hrsg. v. Friedrich Michael Schiele/Leopold Zscharnack, Bd. 4, Tübingen 1913, 618 – 621, hier: 618 f. Hermann Gunkel, Art. Mythen und Mythologie in Israel, in: RGG, hrsg. v. Friedrich Michael Schiele/Leopold Zscharnack, Bd. 4, Tübingen 1913, 621– 632, hier: 623. A.a.O., 632.
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Überwindung doch eine recht zweideutige Aussage. Gleichwohl kann man das schon als Vorlage für Paul Tillichs „gebrochenen Mythos“ nehmen. In seiner Spätschrift Wesen und Wandel des Glaubens geht Tillich auf den Mythos im Zusammenhang seiner Symboltheorie ein.¹⁰ Bekanntlich hat Tillich die These verteidigt, dass es eine genuine (und das bedeutet auch: nicht reduzible) religiöse Sprache geben müsse: „Nur die Symbolsprache ist imstande, das Unbedingte zum Ausdruck zu bringen.“¹¹ (Das bildet insofern den Gegenentwurf zu Hegels Auffassung, der die Form der Vorstellung des religiösen Bewusstseins für noch defizitär hält und genau deswegen die Aufhebung in den philosophischen Begriff fordert.¹²) Symbole partizipieren Tillich zufolge an der Realität, auf die sie hinweisen und eröffnen so neue Dimensionen der Wirklichkeit. „Sie gehen aus dem individuellen oder kollektiven Unbewußten hervor und können nur wirksam werden, wenn sie von der unbewußten Tiefenschicht unseres Seins akzeptiert werden.“¹³ Symbole sind mithin die eigene Sprache der Religion bzw. des Glaubens. Bei den spezifisch religiösen Symbolen ist bekanntlich „Gott“ das „fundamentale Symbol für das, was uns unbedingt angeht“.¹⁴ Erst im abgeleiteten Sinne seiner Symboltheorie kommt Tillich dann auf den Mythos zu sprechen. Er nimmt die schon bekannte Bezeichnung des Mythos als „Göttergeschichten“ auf: „Mythen sind Symbole des Glaubens, die zu Geschichten verbunden sind, in denen Begegnungen zwischen Götter und Menschen erzählt werden.“¹⁵ Tillich sieht zwar wie Gunkel die monotheistische Kritik am Mythos,
Alle Zitate nach Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens (1961), Ulm 1975 (= Weltperspektiven 318): Es handelt sich um die von Tillich autorisierte Übersetzung der von Eberhard Amelung überarbeiteten deutschen Erstausgabe von The Dynamics of faith, hier bes. 53 – 67. A.a.O., 53. Übrigens ging dieser Einschätzung von Symbol und Mythos als Sprache der Religion schon Wilhelm Martin Leberecht de Wette voraus, der die Verbindung von Mythos und Poesie für irreduzibel hielt: siehe dazu Jan Rohls, Der Mythos nach dem Tode Gottes, in: Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner „Der Ring des Nibelungen“. Eine Münchner Ringvorlesung, hrsg. v. Dieter Borchmeyer, München 1987, 75 – 95, hier: 75 f. Dies ist schon vom frühen Tillich ganz klar thematisiert worden in seiner Vorlesung Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), in: Ders., Berliner Vorlesungen I (1919 – 1920), EW XII, hrsg. u. m. einer hist. Einleitung vers. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York 2001, 333 – 584, hier: 546 f.: „Es ist die Tendenz aller Philosophie, die absolute Form zu finden, das heißt diejenige Form, in der die absolute Gehaltserfassung erreicht wäre.“ Für Tillich aber ist „eine absolute Form unmöglich“ (EW XII, 547)! Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, 55, siehe auch 57. A.a.O., 58. Ich setze an dieser Stelle den Streit um das „one non symbolic statement“ (Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 51977, 11 ff.) beiseite: dazu Gunther Wenz, Subjekt und Sein, Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979, 161– 190, hier: 173 ff. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, 61 (Herv. M.M.-K.), siehe auch 60.
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hört aber damit noch nicht auf.¹⁶ Auch die monotheistische Religion und Glaubenssprache bedürfen der Kritik. In Abgrenzung von Rudolf Bultmanns „Entmythologisierungsprogramm“ will er aber explizit Symbole und Mythen nicht zum Verschwinden bringen: „Ein solches Unternehmen kann niemals Erfolg haben, weil Symbol und Mythos Formen des menschlichen Bewusstseins sind.“¹⁷ Wie aber soll dann die doch notwendige Kritik am Mythos erfolgen? Hier wird auf die Figur des „gebrochenen Mythos“ zurückgegriffen. Tillich wehrt sich gegen die wortwörtliche Interpretation des Mythos, also gegen einen „Buchstabenglauben“, weil in ihm Gott in ein endlich-bedingtes Wesen verkehrt werde. Er stellt dagegen eine Art Entwicklungsgeschichte des mythischen Bewusstseins vor: In der ursprünglichen „natürlichen“ Form liegen die mythischen und rationalen Elemente noch ungeschieden beieinander; hier hat man es mit einem vorwissenschaftlichen Stand zu tun. Hat aber erst einmal die rationale Kritik am Mythos eingesetzt, gibt es die „reaktive“ Form des Wörtlichnehmens eines Mythos so, dass qua Autorität Zweifel und autonomes Denken unterdrückt werden. Kritische Theologie kann dagegen nur den Weg des „gebrochenen Mythos“ einschlagen, womit insbesondere die geschichtlichen Mythen (des Christentums) gemeint sind: „Wenn der Christus […] in der Fülle der Zeit erscheint, lebt, stirbt und aufersteht, so ist das ein Geschichtsmythos.“ Insofern spricht auch das Christentum als Religion nach wie vor „in mythologischer Sprache“: „Es ist ein gebrochener Mythos, aber es ist ein Mythos; sonst würde es nicht Ausdruck dessen sein, was uns unbedingt angeht.“¹⁸
A.a.O., 62. A.a.O., 63. An den mythologischen Elementen und Symbolen sollte man festhalten und „sie nicht durch wissenschaftliche Surrogate ersetzen wollen“ (ebd.). Ob das Bultmann wollte, kann hier nicht diskutiert werden, Hermann Timm hat ihn aber als „Mythoklasten“ gelesen: „Die tonlose Eindimensionalität der Entmythologisierung resultiert mithin aus einer Angleichung der Glaubensreflexion an die experimentalwissenschaftliche Rationalität. Der Vorteil ist groß. Er besteht darin, daß die entweltlichende Offenbarung und die verweltlichende Wissenschaft sich gegenseitig durch ihre gänzliche Inkommensurabilität abstützen.“ (Hermann Timm, Remythologisierung? Der akkumulative Symbolismus im Christentum, in: Mythos und Moderne, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt [Main] 1983, 432– 456, hier: 435) Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, 67. Diese These: „Der Mythos ist also ein konstitutives Element des Geistigen überhaupt“ hat Tillich schon früher vertreten: siehe Paul Tillich, Das religiöse Symbol (1928), in: Ders., Ausgewählte Texte, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/New York 2008, 183 – 198, hier: 190 und f. Tillich kann die Mythen im Übrigen nur darum der historischen Kritik frei aussetzen, weil er an der Selbstverbürgung des christlichen Glaubens festhält: siehe Ders.,Wesen und Wandel des Glaubens, 100 ff., bes. 103. Darin steckt das ganze Problem des „historischen Jesus“: vgl. Michael Murrmann-Kahl, Christus ohne Jesus? – Die „Fragwürdigkeit des Empirischen“ als Konstruktionsmoment in Paul Tillichs Christologie, in: Jesus of Nazareth and the New Being in History, hrsg. v. Christian Danz/
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In der Systematischen Theologie wird allerdings das Bestehen von Mythos und Kultus als einer eigenständigen Sphäre zugleich als Ausdruck existentieller Entfremdung gedeutet: „Es dürfte weder Mythos noch Kultus geben. Sie widersprechen der essentiellen Vernunft.“ Nach dem bisher Ausgeführten ist das eine eher überraschende Aussage. De facto existieren beide als selbständige, irreduzible Größen neben der Kultur: „Ihr Gehalt offenbart in gleicher Weise wie das Verhalten der Menschen ihnen gegenüber, Elemente, die sowohl Wissenschaft wie Moral übersteigen, die auf das hinweisen, was uns unbedingt angeht.“¹⁹ Tillichs Lehre von der Zweideutigkeit von Mythos und Kultus als Ausdruck existentieller Entfremdung (siehe auch Abschnitt III.) hängt mit seiner Auffassung zusammen, dass die Religion eigentlich („essentiell“) keinen eigenen Gegenstandsbereich neben anderen ausmachen solle, sondern vielmehr die Tiefenfunktion in der Kultur, die Richtung aufs Unbedingte. Zu Recht wird von ihm darum die Konfliktträchtigkeit von Mythos und Kultus im Kontext der und in Konkurrenz zu den anderen Vernunftfunktionen hervorgehoben, die sich in den zahlreichen Zuordnungsversuchen und Kritikpositionen von Mythos und Aufklärung widerspiegelt. In dieser Ambivalenz seiner Ausführungen zeigt sich die schon früh formulierte doppelte Herausforderung der Theologie von einerseits Selbständigkeit der Religion (und damit als Sondersphäre!) und andererseits zugleich Richtung aufs Unbedingte in allen kulturellen Gestalten: „Wie ist eine specifisch religiöse Kultur möglich, wenn Religion das die Form durchbrechende Gehaltserlebnis ist? Wie ist eine religiöse Form im Unterschied von anderen möglich, wenn Religion ein Verhalten zur Form überhaupt ist?“ (EW XII, 533) Tillich belässt es letztlich dabei, beide Behauptungen gleichzeitig zu erheben.
II. „Dass die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen […] Mythen nach dem Tode Gottes zu suchen sei, sondern in der als Herrschaft verstandenen Rationalität selbst, das ist bekanntlich die These Horkheimers und Adornos. Denn die Dialektik der Aufklärung besteht in der Selbstzerstörung der Vernunft durch deren vollständige Instrumentalisierung.“²⁰
Marc Dumas/Werner Schüßler u. a., Berlin/Boston 2011 (= International Yearbook for Tillich Research 6), 23 – 46. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 51977, 97 und f. Jan Rohls, Der Mythos nach dem Tode Gottes, 82 (Herv. M.M.-K.). Vgl. zum Thema Jürgen Habermas, Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkungen zur „Dialektik der Aufklärung“ – nach einer erneuten Lektüre, in: Mythos und Moderne, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt (Main) 1983, 405 – 431; Christian Henning, Der Faden der Ariadne. Eine theologische
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Die Pointe liegt dabei in dieser „Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos“, die die fein säuberliche Trennung und Gegenübersetzung beider unmöglich macht. Das mythische Bewusstsein enthält so sehr aufklärerische Elemente, so wenig sich das aufgeklärte Bewusstsein sicher sein kann, nicht selbst in Mythos umzuschlagen. Die Gründe für die Entgleisung des gegenwärtigen Weltzustands können nur am Anfang der Menschheitsgeschichte aufgefunden werden. Der lange Blick zurück auf die damals noch ephemere Identität des bürgerlichen Subjekts erschließt, woran die ganze Gegenwart krankt. Weit entfernt davon, eine philologisch exakte Interpretation geben zu wollen, liest Adorno die Odyssee als „Grundtext der europäischen Zivilisation“.²¹ Die Figur des Odysseus zeigt die Entwicklung des bürgerlichen Subjekts als permanenten Selbststabilisierungsversuch der eigenen Identität gegen die Verlockungen der Natur (Triebe). Selbsterhaltung (sese conservare) als Natur- und Selbstbeherrschung bildet also das Fundament und den Motor der ganzen westlichen Zivilisation (29). Die Herausbildung des bürgerlichen Selbst muss daher den geheimen Wunsch zur Rückkehr in den Naturzustand (die Regressionen) tabuisieren. Die Bildung des Subjekts geschieht durch List und Entsagung (Selbstversagung) (51), damit ist der Weg zur Weltherrschaft durch Naturbeherrschung und Selbstbeherrschung vorgeschrieben, die in einer halbierten, bloß noch instrumentellen Vernunft terminiert (Max Weber: durch Berechnen Beherrschen). Freilich ist der Preis, den Odysseus und mit ihm alle zu zahlen haben, hoch: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.“ (33) Die Entbindung der unterdrückten Natur würde den Weg in die Zivilisation zurücknehmen.²² Der rote Faden Adornos zur Inter-
Studie zu Adorno, Frankfurt (Main) 1993 (= Beiträge zur rationalen Theologie 2), 145 – 285; Andreas Hetzel, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg.v. Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm, Stuttgart 2011, 389 – 396. Zum konstellativen Hintergrund insbesondere von Adornos Denken gerade auch in der Abfassung der Dialektik der Aufklärung: Martin Mittelmeier, Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt, München 2013, 174 ff.186 ff. 201 ff. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 42– 73, hier: 44 (der Exkurs „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ stammt von Adorno). Im Folgenden werden die Verweise und Zitate aus Horkheimers und Adornos Werk Dialektik der Aufklärung direkt im Haupttext nachgewiesen. Siehe auch a.a.O., 15: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen.“ Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 31: „Zwischen der Szylla des Rückfalls in einfache Reproduktion und der Charybdis der fessellosen Erfüllung will der herrschende Geist von Homer bis zur Moderne durchsteuern […].“
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pretation der Odyssee besteht im Nachzeichnen dieser Bildungs- als Gefährdungsgeschichte des Subjekts, diesen „Mächten der Auflösung zu widerstehen“ (33), die sich in den Abenteuern des Odysseus abschatten: „Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen.“ (44)²³ Angesichts der realen Übermacht der Naturgewalten, die sich in den großen mythischen Gestalten verdichtet haben, mit denen Odysseus und seine Gefährten kämpfen müssen, kann Odysseus den „gefahrvolle(n) Lockungen“, die jene darstellen, nur durch List entgehen: „Es ist die Formel für die List des Odysseus, daß der abgelöste, instrumentale Geist, indem er der Natur resigniert sich einschmiegt, dieser das Ihre gibt und sie eben dadurch betrügt.“ (54) Eine direkte Konfrontation könnte man nicht überleben, und so muss Odysseus den mythischen Gewalten scheinbar ihr Recht einräumen, um zugleich mögliche Lücken im Vertrag auszunutzen. Insofern immer zugleich das Triebschicksal mitverhandelt wird – zwischen Verlockung, Erfüllung und Entsagung – handelt es sich in der Tat in allen Fällen um „Strafmythen“ (54). Dieses Verhalten belegt Adorno an fünf exemplarischen Stationen, die Odysseus auf seinen Irrfahrten zu bestehen hat, von der Begegnung mit den Sirenen bis zur Hadesfahrt. Die Sirenen bieten die klassische Figur der Verlockung zur Regression, weil ihr Gesang die Hörer verführt und zugleich tötet.²⁴ Die unmittelbare Trieberfüllung hat unter vorweltlichen Bedingungen leicht den Tod zur Folge, darum muss sie tabuisiert werden.²⁵ Interessanterweise versucht Odysseus erst gar nicht, dieser Gefahr zu entgehen.Vielmehr stellt er sich der Herausforderung, aber so, dass das scheinbare Eingehen auf den lockenden Sirenengesang die Sirenen zugleich um ihren Erfolg (Erfüllung wie Tod der Hörer) betrügt. Der Trick besteht bekanntlich darin, dass Odysseus seinen Gefährten die Ohren verklebt und sich selbst an den Mast fesseln lässt. So kann er sich zwar dem Sirenengesang aussetzen, selbst aber keinen Schaden anrichten. „Odysseus erkennt die archaische Übermacht des Liedes an, indem er, technisch aufgeklärt, sich fesseln läßt. Er neigt sich dem Liede der Lust und vereitelt sie wie den Tod.“ (55) Dieser Betrug ist symptomatisch: „Die Sirenen haben das Ihre, aber es ist in der bürgerlichen Urgeschichte schon
Vgl. a.a.O., 32: „In der Vielfalt der Todesgefahren, in denen er sich durchhalten mußte, hat sich ihm die Einheit des eigenen Lebens, die Identität der Person gehärtet.“ Es ist die einzige Station, die gleich zweimal interpretiert wird, was für ihre überragende Bedeutung spricht: a.a.O., 32 ff.55 ff.! Das ist ebenfalls ein typisch freudianisches Motiv: Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), in: Ders., Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt (Main) 1986, 139 – 189, hier: 149. Siehe dazu Christian Henning, Der Faden der Ariadne, 203 f.
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neutralisiert zur Sehnsucht dessen, der vorüberfährt.“ (55) Das hat nun gerade für Adornos Kunstauffassung und insbesondere für die Musik weitreichende Folgen, die ihr einen nur noch höchst prekären Status einräumen.²⁶ Die Lotophagenepisode wiederholt dann das analoge Triebschicksal auf der oralen Stufe im Vorgaukeln eines Schlaraffenlands. Auch hier besteht die Bedrohung in der Regression und Auflösung des fragilen Selbst. Diese Idylle aber ist „in der Tat der bloße Schein von Glück, dumpfes Hinvegetieren, dürftig wie das Dasein der Tiere“ (58). Die Auseinandersetzung mit dem Riesen Polyphem wird in drei komplexen Deutungsmustern interpretiert. In einem ersten Schritt wird die Gestalt des Polyphem der elementarischen Volksreligion zugeschlagen – sie kennt noch kein Gesetz, an das sie sich halten müsste und erhebt ihr Recht auf die Beute, die er als Menschenfresser vertilgt. Im zweiten Schritt wird wiederum die List des Odysseus ausgelegt, diesmal in der List des Namens: Indem sich Odysseus als ähnlich klingender „Oudeis“ vorstellt, kann der betrogene Polyphem seine Sippe auch nur zur Verfolgung von „niemandem“ aufrufen. „In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe.“ (62) Selbstbehauptung ist nicht anders möglich denn als Selbstverleugnung. In dem Moment aber, in dem Odysseus über Polyphem zu siegen meint, erliegt er drittens der eigenen Hybris. Er beginnt, den Riesen zu verhöhnen und gibt seinen eigenen Namen preis, was ihm dann doch fast noch das Leben kostet. Darin erliegt er der Dialektik der Beredsamkeit: „Die List, die darin besteht, daß der Kluge die Gestalt der Dummheit annimmt, schlägt in Dummheit um, sobald er die Gestalt aufgibt.“ (63) Nicht ganz abwegig, an Adornos eigene Gefährdung zu denken,wenn er schreibt: „Darum ist der Gescheite […] immer in Versuchung, zuviel zu reden.“ (63) An der Zauberin Kirke wird die Dopplung von Hetäre und Ehefrau durchbuchstabiert. Die Magie der Zauberin gewährt zwar Glück, aber nur um den Preis der Zerstörung der Autonomie des Beglückten (64). Während die Lotophagen für die Zeit der Sammler, Polyphem für die Zeit der Jäger stand, wird hier auf pristine patriarchalische Zustände Bezug genommen: „Als Repräsentantin der Natur ist die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft zum Rätselbild von Unwiderstehlichkeit
Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 56: „Seit der glücklichmißglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch zugleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt.“ So auch schon a.a.O., 34: „Der Gefesselte wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.“
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und Ohnmacht geworden.“ (66) So spaltet sie sich auf in Hetäre und Ehefrau oder wie im späteren christlichen Kontext als Heilige und Hure (68). Wenn Adorno schließlich anlässlich der Hadesfahrt die folgende Interpretation des ohnmächtigen Bildes von der Mutter des Odysseus vorstellt, dann gibt er sich zugleich selbst Rechenschaft von der eigenen Mythen-Konstruktion, dem Konstellieren des dialektischen Bildes: „Erst indem Subjektivität in der Erkenntnis der Nichtigkeit ihrer Bilder ihrer selbst mächtig wird, gewinnt sie Anteil an der Hoffnung, welche die Bilder vergeblich bloß versprechen.“ (69) Das stellt mithin eine Metapher dafür dar, wie die Deutung selbst funktioniert: Diese verstrickt sich „in jene Verstocktheit, aufs Detail fixierte Blödigkeit, die eben dann zu den Bildern und Metaphern führt, an denen andere in Blödigkeit Geschulte, wie zum Beispiel Adorno, genau diesen Konflikt wieder herauslesen können. Eine schwindelerregende Konstruktion.“²⁷ In der Tat: Ihr liegen ersichtlich viele nicht gerade selbstverständliche Vorannahmen zugrunde, nicht zuletzt in großer Fülle psychoanalytische Motive, die unexpliziert vorausgesetzt werden.²⁸
III. Die schon in den Frankfurter Jahren angebahnte Diskussions- und Arbeitsgemeinschaft von Tillich, Adorno und Horkheimer wurde auch in der Emigration aufrecht erhalten. So kann Tillich zum Beispiel 1942 auf eine Vorform und den Entwurf zur späteren Dialektik der Aufklärung reagieren. Die historischen Details, die Tillich an Horkheimers frühem Papier korrigiert, kann man beiseitelassen. Interessant dagegen bleibt die Gesamtwürdigung dieses erstens Anlaufs zu den berühmten Fragmenten. Tillich stimmt nämlich grundsätzlich der sinistren Gegenwartsdiagnose Horkheimers zu!²⁹ Er bemängelt freilich den „konzentriert-
Martin Mittelmeier, Adorno in Neapel, 214. Siehe dazu Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 34 (Herv. M.M.-K.): „Maßnahmen, wie sie auf dem Schiff des Odysseus im Angesicht der Sirenen durchgeführt werden, sind die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung.“ Die Sirenenepisode ist eben nicht nur ein tragender Teil in der Odyssee selber, sondern bildet zugleich auch das hermeneutische Modell der konstellativen Interpretation, mit der die Autoren Horkheimer/Adorno die „Dialektik der Aufklärung“ konstruieren! Siehe dazu außer Christian Henning, Der Faden der Ariadne, auch Christian Schneider, Die Wunde Freud, in: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm, Stuttgart 2011, 283 – 295, wo für die eigentümliche und höchst ambivalente Lesart Freuds durch Adorno (289.293 f.) sogar von „apokrypher Psychologie“ gesprochen wird! Paul Tillich, Bemerkungen zu „Vernunft und Selbsterhaltung“, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 1 (1994), 281– 287, hier: 286, auch 281. Georg Neugebauer spricht denn auch
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diktatorisch[en]“ Stil der Ausführungen und spricht von „immens aggressiven Behauptungen“.³⁰ Vor allem aber hält er den von Hegel bezogenen dialektischen Mechanismus der bestimmten Negation insgesamt für problematisch: „Woher kommt der Glaube, daß der Universalmechanismus in den Anfang der Geschichte umschlagen kann? Ist das nicht Wunderglaube erster Ordnung?“³¹ Schließlich hält Tillich daran fest, dass es auch unterm „Verblendungszusammenhang“ ein partiell richtiges Leben im falschen geben kann: „Ich glaube, daß es fragmentarische Menschlichkeit auf dem Boden breiter und sich immer neu verkörpernder Unmenschlichkeit gibt. Und ich glaube, daß diese fragmentarische Menschlichkeit stark genug ist, jede neu entstandene unmenschliche Struktur zu enthüllen und zu überwinden, aber nur in der Kraft der immer auch vorhandene fragmentarischen Menschlichkeit.“³²
Genau in dieser Abweichung von der Sichtweise, die in der Dialektik der Aufklärung vorgetragen wird, besteht der Unterschied ums Ganze, den dann die Systematische Theologie ausarbeiten wird. Kurz und thetisch gesagt:Tillichs Vorstellung einer dann geistchristologisch vermittelten Möglichkeit des fragmentarisch richtigen Lebens angesichts und trotz der fundamentalen „ambiguities of life“ begründet die grundsätzliche Differenz zu Horkheimer und Adorno.³³ Nun bietet Tillich tatsächlich selbst ein Seitenstück zum Entwurf der Dialektik der Aufklärung, das deshalb besonders interessant ist, weil in ihm einmal das analoge Thema („Wie konnte es so weit kommen?“) verhandelt wird, aber zum anderen im Medium der jüdisch-christlichen Tradition (anstelle der griechischen um Odysseus) und schließlich unter den Bedingungen des von Tillich zur Symbolsprache und zum Mythos Ausgeführten (siehe Abschnitt I.). Auch Tillich will die Urgeschichte des (bürgerlichen) Subjekts erklären.³⁴ Hier ist natürlich eine Deutung des Sündenfalls einschlägig, die allerdings nicht „literalistisch“ ausfal-
von Tillichs „Wahlverwandtschaft zu Horkheimer/Adornos Konzept einer Dialektik der Aufklärung“: Paul Tillich und die Dialektik der Aufklärung, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme, hrsg. v. Ulrich Barth/Christian Danz/Wilhelm Gräb u. a., Berlin/Boston 2013, 477– 512, hier: 491, siehe auch 507. Paul Tillich, Bemerkungen zu „Vernunft und Selbsterhaltung“, 286.281. A.a.O., 286. A.a.O., 287 (Herv. M.M.-K.). Siehe auch Georg Neugebauer, Paul Tillich und die Dialektik der Aufklärung, 500 ff. Ich setze an dieser Stelle die Problematik beiseite, ob Tillichs Erlösungskonzeption tatsächlich nur quantitativ oder nicht doch eminent qualitativ gemeint ist: vgl. Gunther Wenz, Subjekt und Sein, 283 ff. Siehe Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 51.71.
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len darf (ST II, 35 – 106).³⁵ Man hat Tillich vor allem zum Vorwurf gemacht, dass er eine Erklärung des Unerklärbaren – des abgründigen „Falls“ – versucht und gegen die christliche Tradition das Moment der Tragik des Falls betont hätte.³⁶ Sehen wir darum näher zu. Zunächst muss Tillich die Auslegungsmethodik klarstellen; wie schon gezeigt, kann man den Mythos vom Fall nicht buchstabengetreu und wörtlich interpretieren: „Die Theologie muß klar und unzweideutig den ‚Fall‘ als Symbol für die universale menschliche Situation darstellen, nicht als Titel einer Geschichte, die sich einmal ereignet haben soll.“ (ST II, 35) Tillich deutet den Mythos vom Fall als das „Bewusstsein des Menschen um seine existentielle Entfremdung“ (ST II, 38).³⁷ Er schildert in der Interpretation dieses Mythos die vier Punkte von Voraussetzungen, Motiven, Ereignis und Folgen des Falls. Dabei muss man sich von vornherein darüber klar sein, dass Tillich einen sehr spezifischen, explizit theologischen Gebrauch vom philosophischen Entfremdungsbegriff macht, der ihn zumindest von der Lesart Fichtes, Hegels und Marx’ unterscheidet. Die Voraussetzung, dass es überhaupt ein solches (nicht in irgendeiner Vergangenheit liegendes!) „Ereignis“ wie den Fall geben kann, ist die essentielle Polarität von Freiheit und Schicksal. Nur dem Menschen kommt das Vermögen der Freiheit zu. Diese Freiheit kann sich (nur) in freien Akten in Sprache, Begriffe, Moral, Kunst und Technik äußern. Die Polarität von Freiheit und Schicksal kennzeichnet den Menschen als „endliche Freiheit“ – der Unterschied zwischen Geschöpf (Mensch) und Schöpfer (Gott) erscheint auf Seiten des Menschen als endliche Freiheit.³⁸ Als dieses Geschöpf und als endliche Freiheit – symbolisch als „Ebenbild Gottes“ – ist schon das Moment der Abwendung von Gott gesetzt. In dem Augenblick, in dem der Mensch sich seiner Freiheit in freien Akten bedient, wendet er sich von Gott ab und sich selbst zu – das ist unter der viel diskutierten Lehre von der ‚Koinzidenz von Schöpfung und Fall‘ zu verstehen. Strukturell ist
„Es ist gerade die Sündenlehre, die Tillich im Blick hat, wenn er (sc. gegenüber Thomas Mann) davon spricht, daß die konservative Theologie mehr von einem wahren Verständnis der menschlichen Natur und der Tragik der Existenz bewahrt habe.“ So Jan Rohls, Faust und die protestantische Theologie, 56. „Rechte“ und „linke“ Positionen waren sich in der Kritik des bürgerlichen Liberalismus immer schon sehr einig. Gunther Wenz, Subjekt und Sein, 256 – 270, hier: 260 f. „Die endliche Freiheit ist eingebettet in den Rahmen eines universalen Schicksals. Es gibt keinen individuellen ‚Fall‘.“ (ST II, 39, siehe auch 65) Tillichs eher definitorische Einführung Gottes als „Sein-Selbst“ (ST I, 273 – 280) und des Menschen als „endlicher Freiheit“ bleibt eine Theorieschwäche, die man an dieser Stelle beiseitesetzen kann. Siehe dazu ausführlich: Michael Murrmann-Kahl, „Aporiefixierung“. Zum Methodenproblem von Paul Tillichs Systematischer Theologie, in: Theologie als Religionsphilosophie, hrsg. v. Christian Danz, Wien 2004 (= Tillich-Studien 9), 175 – 195.
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mit der Freiheit schon die Abkehr von Gott „geschaffen“, die Selbständigkeit des Menschen führt zwangsläufig zu seiner Verselbständigung (von Gott) (ST II, 39). Da primär diese Selbständigkeit nicht anders denn als Verselbständigung (Autonomie) zu realisieren ist, da sich Freiheit nur durch freie Akte äußern kann, bedeutet Tillich zufolge der Übergang in die Existenz, in die Realisierung der Freiheit zugleich die Entfremdung des Menschen von seiner essentiellen Einheit mit Gott. „Verwirklichte Schöpfung und entfremdete Existenz sind materialiter identisch.“ (ST II, 52) Genau das ist die korrespondierende These Tillichs zum universalen Verblendungszusammenhang! „Die Schöpfung ist gut, aber sie ist reine Potentialität.Wird sie aktualisiert, so verfällt sie durch Freiheit und Schicksal der universalen Entfremdung.“ (ebd., Herv. M.M.-K.)³⁹ Nun zu den Motiven und der „träumenden Unschuld“. Den essentiellen Urzustand versucht Tillich einen Sinnes mit Adorno durch Anleihen bei Freuds Psychoanalyse zu erläutern. Als „träumende Unschuld“ hat der Mensch noch keine Realität, ist bloße Potentialität (Freiheitsvermögen, aber keine realisierte Freiheit). Mit dieser Deutung verbindet Tillich die Kritik an der Behauptung von Adams Vollkommenheit im Paradies. Das hält er wiederum für eine literalistische Fehldeutung des Mythos. Denn reine „Potentialität (träumende Unschuld) ist nicht Vollkommenheit“ (ST II, 41). Allerdings lässt sich daraus noch nicht der Übergang zum „Erwachen“, der Fall ableiten. Wiederum behilft sich Tillich mit seiner Definition des Menschen als „endlicher Freiheit“: Dieses Bewusstsein ist darum als „sich ängstigende Freiheit“ (ebd.) zu bezeichnen. Es ist sozusagen hinund hergerissen zwischen dem Wunsch, bloße Potentialität zu bleiben („träumende Unschuld“) oder sich seiner Freiheit tatsächlich zu bedienen („erregte Freiheit“ – sie erscheint im Mythos als Verstoß gegen das Gebot Gottes im Paradies). Die essentielle Einheit von Freiheit und Schicksal ist demzufolge „endlich und daher offen für Spannung und Zerreißung“. „Der Mensch befindet sich in dem Konflikt zwischen dem Wunsch, seine Freiheit zu aktualisieren, und der Forderung, seine träumende Unschuld zu bewahren.“ (ST II, 42) Allerdings ist diese Zwischenstellung kein haltbarer Zustand, wie Tillich und wir alle wissen: „Kraft seiner endlichen Freiheit entscheidet er sich für die Aktualisierung.“ (Ebd.) Die Parallele zur Odysseusszene mit dem Sirenengesang wird noch deutlicher, wenn man die Binnenperspektive hinzunimmt: Der Mensch steht entsprechend zwischen der Angst, „sich zu verlieren durch Selbstverwirklichung“ und der Angst, „sich zu verlieren durch Nichtverwirklichung“ (ebd.). Naheliegenderweise (vom Mythos und von Freud her) ist das Beispiel dafür die erwachende Sexualität: Triebverwirklichung oder Triebverzicht? Der Verlust durch
Siehe auch ST II, 40.
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Nichtverwirklichung wäre der Odysseus, der dem Sirenengesang unmittelbar folgt und ihm erliegt. Die unmittelbare Lusterfüllung führte den Preis des Todes mit sich, darum muss sie tabuisiert werden.⁴⁰ Tillich nennt das, die träumende Unschuld bewahren, „ohne wirkliches Dasein zu erleben“ (ebd.), denn die unmittelbare Wunscherfüllung bedeutete zugleich die totale Regression in den Urzustand, Rückfall in die Natur und dumpfe Tierheit, wie an dem Parallelbeispiel der Lotophagen deutlich wird. Dieser Odysseus bliebe also exakt der „Niemand“, als der er sich gegenüber Polyphem getarnt hat. Damit dies nicht geschieht, muss er seine Vorkehrungen treffen und sich an den Mast fesseln lassen. Dafür ereilt ihn die andere Angst, diejenige vor dem Verlust durch Selbstverwirklichung, denn diese Selbstverwirklichung führt eo ipso die existentielle Entfremdung mit sich: Die Selbsterhaltung gelingt nur über Natur- und Selbstbeherrschung (Selbstversagung, Triebunterdrückung). Um das fragile Selbst zu stabilisieren, bedarf es der List, des Betrugs und der Schuld. Tillich beschreibt diesen Zustand folgerichtig als „seine Unschuld […] verlieren und Erkenntnis, Macht und Schuld dafür einzutauschen“ (ebd., Herv. M.M.-K.). An dieser Stelle scheint mir evident, dass er der Gegenwartsdiagnose der Theoretiker der Dialektik der Aufklärung zustimmt: Realisierte Freiheit bzw. das Sich-Durchsetzen des bürgerlichen Subjekts ist identisch mit Entfremdung – sei es von Gott, sei es von der Natur! Die letztlich illusorische Selbstbewahrung springt in Selbstverwirklichung und damit zugleich in die gefallene Schöpfung um (ST II, 43) – um den Preis der unwiderruflichen Vertreibung aus dem Paradies.⁴¹ Dass Tillich tatsächlich so etwas wie eine parallele Urgeschichte des bürgerlichen Subjekts erzählt, wird in der Schilderung des Ereignisses selber klar. Die Koinzidenz von Schöpfung und Fall und damit die Realisierung von Freiheit und Entfremdung sind das Signum aller Wirklichkeit, genau das wird im kosmischen Mythos präsentiert: Das Faktum des Falls ist „wirklich in jeder Wirklichkeit. Das
ST II, 42: „Auf der einen Seite bestärkt“ den Pubertierenden „die Macht gesellschaftlicher Tabus in der Angst, seine Unschuld zu verlieren und durch die Verwirklichung seiner Möglichkeiten schuldig zu werden“. Siehe dazu Christian Henning, Der Faden der Ariadne, 203 f. Auch die Lotophagen stehen für ein unmittelbares (Wieder‐)Einssein mit der Natur, fürs „Schlaraffenland“, und würden so die Regression auf den Stand der „träumenden Unschuld“ bedeuten; Selbstverwirklichung durch Selbstverlust: a.a.O., 204 f. So wie bei Tillich die Entfremdung „geradewegs in der selbsttätig vollzogenen Selbstbestimmung“ des Menschen besteht, verstehen auch Adorno und Horkheimer die Bildungsgeschichte des Subjekts eo ipso als Entfremdungsgeschehen; bei allen drei Autoren ist „Entfremdung“ nicht mehr eine äußerliche Fremdbestimmung des Menschen! Siehe dazu Falk Wagner, Christus und Weltverantwortung als Thema der Pneumatologie Paul Tillichs, in: Philosophia perennis. FS für Erich Heintel, Teil 2, hrsg. v. Hans-Dieter Klein/Johann Reikerstorfer, Frankfurt (Main) 1993, 235 – 252, hier: 240.
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bedeutet, daß der Übergang von der Essenz zur Existenz eine universale Qualität des endlichen Seins ist.“ (ebd., Herv. M.M.-K.: und insofern eben eine „transhistorische Qualität“, ST II, 48) Genau darin besteht der von Tillich betonte „tragisch-universale Charakter der Existenz“ (ST II, 45). Mit anderen Worten: Den universalen Verblendungszusammenhang von Natur- und Selbstbeherrschung kann man sich nicht aussuchen und ihm nicht entgehen. Er besteht immer schon und überall. Das nimmt der individuellen Verantwortung natürlich nicht sein Gewicht.⁴² Aber der „individuelle Akt existentieller Entfremdung ist kein isolierter Akt eines isolierten Individuums. Es ist ein Akt der Freiheit, der in die Breite eines universalen Schicksals eingebettet ist.“ (ebd., Herv. M.M.-K.) Niemand aber kann sich dem Schicksal der Gattung (Menschheit) und dem Verhängnis der Natur- und Selbstbeherrschung entziehen, selbst wenn er das wollte (darauf insistiert bekanntlich auch Adorno). Tillich bietet mit der Betonung des Tragischen im Übergang zum Fall keine Ermäßigung der „Tatsünden“, wie man ihn oft missverstanden hat, sondern formuliert mit den Mitteln des jüdisch-christlichen Sündenfallmythos dieselbe Diagnose, die aus der Dialektik der Aufklärung bekannt ist: Die Gegenwart ist durch die universale Selbstentfremdung des Menschen und durch die Tendenz zur Selbstzerstörung gekennzeichnet, Adorno hätte gesagt: durch die antagonistische Gesellschaft.⁴³ Das machen nun die Folgen als breit ausgeführte Phänomenologie der Sünde vollends deutlich (ST II, 46 – 87). Im christlichen Kontext werden die Sünde und Entfremdung vor allem als Unglaube und Hybris interpretiert: „Indem sich der Mensch aktualisiert, wendet er sich in seiner Ganzheit, mit Vernunft, Wille und Gefühl, von Gott ab und sich selbst zu.“ (ST II, 55) Darin besteht exakt die spezifisch theologische Fassung des Entfremdungsbegriffs: „Der menschliche Unglaube ist die Entfremdung von Gott.“ (ST II, 56) So wird auf der Seite des Menschen identifiziert, was die Aktualisierung der Freiheit als Verselbständigung bedeutet. Diese Verselbständigung führt aber zur Selbstverabsolutierung der Endlichkeit. Das Hauptsymptom der Hybris besteht gerade darin, selber wie Gott sein zu wollen, also „daß der Mensch seine Endlichkeit nicht anerkennen will“ (ST II, 57 ff., hier: ST II, 59). Dies drückt sich dann als universaler Selbstbemächtigungsversuch des Menschen aus oder traditionell als „concupiscentia“: „die unbegrenzte Sehnsucht, das Ganze der Wirklichkeit dem eigenen Selbst einzu-
ST II, 47: „Nur durch den Menschen ereignet sich der Übergang von der Essenz zur Existenz.“ Zusammengefasst finden sich die entsprechenden gedrängten Aussagen auch in Paul Tillich, Existential Analyses and Religious Symbols (1956), in: Ders., Ausgewählte Texte, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/New York 2008, 368 – 381, hier: 375 f. Eine buchstäbliche Interpretation des Sündenfallmythos wird hier sogar als „the absurdities of literalism“ (376) bezeichnet!
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verleiben“ (ST II, 60). Tillich weitet dieses Streben explizit auf „Erkenntnis, Macht, Wissen, materiellen Reichtum und geistige Werte“ (ebd.) aus! Diese Begierde als Ausdruck von Sünde und Entfremdung, die Selbstverabsolutierung „endlicher Freiheit“, benennt also den Grund für die Natur- und technische Weltbeherrschung der Menschheit, die aufs Subjekt nach innen als Selbstbeherrschung durchschlägt. Diese Dialektik der „[e]xistentielle[n] Selbst-Zerstörung“ und „Struktur der Destruktion“ (ST II, 69)⁴⁴ wird an den Phänomenen der Auflösung der ontologischen Polaritäten, von Schuld, Angst und Tod, von Leiden und Einsamkeit, Zweifel und Sinnlosigkeit, Verzweiflung und Suizid beschrieben. Sie stehen für die Formen, die die unmittelbare Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung der Autonomie im soziokulturellen Selbst- und Weltumgang des Menschen annimmt.⁴⁵ All diese von Tillich dazu herangezogenen, soziologischen und existentialistischen „Analysen des Menschen in der industriellen Gesellschaft zeigen Selbst-Verlust und Welt-Verlust, Mechanisierung und Objektivierung, Vereinsamung und Hingabe ans Kollektiv, Erfahrung der Leere und Sinnlosigkeit. Soweit solche Analysen den tatsächlichen Zustand beschreiben, sind sie von größter theologischer Bedeutung.“ (ST II, 83 f., Herv. M.M.-K.) An dieser Stelle zeigt sich noch einmal deutlich, wie weit Tillich in der Gegenwartsdiagnose mit den Autoren der Dialektik der Aufklärung übereinstimmt.⁴⁶ Aber, wie schon angedeutet, hängt Tillich nicht dem „Wunderglauben“ einer dialektischen Selbstheilung durch bestimmte Negation an. „Trotz der Macht seiner endlichen Freiheit ist“ der Mensch selbst „nicht imstande, die Vereinigung mit Gott zu erreichen“ (ST II, 88). Aus diesem Grund bedarf es der christologischpneumatologischen Vermittlung durch das Symbol des „Neuen Seins“, an dem der entfremdete Mensch partizipieren kann (ST II, 103 f.).⁴⁷ Die Details der Christologie können für unseren Zusammenhang übergangen werden.⁴⁸ Entscheidend ist Tillichs Auffassung, dass die Partizipation des Menschen (Individuen und Gruppen) am göttlichen Geist grundsätzlich möglich ist. Das heißt zunächst gegen Adorno/ Horkheimer: Es gibt ein partiell richtiges Leben im falschen! „Das Neue Sein ist fragmentarisch und antizipatorisch gegenwärtig, aber insofern es gegenwärtig ist,
Das bürgerliche Subjekt schafft am Ende sich selbst ab, siehe Tillichs „Selbst-Verlust“, ST II, 70 f. Siehe Falk Wagner, Christus und Weltverantwortung, 242. Siehe auch Georg Neugebauer, Paul Tillich und die Dialektik der Aufklärung, 505 ff. So auch Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 3, Stuttgart 21978, 153 ff. Siehe dazu die Darstellung von Falk Wagner, Christus und Weltverantwortung, 241 ff.
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ist es als Unzweideutiges gegenwärtig.“ (ST III, 167, Herv. M.M.-K.)⁴⁹ Adorno dagegen war bekanntlich der Auffassung, dass selbst noch alle Bilder der Hoffnung und Versöhnung (die Utopie des ästhetischen Scheins) von der antagonistischen Gesellschaft kontaminiert sind, von der sie ihren Ausgang nehmen. Tillich nennt als Beispiele das momentan gelungene Gebet und die für einen Augenblick heilige Gemeinschaft. Er hält darum daran fest, dass es partiell Individuen und Gruppen gibt, die qua Partizipation am „Neuen Sein“ die essentielle Einheit von Essenz und Existenz unter den Bedingungen der Existenz repräsentieren können, eben die von ihm so genannten „Geistgemeinschaften“, die sich nicht nur auf religiöse Gemeinden, sondern auf die gesamte Kultur beziehen (ST III, 176 ff.). Damit ist pneumatologisch eingeholt, was Tillich gegenüber Horkheimer behauptet hat, nämlich das prinzipielle Vorhandensein „fragmentarischer Menschlichkeit“ selbst noch in den unmenschlichsten Epochen. Tillich reagiert in seiner Kritik Horkheimers ganz analog zu derjenigen an der Libido-Theorie Freuds⁵⁰: Er bejaht sie als Beschreibungen der existentiellen Entfremdung, der selbstverabsolutierten Autonomie, setzt ihnen aber jeweils ein Wissen um die essentielle Bestimmung des Menschen voraus – die dann gewissermaßen geistchristologisch unter Entfremdungsbedingungen partiell restituiert werden kann. In gewisser Hinsicht mag man Tillichs Geist-Christologie als „funktionales Äquivalent“ zu Adornos ästhetischer Theorie interpretieren: Beide markieren den Ort, an dem kontrafaktisch zur Realität in der antagonistischen Gesellschaft zumindest ein Bild, wo nicht sogar ein Stück Wirklichkeit des gelungenen Lebens namhaft gemacht werden kann, das jene verhindert. Allerdings gibt es angesichts des geschlossenen Immanenzzusammenhangs für Adorno und Horkheimer nicht die Möglichkeit, transzendente Instanzen ins Spiel zu bringen, die Tillichs hoffnungsvollen Ausblick auf „immanentes Selbsttranszendieren“ des Verhängnisses garantieren könnten.
IV. Blick man auf diese Verhältnisbestimmungen von Mythos und Aufklärung zurück, dann zeigt sich bei den verhandelten Autoren gleichermaßen das Bemühen, mit der „Urgeschichte der Subjektivität“ eine Erklärung zu geben für den eingetrete-
Ich beziehe mich natürlich auf den zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch Theodor W. Adornos, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt (Main) 1982, Aph. 18, 42: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Die Debatte um Sinn und Reichweite Freuds führt Tillich schon 1928 im Zusammenhang seiner Symboltheorie: Paul Tillich, Das religiöse Symbol, 186. Siehe Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, hier: 54.70 f.74.80 f.
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nen Verfall in der eigenen Gegenwart, das Versinken der Menschheit in der Barbarei im Zweiten Weltkrieg, für den Zivilisationsbruch durch den Holocaust. Dass man in der Gegenwartsdiagnose weitgehend einig geht wurde aufgewiesen.⁵¹ Die Hermeneutik ihrer Mythosdeutung bedient sich ebenfalls übereinstimmend häufig Versatzstücke der Freud’schen Psychoanalyse, was natürlich die Frage aufwirft, ob und inwieweit eine solche Mythosinterpretation mit diesen Mitteln überhaupt legitim sein kann.⁵² Zwar besteht die Intention darin, das Eigenrecht und gegenüber dem aufgeklärten Bewusstsein Irreduzible des Mythos zu würdigen, eben die eigene, unersetzbare Sprache der Religion. Einem wortwörtlichen Verständnis ist zu Recht zu wehren. Angesichts der Verschlingungen von Mythos und Aufklärung muss man beide zur gegenseitigen Sich-Erhellung nutzen. Allerdings kommen auch die konstellativen Anordnungen der mythischen Inhalte nicht darum herum, das vom Mythos als Stoff Angebotene fürs nichtmythische Bewusstsein zu übersetzen und zu interpretieren. Diese Interpretation versteht sich nicht von selbst. Das wirft die Frage nach den hermeneutischen Möglichkeiten auf: Was bedeutet es, wenn diese Deutung wiederum mit Elementen unternommen wird, die gar keinem Mythos, sondern einer höchst modernen (wissenschaftlichen) Theorie, zudem oft in einer eigenwilligen Lesart (so bei Adorno), entnommen werden? „Selbsterhaltung durch Naturbeherrschung erfordert Triebverzicht auf der Seite der Handelnden, letzterer ist, psychoanalytisch gesehen, die Bedingung der Individuierung des Ichs. In ihr setzt äußere Herrschaft über die rohe Natur sich im vergesellschafteten Subjekt fort. Das ist die anthropologische Lehre aus den Irrfahrten […] des listigen Odysseus.“⁵³
Ist das dann nicht doch eine Form von modernem Reduktionismus, ein modernes Surrogat für den Mythos, sozusagen „Entmythologisierung“ mit psychoanalytischen Mitteln?⁵⁴ Statt Heidegger Freud?
Hinzunehmen kann man noch Tillichs Lehre von der „ontologischen“ und „technischen Vernunft“, die an Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft erinnert: siehe ST I, 87 ff.113.124.127. Auch Thomas Mann verwendet sie in seinem Doktor Faustus: siehe Hans Mayer,Thomas Mann, 287. So die zusammenfassende Formulierung zur „Dialektik der Aufklärung“ von Hauke Brunkhorst, Die Welt als Beute. Rationalisierung und Vernunft in der Geschichte, in: Vierzig Jahre Flaschenpost: ‚Dialektik der Aufklärung‘ 1947 bis 1987, hrsg.v.Willem van Reijen/Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt (Main) 1987, 154– 191, hier: 176. Jan Rohls bezeichnet die Darstellung der Teufelsbegegnung Leverkühns im Doktor Faustus ebenfalls als „Entmythologisierung von Teufel und Hölle“: Ders., Faust und die protestantische Theologie, 59!
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In jeden Fall schwingen Mythos und Aufklärung in sich gegenläufig zurück: Der interpretierte Mythos stellt selbst ein Stück Aufklärung dar, die vollständig durchgeführte Aufklärung schlägt in Mythos um. Es ist die eine (bürgerliche) Subjektivität, die, „ausgehend vom Opfer im Triebverzicht und der Selbstverleugnung […], im fortschreitenden Prozess der Zivilisation Herrschaft zum Prinzip aller Beziehungen macht und zugleich der Einsicht fähig ist, daß auch die konsequenteste Ausbreitung von Naturbeherrschung nicht ‚dialektisch umschlägt‘ in die Versöhnung von Geist und Natur im Menschen“.⁵⁵ Ironischerweise ist nicht zu übersehen, dass Adorno/Horkheimer und Tillich für ihre Erklärungen selber so etwas wie einen neuen „intellektuellen Mythos“ zur Katastrophenerklärung geschaffen haben⁵⁶, auch Thomas Manns fiktive Biographie des Komponisten Adrian Leverkühn kann als der innere individuelle Verlauf der Dialektik von Selbsterhaltung und Selbstzerstörung synchron zum politischen Geschehen bis 1945 gelesen werden⁵⁷. Ein Beobachter wird sich daraufhin fragen, ob er nun über den gegenwärtigen Stand der Gesellschaft wirklich aufgeklärt wurde oder nicht doch nur wieder neuen raffinierten Vexierbildern erlegen ist. Die intellektuelle Wiederverzauberung der Welt verhext die sich rational dünkende Erkenntnis zu einem verschlungenen Amalgam aus dieser und jener.
Friedrich W. Schmidt, Die Vergeblichkeit des Opfers und die Irrealität des Todes, in: Vierzig Jahre Flaschenpost: ‚Dialektik der Aufklärung‘ 1947 bis 1987, hrsg. v. Willem van Reijen/Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt (Main) 1987, 129 – 153, hier: 137. Tillich nennt zum Beispiel in seiner Religionsphilosophie (1920) die Hegelsche Philosophie „eine der höchsten Formen der wissenschaftlichen Mythenbildung“: EW XII, 546! Das Urbild mag man wiederum bei Sigmund Freud erblicken, nämlich im reichlich über die Urzeit spekulierenden Totem und Tabu! Siehe Sigmund Freud, Totem und Tabu (1912/13), in: Ders., Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt (Main) 1986, 291– 444. Aus der editorischen Vorbemerkung zu diesem Essay geht hervor, dass Freud in einem Brief von 1897 über die religiösen Illusionen als Ausdruck der menschlichen Psyche von „Psycho-Mythologie“ spricht (zitiert 289) – eine Bezeichnung, die einem auch für Freuds eigene Rekonstruktion der Urzeit in den Sinn kommt! Thomas Mann bekennt 1929 den prägenden und starken Eindruck gerade dieser Schrift Freuds auf ihn, sie sei „nach Aufbau und literarischer Form ein allen großen Beispielen deutscher Essayistik verwandtes und zugehöriges Meisterstück“ (zitiert 290). Auf den Totemismus kommt auch Adorno zu sprechen in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 49. Die starke Beeinflussung der nächsten Generation in Deutschland durch die besondere Adornosche Lesart Freuds kritisiert Christian Schneider, Die Wunde Freud, 284.292.294 f. Siehe Hermann Fischer, Zur Dialektik der religiösen Vernunft, 296. Auch Jan Rohls, Faust und die protestantische Theologie, 59 f.
Linus Hauser
Neomythen als spezifisch moderne Form von Tillichs „abwehrendem“ Mythos 1. Paul Tillich und die Weltanschauungsfragen Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert haben sich religionsförmige weltanschauliche Phänomene entwickelt, die lange eher als wenig bedeutsam betrachtet wurden, bis sie unter dem Terminus New Age und seiner bis heute sich entfaltenden Auswirkungen im Wellness-Bereich seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine breitere öffentliche Akzeptanz gefunden haben. Auch Paul Tillich hat solche religiösen Ausdrucksformen zur Kenntnis genommen und bedachte nicht nur die Phänomene der „kirchlichen Sekten“¹, der „Bewegungen auf dem Boden einer reinen Weltanschauungsphilosophie“ (GW V, 19), der anthropozentrischen „physiognomische[n]“ und der „okkulte[n] Philosophie“ (GW V, 20), des „‚Asiatismus‘“ (GW V, 21), sondern auch die für den Bereich der Neomythen besonders einschlägige „nichtkirchliche autonome Religion“ (GW V, 22), die er als eine Lebensform bestimmt, die das Unbedingte ganz selbstverständlich in den Bedingtheiten unserer Lebenswirklichkeit findet. Eine Autonomie dieser Art fordere einen Menschen zu unbedingter Selbstgestaltung auf. Der Mensch der autonomen Religion „sucht seine Bedrohtheit, die er empfindet in seiner Lebensangst, zu überwinden auf den Gebieten, die selber unter der Bedrohung stehen. Er sucht das, was jenseits der Freiheit steht und ihn von der Bedrohung der Freiheit befreien soll, mitten in den Wegen der Freiheit selbst wieder.“ (GW V, 24) In diesem Begriffsfeld der nichtkirchlichen autonomen Religion ist auch Paul Tillichs Theorie der Quasi-Religionen zu verorten. Er weitet dabei seine Perspektive auf alle Weltreligionen hin aus. In der gegenwärtigen Situation einer den Menschen zum Quasi-Selbstschöpfer machenden wissenschaftsfundierten Technik entstünden die Quasi-Religionen als wesentliche Infragestellungen der überlieferten Art von Religion. „Die gegenwärtige Begegnung der Weltreligionen erhält ihren dramatischen Charakter durch den Angriff der Quasi-Religionen auf die eigentlichen Religionen, die theistischen wie die nicht-theistischen. Die Hauptwaffe in diesem Angriff war und ist die moderne Technik. Sie
Paul Tillich, Nichtkirchliche Religionen, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 13 – 31, hier: 14.
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hatte eine Serie von industriellen Revolutionen zur Folge und mit ihnen die Säkularisation und Zerstörung der kulturellen und religiösen Traditionen.“²
Ich will im Folgenden das Thema der Neomythen als spezifisch moderne Form von Tillichs abwehrendem Symbolverhalten im Zusammenhang der Quasi-Religion erörtern. Dazu werde ich zunächst die begrifflichen und terminologischen Zugänge zu diesem Phänomenbereich skizzieren und sodann, ausgehend von Tillichs Religionsbegriff und seiner Kulturanalyse, auf seine Begriffe des abwehrenden Mythos und der Quasi-Religion zu sprechen kommen. Danach werde ich den Begriff des Neomythos im Ausgang von Tillichs Religionsbegriff explizieren.
2. Zur Begriffsgeschichte des Themas Neomythen Die Geschichte der Erforschung dieses Bereichs im 20. und 21. Jahrhundert weist eine sich extrem wandelnde Terminologie auf. Bis in die fünfziger Jahre dominierten begriffsgeschichtlich Bezüge auf den Weltanschauungsbegriff des 19. Jahrhunderts, volkskundliche Vorstellungen und auf den Begriff der – als von den Großkirchen abgefallen betrachteten – Sekte. Der evangelische Theologe Paul Scheurlen schreibt 1912 über Die Sekten der Gegenwart und erweitert den Titel in der vierten Auflage 1930 dann um und neuere Weltanschauungsgebilde. ³ Franz Arthur Allgeier, Alttestamentler an der Freiburger katholisch-theologischen Fakultät, gibt 1924 seinem Buch den Titel Religiöse Volksströmungen der Gegenwart ⁴, verzichtet im Titel damit auf den engeren Terminus ‚Sekten‘. Der evangelische Kirchenrat Kurt Hutten legt 1950 mit seinem Standardwerk Seher, Grübler, Enthusiasten. Sekten und religiöse Sondergemeinschaften der Gegenwart ⁵ ein Buch vor, das die weltanschaulichen Strömungen der Gegenwart noch ganz unter dem Maßstab ‚klassischer‘ Sekten und – von diesen abgegrenzt – ‚weltanschaulicher Gebilde‘, welche noch nicht ganz begrifflich bestimmt sind, betrachtet. Die spezifische Eigenart dieser Gebilde wird noch nicht zureichend gewichtet. Dies gilt auch für den damaligen Untertitel der heute von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen herausgegebenen Zeitschrift Material-
Paul Tillich, Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 51– 98, hier: 57. Ob heute noch so einfach von Säkularisierung geredet werden kann, ist eine andere Frage. Paul Scheurlen, Die Sekten der Gegenwart, Stuttgart 1912; Ders., Die Sekten der Gegenwart und neuere Weltanschauungsgebilde, Stuttgart 41930. Franz Arthur Allgeier, Religiöse Volksströmungen der Gegenwart. Vorträge über die ‚Ernsten Bibelforscher‘, Okkultismus und die Anthroposophie R. Steiners, Freiburg (i.Br.) 1924. Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten. Sekten und religiöse Sondergemeinschaften der Gegenwart, Stuttgart 1950.
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dienst, der in den fünfziger Jahren Längsschnitt durch die geistigen Strömungen und Fragen der Gegenwart lautete und eine feste Sparte für kurze Berichte über Themen Aus der Welt der Sekten, Weltanschauungen und Religionen besaß.
Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurden diese weltanschaulichen Strömungen eher als ein Abirren vom gewohnten volkskirchlichen Weg in Richtung christliche Sekte oder des klassischen Okkultismus gesehen, denn als ein Aufbruch in eine neue Form des Religiösen, die spezifisch zur Moderne gehört. Das Ende dieser eingeschränkten Sichtweise brachten die sechziger und siebziger Jahre mit ihrem Kulturumschwung. In den sechziger Jahren erschienen in Deutschland bislang unbekannte kultische Gemeinschaften, die terminologisch zunächst als Jugendsekten und Jugendreligionen gefasst wurden. Mit dem Jugendbezug sind zwei Konnotationen gesetzt – der Bezug auf die Zukunft, die der Jugendphase innewohnt und zugleich aber auch der Bezug auf ein vielleicht nicht so ernst zu nehmendes Übergangsphänomen. Eberhard Fuchs verfasste 1979 ein Buch über Jugendsekten ⁶ und Rüdiger Hauth, ab 1971 Sektenbeauftragter der westfälischen Landeskirche, schrieb 1981 ebenso über Jugendsekten und Psychogruppen von A bis Z ⁷. Friedrich-Wilhelm Haack, Sektenbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, gab 1979 mit dem Titel seines Standardwerkes Jugendreligionen. Ursachen, Trends, Reaktionen ⁸ eine wichtige Richtung an: Der Terminus Religionen verweist auf ein stärkeres Ernstnehmen und eine zentralere Rolle dieser Phänomene in unserer Gesellschaft als die Einordnung derselben in die Außenseiterrolle der Sekten. Ein wirkungsgeschichtlich wichtiges Buch erschien bereits 1976 in deutscher Übersetzung. Der britische Psychologe Christopher Riche Evans bewirkte mit Kulte des Irrationalen ⁹, dass Phänomene wie die UFOlogie und Scientology als eigentümliche Zeiterscheinungen und nicht nur als kauzige Eigenbrötlerei betrachtbar wurden. Dieser terminologischen Tradition schlossen sich auch die großen Bücher des schottischen Historikers James Webb im Kontext seines Projekts über The Age of the Irrational ¹⁰ an.
Der Jesuit Josef Sudbrack ordnete kurze Zeit später (1987) in seinem Standardwerk mit dem Titel Neue Religiosität – Herausforderung für die Christen ¹¹ das Phänomen Eberhard Fuchs, Jugendsekten, München 1979. Rüdiger Hauth, Jugendsekten und Psychogruppen von A bis Z, Gütersloh 1981. Friedrich-Wilhelm Haack, Jugendreligionen. Ursachen, Trends, Reaktionen, München 1979. Christopher Riche Evans, Kulte des Irrationalen, Hamburg 1976 (englischsprachige Erstauflage: Cults of Unreason, London 1973). James Webb, Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur und Okkultismus im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2008. Josef Sudbrack, Neue Religiosität – Herausforderung für die Christen, Mainz 1987.
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in den Bereich der abendländischen Erwachsenenwelt ein. Ein Spezialbereich wird durch Christof Schorschs Werk Die New Age-Bewegung. Utopie und Mythos der Neuen Zeit ¹² 1988 wissenschaftsintern bekannt gemacht – auch der Terminus New Age verweist auf eine gesamtgesellschaftliche spirituelle Suchbewegung. Die Enquete-Kommission Sogenannte Sekten und Psychogruppen des Deutschen Bundestages verabschiedete sich 1998 vom klassischen Sektenbegriff und hält den Verzicht auf die weitere Verwendung dieses Terminus für sinnvoll¹³. Dieser terminologischen Berücksichtigung der ‚Unübersichtlichkeit‘ der neuen religionsförmigem Phänomene entspricht auch der Untertitel des von Georg und Otto Schmid 1990 herausgegebenen Übersichtbandes Kirchen – Sekten – Religionen, der Religiöse Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen im deutschen Sprachraum ¹⁴ lautet.
Was terminologisch berücksichtigt wird, ist noch nicht unbedingt begrifflich gefasst. Paul Tillichs philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit der Moderne, sein Religions-, sein Symbol- und sein differenzierter Mythosbegriff können als sinnvolle Ausgangspunkte für eine Ortung der von mir als Neomythen charakterisierten religionsförmigen Phänomene im Begriffsfeld von Mythos dienlich sein. Im Ausgang von seinen Reflexionen soll der Begriff des Neomythos erschlossen werden.
3. Das Begriffsfeld von Religion, Kultur und neuer Mythologie Der Ausgangspunkt der modernen Transzendentalphilosophie lässt sich in der Terminologie des neukantianischen Philosophen Richard Hönigswald knapp und bündig so formulieren, dass alles was ist, Denken sei und dass zugleich davon ausgegangen werden könne, dass es nicht notwendig in seinem Gedachtsein aufgehe. Dieser Grundsatz bestimmt auch Paul Tillichs Gedankenführung, wenn er das menschliche Erleben als immer schon aktiv gestaltete „Sinnwirklichkeit“ darstellt. Christof Schorsch, Die New Age-Bewegung. Utopie und Mythos der Neuen Zeit, Gütersloh 1988. Deutscher Bundestag (13. Wahlperiode), Enquete-Kommission. Sogenannte Sekten und Psychogruppen (Drucksache 13/10950), Bonn 09.06.1998, 17– 19, siehe: http://dip21.bundestag.de/ dip21/btd/13/109/1310950.pdf (letzer Zugriff: 26.05. 2014). Georg u. Otto Schmid (Hg.), Kirchen – Sekten – Religionen. Religiöse Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen im deutschen Sprachraum, Leipzig 1990.
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Die „Sinnwirklichkeit“ ist ein dreistelliger Relationsbegriff mit den Relaten „Sinnzusammenhang“, „unbedingter Sinn“ und der „Forderung“ der Ausrichtung aller einzelnen Sinnvollzüge auf den unbedingten Sinn hin. ¹⁵ Von diesem Relationsbegriff lassen sich Religion und Kultur dann in eine Beziehung setzen. „Religion ist Richtung auf das Unbedingte, Kultur ist Richtung auf die bedingten Formen und ihre Einheit – das sind die allgemeinsten und formalsten Bestimmungen der Religions- und Kulturphilosophie.“ (GW I, 320)
In der berühmten Formulierung, dass die Religion die „Substanz der Kultur“ und „Kultur […] die Form der Religion“ sei¹⁶, steckt in dem Substanzbegriff die Prämisse, dass die innere (‚substanzielle‘) Wirkmächtigkeit der Kultur ihre – mit Karl Rahner gesprochen – thematische oder unthematische, doch auf jeden Fall unhintergehbare (transzendentale) Beziehung auf das Unbedingte ist. Zugleich ist die Kultur aber die notwendige Bedingung des Vollzugs von Religion. Kulturelle Phänomene geben der Richtung auf das Unbedingte ihren Vollzugsort. Der Mythos in seiner Unhintergehbarkeit ist eine Art Vermittlungsinstanz zwischen Religion und Kultur. Im Mythos wird die Richtung auf das Unbedingte hin affektiv stimulierend und sich selbst anschaulich¹⁷. „Im Mythos vereinigen sich logische und ästhetische Erfassung des Unbedingten. Der Mythos ist nicht nur ästhetisch: er will Wahres und Wirkliches zum Ausdruck bringen. Und er ist nicht nur logisch: er will den Gehalt des Unbedingten anschaulich erfassen. Beides ist eins im ursprünglichen Mythos.“ (GW I, 350)
Im Spannungsfeld dieser Begriffe soll nun nach der Dienlichkeit von Tillichs Denken zur begrifflichen Bestimmung des Neomythischen gefragt werden. Dazu bedarf es eines kurzen Blicks auf eine kulturelle Grundkonstellation der Moderne. In den Neomythen verbinden sich nämlich, wie wir sehen werden, Aufbrüche des
Paul Tillich, Religionsphilosophie (1925), in: Ders., Frühe Hauptwerke, GW I, Stuttgart 21959, 297– 364, hier: 318. Paul Tillich, Aspekte einer religiösen Analyse der Kultur, in: Ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, Stuttgart 1967, 100 – 109, hier: 101 f. Vgl. dazu Linus Hauser/Hermann Schrödter, Mythos – Neomythos – Neue Religiosität. Beiheft Nr. 60 der Werkmappe „Sekten, religiöse Sondergemeinschaften, Weltanschauungen“, in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Bischofskonferenz, des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes und der Deutschen Bischofskonferenz, München 1991.
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19. Jahrhunderts hin zu einer Neuen Mythologie ¹⁸ mit dem fortschrittsgläubigen Aufbruch zu einer neuen Art der Technik. Die menschheitsgeschichtlich bis dahin wirksame Erfahrungstechnik, die sich an die Naturgegebenheiten in hohem Maße anpasst, wird abgelöst durch die die Natur in ihren inneren Strukturen transformierende wissenschaftsfundierte Technik. Die neue Mythologie wird, so schreibt Friedrich Schlegel (1772– 1829) im Januar 1800, „auf dem ganz entgegengesetzten Wege“ zu den Menschen kommen „wie die alte ehemalige, [welche, Anm. L.H.] überall die erste Blüte der jugendlichen Fantasie [war, Anm. L.H.], sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt“. „Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.“¹⁹
Die neue Mythologie wird in der Folgezeit nicht mehr nur auf Phänomene wie etwa eine „Kunstreligion“²⁰ in Richard Wagners Festspielidee bezogen, sondern sie wird eine der Formen der mythologischen Selbstdarstellung der wissenschaftsfundierten Technik. Wenn Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) auf Schlegels Idee einer Neuen Mythologie Bezug nimmt und sich fragt: „Nur die neue Mythologie hat mir so etwas sonderbares an sich; ich kann nicht begreifen wie eine Mythologie gemacht werden kann“²¹, dann antwortet die wissenschaftsfundierte Technik, indem sie sich selbst stolz als dieses künstlichste aller Kunstwerke im Neomythos feiert.
Vgl. neben Linus Hauser, Kritik der neomythischen Vernunft, Bd. 1: Menschen als Götter der Erde. 1800 – 1945, Paderborn 22005 neuerdings speziell Christoph Jamme, Mythos als Aufklärung. Dichten und Denken um 1800, München 2013. Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie, in: Ders., Kritische Ausgabe, Abt. 1, Bd. 1: Charakteristiken und Kritiken I (1796 – 1801), hrsg. v. Hans Eichner, München/Paderborn/Wien 1967, 284– 362, hier: 312. Vgl. dazu Udo Bermbach, „Ästhetische Weltordnung“ – zum Verhältnis von Politik, Kunst und Kunstreligion bei Richard Wagner, in: Gott und Götze in der Literatur der Moderne, hrsg. v. Reto Sorg/Stefan B. Würffel, München 1999, 221– 234. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Brief an Carl Gustav von Brinckmann vom 22. März 1800, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, Abt. 2, Bd. 3: Briefwechsel 1799 – 1800, hrsg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1992, 436; siehe auch Ernst Müller, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004, 204.
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4. Tillichs „Quasi-Religionen“ Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion des Neomythos-Begriffs im Ausgang von Paul Tillich ist sein Verständnis der Quasi-Religion. Beispiele von Quasi-Religionen sind für ihn nicht nur liberal-humanistische oder nationalistische Bewegungen, sondern unter anderem auch die „dämonisierten“ (GW V, 76) und „radikalisierten“ (GW V, 70) Weltanschauungen des Nationalsozialismus und des Kommunismus (GW V, 69). Das ‚Quasi‘ in dieser Art der weltanschaulichen Standpunkte ergibt sich für Tillich durch den dort ausgelebten Gedanken einer Ausklammerung des anthropologisch unhintergehbaren Gesichtspunktes der zunächst erscheinenden radikalen/schlechthinnigen Endlichkeit/ Nichtigkeit des Menschen. Die Radikalität menschlicher Endlichkeit könne durch die Technologie- und Fortschrittsgläubigkeit überdeckt werden. „Die Hauptwaffe in diesem Angriff war und ist die moderne Technik.“ (GW V, 57) Aus ihr resultierten zunächst „Säkularismus“ und „religiöse[] Indifferenz“ (ebd.). Letztere, als Aussetzen der Frage nach dem Sinn des Lebens, sei allerdings nur ein „vorübergehender Zustand“ (ebd.), da sich diese Frage nicht ganz wegdrängen lasse (GW V, 23). Es entstünden in diesem Zusammenhang der u. a. technologiebedingten Säkularisierung in der Moderne „[r]eligiöse Bewegungen auf nichtkirchlichem Boden“ (GW V, 19). Tillich führt unter dem Gesichtspunkt des Aufblühens von Quasi-Religionen den „Monistenbund“, die „Freidenkerbewegung“ (ebd.), ferner die Astrologie, die Graphologie und die Handlesekunst –„‚physiognomische Philosophie‘“ (GW V, 20) – oder den „‚Asiatismus‘“ (GW V, 21) an. Der 1965 verstorbene Paul Tillich konnte den Boom neuer religiöser Bewegungen nach den achtundsechziger Jahren noch nicht inhaltlich voraussehen. Wohl aber geht er davon aus, dass diese Quasi-Religionen eine der wesentlichen Gefahren für die Identität heutiger Religionen darstellen (GW V, 57). Mit seinen Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Quasi-Religion im Zusammenhang seiner Reflexionen über die Bedeutung der Frage nach dem Sinn des Lebens führt er dabei an den begrifflichen Ausgangspunkt, den ich mit der später explizierten intensionalen Bestimmung von Neomythen ebenfalls voraussetze. Tillich geht davon aus, dass es eine grundlegende „Lebensangst“ (GW V, 23) gebe. Diese Lebensangst beziehe sich nicht direkt auf die Angst vor dem Tode, sondern auf das Problem der Selbstkonsistenz im Leben. Es gehe hier um die Angst „seinen Lebenssinn zu verlieren“ (ebd.). In dieser Situation neige der Mensch – Tillich orientiert sich hier an Heideggers Analysen in Sein und Zeit ²² – dazu, aus Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1972, bes. 186.
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der Angst ‚vor Allem‘ eine operationalisierbare, auf ‚Bestimmtes‘ sich richtende Furcht zu machen. Dieses Interesse an Operationalisierung beruhe auf einer anthropologisch nicht hintergehbaren Spannungssituation. Sinnorientierte Selbstkonsistenz könne sich nur im Transzendieren ihrer selbst ereignen. In Freiheit solle das „Jenseits“ (GW V, 25) der Freiheit aufscheinen und die Freiheit sich diesem übereignen. Die grundlegende Bestimmtheit des Menschen hinsichtlich der Frage nach dem Sinn seines Lebens gerate in der Neuzeit in eine tiefe Krise. Auf dem Hintergrund des Prozesses der Moderne ergebe sich ein neues Niveau des Freiheitsbewusstseins. „Die 500 Jahre westlicher Kultur, die wir als ‚Neuzeit‘ zu bezeichnen pflegen und die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu Ende gegangen sind, zeichnen sich durch den meistens erfolgreichen Versuch des westlichen Menschen aus, Natur und Gesellschaft mit Hilfe rationaler Methoden zu regeln und zu beherrschen. Je ausschließlich sich der Mensch diesem Ziel widmete, und je mehr er sich die Wirklichkeit unterwarf, um so mehr verlor er das vertikale Element in seiner Sinndeutung des Lebens. […] Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt, moralische Ideale, erzieherische und gesellschaftliche Ziele wurden sein höchstes Anliegen. […] Das Unbedingte, das, was dem Leben seinen Sinn gibt, wurde als vor dem Menschen liegend gesehen, und nicht als über ihm stehend.“²³
Durch die Umwandlung der Angst in die Furcht sei es den neuzeitlichen Menschen auf dem Hintergrund ihrer wissenschaftlich-technischen Qualifikation gelungen, sich in hohem Maße selbst zu gestalten und diese fortschrittsgläubige Selbstgestaltung als selbstverständlich anzunehmen. Tillich geht auf dem Hintergrund der Erfahrung des Ersten und Zweiten Weltkriegs von der Voraussetzung aus, dass sich die Situation „in den letzten 25 Jahren“ positiv verändert habe. „Das Pendel hat angefangen, in die vertikale Richtung der Religion zurückzuschwingen.“ (GW V, 35) Die Entwicklung der Religiosität nach dem Zweiten Weltkrieg verlief allerdings anders. Gerade aus diesem Grunde sind Tillichs Reflexionen immer noch aktuell. Das Pendel ist in der Nachkriegszeit zwar zurückgeschwungen, aber in die Richtung dessen, was Tillich den abwehrenden Umgang mit mythischem Denken nennt. Dieser abwehrende Umgang unterscheidet sich deutlich vom Standpunkt der Religion. Tillich ortet die Möglichkeit von Religionserfahrung in der Erfahrung von möglicher radikaler/ schlechthinniger Endlichkeit/Nichtigkeit. Das Unbedingte ist zunächst das, dem sich keine Bedingungen mehr stellen lassen. Religion erscheint
Paul Tillich, Die Frage nach der Zukunft der Religion, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW V, Stuttgart 1964, 32– 36, hier: 33 f.
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hier als „Religion im weiteren Sinne“²⁴, als allgemein menschliche Verwiesenheit auf das Unbedingte. In dieser Hinsicht ist das Unbedingte auch im Ursprung Grund von Angst. „Religion ist Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit; es wird erfahren die Nichtigkeit des Seienden, die Nichtigkeit der Werte, die Nichtigkeit des persönlichen Lebens […].“²⁵ Die „Religion im engeren Sinne“ (EW IV, 63) als Eingeordnetsein in religiöse Zusammenhänge setzt hingegen einen zweiten Schritt voraus. Paul Tillich fährt in seiner eben angeführten Bestimmung fort: „[…] [W]o diese Erfahrung zum absoluten, radikalen Nein geführt hat, da schlägt sie um in eine ebenso absolute Erfahrung der Realität, in ein radikales Ja.“ (GW IX, 18) Wichtig sind hier die Bezüge auf die qualitativen Bestimmungen von ‚Absolutheit‘ und ‚Radikalität‘. Der Umschlagspunkt setzt ein Zerbrechen aller vertrauten Orientierungsmaßstäbe voraus. Alle selbst gemachten Bilder von Leben, Heilsein und idealer, aber doch so ‚üblicher‘ Zukunft müssen untergehen, damit das Transzendente sich ereignet. „Erst an der radikalen Grenze eines schlechthinnigen Nein, dessen nichtender Abgründigkeit ausnahmslos alles unmittelbar Gegebene ausgesetzt ist, bringt sich das radikale Ja eines übergegenständlichen Grundes zur Geltung, und nur an dieser Grenze.“²⁶ Philosophisch betrachtet handelt es sich bei diesem Umschlagen um eine Entscheidung für einen radikalen Perspektivenwechsel, theologisch um Gnade beziehungsweise Offenbarung. Hier unterscheidet sich dann das neomythische Denken von der Religion. Die „Dialektik einer negativen Kontrasterfahrung“²⁷ wird im neomythischen Bewusstsein eingeebnet. Rekonstruieren wir den Neomythos mit Tillichs Denkmitteln. Das neomythische Bewusstsein macht eine Voraussetzung, die prinzipiell im Kontext der Religionsdefinition Tillichs thematisierbar ist. Im Neomythos wird nämlich die mögliche ‚Schlechthinnigkeit‘ beziehungsweise ‚Absolutheit‘ von Nichtigkeit be-
Paul Tillich, Absolute und relative Faktoren in der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit, in: Ders., Korrelationen. Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit, EW IV, hrsg. v. Ingeborg C. Henel, Stuttgart 1975, 36 – 70, hier: 63. Siehe auch Werner Schüßler‚ ‚Theologie muß Angriff sein‘. Das Religions- und Theologieverständnis Paul Tillichs, in: Ders., ‚Was uns unbedingt angeht‘. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs, Münster 2004, 47– 62, hier: 56. Paul Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, Stuttgart 1967, 13 – 31, hier: 18. Joachim Ringleben, Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs, Münster 2003 (= Tillich Studien 8), 104; Herv. L.H. Carsten Barwasser, Theologie der Kultur und Hermeneutik der Glaubenserfahrung. Zur Gottesfrage und Glaubensverantwortung bei Edward Schillebeeckx OP, Münster 2010, 47.
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stritten. In meiner – an der Philosophie Hermann Schrödters orientierten²⁸ – Terminologie heißt dies, dass die Neomythen die Radikalität von Endlichkeit bestreiten. Nichtigkeit/Endlichkeit werden nicht in ihrer fundamentalen anthropologischen Schlechthinnigkeit/Radikalität erfasst, sondern als prinzipiell dem Menschen zugängliche und erfüllbare Spielräume der Selbstgestaltung begriffen. Am deutlichsten bringt diese Mentalität die neomythische Gruppierung Scientology auf den Punkt. Ihr therapeutisches Ziel ist der autonome Operating Thetan. Wer es zum Thetanendasein gebracht habe, der sei durch folgende Qualifikationen charakterisiert: „Seit Tausenden von Jahren hat der Mensch nach dem Zustand völliger spiritueller Freiheit gesucht, einer Befreiung vom endlosen Kreislauf von Geburt und Tod, und er hat persönliche Unsterblichkeit mit vollem Bewusstsein, vollständigem Erinnerungsvermögen und vollständigen Fähigkeiten als ein vom Fleisch unabhängiges geistiges Wesen angestrebt. […] Wir nennen diesen Zustand ,Operating Thetan‘. […] Die Definition des Zustandes Operating Thetan ist: ‚Wissentliche und bereitwillige Ursache über Leben, Denken, Materie, Energie, Raum und Zeit‘.“²⁹
Weil Paul Tillich in seinen Reflexionen über das anthropologische Phänomen der Religion implizit eine bestimmte Negationsmöglichkeit einräumt, nämlich die Möglichkeit, die Schlechthinnigkeit von Nichtigkeit zu negieren und die neomythische entschärfte Nichtigkeit als anthropologisch kontingent zu betrachten, erweist sich seine Religionsdefinition auch auf diesem Gebiet als aktuell. Fassen wir die Argumentation noch einmal in Bezug auf den Begriff des abwehrenden Symbols bei Paul Tillich³⁰ zusammen. Nachdem durch eine Veränderung der hermeneutischen Situation ein ursprüngliches Verstehen des Mythos nicht mehr möglich geworden sei, gibt es nach Tillich zwei Möglichkeiten des Bezuges auf den einstmals ‚ursprünglich‘ gelebten Mythos. Der gebrochene Mythos akzeptiere diese Situation. Die Alternative sei der abwehrende Umgang mit den eigenen Bildern. „Der Feind der kritischen Theologie ist darum nicht das naive, sondern das bewußte Wörtlichnehmen der Symbole in Verbindung mit einer kämpferischen
Vgl. dazu Linus Hauser/Eckhard Nordhofen (Hg.), Das Andere des Begriffs. Hermann Schrödters Sprachlogik und die Folgen für die Religion, Paderborn 2012. Es wäre reizvoll, Paul Tillichs und Hermann Schrödters Religionsbegriffe im Hinblick auf Strukturgleichheiten zu untersuchen. L. Ron Hubbard, Philosoph und Gründer. Wiederentdeckung der Seele, Glostrup (Dänemark) 2012, 133 f., hier: 133. Vgl. dazu Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 111– 196, hier: 147 f.
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Unterdrückung selbständigen Denkens.“ (GW VIII, 147) Im Zusammenhang mit der unsere Wirklichkeit in ihren tiefsten Strukturen umzugestalten beginnenden wissenschaftsfundierten Technik, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Naturtechnik abzulösen beginnt, werden im neomythischen Denken die alten mythischen Bilder (z. B. Titanen) neu im Zusammenhang sich selbst erlösender „Göttermenschen“³¹-Vorstellungen (z. B. Operating Thetan) umgedeutet, ohne dass ihr Bildcharakter berücksichtigt wird. Diese Umdeutung geschieht auf dem Hintergrund einer die radikale/schlechthinnige Endlichkeit/Nichtigkeit des Menschen in seiner Wirklichkeit abwehrenden Verhaltens, das aus den Bildern der Hoffnung im weitesten Sinne technologisch verwirklichbare Entwürfe macht. Für eine Kritik der neomythischen Vernunft sind Paul Tillichs Begriffe immer noch aktuell.
Stefan Breuer, Göttermenschen wollen wir sein. Linus Hauser enttarnt die Spinnereien als neomythische Vernunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 75 (29. 3. 2004), 35.
Autorenverzeichnis Dr. Roderich Barth Professor für Systematische Theologie im Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig Universität Gießen Dr. Christian Danz Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Stefan Dienstbeck Privatdozent für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Elisabeth Grözinger Akkreditierte Lehranalytikerin am C.G. Jung-Institut Zürich sowie Studienleiterin im Studiengang Theologie und Religionsphilosophie im Rahmen der Avanced Studies der Universität Basel Dr. Linus Hauser Professor für Systematische Theologie im Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen Dr. Christoph Jamme Professor für Philosophie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Dietrich Korsch Professor für Systematische Theologie im Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg Dr. Michael Murrmann-Kahl Privatdozent für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Pfarrer in Neustadt an der Donau
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Autorenverzeichnis
Dr. Dr. Werner Schüßler Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier Dr. Erdmann Sturm Professor em. für Systematische Theologie und Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Namensregister Adorno, Theodor W. 119, 141, 235, 240 – 245, 247, 249 – 253 Aischylos 19 Alexander der Große 18 Allgeier, Franz Arthur 256 Andersen, Hans Christian 209 Andres, Stefan 189 Angehrn, Emil 15 Aristoteles 16, 21, 42, 100, 167, 170, 186 Assmann, Aleida 218, 232 Assmann, Jan 218, 232 Augustinus von Hippo 111 Barth, Karl 111, 144, 204 Barth, Roderich 50 f. Baur, Ferdinand Christian 3 Benedikt XVI., Papst 29 Berdiajew, Nikolai 98 Blumenberg, Hans 14 f., 22, 25, 80, 86, 166 f., 169 f. Böhme, Jakob 97 – 99 Böttiger, Carl August 151 Bohren, Rudolf 170 Bonhoeffer, Dietrich 151, 169 Bousset, Wilhelm 150 Bruno, Giordano 193 Bultmann, Rudolf 7, 28 f., 77, 143 – 155, 160 – 162, 164 – 167, 169 f., 172 f., 177, 179, 186, 188, 199, 204, 216, 226, 239 Burckhardt, Jacob 210 Calvin, Johannes 111 Capitolinus Marcinus 10 Carlyle, Thomas 138 Cassirer, Ernst 4, 6, 9, 14, 80, 87 – 89, 120 f., 132 – 141, 146, 149 f., 158 f., 201, 217 – 219, 226 Comte, Auguste 183 Cook, James 17 Danz, Christian 32 Descartes, René 192 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 190
Eichhorn, Johann Gottfried 2 f. Eliade, Mircea 16, 148, 225 Evans, Christopher Riche 257 Fichte, Johann Gottlieb 246 Fontenelle, Bernhard le Bovier de 1 f. Foucault, Michel 23 Frazer, James Georg 4, 77 Freud, Sigmund 4, 199, 207, 219, 225, 247, 251 f. Fuchs, Eberhard 257 Gabler, Johann Philipp 2, 32 Galilei, Galileo 193 Gobineau, Arthur de 138 Goethe, Johann Wolfgang von 235 Gogarten, Friedrich 144, 189 Greßmann, Hugo 237 Gunkel, Hermann 4, 75, 77, 150, 237 f. Haack, Friedrich-Wilhelm 257 Habermas, Jürgen 9 Harrison, Jane Ellen 77 f. Hauth, Rüdiger 257 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3, 33 f., 43, 69, 71, 96 f., 99 f., 117, 138, 238, 245 f. Heidegger, Martin 25, 43, 129, 145 – 147, 154 f., 162 – 165, 172, 179, 252, 261 Hekataios von Milet 19 Herder, Johann Gottfried 2, 13, 75, 77 Herodot 12, 18 – 20 Herrmann, Wilhelm 153 Hersch, Jeanne 189 Hesiod 11 f. Heyne, Christian Gottlob 2 f., 73 f., 88, 150 Hödl, Hans Gerald 217 f. Hölderlin, Johann Christian Friedrich 33, 190 Hönigswald, Richard 258 Homer 10 – 12, 18, 21, 25 Hommel, Claus Uwe 196 Horkheimer, Max 119 f., 141, 167, 235, 240, 244 f., 250 f., 253
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Namensregister
Hübner, Kurt 14 f., 19, 80, 151 Husserl, Edmund 23, 192 Hutten, Kurt 256 Jaffé, Aniela 210 Jamme, Christoph 33, 74, 88 Jaspers, Karl 176 – 179, 181 – 205 Jonas, Hans 154 Jüngel, Eberhard 24 f. Jung, Carl Gustav 189, 207 – 213, 216 f., 219 – 226, 229 – 233 Kant, Immanuel 33, 97, 104, 111, 115, 134, 159, 171, 182 f. Kast, Verena 223 Kerényi, Karl 148, 189 Kierkegaard, Søren 95, 100 f., 103, 105, 113, 117, 190 Klages, Ludwig 190 Klein, Aloys 201, 205 Korsch, Dietrich 52 Leibniz, Gottfried Wilhelm 99, 192 Lessing, Gotthold, Ephraim 32 Lévi-Strauss, Claude 14, 16, 80 Liebert, Artur 121 Lindemann, Andreas 216 Luther, Martin 111, 197 Malinowski, Bronisław 17, 25, 138, 148 f. Mann, Thomas 1, 235, 253 Marx, Karl 199, 246 May, Rollo 176, 205 Melanchthon, Philipp 153 Miller, Frank („Miss Miller) 210 Moritz, Karl Philipp 13, 151 Müller-Funk, Wolfgang 218 Niebuhr, Reinhold 109 – 111 Niemöller, Martin 144 Nietzsche, Friedrich 175, 190, 235 Origenes 10, 109, 111, 115 Otto, Rudolf 144, 163, 167, 217, 222 Pannenberg, Wolfhart 148 f. Paulus 107, 153, 160
Pausanias 24 Philo von Alexandrien 10 Platon 10 – 13, 21 f., 25, 91, 97, 99, 104, 111, 115, 132, 138, 170, 196 Plotin 100 Polybius 19 Portmann, Adolf 189 Rahner, Karl 259 Rickert, Heinrich 133 Ricœur, Paul 16, 82, 167 – 169 Rosenzweig, Franz 33 Rothacker, Erich 25 Sahlins, Marschall David 17 Schapp, Wilhelm 26 Scheler, Max 95 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 3 – 5, 13 f., 27, 30 – 58, 62, 71 f., 76, 97 – 100, 102 – 104, 111, 114 f., 146, 150 – 152, 158 f., 172, 201, 217 f. Scheurlen, Paul 256 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich 151, 260 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 11, 81, 99, 260 Schmid, Georg 258 Schmid, Otto 258 Schneider-Flume, Gunda 172 Schorsch, Christof 258 Schrödter, Hermann 264 Schüßler, Werner 214 Sextus Empiricus 19 Shamdasani, Sonu 210 Smith, William Robertson 4, 77 f. Sokrates 22, 193 Strathmann, Hermann 154 Strauß, David Friedrich 3, 76, 85 Sudbrack, Josef 257 Theißen, Gerd 218, 233 Thukydides 20, 24 Tillich, Paul 1, 4 – 8, 30, 49 – 74, 76 – 89, 91 – 117, 120 – 133, 140 f., 143 – 147, 149, 151, 155 – 165, 167 – 169, 172 f., 176 – 181, 185 f., 192, 197 – 205, 207 – 209, 213 – 218, 226 – 233, 235, 238 – 240, 244 – 251, 253, 255 f., 258 f., 261 – 265
Namensregister
Topitsch, Ernst 9 Troeltsch, Ernst 4, 79, 81 van Gogh, Vincent 190 Veyne, Paul 10, 20, 23 Vico, Giambattista 9, 13, 25 Wagner, Richard 235, 260 Webb, James 257
Weber, Max 241 Wells, Herbert George 190 Wilhelm, August 151 Winckelmann, Johann Joachim 13 Windelband, Wilhelm 133 Wüstemann, Adolf 144 Wundt, Wilhelm 158 Zahrnt, Heinz 188
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Sachregister Analogie 196, 201 f. Angst – als „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit“ (Kierkegaard) 100 – 102, 113 ‚Archetypen‘ (Jung) 207, 211 f., 219 f., 222 – 225, 230 f. Chiffer – als Erscheinungsform der Transzendenz in der Nicht-Leibhaftigkeit (Jaspers) 184 – 188, 193 – 196, 198, 201, 203 – mythische (anschauliche) – spekulative (begriffliche) Chiffer (Jaspers) 188 f., 197 Christentum – als Religion des Paradox (Tillich) siehe unter Paradox – als Übergang von der Geschichte der Notwendigkeit zur Geschichte der Freiheit (Schelling) 37 f. Christus – als Referenzpunkt aller christlichen Symbole oder selbst ein Symbol in Form des Mythos? (Tillich) 63 – 65 – als Symbol des essentiellen Sein des Menschen (Tillich) 95 – 98 Daseinsanalyse (Heidegger) 145 f., 154 f., 162 – 165 ‚Deliteralisierung‘ (Tillich) 160 – 162, 164, 177, 180, 199 f. ‚Dialektik der Aufklärung‘ 119 f., 240 – 245 Dogmatik – als Lehre „vom Mythos mit autonomen Symbolen“ (Tillich) 70 – 72, 86 Entmythologisierung 9, 47 f., 65, 252 f. – siehe auch Theologie als „halbe Entmythologisierung“ (Tillich) ‚Entmythologisierung‘ (Bultmann) 7, 28 – 30, 76 f., 143, 145 – 148, 150 – 155, 165 –
167, 169 f., 172, 177, 186 f., 199 f., 216, 226, 239 – Kritik Tillichs an Bultmanns Entmythologisierungskonzept 161 f., 199 f., 239 – siehe auch Mythos – Wahrheit ‚Entweltlichung‘ (Bultmann) 29 f. Essenz – Existenz 163 f., 200 – Mythos vom Sündenfall als Symbol für den Übergang vom essentiellen zum existenziellen Sein des Menschen (Tillich) 32, 91 – 117, 246 – 250 – siehe auch Christus als Symbol des essentiellen Sein des Menschen (Tillich) – siehe auch ‚träumende Unschuld‘ als essentieller Urzustand (Tillich) Freiheit – Eigenwille – Universalwille (Schelling) 102 – 104, 114 – Freiheit – Schicksal (Tillich) 93 f., 108, 246 – 248 – Partizipation der menschlichen Freiheit an der göttlich absoluten Freiheit (Schelling) 43 f., 47, 55 – siehe auch Angst (Kierkegaard) – siehe auch Christentum als Übergang von der Geschichte der Notwendigkeit zur Geschichte der Freiheit (Schelling) Geist – Natur siehe Natur – Geist Genie – bei Schelling 36 f. Gott – als Sein-Selbst (Tillich) 50, 66 f., 168, 229 Heilige, das (Otto) 222 historiographischer Mythosbegriff siehe unter Mythos intellektuelle Anschauung (Schelling) 41, 55 Jugendsekte siehe unter Sekte
Sachregister
‚kollektives Unbewusstes‘ (Jung) 219, 221 f., 226 – siehe auch Mythos als Projektion des Unbewussten (Jung) ‚Korrelation‘ (Tillich) siehe ‚Methode der Korrelation‘ (Tillich) Kultur – siehe auch Religion als Reflexionsgeschehen an den kulturellen Formen und Begründung der Sinnhaftigkeit aller kulturellen Sinnakte (Tillich) – siehe auch Religion als Substanz der Kultur (Tillich) – siehe auch unter Symbol: kulturelle Sinnformen als Symbole des Unbedingten (Tillich) Kulturtheologie (Tillich) 68, 81 Kulturwissenschaft – Naturwissenschaft (Windelband/Rickert) siehe unter Naturwissenschaft Kunst – als Einheit von Natur und Geist (Schelling) 36 f. – siehe auch Genie bei Schelling Logos siehe unter Mythos – Logos Metapher – ‚absolute Metapher‘ 169 – 171 – als Repräsentation des „nie übersehbare[n] Ganze[n] der Realität“ (Blumenberg) 14 ‚Methode der Korrelation‘ (Tillich) 50, 164 Mystik – als Anspruch, das Absolute an sich besitzen zu können (Tillich) 58 f. mythische Schule 2 f., 73 Mythologie – als Phase der Notwendigkeit in der Darstellung der Geschichte des Absoluten (Schelling) 35 – 45, 52 f. – ‚Mythologie der Vernunft‘ (ältestes Systemprogramm des dt. Idealismus) 32 – 35, 38 Mythos – allgemein 27 – 30 – als „archaische Metaphysik“ (Angehrn) 15
273
– als eigenständige symbolische Form (Cassirer) 87, 121, 132 – 137, 140, 149 f., 158, 219 – als ein „aus Elementen der Wirklichkeit aufgebaute[s] Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte“ (Tillich) 6, 51, 61 – 63, 65, 68, 125, 158 – 160, 180, 226 f., 229, 238 – als Erzählung eines urzeitlichen, die gegenwärtige Lebensordnung begründenden Geschehen (Malinowski, Kerényi, Eliade) 148 f. – als Fabel im Gegenüber zur Wahrheit der biblischen Offenbarung (Fontenelle) 1 f. – als Göttergeschichte, in die das menschliche Bewusstsein unentrinnbar verstrickt ist (Schelling) 4, 14, 46 – als Mittel systematischer Erklärung der Welt durch Archai (Hübner) 15 – als notwendige „Ausdrucksform für den Offenbarungsinhalt“ (Tillich) 6, 58, 60 f., 66, 122, 140, 179 – als Projektion des Unbewussten (Jung) 219 – 226, 230 f. – als religiöse Kategorie (Tillich) 66, 79 – 81, 87, 120, 126 f., 140, 156, 161 f., 180 – als tautegorische, notwendige Form der Wirklichkeitsdeutung (Schelling) 13, 151 f. – als Vorstellungsart der Menschheit auf der Stufe ihrer Kindheit (Bousset/Gunkel/ Heyne) 2, 150 – historiographischer Mythosbegriff 2 f., 73 – Mythos des Gottmenschen (Tillich) siehe Christus als Symbol des essentiellen Sein des Menschen (Tillich) – neutestamentliche Mythen als „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage“ (Strauß) 3, 76 – siehe auch ‚Neomythos‘ – siehe auch Offenbarung als Grund der formalen wie inhaltlichen Ausrichtung des Mythos (Tillich) – siehe auch Ritus als Grundlage des Mythos (Smith)
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Sachregister
– Sündenfallerzählung (Gen 3) als Mythos (Tillich) siehe unter Essenz – Existenz – „symbolisch-realistische Theorie des Mythos“ (Tillich) 1, 49, 66, 125, 140, 159 – ‚ungebrochener‘ – ‚gebrochener Mythos‘ (Tillich) 6 f., 65 f., 71, 80, 85 f., 88 f., 125 – 127, 129 – 131, 157, 161, 180, 185, 197, 227 f., 230 f., 238 f., 264 – Urgeschichte der Bibel (AT) als Mythos (Eichhorn, Gabler, Herder) 2 f., 75 – ‚ursprünglicher‘ – ‚sondergestalteter Mythos‘ (Jaspers) 184 f., 190, 196 f. Mythos – Geschichte – Prozess der Abgrenzung des Mythos vom Geschichtsbewusstsein (Antike) 16 – 21 Mythos – Logos 10 f., 16, 74, 80 – Kritik am Entwicklungsmodell einer Auflösung mythologischer Vorstellungen in den Begriff 76, 78 – 80, 84, 87 Mythos – Politik 120 f., 235 f. – politischer Ursprungsmythos (Tillich) 127 – 132, 141 – technisch erzeugte moderne politische Mythen (Cassirer) 137 – 141 Mythos – Wahrheit 9 – 15, 21 – 26 – Mythos als allegorische Einkleidung von Wahrheit (Antike bis Winckelmann) 11 – 13, 150 – 152, 158 – Mythos als poetische Wahrheit (Herder, Moritz, Vico) 13, 151 f. – siehe auch Entmythologisierung narrative Theologie 172 f. Natur – Geist – das Werden der Natur als Voraussetzung der Selbstständigkeit des Geistes (Schelling) 35 f. – siehe auch Kunst als Einheit von Natur und Geist (Schelling) Naturwissenschaft – Kulturwissenschaft (Windelband/Rickert) 133 negative Theologie 195 f., 201 ‚Neomythos‘ 256, 258 – 261, 263 – 265 Neues Testament – existenziale Interpretation des NT (Bultmann) 145, 147 f., 151, 153 – 155, 162, 164 f., 172
– siehe auch neutestamentliche Mythen als „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen“ (Strauß) unter Mythos ‚New Age‘ 255, 258 Numinose, das (Otto) siehe Heilige, das (Otto) Offenbarung – als Durchbruch des unbedingten Sinngehalts (Tillich) 57 f., 60 f., 66, 124, 204 – als Grund der formalen wie inhaltlichen Ausrichtung des Mythos (Tillich) 28, 63, 66 – siehe auch Mythos als notwendige „Ausdrucksform für den Offenbarungsinhalt“ (Tillich) Paradox – Religion des Paradox (Tillich) 61, 66 – 68, 71, 85 f., 160 Periechontologie (Jaspers) 185 Philosophie – negative – positive Philosophie (Schelling) siehe Philosophie der Mythologie – Philosophie der Offenbarung (Schelling) – Philosophie der Mythologie – Philosophie der Offenbarung (Schelling) 42 – 47, 52 – 57, 100 – Philosophie – Wissenschaft (Jaspers) 192 f., 198 Positivismus (Comte) 183 ‚protestantisches Prinzip‘ (Tillich) 89 Quasi-Religionen (Tillich)
197, 256 f., 261
Religion – als besondere Kulturform/-sphäre (Cassirer, Schleiermacher) 6, 81, 140 – als „das, was uns unbedingt angeht“ (Tillich) 197, 202, 238 – als Erfahrung „schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit“ (Tillich) 263 – als Prinzip – als aktuelle Religion (Tillich) 123
Sachregister
– als Reflexionsgeschehen an den kulturellen Formen und Begründung der Sinnhaftigkeit aller kulturellen Sinnakte (Tillich) 6, 81 f., 123 f., 140, 159 – als „Richtung auf das Unbedingte“ (Tillich) 6, 59 f., 82, 87, 122 – 124, 197, 240, 259 – als Substanz der Kultur (Tillich) 214, 259 – siehe auch Quasi-Religionen (Tillich) – siehe auch Religion des Paradox (Tillich) unter Paradox – siehe auch substantiell religiöses Bewusstsein (Tillich) unter Substanz Ritus – als Grundlage des Mythos (Smith) 4, 77 f. Schicksal – Freiheit (Tillich) siehe unter Freiheit Sekte 256 – 258 – Jugendsekte 257 f. Sinn – siehe auch Offenbarung als Durchbruch des unbedingten Sinngehalts (Tillich) – sinntheoretische Fassung der Theologie (Tillich) siehe unter Theologie Substanz – siehe auch Religion als Substanz der Kultur (Tillich) – substantiell religiöses Bewusstsein (Tillich) 55, 123 Sündenfall (Tillich) siehe unter Essenz – Existenz Symbol – das „gibt, was es sagt“ (Ricœur) 168 f. – kulturelle Sinnformen als Symbole des Unbedingten (Tillich) 6, 82 f., 124, 140,
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156 f., 167 – 169, 198, 202 f., 227 – 229, 238 – siehe auch Mythos als eigenständige symbolische Form (Cassirer) – siehe auch Mythos als ein „aus Elementen der Wirklichkeit aufgebaute[s] Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte“ (Tillich) – siehe auch Mythos als „symbolisch-realistische Theorie des Mythos“ (Tillich) Theokratie – als Verabsolutierung des Gesetzes (Tillich) 58 f., 61, 67, 84 f. Theologie – als „halbe Entmythologisierung“ (Tillich) 112, 200 – siehe auch Kulturtheologie (Tillich) – siehe auch narrative Theologie – siehe auch negative Theologie – sinntheoretische Fassung der Theologie (Tillich) 5, 50, 61, 72, 81 f., 122 f., 127 f., 258 f. Theonomie (Tillich) 70 f. – theonome Kultur (Tillich) 82 f. – theonome Metaphysik (Tillich) 68 – 71 ‚träumende Unschuld‘ – als essentieller Urzustand (Tillich) 113 f., 247 f. Wille – Eigenwille – Universalwille (Schelling) siehe unter Freiheit